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Zwischen den Fronten Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte

Begründet von Helmar Junghans, Kurt Nowak und Günther Wartenberg

Herausgegeben von Klaus Fitschen, Wolfram Kinzig, Armin Kohnle und Volker Leppin

Band 48 Mandy Rabe Zwischen den Fronten

Die »Mitte« als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen während der Zeit des Nationalsozialismus

EVANGELISCHE VERLAGSANSTALT Mandy Rabe, Dr. theol., Jahrgang 1985, studierte von 2004 bis 2012 Evangelische Theologie in Leipzig, Tübingen und . Von 2012 bis 2015 war sie Promotionsstipendiatin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. Seit 2015 ist sie Vikarin in Leipzig – St. Petri. Die Autorin wurde mit der vorliegenden Arbeit im Jahr 2016 von der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig pro- moviert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig Satz: Mandy Rabe, Leipzig

ISBN 978-3-374-04857-1 www.eva-leipzig.de

DANKSAGUNG

Die vorliegende Untersuchung ist im Juni 2016 von der Theologischen Fakul- tät der Universität Leipzig als Dissertation angenommen worden. Für den Druck wurde sie geringfügig überarbeitet. Viele Menschen und Institutionen waren an der Entstehung dieses Wer- kes beteiligt. Ihnen allen gilt mein Dank. An erster Stelle danke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Klaus Fitschen, der in mir das Interesse für Kirchenge- schichte geweckt hat und förderte. Für sein kritisches Engagement danke ich ihm herzlich. Bedanken möchte ich mich ebenso bei Prof. Dr. Armin Kohnle, der das Zweitgutachten verfasst hat und aufgrund seines territoralkirchen- geschichtlichen Interesses ebenso zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig sei zusammen mit den beiden Gutachtern sowie Prof. Dr. Wolfram Kinzig und Prof. Dr. Volker Leppin als Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe »Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte« gedankt. Ein großer Dank gilt der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sach- sens, ohne deren Stipendium die Abfassung der Arbeit innerhalb von drei Jahren nicht möglich gewesen wäre. Ihr sei auch recht herzlich für ihren groß- zügigen Druckkostenzuschuss gedankt. Bedanken möchte ich mich ferner bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern im Bundesarchiv Berlin, im Universitätsarchiv Leipzig, im Landeskir- chenarchiv , in den Ephoralarchiven und Pfarrverwaltungen, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen. Besonderer Dank geht an dieser Stelle an Archivrätin Kristin Schubert, die mit viel Interesse und Engagement die Quel- lenrecherche im Landeskirchenarchiv Dresden begleitet hat. Prof. Dr. Gerhard Graf gilt mein Dank für seinen konstruktiven Beistand. Seinem Wissen über inhaltliche und personelle Zusammenhänge innerhalb der sächsischen Kirchengeschichte verdanke ich viel. Für ihre punktuelle Unterstützung an den verschiedenen Etappen der Entstehung der Arbeit sei namentlich Thea Jacobs, Benjamin Krohn und Markus Löffler gedankt. Weiterhin bedanke ich mich bei allen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen für offene Ohren und nötige Ablen- kung. Mein Dank gilt auch meiner Vikariatsgemeinde Leipzig - St. Petri, die in der Abschlussphase der Promotion viel Verständnis aufbrachte.

6 DANKSAGUNG

Ein großer Dank geht an Pfrn. Dr. Nikola Schmutzler, die mich auf die »Mitte« aufmerksam machte und mir erste Zugänge zu dieser kirchenpoli- tischen Gruppierung ermöglichte. Für interessierte Begleitung danke ich ihr ebenso wie für die kritische Durchsicht des Textes. Der größte Dank gilt meiner Familie, die mich auf meinem Weg durchs Le- ben, vor allem auch in den Jahren des Studiums und während der Promotion unterstützt hat. Meinen Eltern, Egon und Gudrun Rabe, widme ich darum dieses Buch.

Leipzig, im Advent 2016

INHALTSVERZEICHNIS

Danksagung ...... 5

Einleitung ...... 13 Gegenstand und Fragestellung ...... 13 Forschungsstand und Quellenlage ...... 15 Gliederung ...... 19 Technische Hinweise ...... 20

Chronologie

Kapitel 1 Die Situation in Sachsen bis zur Gründung der »Mitte« ...... 21 1.1. Die Entwicklung bis zu den Kirchenwahlen 1933 ...... 21 1.2. Die kirchenpolitische Gruppenbildung im Kontext der Kirchenwahlen 1933 ...... 26

Kapitel 2 Die Entstehung der »Mitte« ...... 38 2.1. Regionale Vorboten der Gründung der »Mitte« ...... 38 2.1.1. Die Leipziger »Weihnachtserklärung« als Auftakt zur »Mitte«-Gründung ...... 38 2.1.2. Ein Dresdner Vermittlungsversuch ...... 40 2.2. Die Barmer Bekenntnissynode als verpasste Gelegenheit zur Befriedung ...... 42 2.2.1. Die zunehmende Separation des Pfarrernotbundes ...... 42 2.2.2. Die Möglichkeit einer Befriedung anlässlich des Pfingstfestes ...... 47

8 INHALT

2.2.3. Sächsische Vermittlungsversuche angesichts der Barmer Bekenntnissynode ...... 53 2.3. Die Konstituierung der »Mitte« als Antwort auf Dahlem ...... 59 2.3.1. Der »Fall Hilbert« als Ausgangspunkt für die Gründung der »Mitte« ...... 61 2.3.2. Die Sammlung der »Mitte« außerhalb Leipzigs ...... 65 a) Die Sammlung der »Mitte« in Chemnitz ...... 65 b) Die Sammlung der »Mitte« in Dresden ...... 67 c) Die Sammlung der »Mitte« in der Ephorie Leisnig ...... 71 d) Die Sammlung der »Mitte« unter den Ephoren ...... 72

Kapitel 3 Die »Mitte« im »Kirchenstreit« in Sachsen ...... 79 3.1. Phase I: 1933-1935...... 79 3.1.1. Das Misstrauensvotum gegen den Landesbischof Friedrich Coch ... 79 3.1.2. Die Positionierung der »Mitte« im Gegenüber zur »Dahlemer Haltung« ...... 92 3.1.3. Die sog. »Aktion Roch« ...... 109 3.2. Phase II: 1935-1937 ...... 113 3.2.1. Die Einsetzung des sächsischen Landeskirchenausschusses als Verdienst der »Mitte« ...... 114 3.2.2. Die »Mitte« als Gründungsmitglied der Reichsarbeitsgemeinschaft Deutsche Evangelische Volkskirche ...... 130 3.2.3. Die »Mitte« im Vertrauensrat ...... 137 3.2.4. Die Ankündigung von Kirchenwahlen im Kontext des Scheiterns der Ausschusspolitik ...... 146 3.2.5. Die Besetzung der Superintendentur Leipzig-Stadt als Beispiel für das Erstarken der »Mitte« ...... 154 3.3. Phase III: 1937-1939 ...... 157 3.3.1. Die Neuorientierung der »Mitte« ...... 158 3.3.2. Der Treueid auf Hitler im Kontext der Neuorientierung der »Mitte« ...... 183 3.3.3. Der Umgang der »Mitte« mit dem theologischen Nachwuchs ...... 194

INHALT 9

3.4. Phase IV: 1939-1945 ...... 206 3.4.1. Die Mitarbeit Heinrich Schumanns im Landeskirchenamt ...... 207 3.4.2. Auseinandersetzungen in geistlichen Dingen ...... 225 a) Religionsunterricht und Konfirmation ...... 225 b) Gottesdienst ...... 229 3.4.3. Die Frage nach der Beteiligung der »Mitte« am Kirchlichen Einigungswerk ...... 234 3.5. Ausblick: Nach 1945 ...... 242 3.5.1. Neue Auseinandersetzungen innerhalb der Pfarrerschaft ...... 243 3.5.2. Beispiele schwieriger Personalpolitik ...... 254 a) Die Wahl des Landesbischofs ...... 254 b) Die Wahl des stellvertretenden Superintendenten der Ephorie Leipzig-Stadt ...... 258 3.5.3. Die weitere Existenz der Sächsischen Pfarrbruderschaft ...... 264

Inhalte

Kapitel 4 Zentrale Programmschriften der »Mitte« ...... 274 4.1. Phase I: 1933-1935 ...... 275 4.2. Phase II: 1935-1937...... 278 4.3. Phase III: 1937-1939 ...... 280 4.4. Phase IV: 1939-1945 ...... 285 4.5. Ausblick: Nach 1945 ...... 291

Kapitel 5 Theologiegeschichtliche Überlegungen zur Ekklesiologie der »Mitte« ...... 298 5.1. Allgemeine Grundlagen der Ekklesiologie der »Mitte« ...... 299 5.1.1. Kirchliche Existenz als lutherisches Bekenntnis ...... 299 5.1.2. Die Zwei-Reiche-Lehre ...... 300 5.1.3. Die Ablehnung der Union ...... 304

10 INHALT

5.2. Konkrete Einflüsse auf die Ekklesiologie der »Mitte« ...... 306 5.2.1. Der Bund für eine lebendige Volkskirche ...... 307 5.2.2. Martin Doerne (1900-1970) ...... 314 5.2.3. Hermann Mulert (1879-1950) ...... 322 5.2.4. Wilhelm Goebel (1869-1942) ...... 329

Personen

Kapitel 6 Die Struktur der »Mitte« ...... 339 6.1. Die Vertrauensmännerversammlung der »Mitte« ...... 341 6.2. Der Arbeitskreis der »Mitte« ...... 345 6.3. Die Leitung der »Mitte« ...... 351 6.4. Das Mitgliedschaftswesen der »Mitte« ...... 355

Kapitel 7 Ausgewählte Vertreter der »Mitte« ...... 360 7.1. Willy Gerber (1895-1980) ...... 360 7.2. Rudolf Heinze (1905-1997) ...... 369 7.3. Ernst Loesche (1887-1947) ...... 376 7.4. Heinrich Schumann (1875-1964) ...... 383 7.5. Arno Spranger (1884-1972) ...... 390

Kapitel 8 Kritische Würdigung...... 397

Dokumente ...... 409 Phase I: 1933-1935 ...... 409 Phase II: 1935-1937 ...... 432 Phase III: 1937-1939 ...... 437 Phase IV: 1939-1945 ...... 447 Ausblick: Nach 1945 ...... 454 INHALT 11

Personenregister mit Biogrammen ...... 475

Quellen- und Literaturverzeichnis ...... 508 Archivalien ...... 508 Gedruckte Quellen...... 509 Sekundärliteratur ...... 513 Separate Internetadressen ...... 525

Abkürzungsverzeichnis ...... 526

Einleitung

Gegenstand und Fragestellung

»Die Mitte ist es gewesen« ---- mit diesen Worten begann der Direktor der Inneren Mission in Leipzig, Fritz Mieth, am 10. August 1945 seine Verteidi- gungsrede auf die kirchenpolitische Gruppierung, die sich in Sachsen wäh- rend der Zeit des Nationalsozialismus zwischen den Fronten positioniert hatte.1 Bereits ein Vierteljahr nach der Befreiung Leipzigs durch amerikanische Trup- pen war es nötig geworden, der Leipziger Pfarrerschaft den Spiegel vorzuhal- ten, sie an die Geschehnisse der letzten Jahre zu erinnern und somit Lob und Schelte gerecht zu verteilen. Während die Deutschen Christen (DC) deutlich als Verlierer aus dem »Kirchenstreit«2 hervorgingen, wähnte sich die Bekennende Kirche (BK) als Siegerin der Auseinandersetzungen der vergangenen zwölf Jahre. Doch greift diese Gegenüberstellung aus heutiger Sicht zu kurz. Zum einen ist fraglich, inwiefern man in Bezug auf die kirchenpolitischen Gruppie-

1 Vgl. Protokoll Ephoralkonferenz, 10. August 1945 (EphArch Leipzig I/2/18, 129- 137, 131; LKArch 5/330/2, 227; 5/391/7, 47-51, 48). Dort auch Zitat. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich ausschließlich mit der evangelischen Kirche. Zur Geschichte der katholischen Kirche im Bistum Meißen während der Zeit des Nationalsozialismus vgl. Bistum Dresden-Meissen, hg. v. Bistum Dresden-Meißen, Leipzig 1994, 35-37; Birgit MITZSCHERLICH: Diktatur und Diaspora. Das Bistum Meißen 1932-1951 (VKZG.B 101), Paderborn 2005, 39-376; DIES.: Das Bistum Meißen in der NS-Zeit, in: Clemens VOLLNHALS (Hg.): Sachsen in der NS-Zeit, Leipzig 2002, 143-154. Zur Forschungslage bezüglich der katholischen Kirche in der NS-Zeit vgl. Karl-Joseph HUMMEL/Michael KIßENER (Hg.): Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, Paderborn 2009. 2 Statt des ambivalenten Begriffes »Kirchenkampf« wird in der vorliegenden Studie der ebenfalls zeitgenössische, aber unverfänglichere Begriff »Kirchenstreit« verwendet. Der Rückgriff auf die Quellensprache ermöglicht die Beibehaltung der Prägnanz des traditionellen »Kirchenkampf«-Begriffes, die durch bisher vorgeschlagene Alternativ- formulierungen nicht erreicht wird, vgl. Joachim MEHLHAUSEN: Art. Nationalsozialismus und Kirchen, in: TRE 24 (1994), 43-78, 43f. Die Bezeichnung der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen während der Zeit des Nationalsozialismus als »Kirchenstreit« hat fernerhin für sich, dass er die Innerkirchlichkeit der Auseinandersetzungen in Gestalt von innerkirchlichen Streitigkeiten impliziert, wohingegen der traditionelle »Kirchenkampf«-Begriff einen Kampf der Kirche gegen den NS-Staat suggeriert. Vgl. dazu unten Kap. 8. 14 KAPITEL 1 rungen überhaupt von Sieg und Niederlage sprechen kann. Zum anderen erschöpfte sich die Kirchenpolitik während der NS-Zeit nicht in der Existenz dieser beiden Gruppierungen und in deren Verhältnis zum Staat. Im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen DC und BK hatte sich in manchen Landeskir- chen eine dritte Gruppierung gebildet, die sich zwischen den beiden Extrem- positionierungen einem kirchenpolitischen Mittelkurs verschrieb.3 In Sachsen war diese Gruppierung der »Mitte« besonders einflussreich. Die Bezeichnung als »Mitte« sorgte dabei immer wieder für Diskussionen. Zwar benutzte Oskar Bruhns die Bezeichnung bereits im Kontext der beab- sichtigten Gründung,4 doch galt diese Kennzeichnung vielen Mitgliedern als »farblos«5. Neben der Bezeichnung »Mitte« war anfangs auch die Standortbe- stimmung zwischen den Fronten als Selbstbezeichnung üblich, sodass die Ver- treter der Gruppe auch »Zwischenfrontler« genannt wurden.6 Obwohl sich die »Mitte« in Sachsen bereits im Herbst 1934 gründete, zog sich der organisatori- sche Ausbau als kirchenpolitische Gruppierung über Jahre hin. Ein Programm gab sich die »Mitte« erst im April 1938. Im November 1938 erfolgte dann die offizielle Namensgebung als Sächsische Pfarrbruderschaft zum Neubau der lu- therischen Volkskirche.7 Weil die »Mitte« in dieser Organisationsform eine rein sächsische Gruppierung war, beschränkt sich die vorliegende Studie auf das Gebiet der sächsischen Landeskirche. Ereignisse, die außerhalb Sachsens stattfanden, werden ebenso wie nichtsächsische Einzelpersonen bzw. Perso- nengruppen nur in dem Maß berücksichtigt, wie sie für die Thematik relevant sind. Das Anliegen der vorliegenden Studie ist es, auf eine bis heute nicht hin- reichend bekannte und unterschätzte Gruppierung aufmerksam zu machen und somit zu einer differenzierten Betrachtungsweise des »Kirchenstreites« beizutragen. Die ausgewerteten Quellen sollen den Raum der »Mitte« in seinen verschiedenen Dimensionen beleuchten und somit eine vertiefte Kenntnis der

3 S.u. Kap. 3.2.2. 4 Vgl. Bruhns an Herz, 5. November 1934 (LKArch 5/391/1, 3077; UAL Na Herz 32/ 2, 47). 5 Vgl. Heinze an Pfarrbruderschaft, 10. November 1938 (LKArch 5/330/2, 118=119). 6 Erstmals kam die Kennzeichnung »zwischen den Fronten« im Januar 1934 in Dres- den auf ---- als Selbstbezeichnung bei Kurt MARTIN: »Wir wollen den Frieden«, 9. Januar 1934 (LKArch 5/311, 1; s.u. Dok. 2), vonseiten der BK in einem Brief v.Kirchbachs »an die Brüder zwischen den Fronten«, 24. Januar 1934 (LKArch 5/LBR 159, 216; 5/101/1, 9; 5/394/1, 72; 5/391/1, 1021f; 36/63, 234), s.u. Kap. 2.1.2. Anschließend ist die Be- zeichnung in Chemnitz nachweisbar, vgl. Hoffmann an Herz, 10. November 1934 (UAL Na Herz 32/2, 61), s.u. Kap. 2.3.2.a. In Leipzig hatte sich hingegen die Bezeichnung »Mitte« etabliert, vgl. Bruhns an Herz, 5. November 1934 (LKArch 5/391/1, 3077; UAL Na Herz 32/2, 47). 7 Vgl. Heinze an Pfarrbruderschaft, 10. November 1938 (LKArch 5/330/2, 118=119). DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 15

Vergangenheit ermöglichen.8 Inmitten vielfältiger Studien zur Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus ist die vorliegende Untersuchung daran in- teressiert, eine wesentliche Lücke zu schließen.

Forschungsstand und Quellenlage Während die erste Phase der Aufarbeitung der Kirchengeschichte der Zeit des Nationalsozialismus neben der Bewahrung wertvoller Erinnerungen maßgeb- lich einer überhöhten Sichtweise der BK Vorschub leistete,9 war die zweite Aufarbeitungsphase in den 1960er Jahren vorrangig von umfassender Quel- lensicherung und Gesamtdarstellungen geprägt. Ausgangspunkt der zweiten Phase war die 1955 erfolgte Gründung der gesamtdeutschen Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit. Seit den 80er Jahren hat sich schrittweise ein neutralerer Zugang zur Geschichte der NS-Zeit durchgesetzt, wobei verstärkt auf Einzelpersonen und regionale Stu- dien Wert gelegt wurde.10 Neben den schon längere Zeit existierenden Gesamt- darstellungen zur Geschichte des »Kirchenstreites«11 sind in jüngerer Zeit im

8 Der Verwendung des Raumbegriffes liegt als methodologische Voraussetzung die geschichtsphilosophische Entwicklung des spatial turn zugrunde. In der vorliegenden Studie zum Gegenstand der »Mitte« wird der Begriff des Raumes im metaphorischen Sinn verwendet, um die zeitlich-politische (NS-Zeit), regionale (Sachsen), inhaltliche (Programm), theologische (Theologiegeschichte), strukturelle (Organisation) und per- sonelle (Biographien von Mitgliedern) Dimension der »Mitte« zusammenzufassen. Zum spatial turn vgl. Stephan GÜNTZEL (Hg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stutt- gart 2010. Darin v.a. Jörg DÖRING: Spatial Turn, 90-99; Knut EBELING: Historischer Raum. Archiv und Erinnerungsort, 121-133; Laura KAJETZKE/Markus SCHROER: Sozialer Raum. Verräumlichung, 192-203. Vgl. ebenso Susanne RAU: Räume. Konzepte, Wahr- nehmungen, Nutzungen, Frankfurt/M. 2013. 9 Vgl. dazu die Kritik von Friedrich BAUMGÄRTEL: Wider die Kirchenkampf-Legenden, Neuendettelsau 1958. 10 Vgl. dazu Klaus FITSCHEN: Ambivalenzen des Kirchenkampfes, in: Thomas BRECHENMACHER/Harry OELKE (Hg.): Die Kirchen und die Verbrechen im nationalsozia- listischen Staat (Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 11), Göttingen 2011, 113- 122. Zur Legendenbildung vgl. Peter MASER: Der Kirchenkampf und seine Legenden, in: DERS. (Hg.): Der Kirchenkampf im deutschen Osten und in den deutschsprachigen Kirchen Osteuropas (KO.M 22), Göttingen 1992, 9-26. Die sog. Kirchenkampfkommis- sion wurde 1970 zur Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte umstrukturiert. 11 Vgl. Gerhard BESIER: Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20. Jahrhun- derts. Bd. 1: Kirche am Übergang vom Wilhelminismus zur Weimarer Republik. Von der Weimarer Republik ins »Dritte Reich« ---- der »Kirchenkampf« (Historisch-theologi- sche Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 5/1), Neukirchen-Vluyn 1994; DERS.: Die Kirchen und das Dritte Reich: Spaltungen und Abwehrkämpfe 1934-1937 (Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 3), Berlin/München 2001; Martin H. JUNG: Der Protestantis- mus in Deutschland von 1870 bis 1945 (KGE III/5), Leipzig 2002; Kurt MEIER: Der

16 KAPITEL 1

Zuge regionaler Aufarbeitung weitere Veröffentlichungen hinzugekommen, die eine genauere Kenntnis der Auseinandersetzungen jener Jahre vermitteln. Für die sächsische Landeskirche während der NS-Zeit ist zunächst grund- legend auf die Dissertation Joachim Fischers von 1972 hinzuweisen, die mit ihrem ausführlichen editorischen Anhang erstmals tiefergehende Einblicke er- möglicht hat.12 Daran schließt sich Kurt Meiers Gesamtdarstellung aus den Jahren 1976 bis 1984 an, die zudem die konkrete Situation innerhalb der ein- zelnen Landeskirchen in ausführlichen Exkursen berücksichtigt. Eine neuere territorialgeschichtliche Monographie legte Georg Wilhelm 2004 vor, die sich mit der Geschichte des evangelischen Leipzig zwischen 1933 und 1958 be- fasst.13 Kleinere Studien veröffentlichten seither Markus Hein14, Konstantin Hermann15, Benjamin Krohn16 und Gerhard Lindemann17. Die Aufarbeitung der Vergangenheit war auch in Sachsen zunächst (auto-) biographisch geprägt. Als Galionsfiguren der BK verschriftlichten Walter

evangelische Kirchenkampf. Bd. 1-3, Halle/S. 1976/1984; DERS.: Kreuz und Haken- kreuz. Die evangelische Kirche im Dritten Reich, München 2008; DERS.: Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle/S. 1967; Klaus SCHOLDER: Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1-2, Frankfurt/M./ Berlin/Wien 1977/1985. Neuere überblicksartige Gesamtdarstellungen liegen ebenfalls vor: Christoph STROHM: Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011; Olaf BLASCHKE: Die Kirchen und der Nationalsozialismus, Stuttgart 2014. 12 Vgl. Joachim FISCHER: Die sächsische Landeskirche im Kirchenkampf 1933-1937 (AKGRW 4), Halle/S. 1972. 13 Vgl. Georg WILHELM: Die Diktaturen und die evangelische Kirche. Totaler Machtan- spruch und kirchliche Antwort am Beispiel Leipzigs 1933-1958 (AKiZ.B 39), Göttingen 2004. Vgl. dazu auch DERS.: Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens im »Dritten Reich«. In: Vollnhals, Sachsen, 133-142. 14 Vgl. Markus HEIN: Zur Geschichte der sächsischen Landeskirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Manfred GAILUS/Wolfgang KROGEL (Hg.): Von der baby- lonischen Gefangenschaft der Kirche im Nationalen. Regionalstudien zu Protestantis- mus, Nationalsozialismus und Nachkriegsgeschichte 1930 bis 2000, Berlin 2006, 360- 382. 15 Vgl. Konstantin HERMANN: Die Evangelisch-lutherische Landeskirche im Kirchen- kampf ---- Das Pfarramt Frauenstein, in: DERS. (Hg.): Führerschule, Thingplatz, »Juden- haus«. Topografien der NS-Herrschaft in Sachsen, Dresden 2014, 228-231. 16 Vgl. Benjamin KROHN: Illusionen und Spaltungen. Die Evangelisch-Lutherische Kir- che in Chemnitz während des Nationalsozialismus, in: Stadtarchiv Chemnitz (Hg.): Chemnitz in der NS-Zeit. Beiträge zur Stadtgeschichte 1933-1945, Leipzig 2008, 123- 144; DERS.: Die Zwickauer Marienkirche und ihre Erhebung zum Dom 1935, in: Hermann, 140-143. 17 Vgl. Gerhard LINDEMANN: Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Sachsens und der Nationalsozialismus, in: KZG 18 (2005), 182-237; DERS.: »Christenkreuz und Ha- kenkreuz«. Dresdner Kirchen im »Dritten Reich«, in: Dresdner Hefte 29 (2011), 27-34; DERS.: Das Landeskirchenamt Dresden, in: Hermann, 144-147. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 17

Feurich18, Georg Prater19 und Georg Walther20 ihre Erinnerungen. Hinzu kam die Herausgabe der Erinnerungen Hugo Hahns in der redaktionellen Gestal- tung Praters21 sowie die Veröffentlichung des Manuskriptes der Lebenserinne- rungen Arndt von Kirchbachs.22 Vonseiten der »Mitte« gab Heinrich Schumann seine Erinnerung an jene Jahre innerhalb seiner Geschichte der Inneren Mis- sion in Leipzig wieder.23 Neben diesen frühen veröffentlichten Quellen sind mit den maschinenschriftlichen Erinnerungen Willy Gerbers24 und Rudolf Heinzes25 weitere unveröffentlichte Quellen zu nennen. Den Übergang von der Wiedergabe eigener Erinnerung zu historischer Forschung markiert die Bio- graphie über Karl Fischer von Hermann Klemm.26 Neuere ausführliche biogra- phische Studien, die den wissenschaftlichen Standards entsprechen, liegen

18 Vgl. Walter FEURICH: Lebensbericht eines Dresdner Gemeindepfarrers, Berlin 1982. 19 Vgl. Georg PRATER: Lasset uns halten an dem Bekenntnis. Persönliche Erinnerun- gen aus dem Kirchenkampf in Sachsen, Kiel 1960. 20 Vgl. Georg WALTHER: Erinnerungen an den kirchlichen Kampf mit dem National- sozialismus in Leipzig (1933-1945), hg. v. Ev.-Luth. Bekenntnisgemeinschaft Sachsen e.V., Leipzig 2005. 21 Vgl. Hugo HAHN: Kämpfer wider Willen. Erinnerungen des Landesbischofs von Sachsen D. Hugo Hahn aus dem Kirchenkampf 1933-1945. Bearb. u. hg. v. Georg Prater, Metzingen 1969. 22 Vgl. Arndt VON KIRCHBACH: Pietate et Armis. Erinnerungen aus dem Leben von Arndt v.Kirchbach (1885-1963), Hauptmann i. G., königl. sächs. Major a. D., Dompre- diger und Superintendent und Esther v.Kirchbach (1894-1946), verwitwete Gräfin zu Münster, geborene v.Carlowitz. Teil 1: Kindheit und Jugend (1886-1903). Der erste Beruf: Offizier (1903-1914), Teil 2: Der Erste Weltkrieg (1914-1918), Teil 3: Theologie. Der zweite Beruf (1919-1926), Teil 4: (1927-1939), Teil 5: Register, zsgest. v. Ernst KÄHLER, Ebersbach a. d. Fils 1987/88. 23 Vgl. Heinrich SCHUMANN: Die Geschichte der Inneren Mission in Leipzig 1869- 1959, Leipzig 1960. Diese Schrift ist zunächst unter dem Titel »Die Geschichte der Inneren Mission in Leipzig. Auf Wunsch des Verwaltungsrats der Inneren Mission in Leipzig verfasst von Oberkirchenrat D. Heinrich Schumann« in fünf Einzellieferungen (1957-1959) erschienen, deren durchgehende Seitenzählung von der abschließenden einbändigen Veröffentlichung, die im Folgenden verwendet wird, abweicht. 24 Vgl. Willy GERBER: »Erlebtes ---- Erstrebtes an St. Jakobi in Chemnitz 1929-1943«. Diese Lebenserinnerungen Gerbers befinden sich im Kirchgemeindearchiv der Chem- nitzer Jakobigemeinde (KGArch Chemnitz-Jakobi 21/5/1). Für den Hinweis auf die Existenz derselben dankt die Vfn. recht herzlich Benjamin Krohn. 25 Vgl. Rudolf HEINZE: »Der Krieg 1939 bis 1945 und die Kirchgemeinde Bischofs- werda«, [1945] (EphArch Bautzen 1/31); DERS.: »Unsere Bischofswerdaer Kirchge- meinde seit dem deutschen Zusammenbruch«, Mai 1946 (EphArch Bautzen 1/31); DERS.: »Darstellung meiner kirchenpolitischen Stellung, meiner Amtsführung und gegen mich getroffener Massnahmen in den Jahren 1933-1945«, 16. Januar 1948 (LKArch 2/987, 25-30); DERS.: »Meine Stellung zur NSDAP, zu den Deutschen Christen und zur Bekennenden Kirche und dann…«, November 1988 (LKArch 5/412, 1-21). 26 Vgl. Hermann KLEMM: Im Dienst der Bekennenden Kirche. Das Leben des sächsi- schen Pfarrers Karl Fischer 1896-1941, bearb. v. Gertraud Grünzinger-Siebert (AGK.E 14), Göttingen 1986. 18 KAPITEL 1 von Nikola Schmutzler über Johannes Herz27 sowie von Andreas Seidel über Erich Kotte28 vor. Des Weiteren wurden Sammelbände über Franz Lau29 und Walter Grundmann30 herausgegeben. Kleinere biographische Studien von Gerhard Lindemann behandeln Grundmann ebenso wie Friedrich Coch und Johannes Klotsche.31 Einblicke in das private Erleben eines sächsischen Theo- logiestudenten und jungen Pfarrers in den Jahren 1933-1945 gewähren Tage- buchaufzeichnungen und Briefe, die jüngst von Joachim Krause herausgege- ben wurden.32 Ein Sammelband mit Biographien sächsischer Theologen in der Zeit des Nationalsozialismus erscheint in Kürze.33 Die »Mitte« als kirchenpolitische Gruppierung in Sachsen wird bislang nicht gesondert wahrgenommen. Zwar weisen einige autobiographische Erin- nerungen auf deren Existenz hin, doch wird sie in wissenschaftlichen Studien bislang nur beiläufig erwähnt.34 Erst in neuerer Zeit, so bei Georg Wilhelm 2004 und Nikola Schmutzler 2013, existieren Unterkapitel, die sich der »Mit- te« in Bezug auf das jeweilige Forschungsthema zuwenden.35

27 Vgl. Nikola SCHMUTZLER: Evangelisch-sozial als Lebensaufgabe. Das Leben und Wir- ken von Pfarrer Johannes Herz (1877-1960) (AKThG 38), Leipzig 2013. 28 Vgl. Andreas SEIDEL: Kirchen- und Staatskirchenrechtliche Entwicklungen von der Weimarer Republik bis zum Ende der Fünfziger Jahre in der DDR. Erich Kotte (1886- 1961), Diss. Iur., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Juristische und Wirt- schaftswissenschaftliche Fakultät, Halle/S. 2015 (MS). 29 Vgl. Markus HEIN/Helmar JUNGHANS (Hg.): Franz Lau (1907-1973). Pfarrer, Landes- superintendent und Kirchenhistoriker. Kolloquium zu Leben und Werk am 22. Juni 2007 in der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig (HCh.Sonderband 17), Leipzig 2011. 30 Vgl. Roland DEINES/Volker LEPPIN/Karl-Wilhelm NIEBUHR (Hg.): Walter Grundmann. Ein Neutestamentler im Dritten Reich (AKThG 21), Leipzig 2007. 31 Vgl. Christine PIEPER/Mike SCHMEITZNER/Gerhard NASER (Hg.): Braune Karrieren. NS-Protagonisten in Sachsen am Beispiel Dresdens, Dresden 2012. Darin Gerhard LINDEMANN: Friedrich Coch. Ein aktiver Parteigenosse als sächsischer Landesbischof, 202-207; DERS.: Johannes Klotsche. Ein Vertrauensmann Mutschmanns an der Spitze der Landeskirche, 208-213; DERS.: Walter Grundmann. »Chefideologe« der sächsischen Deutschen Christen, 214-219. 32 Vgl. Joachim KRAUSE (Hg.): Fremde Eltern. Zeitgeschichte in Tagebüchern und Brie- fen 1933-1945, mit einem Nachwort von Christoph Dieckmann, Beucha/Markkleeberg 2016. 33 Vgl. Konstantin HERMANN/Gerhard LINDEMANN (Hg.): Zwischen Christuskreuz und Hakenkreuz. Biografien von Theologen der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Sachsens im Nationalsozialismus (HAIT. Berichte und Studien), Göttingen [2017] (in Vorbereitung). 34 Vgl. Gailus/Krogel. 35 Vgl. Wilhelm, 95.133-137; Schmutzler, 248-270. Ebenso: Nikola SCHMUTZLER: Johannes Herz. Zwischen Anpassung und Widerstand. Gab es einen Weg der »Mitte«?, in: Günther HEYDEMANN/Jan Erik SCHULTE/Francesca WEIL (Hg.): Sachsen und der Natio- nalsozialismus, Göttingen 2014, 283-299. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 19

Neben diesen mehrheitlich veröffentlichten gedruckten Darstellungen existiert detailreiches Archivmaterial, das für die Aufarbeitung des sächsi- schen »Kirchenstreites« unerlässlich ist. Von zentraler Bedeutung sind dabei die Handakten Heinrich Schumanns, die sich im Landeskirchenarchiv Dres- den (LKArch) befinden,36 sowie die »Kirchenkampf«-Akten aus dem Nachlass von Johannes Herz im Universitätsarchiv Leipzig (UAL).37 Eine umfangreiche Quellenzusammenstellung bietet die sog. »Kirchenkampf«-Sammlung des LKArch. Die zweite Aufarbeitungsphase hatte auch in Sachsen mit der Einset- zung einer Kommission begonnen, deren Aufgabe es war, Quellenmaterial zu- sammenzutragen. Da das LKArch beim Bombenangriff auf Dresden völlig zerstört wurde, war man an einer Zusammenführung des innerhalb der Lan- deskirche erhalten gebliebenen Materials interessiert, das man sammelte und ordnete. Besonderes Verdienst kommt in diesem Zusammenhang der damali- gen Vikarin und späteren Pfarrerin Dorothea Röthig zu, die diese Arbeit mit großer Sorgfalt ausführte.38 Zusätzlich zu den Beständen des LKArch und des UAL wurden für die vorliegende Studie die Bestände der Ephoralarchive von Auerbach/V., Baut- zen, Flöha und Leipzig gesichtet und ausgewertet.39 Für die Kennzeichnung etwaiger NSDAP-Parteizugehörigkeit wurde außerdem auf die Ortsgruppen- sowie die Zentralkartei des vormaligen Berlin Document Center (BDC) zurück- gegriffen, die sich nun im Bestand des Bundesarchivs in Berlin-Lichterfelde (BArch) befinden.

Gliederung

Die vorliegende Studie ist dreigliedrig angelegt, wobei der erste Teil (Chrono- logie) den Schwerpunkt bildet. Hier wird die sächsische Situation bis zur Gründung der »Mitte« kurz skizziert und sodann die Entstehung der »Mitte« sowie deren Wirksamkeit ausführlich dargestellt. In einem zweiten Teil (In-

36 Bei den Handakten Schumanns handelt es sich um sieben Aktenordner mit chronologisch geordnetem Material: LKArch 5/391/1-7. 37 Es handelt sich um die Akten UAL Na Herz 32/1-4 und 33/1-4. 38 Im Zuge der Aufarbeitung stellte Röthig eine umfangreiche Chronik zusammen: Dorothea RÖTHIG: Chronik des Kirchenkampfes in Sachsen, Dresden 1960. 39 Stichprobenartig wurden zusätzlich die Kirchgemeindearchive Auerbach/V., Leip- zig-Thomas und Niederwiesa aufgesucht, deren Bestände gesichtet und ausgewertet. Die Auswertung gibt Anlass zur Vermutung, dass Kirchgemeindearchive bezüglich der Forschungsthematik der »Mitte« von nachgeordneter Relevanz sind. Dies verwundert von daher nicht, als die »Mitte« bestrebt war, den »Kirchenstreit« aus den Gemeinden herauszuhalten. Zu kirchenpolitischen Konflikten bezüglich der »Mitte« kam es nicht zwischen Gemeindegliedern, sondern erst innerhalb der Pfarrerschaft. Diese Auseinan- dersetzungen wurden auf Ephoralebene und nicht auf Gemeindeebene geführt, weswe- gen die Kirchgemeindearchive kein derartiges Material beinhalten. Sie können jedoch zur genaueren biographischen Kenntnis über einzelne Pfarrer der »Mitte« beitragen. 20 KAPITEL 1 halt) werden die zentralen Programmschriften der »Mitte« zusammengefasst und der theologiegeschichtliche Hintergrund der »Mitte«-Ausrichtung beleuch- tet. Im dritten Teil (Personen) wird die Struktur der »Mitte« erläutert. Ausge- wählte Führungspersönlichkeiten der »Mitte« werden biografisch vorgestellt. Aufgrund der parallelen Anlage der drei Teile kommt es, wo es dem Ver- ständnis dient, zu inhaltlichen Wiederholungen. Die dahinterstehende Absicht ist, dass die Studie auch nach eigener Schwerpunktsetzung gelesen werden kann. Zahlreiche interne Verweise dienen daher dem individuellen Erschlie- ßen des Themas. Die abschließende kritische Würdigung reflektiert die Wirksamkeit der »Mitte« aus heutiger Sicht. Im Anhang ist der Studie eine umfangreiche Zusammenstellung zentraler Dokumente sowie ein Personenregister mit Kurzbiogrammen beigegeben.

Technische Hinweise

Die Zitation von Bibelstellen erfolgt der zeitgenössischen Bibelausgabe ent- sprechend nach der Lutherbibel von 1912. Die Schreibweise von Umlauten sowie »ss« bzw. »ß« in Zitaten wird beibe- halten. Angleichungen der Groß- und Kleinschreibung am Zitatanfang sowie die Korrektur offensichtlicher Rechtschreibfehler werden nicht kenntlich ge- macht. Im Dokumentenanhang wird hingegen auf jede Angleichung in der Rechtschreibung hingewiesen. Eckige Klammern markieren grammatikalische Anpassungen bzw. Satzumstellungen. Einfügungen, die durch die Verfasserin erfolgen, werden ebenfalls in eckige Klammern gesetzt, jedoch gesondert als externe Einfügungen markiert. Runde Klammern in Textzitaten sind original. Kursivdruck erfolgt zum einen zur besonderen Hervorhebung. Kursiv- druck in Zitaten wird als originale Hervorhebung bzw. als Hervorhebung durch die Verfasserin kenntlich gemacht. Zum anderen erfolgt Kursivdruck bei der Erwähnung von Zeitungen und Zeitschriften, zur Kennzeichnung von Gruppierungen, Verbänden und Vereinen sowie bei lateinischen Wörtern. Die kirchenpolitischen Gruppierungen werden nur in Langschreibung kursiv ge- druckt. Bei den entsprechenden Abkürzungen (DC und BK) wird auf Kursivie- rung verzichtet. Ebenso wird bei der zu behandelnden »Mitte« auf Kursiv- druck verzichtet. Um sie als Gruppierung sichtbar zu machen und sie von anderen Mittelgruppierungen sowie der allgemeinen Strömung der kirchen- politischen Mitte abzuheben, wird sie durchgängig in Anführungszeichen ge- setzt. Verweise folgen der besseren Lesbarkeit halber zumeist am Satz- bzw. am Abschnittsende. Literaturangaben erfolgen in der Erstnennung ausführlich, danach in der Kurzform Autor/in, Seitenangabe. Bei Verwechslungsmöglich- keiten wird zusätzlich der Kurztitel verwendet. Die jeweilige Kurzform wird im Literaturverzeichnis hinter der Literaturangabe genannt.

Chronologie

Kapitel 1 Die Situation in Sachsen bis zur Gründung der »Mitte«

»Der tragische Auftakt zum Kirchenkampf in unserer sächsischen Heimat war der Heimgang des allverehrten Landesbischofs D. Ludwig Ihmels am 7. Juni 1933.«1 Mit diesen Worten leitete Georg Walther seine Darstellung der An- fänge des Pfarrer-Notbundes ein und beschrieb damit ein wesentliches, wenn nicht sogar das wesentlichste Moment für den Verlauf der sächsischen Kir- chengeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus. Denn mit dem durch den Ihmelsʼschen Tod ausgelösten personellen Wechsel an der Spitze der sächsi- schen Landeskirche waren infolge der nationalsozialistischen »Machtergrei- fung« vom 30. Januar 1933 die Weichen für die nächsten Jahre gestellt.

1.1. Die Entwicklung bis zu den Kirchenwahlen 1933 Auch ohne den Tod des seit 1. Oktober 1922 amtierenden sächsischen Landes- bischofs Ludwig Ihmels2 am 7. Juni 1933 hätte in Sachsen ein personeller Wechsel in der politischen Umbruchszeit erfolgen müssen, da Ihmels am 29. Juni 1933 sein 75. Lebensjahr vollendet und ordnungsgemäß am 1. Juli seinen

1 Walther, 2. 2 Die Verfassung der Evangelisch-lutherischen Landeskirche des Freistaats Sachsen wurde zwar am 29. Mai 1922 verabschiedet, jedoch erst am 1. Oktober 1926 in Kraft gesetzt, sodass Ihmels zunächst noch die Stelle des Oberhofpredigers innehatte, ob- wohl er schon als Landesbischof bezeichnet wurde. Vgl. dazu Ernst Rudolf HUBER/ Wolfgang HUBER: Staat und Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Ge- schichte des deutschen Staatskirchenrechts. Bd. 4: Staat und Kirche in der Zeit der Weimarer Republik, Berlin 1988, Dok. 290, 644-651; Hein, Geschichte, 361, Anm. 4; Schmutzler, 202. Ausführlicher zu Ihmels vgl. Christoph Michael HAUFE: Art. Ludwig Ihmels (1858-1933), in: TRE 16 (1987), 55-59.

22 KAPITEL 1

Ruhestand angetreten hätte.3 Allerdings bedrängten ihn vor allem die Mitglie- der der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer evangelischer Pfarrer4, doch noch länger im Amt zu bleiben, um zunächst die Veränderungen abzuwarten, die sich reichsweit ergeben würden. Diese Bitte resultierte aus der Befürch- tung, dass im Falle einer sofortigen Wahl des Nachfolgers durch die 15. Landessynode keine nationalsozialistische Mehrheit erzielt werden könnte, »da die Zusammensetzung der Synode der Tatsache nicht Rechnung trage, daß die Nationalsozialisten inzwischen auch in der Kirche die Mehrheit bildeten.«5 Andere Kreise, wie z.B. die Positive Volkskirchliche Vereinigung, setzten sich hingegen für eine sofortige Bischofswahl ein und schlugen den Mecklen- burger Landesbischof Heinrich Rendtorff, den Hamburger Pfarrer Simon Schöffel und den Kasseler Reichsjugendwart Erich Stange als mögliche Kandi- daten vor.6 Vonseiten des Bundes für eine lebendige Volkskirche wurde dessen Vorsitzender, der Annaberger Superintendent Arno Spranger, als Bischofs- kandidat benannt.7 Die Ambivalenz, die die Frage nach der Bischofswahl mit sich brachte, wurde auch während einer Sitzung der kirchlichen Arbeitsverbände Sachsens am 18. Mai 1933 in Dresden deutlich. Hans Auenmüller, der neben seinem Pfarramt an der Dresdner Dreikönigskirche dem Christlich-Sozialen Volksdienst (CSVD) in Dresden angehörte und beim Landeskonsistorium das Referat über

3 Das Ruhestandsgesuch erfolgte bereits am 21. April 1933, vgl. Meier I, 479; Röthig, 4. 4 Die Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer evangelischer Pfarrer wurde im April 1931 in Chemnitz gegründet. Sie unterstand zunächst der Führung des Mochauer Pfarrers Willibald Hase und gliederte sich im Mai 1933 in die Reichsarbeitsgemein- schaft nationalsozialistischer evangelischer Geistlicher unter der Führung des fränki- schen Pfarrers Friedrich Klein ein, die sich später in den Bund evangelischer Pfarrer im Dritten Reich umbenannte, vgl. Meier I, 74, Anm. 282. Am 25. April 1933 forderte die Arbeitsgemeinschaft das sächsische Landeskonsistorium auf, das neue Berufsbeamten- gesetz inkl. »Arierparagraph« auf die Kirche anzuwenden. Diese Forderung wurde je- doch von der Kirchenleitung und der Ephorenkonferenz abgelehnt, vgl. Meier I, 478. 5 Fischer, 15. Ähnlich auch Meier I, 479; v.Nostitz-Wallwitz an Synodalgruppe der Rechten, 21. Mai 1933 (LKArch 5/410/1, 6f, 6). Die 15. Landessynode bestand zur Hälfte aus 1929, zur anderen Hälfte aus 1932 Gewählten, vgl. Röthig, 8. Am 10. Mai fand eine Sitzung des Konsistoriums und des Ständigen Synodalausschusses statt, auf der über infrage kommende Kandidaten für die Nachfolge beraten wurde. Ein Ergebnis konnte jedoch wegen »der Uneinigkeit in der Frage, ob die bestehende Synode oder mit Rücksicht auf den Umschwung in der politischen Stimmung des Kirchenvolkes eine neue Synode den Landesbischof wählen solle«, nicht erzielt werden, vgl. Röthig, 6. Dort auch Zitat. 6 Vgl. v.Nostitz-Wallwitz an Synodalgruppe der Rechten, 11. Mai 1933 (LKArch 5/ 410/1, 5f, 5). Ferner: Meier I, 479. 7 Vgl. v.Nostitz-Wallwitz an Synodalgruppe der Rechten, 21. Mai 1933 (LKArch 5/ 410/1, 6f, 7). Zu Arno Spranger s.u. Kap. 7.5. Zum Bund für eine lebendige Volkskirche s.u. Kap. 5.2.1. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 23

Sittlichkeitsfragen führte,8 widersprach der Ansicht des Leipziger Gymnasial- professors Hugo Hickmann, dass der Verbleib von Ihmels im Bischofsamt auf- grund der Bitte der NS-Pfarrer und der Einwilligung Ihmelsʼ eine nicht mehr zu ändernde Tatsache sei. Hickmann, der dem Evangelisch-Sozialen Kongress (ESK) als zweiter Vorsitzender angehörte und zugleich Vizepräsident des sächsischen Landtags und der Landessynode war, hatte zu bedenken gegeben, dass eine reibungslose Wahl unmöglich wäre und Ihmels als Landesbischof »die Überleitung in die neuen Verhältnisse« durchführen sollte; dass die Synode aufgelöst würde, sei unterdessen nicht zu befürchten. Auenmüller hin- gegen sprach sich für die Vorbereitung einer baldigen Bischofswahl aus. Einigkeit bestand bei den Sitzungsteilnehmenden darin, dass der sächsisch- lutherische Einfluss im Reich gestärkt werden müsse, weswegen an die Beauf- tragung eines »theologischen Führers« gedacht wurde, der die sächsischen Anliegen in Berlin vertreten sollte. Der weiterführende Gedanke Auenmüllers, diesen »theologischen Führer« auch als Landesbischof ins Auge zu fassen, wurde von Hickmann abgelehnt, der den Leipziger Superintendenten Gerhard Hilbert als theologische Führungskraft vorgeschlagen hatte. Dieser habe sowohl »Fühlung zu den NS und Deutschnationalen« wie auch Beziehungen zum Hannoverschen Landesbischof August Marahrens und sei bereits außer- ordentliches Mitglied des Landeskonsistoriums. Auenmüller führte demgegen- über den bereits erwähnten Annaberger Superintendenten Arno Spranger als Wunschkandidaten an, gegen den Hickmann jedoch Vorbehalte hatte, da Spranger seiner Meinung nach als Verbandsführer des Bundes für eine leben- dige Volkskirche für die angedachte Position nicht in Frage käme. Doch auch die Nominierung Hilberts wurde letztlich vom Konsistorium abgelehnt. Die Notwendigkeit einer theologischen Führungsperson neben einem im Bischofs- amt verbleibenden ---- wenn auch zunehmend gesundheitlich beeinträchtigten ---- Ludwig Ihmels wurde nicht gesehen.9 Ihmels hatte sich zwar Mitte Mai auf die Kompromisslösung des Ab- wartens eingelassen, doch wurde diese durch seinen Tod am 7. Juni 1933 hinfällig. War der Kampf um die Nachfolge schon vorher aufgeflammt, so entbrannte er nunmehr richtig. Wegen der Ereignisse in Preußen, wo es zu einem staatlichen Eingriff der Art kam, dass Landgerichtsrat August Jäger zum Staatskommissar für den Bereich sämtlicher evangelischer Landeskir- chen in Preußen eingesetzt wurde,10 drängte der Dresdner Pfarrer und Gau- fachberater für kirchliche Angelegenheiten bei der Gauleitung der NSDAP

8 Vgl. Personalbogen Auenmüller, 1946 (LKArch 2/1021, 2.6). 9 Vgl. Niederschrift über Sitzung kirchlicher Arbeitsverbände, 18. Mai 1933 (LKArch 5/407, 6f). Dort auch Zitate. Warum Hickmann einen Verbandsführer ablehnte, ist nicht ersichtlich. Möglicherweise befürchtete er ein zu großes Gewicht eines einzelnen Verbandes im Gegenüber zu anderen kirchlichen Verbänden. 10 Vgl. Jung, 171; Meier I, 100f. 24 KAPITEL 1

Sachsen, Friedrich Coch,11 nun doch zu schnellem Handeln. Coch, der seit Mai 1933 zugleich der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer evangelischer Pfarrer in Sachsen war, forderte vom Landeskonsistorium, ihn kommissarisch mit dem Landesbischofsamt zu betrauen. Mit einer solchen Lösung, so argumentierte die Arbeitsgemeinschaft, käme man staatlichem Ein- greifen zuvor. Dennoch blieb Coch zunächst das Amt versagt. Die Kirchen- leitung war lediglich zu dem Kompromiss bereit, die Landessynode sofort aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen, was jedoch Coch und andere national- sozialistische Pfarrer ablehnten, weil sie »einen Wahlkampf wegen der außen- und innenpolitischen Spannungen, in denen das Deutsche Reich stehe, nicht verantworten [könnten]«.12 Da keine Übereinkunft erzielt werden konnte, folgte auch in Sachsen der staatliche Eingriff: Der sächsische Innenminister Karl Fritsch erließ am 30. Juni eine Anordnung, durch die Coch »mit der Wahrnehmung aller dem Landesbischof der evangelischen-lutherischen Lan- deskirche des Freistaates Sachsen zustehenden Rechte und Befugnisse […] betraut« wurde. Ebenso wurde Coch »ermächtigt, bis auf weiteres alle dem Evangelisch-lutherischen Landeskonsistorium, dem Landeskirchenausschusse und dem ständigen Synodalausschusse zustehenden Rechte auszuüben.«13 Bereits am Folgetag machte Coch von seinen neuen Rechten Gebrauch, indem er die Konsistorialräte sowie den -präsidenten mit sofortiger Wirkung beur- laubte und stattdessen das Landeskonsistorium mit Gefolgsleuten besetzte. Weiterhin wurden etliche Pfarrer und Superintendenten von Coch beurlaubt, so u.a. die Leipziger Pfarrer Heinrich Schumann (später »Mitte«), der Coch auf einer Ephorenkonferenz negativ aufgefallen war, und Ernst Lewek, der »Halb- jude« war, ebenso der Dresdner Stadtsuperintendent Johannes Ficker (später beide BK).14 Auch das Erscheinungsbild des Kirchlichen Gesetz- und Verord-

11 Zu Coch vgl. Gerhard LINDEMANN: Friedrich Coch. Ein aktiver Parteigenosse als sächsischer Landesbischof, in: Pieper/Schmeitzner/Naser, 202-207. 12 Fischer, 16. 13 KGVBl. 1933, 40. Dort auch vorheriges Zitat. Vgl. dazu Röthig, 14. 14 Vgl. KGVBl. 1933, 41; Protokoll Ephoralkonferenz, 11. Juli 1933 (EphArch Leipzig I/2/17, 141); Hahn an Reichsregierung, 11. Juli 1933 (LKArch 36/112, 3-10, 9f); v.Nostitz-Wallwitz an Synodalgruppe der Rechten, 17. August 1933 (LKArch 5/410/1, 8-12). Ferner: Klemm, 171. Zur Beurlaubung Schumanns vgl. ferner Coch an Schumann, 1. Juli 1933 (FamArch Graf, unpag.). Die Ephorenkonferenz als Zusammen- kunft aller sächsischen Superintendenten fand am 30. Juni 1933 statt. Schumann nahm an ihr als stellvertretender Superintendent anstelle Gerhard Hilberts teil. Die Konferenz, die zugleich Schumanns erste Ephorenkonferenz war, stand unter der Überschrift der aktuellen Lage, verbunden mit der Frage, ob Coch Landesbischof wer- den sollte. Vgl. dazu Bericht Schumann, 5. Juli 1933 (FamArch Graf, unpag.). Die Aufhebung der Beurlaubung Schumanns erfolgte am 15. Juli, vgl. Coch an Schumann, 15. Juli 1933 (FamArch Graf, unpag.). Im Rahmen der Ephorenkonferenz sprachen sich 21 von 31 sächsischen Superintendenten gegen die Ernennung Cochs aus, vgl. Fischer, 17, Anm. 15. Zur sächsischen Umbruchsituation allgemein vgl. Meier I, 478-480;

DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 25 nungsblattes für Sachsen wurde im deutsch-christlichen Sinne umgestaltet: In die bis dahin nur aus Text bestehende Überschrift wurde ein hervorgehobenes Kreuz eingefügt, das mit einem Hakenkreuz kombiniert wurde.15 Mit Coch hatte deutlich sichtbar eine neue Zeit begonnen. Der feierliche Einführungsakt Cochs fand am 1. Juli 1933 im Dresdner Ta- schenbergpalais, dem Sitz des Landeskonsistoriums, statt.16 Im Rahmen der Feierlichkeiten kam dem Dresdner Rechtsanwalt und neuen juristischen Be- vollmächtigten der Kirchenregierung, Max Schreiter, die Aufgabe zu, den er- folgten Wechsel an der Spitze der Landeskirche als Anbrechen einer »neuen Zeit« darzustellen. Dabei kam er ebenfalls auf die Personalfrage Coch zu spre- chen, die er jedoch als solche verneinte und stattdessen betonte, »daß nur derjenige, der den Mut gehabt hat, in der Not das Banner hochzuhalten, Füh- rer sein kann, der Bannerträger in der Not.« Adolf Müller, der als Schlussred- ner der Einführungsveranstaltung auftrat, hob im gleichen Duktus die Not- wendigkeit des Kampfes hervor, denn es gehöre »zu den Offenbarungen, die […] die neue Zeit gebracht hat, daß im Kampfe sich erst der Mensch ganz entfaltet und ganz zeigt, ganz offenbart, was in ihm ist.«17 In der folgenden Woche versuchte die neue Kirchenregierung, innerhalb der sächsischen Pfarrerschaft um Vertrauen zu werben. So waren sämtliche Superintendenten und Pfarrer der Landeskirche am 6. Juli zu einer Versamm- lung ins Dresdner Vereinshaus geladen, in deren Rahmen wiederum Schreiter für die Erklärung der neuen Verhältnisse zuständig war:

»Wir erwarten von Ihnen nicht, daß Sie uns heute eine Vertrauenskundgebung zubilligen. Wir erwarten von Ihnen heute nicht Zustimmungserklärungen, wir er- warten von Ihnen nur eins: offene Herzen und einen aufnahmebereiten und auf- nahmewilligen Geist. Wenn Sie uns heute verstehen, wenn Sie uns heute Ihr Herz

Wilhelm, 61-65. Zu den beurlaubten Konsistorialräten gehörte auch Erich Kotte, der in der Folgezeit der BK angehörte. Zu Kotte vgl. Seidel, Entwicklungen. 15 Vgl. KGVBl. 1933, 40. Die Kombination aus Kreuz und Hakenkreuz ist das typische Kennzeichen diverser DC-Embleme. Im Falle des Kirchlichen Gesetz- und Verordnungs- blattes für Sachsen war das Hakenkreuz nicht in das Kreuz integriert, sondern schien deutlich sichtbar im Verhältnis 1:2 hinter diesem hervor. Das Symbol wurde zu Jah- resbeginn 1936 wieder aus dem Titelbild entfernt, vgl. KGVBl. 1936, 1. Nach Klotsches Übernahme des LKA im August 1937 wurde das Symbol nicht wieder eingeführt, da inzwischen die Verwendung des Hakenkreuzes durch Religionsgemeinschaften verbo- ten worden war, vgl. RGBl. 1937, 442; KGVBl. 1938, 71. 16 Zur Umbenennung des Evangelisch-lutherischen Landeskonsistoriums in Evange- lisch-Lutherisches Landeskirchenamt kam es am 12. August 1933, vgl. KGVBl. 1933, 80. Der Umzug vom Taschenbergpalais in die Lukasstraße 6 erfolgte zum 1. Dezember 1933, vgl. KGVBl. 1933, 122. 17 Sonderausgabe der Sächs. Gemeindeblätter, o.D. (EphArch Leipzig I/8/99, 47). Dort auch vorheriges Zitat. Röthig, 15, merkt an, dass »der Sitzungssaal […] wie zu einem Begräbnis hergerichtet [war].« Diesen Bezug stellt ebenso Klemm, 172, her. 26 KAPITEL 1

öffnen wollen, dann sind wir sicher, daß Sie zwar noch nicht heute und morgen, aber übermorgen mit uns gehen werden.«

Bezüglich der Beurlaubungen betonte Schreiter, dass nichts endgültig ent- schieden sei: Außer der abgesetzten Kirchenregierung, die notwendigerweise für Vergangenes die Verantwortung übernehmen müsse, habe jeder Beurlaub- te die Möglichkeit, seine Vertrauenswürdigkeit zurückzugewinnen.18 Nachdem auf Reichsebene am 11. Juli 1933 die Verfassung der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK)19 verabschiedet und in der Folge die Notverord- nung in Preußen zurückgenommen worden war, hob am 14. Juli auch der sächsische Innenminister Fritsch die sächsische Notverordnung wieder auf, was zur Rehabilitierung der meisten Beurlaubten führte.20 Der wieder amtie- rende Konsistorialpräsident Friedrich Seetzen konnte sich jedoch gegenüber Coch nicht mehr behaupten und hielt »angesichts der von den Deutschen Christen hochgepeitschten Stimmung im Kirchenvolk und der Unterstützung durch die NSDAP, die Cochs Anhänger erfuhren, eine Wahl Cochs zum Landesbischof für unvermeidlich«.21 Für den 23. Juli waren inzwischen reichsweit Kirchenwahlen angesetzt, die in Sachsen keine Entspannung mit sich brachten.22

1.2. Die kirchenpolitische Gruppenbildung im Kontext der Kirchenwahlen 1933

Coch kandidierte bei der Kirchenwahl für die DC, die sich als Glaubens- bewegung Deutsche Christen in Sachsen erst Mitte August 1933 organisierten. Dennoch lässt sich schon von einer DC-Gruppierung sprechen, da bereits der Gauleiter für Sachsen, ,23 darauf hinwies, dass »jeder

18 Vgl. Niederschrift Pfarrerversammlung, 6. Juli 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 46, 1-9, 1.4). Dort auch Zitat. 19 Abgedruckt in: KGVBl. 1933, 60-62; KJ 1933-1944, 27-29; KThGQ 5, Dok. 40, 87- 90; Dieter KRAUS (Hg.): Evangelische Kirchenverfassungen in Deutschland. Textsamm- lung mit einer Einführung, Berlin 2001, 995-999. 20 Vgl. KGVBl. 1933, 53. Ferner: Fischer, 17f; Meier I, 480f. Röthig, 14.22f, stellt einen Briefwechsels Hindenburgs (30. Juni) mit Hitler (12. Juli) als bestimmendes Moment für die Aufhebung der Notverordnung dar, da Hindenburg betonte, dass er »das Anliegen derer [vertritt], denen an der inneren Freiheit der Kirche liegt« (JK 1933, 68). Vgl. dazu Klemm, 173. 21 Meier I, 481. 22 Vgl. KGVBl. 1933, 55f. 23 Zur Person Mutschmanns vgl. Andreas WAGNER: Martin Mutschmann. Der braune Gaufürst (1935-45), in: Mike SCHMEITZNER/Andreas WAGNER (Hg.): Von Macht und Ohn- macht. Sächsische Ministerpräsidenten im Zeitalter der Extreme 1919-1952, Beucha 2006, 279-308; Andreas WAGNER: Partei und Staat. Das Verhältnis von NSDAP und innerer Verwaltung im Freistaat Sachsen 1933-1945, in: Vollnhals, Sachsen, 41-56, 50-

DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 27 evangelische Nationalsozialist als Deutscher Christ anzusprechen sei«,24 was Coch in seiner Rede auf einer von Adolf Müller einberufenen Versammlung der DC am 20. Juni 1933 ebenfalls betonte.25 Heinrich Schumann, der in der Folgezeit aktiv an der Gründung der »Mitte« beteiligt war, charakterisierte die DC im Rückblick folgendermaßen:

»[Die DC] waren tief davon durchdrungen, daß Christentum und Deutschtum, Christus und das Deutsche Volk auf Grund einer tausendjährigen Geschichte un- trennbar zusammengehören[.] […] Freilich zeigte sich von Anfang an, daß in die- ser Glaubensbewegung Menschen sehr verschiedener Denkweise vereinigt waren. Die Kundgebungen, die man zu lesen bekam, waren vielfach unklar und ließen jene Sachkenntnis und Sorgfalt vermissen, die man von Menschen, die einen Füh- rungsanspruch in der Kirche erhoben, erwarten mußte. Viele Mitglieder waren mehr deutsch als christlich, weit mehr politisch als kirchlich interessiert und stellten Hitler in einer Weise neben Christus, über die ein gläubiger Christ er- schrecken mußte. Wo sie zur Macht in der Kirche gelangten, regierten sie vielfach ohne jede Rücksicht auf das Recht mit den Methoden eines totalitären Staates. In der Gestaltung des gottesdienstlichen Lebens verfuhren sie weithin eigenmächtig, und vielfach wurde auch das Bekenntnis angetastet.«26

Derart deutlich war die Lage in der ersten Hälfte der 30er Jahre freilich noch nicht einzuschätzen. Der »nationale Aufbruch« hatte auch die Kirchen umfas- send ergriffen. Vor allem die evangelischen Kirchen hatten sich mit der Wei- marer Republik nie recht anfreunden können. Nun aber schien sich das Blatt wieder zu wenden, weswegen viele Christinnen und Christen ihre Hoffnung auf die Hitler-NSDAP setzten, die bereits in ihrem Parteiprogramm von 1920 den »Standpunkt eines positiven Christentums« einnahm.27 Hitler, so dachte und deutete man die mitreißende Führerpersönlichkeit, sei der von Gott ge- sandte Prophet, der das entkirchlichte Volk wieder der Kirche zuführen wür- de.28 Die Kircheneintritte des Jahres 1933 sollten diese Hoffnung zunächst

53. Zur staatlichen Verwaltung in Sachsen vgl. Andreas WAGNER: »Machtergreifung« in Sachsen. NSDAP und staatliche Verwaltung 1930-1935, Köln/Weimar/Wien 2004. 24 Meier I, 479. Vgl. auch ders., Deutsche Christen. 25 Vgl. Röthig, 11f. 26 Schumann, 128f. 27 Vgl. Parteiprogramm der NSDAP, 24. Februar 1920 (auszugsweise abgedruckt in: KThGQ 5, Dok. 30, 71f; KJ 1933-1944, 12; vollständiger Wortlaut: http://www. documentarchiv.de/wr/1920/nsdap-programm.html [letzter Zugriff: 30. August 2016]). Dort auch Zitat. 28 Vgl. Hein, Geschichte, 367f. Auch Coch bestimmte die Volksmission zur Hauptauf- gabe der neuen Zeit, vgl. Niederschrift Pfarrerversammlung, 6. Juli 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 46, 1-9, 5) sowie Röthig, 17-20. Den Hintergrund für die Entkirchlichung des Volkes bildete die Kirchenaustritts- bewegung, die sich nach 1919 auch in Sachsen etabliert hatte. Zur Kirchenaustritts- bewegung in Sachsen vgl. Schmutzler, 204-208. Statistische Angaben finden sich bei Hein, Geschichte, 363. Zur Kirchenaustrittsbewegung allgemein vgl. Jochen-Christoph

28 KAPITEL 1 auch nicht enttäuschen.29 Des Weiteren sicherte Hitler den Kirchen in der Regierungserklärung vom 23. März seine Unterstützung zu, da sie die »wich- tigste[n] Faktoren der Erhaltung unseres Volkstums« seien; die Rechte der Kirchen sollten fernerhin nicht angetastet werden.30 Nachdem am Folgetag das Ermächtigungsgesetz sogleich mit seiner Bekanntgabe in Kraft getreten war, dominierte trotz aller politischen Zurückhaltung auch im kirchlichen Bereich ein Gefühl der Dankbarkeit, das sich mit der frohen Erwartung einer neuen geistlichen Erweckung verband: Hatte Ihmels in einem Rundbrief an die säch- sischen Pfarrer vom 20. Februar 1933 noch gemahnt, »daß die Predigt sich aufs sorgfältigste von jeder einseitigen politischen Stellungnahme zurück[zu- halten hat]«,31 deutete er in seiner Kanzelbotschaft für den 26. März die Er- eignisse dennoch positiv: Die Volkskirche, die »die tiefsten Nöte des Volkes [durchlebt]«, »darf und soll […] sich auch all der Freude mitfreuen, die Gott ihrem Volke schenkt.« Vor dem Hintergrund dieser Freude begrüße die Kirche »in ehrfürchtiger Dankbarkeit die ungeahnte Wandlung«, die sich im Volk vollzogen habe, das von einem »völlige[n] Neuwerden vaterländischer Gesin- nung« ergriffen worden sei.32 Im Umfeld dieser nationalsozialistischen Auf- bruchsstimmung gab es dennoch auch verhaltenere Stimmen, die die Über- parteilichkeit gewahrt wissen wollten. So äußerte sich bereits im Vorfeld der »Machtergreifung« ein Leser der Neuen Leipziger Zeitung, dass die Kirche es »nur ihrer geistigen und überparteilichen Einstellung […] zu verdanken [hat], daß sie jahrhundertelang besteht«33. Ein weiterer Leserbrief gewährt einen Einblick in die Gemeindesituation von Leipzig-Volkmarsdorf:

»Auch wir waren, als wir am Reformationstage v[origen] J[ahres] [1932] den Got- tesdienst in der Lucaskirche in Volkmarsdorf besuchten, über das Verhalten des Pfarrers sprachlos. Am Anfang seiner Predigt flocht er die Begrüßung der 60 bis 70 erschienenen uniformierten Nazis ein und sprach auch noch davon, daß er mit ihnen weiter kämpfen wolle usw. Wenn die Kirche von der Partei voll besetzt ge-

KAISER: Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenker- verbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stuttgart 1981. Eine weitere dezi- diert kirchenfeindliche Bewegung lag in der kommunistischen Gottlosenbewegung vor, die sich in den 20er und 30er Jahren ebenfalls ausbreitete. 29 Vgl. Jung, 158. Für Sachsen vgl. Georg WILHELM: Die Evangelisch-lutherische Lan- deskirche Sachsens im »Dritten Reich«, in: Vollnhals, Sachsen, 133-141, 134. 30 Vgl. Auszüge aus der Regierungserklärung Hitlers, 23. März 1933 (abgedruckt in: Dokumente I, Nr. 10/33, 23f; KJ 1933-1944, 23; KThGQ 5, Dok. 33, 75). Dort auch Zitat. 31 Rundschreiben Ihmels an Pfarrerschaft, 20. Februar 1933 (Beilage zu KGVBl. 1933, Nr. 3; EphArch Leipzig I/2/21, unpag.). 32 Vgl. Beilage zu KGVBl. 1933, Nr. 4. Dort auch Zitate. Meier I, 478f, gibt den Duktus Ihmelsʼ verzerrt wieder, indem er diesen »das völlige Neuwerden vaterländischer Ge- sinnung« als »Geschenk Gottes« bezeichnen lässt. 33 Leserbrief Neue Leipziger Zeitung, 15. Januar 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 22). Das Streben nach Überparteilichkeit war auch ein Grundmovens der »Mitte«. Zu des- sen Hintergrund vgl. Schmutzler, 256, bes. Anm. 333. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 29

wesen wäre, hätten wir uns das noch gefallen lassen, aber so bestand doch wohl der weitaus größte Teil aus Andersdenkenden. Wir wollten die Kirche sofort wie- der verlassen, mochten aber den Gottesdienst nicht stören und blieben sitzen. Wir sagen uns, wenn wir in die Kirche gehen, gehen wir nicht in eine Parteiversamm- lung. Wenn es die Geistlichen so weiter machen, geht bald niemand mehr in die Kirche.«34

Wie die Realität aussah, lässt auch der Hinweis des Leipziger Stadtsuperin- tendenten Gerhard Hilbert auf einer Ephoralkonferenz im März 1933 erahnen: Hilbert betonte, dass zwar stille politische Betätigung erwünscht, aber das Tragen von Abzeichen am Talar zu unterlassen sei. Des Weiteren seien natio- nalsozialistische Fahnen auf den Kirchen nicht zu dulden.35 Dennoch war es gerade Hilbert gewesen, der im Rahmen einer Ephorenkonferenz im Dezember 1930 seine jungen Kollegen zum Eintritt in die NSDAP ermutigt hatte.36 Der Ambivalenz waren sich ebenso einige führende Vertreter der DC be- wusst, weswegen sie auf der allgemeinen Pfarrerversammlung am 6. Juli zu ihrer Haltung Stellung nahmen:

»Und dann kamen die Bedenken: Auch Sie Parteimann? Sie wagen es, das Haken- kreuz zu nehmen? Fürchten Sie denn nicht, das Evangelium preiszugeben? Und da habe ich ihnen gesagt: Nein, das fürchte ich nicht und das werde ich nicht tun. Aber ich habe eine Hoffnung und ich habe eine Furcht; die Hoffnung, daß wir un- seren Brüdern in unserem Volke, die doch auch nicht leben können von der Wirt- schaft und die auch nicht bloß leben können vom Blut und Boden, […] ihre Seele geben können im Glauben der Kirche, und ich habe die Befürchtung, daß eine Kir- che, die sich diesem neu werdenden Volke entfremdet, auch nur durch Neutrali- tät, […] unfähig sein wird, ihrem Volke das Evangelium zu bringen. (Sehr richtig!) Nicht von der Politik her, um der Kirche willen bin ich ein nationalsozialistischer Pfarrer geworden.«37

Auf der knapp zwei Wochen später stattfindenden DC-Wählerversammlung in Leipzig, die »im Stile einer politischen Wahlversammlung« gestaltet war und zu der auch einzelne Pfarrer kamen, wagte einzig der Leipziger Nikolaipfarrer Theodor Kühn einen Widerspruch und wurde in der Folge des Saales verwie-

34 Leserbrief Neue Leipziger Zeitung, 15. Januar 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 22). Der erwähnte Pfarrer war Gerhard Richter. 35 Vgl. Protokoll Ephoralkonferenz, 9. März 1933 (EphArch Leipzig I/2/17, 134). Hilbert war völkisch, jedoch nicht deutsch-christlich gesinnt. Er gehörte in der Folge- zeit dem Notbund an. 36 Vgl. Hein, 192f. Neben Arno Spranger war Willy Gerber einer derjenigen, die sich von Hilbert hatten motivieren lassen, vgl. Gerber, Erlebtes, 53, sowie unten Kap. 7.1. (Gerber) und 7.5. (Spranger). 37 Adolf Müller während Pfarrerversammlung, 6. Juli 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 46, 1-9, 9). 30 KAPITEL 1 sen.38 Doch formierte sich im Anschluss eine kleine Gruppe von Pfarrern, die gegenüber dem Gewissenszwang der zukünftigen Kirchenregierung Ableh- nung empfanden. Zu ihr gehörten neben Kühn auch Georg Walther (später je- weils BK), Johannes Herz, Reinhold Burkhardt und Paul Tzschucke (später je- weils »Mitte«).39 Trotz mancherlei Bedenken erzielten die DC am 23. Juli 1933 die Mehr- zahl der Stimmen. In den meisten Gemeinden wurden Einheitslisten gewählt, sodass auf die DC sachsenweit rund 75 % der Stimmen entfielen. Eine organi- sierte Alternative hatte es in Sachsen nicht gegeben, wenn auch vereinzelt Kandidatenlisten unter der Überschrift »Kirche des Evangeliums« angedacht worden waren.40 Am 30. Juli erfolgte die Einführung der Gewählten in die Ämter, eine Woche später die Neuwahl der Landessynode, die als »Braune Synode« am 11. August zusammentrat, einstimmig Friedrich Coch zum Lan- desbischof wählte und durch ein Ermächtigungsgesetz das Führerprinzip in der Landeskirche umsetzte.41 Mit der Einführung des »Arierparagraphen« durch die »Verordnung der Herbeiführung eines kirchlichen und nationalsozialistischen Berufsbeamten- tums« vom 16. September war schließlich für viele Pfarrer die Grenze des Zumutbaren überschritten.42 So sammelte sich in Dresden um Hugo Hahn, den Superintendenten der Ephorie Dresden-Land, der sächsische Pfarrernotbund, der auch in den Folgejahren in Dresden ein festeres Standbein hatte als in Leipzig oder Chemnitz.43 Ein am 20. September verfasstes Rundschreiben an

38 Vgl. Walther, 3. Dort auch Zitat. Versammlungsort war der Große Saal des Kongressgebäudes des Zoologischen Gartens in Leipzig. 39 Vgl. Walther, 4; Wilhelm, 70. Herz und Walther waren es dann auch, die am 5. Oktober 1933 eine Aussprache mit Coch wünschten, dann aber mit Müller vorlieb nehmen mussten, s.u. 31f. 40 Vgl. Klemm, 173. Zu den Bedenken gegen Einheitslisten ferner: Schmutzler, 57.249f. 41 Die Bezeichnung »Braune Synode« war offizieller Natur und geht darauf zurück, dass die meisten Synodalen in NSDAP-Uniformen erschienen. Das Ermächtigungsge- setz sollte vorläufigen Charakter haben und bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfas- sung gelten, die jedoch nicht zustande kam. Vgl. dazu Fischer, 18f; Meier I, 481f; Röthig, 32. 42 Vgl. KGVBl. 1933, 99f. Dort auch Zitat. Die Durchsetzung des »Arierparagraphen« gestaltete sich insofern schwierig, als die NSDAP sich von den DC distanzierte und das Reichsinnenministerium die Anwendung der gegenüber NS-Recht radikalisierten Ver- ordnung untersagte, vgl. Fischer, 21-23. 43 Vgl. Prater, 9. Zu dem Kreis um Hahn zählten die Dresdner Pfarrer Hans Auenmüller (später »Mitte«), Karl Fischer, Arndt v.Kirchbach, Ernst Luthardt, Georg Prater, Richard Schulze, Oskar Stephan und Paul Sturm sowie für kurze Zeit Karl Aé (später »Mitte«), vgl. Röthig, 36. Zum Pfarrernotbund vgl. Meier I, 116-122; Wilhelm NIEMÖLLER: Der Pfarrernotbund. Geschichte einer kämpfenden Bruderschaft, Hamburg 1973; Scholder I, 560-626; sowie für Sachsen Hahn, 33-36; Klemm, 170-183. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 31 sächsische Pfarrer außerhalb Dresdens warb um Unterzeichnung einer beige- legten Verpflichtungserklärung zum Notbund.44 Doch ließen sich aus Leipzig nur 18 von 105 amtierenden und drei emeritierte Pfarrer darauf ein.45 Auch aus Chemnitz folgte nicht das erhoffte Echo. Nur wenige Pfarrer schlossen sich dem Notbund an. Dafür etablierte sich in Chemnitz die aus Laien beste- hende Gemeindebewegung Evangelische Volkskirche unter der Leitung des 1936 zwangsemeritierten Studienrates Adalbert Küntzelmann, der auch Mitglied des Landesbruderrates wurde.46 Diese Laienbewegung schloss sich am 6. Mai 1934 infolge der »Ulmer Einung«47 vom 22. April 1934 mit dem Pfarrer- notbund zur Bekenntnisgemeinschaft der evangelisch-lutherischen Kirche in Sachsen zusammen, die sich noch im selben Jahr in Bekennende evangelisch- lutherische Kirche in Sachsen (BK) umbenannte.48 Mit dem Gegenüber von Notbund und DC war die Formierung der kirchen- politischen Fronten allerdings noch nicht abgeschlossen. Die Gruppe derer, die sich später der »Mitte« zurechneten und sich als »Pfarrer, die weder dem Notbund noch den Deutschen Christen angehören«49 bezeichneten, hatte sich noch nicht gefunden, zumal eine derartige Frontenfestlegung nicht notwendig schien. Für das Funktionieren des kirchlichen Lebens vertraute man stattdes- sen auf die »geistliche Ansprechbarkeit des neuen Landesbischofs.«50 Diese gedachten die beiden Leipziger Pfarrer Johannes Herz (später »Mitte«) und Georg Walther (Notbund) am 5. Oktober 1933 im Rahmen einer Aussprache

44 Vgl. Rundschreiben Notbund, 20. September 1933 (UAL Na Herz 32/1, 79); Verpflichtungserklärung, September 1933 (ebd., 80). Ferner: Klemm, 178; Röthig, 41; Wilhelm, 78. 45 Vgl. Walther, 6. Es handelte sich um folgende Pfarrer: Superintendent Gerhard Hilbert, Johannes Birmele, Walter Böhme, Curt Fiedler, Hans-Eberhard Gensichen, Hans Hofer, Erich Kröning, Theodor Kühn, Erich Leistner, Ernst Lewek, Oskar Meder, Johannes Möbius, Hermann Rietschel, Vikar Martin Schmidt, Hans Siegfried Schnieber, Ernst Max Uhlmann, Traugott Wiemer, Kurt Zeuschner, em. Paul Fiebig, em. Otto von Harling, em. Paul Adalbert Wermann. Von diesen Pfarrern hatten lediglich Hilbert und Kühn eine Pfarrstellenleitung inne. Nach deren Eintritt in den Ruhestand war kein Leipziger Pfarrer mit Pfarrstellenlei- tung mehr im Notbund vertreten. 46 Zur Gemeindebewegung Evangelische Volkskirche vgl. Klemm, 192-199. Zur Zusam- mensetzung des Landesbruderrates vgl. Klemm, 227-229. 47 Abgedruckt in: Schmidt, Bekenntnisse 1934, 62f; KThGQ 5, Dok. 48, 108f. 48 Vgl. Fischer, 28, sowie ders., Dok. 7f, 189-192; Klemm, 192-199; Röthig, 85. Walther, 11, datiert den Zusammenschluss auf den 1. September 1934 und die fol- gende Umbenennung in Bekennende Ev.-luth. Kirche in Sachsen (BK) auf den 26. Sep- tember 1934. Wilhelm, 85, datiert den Zusammenschluss bereits auf den 22. April 1934. 49 So u.a. Herz an Kerrl, 1. Juni 1938 (UAL Na Herz 33/3, 207). 50 Walther, 4. Zum Folgenden vgl. ferner: Klemm, 179f. 32 KAPITEL 1 mit Coch im LKA51 in Anspruch zu nehmen. Doch statt Coch erwartete sie Adolf Müller. Die Aussprache bestritt dann im Wesentlichen Herz, der zu- nächst beklagte, dass »in vielen öffentlichen Reden und Kundgebungen die bisherige Arbeit der Kirche und Pfarrerschaft oft in ganz übertriebener und verallgemeinernder Weise herabgesetzt werde.« Müller suchte dies damit zu entschuldigen, »daß man augenblicklich das Alte rücksichtslos bekämpfen müsse«. Anerkennung fand hingegen Herzʼ Beschwerde über die »fortgesetzte Mißachtung der Sonntagsruhe durch Umzüge und Veranstaltungen« sowie über die nationalsozialistischen Jugendorganisationen, deren antikirchlich eingestellte Führer die Jugendlichen am Besuch des Gottesdienstes und des Konfirmandenunterrichts hinderten. Des Weiteren wies Herz auf die Zersplit- terungsgefahr hin, der die Gemeinden ausgeliefert wären, wenn die DC die Auflösung der bestehenden Gemeindeorganisationen verlangten. Müller ent- gegnete ihm, »daß keineswegs verlangt oder erwartet würde, daß alle Gemein- deglieder sich der Glaubensbewegung der Deutschen Christen anschliessen sollten«, woraufhin Walther »die Gefahr der Heuchelei [betonte], die mit einem von oben her geübten Druck auf die Gesinnung verbunden sei.« Müllers Ein- wand, »daß die Kirche zu einem Hort der Reaktionen zu werden drohe«, bestritt Herz und »versichert[e], daß auch die Kreise in der Kirche und Pfarrerschaft, die dem Neuen zunächst abwartend und in mancher Beziehung vielleicht auch kritisch gegenüberstünden, doch auch ihrerseits weitgehend einen Neubau der Kirche und eine Neugestaltung kirchlichen Lebens im Sinne volkskirchlichen Aufbauens wünschten und daran mit allen Kräften mitzuar- beiten willig und bereit wären, damit bei solchem Neubau etwas Gutes und Rechtes herauskomme und die Sache des Evangeliums dadurch gefördert werde.«52 Während Herz die Unterredung rückblickend positiv bewertete und den Weg der Aussprache als »viel fruchtbarer als papierene Resolutionen und Erklärungen« einschätzte,53 ging der Notbund dazu über, ein Rundschreiben an alle Pfarrer Sachsens zu verfassen, in dem er »alle diejenigen Amtsbrüder, die nicht zu den ›Deutschen Christen‹ gehören, [aufforderte,] sich auch ihrer- seits zu sammeln«. Man solle sich dabei weder am Namen »Notbund« stören, »der aus der Kampfzeit stamm[e] [und] künftig einem positiven Namen Platz machen« sollte, noch an einzelnen Formulierungen der zu unterzeichnenden

51 Das frühere Landeskonsistorium wurde im Zuge der Amtsübernahme durch Coch am 12. August 1933 in Landeskirchenamt umbenannt, vgl. KGVBl. 1933, 80; Röthig, 32f. 52 Herz an Wustmann, 10. Oktober 1933 (UAL Na Herz 32/1, 113-115). Dort auch vorherige Zitate. Vgl. dazu Walther, 4. 53 Vgl. Herz an Wustmann, 10. Oktober 1933 (UAL Na Herz 32/1, 113-115, 115). Dort auch Zitat. Walther gibt in seinen Erinnerungen keine Einschätzung der Aussprache wieder. Stattdessen drückt er sein schmerzliches Bedauern darüber aus, dass Müller ihm falsche Gewissensbindung vorwarf, vgl. Walther, 4. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 33

Verpflichtung, da es keine Zersplitterung in Sonderaktionen geben dürfe. Des Weiteren wurde den Notbund-Pfarrern ans Herz gelegt, »auch Laien gleicher Bereitschaft in ihren Gemeinden zu sammeln.«54 Der Anschluss des sächsi- schen an den reichsweiten Pfarrernotbund, den Martin Niemöller (Berlin- Dahlem) am 21. September gegründet hatte, erfolgte nur kurze Zeit später am 25. Oktober 1933, woraufhin die erste Notbundtagung für Sachsen unter An- wesenheit Niemöllers am 7. Dezember in der Dresdner Zionskirche stattfand.55 Dort beschloss man, Coch nicht länger als geistliche Führung der Landeskir- che anzuerkennen.56 Vorausgegangen war am 13. November der sog. Berliner Sportpalastskan- dal, infolge dessen es auch zu einem Umbruch innerhalb der Anhängerschaft der DC kam.57 Nachdem der sächsische Zweig sich erst im August als Glau- bensbewegung Deutsche Christen organisiert hatte, erfolgte nun bereits die Trennung von der Reichsbewegung und die Umbenennung in Volksmissiona- rische Bewegung Sachsens (Deutsche Christen): »Mit Luther und Hitler für Glau- be und Volkstum!«58 hatte man sich schnell für einen eigenen »sächsischen

54 Rundschreiben Notbund, Oktober 1933 (UAL Na Herz 32/1, 126). Unterzeichnet ist dieses Rundschreiben von den Superintendenten Hahn (Dresden-Land), Nicolai (Schneeberg) und Rietschel (Oschatz), von den Dresdner Pfarrern Aé, Fischer, v.Kirchbach, Lieschke, Luthardt, Michael, Prater, R. Schulze und Siegmund, den Leipzi- ger Pfarrern Fiedler, Gensichen, v.Harling, Kühn, Leistner, Schnieber, Walther und Zeuschner sowie von den Pfarrern Hellner (Dohna), Molwitz (Hosterwitz), Prehn (Klotzsche) und Richter (Burkersdorf). Zur Genese des BK-Namens s.o. 30f. 55 Vgl. Walther, 5. Klemm, 180, datiert den Beitritt auf den 20. Oktober 1933. An die- sem Tag konstituierte sich der Reichsbruderrat, dem auch Hugo Hahn angehörte, vgl. Meier I, 484. Zur Zusammenkunft am 7. Dezember 1933 vgl. Klemm, 187-189. 56 Vgl. Erklärung Pfarrernotbund, 7. Dezember 1933 (UAL Na Herz 32/1, 166=167). Ferner: Klemm, 188; Röthig, 55f. Die Aberkennung des geistlichen Führungsanspru- ches umfasste zu dieser Zeit noch nicht den pflichtmäßigen Gehorsam gegenüber der Kirchenleitung. Zu einer solchen umfassenden Ablehnung kam es erst infolge des ausgerufenen Dahlemer Notrechts, s.u. Kap. 2.3. sowie 3.1.2. 57 Vgl. Jung, 159-162; Meier I, 122-145, bes. 132-136. 58 Grußwort des Landesbischofs an Gemeinden, 10. Dezember 1933 (Beilage zu KGVBl. 1933, 131). Die Bezugnahme auf Martin Luther erklärt sich einerseits aus der sächsischen Tradition des konfessionellen Luthertums, andererseits stellte der im Jahre 1933 begangene 450. Geburtstag des Reformators samt seinen Feierlichkeiten und Gedenkveranstaltungen einen präsenten Hintergrund für diese Fokussierung dar. Der Slogan wurde im Dezember 1933 vom Evangelischen Jugendwerk Deutschlands übernommen, vgl. Verantwortung für die Kirche. Stenographische Aufzeichnungen und Mitschriften von Landesbischof Hans Meiser 1933-1955, bearb. v. Hannelore BRAUN u. Carsten NICOLAISEN. Bd. 1: Sommer 1933 bis Sommer 1935 (AKiZ.A 1), Göt- tingen 1985, 176f. Die Anbringung von Plakaten mit diesem DC-Slogan an Kirchentü- ren wurde von einigen Notbund-Pfarrern verweigert, so u.a. von Kühn, vgl. Kühn an LKA, 22. Dezember 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 70), ebenso von Walther, vgl.

34 KAPITEL 1

Kurs« entschieden.59 Trotz des sächsischen Sonderweges der DC beteiligte sich der sächsische Notbund an der vom reichsweiten Notbund geplanten ersten Kanzelabkündigung im Rahmen des Bußtagsgottesdienstes am 22. November. Als Reaktion auf die Sportpalastkundgebung stellte die vorformulierte Kanzel- abkündigung eine »offene Kampfansage gegen die Deutschen Christen und die DC-Kirchenleitungen« dar.60 Eine knappe Woche später erging vom säch- sischen Notbund ein neuerlicher Aufruf an die Pfarrerschaft, sich selbigem anzuschließen: Wer immer noch glaube, »eine unparteiische abwartende Hal- tung zwischen den Fronten einnehmen zu können, erklärt sich damit un- beteiligt an der Überwindung des Geistes der Irrlehre und unchristlicher Ge- walt in der Kirche.« Die DC, so habe es sich inzwischen gezeigt, seien nicht dazu berufen, »den Entscheidungskampf gegen das neue Heidentum erfolg- reich zu führen.« Um sich vor dem Vorwurf der »Reaktion« zu schützen, beton- ten die Verfasser, dass es dem Notbund eine Selbstverständlichkeit sei, sich »in heiliger Verantwortung zum Dienst an unserem deutschen Volke und dem Staate Adolf Hitlers ein[zu]setzen.«61 Die Volksmissionarische Bewegung Sachsen (Deutsche Christen) eignete sich ihrerseits am 10. Dezember 1933 als theologisches Programm die 28 Thesen von Walter Grundmann an, die u.a. ein Bekenntnis zu »Blut und Ras- se« beinhalteten, aber dennoch eine gemäßigte DC-Glaubensauffassung wider-

Walther an Hilbert, 13. Dezember 1933 (UAL Na Herz 32/1, 168; EphArch Leipzig I/2/ 21, unpag.). 59 Vgl. Fischer, 22; Meier I, 483. Dort auch Zitat. 60 Vgl. Meier I, 484. Dort auch Zitat. Weiterhin: Wortlaut der Kanzelerklärung, 19. November 1933 (LKArch 5/394/1, 25). Hahn schätzte die Verlesung der Kanzelabkün- digung ambivalent ein und riet letztlich, auf eine »formelle Abkündigung« zu verzich- ten und den Inhalt stattdessen in die Predigt einzubauen. Im gleichen Kontext teilte Hahn den Notbund-Pfarrern mit, dass aufgrund des neuen Reichskirchengesetzes ein »Verbot des Notbundes« nicht zu befürchten sei. Vgl. dazu Hahn an Notbund-Pfarrer, 19. November 1933 (LKArch 5/394/1, 23). Dort auch Zitate. Das Reichskirchengesetz vom 16. November 1933 betraf die Rechtsverhältnisse der Geistlichen und Beamten der Landeskirchen und hatte eine reichsweite Vereinheitlichung derselben vor allem in der Anwendung des »Arierparagraphen« zum Ziel. Zunächst war durch dieses Ge- setz die Rechtsgültigkeit diesbezüglicher Landeskirchengesetze ausgesetzt. Am 20. März 1936 wurde das Reichskirchengesetz aufgehoben, vgl. KGVBl. 1933, 133f; GBlDEK 1936, 33. Zur reichsweiten Kanzelabkündigung des Notbundes vgl. ferner: Niemöller, Geschichte, 38-43; Scholder I, 708. 61 Rundschreiben Notbund, 27. November 1933 (UAL Na Herz 32/1, 154). Hervorhe- bung durch Vfn. Unterzeichnet ist dieses Rundschreiben von den Superintendenten Hahn (Dresden-Land), Nicolai (Schneeberg) und Ritschel (Oschatz) sowie von den Dresdner Pfarrern Auenmüller, Fischer, v.Kirchbach, Lieschke, Luthardt, Prater, Siegmund und Stephan. Am Ende der Namensauflistung soll »u.a.« vermutlich einen größeren Unterstützerkreis andeuten. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 35 spiegelten und auch in weiteren Landeskirchen als Richtlinie der Kirchenlei- tung eingeführt wurden.62 Die zunehmende Frontenbildung innerhalb der sächsischen Landeskirche schlug sich zunächst und vor allem auf die etwa alle vier bis sechs Wochen stattfindenden Ephoralkonferenzen nieder, in deren Rahmen sowohl theologi- sche Fragestellungen als auch aktuelle Belange der jeweiligen Ephorien von der dortigen Pfarrerschaft behandelt wurden. Einen spannenden Einblick ge- währt dabei die Leipziger Ephoralkonferenz vom 9. November 1933, die »Die Predigt im Dritten Reich« zum Thema hatte. Zunächst referierte hierzu Heinrich Roehling, der zugleich Sprecher der DC in Leipzig war, indem er die NSDAP als »Bundesgenosse[n]« der kirchlichen Verkündigung charakter- sierte. In der Praxis bestehe jedoch die »Gefahr, daß der national-sozialistische Charakter zu stark betont wird u[nd] das Evangelium dahinter zurückbleibt.«63 Im Anschluss an Roehling verwies der dem Notbund angehörende Paul Fiebig in seinem Korreferat darauf, dass die gegenwärtigen Tage »politischer und nationaler Hochspannung […] dazu verführen, die Kanzel mit irgendeinem Rednerpult zu verwechseln«, und manche der Anwesenden »nun der Meinung sind, überall ---- auch in der Kirche und auf der Kanzel! ---- in erster Linie Partei- männer sein und als solche sich betätigen zu müssen.« Der Predigttext werde nur »als Folie [ge]sucht ---- je kürzer umso besser, weil man dann in der Entfal- tung der eigenen Gedanken umso ungehemmter ist«. Derartige Predigt sei ein »Mißbrauch der Bibel, der Kanzel und unserer Stellung als Diener der Ge- meinde.« Durch »die Übertragung staatlicher und politischer Maßnahmen und Gepflogenheiten auf das kirchliche Gebiet«, die »übrigens anfänglich von dem Führer selbst nicht geplant gewesen ist«, nähmen Staat und Kirche zugleich Schaden. Zwar seien »Führerautorität und Disziplin« wichtige Wiederentde- ckungen, doch müssten beide mit mehr Weisheit und Liebe verbunden wer- den, wie es auch Hitler vorlebe. Falls jedoch »in der Kirche und auf der Kanzel der barsche, rauhe Befehlston, den man sich angewöhnt hat, der herrschende wird«, entspräche diese Umgangsform weder dem pfarramtlichen Auftrag

62 Abgedruckt in: KGVBl. 1933, 134-136.141-143; Schmidt, Bekenntnisse 1933, 98- 102. Vgl. Fischer, 24-26; Röthig, 61f. Eingeführt wurden die Thesen ebenfalls in Braun- schweig, Mecklenburg, und Schleswig-Holstein. Protest gegen die Thesen gab es von mehreren Seiten, so z.B. von der Leipziger Theologischen Fakultät (vgl. Schmidt, Bekenntnisse 1933, 105-199) wie auch vom Notbund (vgl. Röthig, 67). Eine Aufzählung kritischer Äußerungen findet sich bei Fischer, 26, Anm. 92. Nach der Einsetzung des Landeskirchenausschusses wurde die Geltung der Thesen aufgehoben, vgl. KGVBl. 1936, 8. Zu Grundmann vgl. Deines/Leppin/Niebuhr; Lindemann, Grund- mann. 63 Protokoll Ephoralkonferenz, 9. November 1933 (EphArch Leipzig I/2/17, 143f). Dort auch vorheriges Zitat. 36 KAPITEL 1 gegenüber der Gemeinde noch dem Evangelium von der Gnade.64 In der an- schließenden Aussprache kam der ebenfalls dem Notbund angehörende Pfar- rer Curt Fiedler auf diesen Sachverhalt zurück und warnte vor einer »allzu großen Verflochtenheit mit der Politik«: Zum einen sei der Nationalsozialis- mus keine geschlossene Größe, wobei er auf die Hauer-Bewegung65 verwies, zum anderen müsse der genuin-lutherische Gedanke der Gewissensfreiheit stärker betont werden, zumal »viele leiden, weil sie nicht unbedingt ›ja‹ zu allem sagen können.« Das Stichwort der Gewissensfreiheit aufnehmend, führ- te Gerhard Hilbert die Äußerung seines Vorredners in kämpferischer Weise weiter:

»Wir sind nicht entbunden vom Kampf, nur die Fronten haben sich gewandelt. Der kommende Kampf gegen das deutsche Heidentum wird vielleicht noch schwerer werden als der gegen den Marxismus ---- die Gewissensfreiheit muß gewahrt blei- ben ---- ohne jede Einschränkung!«66

Gerade die Gewissensfreiheit wurde aber zunehmend infrage gestellt. Infolge der bereits erwähnten Kanzelerklärung des Notbundes gegen die DC vom 22. November 193367 verhärteten sich vielerorts die Fronten. Für Leipzig lässt sich eine Eskalation der Situation Ende 1933/Anfang 1934 anhand eines Nachtrags Hilberts für die Ephoralkonferenz vom 25. Januar 1934 mit hoher Wahrscheinlichkeit vermuten:

»Der Ephorus weist auf die Gefahr hin, die durch die kirchenpolitische Lage ge- schaffen w[orden] ist, dass die Amtsbrüderlichkeit in der Ephorie zertrümmert wird. Er bittet um Vertrauen untereinander u[nd] zu ihm als Vorgesetzten. Einmal dürfe nicht mehr die Anklage auf Reaktion erhoben w[erden], die im Volk das Ver- trauen zur Kirche zerstört u[nd] das Kirchenvolk irremacht in seiner Freude am nat[ional]soz[ialistischen] Staat. Dabei muß hingewiesen [werden] auf den Amts- eid. Sodann ward der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass trotz der Hetze (zw. ›Deutsche Xen‹ u[nd] ›Notbund‹) dennoch Vertrauen zu gemeinsamer Arbeit mög- lich wird.«68

64 Vgl. Referat Fiebig, 9. November 1933 (EphArch Leipzig I/8/99, 57-67, 1-8, 7f). Dort auch Zitate. Die acht Druckseiten des Referates wurden bei der Paginierung unter der Blattzählung 57-67 zusammengefasst. 65 Jakob Wilhelm Hauer (1881-1962) war der Begründer der Deutschen Glaubensbewe- gung, die er zusammen mit Ernst Graf zu Reventlow leitete. Die Deutsche Glaubens- bewegung war völkisch-germanisch und dezidiert antichristlich ausgerichtet. Vgl. dazu Ulrich NANKO: Die deutsche Glaubensbewegung. Eine historische und soziologische Untersuchung, Marburg 1993. 66 Protokoll Ephoralkonferenz, 9. November 1933 (EphArch Leipzig I/2/17, 143f, 144). Dort auch vorherige Zitate. 67 S.o. 34. 68 Protokoll Ephoralkonferenz, 25. Januar 1934 (EphArch Leipzig I/2/17, 148). »Xen« ist als aus dem Griechischen abgeleitete Abkürzung für »Christen« zu verstehen. DIE SITUATION IN SACHSEN BIS ZUR GRÜNDUNG DER »MITTE« 37

Nach dem 15. März 1934 fanden in Leipzig zunächst keine Ephoralkonferen- zen mehr statt.69 Sie wurden erst im November wieder aufgenommen, aller- dings in veränderter Form.70 Zum alten Modell wurde erst am 19. Februar 1936 zurückgekehrt.71

69 Vgl. Wilhelm, 82, der jedoch die Konferenz vom 14. Dezember 1933 übergeht. 70 Der Kirchenbezirk wurde nach Himmelsrichtungen aufgeteilt, sodass die einzelnen Konferenzen aus 20-25 Pfarrern bestanden. Vgl. Ebert an Coch, 29. Oktober 1934 (EphArch Leipzig I/2/17, 157) sowie Superintendentur Leipzig-Stadt an Pfarrerschaft der Ephorie, 27. Oktober 1934, wo besonders hervorgehoben wird, dass »alle Erörte- rungen oder Bemerkungen über Kirchenpolitik […] unbedingt zu unterlassen [sind]« (EphArch Leipzig I/2/17, 159f). 71 Vgl. Protokoll Ephoralkonferenz, 19. Februar 1936 (EphArch Leipzig I/2/17, 166). Zwischenzeitlich wurde am 14. März 1935 eine allgemeine Konferenz einberufen, die der kommissarische Superintendent Römer leitete, vgl. Protokoll Ephoralkonferenz, 14. März 1935 (EphArch Leipzig I/2/17, 163-165).

Kapitel 2 Die Entstehung der »Mitte«

Obwohl sich die »Mitte« erst im Spätherbst 1934 als kirchenpolitische Gruppierung konstituierte, reicht ihr Ansatz bereits in die Zeit des Jahres- wechsels 1933/34. Sowohl in Leipzig als auch in Dresden wurden unabhängig voneinander Versuche unternommen, der zunehmenden kirchenpolitischen Spaltung zu wehren. Letztlich war die konkrete Leipziger Situation ausschlag- gebend dafür, dass sich die zukünftige »Mitte« sachsenweit in wachsender Ab- grenzung zur BK etablierte. Diese gab mit den Synoden von Barmen und Dahlem die entscheidenden Wegpunkte für die Entstehung der »Mitte« vor.

2.1. Regionale Vorboten der Gründung der »Mitte« In den beiden bedeutendsten Ephorien der sächsischen Landeskirche, Leipzig- und Dresden-Stadt, fanden sich im Zuge der kirchenpolitischen Gruppenbil- dung einzelne Pfarrer zusammen, denen die Einheit der Landeskirche, die sich auch und besonders innerhalb der Pfarrerschaft widerspiegeln sollte, ein Herzensanliegen war. Der Leipziger Auftakt, der aus diesem Bestreben resul- tierte, kann dabei sowohl als frühester als auch als wesentlicher Vorläufer der Gründung der »Mitte« angesehen werden, während dem Dresdner Versuch eine unmittelbare Wirkung versagt blieb.

2.1.1. Die Leipziger »Weihnachtserklärung« als Auftakt zur »Mitte«- Gründung Während der kirchenpolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Leipzi- ger Pfarrerschaft, die letztlich zum Aussetzen der dortigen Ephoralkonferenz führten, entstand am 20. Dezember 1933 ein Rundschreiben zwölf Leipziger Pfarrer unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit,1 das »den Geist der Liebe in unserer Kirche wieder zur Geltung bringen und ein friedliches Zusammen-

1 Neben den DC und dem Notbund ließen sich auch einige »u.a.« zuordnen, vgl. Weihnachtserklärung, 20. Dezember 1933 (EphArch Flöha 218, unpag.; LKArch 5/LBR 159, 208=209; 5/330/1, 1=2=3a; 5/394/1, 60; 36/63, 248; UAL Na Herz 32/1, 191; Na Lau 29, 3; s.u. Dok. 1).

DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 39 arbeiten zum Heil unsrer Kirche und unsres Volkes anbahnen« wollte.2 Die dem Rundbrief beigelegte »Weihnachtserklärung« sollte von den Leipziger Pfarrern mit einer Zustimmungserklärung beantwortet werden, die an den Reudnitzer Pfarrer Oskar Bruhns zu richten war, auf den die Abfassung der Erklärung maßgeblich zurückging. Die »Weihnachtserklärung« beklagte das Vorhandensein von »Zwietracht und Mißtrauen«, welches die evangelische Kirche »untüchtig für die Erfüllung der grossen und heiligen Aufgabe werden [lässt], das deutsche Volk mit den Kräften des Glaubens und der Liebe zu durchdringen«. Daher müssten sich »alle Diener der Kirche, gleichviel welcher kirchenpolitischen Richtung sie angehören, […] in gemeinsamer, ernster Be- sinnung bussfertig die Hand reichen und sich gegenseitig verpflichten, allen notwendigen Meinungskampf im Geiste brüderlicher Liebe zu führen.« In den darauffolgenden fünf Thesen wurden die Regeln für eine derartige Zusam- menarbeit aufgestellt. Während die erste These die Verbundenheit der Kirche als communio sanctorum über »alle Richtungsstreitigkeiten und kirchenpoli- tischen Parteibildungen« erhob, empfahl die zweite These, »beim gemeinsa- men Kampf für die Kirche […] persönliche Verstimmungen […] zu überwin- den«, und mahnte zu Sachlichkeit und Liebe. Nach der jedem zustehenden Individualität (These 3) und der gegenseitig vorausgesetzten bona fides (These 4) betonte die abschließende fünfte These den Willen »zu gemeinsamer Arbeit für die Kirche im nationalsozialistischen Staat, auf dessen Boden [man] be- wusst steh[t].«3 Neben dem bereits erwähnten Initiator Oskar Bruhns gehörten mit dem Direktor der Leipziger Inneren Mission, Fritz Mieth, und dem Thomas- pfarrer Heinrich Schumann zwei weitere Vertreter der zukünftigen »Mitte«- Führung zu den Unterzeichnern.4 Dieses frühe Dokument umriss bereits sehr deutlich das Anliegen der »Mitte«: Nicht aus dem Bestreben heraus, sich nicht positionieren zu müssen, sondern um undienliche Spannungen und Spaltungen zu verhindern, blieben die »Mitte«-Vertreter zwischen den Fronten. Kein innerer Kampf sollte die Kirche entzweien; stattdessen käme es auf die Zusammenarbeit der kirchen- politischen Gegner im »gemeinsamen Kampf für die Kirche« an.5 Die Erklä- rung, die am 8. Januar 1934 auch an alle anderen sächsischen Pfarrer ver-

2 Vgl. Rundschreiben Leipziger Pfarrer, 20. Dezember 1933 (LKArch 5/330/1, 3; UAL Na Herz 32/1, 190; Na Lau 29, 2; s.u. Dok. 1). Dort auch Zitat. 3 Weihnachtserklärung, 20. Dezember 1933 (EphArch Flöha 218, unpag.; LKArch 5/LBR 159, 208=209; 5/330/1, 1=2=3a; 5/394/1, 60; 36/63, 248; UAL Na Herz 32/1, 191; Na Lau 29, 3; s.u. Dok. 1). Dort auch vorherige Zitate. Vgl. Röthig, 64, die die Weihnachtserklärung in gekürzter Fassung wiedergibt. 4 Die anderen neun unterzeichneten Pfarrer sind Abegg (erst DC, später »Mitte«), Bemmann, Leistner (Notbund), Meder (Notbund), Roehling (erst DC, später »Mitte«), Schröder (»Mitte«), Schuster, Stamm (»Mitte«) und Tzschucke (»Mitte«). 5 Vgl. Weihnachtserklärung, 20. Dezember 1933 (EphArch Flöha 218, unpag.; LKArch 5/LBR 159, 208=209; 5/330/1, 1=2=3a; 5/394/1, 60; 36/63, 248; UAL Na Herz 32/1, 191; Na Lau 29, 3; s.u. Dok. 1). Dort auch Zitat. Hervorhebung durch Vfn. 40 KAPITEL 2 sandt wurde, sollte als Selbstverpflichtung der Geistlichen verstanden werden, um »eine Störung der geistlichen Gemeinschaft der Amtsbrüder [zu] ver- hindern und durch ihr Dasein zur Entgiftung der Kämpfe bei[zu]tragen.«6 Obwohl sich 70 Pfarrer aus den beiden Leipziger Ephorien (Stadt und Land) zur Unterschrift bereiterklärten,7 »war die Zeit für einen gruppenübergreifen- den Verhaltenskodex [noch] nicht gekommen«8, was aus dem Antwortschrei- ben des Leipziger Pfarrernotbundes vom 3. Januar 1934 hervorging: Trotz der Zustimmung zur Notwendigkeit von Buße und gründlicher Entgiftung des kir- chenpolitischen Kampfes verweigerten die Notbund-Pfarrer die Unterschrift, da sie die begründete Sorge hätten, »dass damit eine neue kirchenpolitische ›Richtung‹ vorbereitet werde.« Des Weiteren führe der Pfarrernotbund seinen Kampf »nicht aus Kirchenpolitik, sondern um des Gewissens willen eben für jene Kirche, die […] mit Mitteln der Partei- und Machtpolitik wohl zerstört, niemals aber erbaut werden kann«. Recht pathetisch wurde betont, dass der Notbund »seiner Aufgabe untreu werden [würde], wenn er […] gegenüber zu- rückliegenden, aber nicht überwundenen Ereignissen [nicht] die heilige Pflicht jener unbedingten Wahrhaftigkeit befolgen wollte, deren Vorbild [der] Herr Jesus Christus selbst ist.« Etwas beleidigt klingt sodann das Argument, den Aufruf deswegen nicht unterzeichnen zu können, weil »dessen wesent- liche Ziele schon in unseren [des Notbundes, M.R.] Bestrebungen enthalten sind.«9 Die kirchliche Befriedung, die der Aufruf bewirken sollte, wurde demnach frühzeitig durch den Notbund verhindert.

2.1.2. Ein Dresdner Vermittlungsversuch Anders als der Leipziger Vorläufer zur Gründung der »Mitte« blieb der Dresd- ner Versuch, die neu entstandene Spaltung der Pfarrerschaft in kirchenpoliti- sche Gruppierungen zu überwinden, auf eine verantwortlich zeichnende Ein- zelperson beschränkt. Kurt Martin, der als Erster Pfarrer an der Pieschener Markuskirche amtierte, verfasste am 9. Januar 1934 eine Erklärung unter der Überschrift »Wir wollen den Frieden«, die er vermutlich allen Dresdner Pfar-

6 Bruhns an Pfarrerschaft Sachsens, 8. Januar 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.; LKArch 5/LBR 159, 210=211; 5/330/1, 4=5; 5/394/1, 59; 36/63, 247). Ein Ergebnis der sachsenweiten Erklärung ist nicht überliefert. 7 Vgl. ebd. sowie Röthig, 64. 8 Wilhelm, 88, der gegenüber Röthig, 64, betont, dass die »Weihnachtserklärung« nicht alleiniges Werk der »Mitte« ist, vgl. Wilhelm, 88, Anm. 185. Dieser Hinweis ist zwar gegenüber Röthig, 64, angebracht, verkennt jedoch die Bedeutung, die dieser Erklärung im Hinblick auf die »Mitte« zukommt. 9 Pfarrernotbund an Leipziger Pfarrerschaft, 3. Januar 1934 (UAL Na Herz 32/1, 192). Dort auch vorherige Zitate. Unterzeichnet ist der Brief von em. Fiebig, Fiedler, Gensichen, em. v.Harling, Kröning, Kühn, Lewek, Rietschel, Schnieber, Uhlmann, Walther, em. Wermann und Zeuschner. DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 41 rern zukommen ließ, ohne jedoch für Zustimmungserklärungen zu werben oder zur Unterzeichnung der Erklärung aufzurufen.10 Die Erklärung stieg ein mit der Feststellung, »daß in beiden Lagern solche sich finden, die den Frieden ehrlich wollen, weil sie die ungeheure Gefahr sehen, die in der beim Kampf schier unvermeidlichen Ueberspitzung der Gegensätze liegt.« Dieser Gefahr müsse man begegnen, indem man einen kirchlichen Frieden erstrebe, der im Sinne Jesu selbst sei, der »zweifellos die Einigkeit seiner Jünger gewollt hat.« Deswegen müsse man bereit sein, »Irrtü- mer einzusehen, Fehler, die hüben und drüben gemacht worden sind, zu vergeben und nach Kräften wiedergutzumachen und dann nicht mehr gegen- einander, sondern miteinander zu arbeiten«. Um dahin zu kommen, müsse man manches »scharfe Wort, das hier und da kränkend gewirkt hat«, verges- sen und dürfe nicht darauf beharren, dass dieses »feierlich zurückgenommen wird«, da es zum Frieden nicht förderlich wäre, »jedes Wort auf die Gold- waage« zu legen. Stattdessen gelte es, »aus aller Verschärfung und Verkramp- fung der Fronten« herauszukommen, zumal es nicht nur diejenigen gebe, die den DC oder dem Notbund angehörten. Es gebe auch viele andere, »die sich weder hier noch dort angeschlossen haben, nicht aus schwankender Gesin- nung heraus, sondern aus dem Gefühl der Verantwortlichkeit, auf ihrem Pos- ten als Wächter des Friedens zu stehen.«11 Eine genaue Zahl dieser Pfarrer, »die, wenn ich so sagen soll, zwischen den Fronten stehen«, gebe es nicht, da sie sich anders als die DC oder der Notbund »nicht an die Oeffentlichkeit« drängten.12 Dennoch hätten sie wichtiges zu sagen und müssten gehört wer- den. Sie hätten »nichts weiter als die schlichte Bitte, dem Frieden zu dienen, bei allem Ringen um die Wahrheit, bei aller Treue zu dem uns anvertrauten einen Evangelium sich doch immer zu fragen, was dem Frieden frommt.« Da die theologischen Gegensätze der Vergangenheit überwunden seien, solle man sich davor hüten, »neue Gegensätze aufzureißen.« Die Erklärung schloss mit der nochmaligen Feststellung, dass »man […] sich innerlich viel näher [steht], als man zugeben will«, weil letztlich alle Pfarrer »das Evangelium von Christus lauter und rein unserm geeinigten deutschen Volke verkünden« wollten. Dafür bräuchte es aber »keinerlei besonderer Organisation, heiße sie nun Bund oder Bewegung«. Ausreichend wäre allein der Raum der Kirche.13

10 Zu vermuten ist, dass sich Martin im Vorfeld mit einzelnen Kollegen über die Abfassung der Erklärung besprach. 11 Martin, Frieden. Dort auch vorherige Zitate. Hervorhebung im Original unterstri- chen. 12 Vgl. Martin, Frieden. Dort auch Zitate. Hervorhebung durch Vfn. An dieser Stelle begegnet die Kennzeichnung der »Mitte« als derer, die »zwischen den Fronten« stehen, erstmalig. 13 Vgl. Martin, Frieden. Dort auch Zitate. Hervorhebung im Original unterstrichen. In der Nennung von »Bund oder Bewegung« liegt eine Anspielung auf den Notbund und die Volksmissionarische Bewegung Sachsen (Deutsche Christen) vor. 42 KAPITEL 2

Kurt Martin verfasste diese Erklärung zu einer Zeit, als er selbst noch dem Notbund angehörte. Doch trat er einen guten Monat später aus ihm aus. Gegenüber Hugo Hahn begründete er diesen Schritt in großer Ausführlichkeit. Es sei seine Absicht gewesen, »innerhalb des Notbundes zum Frieden mitzuar- beiten«, weshalb er noch immer zu der von ihm verfassten Erklärung stehe. Doch sehe er zur Verwirklichung dieses Anliegens im Notbund »kaum noch eine Möglichkeit.« Da Hitler sich inzwischen deutlich zu Ludwig Müller als Reichsbischof bekannt habe, sei es ihm, so Martin, nicht mehr möglich, gegen Müller Stellung zu nehmen. Zwar sei ihm bewusst, dass auch der Obrigkeits- gehorsam Grenzen habe, doch sehe er »die Grenzen weiter draußen liegen als die […] Vorkämpfer des Notbundes.« Deswegen müsse er es auch ablehnen, Kanzelabkündigungen des Notbundes vorzunehmen oder dessen Flugblätter zu verteilen, da solche Handlungen gegen die Gehorsamspflicht verstoßen würden. Des Weiteren habe er sich verpflichtet, »den Streit von der Gemeinde fernzuhalten.« Am besten wäre es, so vermutete Martin, wenn sich der Not- bund wieder auflösen würde, denn die »unchristliche Gewalt in der Kirche« ließe sich wohl am ehesten beseitigen, »wenn wir alles meiden, was solche Gewalt herausfordert«. Es gelte schließlich, nicht gegen die Kirchenführung zu kämpfen, sondern mit ihr gegen die Deutsche Glaubensbewegung. Martin erklärte sich trotz seines Austritts aus dem Notbund bereit, weiterhin für suspendierte oder anderweitig gemaßregelte Pfarrer zu spenden.14 In der Folgezeit gehörte Kurt Martin zu denjenigen Pfarrern, um die sich die Dresd- ner »Mitte« zu sammeln begann.15

2.2. Die Barmer Bekenntnissynode als verpasste Gelegenheit zur Befriedung

2.2.1. Die zunehmende Separation des Pfarrernotbundes Der Weg des sächsischen Notbundes wurde seit seinem Anschluss an den reichsweiten Notbund maßgeblich von diesem bestimmt. Aufgrund der engen Verflochtenheit der Reichskirchenregierung mit der Kirche der Altpreußi- schen Union hatte der preußisch dominierte Notbund Niemöllers die Eigenhei- ten der einzelnen Landeskirchen meist nur unzureichend im Blick. Dennoch nahm dieser reichsweite Notbund nicht unerheblichen Einfluss auf die nicht- preußischen Notbund-Landesverbände und somit auf die Situation in den je- weiligen Landeskirchen. Im Zuge der reichsweiten Kirchenpolitik führte daher auch der Weg des sächsischen Notbundes über Barmen nach Dahlem, von der zunehmenden Separation zum Anspruch, allein rechtmäßige Kirche zu sein.

14 Vgl. Martin an Hahn, 12. Februar 1934 (LKArch 5/311, 2f). Dort auch Zitate. Zur Deutschen Glaubensbewegung s.o. 36, Anm. 65. 15 S.u. Kap. 2.3.2.b. DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 43

Im Januar 1934 schien dennoch kurzzeitig eine innersächsische Verstän- digung möglich: Im Rahmen der Ephorenkonferenz am 9. Januar war von allen Seiten Gesprächsbereitschaft signalisiert worden.16 An Coch wurde appelliert, »alles zu tun, was zum Frieden dient.«17 Dieser war auch bereit, sich mit den beiden zum Notbund gehörenden Superintendenten Hugo Hahn (Dresden- Land) und Johannes Rietschel (Oschatz), die an der Ephorenkonferenz nicht teilgenommen hatten, auszusprechen. Hahn wandte sich am Folgetag sodann schriftlich an Coch und gab zu bedenken, dass der Wiederteilnahme an der Ephorenkonferenz, die mit einer solchen Aussprache beabsichtigt war, die Er- klärung des Notbundes vom 7. Dezember 1933 im Wege stehe. Mit dieser hat- te der Notbund Coch die geistliche Führung der Landeskirche abgesprochen. Zwar würde es sich bei Hahn im Blick auf Coch »um keinen persönlichen Gegensatz« handeln, doch gehe es dem Notbund »überhaupt nicht um Per- sonen, sondern um die Sache.« Dennoch könne er gerade um der Sache willen nicht einfach persönlich die Erklärung vom 7. Dezember zurücknehmen, da ein solcher Schritt für ihn als Notbundvorsitzenden »nicht bloss persönlichen Charakter trägt.« Des Weiteren würde ein solcher Schritt »einer Billigung des gegenwärtigen Kurses gleich[kommen].«18 Unterdessen hatten sich auch die anderen Notbund-Superintendenten, die jedoch zur Ephorenkonferenz erschienen waren, an Coch gewandt und ihm ihrerseits Bedingungen für ein auskömmliches Miteinander in der Landeskir- che unterbreitet. Zu diesen Bedingungen gehörte u.a. die »Beseitigung jeden Nebenregimentes in den Gemeinden« im Zusammenhang mit der »Niederle- gung der Führerstellung des Landesbischofs in der Volksmissionarischen Bewegung Sachsens (Deutsche Christen)«, ebenso die Aufhebung des »Arier- paragraphen« im kirchlichen Bereich und die Umbildung des LKA.19 Coch sah sich unter diesen Umständen nicht mehr in der Lage, in eine persönliche Aussprache einzutreten, da einer solchen aufgrund der institutio- nalisierten Haltung des Notbundes sogleich amtliche Bedeutung zukäme.20

16 Vgl. zum Folgenden Fischer, 26-28. 17 Krönert während Ephorenkonferenz, 9. Januar 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.). 18 Hahn an Coch, 10. Januar 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.). Zur Notbunderklä- rung vom 7. Dezember 1933 s.o. 33. 19 Vgl. Erklärung der Notbund-Superintendenten an Coch, 9./10. Januar 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.). Dort auch Zitate. Während der Notbund zu diesem Zeit- punkt noch die »Beseitigung jeden Nebenregimentes« forderte und sich dabei auf die DC bezog, nahm er selbiges im Zuge der Dahlemer Bekenntnissynode im Herbst 1934 für die BK in Anspruch, s.u. Kap. 2.3. Zum Notbund gehörten zu diesem Zeitpunkt folgende 16 der 31 sächsischen Superin- tendenten: Arnold (Borna), Böhme (Meißen), Ficker (Dresden-Stadt), Franke (Plauen), Hahn (Dresden-Land), Hilbert (Leipzig-Stadt), Krömer (Oelsnitz), Lindner (Glauchau), Meyer (Rochlitz), Michael (Dippoldiswalde), Nicolai (Schneeberg), Rietschel (Oschatz), Scherffig (Großenhain), Schulze (Zittau), Weidauer (Grimma), Zweynert (Pirna). 20 Vgl. Coch an Hahn, 12. [Januar] 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.). 44 KAPITEL 2

Hahn schlussfolgerte aus dieser Antwort, »dass es nicht an uns [am Notbund, M.R.] liegt, wenn der Friede nicht zu Stande kommt.«21 Ohne Ergebnis blieb auch der nochmalige Vorstoß der beiden späteren »Mitte«-Superintendenten Willy Gerber (Chemnitz) und Georg Krönert (Flöha), die gegenüber Coch bedauerten, dass »die Fühlungnahme […] nicht zu dem Er- gebnis geführt [hat], das wir uns gewünscht hatten, da der Pfarrernotbund die Unaufgebbarkeit einer Reihe von Forderungen behauptet.« Dennoch baten sie Coch, »das Vorbringen des Pfarrernotbundes […] auf das Ernsteste zu prü- fen.«22 Unter dem 22. Januar 1934 reichte Hahn dann die Bedingungen der Not- bund-Superintendenten in gekürzter und inhaltlich leicht veränderter Form beim LKA ein.23 Statt der Abschaffung des »Arierparagraphen« forderte der Notbund nun lediglich die »völlige Abkehr von den Methoden der Gewalt und Willkür.« Das LKA möge, so die Bitte des Notbundes, aus den acht Forderun- gen ersehen, dass man »wirklich ganz und ausschliesslich ein kirchliches An- liegen« habe und es dem Notbund »nicht um Personen, sondern um die Sache geht.« Die Kirche müsse wieder in Ordnung kommen, »um ihre grosse Auf- gabe in den von Gott gegebenen Verhältnissen des neuen Staates recht erfül- len zu können«.24 Die überarbeiteten Bedingungen wurden auch an die sächsische Pfarrer- schaft gesandt, wobei sich der ebenfalls dem Notbund angehörende Dresdner Domprediger Arndt v.Kirchbach explizit »an die Brüder zwischen den Fronten« wandte: In einem längeren Anschreiben, in dem er die Hintergründe der Entste- hung des Notbundes zusammenfasste, sogleich aber die »Beseitigung des Parlamentarismus innerhalb der Kirche […] aufs freudigste« begrüßte, unter- stellte er Coch, dass dieser sich der ihm angetragenen Aussprache verweigert habe. Der Notbund hingegen könne nicht von seinen Forderungen abrücken, was aber keinesfalls als Streitsucht verstanden werden dürfe. Stattdessen habe der Notbund die Verantwortung dafür erkannt, »daß Gewalt und Be- kenntniserweichung sich nicht für immer in der Kirche festsetzen und daß ein wirklich dauerhafter kirchlicher Friede geschlossen wird«. Aus diesem Zusam- menhang werde den Adressaten »wohl deutlich, daß bei einer solchen Sach- lage durch Neutralität nichts geholfen ist, ja daß weiteres Verharren in der Neutralität zu eine[m] Versäumnis in der Stunde Gottes werden kann.« Schließlich habe der Notbund durch seine Existenz eine solche Neutralität

21 Hahn an Kollege (vermutlich Krönert), 20. Januar 1934 (EphArch Flöha 218, un- pag.). 22 Gerber/Krönert an Coch, 13. Januar 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.). 23 Die Bearbeitung der Superintendentenforderungen erfolgte im Rahmen der Tagung des Notbundes am 12. Januar 1934 in Dresden, vgl. Bericht der Notbundtagung, 12. Januar 1934 (LKArch 5/101/1, 7f; 36/63, 240f). 24 Hahn an LKA, 22. Januar 1934 (LKArch 36/36, 40). Dort auch vorherige Zitate. DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 45

überhaupt erst ermöglicht. Doch müsse diese Haltung aufgegeben werden und ein Beitritt zum Notbund erfolgen, da »für die Erhaltung kirchlichen Lebens […] alle Kräfte [gebraucht werden].«25 Arndt v.Kirchbach hatte sich bereits im Vorfeld der Tagung des Pfarrer- notbundes am 12. Januar 1934 in Dresden mit den aufkeimenden Vermitt- lungsversuchen einer Zwischenfront beschäftigt und im Rahmen der Tagung die Antwort des Leipziger Notbundes auf die »Weihnachtserklärung« verlesen. Auch in diesem Kontext hatte er betont, dass erst durch die Existenz des Not- bundes die Möglichkeit einer neutralen Haltung geschaffen worden wäre. Da man sich »nicht mit einem billigen Frieden begnügen« könne, werde die Un- terzeichnung der inzwischen sachsenweit versandten »Weihnachtserklärung« vom Notbund weiterhin abgelehnt. Neben einer stärkeren Laienmitarbeit hatte man am Ende der Tagung eine Vertrauenskundgebung sowohl für den Bischof der bayerischen Landeskirche, Hans Meiser, als auch für Martin Niemöller und die Leitung des Notbundes vereinbart. Ebenso machte man sich die Forde- rungen der Notbund-Superintendenten in bearbeiteter Form für den gesamten Notbund zu eigen.26 Von staatlicher Seite wurden in der Folge ab Ende Januar mehrere Not- bundvertreter vorgeladen, verhaftet, beurlaubt oder suspendiert. Die Gründe waren unterschiedlich, doch handelte es sich stets um eine Vermengung von landeskirchlichen mit reichskirchlichen Belangen. Ein Grund waren die am 7. und 14. Januar verlesenen Kanzelabkündigungen,27 mit denen der Notbund reichsweit auf die »Verordnung betreffend die Wiederherstellung geordneter Zustände in der Deutschen Evangelischen Kirche«28 des Reichsbischofs der DEK, Ludwig Müller, vom 4. Januar reagierte. Dieser »Maulkorberlass« unter- sagte kirchenpolitische Betätigung in kirchlichen Räumen und öffentliche Kritik am Kirchenregiment durch Geistliche, vor allem in Form von Rund- schreiben und Flugblättern. Aufgrund von Solidaritätserklärungen einzelner Notbund-Pfarrer mit den wegen der Kanzelabkündigung Gemaßregelten kam es zu weiteren Suspendierungen.29 Ein anderer Grund war ein abgehörtes Te- lefonat Niemöllers mit Walter Künneth über Hitler. Mit der Kenntnis des Ge- sprächsinhalts war es Hermann Göring gelungen, im Rahmen des Kanzler- empfanges sämtlicher Kirchenführer am 25. Januar den Pfarrernotbund zu

25 v.Kirchbach »an die Brüder zwischen den Fronten«, 24. Januar 1934 (LKArch 5/ LBR 159, 216; 5/101/1, 9; 5/394/1, 72; 5/391/1, 1021f; 36/63, 234). Dort auch vor- herige Zitate. Hervorhebung durch Vfn. Vgl. Röthig, 71. Gegen v.Kirchbach wurde infolge dieses Rundschreibens ein Dienststrafverfahren eröffnet, vgl. Urteil in der Dienststrafsache Arndt von Kirchbach, 3. Februar 1934 (LKArch 5/391/1, 1003-1013). 26 Vgl. Bericht über Notbund-Tagung, 12. Januar 1934 (LKArch 5/101/1, 7f; 36/63, 240f). Dort auch Zitat. Vgl. ferner Röthig, 69f. 27 Abgedruckt in: KJ 1933-44, 45f; Erich BEYREUTHER: Die Geschichte des Kirchen- kampfes in Dokumenten 1933/45, Wuppertal 1966, Dok. 10, 66f. 28 Abgedruckt in: KJ 1933-44, 44; Schmidt, Bekenntnisse 1934, 25-27. 29 Vgl. Röthig, 72f. 46 KAPITEL 2 desavouieren.30 Coch, der als sächsischer Landesbischof am Empfang teil- nahm, zog aus dem Verhalten des Notbundführers Konsequenzen und nutzte die Gelegenheit, um gegen den sächsischen Notbund vorzugehen.31 Wegen der Reichsinnenpolitik wurden die Maßregelungen jedoch schnell wieder aufgeho- ben.32 Trotz dieser von oben verordneten Politik der Entspannung kam es in Sachsen bis zum 11. April dennoch zu 51 Absetzungen bzw. Beurlaubungen von Pfarrern und Superintendenten.33 Bereits am 12. April stellten sich einige Pfarrer der späteren »Mitte« in einer gemeinsamen und letztlich erfolglosen Vertrauenskundgebung mit dem Notbund hinter den abgesetzten Leipziger Superintendenten Gerhard Hilbert.34 Anlässlich des »Führergeburtstags« for- derte schließlich der den DC angehörende stellvertretende Superintendent Leipzigs, Gerhard Ebert, »[s]eine Amtsbrüder vom Pfarrernotbund auf, […] nunmehr endlich [ihren] sinnlosen Kampf auf[zugeben]«, da sie damit nichts erreicht hätten, außer dass »wir […] in der Kirche ganz wieder von vorn an[fangen] […] im Kampf um die Volkskirche«35. Der Notbund verwahrte sich daraufhin ausgehend von Jer 6,1436 gegen eine herbeigezwungene Befriedung und führte »die innere geistliche Vollmacht« als einzig entscheidendes Krite- rium zur Legitimation der Kirchenleitung an. Diese Legitimation sei aber ge- genwärtig nicht ausreichend vorhanden. Außerdem käme der Kirchenregie- rung eben gerade nicht der geforderte bedingungslose Gehorsam zu, da Lutheraner nur einen »verantwortlichen Gehorsam« kennen würden. Das An- liegen des Notbundes sei die »Erneuerung der Kirche aus dem Wesen der Kir- che«, deren äußere Organisation nicht gleichgültig wäre.37 Die Auseinandersetzungen, in die der sächsische Notbund verstrickt war, hatten aufgrund von dessen Anbindung an den reichsweiten Notbund und dessen Konfliktfreude demnach bereits eine neue Qualität erreicht. Während innerhalb der sächsischen Pfarrerschaft eine Verständigung möglich gewesen

30 Vgl. Dokumente II, Nr. 9/34, 17-33. 31 Vgl. Hahn, 49-56; Meier I, 162f.486; Röthig, 72; Wilhelm, 83f. 32 Vgl. Klemm, 199; Walther, 12; Wilhelm, 84.89f. 33 Vgl. Fischer, 27f; Meier I, 486. Betroffen waren u.a. die Superintendenten Arnold (Borna), Ficker (Dresden-Stadt), Franke (Plauen), Hilbert (Leipzig-Stadt), Krömer (Oels- nitz), Lindner (Glauchau), Meyer (Rochlitz), Nicolai (Schneeberg) und Rietschel (Oschatz), vgl. dazu Fischer, 28, Anm. 120. Bereits am 31. Januar wurden mehrere Dresdner Notbund-Vertreter verhaftet, u.a. Auenmüller, Fischer, v.Kirchbach und Stephan, vgl. Röthig, 72. Am 10. Februar wurde Prater beurlaubt, vgl. Röthig, 74. 34 Vgl. Walther, 13; Röthig, 81. Zum »Fall Hilbert« s.u. Kap. 2.3.1. 35 Ebert an Leipziger Pfarrerschaft, 20. April 1934 (EphArch Leipzig I/8/99, 75; UAL Na Herz 32/2, 12; Na Lau 26, 54). Zum »Kampf um die Volkskirche« s.o. 27f (bes. Anm. 28). 36 Jer 6,14: »Sie trösten mein Volk in seinem Unglück, daß sie es gering achten sol- len, und sagen: ›Friede! Friede!‹, und ist doch nicht Friede.« 37 Vgl. Pfarrernotbund an Leipziger Pfarrerschaft, 27. April 1934 (UAL Na Herz 32/2, 15-17). DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 47 wäre, zogen sich die Notbund-Vertreter zunehmend unter dem Deckmantel »um der Sache willen« persönlich zurück und stellten ihre Zugehörigkeit zum reichsweiten Notbund über Befriedungsversuche innerhalb der sächsischen Landeskirche.38

2.2.2. Die Möglichkeit einer Befriedung anlässlich des Pfingstfestes Am 4. Mai 1934 kam neuer Zündstoff in die Auseinandersetzungen, als die »Braune Synode« einstimmig die Eingliederung der sächsischen Landeskirche in die DEK beschloss und so die Rechtsgewalt an die Reichskirche abgab. Damit verbunden war die Auflösung der Landessynode, die bis dato 74 Mit- glieder zählte. Aus ihrer Mitte wurden zwölf Personen gewählt, die auch der neuen Synode angehören sollten. Sechs weitere Personen wurden von Landes- bischof Coch ernannt. Wie bisher sollte auch ein Vertreter der Theologischen Fakultät der Landesuniversität Leipzig der neuen Synode angehören. Die neue Synode, die nur noch aus 20 Personen bestand, hatte nunmehr lediglich bera- tende Funktion. Trotz der Eingliederung verblieb die Verwaltung der Landes- kirche beim sächsischen LKA, dessen Präsident Coch wurde.39 Im Angesicht von Pfingsten, dem Fest der Gründung und Einheit der Kir- che, hofften die DC, dass sich die kirchliche Lage schließlich beruhigen würde. Die Freude über die »deutsche geeinte Kirche« veranlasste den amtierenden stellvertretenden Leipziger Superintendenten Ebert, am Pfingstsonntag, dem 20. Mai 1934, ein Schreiben an die Gemeindegruppenführer der DC des Leip- ziger Kreises zu richten. In diesem rief er dazu auf, »dass der unselige kir- chenpolitische Kampf […] mit sofortiger Wirkung völlig abgebrochen wird […] [und] [d]er Kampf gegen den Pfarrernotbund […] überall sofort einzustellen [ist].«40

38 Zur Bewertung von kirchenpolitischen Befriedungsversuchen angesichts staatli- cher Diktatur s.u. Kap. 8. 39 Vgl. KGVBl. 1934, 61f. Ferner: Fischer, 29f; Klemm, 208-212; Meier I, 486; Röthig, 84. Aus der alten Synode wurden die Superintendenten Johannes Lehmann (), Arno Spranger (Annaberg), die Pfarrer Curt Rübner (Dresden), Erich Reichel (Anna- berg) sowie die Laien Dr. Diener von Schönberg (Pfaffroda), Eisenbahnarbeiter Behrendt (Leipzig), Kantor Pollack (Bautzen), Kaufmann Haack (Plauen), Gutsbesitzer Pauli (Leubsdorf), Schulleiter Mahn (Oberhohndorf), Rentner Nerrettig (Dresden) und Ladeschaffner Schwarz (Chemnitz) gewählt. Coch ernannte ferner die Pfarrer Karl Stölzner (Skassa) und Karl Fischer (Löbau) sowie als Laien Straßenbahnarbeiter Gatzsch (Dresden), Stabsleiter Harbauer (Dresden), Friedhofsinspektor Warnatzsch (Dresden) und Bürgermeister König (Königstein). Als Fakultätsvertreter wurde nach- träglich Horst Stephan berufen, der bereits der alten Synode angehört hatte. Vgl. Le- bendige Volkskirche, Nr. 1, April 1934, 5; Hein, Geschichte, 360. 40 Ebert an Gemeindegruppenführer der Volksmissionarischen Bewegung Sachsens »Deutsche Christen«, Kreis Leipzig, Pfingsten 1934 (LKArch 36/117, 109; UAL Na Herz 32/2, 18). 48 KAPITEL 2

Gemeinsam mit dem BK-Pfarrer der Leipziger Nikolaigemeinde, Theodor Kühn, verfasste Ebert außerdem ein Rundschreiben an die Leipziger Pfarrer- schaft, in dem beide zur gegenseitigen Versöhnung aufriefen, da man anders »aus der gegenwärtigen Not der Zerrissenheit und des Nichtverstehens« nicht herauskäme:

»Wir wollen ablassen von allem Kampf der Verdächtigungen und Spaltung, na- mentlich von den Anklagen mangelnder Treue zu Staat und Volk oder zum Be- kenntnis und zu unserem Herrn.«

Anlässlich des Pfingstfestes erbaten die Verfasser vom »Herrn der Kirche, dass er uns ein Pfingsten schenke innerster Einheit und aufrichtiger Gemein- schaft.«41 Diese Sehnsucht nach neuer innerkirchlicher Gemeinschaft dominierte auch außerhalb Leipzigs die sächsische Stimmung zu Pfingsten 1934. So ließ der Bad Schandauer Pfarrer und spätere Vertrauensmann der »Mitte« für die Ephorie Pirna, Martin Meinel, der gesamten sächsischen Pfarrerschaft ein Flugblatt unter der Überschrift »Eine Bitte am Pfingstfest 1934« zukommen, das neben einer längeren Einleitung vier konkrete Vorschläge enthielt, wie ein Anfang zur Versöhnung gewagt werden könne. Seinen Ausgangspunkt nahm dieses Flugblatt in der Feststellung, dass sich die Pfarrer auch einander seelsorgerlich dienen müssten, wenn die Rede von der Amtsbrüderlichkeit keine Farce sein solle. Im Folgenden versuchte Meinel, mögliche Einwände auszuschließen, weswegen er sogleich um Verzeihung bat, dass er

»als einer, der jahrelang hin und her an den Kämpfen des Weltkrieges in vorders- ter Front mitgekämpft hat und in Stunden der Gefahr aus eigner Verantwortung hat handeln müssen, als einer, der in der Zeit der Revolution im aktiven Kampf gegen die rote Fahne des Bolschewismus Verhaftung durch die politischen Macht- haber auf sich genommen hat, es heute wagen will, zwischen die Fronten zu treten und unbegehrten Dienst tun möchte im Dienste nicht gegen Feinde, sondern an unsern Brüdern, unsrer Gemeinschaft, und damit schließlich an unsrer evange- lisch-lutherischen Kirche.«

Um sich vor dem Vorwurf der »Reaktion« zu schützen, fügte Meinel an, dass er selbst NSDAP-Mitglied sei. Auch solle man den Versuch der Versöhnung nicht als Kompromisslösung diskreditieren. Falls sich die Fronten von DC und Notbund weiter verhärteten, müssten sie zerschellen, jedoch nicht nur zum Schaden der Fronten selbst, sondern zum endgültigen Schaden der Gemein- den, also der Kirche Jesu Christi. Dies wäre eine Schuld, die niemand auf sich nehmen wolle, zumal es doch letztlich allen beteiligten Pfarrern um Evange- lium und Bekenntnis gehe.

41 Ebert/Kühn an Leipziger Pfarrerschaft, Pfingsten 1934 (UAL Na Herz 32/2, 19; Na Lau 26, 59). Dort auch vorherige Zitate. DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 49

Konkret unterbreitete Meinel seinen Kollegen folgende Vorschläge: Ers- tens müssten sich zukünftig alle Geistlichen einer Ephorie monatlich versam- meln und über gegenwärtige Anliegen miteinander ins Gespräch kommen, wobei jede herabsetzende Bemerkung zu unterbleiben habe. Die amtlichen Pfarrkonferenzen wären für die Dauer derartiger Ephoralversammlungen auszusetzen. Zweitens müsste die Möglichkeit geschaffen werden, dass der »Landesbischof als Seelsorger […] das Vertrauen aller Geistlichen gewinn[t]«, weswegen ebenfalls auf Ephoralebene innerhalb eines Vierteljahres Gesprä- che mit dem Landesbischof stattfinden sollten, bei denen jeweils die gleiche Anzahl von Notbund- und DC-Pfarrern beteiligt sein sollte. Als dritten Vor- schlag erhob Meinel die Forderung, »daß seitens der Kirchenleitung restlos sämtliche Ephoren und Geistlichen in ihre Ämter wieder eingesetzt werden, die suspendiert oder zwangsversetzt waren.« Außerdem sollten »entehrende Äußerungen, wie ›Gecken des Märtyrertums‹ oder Verdächtigungen der Not- bundpfarrer als ›politische Reaktionäre‹ zurückgenommen werden.« Vonseiten des Notbundes wäre im gleichen Zuge die Erklärung vom 7. Dezember 1933 zurückzuziehen, mit der der Notbund Coch die geistliche Führung der Lan- deskirche abgesprochen hatte. Viertens und letztens forderte Meinel diejeni- gen Pfarrer, die innerhalb derselben Gemeinde tätig waren, auf, um der Amts- brüderlichkeit willen einander die Hand zu reichen und sich gegenseitig zu vergeben. Meinel schloss seinen Aufruf mit dem Hinweis, dass diese vier Vorschläge als Auftakt zu verstehen seien. Doch müsse man »wirklich erst einmal den Anfang machen und einander mehr Glauben und Vertrauen schen- ken«.42 Eine Rückmeldung auf diesen groß angelegten Aufruf ist von dem später ebenfalls der »Mitte« angehörenden Vorsitzenden der Auerbacher Pfarrkonfe- renz, Martin Müller, erhalten. Dieser bedankte sich bei Meinel für dessen Flugblatt, befürwortete es gänzlich und hielt die enthaltenen praktischen Vor- schläge für geeignet, die Brüderlichkeit wiederherzustellen. Des Weiteren ver- sprach er, Meinels Gedanken innerhalb der Auerbacher Konferenz in die Tat umsetzen zu wollen.43 Ebenfalls im Kontext von Pfingsten lässt sich in der Bautzener Ephorie ein erstarktes Versöhnungsbedürfnis nachweisen: DC- und Notbund-Pfarrer er- strebten im Vorfeld einer Besprechung mit Coch eine brüderliche Aussprache, deren vermittelnde Leitung dem Studiendirektor des Lückendorfer Predigerse- minars, Martin Doerne, angetragen wurde. Doerne stand der künftigen »Mitte«

42 Martin MEINEL: »Eine Bitte am Pfingstfest 1934« (LKArch 5/LBR 159, 212; 5/330/1, 8; 5/394/1, 129; 36/63, 142). Dort auch vorherige Zitate. Hervorhebung durch Vfn. Die Bezeichnung der Notbund-Pfarrer als »Gecken des Märtyrertums« ist erstmals von Adolf Müller im Rahmen einer Versammlung des NS-Pfarrerbundes am 30. November 1933 vorgebracht worden, vgl. Röthig, 53f; Wilhelm, 88. Zur Martyriumsdeutung s.u. Kap. 8. Zur Erklärung des Notbundes am 7. Dezember 1933 s.o. 33. 43 Vgl. Müller an Meinel, 29. Mai 1934 (EphArch Auerbach C/VI/8c, unpag.). 50 KAPITEL 2 stets nahe, konnte jedoch wegen seiner Profession kein unmittelbares Mit- glied der »Mitte« sein.44 In diesen Tagen, in denen der Notbund infolge der »Ulmer Einung« vom 22. April 1934 zunehmend für sich beanspruchte, allein rechtmäßige Kirche zu sein, und deswegen besonders die große Gruppe derer, die sich bisher keiner der beiden Fronten zugeordnet hatten, zum Beitritt in den Notbund auf- rief, richtete der bereits als möglicher Ihmels-Nachfolger erwähnte Annaber- ger Superintendent Arno Spranger an die Geistlichen seiner Ephorie einen Traktat unter der Überschrift: »Warum können wir nicht Notbündler sein?« Im zugehörigen Anschreiben fasste Spranger, der aktiv an der Gründung der »Mitte« beteiligt und in der Folgezeit im Arbeitskreis der »Mitte« tätig war, zusammen, welche Implikationen der Zusammenschluss des Pfarrernotbun- des mit der Laienbewegung zur Bekenntnisgemeinschaft seiner Meinung nach habe:

»Nun werden wir alle, die wir mit großer innerer Verantwortung, im wagenden Glauben und im Gehorsam gegen den uns kundgewordenen Willen Gottes die Landeskirche eingegliedert haben, als solche gebrandmarkt, die das Panier des lu- therischen Bekenntnisses fallen gelassen haben, die das Evangelium im Bekennt- nis der Väter preisgegeben haben, die den legalen Boden verlassen haben. […] Ich kann es nicht verantworten, daß man die allerletzten Fragen zu kirchenpoliti- schen Zwecken verwendet. […] Sollten nur die Notbundpfarrer wahrhaftig Hüter des Bekenntnisses sein? Sind wir anderen alle Verräter? […] Mich jammert unsere Kirche. Anstatt, daß wir zueinander streben, reißen wir noch größere Wunden auf und verletzen das Herz. Deshalb muß ich diesen Weg als einen falschen bezeichnen, auch wenn ich verachtet und gebrandmarkt werde. An meiner Bekenntnistreue laß ich nieman- den rühren. Ich habe die Fahne nicht fallen gelassen. Ich bleibe meinem Herrn Christus mit allem Dienst bis in den Tod ergeben.«45

Um diesen Implikationen zu wehren sowie die eigene Position und somit den Nichtbeitritt zum Notbund zu begründen, verfasste Spranger seinen Traktat, in welchem er bereits einleitend versuchte, den Unterstellungen zu begegnen:

»Nicht etwa weil wir die Kirche auf eine andere Grundlage stellen wollen als auf das Evangelium und Bekenntnis zu Jesus Christus den Gekreuzigten und Aufer- standenen, nicht weil wir weltliche Methoden auf die Kirche übertragen und die- selbe veräußerlichen wollen, nicht weil wir zwei Offenbarungen anerkennen, auf denen die Kirche als Pfeiler ruhen soll, nicht weil wir ablassen wollen[,] die Men- schen zur Entscheidung zu rufen, Gericht und Gnade zu bezeugen und die Gefolg- schaft Jesu zu fordern, nicht weil wir mit anderen Mitteln als Wort und Geist eine

44 Vgl. Doerne an Berg, 19. Mai 1934 (EphArch Bautzen 1/434, 161) sowie Berg an Doerne, 23. Mai 1934 (ebd., 162). Der »Mitte« durften nur Geistliche angehören. Aus- führlicher zur Struktur der »Mitte« s.u. Kap. 6. Ausführlicher zu Doerne s.u. Kap. 5.2.2. 45 Spranger an Pfarrerschaft der Annaberger Ephorie, 22. Mai 1934 (LKArch 36/63, 151; UAL Na Lau 27, 64f). DIE ENTSTEHUNG DER »MITTE« 51

Kirche bauen, einen Gemeinde pflegen, die deutsche evangelische Kirche fördern wollen, sondern weil wir ernste Gründe dafür haben, die uns innerlich zurückhal- ten.«

Diese Gründe führte Spranger im Folgenden näher aus: Der erste Grund betraf bereits den Ansatz des Notbundes, den man »für eine subjektive Täuschung« und somit für »unberechtigt und falsch« hielt, da vonseiten der Kirchenregie- rung wiederholt zugesichert worden wäre, dass das Bekenntnis der säch- sischen Landeskirche nicht angetastet werde. Demgegenüber könne der Notbund nicht einfach Behauptungen aufstellen, die an den Tatsachen vorbei- gingen. Zweitens wende man sich gegen die Methodik des Notbundes, die der Kirche abträglich sei und ihrem Wesen widerspreche. Statt einen negativen Kampf »gegeneinander, gegen den Bischof, gegen ein Kirchenregiment« zu führen, müsse man in der Kirche doch vielmehr gemeinsam »um eine Sache, um einen Auftrag, um ein inneres Anliegen« kämpfen. Zwar erkenne man das große innere Anliegen des Notbundes an, doch lehne man seine Kampfmetho- dik als »unheilvoll und unbiblisch« ab. Drittens dürfe man geistliche Anliegen nicht »durch kirchenpolitische Maßnahmen und durch die Organisierung eines Widerstandes« vertreten. Anstelle des »Weg[es] der Gesetzlosigkeit« for- dere man »den Weg der Ordnung, den Weg des Dienstes, den geistlichen Weg der Fürbitte und des Glaubens«, zumal man es innerkirchlich nicht mit tat- sächlichen Gegnern zu tun habe, »sondern immer mit Männern, die das Evan- gelium wollen und ihm die Bahn bereiten.« Eine Korrektur der vorgefallenen Fehlentscheidungen geschähe »nicht durch kirchenpolitischen Kampf, son- dern nur durch eine innere geistliche Überwindung«, nämlich durch »Vertrau- en und Mitarbeit«. Hierbei sprach Spranger indirekt die Verweigerungshal- tung des Notbundes an, der sich dem Miteinander und der Mitarbeit im Kirchenbezirk u.a. durch Fernbleiben von amtlichen Pfarrkonferenzen zuneh- mend entzog. Als vierten Grund führte Spranger die Uneinheitlichkeit des Notbundes an, der zwar mittels »außerordentlich straffe[r] Führung« Einheit- lichkeit suggeriere, jedoch »die verschiedensten Geister in sich vereint hat«, so z.B. Pfarrer, denen bisher wenig an einer Wahrung des Bekenntnisses lag oder die »schon immer widerspruchsvoll zu allen Maßnahmen einer kirchli- chen Führung standen.« Daher verwundere es auch nicht, wenn »Menschen sich an diese Kampfgruppe hängen, die bislang wenig für die Kirche übrig hatten«, nun aber »diesen Kampf begrüßen.« Fünftens habe der Notbund in- folge seiner Kampfesweise »durch seine Angriffe, durch seine Verdächtigun- gen und Diffamierungen, die er über die Kirchenführer ausgesprochen hat«, wenn auch nicht die alleinige Schuld, so aber einen nicht unerheblichen An- teil daran, dass »das Vertrauen des Führers und der Partei und ihrer Vertreter zu einer in sich zerrissenen Kirche zerstört wird, die offenen Türen zugetan werden und eine große geschichtliche und kirchliche Stunde nicht ausgenutzt wird.« Abschließend gab Spranger zu bedenken, dass der Kampf des Notbun- des diejenigen Kräfte verbrauche, die benötigt würden »für die großen kirchli- chen Aufgaben […], für die Durchdringung der Reichskirche […], für die Ge- 52 KAPITEL 2 winnung unseres Volkes für die Botschaft des Christus, für das dritte Reich, damit es ein christliches werde, für die Wende der Weltgeschichte«. Man selbst strebe jenseits der kirchenpolitischen Fronten eine gemeinsame Ar- beitsfront an, die sich am Dienst für die Gemeinde orientiere, »weil allein in dieser treuen, aus dem Evangelium geborenen Gemeindearbeit die Entschei- dung fällt.« Dennoch sei kein falscher Frieden das Ziel, sondern das gegensei- tige Zusammenkommen »in einer innersten Einheit unter Christus«. Möglich wäre das Erreichen dieses Zieles jedoch erst, »wenn die Atmosphäre [vom] Mißtrauen entgiftet ist«, wenn man wieder miteinander spräche und gemein- sam um Klarheit über die großen Fragen ringen würde.46 Spranger, der seinen Traktat durchgängig in der Wir-Form schrieb, mach- te sich mit seiner Darstellung gewissermaßen zum Sprachrohr derer, die bis- her zwischen den Fronten geblieben waren, sich also bewusst keiner der bei- den kirchenpolitischen Gruppierungen angeschlossen hatten. Dem Streben nach neuer Gemeinschaft und der Rückbesinnung auf die Amtsbrüderlichkeit, die das Pfingstfest im Jahr 1934 sachsenweit bestimmten, antwortete der sächsische Notbund schließlich mit der Teilnahme an der ersten reichsweiten Bekenntnissynode in Barmen vom 29. bis zum 31. Mai 1934.47 Diese Synode ist als Geburtsstunde der Bekennenden Kirche (BK) anzu- sehen und bewirkte eine stärkere Verbundenheit der einzelnen Notbundgrup- pen untereinander, stellte aber zugleich die jeweiligen Eigenheiten der einzel- nen Landeskirchen zugunsten der reichsweiten Zusammenarbeit hintan. Zwar wurden von lutherischer Seite durchaus Vorbehalte laut, dass der reichsweite Zusammenschluss zur BK mitsamt deren Gründungsdokument der »Barmer Theologischen Erklärung« unionistische Tendenzen habe, weswegen ihr das erklärende Referat des Lutheraners Hans Asmussen als Gründungsdokument an die Seite gestellt wurde,48 doch wogen diese Vorbehalte innerhalb des BK- Verbandes bei weitem nicht so schwer wie bei der Eingliederung der sächsi- schen Landeskirche in die DEK:

»In dem heiligen Willen, daß im Mutterland der Reformation die evangelisch- lutherische Kirche nicht verderbe, ergreifen wir das von unserer Landessynode und Kirchenregierung fallen gelassene Panier und rufen alle, die mit ihrem Gebet und ihrer Arbeit unsere […] sächsische Kirche bisher getragen haben, auf, sich mit

46 Vgl. Arno SPRANGER: »Warum können wir nicht Notbündler sein?«, 22. Mai 1934 (EphArch Flöha 218, unpag.; LKArch 5/101/1, 61-64; 36/63, 152f; UAL Na Lau 27, 65f). Dort auch Zitate. Karl Fischer reagierte auf den Traktat mit einer erwidernden Erklärung innerhalb eines BK-internen Schreibens, vgl. Fischer an BK-Pfarrer, 15. Juni 1934 (LKArch 5/101/1, 65; UAL Na Lau 28, 39f). 47 Vgl. Hahn, 74-78; Klemm, 218-226; Röthig, 88f. 48 Vgl. Meier I, 188.202. Zur Barmer Bekenntnissynode vgl. Meier I, 175-203; Scholder II, 159-219.