Veranstaltungen des Sächsischen Landtags Heft 8

Sächsischer Landtag Dresdner Gesprächskreise DIAL OG Der Präsident im Ständehaus

Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus Graduiertenkolleg »Geschichte sächsischer Landtage« vom 28. bis 30. Oktober 2015

Sächsischer Landtag Dresdner Gesprächskreise DIAL OG Der Präsident im Ständehaus

Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus Graduiertenkolleg »Geschichte sächsischer Landtage« vom 28. bis 30. Oktober 2015

Herausgegeben vom Sächsischen Landtag Inhalt

Begrüßungsansprache durch Dr. Matthias Rößler, Präsident des Sächsischen Landtags ...... 6

Positionierung des Kollegs Genese des Kollegs und Ablauf des Workshops Prof. Dr. Uwe Israel ...... 9 Herausbildung von Weltanschauungsparteien. Vorträge Konservative im sächsischen Landtage als gesellschaftliche Zweikammerparlament (1833–1848) Zentralorte von Andreas Hoffmann ...... 41 von Prof. Dr. Josef Matzerath ...... 12 Das sächsische konstitutionelle »in provinciali placito nostro« – Zweikammerparlament im Kaiserreich. die Landdinge als erste Landesver - Zwischen Honoratioren- und sammlungen in der Mark Meißen? Parteipolitik (1866–1918) von Josephine Mey ...... 18 von Christoph Wehmann ...... 47

Konfliktlösung durch Variabilität? »Der Regierung in Ruhe und Ständeversammlungen im wettinischen Sicherheit vertrauen« – Herrschaftsbereich 1438–1539 Koalitionen und parlamentarische Kultur von Matthias Kopietz ...... 23 im sächsischen Landtag 1918–1933 Impressum: von Janosch Pastewka ...... 54 Herausgeber: Sächsischer Landtag, Bernhard-von-Lindenau-Platz 1, 01067 Ritual und Organisation V. i. S. d. P.: Hans-Peter Maier, Sächsischer Landtag Die kursächsischen Landtage in Torgau als Parlamentskonzeptionen nach Redaktion: Falk Hentschel, Sächsischer Landtag Fotos: R. Deutscher, S. Giersch gesellschaftliche Ereignisse (1550–1628) dem Zweiten Weltkrieg Gestaltung, Satz: www.oe-grafik.de Druck: Elbtal Druck & Kartonagen GmbH von Jan Bergmann ...... 29 von Edith Schriefl ...... 60

Diese Publikation wird vom Sächsischen Landtag im Rah - men der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Die Abgabe Gravamina. Ständische Beschwerde - Beamte, Politiker und Journalisten – erfolgt kostenfrei. Eine Verwendung für die eigene Öffent - lichkeitsarbeit von Parteien, Fraktionen, Mandatsträgern schriften und die Genese des Akteure und Erinnerung. oder Wahlbewerbern – insbesondere zum Zwecke der frühneuzeitlichen Staates Der Sächsische Landtag 1990–1994 Wahlwerbung – ist unzulässig. Ebenso die entgeltliche Weitergabe der Publikation. von Dr. Silke Marburg ...... 35 von Caroline Förster ...... 65

| 4 | | 5| Begrüßungsansprache durch Dr. Matthias Rößler, Präsident des Sächsischen Landtags

Sehr geehrte Frau Direktorin, Dieses freiheitliche System war jedoch – so bitter es klingen sehr geehrte Frau Dr. Marburg, mag – der Zeit voraus. Gesellschaftlich wurde es ob seiner ver - sehr geehrter Herr Professor Israel, meintlich geringen Leistungsfähigkeit zunehmend geschmäht, sehr geehrter Herr Professor Matzerath, administrativ nur bedingt getragen und von gewichtigen politi - meine sehr verehrten Damen und Herren, schen Gruppen und Akteuren maßgeblich bekämpft. Das heißt, die erste parlamentarische Demokratie in Sachsen hatte von ich begrüße Sie herzlich im historischen Ständehaus und freue Beginn an einen schweren Stand. Regierungswechsel und Neu - mich sehr auf den kommenden wissenschaftlichen Austausch wahlen bestimmten die Szenerie. Am 23. Juni 1930 titelten zur Landtagsgeschichte an diesem geschichtsträchtigen Ort. daher die Dresdner Neueste Nachrichten: »Der Bankrott des Den Professoren Uwe Israel und Josef Matzerath spreche ich Länderparlamentarismus«. Bei der Landtagswahl am Vortag meinen aufrichtigen Dank dafür aus, dass sie für uns ein so vor - hatten die Wähler den Landtag zersplittert. Aus einer Regie - treffliches Tagungsprogramm auf die Beine gestellt haben. Wir rungskrise heraus entstand so Unregierbarkeit. Es waren frühe stehen damit vor einer intellektuellen Reise durch 800 Jahre Vorboten des kommenden Endes der parlamentarischen Demo - organisiertes politisches Beratschlagen, Debattieren, Reprä - kratie in Sachsen. Und: Es waren Geister der Vergangenheit. sentieren und Entscheiden in Sachsen. Erinnerte der damalige Zustand doch auch an die Jahre 1848 bis Viele von Ihnen wissen sicherlich, dass hier im Ständehaus 1850 mit ihren schweren Konflikten zwischen Regierung und von 1907 bis 1933 die sächsischen Landtage ihren festen Ort der Parlament. Der bis dato am weitesten demokratisch legitimierte Zusammenkunft hatten. Insbesondere diente dieses Gebäude Landtag geriet auch hier schließlich unter die Räder der Reaktion. der ersten sächsischen Demokratie als Hohes Haus. In der All dies ist längst vergangen, wiewohl es nicht vergessen ist. republikanischen Verfassung von 1920, die damals das Zwei - Gestern begingen wir in der Dreikönigskirche das 25. Jubiläum kammersystem verwarf und ein demokratisches Wahlrecht ge - unseres heutigen Sächsischen Landtags. Wir feierten die Rück - währleistete, war der Landtag als gesetzgebende Gewalt fest - kehr der parlamentarischen Demokratie nach Sachsen. geschrieben worden. Und wir erinnerten an ein erfolgreiches wie stabiles Viertel - Nach Jahrzehnten der Wahlrechtskämpfe und eines in seinem jahrhundert Parlamentarismus in Sachsen. Die Redner, da - Einfluss beschränkten Parlamentes hatte sich erstmals ein runter der frühere Präsident des Sächsischen Landtags, Erich demokratisches Institutionensystem mit einer wirksamen Volks - Iltgen, sowie der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio, vertretung entflochten. wiesen auf die hohe Relevanz hin, die funktionierende Institu -

| 6 | Begrüßung durch den Landtagspräsidenten Der Sächsische Landtag hat diese Forschung teilweise initiiert und unterstützt. Im Landtagskurier werden seit jeher Persön - lichkeiten aus Sachsens Parlamentsgeschichte vorgestellt. Ge genwärtig präsentieren im Landtagskurier junge Dresdner Historiker in der Serie »Fundstücke aus der Geschichte der sächsischen Landtage« einzelne historische Quellen. Parallel tionen für ein modernes demokratisches Gemeinwesen in Sach - erinnern seit den 1990er-Jahren viele Ausstellungen an die Ge - sen haben. schichte der sächsischen Landtage. Sie verwiesen auch darauf, dass die aktive Wertbindung der Die Buchreihe »Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte« Bürgergesellschaft an den demokratischen Verfassungsstaat ver mittelt ein sehr gutes Bild der Rolle der Landtage bei der einen »Bankrott des Länderparlamentarismus« verhindert. Das Gestaltung der sächsischen Politik vom 17. Jahrhundert an. Wissen um die Geschichte der sächsischen Institutionen ist vor 2013, und damit genau 575 Jahre nach Einberufung des ersten diesem Hintergrund wichtig. kursächsischen Landtags durch Kurfürst Friedrich II. und seinen Mit der vorläufigen Niederlage des Parlamentarismus 1933 in Bruder Herzog Wilhelm III., riefen der Sächsische Landtag und Sachsen war auch die freie historische Forschung zum Erliegen die Technische Universität Dresden den Graduiertenkolleg gekommen. Wenn Geschichte in Diktaturen ideologisch über - »Geschichte der Sächsischen Landtage« ins Leben. Über einen formt und deterministisch interpretiert wird, dann fällt vieles Zeitraum von fünf Jahren hinweg sollen bisher noch nicht be - aus ihrer Perspektive heraus. Vieles will und darf nicht mehr leuchtete historische Abschnitte der sächsischen Landtage gesehen werden, so auch die Geschichte parlamentarischer erforscht werden. Der Sächsische Landtag hat hierfür sechs Dis - Mitbestimmung. Es verwundert deshalb nicht, dass sich erst sertationsstipendien ausgegeben. Neben diesen Studien sollen seit 1990 die Forschung in Sachsen wieder mit dem Landtag und die Forschungsergebnisse schließlich in ein Handbuch zur seinen Ahnen, den kursächsischen Landständen, befasst hat. Geschichte der sächsischen Landtage integriert werden. Damit Der Nachholbedarf für eine freie Geschichtswissenschaft war ist Sachsen das erste der östlichen Bundesländer, das über eine daher groß, zumal Sachsen eine besonders intensive und lange geschlossene Darstellung seiner Parlamentsgeschichte von Geschichte seiner Landtage vorzuweisen hat. Viel an Wissen ist den Anfängen bis in die Gegenwart verfügen wird. seither schon durch kluge Forschung dem Vergessen entrissen Liebe Mitglieder des Graduiertenkollegs, wir sind nicht nur ge - worden. Noch mehr werden wir zukünftig zutage treten sehen. spannt auf Ihre Vorträge. Wir sind vor allem gespannt auf die

Begrüßung durch den Landtagspräsidenten | 7| künftigen Ergebnisse Ihrer Dissertationen zu verschiedenen As - an, da die Verbindung Dissertation – Politik ja zuweilen für jene pekten der sächsischen Landtagsgeschichte. Mit der Doktorarbeit unglücklich endet, die beim Zitieren zu schludern pflegen. Da - – lassen Sie sich das von einem gesagt sein, der es zum Glück her: Bohren Sie gründlich und tief, arbeiten Sie geistreich und seit langem hinter sich hat – ist es bekanntlich wie mit der Politik. schreiben Sie die Geschichte von den Institutionen und Men - Bei beidem geht es um ein »starkes langsames Bohren von schen auf, die unsere sächsische Geschichte schrieben. Ich harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich«. Max wünsche Ihnen hierfür gutes Gelingen. Und uns allen wünsche Weber hat den politischen Prozess einst in diese handliche For - ich eine erfolgreiche, weil erkenntnisreiche Tagung. mel gepresst. Und ich führe bewusst die Quelle meines Zitats Vielen Dank.

| 8 | Begrüßung durch den Landtagspräsidenten Positionierung des Kollegs Genese des Kollegs und Ablauf des Workshops durch Prof. Dr. Uwe Israel

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident, sehr geehrte Frau Archiv - direktorin, liebe Kollegiaten, liebe Kommilitonen, sehr geehrte Damen und Herren, seien Sie auch von meiner Seite aus herz - lich willkommen! Herr Matzerath und ich haben die Aufgaben so verteilt, dass er anschließend zu konzeptionellen Fragen unseres Projekts sprechen wird, ich dagegen nun ein paar Worte zu seiner Genese und seinem Verlauf sagen werde – und ganz kurz auch zum Pro - gramm des Workshops, das Sie von heute bis Freitagmittag erwarten wird. Das Projekt Geschichte der Sächsischen Landtage nahm sei - nen Ausgang von den Forschungen Prof. Dr. Josef Matzeraths. Er beschäftigt sich nämlich seit langem nicht nur mit der Adelsge - schichte und der Ernährungsgeschichte, sondern intensiv auch mit der Parlamentsgeschichte der Neuzeit, besonders in Sachsen. Von 1998 bis 2013 gingen in den Publikationen des Sächsischen Landtags nicht weniger als neun Bände unter dem Reihentitel Als mich Herr Matzerath bald nach meiner Berufung nach Dres - Aspekte sächsischer Landtagsgeschichte auf ihn zurück – ein den ansprach und mir vorschlug, ein gemeinsames Projekt zur zehnter ist im Druck. In ihnen wurden nicht nur die unterschied - Geschichte der Sächsischen Landtage zu konzipieren, war ich lichsten Bereiche unseres Themas angerissen, sondern auch gleich Feuer und Flamme. Ich sah nicht nur, dass bereits solide wichtige Materialien für dessen Erforschung bereitgestellt – so Vorarbeiten aus jüngerer Zeit vorlagen (neben den Arbeiten von beispielsweise Verzeichnisse der Mitglieder und Wahlbezirke ihm sind hier vor allem die Untersuchungen von Silke Marburg, der sächsischen Landtage von 1833 bis 1952. Im Jahr 2000 trat Ulf Molzahn, Nina Krüger, Britta Günther und Andreas Neemann ein von ihm zusammen mit Andreas Denk verfasster umfangrei - zu nennen), sondern sich darüber hinaus ein großes For - cher Band zu den Bauten der sächsischen Landtage hinzu, die schungsfeld auftat, das dringend der Bearbeitung bedurfte. als Indikatoren für die Entwicklung von der ständischen zur plu - Bevor aber damit sinnvoll begonnen werden konnte, musste ralisierten Gesellschaft untersucht wurden. zuallererst die notwendige Ausgangsbasis geschaffen werden,

Positionierung des Kollegs durch Prof. Dr. Uwe Israel | 9| weshalb wir gemeinsam ein Vorprojekt zu dem aktuellen Pro - drei weitere Wissenschaftler mit einschlägigen Forschungs - jekt beantragten, das dankenswerterweise vom Sächsischen themen: Frau Förster, die ihre Dissertation Anfang des Jahres Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst gefördert wer - bereits erfolgreich verteidigt hat, Herr Hoffmann, dessen Dis - den konnte. Da die Forschungen zum geplanten Vorhaben vor - sertation mit einem Landesinnovationsstipendium gefördert nehmlich von Archivalien ausgehen sollten, mussten nämlich wird, und Frau Dr. Marburg, deren Habilitation ebenfalls mit zunächst die einschlägigen Standorte ermittelt werden, wobei einem Stipendium des Freistaats an der TU Dresden unterstützt nicht nur staatliche, kommunale und kirchliche, sondern auch wird. Sie alle stellen im Workshop ihre Arbeiten vor. private Archive Berücksichtigung fanden. Es wurden Hunderte Die Konstituierung dieser Forschergruppe als ein besonderes von Anfragen gestellt und Dutzende von Archiven Kontagtiert Graduiertenkolleg unter dem Dach der Graduiertenakademie und bereist, um die Fundorte der Quellen zu unserem Thema der TU Dresden erfolgte vor zwei Jahren in feierlichem Rahmen möglichst vollständig zu erfassen. Die Daten wurden in Koope - in Anwesenheit von Landtagspräsident und Rektor. Die Mit - ration mit dem Sächsischen Landtag und dem Hauptstaatsar - gliedschaft in der Graduiertenakademie ermöglicht den Kolle - chiv Dresden von mehreren wissenschaftlichen Hilfskräften mit giaten neben ideeller und organisatorischer Unterstützung auch großem Fleiß erhoben und in einer Datenbank eingepflegt, die den Zugang zu zusätzlichen Sachmitteln, was sich bei Reisen zu inzwischen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde – zwei Konferenzen nach Wien und London bereits auszahlte. Die ebenso wie eine umfangreiche einschlägige Bibliografie, die beiden Konferenzen wurden von der International Commission ebenfalls über die Projekt-Homepage aufrufbar ist. Mit dem Vor - for the History of Representative and Parliamentary Institutions projekt gelang es, den Sächsischen Landtag, das Hauptstaats - (ICHRPI) organisiert – der Leiter der deutschen Abteilung dieser archiv Dresden und die Technische Universität Dresden für eine Kommission, Prof. Dr. Johannes Helmrath, ist heute Abend effektive Zusammenarbeit zu vernetzen, was sich bewährte, als unser Redner. Einige Kollegiaten nahmen mit Vorträgen dort Anfang des Jahres 2012 im Ständehaus die vom Landtag ausge - teil, in London steuerten sie unter dem Titel Making Constituti - richtete Konferenz Sächsische Landtagsgeschichte im Vergleich ons in sogar eine eigene Sektion bei. Ein Artikel von veranstaltet wurde, deren Ergebnisse noch im selben Jahr ver - zwei Kollegiaten im aktuellen Landtagskurier berichtet über die öffentlicht werden konnten. Erfahrungen auf der Londoner Konferenz. Auf diesen Vorarbeiten basiert das aktuelle Projekt zur Ge - Die Kollegiaten arbeiteten zum Teil bereits als wissenschaftli - schichte der Sächsischen Landtage, das vom Landtag mit einer che Hilfskräfte im Vorprojekt zusammen und können daher bei Laufzeit bis Ende 2018 finanziert wird. Von Anfang an zeigte ihren Dissertationen direkt von den dort gesammelten Erfah - Landtagspräsident Dr. Rößler großes persönliches Interesse rungen und Ergebnissen profitieren. Dies belegen die bislang und Engagement für das Vorhaben, von der rechtlich-adminis - sieben Publikation der Doktoranden zu interessanten Archiva - trativen Seite flankierte unsere Bemühungen dankenswerter - lien, die in lockerer Reihe als Fundstücke zur sächsischen Land - weise Frau Abteilungsleiterin Dr. Brüggen. Darin werden insbe - tagsgeschichte im Landtagskurier erschienen sind. Außerdem sondere sechs Doktoranden auf je drei Jahre gefördert und die wuchs so über eine längere Zeit eine Forschergruppe zusam - Drucklegung ihrer Dissertationen im Thorbecke-Verlag sowie men, die nicht nur auf dem Papier steht, sondern sich tatsäch - die eines Handbuchs zur Geschichte der Sächsischen Landtage, lich ganz regelmäßig zum Austausch trifft. das die beiden Projektleiter freilich erst noch verfassen müssen. Gestern feierte der Sächsische Landtag den 25. Jahrestag sei - Dem Kolleg gehören an: Herr Bergmann, Herr Kopietz, Frau Mey, ner Konstituie- rung nach der friedlichen Revolution. Mit einem Herr Pastewka, Frau Schriefl und Herr Wehmann. Assoziiert sind Vierteljahrhundert Tätigkeit kann er bereits auf eine stolze Tra -

| 10 | Positionierung des Kollegs durch Prof. Dr. Uwe Israel dition zurückblicken. Auch wenn wir am Ende unseres Work - Das gilt auch für die Moderatorin der ersten Sektion am morgi - shops mit dem Vortrag von Frau Caroline Förster, die mit der gen Tag, die mit der Frühen Neuzeit beginnt. Prof. Dr. Barbara Methode der Oral History Zeitzeugen von damals zum Sprechen Stollberg-Rilinger von der Universität Münster, derzeit Fellow bringt, auf die erste Legislatur zurückkommen werden, wollen am Wissenschaftskolleg zu , hat seit ihrer Habilitations - wir doch heute zunächst weit in die Geschichte dessen zu- schrift zu Theorien landständischer Repräsentation vom West - rückblicken, was einmal »Landtag« genannt werden sollte. fälischen Frieden bis zum Ende des Alten Reiches immer wieder »Sachsen« soll uns dabei die räumliche, der »gesellschaftliche auch zu konzeptionellen Fragen Stellung bezogen, die uns um - Zentralort« die konzeptionelle Klammer sein. Dass wir unser treiben. Prof. Dr. Andreas Schulz von der Universität Frankfurt Projekt aber in einen europäischen Horizont und eine offene am Main und Generalsekretär der Kommission für Geschichte Phänomenologie eingebettet sehen wollen, soll Ihnen am heu - des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Berlin ist tigen Abend unser Festredner, Johannes Helmrath, zeigen, der durch seine Forschungen zum Parlamentarismus und Bürgertum allgemein zu Politischen Versammlungen im vormodernen bestens ausgewiesen, um uns durch die Sektion zum 19. Jahr - Europa sprechen wird. hundert und der Weimarer Republik zu führen. Die abschließend e Zuvor aber wird Dr. Gabriele Annas, Mitarbeiterin des Akade - Sektion wird dann Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/ mienprojekts Die Deutschen Reichstagsakten in Frankfurt am Görlitz leiten, der als Soziologe und Transformationsforscher Main, die erste Sektion zum Mittel- alter moderieren. Als Kenne - den transdisziplinären Blick auf die Umbrüche des Landtags in rin der Reichsversammlungen des späten Mittelalters bringt sie der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einbringen wird. Kompetenzen mit, die unserem landesgeschichtlichen Thema Nun aber gebe ich das Wort weiter an den spiritus rector unseres sicher eine weitere Facette auf Reichsebene hinzufügen werde n. Projekts, an Josef Matzerath.

Positionierung des Kollegs durch Prof. Dr. Uwe Israel | 11 | Landtage als gesellschaftliche Zentralorte Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident! Sehr geehrte Frau Archiv - Geschichte der Sächsischen Landtage finanziert, darf man wohl direktorin! Sehr geehrter Herr amtierender Landtagsdirektor auch als Anspruch auf Tradition verstehen. a. D.! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auf den ersten Blick wird somit klar, dass sowohl die Selbst - wahrnehmung der sächsischen Parlamente als auch die Ge - Unser Graduiertenkolleg hat nicht von ungefähr den Namen schichts entwürfe der Historiker sämtlich mit einer langen Dauer »Geschichte der sächsischen Landtage«. In Sachsen gab es seit der sächsischen Landtage kalkulieren. Man könnte den Eindruck dem späten Mittelalter »Landtage«. Aber selbstverständlich wa r gewinnen, dass der Forschungsgegenstand »Landtag« von Natur ein Landtag im 15. Jahrhundert etwas anderes als in späterer aus epochenübergreifend sei. Die Geschichtsforschung der Zeit oder heutzutage. Im Namen des Kollegs soll der Plural letzten beiden Jahrzehnte hat verstärkt auch nach der Dauerhaf - »sächsische Landtage« deshalb sichtbar machen, dass mit dem tigkeit von historischen Phänomenen gefragt. Mit welchen Vor - historischen Wandel kalkuliert werden muss. Andererseits: Wer annahmen, Untersuchungsperspektiven und Begrifflichkeiten eine Geschichte der sächsischen Landtage vom Mittelalter bis werden Phänomene langer Dauer beschrieben? in die Gegenwart schreibt, setzt doch immer voraus, dass diese Diese Fragen betreffen auch Geschichtlichkeit von Landtagen. Institution Kontinuität hatte. Diese Sichtweise ist in der säch - Es wäre naiv, die Versammlungen im Mittelalter, der Frühen sischen Landesgeschichtsschreibung seit langem selbstver - Neuzeit und der frühen Moderne nur als Vorformen der heuti - ständlich. Alle Handbücher, die auf dem Markt sind, verfolgen gen Demokratie aufzufassen. Die Moderne ist nicht das Ziel der das Phänomen der Landtage durch die Jahrhunderte. Auch die Geschichte, an dem sich jegliche Form der Vergangenheit mes - historiografische Forschung hat seit jeher eine Kontinuitätser - sen lassen muss. Die Arbeit an der Landtagsgeschichte bedarf zählung angeboten. Man ging davon aus, dass sich Landtags - vielmehr eines methodisch-begrifflichen Instrumentariums, versammlungen aufgrund von Gewohnheitsrechten in tradier - das sich epochenübergreifend anwenden lässt. Eine Langzeit - ten Formen wiederholten. betrachtung über die Geschichte der sächsischen Landtage soll - Die Landtage bezogen sich auch aufeinander, nicht nur im te daher ihre Vorannahmen, ihre methodischen Perspektive n Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Auch das konstitutionelle und Begrifflichkeiten besonders genau erörtern. Zweikammerparlament des 19. Jahrhunderts sah sich selbst als Landtagsgeschichte kann dazu auf die Hilfsmittel zurückgrei - Fortentwicklung der vormodernen Ständeversammlung. Solche fen, die die soziologische Institutionentheorie zur Verfügung Rückbezüge lassen sich auch für das 20. Jahrhundert aufzeigen. stellt. Demnach sind Landtage als Institutionen aufzufassen. Dass der heutige Sächsische Landtag ein Graduiertenkolleg zur Institutionen sind zunächst nichts anderes als Ordnungsarran -

| 12 | Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath Im Laufe der Geschichte hat die Institution Landtag auf unter - schiedliche Weise beansprucht, ein zentraler Ort in der jeweili - gen Gesellschaft zu sein. Immer wieder machten sächsische Landtage das zeichenhaft sichtbar. Selbstverständlich änderten sich diese Selbstsymbolisierungen und damit auch die Leit - ideen der Landtage. Der historische Wandel der Institution wird deshalb als Wandel solcher handlungsleitender Ideen greifbar. Die bisherige Landtagsgeschichtsschreibung hat ja auch schon einen historischen Wandel konstatiert. Das steht nicht infrage. Wenn aber für die verschieden Epochen der Sinn von Ordnungs - arrangements verstanden werden soll, muss auch der histori - sche Wandel von handlungsleitenden Ideen analysiert werden. Die Landtagsgeschichte muss daher auch die Narrative und die Ikonografien des Traditionsbezugs sowie die der Traditionsstif - tung untersuchen. Im Folgenden entwerfe ich eine Skizze, wie sich die Geltungs - ansprüche der sächsischen Landtage im Laufe der Epochen ver - gements, die Geltung beanspruchen. Ihre Geltungsansprüche änderten. bringen sie selbst symbolisch zum Ausdruck. Die Ordnung wird Für das Mittelalter lässt sich in den Quellen erst spät der im Zuge der Selbstsymbolisierung auf eine Leitidee bezogen. Begriff »Landtag« nachweisen. Über Jahrhunderte hören wir nur Weil eine Institution für ihre Geltung Dauerhaftigkeit beansprucht , von placita provincialia oder von Tagen. Wieweit diese Ver - hat jede Selbstsymbolisierung stets auch eine zeitliche Dimen - sammlungen miteinander in Bezug stehen oder ob sie gar nach sion. Aus der Sicht der Institutionentheorie ist damit Dauerhaf - einheitlichem Modus abgehalten wurden, steht noch infrage. tigkeit vor allem ein Anspruch. Dazu kann eine Institution bspw. Zu diesen Zusammenkünften traf sich ein vornehmer Teilneh - auf eine besondere Tradition verweisen. merkreis. Im Einzelfall bleibt aber schwer zu erschließen, welche Diese oder auch andere Selbstsymbolisierungen können meh r rituellen Formen praktiziert wurden und welche Gültigkeit diese oder weniger erfolgreich sein. Es lassen sich sowohl die Selbst - Treffen beanspruchten. Wurden lediglich Rechtsakte vollzogen? symbolisierungen als auch die Leitideen in ihrem Wandel be - Vor der Hand haben wir die Tage und placita unter die Formulie - trachten. Wo auch immer der Schwerpunkt des Wandels zu rung eines »gesellschaftlichen Zentralorts« gefasst. Eine umfas - suchen ist, er ist der Historisierung zugänglich. Die Eigenge - sende Analyse des institutionellen Charakters dieser Versamm - schichte von Institutionen, inklusive der in sie eingeschriebenen lungen steht aber noch aus. Traditionen, bildet daher eine besonders bedeutsame Symboli - Die bisherige Forschung hat danach gefragt, welche mittelal - sierungsleistung. Historische Kontinuität ist demnach nicht terlichen Zusammenkünfte als Landtage aufzufassen seien. Sie Effekt substanzieller diachroner Übereinstimmungen. Die Be - suchte nach Rechtsakten, die eine Zusammenkunft als Landtag griff lichkeiten der Institutionentheorie offerieren daher ein In - ausweisen konnten. Auf dieser Basis wurde von den deutlich strumentarium, die Geltungsansprüche der sächsischen Land - früheren Landdingen über die Bedeverhandlungen eine Konti - tage zu fassen. nuitätslinie zu den Landtagen gezogen.

Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath | 13 | Statt die Ergebnisse von Versammlungen zu fokussieren, bietet in Begleitung von Knechten. Es gab noch Musterungen der Rit - es sich unserer Meinung nach an, empirisch wesentlich breiter terpferde am Rande des Landtags. In Dresden etablierte sich all - anzusetzen. Es ist zu fragen, inwiefern die Selbstbezeichnun - mählich, dass zumindest die Ritterschaft mit Familie anreiste. gen dieser Versammlungen aufeinander verweisen, oder ob die Während eines Landtags entstanden daher weitere Foren der rituellen Vollzüge formal übereinstimmten. Damit geht der Fra - Geselligkeit. Sie stützten und vermittelten den Anspruch der gehorizont über die Rechtsakte hinaus und erfasst auch Ver - Ständeversammlung, ein gesellschaftlicher Zentralort zu sein. sammlungen, für die keine kollektiven Rechtsentscheidungen Denn die frühneuzeitlichen Ständeversammlungen waren mit überliefert sind. Seit dem Beginn der Frühen Neuzeit waren anderen gesellschaftlichen Zentralorten wie dem Hof oder auch Landtage zweifellos ein eigenständiger Versammlungstyp. Dafür den Huldigungen auf personaler Ebene verschränkt. Alle drei spricht zunächst die Selbstsicht der Personen, die sich damals gesellschaftlichen Zentralorte, die ich aufgezählt habe, rekru - versammelten. Dafür sprechen auch die Zuschreibungen, mit tierten sich aus dem stiftsfähigen Adel und dem Stadtbürger - denen der Landesherr den Landtagen gegenübertrat. Weiterhin tum. Hof, Huldigung und Landtag bestanden nebeneinander, konnten die Landtage nun auf Tradition und Herkommen zu rück - wurden aber weithin mit denselben Personen inszeniert. greifen. Sie hatten ihre Eigengeschichte, bildeten eine eigen - Die Landtage des Vormärzes trugen gegenüber der frühneu - ständige Überlieferung und entwickelten ihren besonderen ritu - zeitlichen Ständeversammlung in vieler Hinsicht einen neuartigen ellen Charakter. Charakter. Dennoch wahrten sie auch Traditionen der vorheri - Von 1555 bis 1628 tagten die sächsischen Landtage in Torgau. gen Landtage. Darüber hinaus gab es deutliche Personalkonti - Zuvor kamen sie immer wieder an anderen Orten zusammen. nuititäten. Die Geltungsbehauptung der Landtage erhielt mit Mit dem stabilen Ort verfestigten sich auch die Tagungsfrequen - der Verfassung von 1831 eine neuartige Referenz. Das zeigt zen und Kommunikationsroutinen. Vor allem der Landesherr schon die Verfassung selbst an. Denn sie bezog sich zum über - scheint in Torgau die institutionelle Regulierung der Landtage wiegenden Teil auf das neue Zweikammerparlament. Aber auch bedeutend vorangetrieben zu haben. durch Presse und Öffentlichkeit wurden Techniken, Narrative Nicht zufällig entstand in dieser Phase ein Papier, das die und Bildsprache deutlich verändert. Die Selbstsymbolisierung Tagungsmodalitäten festhält. Später beanspruchten die Stände der Institution erhielt eine neue mediale Ausrichtung. Denn die mehr und mehr selbst, die Kompetenz die Struktur der Landtage Auseinandersetzungen auf den Landtagen bekamen eine deut - zu bestimmen. Die Kommunikationsabläufe gewannen eine lich größere gesellschaftliche Reichweite als die geheimen zunehmend fixe Gestalt und der Geschäftsgang wurde immer Ständeversammlungen der Frühen Neuzeit. Die Landtage wur - stärker geregelt. Die Corpora und Consilia des Landtages kon - den damit das zentrale Forum der öffentlichen politischen Aus - stituierten ihre eigene Geltung vor allem dadurch, dass sie einandersetzung. beanspruchten, eigene Schriften zu erstellen. Gleichzeitig wur - Das Parlament verlor in der neuen Verfasstheit wesentlich an den die Kreisstände stärker. Sie entwickelten sich zu einer Vor - innerer Hierarchisierung. Die Plätze der Landtagsmitglieder instanz für Landtage, deren Kommunikation parallel zur staatli - wurden nun – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ausgelost. chen Mittel- und Zentralverwaltung verlief. Deshalb stand die Sitzordnung nun nicht mehr für eine gesell - Noch auf einer anderen Ebene lassen sich frühneuzeitlich Ver - schaftliche Stratifizierung. änderungen feststellen. Der Wechsel von Torgau nach Dresden Sie symbolisierte vielmehr, dass alle Parlamentarier gleicher - veränderte auch die gesellige Dimension der Ständeversamm - maßen dem Gemeinwohl verpflichtet sein sollten. Das schloss lungen. Nach Torgau kamen die Landtagsmitglieder allein oder aber nicht aus, dass es widerstreitende Konzepte für das allge -

| 14 | Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath meine Beste gab. Es änderte sich auch das gesellige Leben im aus Honoratioren, die nicht parteipolitisch gebunden waren. Umfeld der Landtage. Es verlagerte sich in die ohnehin etablier - Die Zweite Kammer wurde dagegen zum Forum für agonale Aus - ten Foren der residenzstädtischen Geselligkeit wie bspw. Klubs einandersetzung zwischen den politischen Parteien. Die Partei - und Vereine. Am Ende des 19. Jahrhunderts wuchs in Dresden en verfochten miteinander konkurrierende weltanschauliche die öffentliche Geselligkeit ganz allgemein erheblich an. Vor Konzepte für die Gesamtgesellschaft. Daher traten die Abgeord - diesem Hintergrund erschienen die Landtage nicht mehr als neten im Plenum der Zweiten Kammer einerseits als Stellvertre - Höhepunkte der geselligen Kultur in der Residenzstadt. ter von Wählerinteressen auf. Andererseits kommunizierten sie Mit dem Beitritt zum Norddeutschen Bund und später zum mit Hilfe der Parteiapparate politische Positionen und Prozesse Kaiserreich musste der sächsische Landtag wesentliche Kompe - in ihre jeweilige Wählergruppe hinein. Das verhalf den Land - tenzen an den Reichstag abgegeben. Dennoch blieb er ein ge - tagsereignissen zu einer breiteren Präsenz in der Gesellschaft, sellschaftlicher Zentralort. Die Erste Kammer bestand weiterhin als dies zuvor der Fall war.

Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath | 15 | Die Geschichte des sächsischen Landtags im Kaiserreich wird Die Landtage der Sowjetischen Besatzungszone und frühen bislang fast ausschließlich als Wahlrechtsentwicklung erzählt. DDR gingen auf einen Beschluss des Alliierten Kontrollrates Konservative und Liberale haben der Sozialdemokratie in Sach - zurück. Die Institution knüpfte an die Tradition der sächsischen sen das gleiche Wahlrecht für alle erwachsenen Männer verwei - Landtage während der Weimarer Republik an. Entsprechend ori - gert. Hätte das Reichstagswahlrecht gegolten, wäre die SPD entierte sich zunächst die Sitzordnung nach Fraktionen und die erheblich stärker gewesen. Dieser Blick muss aber um mehrere Tagungsgegenstände wurden nach Weimarer Vorbild verhan - Dimensionen erweitert werden. Denn jedes sächsische Wahl - delt. Andererseits stand das Landtagsgeschehen deutlich unter recht, auch das oft gescholtene Dreiklassenwahlrecht, dehnte der Prämisse, einen innovativen Parlamentarismus zu installie - den Kreis der Wahlberechtigten aus. Für die Geltungsbehaup - ren. Der Landtag sollte sich vom Weimarer Modell abgrenzen, tung der Zweiten Kammer ist auch von Bedeutung, dass man das am Ende in den Nationalsozialismus geführt hatte. nun nach Fraktionen zusammensaß. Diese Selbstsymbolisie - In dieser Situation gewann die Leitidee eines einheitlichen rung blieb jedoch von begrenzter Bedeutung. Denn diese Sitz - politischen Handelns fundamentale Bedeutung. Einheitlichkeit ordnung wurde nicht bildlich nach außen vermittelt. sollte den agonalen Prozessen entgegenwirken, die den Weima - Von 1866 bis 1918 verfügten Landtagsabgeordnete über eine rer Parlamentarismus in die Katastrophe geführt hatten. Des - sehr unterschiedliche gesellschaftliche Reputation. An den Sit - halb galt eine Fraktionierung des Parlaments schon als Gefähr - zungen des Parlaments nahmen sowohl Führungspersönlich - dung. Der Landtag sollte ein Vorbild sein, wie die politische keiten aus der Wirtschaft als auch Angehörige aus Arbeiter - Spaltung der Gesellschaft zu überwinden war. Dazu wurden die schaft und Handwerk teil. Gängige Unterschiede rahmte das traditionellen Strukturen und Institutionen des Parlamentaris - Zweikammerparlament ein und verlieh so jedem seiner Abge - mus neu interpretiert. Die Debatten zwischen den Parteien wur - ordneten besondere gesellschaftliche Ehre. den weithin harmonisiert. Deshalb verlor auch die Debattenkultu r Mit der Weimarer Republik steigerte sich die Bedeutung der im Parlament an Prägnanz. Entgegengesetzte Positionen waren Landtage für die politische Auseinandersetzung nochmals deut - fast verschwunden. Der zweite Landtag von 1950 bis 1952 wur - lich. Das neue Einkammerparlament setzte sich gegen das alter - de nicht mehr nach Parteien, sondern nach Einheitslisten native Modell der Räterepublik durch. In der Folge wurde es zum gewählt. Er erhielt auch eine entsprechende neue Sitzordnung. zentralen Forum für weltanschauliche Auseinandersetzungen. Schon vor der Wahl von 1946 war auf Initiative der KPD der Man stritt aber nicht nur um die politische Macht. Der Landtag »Block der Antifaschistischen Parteien« zustande gekommen. beanspruchte auch, ein Symbol für die Stabilisierung der gesell - Diese Institution stand ebenfalls unter der Leitidee, alle antifa - schaftlichen Ordnung zu sein. schistischen Kräfte zu bündeln. Ab 1948 waren die Beschlüsse Innerhalb des Parlaments wurden die Abgeordneten strikt des Blocks für die Fraktionen der beteiligten Parteien bindend. nach Parteizugehörigkeit fraktioniert. Sie standen antagonis - Der Block war damit dem Parlament vorgeschaltet. Er wirkte tisch gegeneinander. Das wurde auch für die Öffentlichkeit jeglicher Fraktionierung innerhalb des Parlaments entgegen. sichtbar vermittelt. Anders als vor 1918 entfaltete der sächsi - Seit sich im Oktober 1949 die Volkskammer der DDR konstitu - sche Landtag in der Weimarer Republik aber kein geselliges ierte, ging das Interesse an den Landtagen rapide zurück. Denn Leben mehr. Weil die Honoratioren aus dem Parlament ausge - die Volkskammer war einflussreicher. Zugleich absorbierten die schieden waren, sank auch die allgemeine Reputation der Ab - Verwaltungsapparate zunehmend politische Macht. In der ers - geordneten. Insgesamt lässt sich daher eine Egalisierungsten - ten Phase des SBZ/DDR-Landtages hatten auch bedeutende denz konstatieren. Personen des politischen Lebens dem Parlament Ausstrahlung

| 16 | Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath verschafft. Diese Männer und Frauen verließen spätestens mit en, wie sie in westlichen Demokratien gängig ist. Dies spiegelt der Gründung der Volkskammer die politische und gesellschaft - auch das sukzessive Ausscheiden einer ersten Generation von liche Bühne des sächsischen Landtags. Das endgültige Aus für Abgeordneten. dieses Parlament brachte dann die Auflösung der Länder im Ihr folgten immer mehr Parlamentarier, die bereit waren, die Jahre 1952. gängigen Anforderungen des bundesrepublikanischen Partei - Als der Sächsische Landtag 1990 neu gegründet wurde, stellt enparlamentarismus auszufüllen. Dazu gehört bekanntlich auch er sich einerseits in die Tradition der sächsischen Landtage. die klassische »Ochsentour«. Diese musste die Abgeordneten, Andererseits stand die Konstituierung des Parlaments unter der die 1990 gewählt wurden, nicht gehen. Wie schon der Weimarer Leitidee, ein zentraler Ort der föderalen Demokratie zu sein. Die Landtag entfaltete der Sächsische Landtag zwischen 1990 und politisch Aktiven sahen im Landtag das mächtigste Gestal - 1994 kaum ein eigenständiges geselliges Leben. Die Abgeord - tungsforum für die neu errungene freiheitliche Gesellschaft. neten verstanden den Landtag vor allem als politische Ver - Unter den Gegebenheiten des Einigungsprozesses vollzog sich sammlung. Überhaupt hatte in Dresden während der ersten aber weithin eine Nachbildung westdeutscher Parlamente. Legislaturperiode noch vieles provisorischen Charakter. Gastro - In der ersten Wahlperiode besaß die CDU eine dominierende nomie und Beherbergungswesen hatten noch geringe Kapazitä - Mehrheit im Landtag. Das war einer der Gründe, weshalb sich ten. Zudem agierten die Abgeordneten unter hohem Zeitdruck. Oppositionsarbeit von Anfang an nicht so entwickeln konnte, Sie mussten eine Verfassung ausarbeiten, eine große Anzahl wie sie in Westdeutschland üblich war. Eine Opposition, wie sie von Gesetzen verabschieden und ein neues Landtagsgebäude sich gegen Ende der DDR in bürgerrechtlichen Gruppen gebildet errichten lassen. hatte, hatte wenig mit einer parlamentarischen Opposition Damit bin ich in der Gegenwart angekommen. Die Geltungs - westdeutschen Typs gemein. Dies ist vielleicht auch einer der behauptungen, die ich Ihnen für die verschiedenen sächsischen Gründe, dass sich die politisch Aktiven 1989/90 teilweise nur Landtage vorgestellt habe, beruhen auf den laufenden Studien zögernd den in Westdeutschland etablierten Parteien anschlos - und Diskussionen des Graduiertenkollegs. Die Thesen werden sen. Viele politische Neulinge richteten ihre Arbeit anfangs noch in den jeweiligen Vorträgen des Workshops aufgegriffen und kaum auf die Profilierung ihrer Parteien aus. Das politische teilweise auch ausgeführt. Deshalb soll die Diskussion darüber Leben der Wendezeit war eher auf Konsens der Demokraten hin nach den einzelnen Referaten stattfinden. Mein Vortrag wollte angelegt. Davon übertrug sich noch einiges in die erste Wahlpe - Ihnen einen ersten Überblick über die Gesamtentwicklung riode. Erst allmählich etablierte sich eine Konkurrenz der Partei - geben, so wie wir sie bislang intern diskutiert haben.

Vortrag von Prof. Dr. Josef Matzerath | 17 | »in provinciali placito nostro« – die Landdinge als erste Landesversammlungen in der Mark Meißen? Vortrag von Josephine Mey

Sehr geehrte Damen und Herren, allen gebilligt werden«, tauchte im Laufe des 13. Jahrhunderts auch im weltlichen Bereich auf. mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel »Die Vorge - Bereits durch die Papst- und Bischofswahl wurde Mitbestim - schichte der sächsischen Landtage im Mittelalter« beschäftigt mung praktiziert. Auf den großen kirchlichen Versammlungen, sich mit Versammlungen im hohen und späten Mittelalter. Da - den Konzilien, sind festgelegte Kompetenzen und Beratungsre - runter verstehe ich ganz allgemein eine Zusammenkunft von geln festzustellen. Als Beispiele für Mitbestimmung und Ein - einer größeren Anzahl von Personen, die sich zu einem be - flussnahme der Stände gelten die Carta Magna Leonesa des stimmten Zweck trafen. Königreiches León von 1188 und die Magna Carta Libertatum Verschiedenartige Versammlungen lassen sich seit dem Ende aus dem Jahre 1215 in England. des 12. Jahrhunderts in der Mark Meißen nachweisen. Im Zuge Der Ritterschaft in der Mark Meißen gelang von allen Ständen meiner Untersuchungen versuche ich, diese Zusammenkünfte zuerst ein nicht zu übersehender Einfluss auf die Beschlüsse zu charakterisieren und im politisch-gesellschaftlichen Gefüge und Maßnahmen der Landesherren. Die Ritter beanspruchten jener Zeit zu verorten. Des Weiteren möchte ich herausfinden, im Laufe der Zeit ein Mitspracherecht, wann immer die Sicher - warum bestimmte Personen auf solchen Versammlungen auf - heit und das Gedeihen des Landes bedroht wurden. Durch ihr tauchten und welche Funktionen diese Treffen erfüllten. Am Bei - enges Verhältnis zum Fürsten und ihre vasallische Pflicht zu Rat spiel der ›placita ‹, der sogenannten Landdinge, möchte ich und Hilfe, »consilium et auxilium« traten sie seit dem 13. Jahr - exemplarisch zeigen, dass sie als ein Zentrum des kommunika - hundert vermehrt im fürstlichen Hofrat als Ratgeber des Herrn tiven Austausches gelten können. Damit kommen sie der Cha - auf. Sie nahmen dort als eigentliche Träger der Verwaltungsauf - rakterisierung eines gesellschaftlichen Zentralortes sehr nahe. gaben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Regie - Das Versammlungsprinzip ist dem Mittelalter nicht unbe - rungsgeschäfte des Landesherrn. Jedoch kann man hier nicht von kannt. Ebenso besitzt die Mitbestimmung eine sehr lange Tradi - einer Beschränkung der fürstlichen Macht sprechen, denn die tion in der Geschichte Europas und speist sich aus verschiede - Mitglieder dieses Hofrates wurden von dem jeweiligen Landes - nen Ursprüngen. Sie ist vor allem zuerst im kirchlichen Bereich fürsten selbst bestimmt. Dieser Rat stellte damit ein Werkzeug und im Römischen Recht zu finden. So lassen sich Grundsätze des Fürsten dar, mit dessen Hilfe er die verschiedenen Regie - der politischen Partizipation aus dem antiken römischen Recht rungsgeschäfte und Verwaltungsaufgaben ausführen konnte. herleiten. Der Satz »Quod omnes tangit, ab omnibus approbari Ab der Mitte des 14. Jh. häufen sich Fälle, in denen ritterliche debet«, was soviel bedeutet wie »was alle angeht, muss von Schiedsmannen zu Regierungsgeschäften hinzugezogen wurden .

| 18 | Vortrag von Josephine Mey lassen. Bei diesen sogenannten »Beden«, am besten übersetzt mit »Bitten«, bat der Fürst um finanzielle Mittel bei den ihm nicht mehr direkt unterstellten Untergebenen. Diese wurden durch die Stände Adel, Geistlichkeit und Städte vertreten. Damit bezeichnet der Begriff »Bede« eine außerordentliche Steuer, die am Anfang des 14. Jahrhundert vor allem die Städte zu zahlen hatten. Die erste Bedeverhandlung erfolgte in den In der Urkunde zu einem Schiedsspruch von 1387 zwischen dem wettinischen Landen im Jahre 1350 in . Eine weitere fand Landgrafen von Thüringen, Balthasar, und dem Landgrafen von nochmals 1376 in Meißen statt, als der Adel, die Städte und die Hessen, Hermann II., taucht eine Möglichkeit der Mitregierung Geistlichkeit den Fürsten eine Bede bewilligten. Schließlich der Ritterschaft auf. Darin ist erstmalig die Bezeichnung »ge- liegt für das Jahr 1385 ein Bedevertrag für das gesamte einem meiniclichen alles […] lande« für »graven, herren, freyen, dinst - Fürsten unterstehende Land vor. lewte, ritter, knechte, stete« zu lesen. Diese Umschreibung der Als sich im Jahre 1438 im Gefolge der Hussitenkriege die Stände eines Landes wurde schon in den Quellen und wird in finanzielle Not des Landesfürsten noch weiter verschlimmerte, der heutigen Forschungsliteratur unter »Landschaft« zusam - lud er die Stände zu einer Versammlung in Leipzig ein, um eine mengefasst. weitere Bede bewilligen zu lassen. Dies ist der Zeitpunkt, an Mit der fortschreitenden Geldwirtschaft und den ausufernden dem sich die Stände erstmals formal zusammenschließen, um Kosten für Hofhaltung, Verwaltung und kriegerische Unterneh - das Land gegenüber dem Landesherrn zu repräsentieren. Der mungen erhöhte sich der Geldbedarf der Herrscher, so auch der Landesfürst stellte den Ständen eine Verpflichtungserklärung, wettinischen Landesfürsten. einen so genannten Revers, aus. Darin gab er ihnen das Recht, Ende des 14. Jahrhunderts wurde der Geldmangel so gravierend , sich in Zukunft selbst einzuberufen. Dies durfte ohne seine vor - dass die üblichen Geldbeschaffungsmaßnahmen, wie Verkäufe herige Einladung geschehen, aber nur für den Fall, dass er die oder Verpfändungen von Herrschaften, nicht mehr ausreichten. Steuer verlängern oder nochmals fordern sollte. Das Entschei - Sie brachten eine sehr kurzfristige Linderung der an gespannten dende bei dieser Ständeversammlung ist die Tatsache, dass die finanziellen Lage. Landstände 1438 in Leipzig dem Landesherrn erstmals als stän - In dieser Zeit wandten sich die Landesfürsten an ihre versam - dische Korporation gegenübertraten. Die Städte und der Adel melten Stände, um von ihnen weitere Abgaben bewilligen zu verlangten von Kurfürst Friedrich II. das Recht, sich im Gegen -

Vortrag von Josephine Mey | 19 | zug zu ihren finanziellen Hilfen selbst und eigenmächtig einbe - den‹, aufbewahrt. Daneben sind wenige Nachrichten in anderen rufen zu dürfen. Somit wird diese Versammlung des Jahres 1438 Urkunden vorhanden, in denen auf die Landdinge verwiesen heute als erster Landtag in Sachsen bezeichnet und markiert wird. Beispielsweise verpflichtete sich Markgraf Dietrich der Be- die nächste Stufe einer Entwicklung, in der die Stände des Lan - drängte 1216, die Einigung, die seine Fehde mit Leipzig beende - des zu Landständen wurden. te, auf den nächstfolgenden Landdingen in Collm und Schkölen Anton Weck, geheimer Sekretär, Archivar und Chronist, ver - zu verkünden. fasste in der Mitte des 17. Jahrhunderts seine bekannte Dresdener Es muss beachtet werden, dass die Versammlungen für jeden Stadtgeschichte »Der Chur-Fürstlichen Sächsischen weitbe ruf - Landesteil gesondert abgehalten wurden. Für die Mark Meißen fenen Residentz- und Haupt-Vestung Dresden Beschreib- und Vor - traten die Landdinge in Collm bei Oschatz zusammen, für die stellung«. Darin spricht Weck schon für das Jahr 1185 von einem Ostmark in Delitzsch und für die Grafschaft Groitzsch in Schkölen. Landtag. Er meint damit das sogenannte ›Landding‹ zu Collm, eine Viele Teilnehmer erscheinen als Zeugen in den Urkunden, Zusammenkunft unter dem Vorsitz Markgraf Ottos des Reichen. über mögliche weitere Anwesende sind keine Informationen Der Autor fertigte eine Liste weiterer Landdingversammlun - enthalten. Bei der ersten überlieferten Urkunde zu dem Land - gen an, die aber unvollständig ist. Die im 14. Jahrhundert statt - ding aus dem Jahre 1185 unter Markgraf Otto dem Reichen sind findenden Bedeverhandlungen bezeichnet er auch als Landtage . es immerhin über 60 Personen, die als Zeugen des verhandelten Als kurfürstlicher Archivar hatte Anton Weck Zugang zu wichti - Gegenstandes auftreten. Bei diesen Personen handelt es sich in gen Dokumenten und Schriften. Es fällt ins Auge, dass er erstens der Mehrzahl um Männer ritterlichen Standes, sowohl um Edel - einige Landdinge nicht erwähnt, von denen sich aber Urkunden freie als auch um Ministeriale. Letztere werden in der Urkunde erhalten haben, und dass er zweitens auch den ›ersten Landtag‹ das einzige Mal sichtbar von den anderen Zeugen getrennt. Oft von 1438 nicht kennt. Andererseits führt er jedoch die Bedever - spielt die Reihenfolge der Zeugen eine wichtige Rolle und deute t handlungen von 1350 an, von denen heutzutage keine zeitge - auf die Rangunterschiede zwischen den Besuchern hin. nössische Überlieferung mehr vorhanden ist. Es ist anzunehmen, So stehen die oft anwesenden Burggrafen stets an erster Stelle dass Weck nicht Zugriff auf alle Urkunden besaß, andererseits der Zeugenauflistung. aber Zugang zu Überlieferungen hatte, die heute wahrschein - Unter den Titeln castellanus, später prefectus und ab 1200 lich verloren sind. Er bezeichnet die Landdinge vermutlich des - dann burcgravius tauchen vor allem die Burggrafen von Dohna, halb als Landtag, weil in den Urkunden von »placitum« die Rede Meißen, Leisnig, Altenburg und Döben bei nahezu jedem Land - ist, was man mit ›Versammlung‹ übersetzen kann. Außer diesem ding auf. Es fällt ins Auge, wie häufig und regelmäßig die ver - Begriff liefert das Mittellateinische Glossar aber noch weitere schiedenen Burggrafen die Versammlungen besuchten. Ausdrücke für »placitum«, u. a. Verhandlung, Gerichtstermin, Weiterhin ist festzuhalten, dass diese hohen Adligen größten - Übereinkommen und Verfügung. teils nicht der Mark Meißen zuzurechnen waren. Beispielsweise Wie schon erwähnt handelt es sich bei den Landdingen um gehörten die Burggrafen von Altenburg und Leisnig in das Versammlungen unter dem Vorsitz des Markgrafen mit den Gro - Reichsland Pleißen und die Burggrafen von Dohna und Meißen ßen des Landes. Das erste Zeugnis spricht von einer solchen erschienen auch auf dem Landding für die Grafschaft Groitzsch Zusammenkunft im Jahre 1185; die letzte fand laut den Quellen in Schkölen. Walter Schlesinger vermutete deshalb schon im 1259 in Collm statt. Insgesamt 15 Urkunden über die Landdinge Jahr 1961, dass diese Burggrafen wegen ihrer Position in der sind überliefert. Die meisten der originalen Schriften werden Gerichtsverfassung des Landes, also als Richter des Burggra - heute im Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand ›Ältere Urkun - fendings, auf den Landdingen anwesend waren.

| 20 | Vortrag von Josephine Mey Dies beantwortet jedoch nicht die Frage, warum diese hohen Die Reichweite der behandelten Inhalte der Urkunden er streckt Adligen auch auf Landdingen außerhalb ihres Gerichtsberei - sich von Grenzbestimmungen für das Kloster Altzelle über die ches erschienen. In dem Moment, in dem sie als Zeugen in den Schlichtung von Streitigkeiten bis hin zu Verkäufen von Gütern. Urkunden auftauchen, stimmten sie den Verhandlungen und Teilweise, wie beispielsweise bei der Versammlung vom 7.01.1219, den Beschlüssen, die in den Urkunden erscheinen, zu. Sie nah - wurden auch mehrere Sachverhalte auf dem Landding verhan - men die Verhandlungsergebnisse an und akzeptierten diese. delt und geklärt. Dadurch konnten künftige Konflikte vermieden werden. Des Im Jahre 1259 wird letztmalig ein Landding in Collm erwähnt. Weiteren stehen die Burggrafen als autoritäre Funktionsträger Anschließend werden zwar vereinzelte Versammlungen noch als mit ihrer Zeugenschaft für die Durchsetzung der Beschlüsse ›placita provincialia‹ bezeichnet. Sie fanden jedoch nicht mehr auch außerhalb der Zusammenkunft. Wahrscheinlich ist auch, in Collm statt, sondern u.a. in Grimma, Lommatzsch und Dresden . dass sie an den Verhandlungen und Absprachen vor Aufsetzung Höchstwahrscheinlich wurden diese Landdinge später durch der Urkunde aktiv teilnahmen. Auf diese Weise konnten sie ihre das Hofgericht ersetzt. Interessen verteidigen. Mit ihrer darauffolgenden Zeugenschaft Die Landdinge erfuhren bereits vielfältige Aufmerksamkeit in garantierten sie schließlich die Anerkennung der Beschlüsse. der sächsischen Landesgeschichtsforschung. Dabei wurden sie Andererseits war auch der Markgraf daran interessiert, dass teilweise sehr unterschiedlich bewertet. Grundlegend für das diese Burggrafen auf den Landdingen erschienen. Da sie seine Verständnis dieser Versammlungen ist der Aufsatz zur Gerichts - größten Konkurrenten beim Ausbau seiner Macht darstellten, verfassung des Markengebietes von Walter Schlesinger. Darin konnte es von Vorteil für ihn sein, dass sie anwesend waren. hält er die Landdinge – ich zitiere: »für ein landesherrliches Dies stellte eine Möglichkeit dar, sich den Beistand der hohen Gericht und zugleich für eine Landesversammlung«. Adligen zu sichern. Ältere Forschungsarbeiten, vor allem solche aus dem 19. Jahr - Auch die höhere Geistlichkeit ist auf den Landdingen zu fin den. hundert, versuchen die Anfänge einer landständischen Vereini - Sowohl Bischöfe als auch Äbte lassen sich in den Zeugenlisten gung in die Zeiten des 12. Jahrhundert zu legen und mit jenen ausmachen. Die Domherren aus Meißen sind verhältnismäßig Landdingen gleichzusetzen. Diese Historiker vermuteten, dass oft auf den Landdingen anwesend. Dies gilt ebenso für die es auf diesen Versammlungen eine Teilhabe des Landes an poli - markgräflichen Schreiber und Notare. tischen Entscheidungen gab. Sie gehen dabei von der Annahme Bemerkenswert ist eine Verhandlung im Jahre 1233 in Collm, aus, dass auf den Landdingen über Angelegenheiten von größe - bei der unter den Zeugen auch Bewohner eines Dorfes auftreten: rer Bedeutung verhandelt wurde. Herbert Helbig hält jedoch in In der Urkunde ist die Rede von Sifridus villicus de villa Chro - seiner 1955 erschienenen Untersuchung zum »wettinischen bere (Gröbern bei Meißen), Arnoldus, Hermannus, Rotzlav, Ständestaat« dagegen, dass keinerlei Hinweise für eine derar - Johannes, Burchardus, Primuzil cives villae eiusdem. Es ist zu tige Beteiligung der Stände an solchen Angelegenheiten in den vermuten, dass sie im Gefolge Thimos v. Radeberg anreisten, Quellen zu finden seien. denn es wurde seine Schenkung eines Weinberges an das Für Helbig kann auch nicht von einer Landesversammlung Kreuzkloster in Meißen beurkundet. Eben jener Weinberg liegt gesprochen werden, da nicht alle Stände vertreten waren. im Dorf Gröbern und die Schenkung betrifft somit die anwesen - Außerdem erscheinen die Landdinge in den Überlieferungen für den Einheimischen. Es ist davon auszugehen, dass deren Zeug - die einzelnen Gebiete der Mark Meißen, der Ostmark und der nis erwünscht war. Dieser Fall zeigt, dass auch Bewohner eines Grafschaft Groitzsch gesondert. Damit stellen die Landdinge für ihn Dorfes nicht von den Landdingen ausgeschlossen waren. nur Gerichtsversammlungen für die höheren Stände dar, über

Vortrag von Josephine Mey | 21 | die der Markgraf zu Gericht saß. Diese Zusammenkünfte treten Für die eine Seite sprechen vor allem die Inhalte der Urkunden. für Helbig »als eine rein gerichtliche Institution« entgegen. Der Markgraf entscheidet als vorsitzender Richter über Besitz - Jedoch muss man sich hier vergegenwärtigen, dass es keine streitigkeiten bzw. Übereignungen von Grundbesitz. Dies er - strikte Trennung oder Einteilung in Exekutive, Judikative und klärt jedoch die teilweise sehr lange Zeugenauflistung nicht, in Legislative im Denken der damaligen Zeit gab. der auch die höheren Stände und die höhere Geistlichkeit Somit kann nicht festgestellt werden, dass es sich bei den erscheinen. Besonders interessant bleibt das Auftreten der ver - Landdingen wirklich ausschließlich um reine Gerichtsversamm - schiedenen Burggrafen, die teilweise aus anderen Herrschafts - lungen handelte. Höchstwahrscheinlich wurden neben den Rechts - gebieten zu den Landdingen anreisten. Durch ihre Anwesenheit streitigkeiten auch in geringem Umfang politische Themen be- und durch ihre Zeugenschaft drückten die hohen Adligen ihre sprochen. Zustimmung zu den verhandelten Gegenständen aus. Bei einer Wie aber bereits erwähnt, bieten die Quellen dafür nur sehr Zusammenkunft solch einer Größe mit den wichtigsten Personen wenige Hinweise. Karlheinz Blaschke vertritt in seiner Abhand - der verschiedenen Herrschaftsgebiete kann wohl davon ausge - lung über die »Geschichte Sachsens im Mittelalter« die Mei - gangen werden, dass diese Landdinge als ein Zentrum des kom - nung, dass auf diesen Landdingen auch Landesverwaltung und munikativen Austausches gelten können. Höchstwahrscheinlich Landespolitik im weiteren Sinne eine Rolle spielten. Daher hätte behandelte man nicht nur die in den Urkunden niedergeschrie - man auf ihnen nicht nur Rechtspflege betrieben. Weiterhin stellte n benen Rechtsstreitigkeiten, sondern nutzte die Zusammen künfte diese Versammlungen für ihn Zeugnisse für die grundlegenden zu weiteren Gesprächen, Absprachen und Verhandlunge n über Elemente einer Landesverfassung und Gesellschaftsordnung im andere politische Angelegenheiten. Darauf deuten auch die mehr - Zeitalter der »Kolonisation« dar. Dadurch, dass Herrschaft und maligen Versprechen der Markgrafen hin, besondere Entschei - Gerichtsbarkeit im Mittelalter zusammengehörten, könne man dungen auf dem nächsten Landding bekannt geben zu wollen. nicht von einer bloßen Gerichtsversammlung sprechen. Des - Somit lassen sich diese Zusammenkünfte als eine Synthese der halb trügen die Landdinge durchaus Charakterzüge einer Lan - beiden gegensätzlichen Forschungsmeinungen beschreiben. desversammlung. Einerseits präsentieren sich die Landdinge als Versammlungen, Die Landdinge als Versammlungen im Hochmittelalter stellen auf denen Rechtsfälle geklärt wurden. In Anbetracht der regen zugleich einen interessanten und wichtigen Aspekt im Rahmen Teilnahme von Mitgliedern verschiedener Stände wurden ande - meines Dissertationsprojektes dar. Aufgrund des zur Verfügung rerseits höchstwahrscheinlich aber auch Themen politischer Art stehenden Quellenmaterials müssen viele Fragestellungen je - besprochen. Dies unterstreicht das Argument der nicht vorhan - doch unbeantwortet bleiben. Gerade Aussagen zur Verfahrens - denen Gewalteneinteilung im Mittelalter noch zusätzlich. weise der Verhandlungen oder über Möglichkeiten zur Entschei - Die Landdinge könnten also als ein gesellschaftliche Zentral - dungsfindung und Willensbildung können nicht getroffen werden. orte beschrieben werden. Die einzelnen Inhalte und die Zeugenlisten der Urkunden der Sie ermöglichten es, durch kommunikativen und sozialen Landdinge sind meines Erachtens das aussagekräftigste Mate - Austausch verschiedene Themen zu besprechen und zu bera - rial, mit dem gearbeitet werden kann. Wie oben beschrieben, ist ten. Damit fungierten die Landdinge als Zentren, in denen eine selbst die einfache Frage nach der Art dieser Zusammenkünfte gesellschaftliche Vernetzung der unterschiedlichen Teilnehmer nicht eindeutig zu beantworten. Die Forschung spaltet sich in stattfinden konnte. zwei Lager. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

| 22 | Vortrag von Matthias Kopietz Konfliktlösung durch Variabilität? Ständeversammlungen im wettinischen Herrschaftsbereich 1438–1539 Vortrag von Matthias Kopietz

Meine sehr verehrten Damen und Herren, innerhalb des Graduiertenkollegs zur Geschichte der sächsi - schen Landtage widmet sich mein Dissertationsvorhaben den Ständeversammlungen der Jahre 1438 bis 1539. Der Untersu - chungsraum bezieht sich dabei bis zur Teilung der wettinischen Gebiete im Jahre 1485 auf den gesamtwettinischen Herrschafts - bereich. Ab dieser Binnenzäsur konzentriere ich mich auf den neu entstandenen albertinischen Teil. Gleichwohl sind die Bezie - hungen zu den benachbarten Ernestinern und den dortigen Ständeversammlungen nicht komplett auszuklammern. Dies ist aufgrund der vielfältigen Verflechtungen und Beziehungen bei - der Linien zueinander auch nicht möglich. Den Anfangszeitpunkt meiner Untersuchung bildet ein Ereig - nis, dem die sächsische Landesgeschichte zurecht einen hohen Stellenwert beimisst: 1438 bewilligten die wettinischen Stände ihren Fürsten eine außergewöhnliche Steuer. Der dreißigste Pfennig eines jeden Verkaufs sollte in den folgenden beiden Jah - Offensichtlich ist hierbei der qualitative Sprung des fürstlich- ren helfen, die durch Hussitenkriege und Besitzerwerbungen ständischen Arrangements im Vergleich zu den von meiner Kol - geschwächte fürstliche Kasse zu entlasten. Der entsprechende legin Josephine Mey ausgeführten Betrachtungen des Verhält - Steuerrevers vom 9. Juni inkludierte dabei mittels eines ständi - nisses von Herrschaft und Ständen vor dem Jahre 1438. Den schen Bündnisbriefes auch die Gegenleistung, welche Kurfürst konkreten inhaltlichen Bestimmungen gingen nämlich zähe Ver - Friedrich II. und sein jüngerer Bruder Wilhelm III. erbringen handlungen voraus, die sich auch in den Quellen spiegeln. Die mussten. Für den Fall, dass diese Forderung künftig erneut er - fürstlichen Räte hatten zwei Vorschläge ausgearbeitet und die hoben worden wäre, hatten die Stände das Recht erhalten, sich Fürsten zudem ursprünglich den 20. Pfennig gefordert. Sowohl unabhängig vom fürstlichen Willen zu versammeln und zu ver - das Aufbieten von Wahlalternativen als auch das abgemilderte einigen. Sie hatten zudem Einfluss auf die Erhebung und Kon - Ergebnis zeigen: In der konfliktreichen Aushandlung und gegen - trolle der Gelder erlangt. seitigen Akzeptanz durch gemeinsame kommunikative Akte

Vortrag von Matthias Kopietz | 23 | konstituierten sich die Beziehungen der gesellschaftlichen gelöst und eigenständig schalten und walten konnte – sofern man Akteure zu einem politischen Gefüge. So konnten Ansprüche ihm diese Absicht überhaupt unterstellt. Tragfähig war er viel - aller Seiten gesichert, Verwaltung und Durch dringung des Lan - mehr im Konsens mit den Klerikern, Grafen, Adligen und Städ - des mittels der Steuer gestaltet werden. Das skizzierte Beispiel ten, den Ständen also, die als Mitspieler auf dem politischen veranschaulicht darüber hinaus: Von einem vereinfachten dua - Feld nicht uneinbezogen bleiben konnten. Dieses Feld spannte listischen Verhältnis zwischen Fürst und Ständen auszugehen, sich gewissermaßen erst durch die Beziehungen der genannten greift zu kurz. gesellschaftlichen Akteure zueinander auf. Hinzu kamen die Gestatten Sie mir nun einen Zeitsprung. Gut einhundert Jahre Reichsgewalt und die vielgestaltigen Beziehungen zu anderen später, im März 1539, ließ der Enkel des genannten ersten wet - Fürsten als maßgebliche Einflussfaktoren. Aufgefallen ist ihnen tinischen Kurfürsten Friedrich II., der Herzog Georg der Bärtige, mit Sicherheit auch, dass ich bisher den Begriff ›Landtag‹ weit - auf einem Ständetag zu Meißen sein Testament verlesen. Nach gehend vermieden habe. Dies geschah bewusst und ist zu nächst vier Jahrzehnten alleiniger Herrschaft über den 1485 durch die ein ganz notwendiger Ausgangspunkt meiner Überlegungen Leipziger Teilung entstandenen albertinischen Landesteil traf und meines Zuganges zum Gegenstandsbereich meiner Disser - Georg folgende Anordnung: Die Stände sollten nach seinem tation. Ich möchte dies wie folgt begründen. nahenden Ableben versuchen, den Einzug der Reformation Durch das Quellenstudium ergab sich für mich folgendes Bild: abzuwehren und dazu gegebenenfalls einen Landtag einberufen. Die Versammlungen von Fürsten und Ständen waren im 15. Jahr - Doch dieser Versuch des altgläubigen Herzogs blieb aussichts - hundert zunächst kaum institutionell geprägt oder klar ausge - los. Weder der Nürnberger Bund, das seit 1538 existierende formt. Die Anlässe, Teilnehmer, Gestalt, Inhalte und Zwecke Bündnis katholischer Stände im Reich, noch die – konfessionell variierten erheblich. Im gesamten Untersuchungszeitraum sind nicht einheitlichen – albertinischen Stände konnten Garanten diesbezüglich über 80 unterschiedliche Versammlungen zu fas - seines Anliegens sein. Nach dem unglücklichen Ausscheiden sen. Darüber hinaus finden sich zahlreiche Andeutungen und im von Georgs Söhnen aus der Erbfolge war schließlich der konver - Schatten der vorgefundenen Überlieferungslage bleibende Hin - tierte Bruder des Herzogs am Zuge. Heinrich der Fromme führte im weise auf Ereignisse mit Versammlungscharakter. Eine Überschau albertinischen Herzogtum die Reformation ein. Die Geistlichkeit dieser Vielfalt offenbart variable Möglichkeiten von Zusammen - verlor – auch hinsichtlich ihrer Rolle in den Ständeversammlun - künften. Zahlreich sind reine Rätetagungen mit oder ohne den gen – an Bedeutung. So endete im April 1539 mit Georgs Tode Fürsten. Solche Treffen zu Beratungszwecken konnten mitunter eine 40-jährige Regierungszeit, die nicht zuletzt durch ein gutes auch offener gestaltet sein und Berater einschließen, die nicht zum Miteinander zu den Ständen gekennzeichnet war. In der Per - engsten Kreis der Räte des Fürsten zählten. Flexibel erscheinen spektive einer Geschichte der sächsischen Ständeversammlun - auch die Versammlungen, an denen mehrere verschiedene Stän - gen stellt dies somit einen weiteren Zäsurfaktor des Jahres 1539 de teilnahmen. Diese konnten sich etwa auf einen regionalen dar. Es folgten nämlich ungleich sprunghaftere Neuakzentuie - Bezug stützen, dann wurden nur die Stände eines bestimmten rungen zwischen den Fürsten und Ständen in den wechselhaften Herrschaftsbereichs des Fürsten versammelt. Ebenso gab es Folgejahren von Georgs Nachfolgern, den Herzogen Heinrich und Versammlungen nur eines bestimmten Standes mit dem Fürs - Moritz. ten. Besonders Städte- oder Ritterschaftstage sind darunter zu Meine Damen und Herren, was fällt bei der Betrachtung der verstehen. Wie bereits erwähnt, gab es zudem seit 1438 unter beiden offerierten Zäsuren des Untersuchungszeitraumes auf? bestimmten Bedingungen das ständische Recht zu willkürliche n Zunächst, ganz grundlegend, dass der fürstliche Wille nicht los - Versammlungen, d. h. zu Treffen ohne Ladung durch den Fürsten.

| 24 | Vortrag von Matthias Kopietz Wiederum andere Gestalt nahmen Ständeversammlungen an, Es lassen sich jenseits der variablen und vielfältigen Praxis von wenn auswärtige Autoritäten oder Berater hinzugezogen wur - Zusammenkünften zunehmend wiederkehrende Merkmale hin - den. Schließlich finden wir Zusammenkünfte, auf denen Grafen sichtlich der Praxis der Einberufung, des Teilnehmerkreises, der und Herren, Kleriker, Ritter und Städte gemeinsam tagten. Zu- ›landbezogenen‹ Inhalte, der Verfahren und der Entscheidungs - nehmend berieten solche Versammlungen auch zu Inhalten, die findung beobachten. Daraus folgt der Befund, dass Ansätze als ›Landesangelegenheiten‘ interpretiert werden können. Letzt - einer Festigung hin zu einem institutionalisiert-vormodernen lich reduzierten Ausschusstage der nun mehr und mehr als Landtag auszumachen sind: Mit der quantitativen Zunahme der landtschafft erscheinenden Stände die eben genannten Groß - Versammlungen ging eine qualitative und spezifizierende Ent - versammlungen, wenn dies nötig war. wicklung einher. Diese Beobachtung ist an den Fortgang der Durch die Betrachtung dieser verschiedenen Versammlungen Zeit gebunden, sodass ein entwicklungsgeschichtlicher Zugang kam ich in meiner bisherigen Arbeit zu folgenden Beobachtun - gewagt werden kann. Dieser Zugang darf nicht teleologisch, d. h . gen und Befunden: Ein Zusammenkommen erscheint in den nicht von einem zu erreichenden Endpunkt eines ›vollendeten‹ Quellen in der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraumes zu - Landtages her gedacht werden. Die eigengeschichtliche Per - nächst schlicht als tag oder handlung. Erste Quellenbelege des spektive, die Ständeversammlungen aus ›sich heraus‹ und nicht Begriffs landttag finden sich sporadisch ab 1470, zunehmend nur als Begleiterscheinung zu einer Fürstengeschichte zu sehen , und verfestigend seit dem – auch so in den Quellen genannten soll an den Untersuchungsabschnitt angelegt werden. – Leipziger Landtag von 1495. Die Intention eines jeden ›Tages‹ Daraus ergibt sich als Erkenntnisinteresse die Frage, woraus war zunächst die grundlegende Notwendigkeit und das Bedürf - sich diese frühen Landtage an der Schwelle vom Mittelalter zur nis, Verbindung zwischen den gesellschaftlichen Akteuren zu Neuzeit ableiten. Sie fallen nicht einfach vom Himmel, können gewährleisten und Beziehungen zwischen ihnen herzustellen. aber auch nicht als Produkt oder Folge einer linearen Entwick - Durch das Prinzip der Zusammenkunft wurde dabei soziale lung gesehen werden. Hierbei ist vor allem zu prüfen, inwieweit Sinnhaftigkeit gestiftet und kommuniziert. Über den gesamten andere Entwicklungsvorstellungen auf den wettinischen Fall Untersuchungszeitraum hinweg lässt sich eine gewisse Plurali - gedacht werden können. Der Gießener Mediävist Peter Moraw tät der Erscheinungsformen von Ständeversammlungen ausma - etwa charakterisierte die Entwicklung der Reichsstände als chen. Autonome Verfahren zur Entscheidungsfindung und zur einen Prozess vom Hoftag hin zum Reichstag. kollektiven Bindung waren in dieser Zeit noch nicht durchge - Die ältere sächsische Forschung, insbesondere die im Detail setzt. Die Versammlungen unterlagen zudem offensichtlich einer verdienstvolle Arbeit Herbert Helbigs zum »Wettinischen Stän - situativen Bindung: Sie waren Reaktionen auf konkrete Konflik - destaat«, so der Titel seiner Habilitationsschrift, sah insbeson - te oder Krisen. Als Beispiel wäre hierfür die Vielzahl von Stände - dere in der zurückhaltenden Rolle der Stände im Zuge der wet - versammlungen im Umfeld der langwierigen Aushandlung der tinischen Hauptteilung von 1485 ihre Ohnmacht belegt. Man Altenburger Teilung von 1445 zwischen Kurfürst Friedrich II. und deutete das Verhalten der Stände als eine Interruption einer Herzog Wilhelm III. zu nennen. Diese situative Bindung ist je - teleologisch gedachten Fortschrittsentwicklung – etwa im Ver - doch nur eine Seite der Medaille, denn das Versammlungsprin - gleich zum erheblichen ständischen Einfluss auf die Altenbur - zip ist dem gesellschaftlichen und politischen Feld immanent: ger Teilung vierzig Jahre zuvor. Hierin liegt meines Erachtens die Es gibt keine gesellschaftliche oder politische Wirklichkeit ohne Gefahr, nicht dem Eigencharakter der Ständeversammlungen das Verständnis kommunikativer Akte als Symbole. Die Stände - näher zu kommen. Folglich möchte meine Arbeit auch Helbigs versammlungen waren dafür ein geeignetes Instrumentarium. Zäsur des Jahres 1485 überwinden. Gewiss konstituierte die

Vortrag von Matthias Kopietz | 25 | Leipziger Teilung herrschaftsrechtlich die dynastischen Verhält - nistisch und von einem frühneuzeitlichen Staatstopos der Mach t nisse der Wettiner grundsätzlich neu. Die neuere Forschung zur her gedacht. sächsischen Landesgeschichte hält der älteren Interpretation Daher kann meines Erachtens die Geschichte spätmittelalter - dieser Teilung als einer verheerenden Selbstbeschneidung wet - licher wettinischer Ständeversammlungen auch über das Jahr tinischer Machtkonzentration jedoch zu Recht entgegen, dass 1485 hinaus betrieben werden, während Helbig seine Arbeit mit spätmittelalterliches Herrschaftsdenken maßgeblich dynas - dieser Zäsur enden ließ. Die Teilung der wettinischen Lande tisch geprägt war. In diesem Sinne war die Teilung der Herr - brachte nämlich wiederum neue Versammlungsvarianten hervo r: schaftsrechte ein übliches Instrument zur Wahrung der Ansprü - die gemeinsamen Versammlungen der Stände beider Linien, che der Erbberechtigten und zur Sicherung des Überlebens der der Ernestinischen und der Albertinischen, beispielsweise 1498 Dynastie. Dass diese Teilung eine vermeintlich ›erfolgreichere‹ in Naumburg oder 1525 in Zeitz. Hier bestätigt sich die Variabi - sächsische Entwicklung verhindert hätte, ist letztlich anachro - lität als eigengeschichtliche Kontinuität des Versammlungsprin -

| 26 | Vortrag von Matthias Kopietz zips erneut, um den historischen Erfordernissen der jeweiligen zeitzuschnitt und verhindern das bloße Verhaften an Einzelfäl - Situation gerecht zu werden. len. Auf diese Weise scheint es mir möglich, Entwicklungslinien Mit meinen Ausführungen zum Jahr 1485 wollte ich exempla - aufzuzeigen und aus der diffizilen Quellenlage ein eigengeschicht - risch auf Folgendes hinweisen: Die Betrachtung eines gesam - liches Bild von den Ständeversammlungen im wettinischen ten Jahrhunderts mit all seinen bedeutenden Entwicklungslini - Herrschaftsbereich am Ausgang des Mittelalters zu gewinnen. en – erwähnt seien neben der Leipziger Teilung besonders die Dieses Vorgehen fußt nicht zuletzt auf den vorgefundenen Be - Reformation, die dauerhafte ›Türkengefahr‹ oder die Erfindung dingungen. Ereignisgeschichtlich subsumierten bereits Helbig des Buchdruckes – unter der Prämisse der Behandlung eines und Woldemar Goerlitz die Geschehnisse. Zudem variieren die spezifischen Gegenstandes (der Ständeversammlungen) erfor - Quantität und die Qualität der Quellenzeugnisse zu den einzelnen dert einen variablen und offenen methodischen Zugang. Zum Ständeversammlungen des Untersuchungszeitraumes erheblich . einen sind begriffsgeschichtliche Untersuchungen notwendig: Ein Beispiel hierfür möchte ich zur Veranschaulichung anfüh - Wann und Wie wurden tage und handlungen zum landttag? Aus ren: sozialgeschichtlicher Sicht ist etwa zu fragen: Wer erschien aus Eine gleichrangige und gleich angelegte Betrachtung der Ver - welchen Gründen zu welcher Form von Versammlung? Inwiefern sammlung in Oschatz im März 1466 und des Leipziger Landta - lässt sich korporatives, auf die Zuschreibung von Eigengeltung ges von 1534 erscheint wenig aussagekräftig. Über die Oschat - referierendes, Denken und Handeln fassen? Bestimmte Entwick - zer Versammlung besitzen wir nur wenige Informationen. Die lungen, zum Beispiel im Zuge der Altenburger Teilung von 1445, Ritter, die Geistlichen und die Städte bewilligten eine Steuer. ermöglichen mittels verfahrensbezogener Untersuchungen ein Dieser ›Tag‹ war das erste Geldersuchen der jungen regieren - vertieftes Verständnis des Gegenstandes. Ein prosopographi - den Fürsten Ernst und Albrecht nach dem Tod ihres Vaters, des scher Zugang ermöglicht insbesondere für die zweite Hälfte des Kurfürsten Friedrich II. Zur Verwaltung der Einnahmen wurde ein Untersuchungszeitraumes Beobachtungen personaler Konti - 11-köpfiges Gremium aus zehn Angehörigen der Landschaft und nuitäten, die das Versammlungsprinzip grundsätzlich festigten. einem fürstlichen Rat gebildet. Die Vertreter und das Zustande - Überhaupt erscheint es lohnenswert, nicht wie die ältere For - kommen dieses Kontrollgremiums bleiben jedoch unbekannt. schung rückwirkend die Wurzeln eines Phänomens zu suchen, Viel mehr ist zum Wesen und Gegenstand dieser Versammlung sondern die Geschichte der Ständeversammlungen aus dem nicht überliefert. komplexen gesamtgesellschaftspolitischen Feld und seinen Die Quellenlage zum Leipziger Landtag im Mai 1534 ist hinge - Wirkungszusammenhängen heraus zu denken. Dabei muss gen ungleich besser. Die Teilnehmer sind bekannt und es liegt meine Arbeit exemplarisch und fallorientiert angelegt sein, um sogar eine narrative Quelle, ein Bericht des Dresdner Bürger - die oben formulierten Thesen und angedeuteten Befunde eines meisters Bienert, hierüber vor. Auf diesem ›Tag‹, der nun auch eigenentwicklungsgeschichtlichen Zugangs zu stützen. Konti - in den Quellen als Landtag bezeichnet wird, kamen verschiedene nuitäten und Brüche sollen dabei mittels verschiedener Analy - Landes- und Einzelinteressen zu tragen. Auch diesmal ging es sekategorien untersucht werden. Aus dem Einfluss von Ent - um Geld. Eine Tranksteuer wurde von der Landschaft bewilligt. scheidungsträgern und der Partizipation politischer Kräfte auf Die Stände traten darüber hinaus aber korporativ auf und for - verschiedenen Ebenen, aus den Versammlungs- und Entschei - derten eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit wirtschafts - dungsinhalten selbst und den Prozessen beziehungsweise Ver - politischen Konflikten zwischen den Städten und dem ländli - fahren zur Konfliktbehandlung können sich solche Kategorien chen Raum. Für diese Angelegenheiten wurde ein zehnköpfiger speisen. Sie ermöglichen einen übergreifenden Zugriff im Lang - Ausschuss gebildet, der sich künftig damit befassen sollte. Die

Vortrag von Matthias Kopietz | 27 | Stadt Döbeln wiederum erhoffte sich eine Verhandlung ihrer Die Verstrickung der Teilnehmer im politischen Gefüge, die Aus - konkreten Beschwerdeschrift gegen die Handwerksarbeit auf differenzierung der Gegenstandsbereiche oder auch das Kom - den Dörfern. Auch reichspolitische Fragen spielten eine Rolle: plexwerden der Verfahren treten so zu Tage. König Ferdinand nämlich erbat bei den Wettinern ein Darlehen, Meine Untersuchungen zeigen: Aus dem wenig bestimmt das Herzog Georg den Ständen zur Beratung vorlegte. Weiterhin erscheinenden mittelalterlichen Fungieren von tagen erwuchs kritisierten die Stände auf diesem Landtag wohl die Religions - zunehmend ein Bewusstsein für gesellschaftliche Versammlungen politik des Herzogs und auch seine strikten Maßnahmen gegen politischen Charakters. Zunächst erscheinen uns verschiedenst e die lutherische Gemeinde. Kurz zuvor hatte Georg zahlreiche Treffen und Tage als Zentralorte. Zunehmend entwickelten sich Leipziger Bürger aus konfessionspolitischen Motiven der Stadt im Untersuchungszeitraum aber auch konkrete Vorstellungen verwiesen. Aus Bienerts Bericht geht zudem – wiederum kon - von funktionalen Rollen, Zuständigkeiten, Aufgabenteilungen fessionell begründet – eine Privatbeschwerde Antons von und Inhalten von Versammlungen. Dadurch fungierte die Stän - Schönberg gegen den Herzog auf jener Versammlung hervor. deversammlung sowohl als allgemeines Prinzip als auch im Dieser kurze Vergleich soll Folgendes veranschaulichen: Jede konkreten historisch-situativen Fall und Ereignis als ein Zentral - Versammlung erscheint in den Quellen als einzelnes Ereignis mi t ort der historischen Konturierung von Gesellschaft und Politik am jeweils gesonderten Bedingungen und spezifischen Themen. Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Mittels der Funktionalität Die Summe von nahezu 80 Versammlungen ergibt ein beachtli - des gesellschaftlichen Zentralortes Ständeversammlung und ches Kompendium, das mittels Untersuchungskategorien be- durch ihn steigerten und gestalteten sich zunehmend bedeut - trachtet werden kann und folglich ein tieferes Verständnis des same Prozesse: Die personale Verstrickung seiner Akteure Gegenstandes ermöglicht. Als solche Kategorien kommen zum untereinander und vor allem im Versammlungsverfahren, die Beispiel Finanz- und Steuerfragen, ständische Befugnisse, Lan - Verdichtung und Stabilisierung von Herrschaft durch die des- versus Partikularinteressen, reichspolitische Inhalte und konsensuale Bindung von Fürsten und Ständen, aber auch ganz Einflüsse sowie Verfahrensweisen infrage. allgemein das Durchdringen des Herrschaftsgebietes mittels Ein derartiger Katalog von Kriterien und Kategorien ist dann zu nehmender Verwaltung sind hierbei zu nennen. Die Stände - zwar nicht immer auf jede einzelne Versammlung anwendbar, versammlungen des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts waren jedoch sind die Schnittmengen und kategorialen Eigenentwick - folglich integrativer Bestandteil eines politischen Umstrukturie - lungen innerhalb des gesamten Untersuchungszeitraumes er - rungsprozesses vom Mittelalter hin zur Frühen Neuzeit. Sie stel - fassbar. So gelingt der analytische Zugriff auf den gesamten len sich als ein bedeutsamer Faktor und als ein wesentliches Zeit raum und es können Binnendifferenzierungen und Entwick - Instrument für die zunehmende Konturierung des vormodernen lungen in den einzelnen Teilfragen herausgearbeitet werden. Staates dar.

| 28 | Vortrag von Matthias Kopietz Ritual und Organisation Die kursächsischen Landtage in Torgau als gesellschaftliche Ereignisse (1550–1628) Vortrag von Jan Bergmann

Sehr geehrte Damen und Herren, die Reihe der Torgauer Landtage beschreibt einen langen Ab - schnitt in der kursächsischen Ständeversammlungsgeschichte. Ein Dreivierteljahrhundert war die Elbestadt nahe der Dübener Heide alleiniger Veranstaltungsort der wichtigsten landständi - schen Zusammenkünfte. Dies war ein Novum, da bis dahin noch der Tagungsort von Mal zu Mal gewechselt hatte. Die Landtage spielten eine wesentliche Rolle im kursächsischen Verwaltungs- und Regierungssystem der beginnenden Frühen Neuzeit. Auf ihnen avancierten die Landstände zur wichtigsten Instanz im Steuerwesen. Sie berieten den Kurfürsten sowohl in innerterri - torialen als auch reichspolitischen Belangen und in formierten ihn bzw. seinen Regierungsapparat über Missstände im Land und forderten deren Beseitigung. Nicht zuletzt waren ihre Ver - sammlungen ein zentraler Ort für Distinktion und Interaktion innerhalb der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft. Auch vor und nach den Torgauer Konventen hat es natürlich Kryptocal vinisten. Aber vor allem ihre eigenen strukturellen Land- und Ausschusstage gegeben – deshalb sind sie auch Entwicklungs prozesse begründen ihre Bedeutung für die säch - nicht als eigenständige bzw. isolierte historische Institution zu sische Landtagsgeschichte sowie nicht zuletzt auch ihre Rolle be trach ten. Dennoch lassen sich m. E. sowohl inhaltliche als als ge sell schaft licher Zentralort. Sie bilden das Bindeglied zwi - auch strukturelle Unterschiede und eigene Entwicklungslinien schen den spätmittelalterlichen, weitgehend von der fürstli - herausarbei ten. Es ist daher ohne weiteres möglich, die Torgau - chen Hofhaltung abhängigen und letztlich sehr vielgestaltigen er Land tage im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie analy - Zusammenkünften und den korporativen, kaum noch höfisch tisch zu fokussieren. Sie spielten unbestritten eine wichtige eingebundenen frühneuzeitlichen Ständeversammlungen, wie Rolle in der lutherischen Reformation – man denke etwa an die sie ab dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts in Dresden zu - Beratung der Konkordienformel oder das Vorgehen gegen die sammentraten.

Vortrag von Jan Bergmann | 29 | Die Erkenntnis, dass die albertinischen Kurfürsten des 16. Jahr - eine allgemeine Ständeversammlung in die Residenzstadt Dres - hunderts keinesfalls absolutistisch regierten und ihre Landstände den ein, wo die folgenden Zusammenkünfte nun auch dauerhaft auch nicht politisch bedeutungslos waren, gehört nicht zuletzt zu stattfinden sollten. den Ergebnissen der jüngeren Landesgeschichtsforschung. Es Die Ständeversammlungen vor der Torgauer Periode waren wird mit Recht betont, dass Mitglieder der Landstände gleich - stets an verschiedene Orte einberufen worden. Das steht unver - sam entscheidende Positionen in der Landesverwaltung ein - kennbar auch im Zusammenhang mit der mittelalterlichen Form nahmen und auch die Korporation als Ganzes gerade im sächsi - der Herrschaftsausübung im Land. Aber auch noch in einer Zeit, schen Finanzwesen eine zentrale Rolle spielte. Die Landtage in der sich nun dauerhafte Hauptresidenzen der sächsischen selbst werden jedoch mehrheitlich nur als Vermittlungsforum Herrscher herausbildeten – der ersten Hälfte des 16. Jahrhun - fürstlicher Politik angesehen. Sie waren de facto aber auch tat - derts – hielt man noch erstaunlich lange an diesem Prinzip fest. sächlicher Verhandlungsort. Es sei nur exemplarisch angeführt, Ein Umbruch erfolgte erst mit der Etablierung des Landtagsor - dass es etwa den Landständen im Jahr 1570 gelungen war, als tes Torgau ab der Mitte des 16. Jahrhunderts. Und wie ich bereits Bedingung für die Staatsschuldenübernahme die kursächsische betont habe, sollten die kursächsischen Ständeversammlungen Steuerverwaltung an sich zu ziehen. Auch die Bedeutung der nur noch einmal ihren Veranstaltungsort wechseln. Einschrän - ständischen Gravamina für das realpolitische Landesgeschäft kend sei aber betont, dass dies für die kleineren ständischen blieb bis in die jüngste Zeit nur wenig beachtet. Ein Grund für Versammlungen wie Räte- und Deputationstage nicht aus - diese Verzerrung des Bildes mag darin liegen, dass lange Zeit in schließlich gilt. Ihr vergleichsweise geringer organisatorischer erster Linie die landesherrlichen Regierungsperioden als Be - Auf wand erlaubte ein flexibleres zugs größen für die Betrachtung der Ständeversammlungsge - Zusammentreten am jeweiligen kurfürstlichen Aufenthaltsort schichte herangezogen wurden. oder aber nahe dem Verhandlungsgegenstand. Damit fiel be - Die bewusste Fokussierung der Torgauer Landtage kenn - reits in Andeutung das Stichwort zur wohl wichtigsten Theorie, zeichnet bereits meine Absicht, die kursächsischen Ständever - wie diese »Sesshaftwerdung« der kursächsischen Landtage – sammlungen vielmehr als eigenständiges Phänomen zu verste - wenn ich dies an dieser Stelle so formulieren darf – zu erklären hen. Denn allein schon die zeitlichen Stationen der Torgauer ist: die Organisation der Landtage als gesellschaftliche, wirt - Landtage zeigen, dass diese nicht oder nur bedingt mit den schaftliche und logistische Ereignisse. Regierungsperioden der betreffenden Kurfürsten in Einklang zu Die Stadt Torgau gehörte bis 1547 – bis zur Wittenberger Kapi - bringen sind. In seinem neunten Regierungsjahr hielt Kurfürst tulation, mit der der Schmalkaldische Krieg endete – zum Herr - Moritz 1550 den ersten albertinisch-sächsischen Landtag in Tor - schaftsgebiet der ernestinischen Kurfürsten von Sachsen. Eine gau ab. Aber auch schon unter seiner Herrschaft hatten Stände - landesherrliche Burg zur Sicherung der wichtigen Elbefurt und versammlungen an anderen Orten stattgefunden. Schließlich der daran anschließenden Fernhandelsstraßen bestand in Tor - beginnt nach letztem vorübergehendem Ortswechsel 1555 eine gau bereits seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert. Im Spätmit - Reihe von 16 vergleichsweise regelmäßigen Landtagen, die aus - telalter gehörte das nunmehrige Schloss dann auch zu den nahmslos in Torgau stattfanden. Zählt man die Ausschuss- und bevorzugten Aufenthaltsorten sächsischer Fürsten. Wiederholt Deputationstage hinzu, die als weitere Form der Ständever - findet sich in der Literatur auch, dass Torgau als kurfürstliche sammlungen in der gleichen Zeitspanne hier stattgefunden hat - Residenz unter Johann dem Beständigen und seinem Sohn und ten, verdoppelt sich diese Zahl. Erst 1631, im zwanzigsten Jahr Nachfolger Johann Friedrich dem Großmütigen zeitweise be - seiner Herrschaft, berief Kurfürst Johann Georg I. dann wieder deutender war als Weimar. Beredtes Zeugnis davon legen vor

| 30 | Vortrag von Jan Bergmann Ort bis heute die ambitionierten Bauprojekte der Zeit ab. Nen - Bevölkerung, deren Mitglieder als Amts- oder Kammergutsun - nen möchte ich das Kanzleigebäude, den imposanten Johann- tertanen direkt zu Diensten und Abgaben für den kur fürstlichen Friedrich-Bau des Schlosses Hartenfels sowie den wohl ersten Hof verpflichtet werden konnten. protestantischen Kirchenbau überhaupt – die 1544 errichtete Auch Torgau verfügte durch seine ernestinische Prägung über doppelemporige Schlosskapelle. ein solches Residenzumfeld. Schloss Hartenfels stand seiner - Ungefähr parallel zu den ernestinischen Unternehmungen in zeit, gemessen an Größe und Repräsentativität, wenigstens auf Torgau hatte der albertinische Herzog Georg der Bärtige be - Augenhöhe mit dem Dresdener Schloss. Die infrastrukturelle gonnen, Dresden als dauerhafte Hauptresidenz seines Hauses An bindung war aufgrund einer geografisch günstigeren Lage auszubauen. Sein Nachfolger, Herzog Moritz, unterstützte Jahre sogar etwas besser. Mit der Dübener, der Annaburger und der später im Schmalkaldischen Krieg trotz seiner lutherischen Kon - Dahlener Heide sowie dem Torgauer Stadtforst waren ausge - fession die kaiserlichen Truppen im Kampf gegen den protes - dehnte Jagdreviere und mit dem 1483 künstlich angelegten tantischen Schmalkaldischen Bund, der von seinem ernestinischen sogenannten Großen Teich sogar der seinerzeit größte sächsische Vetter angeführt wurde. Die Entscheidung fiel 1547 zu gunsten See zur Wasser- und Fischversorgung vorhanden. Die Region um des katholisch dominierten Reichsaufgebots Karls V. in der Torgau gehörte nicht zuletzt zu den ertragreicheren landwirt - Schlacht bei Mühlberg. Zu den wesentlichsten Ergebnissen der schaftlichen Produktionsgebieten Kursachsens. Damit nicht ge - Wittenberger Kapitulation gehörten neben der Übertragung der nug. Die Lieferungslisten der Hofhaltung während der Landtage sächsischen Kurwürde auch große Gebietsabtretungen im mit - zeichnen ein Bild vom Einzugsgebiet der Torgauer Residenzin - teldeutschen Raum von den Ernestinern an die Albertiner. Inner - frastruktur. Sichtbar wird dabei eine Abgrenzung zum vergleich - halb dieser Gebiete, die zusammen über die Hälfte des gesam - baren Residenzumfeld von Dresden. ten bisherigen ernestinischen Kurfürstentums ausgemacht Es scheint damit konsequent gewesen zu sein, dass die in hatten, lag auch die noch junge Residenzstadt Torgau. Dresden residierenden Kurfürsten für höfische Großereignisse Mit Dresden und Torgau standen den neuen sächsischen Kur - nun bevorzugt auf Torgau auswichen. Schon 1548 fand hier eine fürsten aus dem Haus der albertinischen Wettiner fortan gleich der prachtvollsten sächsischen Fürstenhochzeiten der begin - zwei voll ausgebaute Residenzen zur Verfügung. Beide standen nenden Frühen Neuzeit statt: die Eheschließung des späteren in der Frühen Neuzeit, gemessen an Repräsentativität, Ausstat - Kurfürsten August von Sachsen mit Anna von Dänemark. Die - tung und Strahlkraft, in der vordersten Reihe unter den reichs - sem mehrtägigen Fest folgten bis zum Beginn des 18. Jahrhun - fürstlichen deutschen Herrschaftssitzen. Zu einer funktionie - derts weitere Hochzeiten, Fürstentreffen, Hofjagden, Bärenhat - ren den Residenz gehörten aber nicht nur ein Schloss, eine zen, Karnevale, Bälle, Turniere und anderes mehr. Dies sollte in Hof kirche und ein Kanzleigebäude. Eine ausgeprägte wirt - erster Linie auch dazu dienen, die Kapazitäten der auf weitge - schaftliche Infrastruktur im nahen und auch weiteren Umfeld, hende Permanenz ausgelegten alltäglichen Dresdner Hofhal - wie sie etwa eine gewerbetreibende große Stadt bot, war nicht tung der kurfürstlichen Familie seltener durch zusätzliche Groß - minder entscheidend. Die wesentlichen Bestandteile eines sol - veranstaltungen über das Maß auszureizen. chen Systems aus residenziellen Umlandbeziehungen waren Anhand dieser Beobachtungen lassen sich Theorien formu - eine gute Straßen- und Wasserwegsanbindung, Kammergüter lieren, weshalb sich Torgau als ein erster dauerhafter Tagungs - als wirtschaftliche Vorposten, ausgedehnte Teichgebiete zur ort der kursächsischen Ständeversammlungen etablierte. Ein Fischproduktion und idealerweise natürlich auch gut erreichbare wesentlicher Auslöser für die beschriebene Entwicklung war Jagdreviere. Hinzu kam eine möglichst umfangreiche länd liche mutmaßlich die vorausgegangene allmähliche Lokalisierung

Vortrag von Jan Bergmann | 31 | der fürstlichen Hofhaltung und die fachliche und strukturelle Landtagsgebete, – das möchte ich an dieser Stelle betonen – die Formierung erweiterter Verwaltungsinstitutionen. Wenn ich externe zeitgenössische Bedeutungszuschreibung der Landta - dies im Zusammenhang mit dem Werden Torgaus zum dauer - ge parallel zur eigenen Geltungsbehauptung der Landstände. haften Landtagsort behaupte, muss ich aber selbstverständlich Ein eigenständiger landständischer Tagungsort konnte sich auch die Frage stellen, warum nicht gerade deshalb im fragli - also etablieren, da nun neben der eigentlichen Residenz eine chen Zeitraum zugleich Dresden Landtagsort wurde. Es bestand Stadt verfügbar geworden war, die den durch steigende Teilneh - aber in der der Tat nach 1547 in Torgau, abgesehen von der regu - merzahlen und längere Landtagsdauer gewachsenen Anforde - lären Amtsverwaltung, keine permanent ansässige Landesre - rungen an einen geeigneten Versammlungsort dauerhaft bzw. gierungsinstanz mehr. Für jeden Landtag mussten deshalb not - wiederholt gerecht werden konnte. Im Dresdner Hauptstaats - wendige Akten, Dokumente, Kanzleieinrichtungen und letztlich archiv sind umfangreiche, wenn auch nicht für alle Konvente natürlich auch das Personal per Schiff auf der Elbe von Dresden verfügbare Lieferungslisten, Korrespondenzen und Planungs - nach Torgau befördert werden. Aber genau diese Machbarkeit unterlagen zur Landtagsvorbereitung überliefert. Gerade die aufgrund vergleichsweise günstiger Transportwege und des Organisation und technisch-administrative Durchführung der vorhandenen lokalen Raumangebots – nämlich in den ehemali - frühneuzeitlichen sächsischen Ständeversammlungen ist aber gen Verwaltungsgebäuden – bedingte eine kontinuierliche Wie - bislang kaum erforscht. Dies ist das Feld, auf das ich mich mit derholbarkeit des bald eingeübten Translokationsvorgangs. meinem Dissertationsprojekt begeben habe. Dieses Verständnis Dies wird bestätigt durch das Quellenmaterial, das die jewei - von Landtagsgeschichte beschränkt sich nicht auf die eigentlichen ligen Landtagsvorbereitungsphasen hervorgebracht haben. Die inhaltlichen Verhandlungen, sondern schließt das organisatori - Organisation einer jeden allgemeinen Ständeversammlung er - sche, atmosphärische, wirtschaftliche und gesellschaftliche folgte lediglich in etwa ein bis maximal zwei Monaten. Allein Umfeld, das zu dem jeweiligen Ereignis Landtag in funktionaler gemessen an dem erheblichen Verpflegungs- und Beherber - Beziehung stand, inklusive seiner Kommunikationsmechanis - gungsaufwand stellt dies zweifelsohne eine beachtliche Verwal - men, mit ein. tungsleistung dar. Gegen Ende der fast achtzigjährigen Torgau - Die standortfesten und zeitlich klar eingegrenzten Torgauer er Landtagsgeschichte kalkulierten die Räte mit jeweils bis zu Landtage ermöglichen es mir, trotz der teilweise lückenhaften sechshundert Tagungsteilnehmern. Hinzu kommt noch eine Überlieferung der Einzelereignisse die situativen lokalen Struk - deutlich höher anzusetzende Anzahl an höfischen und land - turen herauszuarbeiten. Schließlich lag auch genau darin ein ständischen Dienern, Verwaltungspersonal, Facharbeitern, Rei - wesentlicher Vorteil für die zeitgenössischen Verantwortungs - sigen, amtsuntertänigen Arbeitskräften, Wachpersonal, Trans - träger. Der beibehaltene Tagungsort ermöglichte es den Organi - porteuren u. a. m. satoren, auf die Planungsunterlagen der vorausgegangenen Die gesellschaftliche Zentralortfunktion der Torgauer Landtag e Landtage zurückgreifen zu können. Hierin offenbaren sich die ermöglichte auch ihre Kombination mit anderen Veranstaltungen Möglichkeiten der inzwischen stark entwickelten allgemeinen – etwa mit einer allgemeinen Musterung. Dies war etwa 1588 Schriftlichkeit. Die umfassende administrative Verwaltungsdo - der Fall, als allein siebentausend Geharnischte und über zehn - kumentation sowie die landständische Traditionsbildung und tausend gepanzerte Pferde nach Torgau kamen. Diese Zahlen -pflege einerseits und die beschriebene Tagungsortsetablie - finden sich in der zeitgenössischen Stadtchronik des Torgauer rung andererseits begünstigten sich offenbar gegenseitig. Schulrektors Michael Böhme. Die städtische Geschichtsschrei - Daraus lässt sich die folgende These ableiten: Die mit den Tor - bung bezeugt, wie etwa auch erste Flugblätter oder landesweite gauer Landtagen einsetzende Kontinuität bzw. reduzierte Varia -

| 32 | Vortrag von Jan Bergmann bilität drückte sich nicht nur in der neuen Standorttreue, son - gen und -schemata erwachsen. Ich möchte dies exemplarisch dern etwa auch in der relativen zeitlichen Regelmäßigkeit der anhand der Speisung der Landstände während der Ständever - Ständeversammlungen deutlich aus. Dies muss maßgeblich zur sammlungen beschreiben. In erster Linie gehört dieser Aspekt Regulierung und Festigung der Verfahrensweisen und zum in den Kontext der alltäglichen Bedürfnisbefriedigung und erfor - anderen zur Ausbildung gefestigter Binnenstrukturen beigetra - dert als solcher nicht per se rituelle Handlungen oder Symbol - gen haben. Gerade ab der Mitte des 16. Jahrhundert kam es zu bezüge. Sie können aber eben auch als ihr Bestandteil oder einer maßgeblichen Umformungs- und Verfestigungsphase der Gerüst, mithin als ihr zentraler Gegenstand eingesetzt werden landständischen Corpora. Die Klöster bzw. ihre Abgesandten und damit gesellschaftlich-funktionale Aufgaben wahrnehmen, schieden aus. Die verbliebenen Prälaten, namentlich die Stifte, die über den natürlichen Zweck, nämlich die Nahrungsaufnahm e, Komtureien und Universitäten, verbanden sich allmählich mit hinausreichen. In einer frühneuzeitlichen, ständisch stratifizier - den Grafen und Herren zum Ersten Corpus. Bis dahin noch nicht ten Gesellschaft und den ihr zugrunde gelegten Ordnungssys - genau definierte Zugehörigkeiten einzelner Ständemitglieder temen dienen Symbole und Rituale dazu, ebendiese Struk turen wurden u. a. durch Berufung auf bzw. Behauptung von Tradition herzustellen, sichtbar zu machen und zu festigen, im Bedarfsfall und Herkommen dauerhaft entschieden und es pegelte sich aber auch um sie infrage zu stellen. Es handelt sich dabei also weitgehend auch die jeweilige Mitgliederzahl der einzelnen um kommunikative Prozesse, die sich eines jeweils ritualeige - Gremien und Consilia ein. Nicht zuletzt die in dieser Zeit im Gro - nen Kanons von allgemein als bindend anerkannten Handlungs - ßen und Ganzen abgeschlossene Kreisstruktur Kursachsens bil - sequenzen und Schaubildern bedienen. dete sich nun auch in der Besetzung der Ausschüsse ab. Diese Erkenntnis dient mir als Analyseinstrument für die Land - Die Bedingungen der Torgauer Landtage müssen diese Ent - tagsausspeisungen in Torgau. Diese fanden für alle Tagungs - wicklungen begünstigt haben, denn man wird auch davon aus - teilnehmer zu den Mittags- und Abendmahlzeiten im Schloss gehen müssen, dass die zuvor wechselnden Tagungsorte noch Hartenfels statt, das in erster Linie auch der Ort der eigentlichen bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts jeweils bestimmte Landtagsverhandlungen war. Die funktionalen Be standteile lokale und regionale Gruppen der Landstände wechselnd be- dieser Zeremonien waren in erster Linie räumliche Bezüge. vor- oder benachteiligen konnten und so eine Stabilisierung Durch den Sitzplatz des Tagungsteilnehmers während der Mahl - behinderten. zeiten wurde entweder seine ständische Stellung abgebildet Es dürfte also zusammengenommen kein Zufall sein, dass oder aber ihm eine besondere Position in der Binnenstruktur sich nur etwa eine Dekade nach Beginn der Torgauer Landtags - der Stände bzw. der gesellschaftlichen Hierarchie der Anwesen - periode erste Hinweise auf das Entstehen einer ersten Land - den zugewiesen. Dies spielte sich auf drei unterschiedlichen tagsordnung von der Art eines aus der Praxis abgeleiteten Leit - räumlichen Ebenen ab. Die Landstände unterschieden sich von fadens finden lassen. Dies scheint mir ein starker Hinweis auf den anderen zum Landtag anwesenden Personen – Teile des eine neuerdings stabilisierte Struktur der Landtage zu sein. Mit Hofpersonals ausgenommen – dadurch, dass sie im Haus des dieser Entwicklung erfuhren die verfahrenseigenen Rituale ihre Landesherrn, nämlich dem Schloss, und nicht in der Stadt oder weitgehende Festschreibung. Wenngleich für die Torgauer Land - an der eigens errichteten Rossküche – einer Art Feldküche für tage keine geschlossene Protokollüberlieferung vorhanden ist, das Gesinde und die Reisigen – speisten. Je nach Stand – ob lassen sich mithilfe der erhaltenen Quellen hier symbolisch- Städtegesandter, Ritterschaftsmitglied, Prälat, Graf oder Herr – kommunikative bzw. rituelle Strukturen und Handlungs seque zen nahm man sein Mahl innerhalb des Schlosses in unterschiedlichen freilegen, die aus ständegesellschaftlichen Ord nungs vor stel lun - Sälen ein. Die Städtevertreter aßen im weniger repräsentativen

Vortrag von Jan Bergmann | 33 | Alten Saal im Alten Saalflügel, die Ritterschaftsmitglieder in der der vertretenen Hierarchien beobachten. Ohne an dieser Stelle Großen Hofstube im Erdgeschoss des repräsentativen Johann- näher darauf eingehen zu können, möchte ich noch der Voll - Friedrich-Baus und die Prälaten, Grafen und Herren als vor - ständigkeit halber darauf hinweisen, dass auch durch Menge nehmstes Landtagscorpus ebendort in der oberen Tafelstube. und Qualität der servierten Speisen sowie durch den gesell - Herausgehobene Vertreter der Ritterschaft konnten außerdem schaftlichen Rang des Bedienungspersonals an den Tischen mit einem sichtbar erhöhten bzw. separierten Platz innerhalb der eine Hierarchisierung erfolgte. Großen Hofstube oder aber mit einem Platz an den Beitischen Fast am Ende der entwicklungsgeschichtlichen Phase der Tor - der Prälatenstube versehen werden. Bereits an den genannten gauer Landtage, stand auch das Ende der Landtagsausspei - Orten trat also die Hierarchisierungsfunktion der Landtags - sung. Die Verköstigung an den Tafeln des Landesherrn wurde essen sichtbar zutage. 1622 aus Kostengründen durch Auslösungen – oder moderner Am augenfälligsten wird jedoch die symbolisch-funktionale formuliert, durch Diäten – ersetzt. Diese Änderung markiert die Handlung der Platzzuweisung und Platzeinnahme in der soge - Zäsur, die die Landtage nun fast vollständig aus dem Kontext nannten Flaschenstube in dem großen elbseitigen Schlossturm des Fürstenhofes löste, da sich die Landstände nun in der bei den kurfürstlichen Gemächern. Dies war die Tafelstube des Tagungsstadt selbst versorgen mussten. Hier können – dies ein Landesherrn, seiner Familie und seiner Gäste. Es galt als kleiner Ausblick – wohl auch die Gründe für eine gesellschaft - herausragende Ehrzuweisung an einen Landtagsteilnehmer, liche Erweiterung der Landtage durch die mitreisenden Famili - wenn dieser an die kurfürstliche Tafel gerufen wurde. Daher enangehörigen der Landtagsteilnehmer ab der folgenden Dresd - wechselten auch bei jeder Mahlzeit die Gäste, die zweifellos zu ner Periode gesucht werden. den wichtigsten Landständen zu zählen sind. Auf zwei Arten Die Torgauer Landtage stellen eine wesentliche entwicklungs - funktionierte diese zeremonielle Hierarchisierung. Zum einen geschichtliche Etappe innerhalb der sächsischen Ständever - war es entscheidend, welchen Platz man im Verhältnis zum Sitz - sammlungsgeschichte dar. Sie schließen als lange Ära der platz des Landesherrn an der Tafel selbst einnahm. Dieser saß Ausformung und Stabilisierung an eine sehr mobile, varianten - an der Stirnseite und an den Längsseiten reihten sich seine Gäste . reiche Frühphase der Landtagsgeschichte an und weichen Je näher man dem Fürsten war, desto höher stand man im Anse - schließlich selbst einer Entwicklung, die die sächsischen Stän - hen – so die bekannte Faustformel. Ein weiteres Distinktions - deversammlungen weitgehend aus dem Kontext des Kurfürs - mittel stellte die Abfolge der Landtagstafeln dar. Quellen des tenhofes löste. In der betreffenden Zeit stellen sie einen wichti - Oberhofmarschallamtes belegen, dass anlässlich des jeweils gen gesellschaftlichen Zentralort neben anderen dar, mit denen ersten Mahls während eines Landtags auch die vornehmsten sie jedoch personell verschränkt waren. Solche waren etwa Tagungsteilnehmer am Tisch des Landesherrn speisten. Für die auch der kurfürstliche Hof, Erbhuldigungen oder die behördli - folgenden Essen lässt sich dann ein kontinuierliches Absinken che Landesverwaltung.

| 34 | Vortrag von Jan Bergmann Gravamina. Ständische Beschwerdeschriften und die Genese des frühneuzeitlichen Staates Vortrag von Dr. Silke Marburg

Sehr verehrte Herren und Damen, betrachtet man Landtage, wie dies bereits eingangs des Work - shops vorgeschlagen worden ist, im Sinne eines institutionen - theorischen Ansatzes, dann lassen sie sich als Ordnungsarran - gements ansprechen, die ihre Geltungsansprüche symbolisch zum Ausdruck bringen. Im Zuge solcher Selbstsymbolisierungen wird die Institution hergestellt und vermittelt ihren Geltungsan - spruch. Sie behauptet dabei gleichzeitig eine eigene Dauerhaf - tigkeit. Die Tatsache, dass Landtage eigenständiges Schrifttum hervorgerbacht haben bzw. noch immer hervorbringen, ist da- her aus diesem Blickwinkel auch als Ausdruck ihrer institutio - nellen Eigengeltung anzusehen. Eigene Texte zu produzieren und zu übergeben ist zweifellos ein wichtiger institutioneller Mecha - nismus. Gleichermaßen Anspruch wie Aufgabe der frühneuzeitlichen Landtage bestanden darin, solche schriftlichen Äußerungen zustande zu bringen und den Versammelten auf diese Weise als Für die Textproduktion stattete man sich mit versiertem Perso - Sprachrohr zu dienen. Wenn solche Landtagsversammlungen nal aus. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die sog. mit Sicherheit niemals ohne ihre zeremoniellen Akte denkbar Landtagsschreiber zu Beginn eines Landtags vereidigt und die - waren, die von der Forschung in den vergangenen Jahren aus - ser Vorgang aktenmäßig dokumentiert. Abgebildet sehen Sie giebig beleuchtet worden sind, so waren sie zumindest ebenso hier das Emblem des Landtagsschreibers Johannes Nestvogel. wenig denkbar – nämlich überhaupt nicht mehr –, ohne dass in Seine Tätigkeit ist in verschiedenen Landtagsakten aus der Mit - ihrem Verlauf schriftliche Texte produziert worden wären. Auch te des 17. Jahrhunderts nachweisbar. Diese herausragend schö - diese Texte waren wiederum eingebunden in die zeremoniellen ne Ausführung seines Emblems stammt von 1646. Nestvogel Abläufe, etwa indem sie formell übergeben bzw. sogar verlesen stammte, wie die Inschrift wissen lässt, aus Saalburg bei Hof, wurden. einem heute zu Ebersdorf gehörigen Stadtteil. Er lebte bis 1666

Vortrag von Dr. Silke Marburg | 35 | und praktizierte hauptsächlich in Dresden. Im Emblem erkenne n Während Suppliken immediate Bittgesuche einzelner Untertanen Sie seinen Wahlspruch: »Iuste et caute«, zu Deutsch »Gerecht darstellten, wurden Gravamina beim Fürsten wie diese eben - und vorsichtig«. Die Gerechtigkeit wird durch einen Arm mit falls aus eigener Initiative vorgebracht, um Missstände anzuzei - einer Waage symbolisiert, die Vorsicht dagegen durch den ent - gen, deren Abstellung einzufordern und damit generell auf die gegengesetzt greifenden Arm mit Schlange und Spiegel. Wiederherstellung öffentlicher Ordnung hinzuwirken. Gravamina In sich abgeschlossene Aktenstücke stellten gültige Äußerun - gingen damit in ihrer Eigenständigkeit weit über eine Beratung gen der Stände bzw. ihrer Gremien dar. Sie erforderten Beachtung in dem Sinne hinaus, dass die Landtage gegenüber der fürstlichen und Behandlung beim Adressaten, dem Landesherrn. Daher Zentralverwaltung gutachterlich Stellung genommen hätten und kann den Landtagsakten mithilfe der für die Analyse von Äuße - damit über die von der Verwaltungsforschung bisher berücksich - rungsakten entwickelten Begrifflichkeiten ein durchgehend de - tigte Kommunikationslinie zwischen Landtagen und Verwaltung . klarativer Grundcharakter bescheinigt werden. Der Um fang des Über die Kommunikationsleistung von Gravamina hat die Landtagsschrifttums schwoll gerade im Verlauf des 17. Jahrhun - neuere Forschung bereits Vorstellungen entwickelt. So wurden derts enorm an. Im Zuge dieses quantitativen Anwachsens der Beschwerdeschriften etwa zu dem Repertoire von sogenannten Schriftlichkeit differenzierten sich bestimmte Textsorten aus, Widerstandshandlungen gezählt (Peter Blickle), die vor allem denen nunmehr eine klare Funktion im Geschäftsgang zugewie - dem städtischen Bürgertum im Zusammenhang von Bürger - sen war. Meine Forschung gilt den Gravamina, den sogenannten kampf und Zunftrevolution dazu dienten, politische Beteiligung »Beschwernissen«, »Beschwerungen« oder schlicht den »Be - und Freiheitsrechte zu erstreiten. In der ländlichen Gesellschaft schwerden« der Stände und damit zunächst einer dieser Text - wurden Gemeindeversammlungen oder Gemeindebriefe als sorten. Fortschritt in der Selbstorganisation der Bauern betrachtet. Gravamina sind eine bereits im Landtagsgeschehen des Auch in diesem Kontext kamen Beschwerdeschriften vor. Da - 16. Jahrhunderts wohlbekannte Erscheinung. Meine Untersu - rüber hinaus lag der empirische Schwerpunkt im Bereich der chung geht von der Perspektive der ersten Hälfte des 17. Jahr - Verwaltung. Dort sorgten Eingaben, Visitationen und Berichte hunderts aus und forscht der Entwicklung bis ins 18. Jahrhun dert für eine sogenannte »Triangulierung der Kommunikation« (Ste - hinein nach. Ziel ist es, das Potenzial der ständischen Be schwer - fan Brakensiek). Dadurch, dass Untertanen das Wort ergriffen, den auszuloten, die im Zuge des Sichbeschwerens zwischen den traten sie – ebenso wie die Verwaltung – mit der fürstlichen zentralstaatlichen Behörden einerseits und Landtagen anderer - Regierung in immediate Kommunikation. Dadurch ergab sich seits freigesetzt werden konnte. Der Untersuchungszeitraum der Triangel. Auch in diesem Entwurf ging es darum, den Ort von 1622 bis 1728 wird dabei zunächst als Periode der institutionel - partizipativen Elementen im Herrschaftssystem zu bestimmen. len Entfaltung der Stände aufgefasst. Mit dem Landtag des Jah - Mit den kursächsischen Ständen hingegen trat dem Fürsten res 1622 beendete Kurfürst Johann Georg I. die sogenannte Aus - und seiner Regierung allerdings kein einzelner Untertan gegen - speisung der Stände, d. h. die seitens des Hofes organisierte über, sondern ein veritabler Apparat, bestehend aus den drei Verköstigung. Dies war ein Indiz dafür, dass die Stände sich Kurien der Prälaten, Grafen und Herren, der Ritterschaft und der während der folgenden Dresdner Zeit stärker selbstständig Städte bzw. aus deren Konsilien. Wessen Interessen aber vertrat regulieren mussten. Bis ins 18. Jahrhundert hinein müssen hinter dieser Apparat? Bislang mangelt es an Einigkeit gerade in der dem Wandel des Landtagsgeschehens daher Strukturierungs - Frage, inwieweit die kursächsischen Stände primär die unmit - prozesse angenommen werden, die sich auch in neuen Norma - telbaren Eigeninteressen der anwesenden Landtagsteilnehmer tiven widerspiegelten, etwa in der Landtagsordnung 1728. vertreten hätten oder inwiefern sie sich für die Angelegenheiten

| 36 | Vortrag von Dr. Silke Marburg einer breiteren Untertanenschaft einsetzten. Denn einerseits 1. Rektoren sollen an den Universitäten für Ordnung sorgen wurde gezeigt, wie verwoben gerade die wirtschaftlichen Inte - 2. Zulassung in die Collegia nur für Universitätsmitglieder ressen der Ritterschaft mit denen der kurfürstlichen Seite ware n, 3. Reform der Landesschulen was ihnen die Aura des von vornherein Korrupten verlieh. Ande - 4. Abstellung von Sonderabgaben der Schüler an Lehrer rerseits gingen die Meinungen etwa über die Bedeutung der 5. keine Aufnahme von Schülern über 15 Jahren eingegebenen Gravamina auseinander. So wurde der Ritterscha ft in die Fürstenschulen grundsätzlich zwar bescheinigt, sie habe sich nicht ausschließ - 6. Holzerwerb der Städte von den Holzflößern lich in »Egoismen« erschöpft (Wieland Held). Der Befund, dass 7. Straßenverbesserung es sich bei den angebrachten Monita aber häufig um eine Menge 8. Schutz der städtischen Braugerechtigkeit Kleinkram aus mehr oder weniger entlegenen Ecken des Landes 9. Probleme mit Bierbrauen und -schank in Meißen und handelte, ließ die Vermittlerrolle der kursächsischen Stände bis , Marienberg jetzt offenbar weder besonders interessant noch besonders 10. mangelnde Straßensicherheit (Raub) wertvoll erscheinen (Georg Wagner). 11. Wildschaden: vermehrte Jagd von Rot- und Schwarzwild Gerade diese Vielfalt zu untersuchen, kann jedoch die Rolle 12. Bestrafung unwahrer Bezichtigungen und Beleidigungen der Landtage in der Entwicklung des Staatsgefüges erhellen. Im von Prokuratoren Verlauf des 16., 17. und 18. Jahrhunderts griffen die staatlichen 13. Protonotarien der Hofgerichte sollen Berichte bei Regulierungen auch im Kurfürstentum Sachsen zunehmend in Stadtgerichten einfordern Kompetenzen der lokalen Herrschaftsträger hinein. Parallel zum 14. Verbot des Einmietens der Dienstboten in den Städten Zusammenspiel von fürstlicher Zentral- und Lokalverwaltung 15. Adlige sollen Untertanenkinder erst nach Dienstende etablierten die ständischen Gravamina eine Kommunikationsli - aus den Städten abfordern nie, die Rückmeldungen über die Tätigkeit der Lokalverwaltung 16. mangelhafte Münzqualität lieferte und auf diese Weise eine gewisse Kontrolle ermöglichte. 17. Mangel an kleiner Münze Lokale Einzelprobleme mit dem Nachdruck der versammelten 18. Vergütung für Bürger bei Soldateneinquartierung Stände an die fürstliche Regierung zu kommunizieren und die 19. Auswechslung des Schreckenbergers Abstellung dieser Missstände fallbezogen einzufordern, stellt 20. Landbettelei eine eigene Transmissionsleistung der Stände dar. Verfahren 21. Exportverbot für Lebensmittel hierfür etablierten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts. 22. Exportverbot für Häute Um diese Entwicklung plastisch zu machen, seien zwei zeit - 23. Auslösung für die Scharfrichter in Herzberg und lich auseinanderliegende Momentaufnahmen aus dem Grava - Weida (Ämter) minalwesen der kursächsischen Stände miteinander konfron - 24. Münzstädte leiden angesichts der Teuerung unter tiert. Der frühe Schnappschuss stammt aus dem Jahr 1622. In dem Kaufverhalten der Münzer jenem Jahr wurden zwei eigenständige Gravaminalschriften 25. Exportverbot für Eisen erstellt, zum einen die »General Grauamina, so von der Ritter - 26. Minderung der Defensionsabgaben der Städte schafft in genere zu erinnern« und die »Generalia Grauamina 27. Verbot enger Fischzeuge Der Städtte«. Die Ritterschaft brachte 23 Beschwerdepunkte 28. Verfolgung der Störer auf dem Land vor und die Städte 28 Punkte. Diese Punkte möchte ich Ihnen sehr kurz zusammengefasst präsentieren.

Vortrag von Dr. Silke Marburg | 37 | Prüft man das Dokument hinsichtlich der Frage, zu wessen 14. Reform der Fürstenschulen Gunsten die Städte ihre Beschwerden beim Kurfürsten einreich - 15. Zahlung von Ablösegeld und Sold ten, so zeigt sich, dass genau der Hälfte der aufgeführten Punk - 16. Zuziehung von drei Deputierten der allgemeinen Ritter - te genuin städtische Interessen darstellte. Die andere Hälfte der schaft zur Sichtung der Gravamina, zusätzlich zu den Beschwerden zielte nicht ausschließlich auf die Probleme der drei Deputierten des Weiteren und drei des Engeren Städte ab. Lediglich zwei Gravamina, Nr. 9 und 23, wiesen auf Ausschusses Missstände in konkreten Kommunen hin, nämlich in Meißen, 17. Beeinträchtigung der Kollatoren-Rechte durch Konsistorien Freiberg und Marienberg sowie in Herzberg und Weida. Leipzig, Wittenberg Worüber hingegen beschwerte sich die Ritterschaft? Diese 18. Wildschäden: Bitte um üblichen Gebrauch der Hoch- und Frage beantwortet die folgende Übersicht wiederum in kompri - Niederjagden mierter Form. 19. neue Anforderung des Aufreitens an Amts- und Schriftsassen abstellen 1. Berufung von je zwei adligen Landräte pro Kreis zur Recht - 20. Vermeidung von Inquisitionsprozessen gegen Adlige sprechung in Städten und Ämtern 21. Der Kurfürst soll keine Adelsgüter an sich bringen 2. Münze 22. Verfolgung angeschossenen Wildes 3. Amtsmissbrauch bei den Amtsschössern (Landräte) 23. Bitte um Erlaubnis für den Adel, auswärtige Dienste zu 4. Verzögerung der Rechtssachen bei den Schöppenstühlen, übernehmen v. a. in Leipzig 5. mangelnder Fleiß bei gütlichen Handlungen im Fragt man wiederum nach den hier aufgeführten genuin ritter - Oberhofgericht schaftlichen Interessen, so sind zwölf der 23 Punkte einschlägig . 6. Exportverbot für Eisen Dieses Bild ist also etwa mit der Gravaminalschrift der Städte 7. Bitte um Reitende und Fußknechte gegen Straßenraub, vergleichbar. Beschwernisse hinsichtlich der Landtagsorganisa - Maßnahmen gegen Bürgersöhne tion waren seitens der Städte jedoch gar nicht vorgebracht worde n. 8. Ausbietung des Vorkaufs von Lehngütern abstellen Hier schrieb sich die Ritterschaft ganz offenbar eine Sonder - 9. Lehngüter nur an Altadlige verlehnen kompetenz zu, was aus ihrer Position als weitaus mächtigste 10. Bitte um Publikation der alten und neuen Privilegien Landtagskurie plausibel ist. Aus diesem Grund müssen diese sowie der Reverse Punkte aber ebenfalls als im mittelbaren Eigeninteresse der Rit - 11. Ersuchen um richtige Steuerrechnung terschaft stehend angesehen werden. Leicht erkennbar ist auch , 12. Regelmäßige Einberufung der Landtage (alle 3 –4 Jahren) dass eine Reihe von Gravamina von beiden Korpora vorgetragen und reguläre Auslösung wurde. Das betraf die Landesschulen, die Münzfragen und die 13. forderte die Ritterschaft, »das hinfuhro uf künfftige Landt - Sicherheit auf den Straßen. Andererseits enthielt jede der bei - tage den Alten Herkommen nach, die Landtschafft zu Hoffe den Schriften Punkte, die als entgegengesetzte Interessen von geprißet werden möge, damit einer oder Ander, der Städten einerseits und Ritterschaft andererseits vorgebracht Außlösungehalber, sich zu beschweren, Undt seine wurden. Der landesherrlichen Regierung blieb es überlassen, die - erscheinung zu difficultiren nicht Veranlaßet werde«. se Interessen gegeneinander abzuwägen. Allerdings macht dies Es ging also darum, die gerade abgeschaffte Ausspeisung auch klar, dass aus den beiden Schriften trotz einiger gemein - der Landtagsteilnehmer wiederzuerlangen. samer Punkte keine gemeinsame Schrift werden konnte. Von

| 38 | Vortrag von Dr. Silke Marburg einer besonderen Expertise der Ritterschaft in Fragen der Be- Rechtsprechung zugunsten ihrer Standesgenossen zu beein - schwerde (Ulf Molzahn) lässt sich wohl nicht sprechen. Beide flussen. Von einer umständlichen Behandlung der Beschwerde Korpora agierten durchaus ähnlich. konnte aber insgesamt nicht die Rede sein. Von den vielen vor - Seit Kursachsen Mitte des 16. Jahrhunderts in Kreise geglie - gebrachten Anliegen beantwortete der Kurfürst der Ritterschaft dert worden war, hatte sich neben dieser mittleren Verwaltungs - vier Problempunkte in geistlichen, Justiz- und Kammersachen, instanz auch eine in ebenfalls kreisbezogene Kreiseinteilung dann reagierte er noch einmal separat auf sieben Punkte in Uni - der Substruktur bei den Ständen etabliert. Diese sogenannten versitäten-, Kirchen- und Schulsachen und ein drittes Mal be- Kreisstände bestanden aus zwei Korpora, der Ritterschaft und züglich des Oberhofgerichts. Die kurfürstlichen Antworten rich - den Städten. In der Kreiskasse liefen die zur Überweisung an die teten sich an die gesamte Landschaft, d. h. Ritterschaft und Steuerhauptkasse eingenommenen Steuern zusammen. Funk - Städte erhielten gemeinsame Schriften, die die Beantwortung tionen wie die ständischen Wahlen und eine Reihe anderer der Beschwerdepunkte unabhängig davon zusammenfasste, Kreisangelegenheiten, u. a. militärische, waren hier angesiedelt. welcher der beiden Gravaminalschriften sie entnommen wor - Bei den Kreisständen wurden aber auch die Gravamina zusam - den waren. mengestellt. Diese institutionalisierte Kanalisierung von Einzel - Die weitere Entwicklung bis ins 18. Jahrhundert war vor allem beschwerden betonte den repräsentativen Charakter der Stände . dadurch gekennzeichnet, dass sich aus den hier gezeigten Kom - Denn die Schrift zeigte prinzipiell an, dass aus allen Kreisen munikationsprozessen um die Beschwerden ein permanenter Beschwerden eingezogen worden waren. Diese kreisbezogenen Beschwerdeprozess etablierte. Er war primär gekennzeichnet Auflistungen stellten eine Errungenschaft des 17. Jahrhunderts durch eine deutliche Vermehrung der Anliegen. Diese Fülle dar. Es handelte sich um ein Tableau, d. h. um ein Beschwerde - steht, das sei angemerkt, einem ähnlichen Überblick auf eine register der Korporation. Selbst dann, wenn aus einem Kreis nur solche spätere Gravaminalschrift praktisch entgegen. Bereits wenige oder sogar überhaupt keine Gravamina eingegangen im ausgehenden 17. Jahrhundert, wurde an den Beschwerde - waren, bildete das abgeschlossene Papier die Gesamtheit der schriften über die gesamte Laufzeit eines Landtages gearbeitet. möglichen Beschwerdeführer ab. Gravamina wurden dann am Ende eines Landtages übergeben Dem Kurfürsten wurden die Gravamina in der Regel verlesen. und in der Folgezeit in eigens dafür eingerichteten Ausschüssen Bei den späteren, weit umfangreicheren Schriften sprechen die beraten. Überdies blieben permanent Beschwerden unbeant - Quellen dagegen nur noch von einer Übergabe der Schrift. Eine wortet. Verlesung wäre auch kaum noch praktikabel gewesen. Auf die Um die Gravamina als unerledigt offen zu halten und so den Verlesung der Gravamina hin nahm der Fürst im Jahr 1622 Rück - Anspruch der Landtage auf Beantwortung zu bekräftigen, er- sprache mit den Spitzen der beteiligten Justiz und Verwaltungs - neuerten die Stände die Gravamina in der Folge. Dies und die instanzen. Zum Schluss gab er die Entscheidung per Resolution gleichzeitige Eingabe neuer Punkte führte gegen Ende des bekannt. Immer wieder legen die Formulierungen dieser Reso - 17. Jahrhunderts zu einer Anhäufung von Gravamina, sozusagen lution offen, dass sie die Entgegnung der zu Rate gezogenen zu einem Beschwerdestau. Amtsträger auf die Beschwerden einfach weitergab. In der Frage Die Beschwerdeschriften wurden in ihrer Textstruktur stan - der Inquisitionsprozesse gegen Adlige wurde sogar dahinge - dardisiert, zu Beginn des 18. Jahrhunderts wiesen diese schließ - hend formuliert, dass die Juristen eine Beschwerde abwiesen, lich Kongruenzen mit der Struktur der kompetenten Behörden indem sie in geradezu saloppem Ton schlicht auf ihre Kompe - auf. Sie waren also verwaltungsgerecht aufbereitet. Einzelfälle tenz pochten. Damit scheiterte der Versuch der Ritterschaft, die der Verwaltung wurden in einer eigenständigen Schrift gesam -

Vortrag von Dr. Silke Marburg | 39 | melt, den sogenannten Intercessionales, die parallel zu den und dadurch staatliche Regulierung eingefordert. Damit sei ein Bedenken in den Gravamina geäußert wurden. Die Gravamina interaktiver Prozess in Gang gesetzt worden, die als empowe - wurden in Ausschüssen behandelt, in denen Vertreter des Ge- ring interactions bezeichnet wurden. Das letztliche Resultat die - heimen Rates und der Stände vertreten waren. Im Rahmen ses Prozesses, der primär auf Beantwortung von Beschwerden eines solchen Ausschusses ging es nicht mehr um die schlichte und Eingaben gerichtet war, ist vor allem in einer Verflechtung Abgabe der Schriften, sondern es wurde unter den Ausschuss - staatlicher Instanzen zu sehen. Für die Frühe Neuzeit habe man mitgliedern deliberiert. Auf der für die Erledigung zuständigen von einer Vielzahl von Machtbeziehungen innerhalb einer societas Empfängerseite, im Geheimen Rat, etablierte sich eine gutach - civilis cum imperio auszugehen. An diese Idee der nachfrageba - terliche Kommunikation. Häufig wurden Stellungnahmen einge - sierten Staatsbildung anknüpfend, waren es im Kurfürstentum holt und kamen auch zum Vortrag. Sachsen die Stände, die eine solche Nachfrage erfolgreich insti - Abschließend sei auf eine Forschungsdebatte um die These tutionalisierten. Die regulierte Anbindung der ständischen Be - der sogenannten Staatsbildung von unten (André Holenstein) schwerden und ihre bürokratische Behandlung stärkten aber zurückgegriffen. In dem Bestreben, Staat nicht mehr als Pro - auch aufseiten der Stände einen Instanzenbetrieb mit quasi dukt des Handelns von Herrschern, Dynastien und Amtsträgern behördlichem Charakter. So trieb Beschwerdekommunikation zu sehen, wird eine Nachfragesituation rekonstruiert: Stände, nicht nur Staatsbildungsprozesse voran, sondern sie beein - Korporationen, Gemeinden, Gemeinschaften sowie auch der flusste auch die Ausprägung der Institution der Landtage. einzelne Untertan hätten auf Probleme aufmerksam gemacht Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!

| 40 | Vortrag von Dr. Silke Marburg Herausbildung von Weltanschauungsparteien. Konservative im sächsischen Zweikammerparlament (1833–1848) Vortrag von Andreas Hoffmann

Sehr geehrte Damen und Herren, das deutsche Parteiwesen entstand im 19. Jahrhundert aus den Parlamenten heraus. Darin ist sich die Parteienforschung weit - gehend einig. Sie können dies nachlesen bei Politikwissen - schaftlern, hier in Dresden bei Werner Patzelt, bei Juristen wie dem ehemaligen Verfassungsrichter Dieter Grimm und bei His - torikern wie Manfred Botzenhardt oder Hans Peter Becht. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass Wahlen und Mehr - heitsentscheidungen Abgeordnete dazu anreizten, sich zusam - menzuschließen, um handlungsfähige Gruppen zu bilden. Die ersten organisatorischen Zusammenschlüsse fanden sich dem - nach unter gleichgesinnten Abgeordneten, die dem Liberalis - mus zuzurechnen waren. Die Konservativen hingegen gelten als Nachzügler. Meine bisherigen Untersuchungen zum sächsischen Landtag in der Zeit von 1833 bis 1848 haben ergeben, dass auch die Kon - servativen nicht erst in der März-Revolution von 1848 begannen, sozialer Gruppen zu überwinden waren und Strukturen erst auf - eigene Strukturen auszubilden. Ferner zeigt sich, dass die gebaut werden mussten, konnten die Abgeordneten der Ersten Herausbildung einer konservativen Gruppe nicht in der Zweiten Kammer auf das bestehende Netzwerk des sächsischen Adels Kammer ihren Ausgang nahm. Gerade hier fanden aber die zurückgreifen. Bevor ich auf diese These weiter eingehe, lassen schärfsten Auseinandersetzungen statt. Gerade hier waren Wah - Sie mich etwas zur Stellung des vormärzlichen sächsischen le n zu gewinnen und Mehrheiten zu organisieren. Vielmehr be gann Landtags im Machtgefüge, zu seiner Zusammensetzung und der Prozess in Sachsen in der Ersten Kammer des Landtags. seiner Bedeutung als gesellschaftlichem Zentralort sagen. Die - Als eine Ursache hierfür sehe ich die größere soziale Homo - se Ausgangsbedingungen sind mitentscheidend für das funk - genität der Kammer, die mehrheitlich aus adligen Rittergutsbe - tionale Verständnis des Landtags sowie für die Herausbildung sitzern bestand. Im Gegensatz zur Zweiten Kammer, wo Grenzen weltanschaulicher Lager im Parlament.

Vortrag von Andreas Hoffmann | 41 | Das Königreich Sachsen war Teil der sogenannten zweiten Welle richtete. In einem Artikel der in Augsburg erschienenen Allge - der deutschen Verfassungsgebung. Als Reaktion auf die Revo - meinen Zeitung vom 6. Juni 1840 wurde über einen Ausschuss - lutionsbewegungen des Jahres 1830 wurde im September 1831 bericht der Ersten Kammer des Sächsischen Landtags berichtet. eine für deutsche Staaten typische, monarchische Konstitution Curt Robert Freiherr von Welck hatte diesen zur Hannoverschen erlassen. Sie orientierte sich an den Vorbildern der süddeut - Verfassungsfrage verfasst. Über die inneren Angelegenheiten schen Staaten und an den rechtlichen Rahmenbestimmungen, anderer deutscher Staaten zu berichten war unter den Voraus - die durch den Deutschen Bund vorgegeben waren. Für Sachsen setzungen der Zensur besonders heikel. Die Gesandten der be- bedeuteten die Regelungen der neuen Verfassung, dass der troffenen Länder protestierten regelmäßig bei den zuständigen gesamte Staatsaufbau, die Regierung, die Verwaltung und auch Regierungen über unliebsame Presseberichterstattung und die der Landtag grundlegend neu strukturiert wurden. Handhabung der Zensur. Artikel über »auswärtige Angelegen - Die rechtliche Stellung des Landtags war gegenüber der Re - heiten« bargen immer die Gefahr, einen diplomatischen Konflikt gierung eher schwach, wie es kennzeichnend war für den mo nar - zu erzeugen. Indem aber eine öffentliche Landtagsrede oder – chischen Konstitutionalismus. Obwohl die Bestimmungen zum wie hier – ein Bericht zitiert wurde, griff die Zensur nicht mehr. Parlament den meisten Raum im Verfassungstext einnahmen Je nachdem, welche Rede man auswählte, beispielsweise die und eine zentrale Stellung suggerieren, spiegelte dies nicht die eines als liberal bekannten Landtagsmitglieds, konnte man so realen Einflussmöglichkeiten wider. Der Landtag stellte viel - weltanschauliche Ansichten verbreiten. Das Zweikammerparla - mehr nur einen Teil der Legislative dar. Der Monarch war nach ment entwickelte sich auf diesem Weg zu einem Sprachrohr der wie vor der Souverän und beeinflusste auch die Verfahren im Gesellschaft und der verschiedenen politischen Strömungen. Parlament. Er und seine Minister entschieden, wann ein Land - Der sächsische Landtag untergliederte sich in zwei gleichbe - tag einberufen oder aufgelöst wurde. Sie konnten die Tagesord - rechtigte Kammern. Die Zweite Kammer setzte sich aus vier völ - nung mitbestimmen, mussten jederzeit gehört werden und lig neu geschaffenen Besitzgruppen zusammen. Um sich für die konnten Gesetzesentwürfe aus den laufenden Verhandlungen Zweite Kammer zu qualifizieren, waren neben Voraussetzungen zurückziehen. Jedoch war das Parlament nicht völlig machtlos. wie Geschlecht, Mindestalter, Konfession, Besitz und Zensus Es konnte mittels Petitionen Gesetzesvorlagen erbitten – und erstmals auch Wahlen vorgesehen. Im Gegensatz zur älteren wohl das wichtigste: Die Abgeordneten konnten frei und öffent - Ständeversammlung traten vor allem hier askriptive Elemente lich sprechen, ohne dafür im Nachhinein rechtlich belangt zu zurück. Abstammung oder bestimmte Ämter verloren an Bedeu - werden. In einem Umfeld, das durch Zensur und Verbote ge - tung. Der Zweiten Kammer stand mit der Ersten Kammer eine kennzeichnet war, erwuchs dem Landtag damit die Rolle eines Art Oberhaus gegenüber. In der Ersten Kammer saßen neben Ventils, eines Kommunikationskanals vorbei an administrativer gewählten Besitzern der wohlhabendsten Rittergüter des Lan - Kontrolle. Die öffentlichen Sitzungen der Kammern und die Be - des auch die Prinzen, kirchliche Institutionen, Bürgermeister, richterstattung darüber ermöglichten es, die Restriktionen der Besitzer von Standesherrschaften und die Leipziger Universität. Presse zu umgehen. Dadurch war dem Landtag die Möglichkeit Hier waren also noch Vorrausetzungen zu erfüllen, die nicht gegeben, die Minister und das Handeln der Verwaltung öffent - zwingend mit den Aufgaben eines Abgeordneten verbunden lich zu kritisieren, mithin eine nicht zu unterschätzende Form waren. Aber auch für diese Kammer änderten sich die Rechts - der Regierungskontrolle. grundlagen, indem allein Besitz oder bestimmte Ämter und nicht Der Landtag war ein gesellschaftlicher Zentralort, auf den sich mehr Abstammung für die Teilnahme am Landtag qualifizierten. die Aufmerksamkeit der politisch interessierten Öffentlichkeit Die bestehenden Wahlrechtsbeschränkungen sorgten dafür,

| 42 | Vortrag von Andreas Hoffmann dass nur wohlhabende, herausragende Personen wählen durf - um gemeinsame Ziele umzusetzen, wurden als sektiererische ten und gewählt werden konnten. Zwar war der Besitz von Rit - Bedrohungen für die Allgemeinheit aufgefasst. tergütern jedem möglich, der es sich leisten konnte, faktisch Der Begriff »Partei« wurde zeitgenössisch zwar politisch ver - waren die ertragreichsten Rittergüter im Land aber mehrheitlich wendet, war aber wenig spezifisch. Heute verstehen wir unter im Besitz von adligen Personen. Durch die Ausgestaltung der Parteien organisatorische Zusammenschlüsse, die dauerhaft Wahlordnung wurde also sichergestellt, dass die am Landtag bestehen, öffentlich agieren und bei Wahlen Kandidaten prä - beteiligten sozialen Gruppen die gleichen blieben und sich eine sentieren, die danach streben, die Ausübung von staatlicher hohe Personalkontinuität ergab. Macht und Herrschaft in ihrem Sinne zu gestalten. Derartige Ein Novum war, dass der Landtag gesetzmäßig die Gesamtheit Zusammenschlüsse gab es im Vormärz nicht. Schon das beste - der Staatsbürger vertrat. Obwohl er in seiner Zusammensetzung hende Verbot politischer Vereine stand dem entgegen. Es ist nach Besitzgruppen gegliedert war, waren die Abgeordneten daher korrekter von mehr oder weniger förmlichen Zusammen - dazu verpflichtet, ohne Rücksicht auf ihre Legitimationsgruppe schlüsse von Parlamentariern zu sprechen. oder Herkunft abzustimmen. Das bedeutete, dass sie nicht Wie »Partei« war auch »konservativ« bereits im Vormärz mehr für eine soziale Gruppe oder allein für ihre Wähler spra - meist als Kampfbegriff gebräuchlich. Was darunter zu verstehen chen, sondern für die gesamte Einwohnerschaft Verantwortung war, blieb unspezifisch und situationsabhängig. Problematisch trugen. An diesem Punkt wurden Veränderungen möglich. Denn ist, dass Liberalismus, Nationalismus, und Konservativismus anstellte einer formalen Gegenüberstellung nach den alten weder begrifflich noch organisatorisch verfestigt waren. Im all - Ständen wurden nun andere, weltanschauliche Konfrontationen täglichen Geschäft des Landtags bildeten sich kaum trennscharfe denkbar. programmatische Richtungen heraus. Zwar wurden schon in Die Geschäftsordnung des Landtags sah keine Fraktionen vor den 1830er-Jahren einzelne Personen in der Presse als konser - und die Sitze wurden per Los vergeben. Im Jahr 1835 äußerte vativ oder liberal bezeichnet, jedoch agierten die meisten Parla - sich der Leipziger Rechtsprofessor Traugott Krug zur gelosten mentarier je nach Gegenstand unterschiedlich. Wer in der Frage Sitzordnung des sächsischen Landtages. Falls man diese ab - der Zensur eindeutig dem regierungstreuen Spektrum zugeord - schaffen wolle, so Krug: »Sei es dem Belieben des eines Einzel - net werden könnte, stand dann womöglich in der Eisenbahnfra - nen anheimgestellt […], sich zusammenzurotten und in Masse ge auf der Seite des sogenannten Fortschritts. Die Mehrheit der zu erscheinen […] mit den Männern seiner Partei, nicht bloß Parlamentarier äußerte sich zudem nur selten und entzog sich geistig, sondern auch körperlich zusammenzuhalten, also gleich - daher einer Zuordnung. sam wie ein Heer am Schlachttage in Reih' und Glied aufzutre - Die meisten Versuche, Konservatismus zu definieren, sei es ten.« Traugott Krug hatte selbst dem ersten konstitutionellen nach der Wortherkunft, bestimmten Einstellungen – etwa zur Landtag angehört und lehnte, wie die meisten seiner Zeitgenos - Regierung, Argumentationsmustern, Gesellschaftsbildern oder sen, Fraktionen und Parteiungen grundsätzlich ab. Mit der ge - auch psychologischen Kriterien, erwiesen sich für eine belast - losten Sitzordnung sollten Gruppenbildung nach sozialer Her - bare Verortung einzelner Abgeordneter oder von Gruppen als kunft unterbunden werden. Mit dieser symbolisch hergestellten unbrauchbar. Für alle Definitionen lassen sich mehrere Beispiele Egalität wurde dann aber auch eine sichtbare, politische Lager - aufzählen, die ihnen widersprechen. Nehmen wir als kleinsten bildung verhindert. Nach zeitgenössischem Verständnis waren gemeinsamen Nenner einer konservativen Grundhaltung ein Fraktionen und Parteien negative Begleiterscheinungen der prinzipielles »Bewahrenwollen« an. Dieses Kriterium findet sich Par lamente. Zusammenschlüsse einzelner Personen, gebildet, bei Axel Schildt, Rudolf Vierhaus oder zeitgenössisch bei Carl

Vortrag von Andreas Hoffmann | 43 | von Rotteck. Für die von diesen Autoren untersuchten Denk - Die konservativen Abgeordneten stellten in der Zweiten Kam - schriften und Programme einzelner Personen mag dieses Krite - mer die größte Einzelgruppe dar. Die Erste Kammer wurde sogar rium zutreffen. In der Untersuchung der Parlamentspraxis führt deutlich von der konservativen Gruppe dominiert. In der öffent - ein solch festes Kriterium jedoch zu Problemen. lichen Wahrnehmung galt vereinfacht die Gleichsetzung Erste In der eben erwähnten Frage der ersten Eisenbahn sprach sich Kammer = konservativ. Die politische Gegenüberstellung wur - der Abgeordnete der Stadt Zwickau Carl Ernst Richter gegen de daher oft auch auf eine Gegenüberstellung der Kammern deren Bau aus. Er plädierte für den Ausbau der Chausseen, der reduziert. Schaut man auf die soziale Herkunft, so fällt auf, dass Fernstraßen. Gleichzeitig plädierte Curt Robert Freiherr von die Mehrheit der als konservativ Bezeichneten in beiden Kammern Welck für die Bahn und für deren staatliche Unterstützung. Carl über Rittergutsbesitz verfügte und adliger Herkunft war. Dies ist Richter war 1833 Herausgeber der führenden oppositionellen aber kein absolutes Kriterium. Denn adlige Rittergutsbesitzer Zeitung in Sachsen, der »Biene«. Robert von Welck wiederum finden sich auch unter den Liberalen. Und auch nichtadlige Rit - wurde rückblickend als ein Führer der Konservativen bezeichnet. tergutsbesitzer und Bürgermeister wurden als konservativ Hier sprach sich also ein Liberaler für das Festhalten am »be - bezeichnet. So zählte Otto von Watzdorf zu den bekanntesten währten« Straßenbau und ein Konservativer für ein Symbol der sächsischen Liberalen und der Dresdner Bürgermeister Karl Veränderung, ja des wirtschaftlichen politischen Fortschritts Balthasar Hübler wurde den Konservativen zugerechnet. Die aus. Man könnte hier noch weiter ins Detail gehen, wenn es um Gleichsetzung von konservativ und adlig sowie liberal und bür - den Streckenverlauf geht, der sich nicht mehr am natürlichen, gerlich lässt sich nicht ohne Weiteres bestätigen. organischen Verlauf der alten Reichsstraßen orientierte, oder Erste Formen organisatorischer Zusammenschlüsse lassen wenn es um die Landenteignungen zum Streckenbau geht, die sich in der Ersten Kammer seit 1836 aus Tagebüchern beteiligter auch die Rittergüter betrafen. In dieser konkreten Frage konfli - Abgeordneter rekonstruieren. Im Vergleich mit der älteren Stän - gieren »Bewahrenwollen«, Regierungstreue, wirtschaftliche In - deversammlung nahm die Bedeutung des Landtags für die Ge- teressen und soziale Zuschreibungen. selligkeit insgesamt ab. Durch bessere Verkehrs- und Kommu - Einen Ausweg zu definieren, was als konservativ gilt, bieten nikationswege konnten Parlamentarier zwischenzeitlich nach zeitgenössische Einteilungen der Abgeordneten. Diese existie - Hause zurückkehren und ihre Familien waren nur noch während ren in Sachsen zwar nur für einen Landtag nahezu vollständig, der Ballsaison anwesend. Im Vormärz konkurrierte der Landtag zusammen mit Selbst- und Fremdzuschreibungen lassen sie sich hier bereits mit andern gesellschaftlichen Zentralorten. Mit jedoch mit einiger Vorsicht vor- und rückprojizieren. So wurde Theatern, Opern usw. verfügte die Residenz über mehrere andere der Landtag von 1845/46 von Bernhard Hirschk nach weltan - Angebote. Jedoch trafen sich die Landtagsmitglieder noch im - schaulichen Lagern geteilt. Hirschel war ein jüdischer Arzt aus mer außerhalb des Plenums zu Diners und Bällen. Für diese Zu - Dresden, der den Landtag als Zuschauer miterlebte. Er unter - sammenkünfte war die soziale Herkunft nach wie vor relevant. schied in Konservative, Liberale und das sogenannte Juste mileu . Nicht bei den offiziellen Landtagsdiners, aber bei den privaten Das Juste mileu war ein abwertend gebrauchter Begriff der sich Veranstaltungen der Abgeordneten oder in Clubs grenzte man gegen »Halbheiten« und Unbestimmtheit richtete. Ein Lager wur - sich untereinander ab. Der sächsische Adel, unabhängig von de gebildet, weil eine bestimmte Personengruppe nach Ansicht der Zugehörigkeit zum Parlament, traf sich während des Aufent - des Autors gewisse Überzeugungen teilte. Diese Einteilung macht halts in Dresden bevorzugt in der »Ressource« oder dem »Casino« . aber keine Aussage über den etwaigen inneren Zusammenhalt Diese Vereine hatten verschiedene Stufen der Mitgliedschaft der Gruppe. und dienten der Zerstreuung und Geselligkeit. Auch der schon

| 44 | Vortrag von Andreas Hoffmann erwähnte Freiherr Curt Robert von Welck besuchte seit der Stän - bestanden auch weiterhing als gesellige Orte und wurden von deversammlung von 1824 und regelmäßig die »Ressource« und den Parlamentariern frequentiert. Jedoch fand eine Ausdifferen - das »Casino«. zierung von Geselligkeit und politischen Zusammenkünften statt . Seit dem zweiten Landtag 1836/37 trafen sich die Abgeordneten Die Treffen wurden verstetigt und fanden nun regelmäßig vor der Ersten Kammer am Abend vor den Landtagseröffnungen, um den Sitzungen der Ersten Kammer statt. Die be kannten Teilneh - die Plätze in den Ausschüssen zu verteilen. Bei diesen ersten mer waren überwiegend adlig, verfügten über Rittergutsbesitz Treffen spielten weltanschauliche oder soziale Aspekte keine und waren als Konservative bekannt. Offenbar nahm man hier Rolle. Sie fanden meist in einer Privatwohnung statt. Ab 1845 eine andere Entwicklung als die Liberalen. Statt sich in Vereinen änderte sich dies. Jetzt bevorzugten die Parlamentarier das Hote l zu organisieren, die außerparlamentarisch ver suchten, über die de France und ab 1848 das Hotel Stadt Wien in der Dresdner öffentliche Meinung die Politik zu beeinflusse n und eine Basis Neustadt für ihre Zusammenkünfte. Die Ressource und das Casino zu schaffen, beschritt man einen anderen Weg. Die Konservati -

Vortrag von Andreas Hoffmann | 45 | ven fokussierten stärker auf die Arbeit im Landtag. Wie in Groß - Schranken, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Die Parla - britannien fanden sie sich eher deshalb in parlamentarischen mentarier verteilten die Zeitungen, lieferten anonym verfasste Clubs zusammen, um ihr Vorgehen in der Kammer abzustimmen , Artikel und gaben finanzielle Unterstützung. Die Regierung wie - und weniger aus dem Bestreben heraus, Anhänger um sich zu derum, die sich offen nicht selbst daran beteiligte, half, indem scharen. In dieser auf das Parlament bezogenen Form nahm sie Kontakte herstellte und bei der Zensur nachsichtig war. man in gewisser Weise auch die Clubs in Frankfurt vorweg. Eine Ursache dafür, dass es gerade in der Ersten Kammer zu Eine allgemein anerkannte Parteiführerschaft gab es unter einem organisatorischen Zusammenschluss unter den konser - den als konservativ geltenden Abgeordneten nicht. Gleichwohl vativen Abgeordneten kam, lag in deren größeren sozialen wurden bestimmte Personen oder Gruppen in der Presse als Homogenität. Hier bestand eine Nähe, die über eine interessen - Parteiführer wahrgenommen. Es handelt sich dabei um Perso - mäßige oder durch gemeinsame Ziele verbundene Gemein - nen , die zu den aktiveren Mitgliedern zu zählen sind und die sich schaft hinaus reichte. Man war ähnlich sozialisiert, besuchte die im Laufe ihrer Zugehörigkeit zum Landtag zunehmend profes - gleiche Universität und hatte ähnliche Karrieren im Staatsdienst sionalisierten. Sie kennzeichnet, dass sie nahezu immer min - durchlaufen. Zum Teil war man schon lange vor der Mitglied - destens einem der vier ständigen Ausschüssen des Landtags schaft im Landtag miteinander befreundet oder gar verwandt. angehörten. Die Mitglieder dieser Ausschüsse verfügten gegen - Dies verband nicht nur die Mitglieder der Ersten Kammer unter - über einfachen Parlamentariern durch ihre Beratungen über einander, sondern auch die Parlamentarier mit Angehörigen der einen Informationsvorsprung. An den Ausschusssitzungen nah - Administration und der Regierung. In gewisser Weise konnten men auch Beamte der Ministerien teil, wodurch die Ausschuss - die konservativen Mitglieder der Ersten Kammer im Vormärz mitglieder exklusives Hintergrundwissen und Einblicke die das Netzwerk des sächsischen Adels mitnutzen. Auch wenn bei Regierungstätigkeit erhielten. Diese Landtagsmitglieder wur - Weitem nicht alle seine Mitglieder konservativ waren, bot das den gegenüber den einfachen Parlamentariern zu den Experten Netz den Parlamentariern exklusive Kommunikationskanäle. im Plenum. Dies zeigt sich auch daran, dass sich häufiger an den Be günstigt wurde diese Nutzung durch die rechtliche Zu - Beratungen beteiligten als andere. sammensetzung des Landtags, die bestimmte Besitzgruppen Ebenjene Personen waren es auch, die 1845 auf Initiative der be günstigte. Erst im Verlauf der weiteren gesellschaftlichen Regierung begannen, konservative Zeitungen in Sachsen aufzu - Ausdifferenzierung und der zunehmenden öffentlichen Politi - bauen wie zum Beispiel die Sächsische Volkszeitung von 1845. sierung verlor das Adelsnetzwerk an Bedeutung. Im Jahr 1849, Anregt durch den Innenminister Paul von Falkenstein, nahmen infolge der Märzrevolution, gründeten auch die nun ehemaligen Mitglieder des Landtags und Redakteure Kontakt zueinander konservativen Abgeordneten der Ersten Kammer einen politi - auf. Hier kooperierten die adligen, rittergutsbesitzenden Abge - schen Verein, der theoretisch jedem offen stand. ordneten mit nicht adligen Redakteuren. Man überwand soziale Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

| 46 | Vortrag von Andreas Hoffmann Das sächsische konstitutionelle Zweikammerparlament im Kaiserreich. Zwischen Honoratioren- und Parteipolitik (1866–1918) Vortrag von Christoph Wehmann

Sehr geehrte Damen und Herren, in meinem Dissertationsvorhaben untersuche ich die sächsi - schen Landtage zwischen 1866 und 1918. Das konstitutionelle Königreich Sachsen war zu dieser Zeit ein Gliedstaat im Deut - schen Kaiserreich. Bisher fokussierte die Forschung in diesem Zeitabschnitt die Auseinandersetzungen um das sächsische Wahlrecht und die Entwicklung der Parteien. Um diese Perspek - tive zu erweitern, untersuche ich die parlamentarischen Partizi - pations- und Kontrollrechte des sächsischen Landtages. Dieser Ansatz trägt zu einem differenzierten Einblick in die parlamen - tarische Arbeitsweise bei. In meinem Vortrag werde ich zunächst den Landtag in seiner Funktion als einen gesellschaftlichen Zentralort charakterisie - ren. Dabei erläutere ich seine verfassungsrechtliche Stellung und seine parlamentarischen Partizipationsrechte. Die Sächsi - sche Wahlrechtsgeschichte und ihre Bedeutung für den Zentral - ort umreiße ich kurz, um deren Leerstellen zu verdeutlichen und Der Landtag hatte weiterhin die Funktion eines Kommunikati - den Ansatz des Dissertationsvorhabens herauszustellen. onskanals. Er empfing Petitionen und Beschwerden aus der Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Stellung und seiner Bevölkerung und brachte deren Themen ins Plenum, zu Proto - parlamentarischen Rechte war der sächsische Landtag ein ge - koll und an die Regierung – also auf die politische Agenda. Die sellschaftlicher Zentralort. Verfassungsrechtlich wirksam war der bisherige Untersuchung von Petitionen und Beschwerden Landtag in der Gesetzgebung; ohne seine Zustimmung konnten belegt das. Die kontinuierlichen Eingaben in Folge der sächsi - keine Gesetze erlassen werden. Eine zentrale Position nahm er schen Reformgesetze der 1870er-Jahre dienen als Beispiele. daher bei der Budget- und Steuerbewilligung sowie der Annah - Den Landtag beschäftigten im Zuge der Steuerreformen von me von Staatsanleihen ein. Die Zustimmung des Parlaments zu 1876 bis 1894 Eingaben über die Einkommens-, die Erbschafts- einem Finanzetat war notwendig, ohne sie konnten auch keine und die Grundsteuer. Auch Klagen über die Gewerbesteuer, Ver - Staatsanleihen gültig gemacht werden. brauchssteuern und Zölle waren häufig. Die Besteuerung von

Vortrag von Christoph Wehmann | 47 | Vereinen sowie die steuerliche Heranziehen zu Gemeindeanla - gen und Schulen waren weitere Gründe für Beschwerden. Infol - ge der sächsischen Verwaltungsreform von 1873 kam es eben - falls zu Nachbesserungen, weil bis 1886 Eingaben von Städten und Gemeinden die Kammern beschäftigten. Sie betrafen die Anwendung der Paragrafen des Gesetzes und die Organisation der Amts- und Bezirksgerichte. Gleiches gilt für die Volksschul - reform von 1873. Acht weitere Landtage mussten über den Aus - bau von Schulen, Seminaren zur Lehrerausbildung und das Fort - bildungsschulwesen beraten. Petitionen initiierten auch die Gesetzgebung. Das belegt ein Beispiel rechtlicher Normierung im Fleischerhandwerk. 1898 wurde eine allgemeine Schlachtvieh- und Fleischbeschau eingeführt, weil Vereine und gewerbliche Verbände seit Mitte der 1870er-Jahre regelmäßig eine verbes - serte Qualitätssicherung von sächsischem und importiertem Fleisch gefordert hatten. Circa die Hälfte der Petitionen und Beschwerden waren perso - nalisiert. Es waren Eingaben von Privatpersonen mit der Bitte um Rechtshilfe bei juristischen Konflikten mit Personen oder Behörden. Individuelle Gesuche auf finanzielle Entschädigun - gen oder Unterstützungen sowie um Gehalts- und Pensionsver - besserungen waren ebenso häufig. Die andere Hälfte zielte auf die Abänderung von bestehenden Gesetzen. Sie kamen meist von Städten und Gemeinden, Vereinen und Körperschaften des öffentlichen Rechts und betroffenen Privatpersonen. Wirtschaftspolitische und fiskalische Themen wurden im Untersuchungszeitraum nicht langsamer als in der Gegenwart bearbeitet. Themen gesellschaftspolitischer Brisanz, bei denen die weltanschaulichen Differenzen der politischen Lager deut - lich zutage traten, polarisierten im Landtag des Kaiserreiches Seit 1857 hatten die Abgeordneten das Recht zur Interpellation. die Abgeordneten ebenso wie in der Gegenwart. In den Proto - Es ermöglichte die direkte Konfrontation mit der Regierung im kollen der Petitionsdeputation findet sich neben den Konflikten Plenum. Das Initiativrecht der Regierung in der Gesetzgebung um das Wahlrecht zur Zweiten Kammer nur ein einziges weiteres wurde 1849 faktisch abgeschafft. Seit 1874 durften die Kammern Thema, das ebenso polarisierte. Seit 1878 gingen regelmäßig ihre Geschäftsordnungen selbstständig gestalten. Die Zweite Petitionen gegen die Einschränkungen öffentlicher Tanzveran - Kammer erhöhte seitdem allmählich die Anzahl und Mitglieder staltungen auf dem Land und in kleinen Städten durch das Tanz - der Deputationen. Bis zum Kriegsausbruch waren fast alle regulativ ein. Änderungsanträge wurden immer niedergestimmt . Abgeordneten in der Zweiten Kammer in den fünf Arbeitsaus -

| 48 | Vortrag von Christoph Wehmann schüssen beschäftigt. 1868 waren es nur circa die Hälfte gewe - Die Zeit nach der Jahrhundertwende kennzeichneten außerpar - sen. Das weist auf die Intensivierung und Professionalisierung lamentarische Wahlrechtskämpfe und lange Auseinanderset - der parlamentarischen Arbeit im Untersuchungszeitraum hin. zungen über neue Wahlgesetzentwürfe im Landtag. 1909 er setzte Als gesellschaftlicher Zentralort wurde der Landtag durch die das Pluralwahlrecht das Dreiklassenwahlrecht. Es verband leis - Veränderungen der Wahlrechts- und Verfassungsreform von tungsorientierte und askriptive Kriterien. Einkommen, Besitz, 1868 gestärkt. Die Erste Kammer bestand weiterhin aus Hono - Vorbildung und Alter wurden miteinander kombiniert, um das ratioren, die nicht parteipolitisch gebunden waren. In der Zwei - Gewicht des einzelnen Wählervotums zu bestimmen. Zur regulä - ten Kammer wurden dagegen erstmalig Fraktionen und Parteien ren Stimme konnte ein Wähler drei weitere Stimmen er langen. zugelassen. Sie setzte sich nicht mehr nach Besitzgruppen zu - Einmal aufgrund von Besitz und Vermögen, also durch die Höhe sammen, sondern aus Vertretern ländlicher und städtischer und Besteuerung des Einkommens oder des Grundbesitzes. Der Wahlbezirke des Landes. Durch das neue Zensuswahlrecht wur - Besuch von sechs Klassen einer höheren oder mittleren Schule den die Partizipationschancen der Bevölkerung erweitert. brachte eine weitere Stimme ein. Wer das 50. Lebensjahr voll - Neben Grundbesitz ermöglichte nun auch die Steuerleistung endet hatte erhielt eine sogenannte Altersstimme. Das Plural - zur aktiven und passiven Wahlberechtigung. Die Zweite Kamme r wahlrecht führte zu einer Verschiebung der parlamenta rischen öffnete sich der parteifraktionalen Abbildung einer komplexer Kräfteverhältnisse. Die Sozialdemokratie stellte mit 25 Abge - werdenden Gesellschaft. Sie wurde zum Forum der Auseinan - ordneten die drittstärkste Fraktion im Landtag. Nach dem Plural - dersetzung zwischen den politischen Parteien, die konkurrie - wahlrecht wurde jedoch nur 1909 gewählt. Während des Ersten rende weltanschauliche Konzepte für die Gesamtgesellschaft Weltkrieges verlängerte der Landtag sein Mandat und es gab vertraten. Die Landtage wurden damit bedeutender für die poli - keine Neuwahlen bis zur Konstituierung der Sächsischen Volks - tisch-institutionelle Abbildung der Gesellschaft, als das vorher kammer. der Fall der war. 1877 war erstmalig ein Sozialdemokrat Mitglied Gegenüber den Rekrutierungsmodi für die Zweite Kammer der Zweiten Kammer. des sächsischen Parlaments veränderte sich dessen politisches Das Eindringen der Sozialdemokratie in den sächsischen Personal im Untersuchungszeitraum nur langsam. Die Abgeord - Landtag und das Umfeld der Sozialistengesetze führte zur poli - neten rekrutierten sich aus Ritterguts- und Gutsbesitzern, aus tischen Polarisierung, Lagerbildung und zum Kampf um parla - Fabrikanten, Kaufleuten und Handel- und Gewerbetreibenden. mentarische Hegemonie. 1896 wurde das Dreiklassenwahlrecht Weiter aus Staats- und Kommunalbeamten und schließlich aus eingeführt: Es war die Reaktion der Regierung und der Parla - Freien Berufen. Dazu zählten Juristen, Redakteure, Schriftsteller mentsmehrheit darauf, dass immer mehr Arbeiter den Zensus und Pädagogen. Die Abgeordneten waren eher an der Spitze erbringen konnten. Dadurch war die sozialdemokratische Frak - und in der oberen Mitte der Gesellschaft zu finden. Durch die tion bis zum Landtag 1895/96 auf 15 Abgeordnete angewachsen . parteifraktionale Vertretung in der Zweiten Kammer waren ihre Quantitativ erweiterte das Dreiklassenwahlrecht den Rezipien - ge sellschaftliche Reputation und ihr Selbstverständnis aber dif - tenkreis politischer Partizipation. Die unterschiedliche Ge wich - ferenzierter geworden. An den Sitzungen nahmen sowohl Füh - tung der Stimmen nach Einkommensklassen marginalisierte rungspersonen der Wirtschaft Teil als auch solche der Arbeiter - allerdings die sozialdemokratische Wählerschaft in der nied - schaft. rigsten Wählerklasse. Dadurch schieden ihre Vertreter bis 1901 Die neuen repräsentativen Strukturen im Landtag wurden vollständig aus dem Landtag aus; erst 1905 war wieder ein Sozial - allerdings von der fortgesetzten Geltungsbehauptung des Land - demokrat Abgeordneter der Zweiten Kammer. tags begrenzt. Sie beruhte seit vorkonstitutioneller Zeit auf einer

Vortrag von Christoph Wehmann | 49 | hierarchischen Gesellschaftsordnung mit besitzrechtlicher Pri - gen und besonders das außerordentliche Budget zu prüfen. vilegierung. Dieses Prinzip wurde erst 1868 um das Leistungs - Nahezu alle Positionen der sächsischen Staatsausgaben wur - kriterium der Steuer erweitert. Einem allgemeinen Männerwahl - den öffentlich gemacht und verhandelt. recht erteilte man seit dem Vormärz immer wieder eine Absage: Das ordentliche Budget war gegliedert in Einnahme- und Die Abkehr von besitzrechtlichen und leistungsbezogenen Kri - Ausgabenbudget. Die Einnahmen führten die Positionen der terien als Grundlage zur aktiven und passiven politischen Parti - Staats anstalten sowie Steuern und Zölle. Das Ausgabenbudget zipation der Bevölkerung entsprach nicht der tradierten Vorstel - folgte in seiner Struktur den sächsischen Staatsministerien lung politischer Teilhabe. Daher blieb das Verständnis der und deren Zuständigkeitsbereichen. Zu den regulären Ausga - Honoratiorenpolitik vorherrschend. Abgeordneter zu sein blieb ben zählten die finanziellen Aufwendungen für das königliche im gesellschaftlichen Verständnis ein Ehrenrecht. Und man Haus wie auch die Verwaltung der Staatsschulden, zu leistende musste es sich finanziell leisten können. Abfindungszahlungen in Rechtsstreitigkeiten sowie Jahresren - Die Abgeordneten der Zweiten Kammer traten aber immer ten und Landtagskosten. Sie wurden als »allgemeine Staatsbe - stärker als Stellvertreter von Wählerinteressen auf. Obwohl der dürfnisse« ge führt. Darauf folgten die Staatsbehörden: die Gedanke, für das Gemeinwohl des Landes und verantwortlich Ministerien des Inneren, der Justiz, der Finanzen, des Kultus und zu sein, dominant blieb, kommunizierten die Abgeordneten mit öffentlichen Unterrichts sowie jenes für Auswärtige Angelegen - Hilfe der Parteiapparate zunehmend auch politische Positionen heiten. und Prozesse in ihre Wählergruppe hinein. Neben dem ordentlichen Budget verhandelte man auch die Insgesamt hatte die Bedeutung des Landtags als eines gesell - Positionen des außerordentlichen Budgets ausgiebig im Ple - schaftlichen Zentralorts seit Beginn des Konstitutionalismus num, weil der Mehraufwand durch Steuermittel gedeckt wurde. 1831 zugenommen. Verfassungsrechtlich intensivierten das Ge - Zwischen 1868 und 1914 wurden neben Grundstückserwerbun - setzesinitiativ- und das Interpellationsrecht sowie die selbst - gen, öffentlichen und infrastrukturellen Baumaßnahmen vor ständige Geschäftsorganisation der Kammern die Bedeutung des allem der Ausbau des sächsischen Eisenbahnnetzes forciert und Parlaments und der Zweiten Kammer als politische Institution. debattiert. Insgesamt nahmen die Budgetverhandlungen auf Der Landtag war Kommunikationskanal und Repräsentations - den Landtagen in der Regel ungefähr ein Drittel bis die Hälfte raum. Die erste Kammer symbolisierte die Tradition politischer der Arbeitszeit beider Kammern ein. Ein Blick darauf ist vielver - Teilhabe aufgrund besitzrechtlicher Privilegien. Die Zweite Kam - sprechend, weil anhand einer Untersuchung der alltäglichen mer bildete die pluralisierte Gesellschaft ab, die Wählergruppen parlamentarischen Geschäftsführung die Verflechtung der säch - und nicht mehr Besitzgruppen repräsentierten. sischen Parlamentsgeschichte mit der Wahlrechts- und Partei - Gegenwärtig widme ich mich dem Budgetbewilligungsrecht geschichte gelöst werden kann. des Landtags. In den fiskalischen Landesangelegenheiten war Die Erzählung der sächsischen Parlamentsgeschichte im die Zustimmung des Landtags unumgänglich. Die Positionen Kaiserreich ist überwiegend Parteigeschichte. Dabei steht der des Staatshaushalts waren im Wesentlichen standardisiert und Konflikt zwischen der Sozialdemokratie und der Regierung verändern sich in der Zeit des Kaiserreiches kaum. Der Etat einer sowie den überwiegend konservativen Parlamentsmehrheiten Budgetperiode wurde zum großen Teil aus den Einnahmen der im Mittelpunkt der Betrachtung. Problematisch gestaltet es Staatsanstalten und dem Staatsvermögen bestritten. Alles was sich, wenn die Befunde und Schlussfolgerungen zur Parteige - darüber hinausging, wurde aus Steuern aufgebracht. Daher schichte auf das sächsische Parlament übertragen werden. Die hatte das Parlament das Recht, die Positionen der Budgetvorla - politische Polarisierung Sachsens kennzeichnet dann auch den

| 50 | Vortrag von Christoph Wehmann Landtag und seine Arbeitsweise. Sie wird zum allgemeinen Cha - tiert: Nach welcher Maßgabe wurden die Eisenbahnen über - rakteristikum sächsischer Politik erhoben und dem Königreich haupt gebaut? Wie wurde die Priorität der einzelnen Linien politische Stagnation bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Ent - ermittelt? wicklung zugeschrieben. Diese Perspektive hält sich hartnäckig Die Abgeordneten Erdmann Theodor Günther und Karl Friedric h in den Erzählungen über das Königreich Sachsen während des Ferdinand Uhle vertraten in dieser Debatte unterschiedliche Kaiserreiches und in der Einschätzung von dessen Parlamenta - Positionen und Strategien. Günther war Besitzer des Rittergutes rismus. Sie beruht zum einen auf einem modernen Verständnis Saalhausen bei Freital. Zwischen 1860 und 1889 war er ununter - von Parlamentarismus und überträgt dessen Funktionskatalog brochen Mitglied der Zweiten Kammer. Er galt als führendes Mit - auf den konstitutionellen Landtag. Zum anderen stützt sie sich glied der Konservativen im sächsischen Landtag. Uhle war von auf Untersuchungen, die sich der Wahlrechtsgeschichte und 1869 an 22 Jahre lang Mitglied der Zweiten Kammer. Er war deren Zäsuren widmet. Da keine anderen Studien zum Gesamt - Unternehmer der Textilbranche, Vorschussbankdirektor und zeitraum vorliegen, erhält diese Perspektive bisher normative Stadtrat in Glauchau sowie langjähriger Vorsitzender einer Koh - Bedeutung für die Erzählung der sächsischen Parlamentsge - lengewerkschaft. Er war Mitglied der nationalliberalen Partei. schichte. Beide Abgeordnete kritisierten generell den Verhandlungsgang Die Untersuchung des außerordentlichen Budgets zeigt aller - zu den Eisenbahnprojekten während der Landtage. 1883 beriet dings, dass diese Perspektive für das Verhalten der Abgeordne - man erneut über Vorlagen, die schon auf den vorangegangenen ten in den Debatten um den Eisenbahnbau nicht greift. In den Landtagen als »besonders dringlich« eingestuft worden waren. stenografischen Protokollen sind klare politische Fronten kaum Auf welchen Kriterien diese Dringlichkeit beruhte, war den nachweisbar. Stattdessen prägen die Verhandlungen die Auf - Abgeordneten nicht ersichtlich. Deshalb erläuterten beide ihren tritte einzelner Akteure oder Akteursgruppen. Diese vertraten Standpunkt zur Forcierung von Eisenbahnprojekten. nicht die Interessen von politischen Lagern, sondern argumen - Der Abgeordnete Uhle argumentierte aus einer volkswirt - tierten mit wirtschaftspolitischen und regionalen Interessen. schaftlichen Perspektive. Er kritisierte die Reihenfolge des Eisen - Unter den Abgeordneten herrschte in wirtschaftspolitischen bahnbaus in organisatorischer und parlamentarischer Hinsicht Fragen keineswegs dieselbe Einigkeit, mit der sie die Sozialde - und stellte ihnen ökonomische Kriterien voran. Waren die pro - mokratie und die Wahlrechtsbewegung ablehnten. Die Budget - jektierten und debattierten Strecken für den sächsischen Staat vorlagen wurden nicht durchgewinkt, wie in der Literatur oft zu von direktem finanziellem Vorteil wie beispielsweise der Aus - lesen ist. Für die Verhandlungen des Eisenbahnbaus stellt sich bau und die Vernetzung der Hauptstrecken? War der fiskalische die Frage, welche Akteure welche Ziele verfolgten und mit wel - Nutzen kalkulier- und absehbar, weil eine neue Sekundärbahn chen Strategien sie den Verhandlungsgang über die Eisenbahn einer Region zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen würde, auf den Landtagen im Untersuchungszeitraum zu beeinflussen indem sie sie mit dem Hauptstreckennetz verband? Oder ging suchten. Ein Beispiel aus meinen derzeitigen Untersuchungen es darum, einer Region überhaupt zu einem Anschluss an das zeigt, mit welchen argumentativen Strategien die Abgeordne - Eisenbahnverkehrsnetz zu verhelfen? Aus Uhle Sicht brachte ten um die Zustimmung für Eisenbahnprojekte konkurrierten. keiner der vorliegenden Streckenentwürfe dem Staat einen Wie zu jeder Sitzungsperiode lagen dem Landtag der Jahre direkten finanziellen Vorteil ein. Sie seien von verschiedenen 1883/84 neue Gesetzentwürfe für zu erbauende Eisenbahnstre - Interessengruppen motiviert, die um regionalen wirtschaftliche n cken vor. Neben den Detailverhandlungen über Kosten wurde – Aufschwung konkurrierten. Den vorgeschlagenen Strecken stell - nicht zum ersten Mal – auch über eine allgemeine Frage disku - te er den Ausbau und die Vernetzung der Eisenbahnstrecken im

Vortrag von Christoph Wehmann | 51 | Erzgebirge gegenüber. Das sei wirtschaftlich vernünftig, weil schließend mit der Feststellung, dass die Bevölkerung der Ge - diese Strecken jetzt schon zu den rentabelsten gehörten und ihr gend einen berechtigten Anspruch darauf habe. Ausbau die Industrie und den Kohleabsatz begünstigen würde. Günthers Strategie war demnach, durch wiederholte Petitionen, Aus diesem Grund sprach er sich auch eine andere Strecke aus. Anträge und parlamentarische Fürsprache ein Eisenbahnpro - Sie würde nur die Einfuhr böhmischer Kohle begünstigen und jekt für den eigenen Wahlkreis zu forcieren. Seine Argumentation zulasten der sächsischen Kohlereviere gehen. Nach Uhles Argu - war zum einen eng an seine Region gebunden. Zum anderen mentation sollte der Eisenbahnbau nach dem Kriterium ökono - erteilte er den verschiedenen Interessengruppen innerhalb sei - mischer Rentabilität balanciert werden. Kleinteilige Interessen nes Wahlkreises insofern eine Absage, als dass er sich nicht seien den finanziellen Vorteilen für den sächsischen Staat ten - konkret für eine Strecke positionierte. Das verdeutlicht sein denziell unterzuordnen. Dass seine Argumentation seiner eigenen konservatives Honoratiorenverständnis. Ob eine neue Strecke Region in und um Glauchau entgegenkam, kaschiert seine öko - in seinem Wahlkreis an dieser oder jener Gemeinde vorbeiführe, nomische Argumentation. war ihm nicht so wichtig wie die Tatsache, dass überhaupt eine Der Abgeordnete Günther monierte, wie schwierig es über - neue Strecke erschlossen wurde. haupt sei, als Abgeordneter Eisenbahnprojekte zu vertreten. Die Position der beiden Abgeordneten zeigt, wie verschieden Häufig konkurrierten mehrere Streckenentwürfe in einer Ge - die Argumentationsstrategien waren. Der Streckenbau hing vor gend miteinander. Die verschiedenen Interessengruppen erwar - allem von der Akteursleistung der Abgeordneten ab, die ein teten von ihrem Abgeordneten, ein Bahnprojekt zugunsten der Eisenbahnprojekt vertraten. Parteibindung spielte eine unter - eigenen Region im Parlament als das dringlichste im Land zu geordnete Rolle. Vielmehr ging es um die jeweiligen Wahlkreis - bewerben. Kam es nicht zustande, wurde das dem mangelnden interessen; um direkte und indirekte Vorteile für die eigene persönlichen Engagement des Abgeordneten angelastet. Diese Region. In den Verhandlungen wurden auch politische Perzep - Situation könne sehr strapaziös für einen Abgeordneten sein. tionen vermittelt. Uhles Argumentation kommuniziert liberale Das brachte Günther zustimmende »Heiterkeit« aus dem Ple - Politikvorstellungen, die sich stärker an ökonomischen Krite - num ein. Während die Wähler nämlich nur die Interessen ihrer rien orientierten als an einem identitären und emotionalen Poli - Gegend und Lebenswelt im Blick hätten, fühlte er sich als Abge - tikverständnis. Aus Günthers Position ist der Bezug zur eigenen ordneter auch dem Landeswohl verpflichtet. Deshalb wollte er Lebenswelt und gleichzeitig sein Gemeinwohlanspruch ersicht - sich nicht an der Auseinandersetzung um die Kriterien oder die lich. Das Beispiel zeigt auch, dass die Konfliktlinien beim Eisen - Reihenfolge des Eisenbahnbaus beteiligen. Er schlussfolgerte, bahnbau eher entlang der Zugehörigkeit zur ländlich-agrari - dass es am besten sei, wenn er lediglich passiv und kontinuier - schen oder zur städtisch-industriellen Lebenswelt verliefen als lich die Notwendigkeit des Streckenbaus für den eigenen Wahl - nach Parteizugehörigkeit. kreis in der Kammer betonte. Wortreich führte er aus, wie be - Daran, zwischen dringlichen und weniger wichtigen Projekten deutend die Vernetzung der Hauptstrecken zwischen Dresden zu unterscheiden, schieden sich die Geister. Jeder Abgeordnete und Leipzig für die Gegenden um Oschatz, Mügeln, Wermsdorf, vertrat als Eisenbahnagent sein Projekt und warb mit unter - Dahlen und Döbeln sei. Sie würde den Absatz landwirtschaftli - schiedlichen Argumenten um parlamentarische Unterstützung. cher Produkte in Richtung Döbeln, Chemnitz und Wurzen för - Es wurde wirtschaftlich und emotional begründet, wieso ein dern. Weil die Regierungsvorlagen den Streckenbau in der Region Eisenbahnprojekt Vorzug vor einem anderen haben sollte – sei - bereits auf seit 1879 in Aussicht gestellt hatten und sich bisher en es die geografischen Bedingungen, die für oder gegen ein die Kammern nicht hatten einigen können, beschied er sich ab - Projekt sprachen, die wirtschaftliche Rentabilität einer Strecke

| 52 | Vortrag von Christoph Wehmann und die Belebung der Wirtschaft, die wiederum das Steuerauf - Meine bisherigen Untersuchungen belegen, dass der Landtag kommen anhob, oder einfach der Anschluss von Gemeinden an und seine Abgeordneten im parlamentarischen Alltag keines - das Eisenbahnnetz, um sie überhaupt an der infrastrukturellen wegs blockierende Haltungen einnahmen. Die Nachbesserun - Modernisierung teilhaben zu lassen. gen infolge der Steuer-, Volksschul- und Verwaltungsreform Der Landtag erscheint in der Geschichte des Kaiserreiches aufgrund der Petitionen belegen diese These. Das Beispiel bisher meist nur als Fußnote und Erfüllungsgehilfe der sächsi - aus einer Grundsatzdebatte über die Reihenfolge des Eisen - schen Staatsregierung. Im Parlament wurde der Sozialdemo - bahnbaus hat gezeigt, dass besonders in diesem Bereich ein kratie das allgemeine Männerwahlrecht – das auf Reichstags - Verständnis weitgehender parteifraktionaler Geschlossenheit ebene Anwendung fand – verwehrt. Zu diesem Zweck bildeten nicht greift. Konservative und Liberale Wahlbündnisse, um die Sozialdemo - Die parlamentarische Partizipation in fiskalischen Angelegen - kratie aus dem Landtag zu halten. Diese Bündnisse endeten heiten war ein zentrales Recht des Landtags. In diesem Bereich erst nach der Jahrhundertwende. gilt es im Weiteren, gängige Thesen zu überprüfen. Wurde das Diese Perspektive der Wahlrechtsgeschichte wurde – wie ordentliche Budget im Untersuchungszeitraum tatsächlich nur schon erwähnt – bisher kaum infrage gestellt. Den Landtag als durchgewinkt? Welche Verhandlungsspielräume hatten die Par - politische Institution auf seine Partizipations- und Kontrollrechte lamentarier bei den Budgetfragen? Welche politischen Positio - hin zu untersuchen erscheint daher ertragreich zugunsten einer nen und Strategien lassen sich in den Budgetverhandlungen differenzierteren Beschreibung des sächsischen Parlamentaris - erkennen? Welche Handlungsspielräume hatten die Kammern mus im Kaiserreich. Den Landtag beschäftigten schließlich neben bei der Annahme von Staatsanleihen? dem Wahlrecht in dem halben Jahrhundert bis 1918 auch zahl - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich über reiche andere Dinge. Fragen und Anregungen

Vortrag von Christoph Wehmann | 53 | »Der Regierung in Ruhe und Sicherheit vertrauen« – Koalitionen und parlamentarische Kultur im sächsischen Landtag 1918–1933 Vortrag von Janosch Pastewka

Meine Damen und Herren, an die Wertschätzung, die der Landtag früher erfahren hatte. Renommee war durch die Mitgliedschaft im Landtag allein nicht die Novemberrevolution 1918 bedeutete einen tiefen Einschnitt mehr zu erlangen. Adel und Honoratioren ließen sich, bis auf für die Landtagsgeschichte. Sie hätte sogar ihr Ende bedeuten wenige Ausnahmen, nicht mehr in den Landtag wählen. Nur die können, denn es war zunächst umstritten, ob es nach dem Krieg Oberbürgermeister der Städte Dresden und Chemnitz, Bern - überhaupt einen neuen Landtag geben würde. Eine Minderheit hard Blüher und Johannes Hübschmann, besaßen außerhalb der Revolutionäre glaubte, dass die Vertretung des Volkes nun - ihres Wirkens im Landtag gesellschaftliche Bedeutung. Volks - mehr nach russischem Vorbild in Räten zu organisiere n sei. Ande - kammer und Landtag trafen sich aber weiterhin in diesem Ge- re Akteure sahen die Notwendigkeit von Einzelstaaten inner - bäude, im Saal der ehemaligen II. Kammer, der nun »Großer Sit - halb des Reiches nicht mehr gegeben und forderten eine zungssaal« genannt wurde. Auch die architektonischen und Abschaffung der Landtage. Dazu kam es aber nicht. Die Mehr - gestalterischen Elemente, die an die Monarchie erinnerten, heit der Sachsen war für die schnelle Wiedereinführung einer blieben an ihrem Platz. Der nüchtern-republikanische Landtag eigenen Volksvertretung. Kurz nach Weihnachten 1918 erließ war in gewissem Sinne Gast in einem fremden Haus. der provisorische Rat der Volksbeauftragten eine Verordnung Die zweite wesentliche Änderung betraf den Wechsel zur par - zur Wahl einer Volkskammer. Die »Volkskammer«, wie der Land - lamentarischen Regierungsform. Das heißt, die Regierung wurde tag in den ersten zwei Jahren genannt wurde, unterschied sich nicht mehr vom König eingesetzt, sondern vom Parlament ge - von ihren Vorgängern durch drei wesentliche Änderungen. wählt. Sie wurde von ihm kontrolliert und ihre Mitglieder muss - Erstens veränderte die Institution ihren Charakter durch den ten zurücktreten, wenn sie das Vertrauen des Parlaments verlo - Wegfall der Monarchie. Der letzte sächsische König war im No - ren. Damit gelangte der Landtag de jure in eine zentrale Stellung vember 1918 abgetreten. Er wurde auch nicht durch einen säch - im politischen System. Er wählte mit einfacher Mehrheit den sischen Staatspräsidenten ersetzt, obwohl Ministerpräsidenten und dieser setzte das Gesamtministerium diese Idee zunächst diskutiert wurde. Mit der Monarchie fielen ein. Als ein Zentralort der politischen Auseinandersetzungen im auch die Formen geselliger Zusammenkünfte weg, die den Land - Lande erhielt der Landtag damit noch größere Bedeutung. Aber tag zuvor mit charakterisiert hatten. Eine feierliche Proposition er stand auch in Konkurrenz zu zahlreichen anderen politischen oder höfische Landtagstafeln gab es fortan nicht mehr. Ledig - Schauplätzen im vorparlamentarischen Raum. Bereits vor dem lich die Tradition der Landtagsgottesdienste und der Blumen - Weltkrieg hatte sich ein Teil der politischen Auseinandersetzung schmuck zur Eröffnung eines neuen Landtages erinnerten noch auf die Straße verlagert. Erinnert sei an dieser Stelle an die De -

| 54 | Vortrag von Janosch Pastewka scheide durchzuführen. Es konnte sogar beantragen, einen Volks - entscheid über die Auflösung des Landtags durchzuführen. Zweimal wurde in Sachsen von diesem Recht gebrauch gemacht – beide Male allerdings erfolglos. Die Parlamentarisierung machte den Landtag also zum Ver tre - tungsorgan des Souveräns, aber er stand als politisches Fo rum in Konkurrenz zu den Organen der Reichspolitik, der Medien, der Landesregierung und der »Politik der Straße«. Hinzu kom - men die Parteien mit ihren Gremien. Damit bin ich beim dritten Einschnitt in die Landtagsgeschichte: die Erweiterung des Wahl - rechts und die damit einhergehende Veränderung des Parteien - systems. Seit 1919 waren alle Männer und Frauen ab dem 20. Lebens - jahr wahlberechtigt. Es gab keine finanziellen, sozialen oder sonstigen Voraussetzungen mehr, um das aktive oder passive Wahlrecht zur erhalten. Die Wahlrechtskämpfe, die die vorige Landtagsepoche geprägt hatten, hatten damit ein Ende gefun - monstrationen gegen die Wahlrechtsreformen sowie die Hun - den. Damit war eine zentrale Forderung der sächsischen Sozial - gerproteste während des Weltkriegs. In der Weimarer Republik demokratie erfüllt. Ihre Hoffnung aber, nunmehr auch eine sta - blieb die Straße – wenn auch in unterschiedlicher Intensität – bile Mehrheit im Landtag gewinnen zu können, erfüllte sich politisches Forum mit hohem Wirkungsgrad. nicht. Auch keine andere Partei war in Sachsen nur annähernd Quasi über dem Landtag und der Landesverfassung stand die in der Lage, allein regieren zu können. Im Gegenteil, die zum Teil Weimarer Reichsverfassung. Der Landtag hatte zahlreiche Kom - diametral auseinandergehenden Gemeinwohlvorstellungen in petenzen verloren. Reichsrecht brach Landesrecht, im Extremfall einer sich immer weiter ausdifferenzierenden Gesellschaft hat - bis zur Reichsexekution – so geschehen im Oktober 1923. Auch ten einen nachhaltigen Einfluss auf die Zusammensetzung des die Landesverwaltung, die noch lange mit Beamten besetzt war, Landtags. Die Diversifizierung des Parteiensystems und damit die im Königreich beruflich sozialisiert worden waren, konnte auch die Anzahl der Fraktionen im Landtag nahm kontinuierlich dem Landesparlament zum Konkurrenten werden. Die Zeitun - zu. In der Volkskammer saßen noch fünf Parteien: die Unabhän - gen beobachteten das Landtagsgeschehen sehr genau. Sach - gigen und die Mehrheitssozialdemokraten, die Deutsche Demo - sen verfügte über eine breite Zeitungslandschaft, in der alle kratische Partei (DDP), die Deutsche Volkspartei (DVP) und die politischen Richtungen vertreten waren. Eine Zensur fand nicht Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Im letzten Landtag, der mehr statt, und so konnten sich in den Zeitungen politische Dis - 1930 gewählt wurde, waren mehr als doppelt so viele, nämlich kurse entwickeln. Auch zahlreiche Abgeordnete nahmen daran elf Parteien vertreten. Gerade das rechte Parteispektrum zer - Teil und schrieben Gastbeiträge. splitterte zunehmend, sodass von einem auch nur ansatzweise Und schließlich traute man dem Landtag nicht die volle Sou - homogenen »bürgerlichen Lager« eigentlich nicht die Rede sein veränität zu. Das Wahlvolk hatte in der Verfassung das Recht kann. Mit der in Sachsen außergewöhnlich starken Wirtschafts - zugesprochen bekommen, Volksbegehren oder gar Volksent - partei, einer relativ starken Landvolkbewegung und der Rechts -

Vortrag von Janosch Pastewka | 55 | abspaltung der SPD, der ASPS, haben wir in Sachsen sogar einige Wert darauf legten, dass auch wirklich das ganze Volk – ein - Eigentümlichkeiten im Parteiensystem, die es zu beachten gilt. schließlich der ärmeren Schichten und der Frauen – repräsentier t Die Zentrumspartei war im traditionell protestantischen Sach - wurde. Im Interesse des »engeren Vaterlandes« zu ar beiten, sen beinahe bedeutungslos. Sie fiel als Koalitionspartner weg. den »demokratischen Willen des Volkes« zu verkörpern und vor Und die letzte Besonderheit: Bereits 1926 konnten die National - allem die Pflicht, das sächsische Volk aus tiefempfundener Not, sozialisten in Sachsen zwei Landtagssitze erringen. aus »schwerer Zeit« zu führen lässt sich so als Geltungsanspruch Die Fraktionierung im sächsischen Landtag war nahezu allum - des Landtages ausmachen. fassend. Sie wirkte sich nicht nur auf die Sitzordnung, die Rede - Doch dem Landtag hing wie dem Reichstag der Ruf an, nur eine ordnung, die Raumzuteilung usw. aus, auch die Sitzplätze im »Quasselbude« zu sein. Dieser Begriff findet sich bereits 1923 Speisesaal, in der Bibliothek und auf den Tribünen waren nach mehrfach in den Protokollen und er wurde im Laufe der Zeit durc h Parteien geordnet. Ohne die Unterstützung durch eine Partei einige kaum schmeichelhaftere Umschreibungen ergänzt. In den war ein Landtagsmandat nicht mehr zu erringen. So verstärkten bisher vorliegenden Überblickswerken zur sächsischen Landes - auch die sogenannten bürgerlichen Parteien ihre Bemühungen geschichte kommt der Landtag daher auch kaum vor – oder er um einen stärkeren Parteiapparat. wird gar nicht erst erwähnt. Dabei ist die Literaturlage zur Wei - Die Parteien nahmen dem Landtag damit auch einen Teil sei - marer Republik eigentlich sehr umfangreich, nahezu unüber - ner Zentralortsfunktion, denn vieles von dem, was politisch dis - sichtlich. Fast scheint es, als sei die sogenannte »Zwischen - kutiert wurde, wurde zunächst in Parteigremien und Veranstal - kriegszeit« bereits »ausgeforscht«. tungen, dann in den Fraktionen beraten und erstritten, bevor es Für den sächsischen Landtag gilt dieses Urteil aber definitiv den Landtag überhaupt erreichte. Und ähnlich wie heute war nicht. Bis heute gibt es keine umfassende Dokumentation die - vieles, was hier im Plenum verhandelt wurde, eigentlich bereits ses Parlaments. Viele Deutungen bleiben bis heute recht nah an entschieden. Denn in der Regel wurde die Fraktionsdisziplin im den überlieferten zeitgenössischen Darstellungen. Oder sie sächsischen Landtag stets gewahrt. In den Fraktionen selbst repetieren Erzählungen, die von der marxistischen Historiogra - gab es heftige Auseinandersetzungen, über die uns heute jedoch phie der 70er- und 80er-Jahre beeinflusst sind. Die Darstellun - leider weitgehend die Quellen fehlen. Es erweist sich zudem als gen bleiben bei einer schon damals postulierten umfassenden fahrlässig, Partei und Fraktion als Einheit zu sehen. Ich komme Dichotomie: Im ehemaligen so genannten »roten Königreich darauf noch einmal zurück. Sachsen« setzte sich die politische Lagerbildung fort. Dem »lin - Streng genommen war sogar der Geltungsanspruch des Land - ken Lager«, das, gestärkt nach der Revolution, zunächst die tags fraktioniert. Was »der Landtag« als Gesamtinstitution sein Macht übernahm, stand unversöhnlich ein »Bürgerblock« ent - wollte oder leisten konnte, ließ sich immer schwerer definieren. gegen. Das sogenannte »linksrepublikanische Projekt« (Karsten In der Regel fanden aber zum Beispiel die Ansprachen des Land - Rudolph) der in Sachsen traditionell links stehenden SPD schei - tagspräsidenten eine breite Zustimmung, in denen er den Sinn terte spätestens nach der Aufnahme der KPD in die Regierung und Zweck des Parlaments definierte und Apelle aussprach. und der folgenden Reichsexekution im Oktober 1923. Die Jahre Solche Ansprachen wurden allerdings von der kommunistische n, 1924 bis 1929 fehlen dann in den Überblickswerken zumeist ode r später meist auch von der nationalsozialistischen Fraktion ab - werden irreführend wiedergegeben. Zum Beispiel sind sowohl gelehnt. Der Landtag sah sich solchen Ansprachen gemäß mehr - die Behauptung, die SPD sei 1924 aus der Regierung ausge - heitlich als Vertreter der gesamten sächsischen Bevölkerung. schieden, als auch die Behauptung, sie hätte bis 1929 regiert, Wobei nun vor allem die sozialdemokratischen Volksvertreter falsch. Stattdessen wird dargestellt, wie der Landtag, so wie die

| 56 | Vortrag von Janosch Pastewka übrigen Parlamente der Weimarer Republik auch, von den lin - Koalition, also eine Koalition aus Sozialdemokraten sowie links- ken und rechten Extremen in die Zange genommen wurde, um und rechtsliberalen Parteien, war hingegen bis 1930 rechne - dann, wehr- und machtlos, von den Nationalsozialisten ausge - risch immer möglich. löscht zu werden. Ich zitiere exemplarisch aus einem aktuellen Ich beschäftige mich in meiner Arbeit daher gezielt mit jenen Überblickswerk der Bundeszentrale für politische Bildung: »Die Versuchen, in Sachsen trotz der Polarisierung und Fraktionie - hohen Stimmenanteile der politischen Linken standen im Kon - rung der Gesellschaft und des Landtages eine Koalition der Mitte text eines politischen Antagonismus zwischen rechts und links zu schmieden. Denn eine solche Koalition aus Sozialdemokraten in Sachsen, der während der gesamten Weimarer Zeit vor - und Demokraten hat es zwei Mal gegeben: 1919 bis 1920 und – herrschte. Ein ausgleichendes politisches Mittelfeld war kaum unter Einschluss der Volkspartei – 1924 bis 1926. 1930 waren existent.« Ich halte solche Aussagen mit Blick auf den Landtag die Konsultationen für eine weitere Koalition »von Böchel bis mindestens für bedenkenswert. Blüher« – benannt nach beiden Verhandlungsführern der SPD Die wenigen einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten zu und der DVP – bereits abgeschlossen, scheiterten dann jedoch Einzelaspekten der Landtagsgeschichte differenzieren dieses an Personalfragen und an der erschwerten politischen Situation Grobschema zwar und lassen das Gesamtbild etwas weniger auf Reichsebene mit Antritt des Reichskanzlers Brüning. Nach kontrastiert erscheinen, grundsätzlich hinterfragt wird das den Wahlen von 1930 – wir haben es gestern von Herrn Rößler Schema aber nicht. Der sächsische Landtag erscheint als Abbild bereits gehört – war dann eine solche Koalition auch rechne - der zerstrittenen Gesamtgesellschaft der so genannten »Zwi - risch nicht mehr möglich. Nun hätte auch die Wirtschaftspartei schenkriegszeit«. mit ins Boot geholt werden müssen, um eine stabile Mehrheit Nun will ich die heftigen politischen Auseinandersetzungen, gegen die Feinde der Demokratie aufzubieten. Die hier Aufge - die in der Weimarer Zeit im Landtag und außerhalb stattfanden, zeigten sind die drei Zeitschnitte, mit denen ich mich in meiner weder klein- noch wegreden. Aber ich plädiere dafür, die politi - Arbeit vertieft beschäftige. schen Alternativen im Landtag etwas genauer unter die Lupe zu Ich habe mich gefragt, welche Voraussetzungen eine solche nehmen. Anstatt also den Antagonismus als gegeben und Koalition der Mitte, also einer Koalition zwischen »Reaktion« unüberwindbar darzustellen, drehe ich den Spieß um und frage: und »Klassenherrschaft« wie es ein Plakat der sächsischen DDP Wenn denn die Voraussetzungen für den Landesparlamentaris - benennt, eigentlich hatte. Hier erwiesen sich die Ergebnisse der mus durch die politische Lage in der Weimarer Republik so Arbeit von Thomas Mergel zur parlamentarischen Kultur im divergent so schwierig waren, wie war es dann überhaupt mög - Reichstag als äußerst fruchtbar. Wie der Reichstag, so war auch lich, Koalitionen zu formen, die versuchten, diesen Antagonis - der sächsische Landtag ein Kommunikationsraum, in dem poli - mus der Weltanschauungen zu überwinden? tische Meinungen ausgetauscht wurden, in dem sie auch der Für eine Regierungsbildung war eine Mehrheit von 49 Sitzen Öffentlichkeit präsentiert wurden. Er war aber auch ein Raum, erforderlich. Zählt man die Sitze der jeweiligen Parteien zusam - in dem Kooperationschancen und Anschlussstellen signalisiert men, erkennt man, dass Regierungen ausschließlich bürgerlicher werden konnten. Er war zudem auch ein »Arkanum«, ein ge - Parteien nie, rein linke Regierungen ab 1920 nur unter Einschluss schützter Bereich, in dem vertraulich kommuniziert werden der Kommunisten möglich waren. Eine solche Koalition ist nur konnte. Ich denke sogar, dass die Institution Landtag wesent lich einmal versucht worden: Sie war Auslöser für die schon erwähnte war für die Bildung von vertrauensvoller Kooperation zwischen Reichsexekution gegen Sachsen, auf die ich an dieser Stelle Abgeordneten verschiedener Parteien und über die sogenann - aber nicht weiter eingehen kann. Eine sozialliberale große ten Lager hinweg. Vertrauen war nötig, um die be schriebene

Vortrag von Janosch Pastewka | 57 | Fraktionierung, die dem Geltungsanspruch des Landtags entge - ein gewisses Maß an Vertrauen auch eine parlamentarische genstand, zu überwinden. Regierungsbildung undenkbar ist. Erst recht dann, wenn dazu Was aber hat Vertrauen mit dem Landtag zu tun? Zunächst eine Koalition zu formen ist. einmal wurde Vertrauen schon in der Verfassung gefordert. Der Für meine drei Zeitschnitte analysiere ich also die Vertrauens - einschlägige Artikel 27 der sächsischen Verfassung lautete: »Die beziehungen der beteiligten Akteure. Natürlich ist die Bildung Mitglieder des Gesamtministeriums bedürfen zu ihrer Amtsfüh - von Vertrauen eine recht klandestine Angelegenheit. Aber sie rung des Vertrauens des Landtags.« Dieser Passus war, wie ich lässt sich doch auf mindestens zweierlei Arten nachweisen. Ers - zu Beginn ausgeführt habe, neben der Erweiterung des Wahl - tens musste Vertrauen auch öffentlich dargestellt werden. Die rechts und der Abschaffung der Monarchie, die entscheidende stenographischen Protokolle der Landtagsverhandlungen ge - Neuerung der Weimarer Republik. Ich beschränke mich in mei - ben diesbezüglich einige interessante Entwicklungen preis. ner Arbeit aber ausdrücklich nicht auf die rein staatsrechtliche Zweitens verrieten die Versuche der Opposition, zumeist der Bedeutung des Begriffes. Vielmehr nehme ich diese wichtige Kommunisten, oder auch Versuche eingeweihter Journalisten, Verfassungsnorm zum Ausgangspunkt einer Reflexion zum The - vertrauliche Gespräche aufzudecken, dass diese überhaupt ma Vertrauen und Parlamentarismus in der Weimarer Republik. geführt worden waren. Diese Informationen lassen sich dann Gerade für die Moderne postulieren zahlreiche Autoren eine mithilfe anderer Quellen abgleichen und auf Schlüsselwörter zunehmende Bedeutung von Vertrauen bei der Aufrechterhal - oder bestimmte semantische Figuren hin untersuchen. tung sozialer Beziehungen in einer immer komplexer werden - Als Beispiel dient das im Titel meines heutigen Vortrages den Welt. Es liegt nahe, gerade bei der Beschäftigung mit der ge nannte Zitat. Es stammt von dem DDP- Abgeordneten Dr. Weimarer Republik, die als Schlüsselepoche der klassischen Richard Seyfert. Er appellierte im Frühjahr 1924 an die Delegier - Moderne bezeichnet werden kann, diesen Gedanken aufzugrei - ten vor allem einer eigenen Partei und der Deutschen Volkspar - fen und weiter zu verfolgen, und die entsprechenden soziologi - tei, dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Max Heldt schen und politikwissenschaftlichen Ansätze für die historische und dem SPD Innenminister Max Müller zu vertrauen, dass sie Forschung zu nutzen. Der Begriff ist derart faszinierend, dass auch nach Aufhebung des Ausnahmezustandes, der im Herbst Ute Frevert Vertrauensfragen in einer jüngst erschienenen 1923 verhängt worden war, die Lage im Griff hätten. Monografie, die ihre langjährige Arbeit zu dem Thema zusam - Aber er ging noch weiter: Er wandte sich zunächst an die Sozial - menfasst, zu einer »Obsession der Moderne« erklärt hat. demokraten: »Auch die Arbeiterschaft […] sieht ein, dass unter Ich möchte an dieser Stelle nicht zu weit ausgreifen. Aber es der Regierung wie sie jetzt besteht, die die einseitige Parteiein - scheint mir wichtig zu betonen, dass Vertrauen eine Möglichkeit stellung beseitigt hat, viel besser ihre Freiheit und ihre politi - ist, die Komplexität zu reduzieren und damit handlungsfähig zu schen Rechte gewahrt sind als vorher. Das ist die Wahrheit.« bleiben. Niklas Luhmann hat einmal gesagt, »Ohne jegliches Und über die neue Große Koalition sagte er: »Wir glauben auch, Vertrauen aber könnte [der Mensch] morgens sein Bett nicht dass die Bevölkerung der neuen Regierung mehr und mehr Ver - verlassen.« Wer vertraut, glaubt oder hofft, dass jemand über trauen entgegenbringen kann.« Und weiter: »Wir hoffen, dass sein zukünftiges Handeln die Wahrheit sagt. Und handelt selbst unsere Regierung die Zusicherung, die sie gegeben hat wirklich danach. Er nimmt auch das Risiko in Kauf, enttäuscht zu wer - hält und halten kann […]«. den. Für den politischen Bereich hat zum Beispiel Gary Schaal Interessanter an diesem Beispiel sind die Worte und Bilder, auf das enge Verhältnis von Verfassung, Demokratie und Ver - die er nutzt: Wahrheit, Glaube, Hoffnung, Vertrauen. Und auch trauen hingewiesen. Und es ist wohl offensichtlich, dass ohne die Ziele, die er nennt: Freiheit, Recht und Ordnung. Hier wird

| 58 | Vortrag von Janosch Pastewka deutlich, wie Seyfert öffentlich versucht, Vertrauen für die SPD- Kompromisse zu tragen. Die Folge war eine Abspaltung der Minister zu generieren – bei der eigenen Partei, beim Koalitions - Fraktionen von ihrer Partei bzw. den Wählern. Eine gewisse Pro - partner und bei den Wählerinnen und Wählern. minenz hat der sogenannte »Sachsenkonflikt der SPD«, der die Mein Ansatz betont im Gegensatz zu anderen Darstellungen Spaltung der SPD-Fraktion nach 1924 bezeichnet. Aber auch die die Rolle der Akteure und versucht, zwischen Individuen, Frak - anderen Parteien gingen mit ihren Delegierten nicht zimperlich tionen und Parteien zu differenzieren. Denn nur so lassen sich die um, wenn diese sich zu sehr für eine Koalition mit dem vermeint - Vorgänge im Landtag wirklich erklären. Leider ist die prosopo - lichen politischen Gegner einsetzten. graphische Forschung zu den Abgeordneten noch sehr lücken - Zwei Beispiele: Der Abgeordnete und DDP-Parteichef Oscar haft. Ein umfangreiches Nachschlagewerk, wie es für den Land - Günther wurde für die Landtagswahl 1920 nicht wieder nomi - tag von 1868 bis 1918 vorliegt, ist, dies sei am Rande bemerkt, niert und schied für zwei Jahre aus dem Landtag aus. Der lang - ein dringendes Desiderat. jährige DVP-Abgeordnete Bernhard Blüher trat im November Ein wichtiger Befund, den ich in diesem Zusammenhang 1930 im Zorn von seinen Ämtern zurück, weil der Landesvor - be reits anbringen kann, ist der, dass das Lebensalter, aber stand seiner Partei keine weitere Kooperation mit der SPD mehr besonders das »parlamentarische Alter«, also die Erfahrung im anstrebte und seine Fraktion auf sein Zuraten hin gegen den Parlament, entscheidenden Einfluss auf die Bereitschaft zum Willen der Partei die Wahl eines Nationalsozialisten zum Land - Kom promiss hatte. Faustformelartig lässt sich sagen: Je länger tagspräsidenten verhindert hatte. sich Abgeordnete im Landtag aufgehalten hatten, desto größer Ich komme zum Schluss. Der zu Beginn meines Vortrages waren ihr Vertrauen in den Landtag als Institution und auch ihre erwähnte Geltungsanspruch des Landtags, jener Ort zu sein, Koalitionsbereitschaft. Besonders interessant ist in diesem Zu - von dem aus Ruhe und Ordnung wieder herzustellen und die sammenhang der häufige Rückgriff auf den früheren, königli - Demokratie in Sachsen aufzubauen sei, war aufgrund der Wahl - chen Landtag, dem einige der wichtigsten Protagonisten bereits ergebnisse ohne die Bildung von Koalitionen der Mitte nicht ein - angehört hatten. Er war als Idealbild vielen Abgeordneten noch zulösen. Dazu bedurfte es einer Überwindung der gesellschaft - sehr präsent. lichen Antagonismen, einer Überwindung der Fraktionierung des Die vertrauensvolle Zusammenarbeit der Akteure hatte – Landtages. Es bedurfte des Vertrauens der politischen Akteure damit bin ich beim letzten Punkt meines Vortrages – auch ihre untereinander. Wenn es aber einen Ort gab, an dem Vertrauens - Kehrseite. Die Kompromisse, die zwischen SPD, DDP und DVP in bildung im politischen Feld überhaupt noch möglich war, dann den Koalitionen geschlossen wurden, entfremdeten die Fraktio - war dies der Landtag. nen und insbesondere die am meisten ins Vertrauen gezogenen Damit kommen wir aber auch zu einer Umbewertung des Akteure ihren Parteien. Es tritt ein innerer Widerspruch des Landtages an sich. Er war eben nicht nur »Quasselbude« oder Repräsentationsgedankens der Weimarer Republik zum Vor - einfach nur die Bühne von Klassenkämpfen, sondern ein gesell - schein: Auf der einen Seite sollten die Parlamente die Gesell - schaftlicher Zentralort, an dem für eine friedliche Lösung der schaft in all ihrer Vielschichtigkeit darstellen und repräsentie - massiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme ren. Auf der anderen Seite sollten sie im Interesse des ganzen Sachsens gerungen wurde. Diesen Anspruch hat er in bemer - Volkes Politik machen. Das ging nur durch Kompromisse. Die kenswerter Weise und trotz vieler Krisen bis zur sogenannten Mitglieder der einzelnen Parteien aber verlangten, dass das Par - »Machtergreifung« der Nationalsozialisten zu behaupten ge - lament im jeweils eigenen Interesse agieren möge. Sie waren wusst. Dann freilich musste er sich der Gleichschaltung und oftmals nicht bereit, die von den Abgeordneten ausgehandelten schließlich der völligen Auflösung beugen.

Vortrag von Janosch Pastewka | 59 | Parlamentskonzeptionen nach dem Zweiten Weltkrieg Vortrag von Edith Schriefl

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dezentralisieren. Als Folge dieser Entscheidungen wurden im Jahre 1946 Wahlen abgehalten, mittels derer sich die Deutschen Im Oktober 1950 fand die letzte Plenarsitzung des ersten säch - auf Provinzial-, Kreis- und Länderebene Repräsentationsorgane sischen Nachkriegslandtags statt. Mit den folgenden Worten und Regierungen schufen. Die Bildung eines gesamtdeutschen eröffnete der Landtagspräsident Otto Buchwitz seine verbale Parlaments und einer zentralen Regierung wurde hingegen in Rückschau auf die vergangene Legislaturperiode: die Zukunft verschoben. In der Sowjetischen Besatzungszone, »Vielleicht, meine Damen und Herren, wird einmal eine spätere zu der auch das Land Sachsen gehörte, bestimmte die sowjeti - Geschichtsschreibung die Arbeit der Abgeordneten des ersten sche Besatzungsmacht die Organisation und Durchführung der Landtages, nachdem der Faschismus zusammengebrochen ist, Wahlen. Der radikale politische Bruch im Mai 1945 war nicht von in ihrem vollen Umfange würdigen.« deutscher Seite aus initiiert worden. Ebenso wenig können die Die geschichtswürdige Leistung des Landtags bestand laut ersten deutschen Nachkriegswahlen als ein selbstbestimmtes Buchwitz darin, angesichts der schwierigen politischen und Ereignis bezeichnet werden. sozialen Umstände nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes Nun zu der Frage nach dem politischen Kräftefeld, das den innovative Formen des parlamentarischen Handelns entwickelt sächsischen Nachkriegslandtag umspannte. Die umfassendste zu haben. In meinem Vortrag geht es vor allem um diese ver - und zugleich komplexeste Antwort auf diese Frage ist die vom meintlich innovative parlamentarische Handlungspraxis. Zuvor Kalten Krieg. In den Jahren von 1946 bis 1948 verhärteten sich möchte ich jedoch darlegen, wie es überhaupt dazu kam, dass die Fronten zwischen den Westmächten und dem Ostblock zu- nach dem Zweiten Weltkrieg ein sächsischer Landtag konstituiert nehmend. Die politischen Kontrahenten im beginnenden Kalten wurde. Zudem möchte ich darauf eingehen, welches politische Krieg waren gleichzeitig auch die Besatzungsmächte in Deutsch - Kräftefeld den Landtag als gesellschaftlichen Zentralort um - land. Als Besatzungsmächte unterstützen sie in ihren jeweiligen spannte. Gebieten vor allem die politischen Kräfte, die ihren eigenen Zunächst zu der Frage, wie es dazu kam, dass nach dem Zwei - Vorstellungen entsprachen oder sich diesen Vorstellungen an - ten Weltkrieg ein sächsischer Landtag konstituiert wurde: Im passten. Dadurch näherte sich die Ost- und Westdeutsche Poli - August 1945 entschieden die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs tik ihren der ihrer jeweiligen Besatzungsmächte allmählich an. auf der Potsdamer Konferenz, die Entwicklung eines deutschen Diese Entwicklung griff auch auf politische Institutionen über, Eigen-Verantwortungsbewusstseins zu fördern. Gleichzeitig fiel beispielsweise auf die Landtage. Im Sächsischen Landtag wur - der Beschluss, die Verwaltung Deutschlands vorübergehend zu den spätestens ab 1947 politische Entscheidungen aus West -

| 60 | Vortrag von Edith Schriefl den. Entscheidungen wurden im Block einstimmig getroffen. Die Leitidee des Blocks war der Zusammenhalt der antifaschis - tischen Kräfte. Den Zusammenhalt der Antifaschisten hatte die KPD bereits 1945 in ihrem Gründungsaufruf als Gebot der Stun - de formuliert. Aber auch die beiden anderen, die sogenannten »bürgerlichen« Parteien, bezeichneten sie als notwendiges Hand - lungsprinzip, um die politische und soziale Notlage im Nach - kriegsdeutschland zu überwinden. Der sächsische Nachkriegslandtag konstituierte sich eben - falls unter der Leitidee des Zusammenhalts der antifaschisti - schen Kräfte. Er knüpfte andererseits jedoch in vielerlei Hinsicht an die parlamentarischen Institutionen der Weimarer Republik an. So übernahm er beispielsweise die zentralen Tagungsgegen - stände und Sitzungsabläufe. Auch die parlamentarische Auf - gabenteilung und sogar die Sitzordnung nach Fraktionen wur - den zumindest in der ersten Legislaturperiode beibehalten. Der auffälligste Unterschied zu den Weimarer Parlamenten bestand deutschland als Antithesen zu den eigenen Entscheidungen dis - jedoch darin, dass im Nachkriegslandtag fast alle Entscheidun - kutiert und kritisiert. Auch nicht-sozialistische Abge ordnete gen einstimmig getroffen wurden. Die Quote der einstimmig äußerten sich vor dem Landtag kritisch über die Entwicklungen verabschiedeten Gesetze lag bei 83 % in der ersten und bei im Westen. Die sowjetische Besatzungsmacht und politische 100 % in der zweiten Legislaturperiode. Die Geschäftsordnung Entscheidungen in der eigenen Zone wurden hingegen nur sel - des Landtags sah bei Abstimmungen die Mehrheitsregel vor. ten kontrovers besprochen. Umso kurioser erscheint das reale Abstimmungsverhalten. Es Im sächsischen Nachkriegslandtag waren neben den so ge - sollte offensichtlich Ausdruck der freiwilligen Übereinstimmung nannten Massenorganisationen drei große Parteien vertreten . der Entscheidungsträger sein. Wem nützte sie? Die SED hatte im Die Parteien hatten sich allesamt kurz nach Kriegsende unter Landtag die Mehrheit inne und hätte theoretisch ihren politi - der strengen Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht als schen Willen in Mehrheitsbeschlüssen durchsetzen können. »antifaschistische Parteien« generiert. Die drei Parteien waren In der bundesrepublikanischen Forschung nach 1990 wurde die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands, die Christlich- das Phänomen der sich verstetigenden Einstimmigkeit als ein Demokratische-Union und die Sozialistische Einheitspartei Indiz dafür gewertet, dass der Landtag durch die Einheitssozia - Deutschlands, die im Landtag eine knappe Mehrheit innehatte. listen fremdgesteuert wurde. Diese These geht mit der ebenfalls Die Parteien in der Sowjetischen Besatzungszone bildeten be - in der Forschung verbreiteten Vorstellung einher, dass die Kom - reits kurz nach Kriegsende den sogenannten »Block der antifa - munisten nach dem Zweiten Weltkrieg unverzüglich damit be- schistisch-demokratischen Parteien«. Dieser Parteien-Block war gannen, eine Diktatur durchzusetzten. Ihr diktatorisches Inte - ein politisches Diskussions- und Entscheidungsgremium, das resse mussten sie jedoch, so die Argumentation, aufgrund von nicht durch Wahlen legitimiert war. Stattdessen war die Teil - außenpolitischen Interessen zunächst mit einer demokratische n nahme an den Blocksitzungen an ein hohes Parteiamt gebun - Fassade kaschieren. Die ostdeutschen Nachkriegslandtage

Vortrag von Edith Schriefl | 61 | wa ren demnach nichts weiter als Feigenblätter für die eigentlich da sich einige Mitglieder des Landtags im Vorhinein vehement antiparlamentarischen Machtinteressen der Kommunisten. Wie gegen das Gesetz aussprachen. Der Fraktionsvorsitzende der auch der Volkskammer der DDR wird den ostdeutschen Nach - Christdemokraten, Hugo Hickmann, begründete seinen persön - kriegslandtagen unterstellt, sie seien aufgrund der von den lichen Kurswechsel, also seine unerwartete Zustimmung zu Kommunisten erzwungenen Einstimmigkeitspraxis keine intak - dem Gesetz, vor dem Landtags-Plenum mit folgenden Worten: ten Parlamente gewesen. Der historiographische Erkenntnisge - »Soviel ist klar, der Weg, den wir jetzt einschlagen [die Grün - winn einer solchen Betrachtungsweise ist meiner Ansicht nach dung der DDR, E. S.], ist ein schicksalsvoller um so mehr, weil jedoch minimal. Sie bewertet die historischen Institutionen an- von der Durchführung dieses Weges weitgehend das deutsche hand von normativen Parlamentarismus-Kategorien, deren Maß - Schicksal für die Zukunft bestimmt ist, gilt es in dieser entschei - stab moderne westliche Demokratien sind. Würde man diese dungsvollen Stunde, alle etwa noch bestehenden Bedenken Maßstäbe an die Zweikammerparlamente des 19. Jahrhunderts zurückzustellen. Es gilt, hier alle Kräfte zusammenzufassen zu oder die vormodernen Ständeversammlungen ansetzen, so müss - einer aufrichtigen Politik, zu einer entschlossenen Mitarbeit am te man diese ebenfalls als defekte Parlamente diskreditieren. Aufbau. [...] Darum werden auch wir dem Gesetz über die Wah - Die Herausforderung einer Dissertation zu den sächsischen len in unserem Lande zustimmen. [...] Das ist für uns eine unbe - Nachkriegslandtagen besteht also darin, den Fokus sowohl dingte Verpflichtung nationaler Verantwortung. (Bravo!)« methodisch als auch inhaltlich neu zu setzen. Dabei ist ein kom - Es mag zunächst bemerkenswert erscheinen, dass ein Christ - munikationstheoretischer Ansatz vielversprechend. Die politi - demokrat und nicht etwa ein Einheitssozialist so argumentierte. schen Akteure werden in einem Kommunikationsraum verortet, Dennoch erscheint Hickmanns Zustimmung zum Gesetz in der in dem auch die Herrschenden nur eine Akteursgruppe unter Rede nicht als freiwillige Entscheidung. Aus seinen Sätzen lässt anderen sind. Sprache wird als zentrales Kommunikations- sich vielmehr entnehmen, dass er in seiner Zustimmung zum Medium gefasst, das die Gesetz die Erfüllung einer Norm sah. Hickmann fasst die Ein - Wirklichkeit nicht nur benennt, sondern das im Sinne des Kon - stimmigkeit als parlamentarische Umsetzung der Idee des anti - struktivismus Wirklichkeit schafft. Damit verschiebt sich der faschistischen Zusammenhalts. Die Abstimmung über das Blick von einer vermeintlich »unmittelbaren« Wirklichkeit hinter Gesetz – und eben nicht der Inhalt des Gesetzes – wurde zu der Sprache auf die Sprache selbst. Für mein Forschungsprojekt einem symbolisch aufgeladenen Akt und die Einstimmigkeit zur bedeutet das, nicht mehr ausschließlich mit Zwang und Repres - Norm erklärt. Sie bestimmte einerseits den Verfahrensausgang sion hinter der parlamentarischen Kommunikation zu kalkulie - und andererseits die Rolle der Verfahrensbeteiligten. Hätte ren, sondern den Fokus auf die parlamentarische Kommunikation Hickmann nämlich die einstimmige Annahme des Gesetzes ver - selbst zu lenken. Die Praxis der Einstimmigkeit als eine bedeu - hindert, so wäre er zum politischen Außenseiter geworden. Die tungsgeladene Eigenschaft des sächsischen Nachkriegsland - Anpassung an den Gemeinschaftswillen war Voraussetzung für tags wird dadurch selbst zum Gegenstand meiner Untersuchun g. die politische Integration, oder anders formuliert: Wer sich nicht Mittels diskursiver Analysemethoden kann sie in ihrer Zeichen - anpasste, wurde politisch isoliert. haftigkeit erfasst und gedeutet werden. Hickmann selbst wurde Opfer dieser von ihm selbst zumin - Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Im Oktober 1949 verab - dest reproduzierten Logik. Im Jahre 1950 sollte im Landtag ein schiedete der sächsische Landtag einstimmig das »Gesetz über Gesetz verabschiedet werden, das die kommenden Wahlen auf die Verlängerung der Wahlperiode des Landtages.« Die Einstim - die Grundlage von Einheitslisten stellte. In diesem Fall waren migkeit bei der Verabschiedung des Gesetzes ist erstaunlich, Hickmann und mit ihm eine kleine Gruppe sächsischer Parla -

| 62 | Vortrag von Edith Schriefl mentarier nicht bereit, dem Gesetz ihre Zustimmung zu geben. Zur Zeit der Verfassungsarbeiten gab es im Landtag zwei ge - Die parlamentarische Norm der Einstimmigkeit hatte sich je doch gensätzliche Meinungen zur Stellung des Parlaments im poli ti - mittlerweile so etabliert, dass personelle Opfer in Kauf ge - schen System. Für die Vertreter der SED und der LDP, das heißt , nommen wurden. Als deutlich wurde, dass Hickmann dem Ge - für die Mehrheit der Abgeordneten, war der Landtag das höchs - setz nicht seine Zustimmung geben würde, starteten die Befür - te staatliche Entscheidungs- und Kontrollgremium. Exekutive worter des Gesetzes eine rigorose Medien-Kampagne gegen und Judikative sollten zwar als eigenständige Organe bestehen; ihn. In Folge verlor Hickmann sein Mandat und weitere politi - allerdings wurden sie lediglich als ausführende Organe des sche Ämter. Das Gesetz wurde kurz darauf einstimmig verab - Landtags gedacht. Teilweise nannten die Abgeordneten Regie - schiedet. Kurze Zeit später verurteilte der Christdemokrat Otto rung und Rechtsprechung sogar »Ausschüsse« des Landtags – Freitag seinen Fraktionskollegen Hickmann vor dem Plenum als eine Bezeichnung, die in der künftigen parlamentarischen Zu - »Agenten des anglo-amerikanischen Imperialismus«, der die sammenarbeit mit diesen staatlichen Organen keine Rolle mehr Interessen des deutschen Volkes schwer schädigte. Hickmanns spielen würde. Die Christdemokraten hingegen hatten ein Widerstand habe, so tatsächlich der doppelte Wortlaut, »die grundsätzlich anderes Verständnis von der Stellung des Land - Einheit der antifaschistisch-demokratischen Einheit« ge sprengt . tags. Sie plädierten für die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Nun aber seien der Frieden und die demokratische Ordnung Exekutive und Judikative. Augenscheinlich waren die Christde - wieder gefestigt und der Kampf um die Einheit Deutschlands mokraten jedoch sehr darum bemüht, die Angriffsfläche für ihre könne fortgesetzt werden. Partei-Position möglichst gering zu halten. Im Plenum nahmen Wie legitimierten die Abgeordneten selbst eine solche parla - ihre Stellungnahmen einen fast unterwürfigen Ton an. Auch im mentarische Praxis? Mit dieser Frage komme ich zum zweiten Verfassungsausschuss spielten sie ihre oppositionelle Rolle Teil meines Vortrages, in dem es um die im Titel meines Vortrags nicht aus. An keiner Stelle brachten sie ihre Forderung nach angesprochenen Parlamentskonzeptionen geht. Unter den Par - einer Teilung der Gewalten mit Nachdruck vor. lamentariern des ersten sächsischen Nachkriegslandtags Der Konflikt zwischen den politischen Lagern brach daher auf herrschte der Anspruch, einen innovativen Parlamentarismus zu einer anderen, in gewissem Sinne tieferen Diskussionsebene entwickeln. Entsprechend waren der Landtag und seine Funk - aus. Zwar behaupteten die Christdemokraten relativ früh, sich tionen in den Reden, Stellungnahmen und Diskussionen der mit der von ihnen so bezeichneten »Omnipotenz« des Landtags Abgeordneten ein häufiges und wichtiges Thema. Dies betrifft arrangiert zu haben. Sie drängten jedoch darauf, die Aufgaben vor allem die Zeit um die Jahreswende 1946/1947, in der im und Rechte der Regierung und der Rechtsprechung in die Ver - Landtag eine Verfassung ausgearbeitet wurde. Die Frage nach fassung festzuschreiben. Ihr erklärtes Ziel war es, dadurch eine der Stellung des Landtags wurde in den Verfassungsberatungen gewisse Unabhängigkeit der beiden ausführenden Organe vom sowohl im Plenum als auch im Verfassungsausschuss umfang - Parlament zu sichern. Die Liberaldemokraten und die Einheits - reich diskutiert. Die entsprechenden Aussagen der Parlamentarie r sozialisten wehrten sich jedoch gegen eine verfassungsrechtliche zum Landtag habe ich als einen Teil meines Projektes isoliert Fixierung der Arbeitsteilung zwischen den drei Staatsgewalten. betrachtet und analysiert. Mein zentrales Untersuchungsfeld Der SED-Fraktionsvorsitzende Wilhelm Koenen begründete sind dabei die Sprechweisen, Sprachstrukturen und Sprach - dies im Verfassungsausschuss folgendermaßen: strategien. Dieser Analyseteil ist noch nicht ganz abgeschlos - »Die Volksvertretung ist die einzige Vertretung, die es gibt. sen, ich möchte Ihnen jedoch einen Teil meiner Ergebnisse vor - Dem etwas nach außen oder nach innen entgegenzustellen, ist stellen. an sich – mit Verlaub zu sagen – ein Rückfall in alte Auffassun -

Vortrag von Edith Schriefl | 63 | gen. [...] man muss die Klärung des Gedankenganges, dass der zeugung waren, die (empirische) Bevölkerung trage keine Schuld Landtag das höchste Organ, das höchste demokratische Organ, am Nationalsozialismus. Sicherlich sollte die Fiktion eines des Landes ist, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, und schuldfreien Volkes vor allem dazu dienen, dieses für die neue dass die Volksvertretung diese Staatsgewalt auch zu konstitu - politische Ordnung zu mobilisieren. Dass der Wille des Volkes ieren hat, das müssen wir eindeutig bis in die Regierung hinein als geschlossene Autorität konstruiert wurde, halte ich den - durchführen [...]« noch für bezeichnend. Möglicherweise war das Streben nach Mit den »alten Auffassungen« meinte Koenen die Verteilung parlamentarischer Einheitlichkeit und Einstimmigkeit ein Pro - der Staatsgewalt in der Weimarer Republik. Sowohl die Ein - dukt dieser homogenisierenden Denkweise. heitssozialisten als auch die Liberaldemokraten waren über - Während der Verfassungsarbeiten wurde die Praxis der Ein - zeugt, dass im parlamentarischen System der Weimarer Republik stimmigkeit noch nicht als parlamentarische Innovation einge - die Regierung und die Rechtsprechung über zu viel Macht ver - führt. Offensichtlich ergab sich diese Norm aus der Praxis und fügten. Dadurch hätten die Nationalsozialisten ihre Interessen weniger aus einem Meta-Diskurs. Sobald sich diese Praxis fast ungehindert verwirklichen können. Das immer noch stark jedoch verfestigt hatte, wurde sie zu einer Errungenschaft des vorhandene Misstrauen gegenüber der Regierung und der Rech - vermeintlich innovativen Parlamentarismus erklärt. Ich habe tsprechung wollten die Abgeordneten nun durch ein starkes meinen Vortrag mit einem Zitat aus einer Rede Otto Buchwitz Parlament kompensieren. Durch die starke Stellung des Landtags eingeleitet, in der er die parlamentarische Arbeitsweise des im parlamentarischen System würde man, so die Idee, die Feh - Landtags rühmte. Er beendete diese Rede mit den Worten, es ler der Weimarer Republik beseitigen. Einheitssozialisten und habe in der ersten Legislaturperiode des Landtags zwar teilweise Liberaldemokraten beharrten entsprechend auf ihrer Überzeu - auch Meinungsunterschiede gegeben. Aber, so Buchwitz: »Ich gung, der Landtag müsse das oberste Kontroll- und Entschei - möchte zu gleicher Zeit in der letzten Sitzung dieses Hauses dungsgremium im Land sein. Sie führten jedoch nicht aus, in feststellen, daß wir uns zum Schluss doch immer wieder gefun - welchen neuen Aufgaben, Funktionen oder Verfahrensabläufen den haben.« des Landtags diese Verantwortung aufgehen würde. Auch wie das Was Buchwitz nicht erwähnte, waren die Opfer, die zugunsten neue parlamentarische System insgesamt ausgestaltet werden des Findungsprozesses in Kauf genommen wurden. Auch ich sollte, blieb in ihren Ausführungen vage. Möglicherweis e lag in habe in meinem Vortrag – wenn auch aus anderen Motiven – Re - der Zerstörung von Kontinuitätslinien eine so hohe legitimatori - pressionsfragen weitgehend ausgeklammert. Insgesamt waren sche Kraft, dass die neue Praxis nicht expliziert werden musste. personelle Opfer eher die Ausnahme als die Regel. Politische Dafür verwendeten die Redner jedoch viel Zeit, um die neue Repression war jedoch fraglos in dem Prozess der sich versteti - Stellung des Landtags zu legitimieren. Wie auch Wilhelm Koe - genden parlamentarischen Einstimmigkeit eine Zugkraft unter nen im eben genannten Zitat, verwiesen sie dabei meist auf das anderen. Aus diesem Grunde möchte ich sie in meiner Arbeit Volk. Der Landtag bilde den Volkswillen ab und konstituiere ihn keinesfalls marginalisieren, zumal es nicht die Aufgabe der im politischen Feld. Dabei entwarfen sie den Volkswillen als ein - Geschichtsschreibung ist, ausschließlich die Leistungen des heitliche und moralisch verlässliche Größe. Hätte man zu Wei - Landtags zu würdigen, wie es sich Otto Buchwitz gewünscht marer Zeiten auf die Stimme des Volkes gehört, so wäre es ihrer hätte. Meinung nach nicht zum Aufstieg des Nationalsozialismus ge - Nun möchte ich meinen Vortrag schließen und freue mich übe r kommen. Ich denke nicht, dass die Redner tatsächlich der Über - Anregungen und Fragen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

| 64 | Vortrag von Edith Schriefl Beamte, Politiker und Journalisten – Akteure und Erinnerung. Der Sächsische Landtag 1990–1994 Vortrag von Caroline Förster

Gut vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung endete im Sommer 1994 die erste Wahlperiode des Sächsischen Landtags nach der Wiedergründung des Freistaates. Der Landtagspräsident Erich Iltgen zog in seiner Ansprache Bilanz: »Ich bin sehr froh darüber, dass es zwischen der Mehrheit von Beschäftigten aus Sachsen und den Mitarbeitern aus den alten Bundesländern gutes kooperatives Arbeiten gibt. Über die not - wendigen Ergänzungen von Fähigkeiten und Wissen hinaus lieg t letztlich darin die Voraussetzung für die gemeinsam erreichte Professionalisierung der Aufbau- und Ablauforganisation und die Gewährleistung der vollen Funktionsfähigkeit unseres Arbeits - parlamentes.« Seine Worte richtete er an die ca. 160 Abgeordneten, die in einem Halbrund auf grünen Stühlen vor ihm saßen. Die Zu - schauer und Medienvertreter, die seine Worte von der Besu - chertribüne verfolgten, sahen zur ihrer rechten Seite die Elbe am neuen Plenarsaal vorbei fließen. Wenige Monate zuvor war dieser Parlamentsneubau feierlich eröffnet worden. Der Umzug Politik und der Öffentlichkeit. Ihre Sichtweise auf den Transfor - auf die andere, altstädtische Elbseite und in den neugebauten mationsprozess des Sächsischen Landtags habe ich auf Basis Plenarsaal verdeutlichte damit auch in seiner Symbolik den Ab - dieser Oral History Interviews, aber auch auf Basis schriftlicher schluss eines vierjährigen Konstituierungsprozesses. In meinem Quellen rekonstruiert. Eine der Hauptfragen richtete sich auf Vortrag möchte Ihnen einen Einblick in meine Forschung geben, den Einfluss der westdeutschen Akteure beim Aufbau dieses die sich genau mit diesem Landtag, der von 1990 bis 1994 tagte, sächsischen Landesparlaments und ihr Verhältnis zu den ost - beschäftigt. Mich interessierte diese Anfangsphase des Parla - deutschen Akteuren. Ein gutes Beispiel dafür, wie entfernt diese mentes als Konstituierungsprozess sowie das von Iltgen be - Erfahrungen von in Westdeutschland bekannten Vorstellungen schriebene »gute kooperative Arbeiten« zwischen West und des Parlamentarismus sein konnten, gibt ein Interview, das ich Ost. Ich befragte Akteure aus dem Bereich der Verwaltung, der mit einer Sekretärin der Verwaltung führte.

Vortrag von Caroline Förster | 65 | Sie war bis 1989 im Rat des Bezirkes tätig gewesen, bevor sie vor allem ingenieurtechnische Berufe ausgeübt hatten. Zu diesen 1990 in den Landtag wechselte. Sie traf – so die Anekdote – auf Personen stießen westdeutsche, oftmals aus der Bundestags - einen Ministerialbeamten, der interimistisch die Geschäfte des verwaltung stammende Juristen, die beim Aufbau der Verwal - Landtagsdirektors führte. Nun folgt die Anekdote. Die Sekretä - tung und vor allem bei der Unterstützung des Parlamentsbetrie - rin berichtet, wie sie dem Direktor einen Kaffee brachte: bes unterstützen sollten. Ein Vergleich zwischen dem Aufbau der »Ich war die Älteste, mich haben sie geschickt, die Jungschen sächsischen Landtagsverwaltung und dem Aufbau der Land - hatten alle Spundus vor dem. Und da hab ich – mit Tablett, eine tagsverwaltung in Baden-Württemberg bzw. der Bundestags - Tasse schwarzen Kaffee drauf – ja, und dann hab ich geklopft verwaltung zeigt die Handschrift der Leihbeamten beim Aufbau. und ›Herr Direktor, ich bringe Ihnen Ihren Kaffee, schwarz, zur Im Bereich der Medien lassen sich ganz ähnliche Tendenzen auf - Seele passend‹, hab ich da gesagt. Frech war ich schon immer zeigen Journalisten, die in der 1. Wahlperiode über den Sächsi - bissel. Und da sagt der zu mir: ›Ja! Ich bin a Schwarzer!‹ Da schen Landtag berichteten, waren zumeist, sofern sie ostdeutsche r wusste ich gar nicht, was der meint. Ich wusste nicht, dass die Herkunft waren, bis 1989 in naturwissenschaftlichen Berufen CDU-Leute die Schwarzen waren. Die waren die Roten, die die tätig gewesen. Aber es gab auch Journalisten, die bereits vor Gelben, die die Grünen, das hat man ja dann im Nachhinein erst 1989 als solche tätig und zumeist Mitglied der SED gewesen so ein bisschen mitgekriegt.« waren. Die wenigen westdeutschen Journalisten kamen, ganz Die Beobachtungen der Interviewten zeigten empfundene Un- ähnlich den Leihbeamten, unterschiedlich motiviert nach Ost - terschiede in alltäglichen Situationen. Und sie sind eine Aussa - deutschland. Im Parlament saßen vor allem ostdeutsche ge, die sich nicht in den schriftlichen Quellen finden ließ. Und Ab geordnete. Für sie und auch für ihre Mitarbeiter kann man sie zeigte auch: Eine Differenzierung zwischen ostdeutschen festhalten, dass sie ebenfalls vor allem Ingenieurberufe ausge - Akteuren auf der einen und westdeutschen Akteuren auf der übt hatten oder in das politische System involviert gewesen anderen Seite greift zu kurz. In allen drei Bereichen – der Ver - waren. waltung, dem Parlament und der Öffentlichkeit – gab es Akteure , Die Erinnerungen an den Sächsischen Landtag waren für meine die ostdeutsch sozialisiert und im System der DDR verankert Interviewpartner zunächst primär mit der Erwerbsbiografie ver - waren. Daneben gab es ostdeutsche Akteure, die nicht im Par - knüpft. Wobei deutlich wurde, dass die Ereignisse des Herbstes teien- oder Verwaltungssystem der DDR gestanden hatten. Sie 1989, d. h. die Zeit der friedlichen Revolution, für die meisten hatten oftmals eine naturwissenschaftliche, zumeist ingenieur - ostdeutschen Akteure einen kompletten Bruch in der Lebens- technische Ausbildung. Ihnen gegenüber standen die west - und Erwerbsbiografie bedeutete. Diese Neuorientierung spielte deutschen Akteure, die sehr unterschiedlich motiviert nach in den Erinnerungen aller ostdeutschen Akteure, der Abgeord - Dresden kamen. Für die Verwaltung während der 1. Wahlperiode neten, der Journalisten und auch der Verwaltungsmitarbeiter, lässt sich Folgendes sagen: Die Mehrheit der Referate wurden eine zentrale Rolle. So erklärte Steffen Klameth, ein ostdeut - von ostdeutschen Akteuren geleitet, die Referate Haushalt, scher Journalist, der am sogenannten »roten Kloster« in Leipzig Juristischer Dienst und Personal hingegen von westdeutschen Journalismus studiert hatte und auch Mitglied der SED war: Leihbeamten. Teilweise waren die Referatsleiter schon im Vor - »Nach der Wendezeit war das für mich die spannendste Zeit, feld der Landtagsgründung gemeinsam aktiv gewesen (zu nenne n als Journalist zu arbeiten. Man hat vor allem in den ersten Jah - wäre hier die Arbeit in Gremien wie der »Gruppe der 20« oder ren, Anfang der 90er-Jahre, praktisch jeden Tag etwas Neues dem »Koordinierungsausschuss«). Für die ostdeutschen Refe - gelernt – und ich glaube, so ging es auch vielen Abgeordneten. ratsleiter lässt sich außerdem festhalten, dass diese in der DDR Viele Gesetze mussten auf den Weg gebracht werden und es war

| 66 | Vortrag von Caroline Förster den Ostdeutschen entstand. Rückblickend konnotierten die von mir befragten Akteure diese Anfangszeit fast ausschließlich positiv. Dies lässt sich für ost- und westdeutsche Akteure for - mulieren. Klar ist: Die 1. Wahlperiode war in vielen Bereichen ein Provisorium. Noch ergaben sich Freiräume, die nicht komplett professionalisierten Abläufen entsprachen. Dies erscheint, natürlich in Verbindung mit dem persönlichen Neuanfang, vom heutigen Standpunkt aus als besonders – Zitat: »aufregend« und »neu«. Für Journalisten und Abgeordnete waren es auch die Gegebenheiten des Tagungsortes, die diesen provisorischen Charakter unterstützten. Ralf Hübner, ein ostdeutscher Journa - list, brachte es auf den Punkt: »Es gab dort, wenn man so will, eine Stelle, an der Kaffee aus - geschenkt wurde, so eine Art Kantine. Das war eine Treppe tie - fer und dort lief man sich permanent über den Weg. Da waren die Gesprächswege unheimlich kurz und es gab regelrechte Informationsbörsen. Das ist etwas, was man dann später für mich am Ende dann auch selber Lebenshilfe, in dem neuen vermisst hat, als man hier in den Landtag ging und alles größer Land anzukommen.« und weiter wurde, aber damals bot diese Enge, journalistisch Einschränkend skizzierte er jedoch auch die Vorbehalte, die gesehen, auch einiges an Möglichkeiten. Und das war ja nicht diese Transformationszeit prägten: schlecht.« »Ich hatte dann natürlich den Makel, dass ich eben früher SED Seine westdeutsche Kollegin Gabrielle Pattberg formulierte war.« dies so: Der Mitarbeiter der Landtagsverwaltung Uwe Nösner betonte »In diesem Büro habe ich über die wohl aufregendsten Jahre ebenfalls die Bruchhaftigkeit der Erfahrungen. Er sagte: »Die der deutschen Nachkriegsgeschichte nachgedacht und berich - Jahre 1990 bis 1994 haben die schwierigsten Herausforderun - tet. Keinen Moment habe ich bereut, mein ruhiges Büro in gen persönlicher und beruflicher Art mit sich gebracht.« Und der Baden-Baden mit Blick auf den schönen Schwarzwald gegen Fraktionsgeschäftsführer der Linken Liste/PDS Andreas Graff sieben Quadratmeter im Container am Wilden Mann (umgeben meinte: »Ja – ich möchte die Zeit nicht missen ..., (es) war eine von Braunkohlenmief und Trabbigeknatter) in Dresden ge tausch t harte Zeit, (aber hat ...) was ganz Positives (...) hinterlassen ..., zu haben.« Auch die Abgeordneten erinnerten sich positiv an zumindest bei mir ist es so. Auch wenn vieles bitter gewesen die Anfangszeit jenseits professionalisierter Wege. Peter Adler, ist.« Abgeordneter der SPD, erklärte im Interview: Es ließ sich feststellen, dass genau aus diesen beiden Voraus - »Die eingefahrenen Gleise des Parlamentarismus hatten uns setzungen, den Erfahrungen des Herbstes 1989 als Bruch in der noch nicht eingeholt. Der kleine Vorraum vor dem Plenarsaal eigenen Biografie und der gemeinsamen DDR-Sozialisation vor der Dreikönigskirche (viel zu klein und durch die vielen Raucher allem als Ingenieur bzw. im Bereich eines technischen Berufes mit einer entsetzlichen Luft) war ein hervorragender interfrak - – ein gemeinsamer Verständigungs- und Aktionshorizont unter tioneller Kommunikationsort. Probleme, die manchmal im Ple -

Vortrag von Caroline Förster | 67 | num an die Grenzen zur Lösung geraten waren, konnten in die - »Aber die Frage der Verwaltungsstruktur ist die eine Sache, die ser Enge und unter dem ›Schutz‹ vernebelter Luft menschlich Frage des Denkens ist eine andere. Und viele, die aus diesen entflochten werden.« Diese Zuschreibung aus der gegenwärti - Kreisen kommen und juristisch geprägt sind, sagen einem erst gen Position heraus lässt sich freilich aus den zeitgenössischen mal, was nicht geht.« schriftlichen Quellen nicht bestätigen. Der teilweise scharfe Ton Auch Landtagspräsident Iltgen äußerte sich zur Zusammenar - der Debatten oder auch die Sprengung der Sitzungen z. B. beim beit mit den westdeutschen Beamten: Thema Stasi kontrastieren diese Sichtweise stark. Mit dieser »Der Landtagspräsident ist eine politische Figur, während der Einordnung kann man gerade durch die gegenseitige Ergänzung Mitarbeiter Beamter ist. (...) Ich hab da manchmal gesagt: ›Was mündlicher und schriftlicher Quellen Erinnerungshorizonte be - soll ich denn? Ich kann doch gar nicht gestalten, wenn ihr mir schreiben und festhalten. dauernd nur sagt, was nicht geht. Sagt mir doch mal, was geht!‹« Ein weiterer wichtiger Verarbeitungskomplex tritt bei den Die Differenz beruhte, folgt man den Argumenten, vor allem auf Erinnerungen über die Zusammenarbeit mit den westdeutschen den unterschiedlichen Ausbildungen und den aus ihnen resul - Akteuren hervor. Unabhängig voneinander beschrieben die tierenden Denk- und Handlungsweisen. Die westdeutschen Akteure das Verhältnis zwischen West und Ost anhand von Pro - Beamten waren an professionalisierte und standardisierte Ab - fessionen. Der ostdeutsche Referatsleiter Hans-Jürgen Mager - läufe im politischen Prozess gewöhnt. Dies kollidierte mit den städt erläutert das Miteinander zwischen Ost und West so: Handlungsweisen, die den Ostdeutschen aus ihrem ingenieur - (Wir haben) »den Verwaltungsmenschen westlicher Prägung technischen Beruf vertraut waren. Wolf-Hartmut Reckzeh, ein und den Ingenieurtyp im Osten. Also der Verwaltungstyp ist westdeutscher Beamter aus dem Bundestag, der als Abtei - juristisch orientiert. Der ist verhinderungsorientiert. Der fragt lungsleiter und Stellvertretender Direktor im Sächsischen Land - immer: ›Sind wir überhaupt zuständig?‹ Das ist die erste Frage, tag tätig war, betonte diese Unterschiede genau so, nur aus der die er stellt. Und dann wird erst einmal geprüft, ob wir über - entgegengesetzten Perspektive. Reckzeh sagte: haupt zuständig sind. Und derweil geht also viel Zeit ins Land. »Also allein die Hierarchie der Normen ist ein Problem für Der Ingenieur ist ergebnisorientiert. Der sagt: ›Ich habe eine manch einen. Und für die Kollegen aus dem Osten war sicherlich Aufgabe, wie geh ich da jetzt ran, dass ich das Ziel erreiche.‹« absolut bindend, was ein Vorgesetzter gesagt hat.« Magerstädt war bis 1989 als Ingenieur tätig und im Kirchen - Als Gegenpol zu dem von Iltgen und Gaber entworfenen west - parlament aktiv. Die angebliche Sachorientierung des Inge - deutschen Beamtentum lassen Sie mich noch ein weiteres Zitat nieurs bewertet er, wie es in diesem Zitat deutlich wurde, als von Reckzeh anführen. Sein bürokratisches Selbstverständnis gewinnbringend für die Situation. Auch an anderer Stelle betonte formulierte er so: er diesen Pragmatismus, den er indirekt auf das Handeln eines »Das ist ja eigentlich das Wesentliche an dem Ressortprinzip, Ingenieurs zurückführte: damit beginnt ja wohl die moderne Verwaltung: dass sie ... »Wir konnten dann also frei Schnauze, wie man so schon sagt, Zuständigkeiten begründet hat, damit ... sachgerecht gearbei - dort arbeiten, und im Grunde genommen waren die wenigen tet werden kann. ... Zuständigkeitsdenken war nicht besonders Wessis auch froh, dass wir das so gemacht haben. Und ja – sie ausgeprägt. Wo sollte auch die Sachkunde herkommen, denn haben das im Grunde genommen auch geduldet.« es wurde ja auf einmal ... ganz anderes verlangt, als (es) der Ganz ähnlich charakterisierte auch Klaus Gaber, ein Abgeord - bunt zusammengewürfelte Haufen gemacht hat. Und die waren neter der Grünen, der ebenfalls vor 1989 als Ingenieur tätig ge - wirklich bunt zusammengewürfelt; ... das bisschen Lochen, Kni - wesen war, das Verwaltungshandeln in der 1. Wahlperiode: cken und Abheften, das einige in der Bezirksverwaltungsstelle

| 68 | Vortrag von Caroline Förster gemacht hatten, unterschied sich ... schon von dem, was jetzt prozess einfloss und in welcher Weise sich dies in der ostdeut - auf einmal verlangt war.« schen Gesellschaft nach 1990 wiederfand, wären weitere in - Die Hervorhebung der naturwissenschaftlichen Prägung des teressante Forschungsfragen. Dass die ostdeutschen Akteure ostdeutschen Ingenieurs und deren Gegenüberstellung zur heute ihre Rolle gegenüber den Westdeutschen durch ihre Er - Denkweise eines westdeutschen Juristen unterstrich auch, wie fahrungen als eine Art idealtypischer pragmatischer Ingenieur tief naturwissenschaftlich geprägtes Denken in den befragten skizzieren, bekommt unter Berücksichtigung aktueller soziolo - ostdeutschen Ingenieuren verwurzelt war und welche entschei - gischer Debatten, die nach dem Selbstverständnis der Ostdeut - dende Rolle dies im Transformationsprozess spielte. schen fragen – wie es auch Raj Kollmorgen ausführlich beschrie - Das Selbstverständnis der Ingenieure und damit letztlich der ben hat – eine ganz neue Blickrichtung. 25 Jahre nach dem Glaube an die Naturwissenschaft in der Gesellschaft der DDR Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zeichnen die Erinnerungen sind im Zusammenhang mit dem Transformationsprozess bis - der Akteure des Sächsischen Landtags ein Bild, welches Wahr - her kaum untersucht worden. Diese Perspektive kann man noch nehmungen im Miteinander zwischen West- und Ost im Konsti - erweitern. Welche Rolle die Naturwissenschaften in der DDR- tuierungsprozess und seiner gegenwärtigen Verarbeitung ver - Gesellschaft spielten, inwieweit dies in den Transformations - deutlicht.

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Die Schriftenreihe »DIALOG« dokumentiert die »Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus«. Downloadversion unter www.landtag.sachsen.de/de/ Folgende Dokumentationen sind bereits erschienen: service/publikationen

Heft 1: »Amerika und Europa – Folgt der Finanzkrise die Staatskrise?« am 18. Januar 2011 Heft 2: »Parteiendemokratie in Deutschland – Gesicht und Substanz des politischen Personals« am 19. Juni 2012 Heft 3: »Identität und Föderalität: Europas Wege aus der Krise« am 5. Juni 2012 im Plenarsaal Heft 4: Fachtagung »Sächsische Landtagsgeschichte im Vergleich« am 28. März 2012 Heft 5: »Umbruch jüdischen Lebens in Deutschland nach der Wiedervereinigung« am 6. März 2013 Heft 6: Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus »Staatsverschuldung im Kontext der europäischen Währungsunion – Neuverschuldungsverbot im Freistaat Sachsen« am 25. September 2013 Heft 7: Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus »Politik und Medien – bürgernah und ehrlich!?« am 26. Mai 2015

Die einzelnen Hefte können bei Interesse kostenfrei unter www.landtag.sachsen.de, per E-Mail unter [email protected] oder per Post bestellt werden, soweit sie noch nicht vergriffen sind. In der Bibliothek des Sächsischen Landtags stehen sie ebenfalls zur Ansicht zur Verfügung. Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 | 01067 Dresden | Tel. 0351 493-50 | [email protected] | www.landtag.sachsen.de