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Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte

Herausgeberin Marie Theres Fögen

Redaktion Bettina Emmerich Rainer Maria Kiesow Karl-Heinz Lingens

Rg 7 2005 Impressum:

Rechtsgeschichte Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte

Herausgeberin: Marie Theres Fögen Redaktion: Bettina Emmerich Rainer Maria Kiesow Karl-Heinz Lingens

Anschrift der Redaktion: Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Redaktion Rechtsgeschichte Hausener Weg 120 60489 Frankfurt am Main Tel. +49-69-78978-200 Fax +49-69-78978-210

Anregungen und Manuskripte an: [email protected] Homepage: www.rg-rechtsgeschichte.de

Verlag: Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main www.klostermann.de Preis pro Band 28 Euro

Graphische Gestaltung: Elmar Lixenfeld, Frankfurt am Main

Zitiervorschlag: Rg 7 (2005) ISSN 1619-4993 ISBN 3-465-03444-9 Debatte

Marie Theres Fögen 12 Einleitung

Manfred Aschke 13 Einheit Theoretische Aspekte des Großtransfers von Recht und juristischem Personal

Mahidé Aslan 33 Rückfahrkarte Das schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei

Marie Theres Fögen, Gunther Teubner 38 Rechtstransfer

Federico Gonzalez del Campo 46 Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? Zum Topos der angloamerikanischen Provenienz des Leasing-Rechts

Jana Lachmund 58 Aus der Schweizer Werkstatt Das Forum Junger Rechtshistoriker widmet sich dem europäischen Rechtstransfer

Claudius Messner 62 Übertragungen Zum Staats- und Familienroman der Modernen

Kenichi Moriya 74 Wissenschaftsfreiheit Beobachtungen zum deutschen und japanischen »juristischen« Diskurs

Roger Müller 87 Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz Semantik und Sozialstruktur einer »Gelehrtenrezeption« Recherche

Thomas Simon 100 Geltung Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts

Gisela DiewaldKerkmann 138 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der RAF Kritik

Loretana de Libero 154 Im Guten wenig und im Schlimmen viel Guido O. Kirner, Strafgewalt und Provinzialherrschaft. Eine Untersuchung zur Strafgewaltspraxis der römischen Statthalter in Judäa (6– 66 n. Chr.)

Pia LettoVanamo 158 Spiegelkunde Jørn Øyrehagen Sunde, Speculum legale – rettsspegelen. Ein introduksjon til den norske rettskulturen si historie i eit europeisk perspektiv

Domenico Siciliano 161 Folter: Rituale der Macht? Dieter Baldauf, Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte Jörg Zirfas, Rituale der Grausamkeit. Performative Praktiken der Folter, in: Christoph Wulf und ders. (Hg.), Kultur des Rituals Horst Herrmann, Die Folter. Eine Enzyklopädie des Grauens Sven Kramer, Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis »nach Auschwitz«

Gerrit Walther 169 Angry Old Man Harold J. Berman, Law and Revolution, II. The Impact of the Protestant Reformations on the Western Legal Tradition

Michael Stolleis 172 Bürgersouveränität Pietro Costa, Cittadinanza Diego Quaglioni, La Sovranità

Frank L. Schäfer 173 Ein Schwabe im Dornröschenschlaf Christoph Mauntel, Carl Georg von Wächter (1797– 1880). Rechtswissenschaft im Frühkonstitutionalismus

Markus Nussbaumer 175 Gesetzeskunst Bernd Mertens, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen. Theorie und Praxis der Gesetzgebungs- technik aus historisch-vergleichender Sicht

Federico FernándezCrehuet López 179 Unsichtbare Hände António Manuel Hespanha, Guiando a mão invisível. Direitos, Estado e Lei no Liberalismo Monárquico Português

Oliver M. Brupbacher 182 This is not a Biography Neil Duxbury, Frederick Pollock and the English Juristic Tradition Kritik

Alexander Somek 184 Das Ganze des Rechts Andreas Funke, Allgemeine Rechtslehre als juristische Strukturtheorie. Entwicklung und gegenwärtige Bedeu- tung der Rechtstheorie um 1900

Martin Schulte 186 Heut’ gehn wir ins … Labor! Walter Pauly, Grundrechtslaboratorium Weimar. Zur Entstehung des zweiten Hauptteils der Reichs- verfassung vom 14. August 1919

Thorsten Keiser 189 Law after Auschwitz – Law in Auschwitz? David Fraser, Law after Auschwitz. Towards a Jurisprudence of the Holocaust

StefanLudwig Hoffmann 191 OpferdesFaschismusunddesAntifaschismus Susanne zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberken- nung von NS-Verfolgten in 1945 bis 1949

Matthias Schwaibold 193 Eine Entscheidung, die vom Himmel fiel Katrin Kastl, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Der Prozess seiner Anerkennung als »sonstiges Recht« im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB

Margrit Seckelmann 195 Begriffe aufräumen Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen

Thomas Duve 198 Erbvergleich Jens Beckert, Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts

Hans Peter Walter 200 Die Rede des Gerichts – Die Rede vor Gericht Thomas-Michael Seibert, Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs

Dieter Simon 203 Traurige Wirklichkeit Thomas-Michael Seibert, Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs

Marie Theres Fögen 209 »Mit den Vokabeln der Systemtheorie« Frank Becker (Hg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische Fallstudien

Rainer Maria Kiesow 212 Das dritte Recht Alain Supiot, Homo Juridicus. Essai sur la fonction anthropologique du Droit Marginalien

Marie Theres Fögen 216 Savignys Schüler, Bettinas Hirtenknabe. Philipp Hössli Bettina von Arnim, »Ist Dir bange vor meiner Liebe?« Briefe an Philipp Hössli, nebst dessen Gegenbriefen und Tagebuchnotizen, hg. von Kurt Wanner Kurt Wanner, Philipp Hössli oder die Sehnsucht nach der Aussicht auf dem Gipfel des Berges

KarlHeinz Lingens 218 Bomben-Werbung Roman Schmidt-Radefeldt, Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfteintegration

Benjamin Lahusen 219 Welt und Nachwelt Zur Rezeption zweier Werke

Nicholas H. D. Foster 230 The Journal of Comparative Law

232 Corrigendum

Abstracts 234

Autoren 237

Abbildungsverzeichnis 238 Debatte 12

Einleitung

Es mag mit der Erfahrung erhöhter Ge- an. Aber auch theoretisch ist »Rezeption« offen- schwindigkeit und Dichte von weltweiten Kom- bar ein ungenügender Begriff, weil er den Blick munikationen zusammenhängen, es mag Re- nur auf die eine Seite der Unterscheidung, den sultat lebhafter Austauschbeziehungen in Wirt- »Empfänger«, lenkt und überdies dazu neigt, auf schaft, Kunst, Politik sein, es mag Folge der dieser Seite der Beobachtung des Annehmens den Ahnung sein, dass vor unseren Augen eine Vorzug zu geben gegenüber der des Ablehnens, »Weltgesellschaft« entsteht – Anlass genug gibt Abstoßens, Verarbeitens oder Verunsicherns. es jedenfalls, genauer zu beobachten, wie und Transfer soll demgegenüber allein die Beobach- zu welchem Ende Produkte und Imaginationen, tung von Mobilität über die genannten Grenzen Technik und Visionen, Waren und Wissen Gren- hinweg bezeichnen, Grenzen, welche ihrerseits zen überschreiten, um in einem entgrenzten im Prozess von Transfer und Re-Transfer sicht- Raum zu zirkulieren und ihr Eigenleben zu ent- bar werden. falten. Grenzen, das sind nicht nur, aber immer Unter dem Titel »Rechtstransfer in system- noch, nationale Grenzen. Begrenzt sind jenseits und evolutionstheoretischer Perspektive« hat im von Nationalitäten ganze Kulturen durch ihre Februar 2005 ein Symposion in Frankfurt statt- historisch bedingten Strukturen, die wohl vieles, gefunden. Einige der dort vorgetragenen Unter- aber eben nicht alles zulassen. Durch Grenzen suchungenundAnsichtensindindiesemBand etablieren sich auch die sozialen Systeme der zu finden, andere werden in Rechtsgeschichte, Gesellschaft, womit das Kreuzen der Grenzen Band 8 (2006) folgen. Da Transfer aber fürwahr nicht ausgeschlossen, aber ein heikler, die Auto- nicht nur im Recht stattfindet, sondern immer nomie der beteiligten Systeme tangierender Vor- und überall, haben wir die Gelegenheit ergriffen, gang ist. Kolleginnen und Kollegen anderer Disziplinen In Bezug auf grenzüberschreitende Wande- zur Beteiligung in der Debatte einzuladen. Dies rungen von welchen materiellen und immateriel- in der Überzeugung, dass es für den theoreti- lenGüternauchimmerpflegtemanlangevon schen Zugriff auf die Phänomene Transfer und »Rezeption« zu sprechen. Dieser Ausdruck ist Zirkulation nicht darauf ankommen kann, wel- schon aus political correctness in Verruf geraten, che Kommunikationen sich auf den Weg durch weil er eine Geber-Nehmer-Beziehung suggeriert: die Welt machen. Bedürftige Regionen oder ärmliche Personen nehmen (mehr oder minder dankbar) eine Gabe Marie Theres Fögen Rg7/2005 Einleitung 13

Einheit Theoretische Aspekte des Großtransfers von Recht und juristischem Personal*

»Liebster Freund, den Einigungsvertrag (EV), wurde vereinbart, … Wir können nicht verkennen, dass wir lediglich dass die Länder Brandenburg, Mecklenburg- unter der Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und es von denen kommt, die wir gegen die … Gewalt … riefen Thüringen am 3. Oktober 1990 Länder der Bun- und die uns jetzt, nachdem sie jene bewältigen geholfen, desrepublik Deutschland werden (Art. 1). Nach wie einen besiegten Stamm behandeln; indem sie die wichtigsten Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über denArtikeln3,4und8EVgaltimfrüheren den Haufen werfen und andere dafür nach Gutdünken Staatsgebiet der DDR mit dem Wirksamwerden oktroyieren; obenan ihr schlechtes Strafgesetzbuch, worin des Beitritts am 3. Oktober 1990 nicht nur – mit eine Reihe von Paragraphen – längst der juristischen wie einzelnen beitrittsbedingten Änderungen – das der Moralkritik verfallen – ehrlichen Leuten gefährlicher Grundgesetz, sondern im Wesentlichen das ge- sind als den Spitzbuben, die sie angeblich treffen sollen. Und obwohl Preußen – sowohl wegen der Art, wie sie das samte Bundesrecht der Bundesrepublik Deutsch- Land gewonnen, als auch, weil wir zum geistigen Leben land. Die Anlage I zum Einigungsvertrag sah der Nation ein so großes Kontingent gestellt wie nur umfangreiche Überleitungsbestimmungen vor, irgend ein Teil von Preußen – alle Ursache zu bescheidnem die für einen Übergangszeitraum Modifikatio- Auftreten bei uns hat, so kommt doch jeder dumme Kerl nen des Bundesrechts für das Beitrittsgebiet ent- von dort mit der Miene des kleinen persönlichen Erobe- rers und als müsse er uns erst die höhere Weisheit bringen. hielten. Nach Art. 9 EV blieb das bei Abschluss … Auf diese Weise einigt man Deutschland nicht.«1 des Einigungsvertrages geltende Recht der DDR als Landesrecht in Kraft, soweit es mit dem Wie hätte Theodor Storm die deutsche Eini- Grundgesetz, dem durch den Einigungsvertrag gung des Jahres 1990 kommentiert, aus ostdeut- in Kraft gesetzten Bundesrecht und dem un- scher Perspektive? Es ist reizvoll, sich danach mittelbar geltenden Recht der Europäischen Ge- zu fragen. Aber die Fälle unterscheiden sich in meinschaften vereinbar war. Auch dazu enthielt mancherHinsicht.DasgiltauchfürdasSelbst- der Einigungsvertrag in Anlage II ein umfang- bewusstsein und den Stolz, mit dem Theodor reiches Konvolut von Übergangsregelungen. Das Storm die eigenen Rechtseinrichtungen würdigt. Recht der DDR, das danach Geltung behielt, Wenden wir uns also der Vereinigung des war allerdings zu diesem Zeitpunkt schon durch Jahres 1990 zu. Ich erinnere in groben Zügen an die Volkskammer der DDR weitgehend an das die Ereignisse. Recht der Bundesrepublik Deutschland ange- passt worden. Grundlage dafür war der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirt- 1 Rechtstransfer nach dem Einigungsvertrag schafts- und Sozialunion vom 18. Mai 1990.3 vom 31. August 1990 Das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Durch den Vertrag zwischen der Bundes- Verfassung der Deutschen Demokratischen Re- republik Deutschland und der Deutschen Demo- publik vom 17. Juni 19904 hatte tragende Ver- kratischen Republik über die Herstellung der fassungsgrundsätze des Grundgesetzes übernom- Einheit Deutschlands vom 31. August 1990,2 men. Auf einfachgesetzlicher Ebene erfolgte ei-

* Überarbeitete und um Anmerkun- 1 Theodor Storm am 16.8.1867 an und Holstein als preußische Pro- gen ergänzte Fassung des Vortrags Friedrich Eggers, in: Theodor vinzen folgte. am 21.2.2005 auf der Tagung Storm, Briefe, hg. von Peter 2 BGBl. II, 889. des Max-Planck-Instituts für eu- Goldammer, 2. Aufl., Berlin 3 GBl. DDR I, 322, BGBl. II, 537. ropäische Rechtsgeschichte in 1984, Bd. 1, 509. Der historische 4 GBl. DDR I, 299. Frankfurt am Main zum Thema Kontext ist die Hilfe Preußens ge- »Transfer in system- und evolu- gen die Dänen im deutsch-däni- tionstheoretischer Perspektive«. schen Krieg von 1864, der nach Der Vortragsstil ist weitgehend dem Krieg von 1866 zwischen beibehalten. Preußen und Österreich die Anne- xion der Herzogtümer Schleswig Debatte Manfred Aschke 14

ne umfangreiche Übernahme von Rechtsgrund- nur auf der weitgehenden Übertragung einer sätzen und Regelungen aus der Bundesrepublik. kompletten Rechtsordnung, sondern auch da- So war mit der Kommunalverfassung der DDR rauf, dass ein beachtlicher Teil der Schlüsselstel- vom 17. Mai 19905 die kommunale Selbstver- lungen in der Verwaltung und bei den Gerichten, waltung wieder eingeführt worden. Das Gesetz in den juristischen Fakultäten der Universitäten, über die Bauordnung vom 20. Juli 19906 orien- aber auch in den rechtsberatenden freien Berufen tierte sich an der Musterbauordnung und damit mit Personen besetzt wurden, die aus West- an den im Wesentlichen übereinstimmenden Re- deutschland stammten und dort ihre juristische gelungen der westdeutschen Länder für das ma- Ausbildung erhalten hatten.9 Eine Sonderstel- terielle Bauordnungsrecht und das Verwaltungs- lung nehmen dabei die Verwaltungsgerichte ein. verfahren der Bauaufsichtsbehörden. Schon die Sie wurden zu Beginn praktisch ausnahmslos mit Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hatte westdeutschen Richterinnen und Richtern be- danach wenig vom Recht der DDR aus der Vor- setzt. Dafür gab es handfeste Gründe. Es gab in wendezeit übriggelassen. der DDR nach Ausbildung und Erfahrung nie- Nimmt man alles in allem, galt auf dem manden, dem man die verwaltungsgerichtliche Gebiet der ehemaligen DDR zum Teil seit der Kontrolle hätte anvertrauen können und wollen, Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und ganz davon abgesehen, dass auch ein Großteil vollends seit Wirksamwerden des Beitritts der der ostdeutschen Bürger DDR-Juristen als Rich- DDR zur BRD am 3. Oktober 1990 auf einen tern nicht vertraute. Das Recht, vor allem aber Schlag die gesamte Rechtsordnung der westli- das Verwaltungsrecht hatte in der DDR nicht chen Republik. Innerhalb der ersten 10 Jahre annähernd die eigenständige Bedeutung, die nach der staatlichen Vereinigung wurde diese ihm in westlichen Gesellschaften zukommt. Die Struktur weiter konsolidiert. Die neuen Bundes- funktionale Differenzierung in Teilsysteme ge- länder schufen zahlreiche eigene Landesgesetze, sellschaftlicher Kommunikation (Recht, Politik, die sich in den Grundzügen, oftmals aber bis ins Wirtschaft, Wissenschaft etc.), ein zentrales Detail an landesrechtlichen Vorbildern aus den Kennzeichen moderner Gesellschaften, war in alten Ländern orientierten.7 Die Übergangsbe- der DDR-Gesellschaft weitgehend zugunsten stimmungen des Einigungsvertrages und die bei- der Dominanz des politischen Systems zurückge- trittsbedingten Sonderregelungen für die neuen bildet worden. Zwar gab es auch in der DDR eine Länder sind inzwischen ausgelaufen oder sind, Fülle von Rechtsvorschriften, die die umfang- soweit sie sich bewährt haben, auch mit allge- reiche Tätigkeit der staatlichen Verwaltung und meiner Geltung in das Bundesrecht übernommen der Staatswirtschaft organisierten.10 Aber Funk- worden.8 Inzwischen dürfte es keine nennens- tion und Leistung dieses Verwaltungsrechts un- werten Unterschiede zwischen den Gesetzen der terschieden sich grundlegend vom westlichen alten und der neuen Länder mehr geben, die über Muster. Die Verwaltung war in der DDR streng die durch den Föderalismus bedingte Variations- hierarchisch aufgebaut und durch das Prinzip der breite hinausgehen. politischen Leitung unter Führung der SED ge- Die Besonderheit des Rechtstransfers, der prägt.11 Eine kommunale Selbstverwaltung mit mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik eigener Satzungs-, Organisations- und Finanz- Deutschland verbunden war, beruht aber nicht hoheit gab es nicht.12 In diese Struktur war auch

5 GBl. DDR I, 255. für die neuen Länder zum Zweck (zur Justiz 41 ff. und die Tabellen 6 GBl. DDR I, 929. der beschleunigten Erschließung auf 45 und 46). 7 Z. B.: Thüringer Gesetz über die ganzer Baugebiete durch einen In- 10 Wollmann (Fn. 9) 26 m. w. N. Aufgaben und Befugnisse der Po- vestor »erfunden« wurde. 11 Gerhard Schulze,Entwicklung lizei vom 4. Juni 1992 (GVBl., 9DazuHelmut Wollmann,Ent- der Verwaltungsstruktur in der 199) und Thüringer Gesetz über wicklung des Verfassungs- und DDR, in: Verwaltungsstrukturen die Aufgaben und Befugnisse der Rechtsstaates in Ostdeutschland der DDR, hg. von Klaus König, Ordnungsbehörden vom 18. Juni als Institutionen- und Personal- Baden-Baden 1991, 45 ff. 1993 (GVBl., 323). transfer, in: Transformation der 12 Vgl. BGHZ 127, 285 ff.; 128, 8 Ein Beispiel ist der Vorhaben- und politisch-administrativen Struktu- 140ff.;OVGWeimar,Landes- Erschließungsplan (§ 12 BauGB), ren in Ostdeutschland, hg. von und Kommunalverwaltung (LKV) der zunächst als Sonderregelung dems. u. a., Opladen 1997, 25 ff. 2002, 285 ff. Rg7/2005 Einheit 15

die Zivil- und Strafgerichtsbarkeit eingebun- Verwaltung und des Verwaltungsrechts in den den.13 Es gab keine Garantie der richterlichen neuen Ländern, sondern um eine theoretische Unabhängigkeit. Höhere staatliche Stellen konn- Fragestellung. Die außergewöhnlichen Vorgänge ten sich jederzeit einschalten, wenn es in einem im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit gerichtlichen Verfahren um eine wirklich oder sind im Folgenden Anlass und Hintergrund für vermeintlich politische Frage ging. eine Überprüfung grundlegender Konzepte der Abgesehen von späten und rudimentären System- und Evolutionstheorie zur Beschreibung Ansätzen14 hatte die DDR keinen gerichtlichen und Erklärung von Prozessen des Transfers von Rechtsschutz gegen Entscheidungen der Verwal- Recht. Dabei möchte ich mich hier auf drei tung zugelassen.15 Einen gewissen Schutz bot Fragen konzentrieren, auf das evolutionstheore- nur das Eingabewesen.16 Nach den Worten von tische Konzept der Variation (3), auf die Rolle Wolfgang Bernet, einem Verwaltungsrechtswis- des Gesetzes und die systemtheoretische Annah- senschaftler der DDR, war das Verwaltungsrecht me der autopoietischen Geschlossenheit des so- der DDR durch ein »situatives Billigkeitsden- zialen Teilsystems Recht (4) und auf das Kon- ken« und nicht durch strikte Rechtsbindung zept der strukturellen Koppelung im Rahmen der gekennzeichnet.17 Formale Präzision, vor allem Theorie der Evolution sozialer Systeme (5). aber Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit des Rechts waren der staatlichen Verwaltung der 3 Blinde Variation DDR weitgehend fremd. Es konnte daher auch im Zeitpunkt der Vereinigung in der ehemaligen Die deutsche Einheit hat vor Augen geführt, DDR kaum Personal geben, das in der Lage dass es offenbar möglich ist, mit einem kom- gewesen wäre, das nunmehr geltende neue Ver- plexen Gesetzgebungsakt für ein Land mit einer waltungsrecht nach professionellen Standards zu Bevölkerung von 17 Millionen Menschen die verstehen, zu handhaben und auf seiner Grund- komplette Rechtsordnung auszutauschen und lage gerichtlichen Rechtsschutz zu gewähren. Die eine nicht nur in Details, sondern auch in grund- DDR wies überhaupt im Vergleich mit der Bun- sätzlichen Aspekten neue Rechtsordnung zu in- desrepublik eine äußert geringe Dichte an juris- stallieren. Widerlegt diese Erfahrung nicht ins- tisch ausgebildetem Personal auf. Einer Studie besondere eine zentrale Annahme der auf soziale der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft Systeme angewandten Evolutionstheorie, die der DDR vom Mai 1987 zufolge waren in den Annahme, dass soziale Innovation auf »blinder« örtlichen Räten der Städte und Gemeinden sowie Variation und nicht auf bewusster Steuerung der Kreise in der ganzen DDR nur 731 juristisch beruht? ausgebildete »Kader« tätig.18 Aber ist der Rechtstransfer im Fall der deut- schen Einheit überhaupt ein Problem der Evolu- tionstheorie? Wenn eine Tierart auf ein neues 2 Fragestellungen Territorium vordringt, zum Beispiel über eine Ich will es zunächst bei dieser Skizze der neu entstandene Landbrücke auf eine Insel wan- Ausgangsbedingungen und Ereignisse belassen. dert, ist das für die Theorie der biologischen Denn es geht mir im Folgenden nicht um eine Evolution kein Erklärungsproblem. Es stellt sich detaillierte Beschreibung der Transformation der nicht die Frage, wie sich auf der bisher nicht

13 Hubert Rottleuthner u. a., 15 Zur Diskussion über die Einfüh- verwaltung vor den Kommunal- Steuerung der Justiz in der DDR, rung subjektiver Rechte und ihres wahlen vom 6.5.1990, LKV 1991, Köln 1994; Inga Markovits,Die Schutzes durch Verwaltungsge- 68 ff. (70 f.). Abwicklung. Ein Tagebuch zum richte in der DDR siehe Woll- 18 Gerhard Schulze,Verwaltungs- Ende der DDR-Justiz, München mann (Fn. 9) 26 f. personal und Verwaltungsausbil- 1993, 108 ff.; Wollmann (Fn. 9) 16 Felix Mühlberg, Bürger, Bitten dung, in: Verwaltungsstrukturen 25 f. und Behörden. Geschichte der der DDR, hg. von Klaus König, 14 Gesetz über die Zuständigkeit und Eingabe in der DDR, Berlin 2004. Baden-Baden 1991, 147 ff. (148). das Verfahren der Gerichte zur 17 Wolfgang Bernet u. Helmut Nachprüfung von Verwaltungs- Lecheler, Die DDR-Verwaltung entscheidungen – GNV – vom im Umbau, Regensburg 1990, 40; 14.12.1988 (GBl. DDR I, 327). dies., Zustand einer DDR-Stadt- Debatte Manfred Aschke 16

besiedelten Insel in kurzer Zeit eine neue Tierart noch offenen Fragen ohne Gefahr von Missver- entwickeln konnte. Sie hat sich nicht dort ent- ständnissen als »blind« bezeichnet werden, weil wickelt, sondern woanders, und ist dann fertig Bewusstsein an ihm in der Tat keinen Anteil hat. eingewandert. Nicht anders verhält es sich offen- Das ist bei der Evolution sozialer Systeme bar mit dem Rechtstransfer bei der Vereinigung anders. Grundelement sozialer Systeme und zu- der deutschen Staaten. Das neue Recht ist fix und gleich Einheit der Variation sozialer Systeme ist fertig in das Gebiet der ehemaligen DDR »ein- die Kommunikation. An Kommunikation aber gewandert«. ist Bewusstsein beteiligt, zumindest in dem von Damit würde man es sich aber wohl zu leicht Luhmann vielfach beschriebenen Sinn, dass die machen. Denn das Bild von der Tierart, die ein Autopoiese von Kommunikation das gleichzeiti- neues Territorium besiedelt, ist schief; zumindest ge kommunikative Handeln von Menschen und ist im Fall der »Einwanderung« von Recht in ein damit Bewusstsein in ähnlicher Weise voraus- Gebiet, in dem es bisher nicht gegolten hat, setzt, wie Denken ohne Gehirntätigkeit nicht unklar, wie Recht »wandern« kann. Jedenfalls möglich wäre.20 Deshalb stellt sich die Frage, spielt dabei offensichtlich die Gesetzgebung eine ob die Metapher der »blinden« Variation auch entscheidende Rolle, und damit eine Institution, für die um das Grundelement der Kommunika- die auch jenseits von Vorgängen, die wir als tion herum gebaute eigenständige, von der bio- Transfer bezeichnen würden, grundlegende Be- logischen Evolution zu unterscheidende Evo- deutung für Veränderungen des Rechts besitzt. lution sozialer Systeme passt. Ich habe den Die Gesetzgebung zur deutschen Einheit ist inso- Eindruck, dass diese Metapher hier mehr Ver- weit ein in seinen Dimensionen extremer Sonder- wirrung als Klarheit stiftet. fall von Gesetzgebung, der uns in verschärfter Meine These lautet: Individuelles Bewusst- Form vor die Frage stellt, wie das Phänomen der sein ist nicht der Träger von Variation in der Gesetzgebung mit Evolutionstheorie, u. a. mit Evolution sozialer Systeme, wohl aber ihr wich- dem evolutionstheoretischen Konzept der »blin- tigster Auslöser. Zugleich behaupte ich, dass denVariation«vereinbarist. diese Annahme die Schlüssigkeit des theoreti- Ich halte den Begriff der »blinden« Variation schen Konzepts der Evolution sozialer Systeme im Kontext der Theorie sozialer Evolution aller- nicht infragestellt. Zur Vermeidung von nahe dings nicht für glücklich.19 Für die Bedeutung liegenden Missverständnissen bedarf es einer des Zufalls in der biologischen Evolution vermag Klarstellung: Die These, dass Bewusstsein der er als treffende Metapher zu dienen. Er bringt wichtigste Auslöser für Variation in der Evolu- zum Ausdruck, dass bei der biologischen Evolu- tion sozialer Systeme ist, darf nicht mit der ganz tion kein Schöpfer sehenden Auges die Entwick- anderen Vorstellung verwechselt werden, wo- lung der Arten plant und steuert. Das ist der nach das Individuum »Träger« oder »Einheit« notwendige Kontrapunkt zu der von der Evo- der Variation sozialer Systeme sei.21 Einheit der lutionstheorie abgelösten Vorstellung der gött- Variation in der Evolution sozialer Systeme ist lichen Schöpfung der Artenvielfalt. Der Mecha- auf systemtheoretischer Grundlage die Kommu- nismus der Variation in der biologischen Evo- nikation. Variation findet insofern grundlegend lution, insbesondere die genetische Mutation, im Kommunikationssystem statt und ist nicht kann ungeachtet aller im Einzelnen auch hier mit den Operationen des Bewusstseins identisch.

19 Vgl. auch Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997, 463 mit Anm. 97. 20 Siehe etwa Luhmann (Fn. 19) 103. 21 Zur Kritik an dieser individualis- tischen Vorstellung Luhmann (Fn. 19) 456 ff. m. w.N. in Anm. 86 und 87. Rg7/2005 Einheit 17

Es geht hier also nur um die These, dass Varia- nelles denken und dafür auch eine sprachlich tion von Kommunikation durch bewusstes Han- gelungene Form finden, in der sie es mit der deln von Individuen ausgelöst wird. Damit ist die Aussicht, verstanden zu werden, in soziale Kom- Frage noch nicht beantwortet, welche Wahr- munikation einbringen? Voraussetzung dafür, scheinlichkeit dafür besteht, dass die Vorstellun- dass Bewusstsein zu Variationen im Kommuni- gen und Intentionen, die das Individuum mit kationssystem führen kann, ist die Aufnahme- seinen Aktivitäten verbindet, sich über die Stufen fähigkeit von Kommunikation für Variationen, der Variation und der Selektion in der Evolution die von menschlichem Bewusstsein angestoßen der sozialen Systeme hinweg durchsetzen kön- werden. Die wichtigsten Mechanismen der Va- nen. Stellt man die Frage so, unterscheidet man riation sind mit den Möglichkeiten der Sprache also scharf zwischen Auslösung und Durchset- gegeben, mit der Negation insbesondere, die es zung von Variation, dann erweist sich die auf der erlaubt, einen Sinnvorschlag abzulehnen,25 oder grundlegenden Unterscheidung der Operations- mit dem Modulcharakter der Sprache, der es systeme beruhende Skepsis der Systemtheorie erlaubt, vertraute Begriffe zu neuen Bedeutungen gegenüber den Möglichkeiten von bewusster zusammenzusetzen. Steuerung sozialer Evolution auch empirisch als Wenn wir aber das von menschlichem Be- durchaus plausibel.22 Zwischen subjektiver In- wusstsein getragene kommunikative Handeln als tention und Variation von Kommunikation fin- den wichtigsten Auslöser von Variation zulassen, det bereits eine »Vorselektion« durch die sym- muss die Frage gestellt werden, ob und in wel- bolischen Strukturen des Mediums Sprache und chem Sinn dann überhaupt von Evolution die die semantischen Strukturen des jeweiligen so- Rede sein kann. zialen Systems statt, die darüber entscheidet, ob Evolution setzt zum einen voraus, dass Va- ein Vorschlag überhaupt als Variation in das riation nicht in Abhängigkeit von den Strukturen Kommunikationssystem eingeht.23 des Systems erfolgt, in diesem Sinne also für das Wie kann man sich die zufälligen Ereignisse System Zufall ist. Variation unter vollständiger vorstellen, die zur Variation von Kommunika- Kontrolle des Systems wäre keine Innovation. tion führen? Man könnte in Analogie zur ge- Ein schlüssiges Evolutionskonzept setzt nach netischen Mutation an »Kopierfehler« denken, meiner Auffassung zweitens voraus, dass auch das würde heißen an Vorgänge wie Versprechen Selektion nicht in Abhängigkeit von den Struk- und Verschreiben, Verhören und Verlesen und an turen des Systems erfolgt, insoweit also ebenfalls das darauf beruhende oder auch sonst mögliche für das System Zufall ist.26 Selektion unter voll- Missverstehen, das die Fortsetzung von Kommu- ständiger Kontrolle des Systems würde zu Er- nikation prinzipiell in gleicher Weise ermöglicht starrung führen und Anpassung des Systems an wie das Verstehen. Es ist denkbar, dass beim Erfordernisse der Umwelt verhindern. In die- Verstehen ein Sinn entsteht, der bei der Auswahl sem letzteren Punkt setze ich mich allerdings in der Information nicht gemeint war. Aber ist es Widerspruch zu Luhmanns Annahme, dass es wirklich plausibel, Variation von Kommunika- jedenfalls in der Evolution sozialer Systeme aus- tion auf diese Fälle zu reduzieren?24 Können wir schließlich interne Selektion nach Selektionswer- ausschließen, dass Variation auch dadurch er- ten gibt, die Luhmann als »Strukturaufbauwert zeugt wird, dass Menschen etwas Neues, Origi- von Kommunikationsvarianten« umschreibt.27

22 Luhmann (Fn. 19) 463 mit Anm. Biologie diskutiert; siehe dazu die mechanismus sozialer Systeme. 97 beruft sich auf den Test seiner Nachweise bei Luhmann (Fn. 19) 26 Dazu Manfred Aschke,Kom- skeptischen These am Fall der 457 mit Anm. 88. munikation, Koordination und »zunächst in ihrer Intention und 24 Vgl. dazu Luhmann (Fn. 19) 459: soziales System. Theoretische Planmäßigkeit beeindruckenden« Gelegentliches Sichversprechen, Grundlagen für die Erklärung der Erfindung von Verfassungen in: Schreib- oder Druckfehler seien Evolution von Kultur und Gesell- ders., Verfassung als evolutionäre viele zu seltene und belanglose schaft, Stuttgart 2002, 150 ff., Errungenschaft, in: Rechtshistori- Vorfälle, als dass sie einer Gesell- 284 ff. sches Journal 9 (1990) 176 ff. schaft ausreichende Selektions- 27 Luhmann (Fn. 19) 454. 23 Eine solche Vorselektion im Aus- chancen eröffnen könnten. probieren von Anstößen für gene- 25 Darin sieht Luhmann (Fn. 19) tischeVariationwirdauchinder 459 ff. den wichtigsten Variations- Debatte Manfred Aschke 18

Und Evolution setzt zum dritten voraus, dass tionstheorie auf kulturelle Veränderungen im Variation und Selektion unabhängig voneinan- Sinne eines Universellen Darwinismus strikt ab. der erfolgen, dass es ein systematisches Feedback In diesem Kontext stellt er als einen wesentlichen zwischen Selektion und Variation, eine Verände- Unterschied zwischen biologischer und kultu- rung in Abhängigkeit von den Resultaten der reller Evolution heraus, dass das entscheidende Selektion nach dem Muster des Lamarckismus Abgrenzungsmerkmal der Darwinschen Evolu- nicht gibt. Denn wenn Variation vom Selektions- tionstheorie die Abwesenheit eines systemati- mechanismus gesteuert würde, gäbe es keine schen Feedbacks zwischen Selektion und Varia- Innovation. Das für die Evolution charakteristi- tion sei, ein solches Feedback aber für die sche unberechenbar-kreative Moment würde ökonomische Evolution gerade charakteristisch fehlen. Es gäbe nichts als Anpassung, die unmit- sei. Denn ökonomische Evolution beruhe da- telbar auf das System durchschlagen würde. rauf, dass Menschen Auswege erfinden, wenn Aber Evolution ist entgegen einem vielfach be- sie von Selektionszwängen bedroht würden.29 stehenden Missverständnis nicht einfach Anpas- Witts Beobachtung halte ich empirisch für sung. Umgekehrt gilt nach meiner Auffassung plausibel. Aber seine Schlussfolgerung, wegen aber auch, dass von Evolution nur die Rede sein der Beteiligung von Bewusstsein an den Pro- kann, wenn die Selektion unabhängig vom Va- zessen kultureller und sozialer Veränderung, we- riationsmechanismus erfolgt. Denn anderenfalls gen der bewussten Suche nach Lösungen für gäbe es keine wirkungsvolle Selektion, keinen Selektionskrisen und wegen der gezielten Erfin- »Bewährungstest« nach differenziellen Wertkri- dungen zu ihrer Bewältigung seien die evolutio- terien, sondern ein unmittelbares Durchschlagen nären Prinzipien von Variation, Selektion und der Variation auf die Resultate des Prozesses. Retention für die Beschreibung und Erklärung Auch dies wäre keine Evolution. Evolution ist kultureller und sozialer Evolution ungeeignet, ist Auswahl aus einem Spektrum von Variationen. dann nicht stichhaltig, wenn man mit der Sys- Sie hat begrenzende Wirkung und bringt diffe- temtheorie in der von Luhmann geforderten renzielle Bewährungskriterien zur Geltung. Va- Konsequenz scharf zwischen Kommunikation riation und Selektion halten sich also wechsel- und Bewusstsein als eigenständigen, jeweils sys- seitig in einer Balance, und das ist nur möglich, temisch geschlossenen Operationsformen unter- wenn sie unabhängig voneinander erfolgen. scheidet.30 Denn dann verändern sich auch die An dieser Stelle ist ein kurzer Seitenblick auf Perspektiven für die Frage nach der wechselseiti- die evolutionstheoretische Argumentation von gen Unabhängigkeit von Variation und Selektion Ulrich Witt aufschlussreich. Witt vertritt einen in der Evolution sozialer Systeme. Ich will das im eigenständigen Ansatz der evolutionären Öko- FolgendenindergebotenenKürzeskizzieren: nomie (»Kontinuitätshypothese«).28 Er spricht Bewusstsein ist für Kommunikation Um- zwar auch von einer in die Resultate der biologi- welt, und umgekehrt gilt das Gleiche. Als der schen Evolution eingebetteten und auf ihnen Berner Patentamtsangestellte Albert Einstein die aufbauenden Evolution der Ökonomie, aber er Relativitätstheorie erfand, war das für das Kom- lehnt eine Übertragung der (Neo-)Darwinschen munikationssystem Wissenschaft Zufall. Hätte Prinzipien von Variation, Selektion und Reten- die etablierte Physik, um mit einer Wendung tion/Replikation aus der biologischen Evolu- Luhmanns zu sprechen,31 in das Gehirn von

28 Ulrich Witt, Individualistische schaft bei L. Jonathan Cohen, Grundlagen der evolutorischen Is the Progress of Science Evolu- Ökonomik, Tübingen 1987; tionary?, in: British Journal for the ders., The Evolving Economy, Philosophy of Science 1973, 41 ff. Cheltenham 2003. (47 f.). 29 On the Proper Interpretation of 30 Grundlegend Niklas Luhmann, »Evolution« in Economics and its SozialeSysteme,2.Aufl.,Frank- Implications, e. g., for Production furt am Main 1988, 191 ff., Theory, Manuskript (2004), 5. 346 ff.; ders.(Fn.19)92ff.,105. Eine ähnliche Argumentation fin- 31 Luhmann (Fn. 19) 105. det sich zum Beispiel für den Kon- text der Evolution der Wissen- Rg7/2005 Einheit 19

Einstein hinüberdenken und Einsteins Gedanken derart komplexen Kommunikationsprozessen, kontrollieren können, hätte sie dem jungen Al- wie sie im Zuge der deutschen Einheit stattge- bert Einstein seine Ideen schon in der Entstehung funden haben, wirkt eine Vielzahl von mit Be- ausgeredet. Als Einstein seine spezielle Relativi- wusstsein begabten Menschen mit. Die Vorstel- tätstheorie 1905 veröffentlichte, war das (sc.: die lung, dass ein Einzelner in der Lage gewesen Veröffentlichung, nicht schon die Ideen dafür in wäre, diesen Ablauf zu steuern, verbietet sich Einsteins Gehirn) eine Innovation im Kommu- von selbst. Selbst dem »Kanzler der Einheit« nikationssystem Wissenschaft. Ob die Wissen- trauen wir eine solche Leistung nicht zu. Wenn schaft diese neuen Ideen als Variation aufgreifen Kommunikation ein Vorgang ist, der die Selek- und ob sie sich als allgemein anerkannte Theorie tionen der Information, der Mitteilung und des durchsetzen würden, war zu diesem Zeitpunkt Verstehens umfasst, kann schon von den Grund- noch offen. Und es hat immerhin 14 Jahre lang elementen der Kommunikation her individuelles gedauert, bis britische Wissenschaftler im Jahr Bewusstsein keine Kontrolle über Kommunika- 1919 bei einer totalen Sonnenfinsternis den ers- tion erlangen. Kommunikation führt für die ten empirischen Bewährungstest für die Relativi- beteiligten Individuen immer wieder zu Überra- tätstheorie erbrachten und ihr damit zu welt- schungen. Bei der Vereinigung der deutschen weiter Bekanntheit verhalfen. Unumstritten war Staaten war das nicht anders. Und auch bei die Relativitätstheorie deshalb in der Physik politischen Systemen, die institutionell auf einen noch lange nicht. charismatischen Führer eingeschworen sind, Das Maß an Unabhängigkeit und Uner- wird man das nicht anders sehen können. Bei schrockenheit des Denkens, das Einstein ausge- genauerer Betrachtung zeigt sich, dass auch der zeichnet hat, ist sicherlich ein Sonderfall. Aber charismatische Führer eine soziale Konstruktion auch für weniger geniale Menschen gilt, dass das ist, die vielleicht ohne die konkrete individuelle individuelle Bewusstsein nicht durch soziale Sys- Person nicht denkbar wäre und ihr außerge- teme gesteuert und kontrolliert wird. wöhnliche Wirkungschancen eröffnet, die aber Aber wie sieht es umgekehrt aus? Ist indivi- jedenfalls nicht mit ihr identisch, sondern Pro- duelles Bewusstsein in der Lage, soziale Systeme dukt komplexer Kommunikationsvorgänge ist. zu steuern? Hat nicht der Gesetzgeber bei der Wie steht es nun mit der Unabhängigkeit der deutschen Einheit eine komplette Rechtsordnung Selektion? Luhmann nimmt in dieser Hinsicht errichtet, die dann im Wesentlichen so, wie er an, dass es jedenfalls in der Evolution sozialer sich das vorgestellt hat, auch funktioniert? Die Systeme so etwas wie externe Selektion mit der Systemtheorie schließt Beziehungen von Kon- Folge einer Anpassung an Strukturen der Um- trolle und Steuerung in beiden Richtungen aus. welt nicht gebe.32 Nimmt man dagegen an, dass Individuelles Bewusstsein kann Kommunika- auch für soziale Systeme ein externer Bewäh- tionssysteme nur irritieren oder anregen, nicht rungsdruck besteht, dass also Kommunikation steuern oder kontrollieren. Man muss allerdings und Kommunikationsvarianten sich in ihrer Um- die Differenzen, die von der Systemtheorie zu- welt, in ihrer »ökologischen Nische« sozusagen, grundegelegt werden, genau beachten. Bewusst- bewähren müssen,33 dann wird einerseits deut- sein ist immer das Bewusstsein einzelner Men- lich, dass die Kriterien, nach denen Erfolg oder schen. An Kommunikation, insbesondere an Misserfolg bewertet werden, von Umweltfakto-

32 Luhmann (Fn. 19) 431 ff., 473 ff., 477. 33 Manfred Aschke (Fn. 26), ins- bes. 150 ff. 284 ff. Debatte Manfred Aschke 20

ren abhängig sind und nicht vom Kommuni- schaftsbeziehungen, ihrer Veränderung und ihrer kationssystem selbst beherrscht werden. Das Zweckmäßigkeit war, dass die Eigenschaften, die Rechtssystem konnte zwar nach seinen Kriterien der individuelle Organismus in der Auseinander- entscheiden, dass das Verwaltungsrecht der alten setzung mit den Lebensbedingungen in seiner Bundesrepublik seit dem 3. Oktober 1990 auch Umwelt erworben hat, in die Erbinformation auf dem früheren Staatsgebiet der DDR Geltung eingehen und auf die nächste Generation vererbt beansprucht. Aber es kann nicht darüber ent- werden. Diese These konnte empirisch nicht be- scheiden, ob es von den Bürgern in den neuen stätigt werden. Die Darwinsche Evolutionstheo- Ländern akzeptiert, ob es befolgt und praktisch rie setzt eine solche Vererbung erworbener Ei- umgesetzt wird. Es kann die Bedingungen für genschaften nicht voraus. Sie geht im Gegenteil eine solche Akzeptanz verbessern, aber es kann von der Annahme der ungerichteten, zufälligen die Akzeptanz nicht selbst gewährleisten. Veränderung der genetischen Information aus, Andererseits stellt sich auch hier das Prob- die später durch die Entdeckung der molekular- lem, dass zur Kommunikationsumwelt das Be- genetischen Mechanismen der Mutation bestä- wusstsein menschlicher Individuen gehört. Wenn tigt worden ist. Die daraus resultierende spe- aber Bewusstsein sowohl an Variation als auch zifische Struktur der biologischen Evolution an Selektion beteiligt ist, bestätigt sich dann gewährleistet zweierlei:34 Zum einen sorgt sie nicht doch, auch unter systemtheoretischen Vor- dafür, dass die Variationsbreite des Genpools zeichen, dass es den von Ulrich Witt konstatier- einer Art sich nur langsam verschiebt und be- ten bewussten Ausweg aus Selektionskrisen und grenzt bleibt; würde jede individuell erworbene damit ein systematisches Feedback zwischen Se- Eigenart sich in der Erbinformation niederschla- lektion und Variation gibt? gen, wäre die genetische Einheit der Art schnell Um diese Frage zu beantworten, möchte ich bedroht. Zum anderen schützt sie die genetische zunächst eine weitere Unterscheidung einführen, Stabilität der Art vor einem Verlust der im lang- und zwar eine Unterscheidung, die für die bio- fristigen Durchschnitt bewährten Eigenschaften logische Evolutionstheorie als grundlegend gilt, durch eine schnelle Anpassung an kurzfristige die aber nach meiner Auffassung auch für eine Schwankungen der Umweltbedingungen. Ein Theorie der Evolution sozialer Systeme unver- spezifisches Merkmal von Evolution ist also die zichtbar ist. Die biologische Evolutionstheorie Unabhängigkeit der Übertragung und Innova- unterscheidet bekanntlich zwischen Genom und tion der langfristig für die Stabilität einer Art Soma oder zwischen Genotyp und Phänotyp. bedeutsamen genetischen Information von der Das Gen ist die grundlegende Einheit, die für Anpassungsleistung, die der individuelle Orga- die Übertragung (Reproduktion) und Innovation nismus unter den räumlich variierenden und der genetischen Information sorgt. Der indivi- kurzfristig schwankenden Bedingungen seiner duelle Organismus ist die grundlegende Einheit, jeweiligen Umwelt erbringen muss. die es ermöglicht, die genetische Information, Eine ähnliche Unterscheidung ist auch im deren Träger sie ist, der Bewährung in der Um- Rahmen einer Theorie der Evolution sozialer welt und damit der externen Selektion auszu- Systeme geboten.35 Kommunikation kann nur setzen. Die These Lamarcks zur Erklärung der dann ein operativ geschlossenes System bilden, beobachteten Vielfalt der Arten, ihrer Verwandt- wenn sie sich gegenüber der unmittelbaren Ko-

34 Siehe dazu insbesondere Gregory Bateson, Geist und Natur. Eine notwendige Einheit, Frank- furt a. M. 1987, 184 ff. 35 Siehe dazu Aschke (Fn. 26), ins- bes. 150 ff., 284 ff. Rg7/2005 Einheit 21

ordination von Handlungen in einer Interaktion, Abwicklung eines Kaufvertrages, für die die in die sie entstehungsgeschichtlich eingebettet Beteiligten vielleicht in ihrer konkreten Situation war, verselbständigt und auf der Grundlage sym- bessere Gründe als nur schlichte Unkenntnis bolischer Medien ein operatives »Eigenleben« des geltenden Rechts haben mögen, ohne wei- entwickelt. Die Kommunikationssysteme, die teres geltendes Recht wird und von nun an Luhmann beschreibt, bestehen aus Sinnopera- für künftige Vertragsgestaltungen zur Verfügung tionen. Sie sind, um mit einem Terminus von steht. Oder man könnte fragen, ob neue, bisher F.A. von Hayek zu sprechen, abstrakte Ordnun- nicht für zulässig gehaltene Vertragsgestaltun- gen.36 Sie stellen soziale Sinn-Modelle bereit und gen, die Unternehmen in Netzwerkstrukturen eröffnen damit Spielräume für konkrete indi- entwickeln, mit einem gewissen Automatismus viduelle, zugleich aber sozial koordinierte Hand- zu geltendem Recht werden, sobald sie sich in lungen. Diese »Koordinationen«, also etwa In- einem konkreten Fall bewährt haben. In den teraktionen, Organisationen, Institutionen oder beiden Beispielen, die das Recht betreffen, muss Netzwerke, entsprechen dem, was Hayek als man die Frage eindeutig verneinen. Im Fall des »konkrete Ordnung« bezeichnet. Erst die Koor- Rechts wird die Unabhängigkeit der abstrakt- dination erfolgt unter konkreten Umweltbedin- generellen Rechtsordnung von den Anpassungs- gungen, an bestimmten Orten, zu bestimmten leistungen der Rechtspraxis institutionell ge- Zeiten, mit den dort verfügbaren Ressourcen, sichert. Es bedarf einer Änderung der Gesetze mit dem Bewusstsein und den Handlungskom- oder der Rechtsfortbildung durch die Gerichte, petenzen der konkret entscheidenden und han- um Innovationen im geltenden Recht herbeizu- delnden Individuen. Am Gelingen der Koordi- führen. Der Grundsatz der Gewaltenteilung ge- nation entscheidet sich, wie sich ein Kommuni- währleistet diese Unabhängigkeit des Rechts von kationssystem in seiner »ökologischen Nische« den Anpassungsleistungen der konkreten Praxis bewährt. Die Koordination ist die Einheit der auch gegenüber Politik und Verwaltung. externen Selektion in der Evolution sozialer Sys- Meine Schlussfolgerung lautet: Selektions- teme. mechanismen und Variationsmechanismen un- Folgt man dieser Überlegung, dann kann terscheiden sich auch in der Evolution sozialer und muss man die Frage nach dem Verhältnis Systeme und sind voneinander unabhängig. Der von Selektion und Variation unter Einbeziehung Umstand, dass Menschen beobachten können, der Unterscheidung von Kommunikation und was sich in der Praxis bewährt und was nicht, Koordination präziser fassen. Es geht dann um dass sie daraus Schlussfolgerungen ziehen und die Frage, ob die Eigenschaften von Koordi- nach neuen Lösungen suchen können, die Varia- nationen, die unter dem Anpassungsdruck der tionen in sozialen Systemen auslösen können, Umwelt entstehen, die »erworbenen sozialen schließt eine hinreichende Trennung der Funk- Eigenschaften« also, unmittelbar als »Informa- tionen von Variation und Selektion nicht aus. tion« in das Kommunikationssystem zurückge- führt und als evolutionäre Errungenschaft sozu- 4 Das Gesetz und das Teilsystem Recht sagen »vererbt« werden.AmBeispieldesRechts hätte man etwa zu fragen, ob eine von zwin- Gegen die bisherigen Überlegungen kann gendem Kaufrecht abweichende Gestaltung und man nun einwenden, dass es bei einem Vorgang

36 Friedrich August von Hayek, Rechtsordnung und Handelns- ordnung, in: Zur Einheit der Rechts- und Staatswissenschaften. Ringvorlesung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br. im Wintersemester 1966/1967, Karlsruhe 1967, 195 ff. Debatte Manfred Aschke 22

wie der deutschen Einheit in der Tat nicht ernst- Weder im Sonderfall der Gesetzgebung zur haft darum gehen könne, ob ein Einzelner das deutschen Einheit noch im Normalfall einer Geschehen bewusst beherrscht habe, sondern kontinuierlichen Entwicklung des Rechts ist es vernünftigerweise nur um die Frage, ob ein ratsam, den empirischen Befund zu übersehen sozialer Akteur, der Gesetzgeber, das Recht ge- oder zu marginalisieren, dass die moderne Ge- zielt habe gestalten können. Die Überlegungen setzgebung ein höchst effizientes Instrument ist, des vorangehenden Abschnitts machen deutlich, mit dessen Hilfe die Politik den Operationen des dass es bei dieser Frage trotz der personalisie- Rechtssystems Vorgaben machen kann, zwar renden Rede von »dem Gesetzgeber« in system- nicht für die Wahl seiner Leitdifferenz, die Unter- theoretischer Perspektive bereits darum geht, ob scheidung von Recht und Unrecht, wohl aber für ein Teilsystem der Gesellschaft, die Politik, mit seine Entscheidungsprogramme. Aber bedeutet dem Mittel des Gesetzes ein anderes Teilsystem, das, dass die Politik auf dem Weg über Gesetze das Recht, steuern kann. Wenn »dem Gesetz- das Recht beherrscht oder kontrolliert? geber« so etwas wie ein kollektiver Wille zu- Marc Amstutz gibt darauf die folgende Ant- geschrieben wird, empfiehlt die Systemtheorie, wort: »In diesem Punkt spricht die in der juristi- genauer hinzusehen: Es ist einer ihrer großen schen Methodenlehre schon fast zur Leier ver- Vorzüge, dass sie Begriffe von kollektiven We- kommene Feststellung, dass das Gesetz das senheiten wie »das Volk«, »der Volkswille« oder Entscheidungsverhalten des Richters nicht zu eben auch »der Wille des Gesetzgebers« dekon- determinieren vermag, eine klare Sprache: Mit struiert und auf klaren begrifflichen Unterschei- der Autopoiese des Rechts interferiert das Gesetz dungen für individuelle und soziale Operations- nicht (das wäre nur der Fall, wenn sich die formen besteht. herkömmliche Vorstellung der ›Bindung des Für die neuere Systemtheorie sind auch die Richters an das Gesetz‹ hätte verwirklichen las- ausdifferenzierten Teilsysteme wie Politik, Recht, sen). Für das Rechtssystem ist das Gesetz eben Wirtschaft oder Wissenschaft autopoietische ausschließlich ein ›Bereich‹, in dem ›Möglich- Systeme, die sich deshalb einer Steuerung durch keiten gespeichert (sind), die das System verwen- andere Teilsysteme entziehen. Ist der umfang- den kann, die es in Information transformieren reiche Rechtstransfer im Zuge der deutschen kann‹.«37 Aber wozu braucht das Recht dann Einheit nicht ein schlagendes Gegenbeispiel, ein das Gesetz? Amstutz bietet zwei Argumente an: empirischer Beleg dafür, dass Gesetzgebung das Zum einen sagt er, das Recht verschaffe sich Recht umfassend gestalten kann? Neu ist die mit dem Gesetz als Legitimationsgrundlage sei- Frage nach der Gestaltungskraft des Gesetzes ner Entscheidungen etwas, was es sich selber nicht. Neu sind allerdings die Ausmaße und die nicht verschaffen kann; die Machtressourcen Radikalität der Umgestaltung des Rechts. Und der Politik können in der Rechtskommunikation ganz anders, als das bei einer kontinuierlichen symbolisch als jederzeitige Durchsetzbarkeit des Entwicklung des Rechts der Fall ist, stellt sich Rechts in Anspruch genommen werden. Ich auch die durch die Implosion der DDR-Gesell- möchte dieses Argument für das Recht in der schaft entstandene Ausgangssituation dar. Ge- parlamentarischen Demokratie gerne ergänzen: setzgebung ist hier ein Mittel zur Bewältigung Das Recht kann auch die Verantwortung für eines gesellschaftlichen Umbruchs. seine Entscheidungen zu einem erheblichen Teil

37 Marc Amstutz,DasGesetz,in: Figures juridiques / Rechtsfiguren. K(l)eine Festschrift für Pierre Ter- cier, Zürich, Basel, Genf 2003, 155 (162 f.); das Zitat im Zitat stammt von Niklas Luhmann, Einführung in die Systemtheorie, Frankfurt 2002, 121. Rg7/2005 Einheit 23

an die Politik delegieren. Es nimmt mittelbar die die Rechtsprechung an Gesetz und Recht (in demokratische Legitimation des Gesetzes für dieser Reihenfolge) gebunden ist. Schließlich sagt seine Entscheidungen in Anspruch und kann Art. 97 Abs. 1 GG: »Die Richter sind unabhän- darauf verweisen, dass das Parlament als Reprä- gig und nur dem Gesetz unterworfen.« Heißt das, sentant des Volkes grundlegende Entscheidun- dass die auf die Theorie der Autopoiese gestützte gen nach demokratischen Regeln getroffen habe. Behauptung, das Recht bleibe frei, ob es das Das trägt dem für das moderne Recht kenn- Gesetz beachte, mit geltendem Recht unverein- zeichnenden Umstand Rechnung, dass das Recht bar ist? längst über die wenigen Grundvorschriften hi- Hier soll nur auf zwei Aspekte hingewiesen nausreicht, die man als zwingende Forderungen werden. Zwischen der normativen Frage (gilt im der Gerechtigkeit verstehen könnte. Um es banal Recht die Bindung an das Gesetz?) und der auszudrücken: welche Emissionsgrenzwerte für soziologischen Frage (beherrscht die Politik mit- bestimmte Betriebe gelten sollen, kann nach den hilfe des Gesetzes das Recht?) ist scharf zu unter- eigenen Maßstäben des Rechts nicht eindeutig scheiden. Es kann keinem Zweifel unterliegen, entschieden werden. Solche Fragen sind für dass das Recht der Bundesrepublik Deutschland das Recht eigentlich unentscheidbar. Deshalb wie überhaupt das moderne Recht sich normativ, braucht es, wenn es in diesem Bereich gleichwohl also nach seinen eigenen Maßstäben, auf die fürdieEntscheidungvonKonflikteninAn- Beachtung des demokratischen Gesetzes ver- spruch genommen wird, gesetzliche Grundlagen. pflichtet hat. Aber: Diese Bindung an das Gesetz Andernfalls wäre es schnell überfordert und ist eine Entscheidung des Rechts. seine spezifische Autorität würde im politischen Und zweitens: Die Möglichkeit, dem Recht Streit untergehen. durch Gesetzgebung Entscheidungsprogramme Das zweite Argument von Amstutz lautet: vorzugeben, ist an eine enge wechselseitige struk- Das Recht hält sich mit Hilfe des Gesetzes die turelle Kopplung gebunden. Im Gesetzgebungs- Politik auf Distanz. Ich möchte auch dieses Argu- prozess stellen Heerscharen von juristisch gut ment ergänzen: Die Politik kann eben nur in der ausgebildeten Ministerialbeamten sicher, dass Form des Gesetzes und damit grundsätzlich nur nur solche Entscheidungsprogramme in Geset- in der Form abstrakt-genereller Entscheidungs- zesform gegossen werden, die sich in die Spra- programme, die dem Recht seine eigene Opera- che, in die grundlegenden Strukturen und die tionsweise belässt, auf das Recht einwirken. Am- Systematik der jeweiligen Rechtsmaterie einfü- stutz sagt dazu nun Folgendes: »es (das Recht) gen. Etwas überspitzt könnte man sagen: Gesetz bleibt frei, das Gesetz zu beachten (d. h. anzu- kann nur werden, was auch ein mutiges Gericht wenden) oder nicht (die Autopoiese des Rechts im Wege der Rechtsfortbildung entscheiden steht eben »orthogonal« zum Gesetz).«38 Bei könnte. Wenn das politische System die Eigen- diesem Satz zucke ich allerdings ein wenig zu- werte und die Strukturen des Rechts nicht aus- sammen als Richter, der einen Amtseid abgelegt reichend beachtet, kann das zu erheblichen und dabei geschworen hat, das Richteramt »ge- Irritationen führen. Aber auch das Recht ist treu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik seinerseits auf die Beachtung des Gesetzes pro- Deutschland und getreu dem Gesetz auszu- grammiert. Die Gerichte betreiben hohen Auf- üben«.39 UndinArt.20Abs.3GGheißtes,dass wand, um für die Begründung ihrer Entscheidun-

38 Ebenda 163. 39 § 38 des Deutschen Richter- gesetzes. Debatte Manfred Aschke 24

gendiegesetzlichenGrundlageninAnspruchzu dung spezialisierter Entscheidungsprogramme nehmen, übrigens im kontinentaleuropäischen und Entscheidungsroutinen erleichtert. Anderer- Recht viel ausgeprägter als in der angloamerika- seits führt die Professionalisierung dann wieder nischen Rechtstradition. zur weiteren Systematisierung und Verfeinerung Einfache gedankliche Konzepte von einseiti- dieser Entscheidungsprogramme. ger Kontrolle des Rechts durch die Politik sind Das bedeutet aber auch, dass Umsetzung daher ebenso unangemessen wie Konzepte, die und Durchsetzung neuen Rechts zunächst von die Möglichkeiten wechselseitiger Einflussnah- der Einbindung professionell kompetenter me zwischen sozialen Teilsystemen wie Politik Rechtsstäbe abhängig sind, also im Fall des Ver- und Recht völlig ausblenden. Die theoretische waltungsrechts von Verwaltungsbeamten und Bewältigung dieser wechselseitigen Einflussnah- -angestellten, von Rechtsabteilungen der Unter- me durch System- und Evolutionstheorie hängt nehmen, von rechtsberatenden Berufen und In- offenbar entscheidend vom Konzept der struktu- stitutionen (Rechtsanwälte, Kommunalverbän- rellen Kopplung ab, auf das nun einzugehen ist. de), aber auch von Rechtsprofessoren, und na- türlich von Richtern. In dieser Hinsicht stellt die deutsche Einheit einen Sonderfall dar. Wider- 5 Strukturelle Kopplung stände von Richtern, wie sie Gunther Teubner Wie ist es möglich, dass ein derart umfas- eindrucksvoll im Fall des Umgangs britischer sender Austausch der gesamten Rechtsordnung Richter mit gemeinschaftsrechtlichen Postulaten und insbesondere die nahezu vollständige Über- von Treu und Glauben beschrieben hat,40 hat es tragung des in der DDR unbekannten und von gegenüber dem neuen Verwaltungsrecht nicht ihrem Verwaltungsrecht grundlegend verschie- gegeben. Und das ist auch nicht sehr überra- denen Verwaltungsrechts der BRD praktisch um- schend, wurden die Verwaltungsrichter doch fast gesetzt wird? Oder, in evolutionstheoretischer ausnahmslos aus dem Westen rekrutiert. Wendung, wie konnte sich der politisch gewollte Aber wie sieht es mit der Verwaltung aus? Rechtstransfer in der aus den Hinterlassenschaf- Dazu zunächst eine Beobachtung, die ich auf ten der DDR bestehenden ökologischen Nische Grund meiner richterlichen Tätigkeit am Ober- einnisten und überleben? Waren die erforderli- verwaltungsgericht in Weimar seit 1993 machen chen strukturellen Kopplungen latent schon vor- konnte. Ich hatte dort im Schwerpunkt baurecht- handen? Wenn nicht, wie konnten sie schnell liche Verfahren zu bearbeiten. Die Verwaltungs- genug entstehen? verfahren und die Bescheide der Bauaufsichts- behörden, die Gegenstand von gerichtlichen 5.1 Die Verwaltung Verfahren waren, steckten in den ersten Jahren Die Entstehung funktionaler Teilsysteme nach der Wende voller krasser Fehler, darunter in der modernen Gesellschaft wird, wie bereits vielfach Fehler, die deutlich machten, dass es den Max Weber beobachtet hat, typischerweise von Bearbeitern schon am Verständnis elementarer der Herausbildung professioneller Akteure be- Grundlagen fehlte. Nach meiner Beobachtung gleitet. Diese Professionalisierung wird einer- besserte sich dies aber binnen weniger Jahre. seits dadurch ermöglicht, dass die Ausbildung Waren Bescheide aus den Jahren 1990 oder einer spezifischen Leitdifferenz die Herausbil- 1991 in der Regel katastrophal, so wurden die

40 Gunther Teubner, Rechtsirri- tation. Zur Koevolution von Rechtsnormen und Produktions- regimes, in: Moral und Recht im Diskurs der Moderne. Zur Legiti- mation gesellschaftlicher Ord- nung, hg. von Günter Dux und Frank Welz, Opladen 2001, 351 ff. Rg7/2005 Einheit 25

Bescheide in den Folgejahren deutlich professio- die Verwaltungsgerichte viel zur allmählichen neller und besser. Sie waren bald schon in der Verbesserung der Qualität der Behördenent- äußeren Form und in der Sprache akzeptabel, in scheidungen beigetragen haben.42 Unter ande- der Sache entsprachen die Begründungen zu- rem lässt sich beobachten, dass die Verwaltungs- nehmend guten fachlichen Standards. Die Zahl gerichte in den neuen Ländern ihre Entschei- der Behördenentscheidungen, die fehlerfrei und dungen oft erheblich umfangreicher begründet formvollendet waren, nahm deutlich zu. Eine im haben, als dies üblich ist, dass sie gewissermaßen Jahr 2003 erschienene empirische Studie zum kleine Lehrbücher und umfangreiche Hinweise Gesetzesvollzug durch die unteren staatlichen für die Praxis in ihre Entscheidungen hineinge- Bauaufsichtsbehörden in Ostdeutschland bestä- schrieben haben.43 tigt diesen Eindruck.41 Danach hat sich die Ein geradezu konträres Bild bietet sich aber juristische Qualität der Bescheide der unteren in einem anderen Bereich der öffentlichen Ver- staatlichen Bauaufsichtsbehörden, gemessen an waltung, mit dem ich seit 1998 am Thüringer den von den Gerichten beanstandeten Fehlern, Oberverwaltungsgericht befasst bin, bei den im Laufe der 90er Jahre stetig verbessert. Sie hat für die Wasserversorgung und Abwasserbeseiti- inzwischen das Niveau westdeutscher Bauämter gung zuständigen kommunalen Zweckverbän- erreicht. Sofern sich überhaupt noch Unterschie- den. Ganz kurz zur Geschichte:44 Die Aufgaben de feststellen lassen, liegen sie eher darin, dass der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung ostdeutsche Behörden das geltende Recht strikter wareninderDDRvondenVolkseigenenBe- anwenden, während westdeutsche Behörden in trieben Wasser/Abwasser (VEB WAB) wahrge- Einzelfällen flexibler entscheiden. Ein Grund für nommen worden, deren Zuständigkeit jeweils diese Entwicklung liegt darin, dass Schnelligkeit das Gebiet von ein oder zwei Landkreisen um- und Zuverlässigkeit der behördlichen Entschei- fasste. Diese VEB WAB verfügten über gutes dung über Anträge auf Erteilung von Bauge- technisches Personal. Dagegen war zum Zeit- nehmigungen in den ersten Jahren nach der punkt der Wende in den VEB WAB verständ- Wende allgemein als entscheidende Vorausset- licherweise kein Personal vorhanden, das über zungen für zügige Investitionen und damit für die nunmehr erforderlichen juristischen und den Aufbau in den neuen Ländern angesehen betriebswirtschaftlichen Qualifikationen verfügt wurden. Der Ausstattung der staatlichen Bau- hätte. Nach der Wende wurden die Aufgaben der aufsichtsämter mit ausreichendem und hinrei- Wasserversorgung und der Abwasserbeseitigung chend qualifiziertem Personal wurde deshalb entsprechend dem Vorbild der Bundesrepublik besondere Beachtung geschenkt. In den Landes- und entsprechend den neuen und zwingenden bauordnungen wurde die ausreichende Ausstat- verfassungsrechtlichen Vorgaben den Städten tung mit qualifiziertem Personal sogar gesetzlich und Gemeinden übertragen. Dort gab es das vorgeschrieben. Dabei wurde nicht nur auf qua- Verwaltungspersonal der Räte der Städte und lifizierte Bauingenieure, Architekten und Stadt- Gemeinden aus DDR-Zeiten (Zur Erinnerung: planer Wert gelegt, sondern auch auf qualifizier- DDR-weit einschließlich der Kreise 731 juristi- te Juristen. Ein zweiter Aspekt ist die Wirkung sche »Kader«). Das Amt des Bürgermeisters der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte. wurde nach der Wende in der Regel von Men- Sabine Kuhlmann kommt zu dem Ergebnis, dass schen wahrgenommen, die politisch aus DDR-

41 Sabine Kuhlmann, Rechtsstaat- »Legalitätskontrolle«, in: LKV toleranz des Verwaltungsrechts, liches Verwaltungshandeln in 2003, 543. in: Neue Zeitschrift für Verwal- Ostdeutschland. Eine Studie zum 43 Nach meiner eigenen Erfahrung ist tungsrecht(NVwZ)(2003)917 Gesetzesvollzug in der lokalen neben den schriftlichen Urteils- (918 f.). Bauverwaltung, Berlin 2003; siehe begründungen vor allem die oft dazu auch die Besprechung von sehr eingehende Erörterung von Krautzberger, in: LKV 2004, Rechtsfragen in mündlichen Ver- 506. handlungen und Erörterungster- 42 Verwaltungsgerichtsbarkeit und minen von den Behörden »gerne kommunaler Gesetzesvollzug in angenommen worden.« Ostdeutschland: zwischen »Auf- 44 Vgl. auch Manfred Aschke, bauhilfe«, »Rechtsberatung« und Transformationslast und Fehler- Debatte Manfred Aschke 26

Zeiten nicht diskreditiert waren, die aber häufig es nicht verwunderlich, dass die katastrophale weder über Verwaltungserfahrung noch über Häufung von eklatanten Fehlern, die insbeson- kommunalpolitische Erfahrung verfügten und dere bei der Gründung der Zweckverbände in deren berufliche Ausbildung und Vorerfahrung den Jahren 1992 und 1993 festzustellen war,46 sie kaum mit Verwaltung und Recht in Berüh- sich auch in den Folgejahren, anders als bei den rung gebracht hatten (z. B. Pfarrer, Chemiker, staatlichen Bauaufsichtsbehörden, kaum oder Ingenieure). Bis auf wenige große Städte waren nur sehr langsam gebessert hat. die Gemeinden mit den neuen Aufgaben eindeu- tig überfordert, zumal erst eine rechtlich, tech- 5.2 Die Bürger nisch und betriebswirtschaftlich hoch kompli- Die Folgen haben sich inzwischen als politi- zierte Entflechtung hätte durchgeführt werden scher Sprengsatz erwiesen. Denn die Zweckver- müssen.45 Also wurden Zweckverbände ge- bände mussten in kurzer Zeit Investitionen von bildet, die jeweils viele Gemeinden umfassten mehreren Milliarden DM tätigen, um die maro- (Größenordnung: zum Teil mehr als 50 Gemein- de Infrastruktur aus DDR-Zeiten auf EU-Um- den). Auf diese Zweckverbände wurde das Be- weltstandard zu bringen.47 Obwohl diese Inves- triebsvermögen der VEB WAB übertragen. Sie titionen aus EU-Mitteln und aus staatlichen übernahmen im Wesentlichen auch das Personal Beihilfen stark subventioniert wurden, war der von den VEB WAB. In der Verbandsversamm- zu refinanzierende Investitionsaufwand noch lung der Zweckverbände saßen wiederum die groß. Eine solide Refinanzierung konnte nicht Bürgermeister der Gemeinden. Diesen Zweck- allein über Kommunalkredite und Bankdarlehen verbänden fehlte am Beginn ihrer Tätigkeit die erfolgen, sondern erforderte die Heranziehung eigentlich erforderliche juristische und betriebs- der Grundstückseigentümer zu Beiträgen und wirtschaftliche Kompetenz. Sie konnte weder aus Gebühren. Das hat sich für einen beachtlichen dem Personal der aufgelösten VEB WAB noch Teil der Betroffenen als sensibler Punkt erwiesen, aus dem Personal der neu gebildeten Gemeinden zum einen, weil auf die Bürger in kurzen Zeit- kommen. Es wurden aber – jedenfalls nach mei- räumen erhebliche Belastungen durch Beiträge ner Kenntnis für Thüringen – auch in den Folge- für den Ausbau von Straßen und für die Her- jahren keine qualifizierten Juristen eingestellt, stellung von Einrichtungen der Wasserversor- obwohl es sich um Betriebe mit Bilanzsummen gung und Abwasserbeseitigung zukamen, oft- in der Größenordnung von 150 Millionen DM mals in der Größenordnung von mehreren handelte. Aber auch bei den Landkreisen, die die Tausend DM, und zum anderen deshalb, weil Kommunalaufsicht über die Zweckverbände die Bürger solche Belastungen aus der DDR nicht hatten und die als Aufsichtsbehörden eine Kon- einmal ansatzweise kannten. Insbesondere hat- troll- und Beratungsfunktion hätten wahrneh- ten sie wenig Verständnis für die Begründung, men müssen, fehlten gut ausgebildete Juristen. mit der sie zur Finanzierung der Kosten für die Wie behalfen sich die Zweckverbände? Einerseits Herstellung kommunaler öffentlicher Einrich- wurden Verwaltungsangestellte auf Schulungen tungen herangezogen wurden, dem individuellen geschickt, andererseits ließ man sich im Bedarfs- Sondervorteil der Erschließung ihres Grund- fall und punktuell durch Rechtsanwaltskanzleien stücks. Zudem gab es bei den Bürgern in zahl- für viel Geld beraten. Unter diesen Umständen ist reichen Einzelfragen Unmut und Zweifel, zum

45 Einen Eindruck vermitteln J. Ipsen setzung für Thüringen durch die und Th. Koch, Die Zuordnung ThürkoAbwVO vom 10.10.1997 von Treuhandvermögen nach (GVBl., 368). Die Grenzwerte der Einigungsvertrag und Kommunal- europäischen Richtlinie mussten vermögensgesetz, in: LKV 1994, danach in Städten und größeren 73. Gemeinden (mehr als 10 000 »Ein- 46 Dazu Manfred Aschke,in: wohnerwerte«) vom 31.12.1998 NVwZ (2003) 917 f. an eingehalten werden. Für klei- 47 Siehe dazu Richtlinie 91/271/ nere Gemeinden (2 000 bis 10 000 EWG des Rates vom 21.5.1991 EW), insbesondere also den länd- über die Behandlung von kom- lichen Raum, gilt dies erst ab munalem Abwasser und die Um- 1.1.2006. Rg7/2005 Einheit 27

Beispiel wegen der Frage, ob Herstellungsbei- Abständen Zehntausende Bürger zu Demonstra- träge gerechtfertigt seien, wenn das Grundstück tionen gegen Kommunalabgaben auf die Beine. schon zu DDR-Zeiten über einen funktionsfähi- DieAtmosphärezwischenBürgernundZweck- gen Anschluss an die öffentliche Wasserversor- verbänden ist in manchen Bereichen vergiftet. gung oder an einen Abwasserkanal verfügt hatte, Dennoch: Das Problem mit den Kommunal- zumal wenn dieser im »Mach-mit-Wettbewerb« abgaben ist die Ausnahme, nicht die Regel. Sie unter der Leitung des Bürgermeisters und unter macht lediglich anschaulich, welche Spannungen tätiger Eigenhilfe der Anlieger verlegt worden unter der Oberfläche vorhanden sind. Theoreti- war (»Bürgermeisterkanal«). Es gab also eine schen Erklärungsbedarf löst aber eher das weit- Vielzahl komplizierter Rechtsfragen und psycho- gehend reibungslose Funktionieren des Verwal- logisch sensibler Problemlagen, in denen die tungsrechts in den neuen Ländern aus, weil von Zweckverbände den Bürgern ihre Aufgaben, einem wenigstens die wichtigsten Grundlagen die gesetzlichen Grundlagen und die Gründe umfassenden Verständnis der ostdeutschen Bür- ihrer Entscheidungen so gut wie möglich trans- ger für die neue, rechtsförmige Verwaltungs- parent und verständlich hätten machen müssen. tätigkeit und für Aufgaben und Funktion der Das war eine Aufgabe, die auch eine erfahrene Verwaltungsgerichte noch für lange Zeit nicht westdeutsche Verwaltung stark gefordert hätte. ausgegangen werden kann. Ich will es etwas Bis heute, 15 Jahre nach der Wende, ist es den überspitzt ausdrücken: Wenn die neuen Länder Zweckverbänden in Thüringen aber teilweise heute wieder mit den dort lebenden Menschen noch nicht gelungen, den Bürgern die Gründe einen eigenständigen Staat bilden würden, gäbe für ihre Verwaltungspraxis verständlich zu ma- es unabhängige Verwaltungsgerichte vermutlich chen. Anstelle der nach einem modernen Ver- schon nach kurzer Zeit nicht mehr. Es gäbe ständnis notwendigen offenen Kommunikation weder bei Politikern noch bei Bürgern ein hinrei- und Transparenz der Verwaltung igeln sich die chendes Verständnis für Gewaltenteilung und Zweckverbandsverwaltungen ein und verwei- richterliche Unabhängigkeit und es gäbe kaum gern zum Beispiel die Einsicht in ihre Kalkula- Akzeptanz für unbequeme Entscheidungen von tionsunterlagen, obwohl sie wissen, dass spätes- Verwaltungsgerichten. tens die Verwaltungsgerichte volle Akteneinsicht Umfragen wie der von der Universität Jena gewähren. Und auf Seiten der Bürger fehlt es regelmäßig erhobene Thüringen-Monitor zeigen, manchmal an jedem Verständnis dafür, dass Was- dass es auch 14 Jahre nach der Wende noch zwei ser und Abwasserentsorgung nicht mehr wie zu verschiedene politische Kulturen und Mentalitä- DDR-Zeiten für Pfennigbeträge zu haben sind, teninDeutschlandgibt.48 Und diese Unterschie- dass die großen Investitionen für die öffentlichen de betreffen auch das Recht und die Rolle der Einrichtungen refinanziert werden müssen und Gerichte. So bestätigt die Thüringer Untersu- dass es gerecht ist, von den Grundstückseigen- chung ein gegenüber Westdeutschland ganz ei- tümern, deren Grundstücke den Erschließungs- genes ostdeutsches Demokratieverständnis, das vorteil haben, angemessene Beiträge zu verlan- durch eine starke Ergebnisorientierung, ein in gen. Die Bürgerallianz gegen überhöhte Kom- Konfliktsituationen eher schwach ausgeprägtes munalabgaben brachte im Vorfeld des Thüringer Rechtsstaatsbewusstsein sowie durch eine ent- Landtagswahlkampfes 2004 in wöchentlichen schiedene sozialstaatliche und deutlich plebiszi-

48 Vgl. Michael Edinger u. Andreas Hallermann, Politi- sche Kultur in Ostdeutschland – Die Unterstützung des politischen Systems am Beispiel Thüringens, Erfurt 2004. Debatte Manfred Aschke 28

täre Ausrichtung geprägt ist. Mit einer deutlich verknüpfen will,50 braucht man dafür eine Ein- distanzierten Einstellung zu liberalen Ordnungs- heit der Selektion. Dazu habe ich vorgeschlagen, vorstellungen korrespondiert ein konsensualisti- dem Begriff der Kommunikation (als Einheit der sches Politikverständnis. Zwei Drittel betrachten Reproduktion von sozialem Sinn) den Begriff der die Auseinandersetzung zwischen Interessen- Koordination (als Einheit der externen Selek- gruppen als schädlich für das Allgemeinwohl tion) zur Seite zu stellen.51 Koordinationen sind und sogar drei Viertel sehen die Aufgabe der Handlungskomplexe (insbesondere Interaktio- Opposition eher in der Unterstützung der Regie- nen, Organisationen, Institutionen, Netzwerke), rung als in der Kritik. die auf der Abstimmung der individuellen Hand- Wenn Konfliktkultur, Verständnis für Min- lungsbeiträge durch Orientierung an abstrak- derheitenschutz, Gewaltenteilung und viele an- ten Kommunikationssystemen beruhen. Wohl- dere Aspekte des Rechtsstaats einem großen Teil gemerkt: Koordination heißt nicht individuelle der Menschen nach wie vor so fremd sind, wie Handlung. Es geht mir also nicht darum, den kann es dann sein, dass Verwaltungsrecht den- methodischen Individualismus und den Reduk- noch im Alltag weitgehend funktioniert? tionismus der Handlungstheorie zu übernehmen, die in der Tat nicht mit Systemtheorie kompati- 5.3 Warum minimale strukturelle Kopplung bel sind. ausreichen kann Welchen Gewinn bringt es für System- und Der Erklärungsansatz, den ich hier vorstel- Evolutionstheorie, wenn man dem Grundele- len möchte, hängt eng mit dem Konzept sozialer ment der Kommunikation den Begriff der Ko- Evolution zusammen, mit der Frage, ob und wie ordination zur Seite stellt? Handelt es sich dabei die Entstehung struktureller Kopplungen evolu- nicht um eine überflüssige Verdoppelung der tionstheoretisch erklärt werden könnte. Für Luh- Theoriebegriffe? Lässt sich nicht alles, was die mann scheidet eine solche Erklärung allerdings Gesellschaft und ihre Teilsysteme ausmacht, aus, weil der Begriff der Autopoiese nur mit ebenso gut als Kommunikation und damit als interner Strukturselektion vereinbar sei, Anpas- soziales System beschreiben? sung und damit auch strukturelle Kopplung also Für die Einführung des Begriffs der Koordi- nicht als Resultat von Evolution erklärt werden nation als Einheit der Selektion in die Theorie könne.49 Für Luhmann gibt es daher auch kein der Evolution sozialer Systeme möchte ich zwei Mehr oder Weniger an struktureller Kopplung. theoretische Argumente anführen: MirgehtesimFallederostdeutschenBürger aber gerade um ein Phänomen, das ich als »mi- Koevolution nimale strukturelle Kopplung« zwischen sozia- Das erste Argument ist die Bewältigung des lem System und individuellem Bewusstsein be- Problems der Koevolution. Strukturelle Kopp- zeichnen möchte. lungen zwischen Systemen sind, wie das eben erörterte Verhältnis von Politik und Recht zeigt, 5.3.1 Koordination als Einheit der Selektion – nicht einseitig denkbar: Politik stellt sich bei der zwei theoretische Argumente Gesetzgebung auf Recht ein, Recht stellt sich auf Wenn man System- und Evolutionstheorie die Vorgaben der Politik in der Gestalt des Ge- mit externer, also umweltabhängiger Selektion setzes ein. Dasselbe gilt auch für das Verhältnis

49 Luhmann (Fn. 19) 446. 50 Aschke (Fn. 26) 150 ff. 51 Ebenda 284 ff. Rg7/2005 Einheit 29

von Kommunikation und Bewusstsein. Das lässt Mikroebene (individuelle Handlungen) massiv vermuten, dass strukturelle Kopplungen Resul- determiniert. Man spricht von »downwards tate von Koevolution sind, also Ergebnis einer causation«, und wie dies mit dem grundlegenden wechselseitigen Anpassung der Systeme. Anpas- Anspruch einer im Prinzip lückenlosen »upwards sung bedeutet dabei nicht, dass das eine System causation« zu vereinbaren ist, ist wissenschafts- die Strukturen des anderen Systems übernimmt, theoretisch ein ganz ungelöstes Problem.55 Die sondern dass es sie austestet. Raubtier und Beu- Systemtheorie setzt dagegen von vornherein eine tetier testen ständig wechselseitig ihre räube- eigenständige, emergente Ebene des Sozialen rischen Fähigkeiten bzw. ihre Fähigkeit zu recht- voraus. Der darin liegende Verzicht auf einen zeitiger Flucht. Damit derartige wechselseitige umfassenderen Erklärungsanspruch wird mit Selektionsprozesse möglich sind, muss es im der Einsicht gerechtfertigt, dass lückenlose no- wahrsten Sinne einen Ort geben, an dem – zum mologische Kausalerklärungen – also abkürzen- Beispiel – Löwe und Gazelle aufeinandertreffen. de Darstellungen des Ablaufs von Ereignissen Und dieser Ort enthält eine Fülle von weiteren mithilfe von Kausalgesetzen – von einem be- Faktoren, die sich für Löwe und Gazelle als stimmten Grad der Komplexität der Ereignisse Selektionsbedingungen darstellen. In der biolo- an, vor allem im Hinblick auf die zirkuläre Ver- gischen Evolutionstheorie bezeichnet man die- schleifung von Kausalität, wie sie in lebenden sen Ort als »ökologische Nische«.52 Wir suchen Systemen ebenso wie in sozialen Systemen statt- also nach den sich überschneidenden ökologi- findet, prinzipiell nicht mehr möglich sind. Es hat schen Nischen, in denen Kommunikation und also nichts mit einer Leugnung der grundsätz- Bewusstsein so miteinander in Kontakt treten, lichen Kategorie der Kausalität oder mit dualisti- dass sie wechselseitig zu Selektionsbedingungen schenWeltkonzeptenzutun,wennmanfeststellt, werden. dass es Ereignisketten gibt, die sich nur so be- schreiben lassen, wie sie sich ereignen, die also Emergenz keiner abkürzenden Beschreibung im Sinne eines Das zweite Argument ist die Bewältigung des Algorithmus als regelmäßige Wiederkehr gleich- Problems der Emergenz.53 Der Begriff der Emer- artiger Abläufe zugänglich sind.56 genz bringt eine grundlegende Differenz zum Ein weiteres Argument, das für einen Ver- methodischen Individualismus zum Ausdruck, zicht auf nomologische Erklärungsversuche also zu dem wissenschaftstheoretischen An- spricht, die unterschiedliche Emergenzebenen spruch, Eigenschaften, Strukturen oder Relatio- überschreiten, ist das Argument der multiplen nen einer höheren Ebene (z. B. Gesellschaft) prin- Realisierung. Dieses Argument spielt vor allem zipiell lückenlos auf Eigenschaften, Strukturen in der Debatte zwischen Neurowissenschaften oder Relationen einer tieferen Ebene (im Fall der einerseits und Geisteswissenschaften anderer- Handlungstheorie: individuelle Handlungen) zu- seits über die Erklärung von Bewusstsein eine rückzuführen.54 Eine soziologische Theorie, die Rolle.57 Ich möchte das Argument auf das Ver- dem methodischen Individualismus verpflichtet hältnis von Bewusstsein und Kommunikation ist, steht im Fall des Rechtstransfers bei der beziehen. Zur Veranschaulichung: Es gibt un- deutschen Einheit vor dem Problem, wie sie er- zählige Arten, die Zahl »3« darzustellen, auf klären soll, dass die Makroebene (Recht) die Papier, in Sand geschrieben oder als Kartoffel-

52 Zum Konzept der ökologischen 53 Vgl. Luhmann (Fn. 19) 413. sprung biologischer Information. Nische, zur Unterscheidung von 54 Siehe dazu Bettina Heintz, Zur Naturphilosophie der Le- fundamentaler und realisierter Emergenz und Reduktion. Neue bensentstehung, München und Nische und zur Bedeutung dieses Perspektiven auf das Mikro-Mak- Zürich 1986, 139 ff. Konzepts für die Rechtstheorie ro-Problem, in: Kölner Zeitschrift 57 Vgl. dazu Heintz (Fn. 54) 8 ff. siehe Marc Amstutz,Evolutori- für Soziologie und Sozialpsycho- sches Wirtschaftsrecht. Vorstudien logie (KZSS) (2004) 1 ff. (6 ff.). zum Recht und seiner Methode 55 Dazu Heintz (Fn. 54) 10 f. in den Diskurskollisionen der 56 Zur algorithmischen Informa- Marktgesellschaft, Baden-Baden tionstheorie im Kontext evolu- 2001, 242 ff. (248, 249 ff.) tionstheoretischer Erklärung m. w. N. Bernd-Olaf Küppers,DerUr- Debatte Manfred Aschke 30

druck zum Beispiel. Für die Bedeutung der Zahl Konzeption der Entwicklung der kognitiven »3« in der Kommunikation spielt das keine Strukturen, die auf der erkenntnistheoretischen Rolle. Es spricht vieles für die Vermutung, dass Reflektion einer jahrzehntelangen empirischen es keine zwei Menschen gibt, in deren Gehirn Forschung über die Entwicklung des Denkens exakt das Gleiche abläuft, wenn sie den Zahl- bei Kindern beruht.59 Piaget versteht die Hand- begriff und die »3« denken. Dann erscheint es lung als Einheit der Selektion in der Evolution aber aussichtslos, die Eigenschaften neurologi- des kognitiven Systems (ich erlaube mir hier eine scher oder symbolischer Strukturen für die Er- Übersetzung in andere und neuere Terminolo- klärung von sozialem Sinn heranzuziehen. gien). Ich will das an einem ganz einfachen Bei- Bettina Heintz hat zutreffend darauf hinge- spiel veranschaulichen: Ein Kind versucht, eine wiesen, dass es nicht ganz unproblematisch sei, Kugel so anzustoßen, dass sie über eine anstei- die Systemtheorie Luhmanns emergenztheore- gende Bahn in eine Vertiefung rollt. Das Kind tisch zu interpretieren, weil die in Emergenztheo- gibt der Kugel beim ersten Versuch einen Stoß, rien regelmäßig vorausgesetzte Mikro-Makro- von dem es vermutet, dass er ausreichen könnte, Unterscheidung und die ihnen zugrunde liegende um sein Ziel zu erreichen. Dazu verfügt es bereits Vorstellung einer Hierarchie von Erklärungsebe- über kognitive Strukturen, die ursprünglich aus nen bei Luhmann durch eine System/Umwelt- genetisch angelegten Strukturen entstanden sind, Differenz ersetzt wird.58 Soziales System und die aber plastisch sind und eine Veränderung in individuelles Bewusstsein sind bei Luhmann ge- Abhängigkeit von Erfahrungen zulassen. Wenn rade nicht hierarchisch angeordnet, sondern ho- das Kind nun wahrnimmt, dass die Kugel zu rizontal; sie stehen nebeneinander und operieren kurz gerollt ist, wird es den nächsten Stoß ver- unabhängig voneinander. Das Emergenzproblem stärken, um dann zum Beispiel die Erfahrung zu tritt deshalb im Kontext der Systemtheorie in machen, dass der zweite Stoß zu kräftig war usw. anderer Form auf als im Kontext hierarchischer Die Handlung ist also die Form, in der das Erklärungsebenen. Man kann die Frage dann kognitive System mit seiner Umwelt in Kontakt folgendermaßen formulieren: Wie entsteht in tritt, übrigens ohne dabei seine geschlossene dem einen System Sinn (oder Information oder Operationsweise (Piaget bezeichnet sie als Äqui- Strukturen), die es dem System erlaubt, sich auf libration, in Luhmannscher Terminologie wäre ein anderes System und dessen Sinnstrukturen es die Autopoiese) aufzugeben. einzustellen, obwohl beide Systeme operativ ge- Ich schlage also vor, dass wir es mit Koordi- schlossen sind, das soziale System also, wie nation als Einheit der Selektion in der Evolution Luhmann es ausgedrückt hat, nicht in das Be- sozialer Systeme versuchen. Ich bin mir bewusst, wusstsein hinüberkommunizieren und das Be- dass das eine nicht unerhebliche Operation am wusstsein nicht in das soziale System hinüber- Korpus der Luhmannschen Systemtheorie ist. denken kann. Die Produktion von Sinn, der in Gleichwohl knüpft sie an einer zentralen Unter- Bezug auf das jeweils andere System Sinn macht, scheidung an, die Luhmann gemacht hat, an der ist aber nichts anderes als strukturelle Kopplung. Unterscheidung von Interaktion und Gesell- Ein grundlegender Ansatz zu einer überzeu- schaft,60 die Luhmann offenbar auch als ent- genden Lösung dieser Art von Emergenzproblem stehungsgeschichtliche Ausdifferenzierung abs- findet sich bei Jean Piaget, und zwar in dessen trakter Kommunikationssysteme aus den Inter-

58 Heintz (Fn. 54) 1, 21 ff. 59 Jean Piaget, Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, Stutt- gart 1976. Zur Darstellung und evolutionstheoretischen Interpre- tation der Erkenntnistheorie Pia- gets Aschke (Fn. 26) 181 ff., 209 ff. 60 Luhmann, Soziale Systeme (Fn. 30) 551 ff. Rg7/2005 Einheit 31

aktionsbeziehungen in der menschlichen Grup- auch die Umwelt der Kommunikationssysteme, pe und in traditionalen Gesellschaften versteht. ihre »ökologische Nische«, in den Blick genom- Die Differenzierung zwischen Kommunikation men wird. Am Beispiel der Frage nach den und Koordination erfordert eine Unterscheidung Bedingungen der Akzeptanz des fremden Ver- zwischen abstrakten Sinnsystemen und konkre- waltungsrechts in den neuen Ländern lassen sich ten Interaktionsstrukturen, in denen Verständi- Gründe dafür erkennen, warum hier »minimale gung und wechselseitige Abstimmung konkre- strukturelle Kopplung« ausreicht. Es wird näm- ter Handlungen noch nicht unterschieden sind. lich verständlich, dass die Menschen auf dem Diese Unterscheidung erinnert auch an die schon ursprünglich maßgeblich von ihnen selbst be- angesprochene Unterscheidung zwischen abs- schrittenen Evolutionspfad schlicht und einfach trakter und konkreter Ordnung bei Friedrich keine Alternative dazu haben, das neue Recht August von Hayek. Funktionale Entsprechungen hinzunehmen, wenn auch kopfschüttelnd und gibt es schließlich auch mit der Unterscheidung murrend. zwischen Genotyp und Phänotyp und mit der Um das Verhältnis von Kommunikation und Unterscheidung von fundamentaler und realisier- Koordination zu veranschaulichen, habe ich ein- ter Nische61 in der biologischen Evolutionstheo- mal die Metapher vom Theaterstück und der rie. Die Unterscheidung von Kommunikation Theateraufführung benutzt. Dieses Bild möchte und Koordination ist schwierig, weil das eine ich aufgreifen. Die Bürger der ehemaligen DDR ohne das andere nicht existiert, wie ja auch der fanden sich praktisch über Nacht auf einer Büh- Mensch seine Gene mit sich rumschleppt, und ne wieder, auf der so gut wie alles verändert war. zwar in jeder Zelle, so dass es großer Mühen und UndsiemusstenRollenineinemTheaterstück Forschungsleistungen bedurfte, bis man in der spielen, das sie ursprünglich fasziniert hat, des- Lage war, die Gene zu isolieren und ihre hoch- sen Sinn sie aber nicht ganz verstanden und von komplizierte Wirkungsweise zu entschlüsseln. dem sie teilweise krass falsche Vorstellungen hatten. Aber die Möglichkeit, das alte Stück 5.3.2 Die Macht der Koordinationen wieder zu spielen oder ein ganz anderes Stück Wenn man ausschließlich in Kategorien der zu spielen, gab es nicht: Das alte Stück war Sinndimension der abstrakten Kommunikations- unter der tatkräftigen Hilfe eines kleinen Teils systeme denkt, ist kaum zu verstehen, warum und unter dem Beifall des größten Teils der Ost- Menschen sich auf ein Recht einlassen, das ihnen deutschen vom Spielplan abgesetzt worden. Die weitgehend fremd ist. Aber eine ausschließlich alte Bühnentechnik wurde schnell auf den Müll an der Sinndimension sozialer Systeme arbei- geworfen und die neueste Bühnentechnik wur- tende Theorie interessiert sich nicht für dieses de installiert. Faszinierende neue Bühnenbilder Problem. Ausreichende strukturelle Kopplung wurden aufgebaut. Längst haben aber viele wird vorausgesetzt. Wenn Kommunikation exis- Schauspieler Probleme mit dem neuen Stück: tiert, ist das Beweis genug dafür, dass eine hinrei- Der Text scheint viel zu kompliziert und es gibt chende strukturelle Kopplung mit der Umwelt zu viele Dissonanzen. Viele Schauspieler haben besteht. schmerzliche Erfahrungen machen müssen. Eini- Die theoretischen Perspektiven ändern sich, ge erhalten gar keine Rollen mehr, andere nur sobald die Einheit der Koordination und damit noch Statistenrollen. Hauptrollen werden ihnen

61 Dazu Amstutz,Evolutorisches Wirtschaftsrecht (Fn. 52) 249 ff. Debatte Manfred Aschke 32

nur selten anvertraut. Aber der Träger des Thea- dationen und Entlassungen. Erst das Zusam- ters, Intendant, Dramaturg, Spielplan, alles ist menspiel des neuen Rechts mit den neuen pro- nun einmal jetzt so eingerichtet. Und deshalb fessionellen Akteuren in den Funktionssystemen müssenauchdie,diesichnichtzudenGewin- und den ganz konkreten Rahmenbedingungen nern zählen, im Schauspiel weiter mitspielen. bewirkt, dass es zur Befolgung des Rechts keine Mit anhaltender Begeisterung und innerer Alternative gibt. Was bleibt, sind punktuelle Anteilnahme an den neuen Texten und Melodien Widerstände, wenn die Resultate, die in den kann man nicht hinreichend erklären, warum die Funktionssystemen produziert werden, nicht Ostdeutschen »funktionieren«, manchmal sogar mehr akzeptiert werden, wie das zum Teil bei erstaunlich reibungslos. Es ist, um an das Storm- den Kommunalabgaben der Fall ist. Im Übrigen Zitat vom Anfang anzuknüpfen, eine Art von sind vielfach Defizite hinsichtlich der sinnvollen Gewalt, die Gewalt konkreter Verhältnisse. Den Nutzung und Umsetzung rechtlicher Rahmen- Ostblock als eigenständigen Wirtschaftsraum bedingungen zu verzeichnen. Sie dürften ein Teil gibt es nicht mehr. Die Unternehmen mussten der Erklärung dafür sein, dass die Produktivität sich fast übergangslos am Weltmarkt ausrichten. der Wirtschaft in den neuen Ländern trotz mo- Die Kombinate wurden schon bald nach der dernster Maschinenparks und trotz zum Teil Währungsunion durch die Treuhand zerlegt hervorragender Infrastruktur noch immer einen und die Teile privatisiert. Die Alternative, auf deutlichen Abstand zum Westen aufweist. das neue Konsumangebot zu verzichten und Vermutlich wird es noch lange dauern, bis dafür die subventionierten Preise für Grundnah- die DDR weitgehend aus den Köpfen der Ost- rungsmittel, Straßenbahnfahrten und Mieten zu deutschen verschwunden und das demokratische zahlen, gibt es nicht mehr. Und statt der alten und rechtsstaatliche System des Westens wirklich SED-Funktionäre tummeln sich plötzlich lauter angekommen ist. Und manches wird erst mit Funktionsträger aus dem Westen auf der Bühne, dem biologischen Generationswechsel kommen. und ob sie nun mit der Miene des kleinen Aber solange die ResultateeineuntersteAkzep- Eroberers daherkommen oder ob sie bescheide- tanzschwelle nicht unterschreiten, werden die ner auftreten, diese Akteure bestimmen in allen Menschen das westliche Stück auf der umge- Schlüsselstellungen, wie das Spiel gespielt wird. stalteten Bühne mitspielen, und dabei werden Dabei sind sie meistens gerne bereit, immer wie- sie langsam auch den Sinn des Stückes besser der die neuen Spielregeln zu erklären, wenn nötig verstehen, im Guten wie im Schlechten. aber auch durchzusetzen, mit rechtsverbindli- chen Entscheidungen und in letzter Konsequenz zum Beispiel mit Insolvenzverfahren, mit Liqui- Manfred Aschke Rg7/2005 Einheit 33

Rückfahrkarte Das schweizerische Zivilgesetzbuch in der Türkei

»[Es] besteht für einen Staat, der um den Die bestehende Ordnung hatte ihren Ur- Eintritt in die zivilisierte Gesellschaft kämpft, der sprung in der alten, osmanischen, und gerade Zwang zur Aneignung der Erfordernisse dieser diese Vergangenheit sollte abgeschüttelt werden. Gesellschaft.«1 Die Regierung entschied, ausländische Gesetze So äußerte sich der ehemalige Justizminister zu übernehmen, um in kurzer Zeit moderne Mahmut Esat Bozkurt in der Festschrift zum Gesetze als Landesrecht vorweisen zu können. 15. Geburtstag des türkischen Zivilgesetzbu- Man bediente sich unter anderem in Italien, ches. Bozkurt war Mitglied der Kommission ge- Deutschland und – für das Zivilrecht – eben in wesen, die mit der Aufgabe betraut worden war, der Schweiz. Die Übersetzung des ZGB trat mit ein Zivilgesetzbuch zu (er-)finden, das für die einigen Veränderungen als »Türkisches Zivilge- neue Republik gelten sollte. setzbuch« am 4. April 1926 in Kraft und blieb Das Gesetzbuch, das die Kommission vor- bis zum 31. Dezember 2001 in Geltung. bereitet hatte, war kein neu erschaffenes, keine Das Rezept hört sich einfach an: Man nehme Sammlung von Normen, die das zu regeln such- ein Gesetzbuch, übersetze es und lasse es in Kraft ten, was in der neuen türkischen Gesellschaft zu treten. Welche Erfolge und Misserfolge ein sol- regeln war. Der Entwurf, den die Kommission cher Transfer zeitigen kann, soll im Rahmen vorlegte, war eine Übersetzung des schweize- eines Forschungsprojekts untersucht werden. rischen Zivilgesetzbuchs. Die französische Fas- Die folgenden ersten Überlegungen gelten dem sung dieses dreisprachigen Gesetzeswerkes wur- politischen und gesellschaftlichen Kontext des de durch die Kommission, bestehend aus Ab- Rechtstransfers sowie einem Beispiel aus dem geordneten, Lehrern, Richtern und Anwälten, Familienrecht. übersetzt und mit einigen Änderungen zu einem neuen Gesetzbuch geformt. 1. Die Gründung der Republik Nachdem 1922 die Republik ausgerufen und die Gesetzesübernahme worden war, sollte 1923 die völkerrechtliche Anerkennung durch den Vertrag von Lausanne Die Jahre der Republikgründung 1922/1923 folgen, welcher der neuen Türkei unter anderen gingen mit einer Bündelung von Entscheidzwän- Verpflichtungen die Reorganisation des Rechts- gen einher; ein spezifischer »Entschärfer« der und Justizwesens auferlegte. Dieses Vorhaben Situation oder »Entscheider« aber fehlte: Vom stand einerseits zeitlich unter Druck, da die völ- großen Reich der Osmanen war ein Rumpf übrig kerrechtliche Auflage rasch erfüllt werden muss- geblieben, und selbst dieser war in seinem ter- te. Eine Einmischung von Außen sollte vermie- ritorialen Bestand bedroht. Die Kriege hatten die den werden. Andererseits fehlten im Land die Bevölkerung verkleinert, und der militärische Mittel und Strukturen, die erforderlich gewesen Nachwuchs war geschrumpft. Die Bevölkerung wären, um die Reorganisation professionell sollte und musste wachsen. Die völkerrechtliche durchzuführen. Anerkennung sollte sichern, was vom Osmanen-

1 Abgedruckt in: Ernst E. Hirsch, Rezeption als sozialer Prozess, Berlin 1981, 32. Debatte Mahidé Aslan 34

reich noch übrig geblieben war. Mit der Ein- liche eheliche Bindungen eingehen, ohne dass bindung in eine völkerrechtliche Gemeinschaft, er Sanktionen zu befürchten hatte. Gesellschaft- die sich ihrerseits stetig veränderte, geriet die lich wurde die traditionelle Eheschließung aner- neue Türkei in Abhängigkeit von einem Außen, kannt, gesetzlich zwar verboten, aber faktisch ein Außen, das sie kaum erfassen und fixieren nicht bestraft. konnte, weil auch ein Selbst noch nicht entwi- Die Situation stellte sich alsbald folgender- ckelt war. maßen dar: Wenn gesetzlich nur die Einehe zu- Die staatlichen Grenzen wurden 1923 fest- lässig war und zivilrechtlich der Bund der Ehe gesetzt, ein Staatsvolk sollte seine Identität fin- vor einem Standesbeamten geschlossen und ein- den, eine Staatsmacht sich entwickeln und sta- getragen werden musste, konnten all jene Fälle, bilisieren. Das zivile Leben wurde bis dahin die dieses Verfahren nicht durchliefen, bürokra- geregelt durch die Normen und die Rechtspre- tisch nicht erfasst und rechtlich nicht reguliert chung einer islamischen Rechtsschule (Hanefi- werden. So lange aber die zivilrechtliche Zuläs- tische Rechtsschule), das Neue, das begonnen sigkeit und Anerkennung der Ehe für die Be- hatte, zwang zu Reformen in diesem Bereich, troffenen keine Relevanz hatte, stellte sich auch auch das Recht musste neu werden. kein konkretes rechtliches Entscheidungsprob- Das ist der Hintergrund, vor dem die Über- lem:DieGeschichtespielteanderswo. nahme des schweizerischen Zivilgesetzbuches Dem Gesetzgeber blieb nur das Beobachten, stattgefunden hat. »mitmachen« durfte er nicht. Prinzipiell stand er unter dem Druck zu handeln und in seinem Selbstverständnis als Gesetz-Geber in Erschei- 2. Die Entwicklungen bis 1974 im Eherecht nung zu treten. Dabei traf er allerdings nicht Die »Übernahme« der familienrechtlichen einmal auf aktive Zurückweisung seitens der Bestimmungen des schweizerischen ZGB führte »Rechtsunterworfenen«. Vielmehr wurde er dazu, dass Polygamie gesetzlich nicht mehr er- schlicht ignoriert und gar nicht wahrgenommen. laubt war. Im Gegensatz zum Zustand vorher, Die Gründe für die – andauernde – Beliebt- namentlich der islamrechtlichen Zulässigkeit von heit der Mehrehe bedürfen im Einzelnen noch der Mehrehen, wurde nun die zivilrechtliche Ein- sorgfältigen Untersuchung. Einen Hinweis auf ehe vorgeschrieben. Bereits bestehende Mehr- die soziale und bevölkerungspolitische Bedeu- ehen wurden durch Übergangsbestimmungen tung der Mehrehe gibt immerhin ein Zeitungs- von der Anwendung ausgenommen, doch alle artikel im »Journal de Genève« vom 13. Februar zukünftigen Ehen hatten dieser zivilrechtlichen 1923, dessen Überschrift lautete »Le mariage (oder sollte man lieber sagen: zivilgesetzlichen?) obligatoire en Turquie?«.2 Der Verfasser handel- Vorgabe zu genügen. Das Verbot der Polygamie te nicht etwa – im Vorgriff auf die zivilgesetz- schien jedoch die Menschen nicht zu kümmern, lichen Regeln von 1926 – von der zukünftig ein- im Gegenteil: Die alte Form der Eheschließung zig legalen und obligatorischen Eheschließung. bestand fort. Weiterhin wurden Ehen vor einem Anliegen des Abgesandten von Erzurum, Khali islamischen Geistlichen, sei es einem ›Hoca‹ oder Efendi, war vielmehr ein Gesetzesvorschlag, der einem ›Imam‹, geschlossen. Und weiterhin konn- die Dezimierung der Bevölkerung durch die Krie- te ein Mann mit mehreren Frauen islamrecht- ge ausgleichen sollte. Durch das Gesetz sollten

2 Journal de Genève vom 13. Feb- ruar 1923, 3. Rg7/2005 Rückfahrkarte 35

alle Unverheirateten spätestens mit dem 25. Le- waltungsbehörde als »ehelich« registriert wer- bensjahr eine Ehe eingehen; und damit nicht den. Dies erscheint auf den ersten Blick als nütz- genug: »Tout célibataire de 25 ans devra se licher Akt des Gesetzgebers: Was außerhalb sei- marier immédiatement et avoir au minimum un ner Machtsphäre liegt, unterwirft sich selbst. enfant tous les trois ans (sic!).« In diesem Licht Mit dieser sondergesetzlichen Möglichkeit erscheint die Einführung der Einehe nicht ge- wurde jedoch gerade die Differenz erneuert, die eignet, um die türkische Bevölkerung zu vergrö- überwunden werden sollte: »Für Türken besteht ßern. die Möglichkeit, sich in familienrechtlichen Fra- Kehren wir zurück zum Gesetzgeber, der gen entweder dem ›status traditionnel‹ (status noch keiner sein konnte: Dass die Ehen in einer musulman) oder dem ›status moderne‹ (status anderen Form als der zivilrechtlichen geschlos- civil) zu unterstellen.«3 Eine Ausschließlichkeit sen wurden, war ein Problem insofern, als sich von Macht, ein Machtmonopol des Staates gab diese Verbindungen eben dem Zivilrecht ent- es nicht. zogen. Hinzu kam aber auch der Umstand, dass Zudem verschärfte sich die Problematik in- die Kinder, die aus solchen Verbindungen her- sofern, als die Polygamie dadurch nicht abge- vorgingen, nicht als Nachkommen im zivilrecht- schafft werden konnte, und die Schwierigkeit, lichen Sinne erfasst werden konnten. Kinder als Kinder im zivilgesetzlichen Sinne zu In regelmäßigen Abständen (1933, 1945, qualifizieren, sich keineswegs auflöste, sondern 1956, 1965, …) erließ der türkische Gesetzgeber sogar verstärkte. Lebte nun ein Mann polygam nun also Sondergesetze, Gesetze mit zeitlich be- und hatte er Kinder aus den verschiedenen Ver- schränkter Geltungsdauer, um dem beschrie- bindungen, so konnte durch das neue Gesetz eine benen Zustand im Eherecht und Kindesrecht dieser Verbindungen inklusive der Kinder regis- abzuhelfen. 1974, ein halbes Jahrhundert nach triert werden. Die anderen Beziehungen galten der Übernahme des ZGB, wurde ein solches zivilrechtlich als Nichtehen. Aber: Der Mann, Sondergesetz erlassen, das nähere Betrachtung der eine Verbindung als Ehe registriert hatte, verdient: konnte alle seine Kinder, auch diejenigen außer- Mit dem Gesetz Nr. 1826 wurde eine halb der registrierten Verbindung, als ehelich Art Wahlmöglichkeit geschaffen, islamrechtliche registrieren lassen, was zu einer Legitimation Ehen zu legalisieren. ›Außereheliche‹ Verbindun- von Ehebruchskindern führte. Somit wurde ein gen, also all die Beziehungen, die nicht das zivil- Kind, das nicht aus der ehelichen Verbindung des rechtliche Verfahren durchlaufen hatten, konn- Vaters stammte, trotzdem als ›ehelich‹ erklärt ten durch eine einfache Erklärung registriert und erlangte dadurch in der Erbfolge dieselbe werden, eine Art politische Legalisierung der Stellung wie die Kinder aus der registrierten Ehe. Ehe wurde möglich. Kinderlose Paare allerdings, Dies im Verhältnis zum Vater in der legalisierten die in einer eheähnlichen Gemeinschaft lebten, Ehe. Gleichzeitig waren diese Kinder aber auch konnten diese Sonderregelung nicht nutzen. Die Erben im Verhältnis zur leiblichen Mutter, ob- Möglichkeit der Legalisierung stand also nur für wohl diese nicht Teil der legitimierten Ehe war. Verbindungen offen, aus denen Kinder entstan- Anders ausgedrückt: Kinder erhielten die (erb- den waren. Denn diese Kinder konnten eben- rechtliche) Stellung ehelicher Kinder gegenüber falls durch eine einfache Erklärung an die Ver- ihrem Vater und ihrer Mutter, obwohl ihre Eltern

3 Hilmar Krüger,Osmanisch- islamische Tradition versus Zivil- gesetzbuch, in: Zeitschrift für schweizerisches Recht (ZSR) 95 I (1976) 287–301, 289. Debatte Mahidé Aslan 36

weder nach Zivilrecht, noch nach Sonderrecht setze den sozialen Veränderungen anzupassen verheiratet waren. oder – im Fall eines historischen Transfers – Durch das Sondergesetz Nr. 1826 wurde nun das Fremde abzuschütteln. Ein Dreiviertel- also ein Zustand herbeigeführt, der nicht neu jahrhundert, nachdem die Türkei ein fremdes war: Im islamisch-osmanischen Recht gilt das Gesetzbuch übernommen hatte, liest man zur Kind immer als ›ehelich‹, sobald ein Mann die Revision: Vaterschaft zu diesem Kind anerkennt (›nesebin »Das türkische Zivilgesetzbuch ist aufgrund ikrari‹ / iqrâr an-nasab), und in der Gesellschaft von sozialen und ökonomischen Änderungen in war eine solche Anerkennung nach wie vor der türkischen Gesellschaft [revidiert worden] möglich. Aufgrund dieses eigenartigen Zustands und am 1. Januar 2002 in Kraft getreten. Als erschienen auch andere Regelungen in einem Grundlage der Erneuerung diente das schwei- merkwürdigen Licht, etwa die elterliche Gewalt, zerische Zivilgesetzbuch (ZGB).« Dieses Zitat das Sorgerecht und anderes mehr, worauf hier stammt aus einem Aufsatz von Gezici/Kalkan4 nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. aus dem Jahr 2002. Die türkische Gesellschaft ändert sich, die Anpassung der Gesetze erfolgt schweizerisch? Einmal mehr stellt sich die Frage: 3. Die Revision des türkischen Weshalb wieder eine Referenz »Schweiz«? Und Zivilgesetzbuches 2001 was bedeutet eine solche Rückfahrkarte, wenn Was 1926 begann – der Transfer des schwei- sie 74 Jahre nach dem ersten Transfer eingelöst zerischen ZGB in die Türkei –, wurde, wie wir wird? Um dieses Rätsel zu lösen, mögen die sahen, jedenfalls im Familien- und Eherecht folgenden Hypothesen einen ersten Ansatzpunkt mehrfach reformiert und reformuliert. Auch bieten. vor nun mehr als einem Vierteljahrhundert wur- – Die familienrechtlichen Normen des ZGB ha- de mit dem Gesetz von 1976 ein weiterer Anlauf ben im Fall der Türkei keine Irritation des unternommen, das »importierte« Recht den tür- Rechts bewirkt. kischen Verhältnissen anzupassen. Der Prozess – Die Entwicklungen sind ähnlich denen, die des Transfers, so möchte man daraus schließen, Eugen Ehrlich5 beschrieben hat. Mag das war damals noch nicht abgeschlossen, womit schweizerische Zivilgesetzbuch übernommen sich die Frage stellt, wann ein solcher Prozess worden und politisch in Kraft gesetzt worden endet, wann ein Transfer vollzogen ist und eine sein, um türkisches Recht zu werden. Im Be- eigene Gesetzgebung beginnt. reich des Familienrechts hat es diesen Weg Im Falle der Türkei kann festgehalten wer- nicht geschafft: Es blieb an der Peripherie des den, dass sich fast 80 Jahre nach »Übernahme« Rechts, es blieb formal und es blieb »totes des schweizerischen Zivilgesetzbuches eine Ei- Recht«. genrechtlichkeit nicht eingestellt hat. – Die Kommunikationszusammenhänge des Am 1. Januar 2002 ist das neue Zivilgesetz- Rechts, das »lebendige« Recht, entwickelten buch in der Türkei in Kraft getreten. Eine Revi- sich »ungestört« weiter. sion kann viele Motive haben. Sie kann gerade – Ob sich die weitere Entwicklung anders ge- auch den Sprung in die Eigengesetzlichkeit mar- stalten wird, ob also Irritationen auftreten, kieren, kann einen Versuch darstellen, die Ge- muss sich noch zeigen. Die Revision des ZGB,

4 Sevim Gezici u. Burcu Kalkan, Änderungen innerhalb des Ehe- schließungsrechts im türkischen Zivilrecht, in: Annales de la Fa- culté de Droit d’Istanbul 51 (2002) 277–298, 277. 5 Eugen Ehrlich,Gesetzundle- bendes Recht. Vermischte kleine Schriften hg. von Manfred Reh- binder, Berlin 1986. Rg7/2005 Rückfahrkarte 37

die auch die familienrechtlichen Normen be- ten gesetzgeberischen Aktivitäten. Etwas bewegt trifft, lässt das Experiment von neuem begin- sich doch – auch im Fall des fehlgeschlagenen nen. Transfers. Und so treibt – im Sinne Stichwehs6 – – An einem Makel scheint der neue Versuch der transferierte Replikator auch ohne Replika- jedoch bereits jetzt zu leiden: Er schließt just tion die Evolution voran, wohin auch immer. an das an, was nicht zu stören vermochte. Der AuchEugenEhrlichwiesaufdiesenWert Grund dafür dürfte in Legitimation durch Tra- eines Rechtstransfers hin. Mag bei ihm die Dis- dition liegen. kussion darum kreisen, obdasRecht,dasüber- nommen wird, wirklich national sei, und möge Vergleicht man diese Hypothesen mit den er zum Schluss kommen, dass Gesetzbücher Positionen von Pierre Legrand einerseits, der »… unzählige Male durchsiebte Abstraktionen »legal transplants« für unmöglich hält, und Alan und Verallgemeinerungen [enthalten]«,7 dass die Watson andererseits, der solche bejaht, ergibt Verbundenheit mit der Quelle des nationalen sich Folgendes: Das Scheitern des Transfers Lebens nicht mehr gegeben ist und somit von Schweiz-Türkei stützt prima facie die Ansicht Anfang an etwas transferiert wird, das gar nicht von Pierre Legrand. Doch ist zu bedenken, dass das ist, was es zu sein scheint, nämlich im Bei- das Familienrecht einen ganz besonderen Fall für spiel Ehrlichs das undeutsche ›deutsche BGB‹ einen Rechtstransfer darstellt. Der Transfer soll nach Japan, angewandt auf unseren Fall das in einem kulturell hoch determinierten Bereich ›unschweizerische‹ schweizerische ZGB in die stattfinden, in einem Bereich, in dem Recht Türkei. Dennoch solle damit »… keineswegs mit dem sozialen Leben, seinen Gewohnheiten, behauptet werden, dass das Gesetzbuch wertlos Herkommen, religiösen Gebräuchen aufs Engste sei«,8 die Übernahme eines Gesetzbuches könne verbunden ist. Zudem handelt es sich im Fall große Dienste für die entsprechende Rechtswis- Schweiz-Türkei um einen Transfer von einer senschaft, die Rechtspflege, auch den Rechts- funktional ausdifferenzierten Gesellschaft in eine unterricht leisten, da eine Auseinandersetzung vermutungsweise stratifizierte Gesellschaft. Ob mit dem Transferierten erfolgt; es könne auch Transfers zwischen unterschiedlich strukturier- zu einer brauchbaren Grundlage für künftige ten Gesellschaften überhaupt möglich sind, blie- Gesetzgebung werden. Mit dem nicht genug: be zu untersuchen. »[Es] … erwächst die ungemein wichtige Auf- Selbst wenn sich mein Verdacht, dass der gabe, sich mit der Kenntnisnahme des Gesetz- Transfer im Bereich des Familienrechts miss- buches nicht zu begnügen, sondern die gesell- glückt ist, erhärten sollte, scheint doch eines schaftliche Ordnung zu erforschen, die den augenfällig: Durch den Transferversuch, durch [eigenen] nationalen Hintergrund [des übernom- die politische Übernahme von Gesetzen, ist je- menen] Gesetzbuches bildet.«9 denfalls ein Prozess in Gang gesetzt worden, et- wa im Bereich des Familienrechts die aufgezeig- Mahidé Aslan

6 Sinngemäß im Vortrag »Transfer in Sozialsystemen« von Rudolf Stichweh, gehalten anlässlich der Eröffnung des Europäischen Fo- rums junger Rechtshistorikerin- nen und Rechtshistoriker vom 26. – 29. Mai 2005 in Luzern. 7 Ehrlich (Fn. 5) 236. 8 Ehrlich (Fn. 5) 236. 9 Ehrlich (Fn. 5) 236. Debatte Mahidé Aslan 38

Rechtstransfer

1 Eine Erinnerung an Georg von Belows ten hatte. Ein Rückblick auf dieses Resümee »Die Ursachen der Rezeption« kann womöglich dazu beitragen, Transfertheo- rien, wie sie heute entwickelt werden, auf ihre Anlass zu beschreiben, was Rechtstransfer Tauglichkeit oder Untauglichkeit in der Wieder- bedeutet, sieht nicht nur die gegenwärtige juris- holung wie auch auf ihre Innovation oder »Pfad- tische Gesellschaft. Erheblicher Bedarf an Erklä- abhängigkeit« zu überprüfen. rungsmodellen bestand auch im 19. Jahrhun- Die »Ursachen der Rezeption« bauen in von dert. Eine der größten Migrationswellen, die so Belows Darstellung auf bestimmten Leitdifferen- genannte Rezeption des römischen Rechts, hatte zen auf. Prominent und geradezu unverzichtbar Europa während mehrerer Jahrhunderte über- erscheinen dabei zwei Differenzen: innen / außen flutet. Aus dieser Flut, kaum hatte sie ihren und notwendig / zufällig.2 Höchststand erreicht, reckten sich nun allerorts nationale Gesetzgebungsprogramme und ganze Kodifikationen hervor. Das Verhältnis von re- 1.1 Innen / außen zipiertem, römischem Recht – das längst ganz »eigen« und »heutig« geworden war – zu den Ohne Grenze kein Transfer. Einheimisches das ius commune störenden oder sogar zerstö- vs. fremdes Recht, deutsches Recht vs. römisches renden Eingriffen nationaler Gesetzgeber galt es Recht, der »Gegensatz römischer und germani- zu klären und zu erklären. Nur wenn es für den scher Gedanken«3 bildeten das Raster, welches einstigen Transfer des römischen Rechts in ger- die Rezeptionsdebatte erstellte und zu ihrer eige- manische Gefilde plausible und irreversible nen Strukturierung verwendete. Auf der Innen- Gründe gab, gab es auch Gründe, die kecken seite wird die »Natur« oder das »Wesen« des Vorstöße des nationalen Gesetzgebers zurück- deutschen Rechts bezeichnet. Die innere Einheit zuweisen und der Positivität des Rechts Einhalt des deutschen Rechts habe, so liest man, auch zu gebieten. Das war die Position eines Savigny ohne die Berührung mit dem »Außen« das und seiner Gesinnungsgenossen. Potential gehabt, sich zielgerichtet zu entwickeln. Post festum, als sich im Laufe des 19. Jahr- »Vielleicht wäre das Deutsche Recht auf dem hunderts die Kodifikationen in Europa durch- Wege ruhiger Entwicklung auch ohne fremde gesetzt hatten, war die Frage, wie es einst, zwi- Einwirkung an dasselbe Ziel gelangt, welches schen dem 12. und dem 17. Jahrhundert, zu das römische Recht erreicht hatte.«4 Das trans- einer »Rezeption« des römischen Rechts hatte ferierte Recht habe lediglich zum »Abschluss kommen können, zu einer historischen Frage einer im einheimischen Rechte bereits angebahn- geworden. Und so war es ein Historiker, Georg ten Entwicklung«5 gedient. von Below, der 1905 über »Die Ursachen der Werden in dieser Sicht die »inneren Kräfte« RezeptiondesrömischenRechtsinDeutsch- des heimischen Rechts hoch eingeschätzt, wobei land« schrieb1 und dabei aufarbeitete, was das der Transfer des römischen Rechts zwar nicht 19. Jahrhundert an »Transfertheorien« anzubie- geleugnet wird, aber als akzidentell erscheint, so

1 Georg von Below,DieUrsachen recht-Karls-Universität zu Heidel- Rechtssystems, den Gerichten, das der Rezeption des römischen berg für die ihm verliehene Würde Zentrum (Reichskammergericht) Rechts in Deutschland, München eines Doktors beider Rechte. von peripheren Gerichtsbarkeiten und Berlin 1905. Die Schrift er- 2 Unter den weiteren Leitdifferen- zu trennen. schien – was ein deutliches Zei- zen, etwa »gelehrt / volkstümlich«, 3 von Below,16(Gierke).–Hier chen der Historisierung der »bäuerlich / städtisch« u. a., wäre und im Folgenden werden Belows Rezeptionsdebatte ist – in der einer eigenen Betrachtung wert die Gewährsleute und Referenzen in »Historischen Bibliothek«, die Zentrum-Peripherie-Unterschei- Klammern zugefügt. von der Historischen Zeitschrift dung; sie kommt doppelt zum 4 von Below, 6 (Stobbe). herausgegeben wurde. Der Ver- Einsatz:zumeinen,umStadt/ 5 von Below, 33 (Brunner). fasser bedankte sich mit ihr bei der Land-Differenzen zu erfassen, zum juristischen Fakultät der Rup- anderen, um im Zentrum des Rg7/2005 Rechtstransfer 39

waren nach anderer Meinung die Chancen einer Römischen Rechts sind in Deutschland ein und Eigenentwicklung gering: »Man besaß nicht die derselbe historische Vorgang.«9 Kraft, durch eigene Anstrengungen sich zu einem Als geeigneter Kandidat der Kopplung gesunden Rechtszustande durchzuarbeiten, son- durch Transfer erscheint neben der Politik die dern verfiel auf das einer fremden Nation und Wirtschaft. »Die Geldwirtschaft wurde mit der einer verschollenen Kulturperiode angehörige Zeit allgemeiner und machte schließlich für un- Gesetzbuch Justinians.«6 Ja, es sei geradezu eine ser ganzes Recht eine Änderung notwendig. … »Torheit zu glauben, dass dasselbe [deutsche Das Recht strebte danach, die engen Bande, die Recht] noch imstande gewesen wäre sich aus es an den Grundbesitz knüpften, zu sprengen, eigener Kraft zu einem festen und klaren System, dasKapitaldemEigentumamGrundundBoden wie es ein gesundes Volksleben erfordert …, zu als gleichberechtigt zur Seite zu stellen und frei- verjüngen.«7 ere Formen für den Verkehr, den beschleunigten Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Be- Umlauf der Güter zu schaffen.«10 schreibungen die Chancen endogener, system- Ein Favorit unter den »äußeren Gründen« eigener Evolution thematisieren. Das Recht hat des Transfers ist – insbesondere für Below selbst ein Ziel, dem es aus eigener »Kraft« und unab- – die Wissenschaft. Eine »wissenschaftliche Be- hängig von Transferprozessen zustrebt. Oder wegung«, die auf nichts anderem als »freiem umgekehrt: Die endogene Kraft des eigenen Wissenstrieb« beruht,11 bewirkt – man möchte Rechts ist nicht ausreichend, es benötigt vielmehr fast meinen: nolens volens – eine starke Ver- den Anstoß durch Transfer fremden Rechts, um änderung im Rechtssystem: »Die Ursache des sein Ziel zu erreichen. vermehrten Studiums des Römischen Rechts Die Innen / Außen-Differenz kommt aber im 15. Jahrhundert wird hauptsächlich auf rein nicht nur in Bezug auf die innere Entwicklung wissenschaftlichem Gebiet liegen. Wir machen des Rechtssystems zum Tragen; deutlicher und ja oft die Beobachtung, dass die Erkenntnis wichtiger ist ihr Einsatz, um rechtsinterne Pro- ohne äußeren Anlass fortschreitet, ein Nachbar- zesse von Zuständen der »Umwelt« zu trennen gebiet ergreift, sich ausdehnt und innerlich ver- oder sie mit ihnen zu verbinden. »Äußere Grün- tieft.«12 de« hätten den Transfer verursacht, gehemmt Wissenschaft und Wissenstrieb waren denn oder erleichtert, provoziert oder ermöglicht. auch nach Meinung vieler Zeitgenossen dafür Die»äußerenGründe«sinddergesamtenUm- verantwortlich, dass das »Volk« allmählich aus welt des Rechts entnommen. So der Politik: dem Recht exkludiert wurde und dass sich eine »Ohne Hilfe des Römischen Rechts hätte der neue soziale Differenzierung der Gesellschaft an- moderne Staat nicht zum Durchbruch kommen bahnte. »Denn es ist nun einmal so, dass eine können.«8 Eng und streng kausal werden Politik fortgeschrittene Kultur komplizierte Lebensver- und Recht durch und im Transfer gekoppelt: hältnisse in sich trägt, zu deren rechtlicher Auf- »Den Begriff des absoluten, bureaukratisch ver- fassung, Ergründung und Beurteilung das Wis- walteten Staates entnahm man dem Römischen sen und Meinen des ungeschulten Denkens nicht Recht, und dies ist Beginn und Ursache der ausreicht.«13 »EswirdimmereineZeitgeben, Rezeption des Römischen Rechts. Die Entwick- wo das Recht aufhört als Gemeingut im Glauben lung des absoluten Staates und die Rezeption des und Bewußtsein des ganzen Volkes lebendig zu

6 von Below, 10 (Stobbe). 7 von Below, 153 (von Martitz). 8 von Below,12(Arnold). 9 von Below,30(Laband). 10 von Below,11(Arnold). 11 von Below, 121. 12 von Below, 120. 13 von Below, 25 (Stintzing). Debatte Marie Theres Fögen/Gunther Teubner 40

bleiben …«14 Das transferierte Recht führt aber 1.2 Notwendig / zufällig nicht nur zur Differenzierung der Sozialstruktur – hier das »Volk«, dort die gelehrten Experten –, Eine zweite, die Rezeptionsdebatte des sondern auch zur Binnendifferenzierung des 19. Jahrhunderts leitende Differenz weist die Rechts selbst, welches »mit der Zeit umfang- These, die Umwelt des Rechts habe den Transfer- reicher, verwickelter und künstlicher wird, schon prozess verursacht, vehement zurück. Paradig- weil sich mit fortschreitender nationaler Arbeits- matisch für diese Zurückweisung ist Savignys teilung verschiedene Berufsstände bilden, die alle berühmtes Diktum: »Diese merkwürdige Er- zum Teil wenigstens ein besonderes Recht er- scheinung (sc. der Rezeption) ist nicht durch zeugen …«15 den Willen einer Regierung, nur durch innere Politik, Wirtschaft, Wissenschaft (mit fol- Notwendigkeit hervorgerufen worden.«17 Und gender Professionalisierung) erscheinen in diesen so kam es zu einer »allgemein verbreiteten An- Beschreibungen als die treibenden Kräfte eines nahme …, dass schon in der Tatsache der Rezep- Transferprozesses im Recht. Verschieden eng tion selbst der beste Beweis für ihre Notwendig- oder lose werden die Kopplungen gestaltet. Zu- keit liege« und »dass eine weltgeschichtliche weilen ist die Wirtschaft das Leitsystem, dem das Tatsache von solcher Bedeutung sich unmöglich Recht dienend folgt, zuweilen nimmt die Politik ohne eine entsprechende geschichtliche Notwen- das Recht in seine Dienste. Und nicht zuletzt be- digkeit vollzogen habe könne.«18 Die endogenen zeichnen die Wissenschaftler des wissenschafts- Evolutionschancen des Rechts19 werden so zu gläubigen 19. Jahrhunderts die Eigendynamik Evolutionsnotwendigkeiten gesteigert. Der not- ihrer Wissenschaft als den wahren Grund der wendige Verlauf zu einem bekannten Ziel kann (r)evolutionären Geschehnisse im Recht. Dass es dann allenfalls noch in Hinblick auf Tempo und sich bei der Positionierung des Rechts im sys- Sprunghaftigkeit betrachtet werden; »die orga- temischen Eiertanz zwischen Wirtschaft, Politik nische Kontinuität wurde unterbrochen und mit und Wissenschaft um ein Problem von Ko-Evo- Überspringung der Zwischenstadien auf das Ziel lution handeln könnte, schimmert in der Debatte unmittelbar losgesteuert.«20 vor über 100 Jahren durch. Grundsätzlich ist es Der These von der notwendigen Entwick- das Rechtssystem, welches der wirtschaftlichen, lung eines Organismus, der den Transfer als wissenschaftlichen, politischen, sozialen Ent- systemeigenes Element erkennt und in sich ein- wicklung hinterherhinkt. »Den letzten und tiefs- baut, steht die Verblüffung über einen »wunder- ten Grund der Rezeption muss man in den Be- baren Vorgang«21 gegenüber, welcher sich der dürfnissen des gesellschaftlichen Lebens und in Erklärung im Grunde entzieht. »Erscheint inso- dem mangelhaften Zustand des einheimischen weit die Rezeption des Römischen Rechts nur als Rechts suchen.«16 Transfer erscheint damit als nicht motiviert, so erscheint sie von anderer Seite ein nachholender, den Errungenschaften anderer (betrachtet) geradezu als unmöglich und deshalb Systeme mehr oder minder sklavisch folgender um so mehr befremdlich.«22 Die Verwunderung Prozess. Transfer kompensiert ein Defizit des über den Eintritt des Unmöglichen – dass dieses Rechtssystems gegenüber seiner Umwelt – eine eingetreten war, vermochte niemand zu leugnen Beschreibung, die sich großer Beliebtheit bis in – mündet in der Entdeckung und Feststellung unsere Tage erfreut. von Kontingenz: »Wir müssen vielmehr hier wie

14 von Below,13(Arnold). 15 Ebd. 16 von Below, 22 (Moddermann). 17 von Below,3. 18 von Below,7(C.A.Schmidt,der sich kritisch gegen diese Annahme verwahrt). 19ObenbeiAnm.4,5. 20 von Below, 6 (Stobbe). 21 von Below,18(Sohm). 22 von Below,17(Sohm). Rg7/2005 Rechtstransfer 41

überall in der Geschichte mehr dem freien Spiel lung ist mit der Erfahrung und Vollendung der des Zufalls einen großen Raum zugestehen.«23 Positivität des Rechts im 20. Jahrhundert außer »In der Geschichte siegt keineswegs immer das Mode gekommen. Geblieben, oder besser: neu Bessere.«24 Man müsse vielmehr damit rechnen, erschaffen, ist wohl die Diagnose – und das dass das römische Recht »im wesentlichen wahl- Vertrauen –, dass das Recht seine Autopoiese los, unterschiedslos, aus äußern Gründen ange- in permanenter Selbstreferentialität fortsetzt. Wo nommen worden ist«.25 Als Zufall erkannt, er- und wie in diesem Prozess Transfers wahrge- scheint das transferierte römische Recht nicht nommen und als solche bezeichnet werden – mehr als systemeigenes Element des Organismus dafür hat von Below durchaus anschlussfähige des Rechts, sondern ganz im Gegenteil als Virus Angebote präsentiert: So kontingent die Gründe oder sogar als »Vergewaltigung von außen von Transfers auch sein mögen, sicher scheint, her«.26 Und deshalb »setzt das eindringende dass transferiertes Recht die Selbstreproduktion Römische Recht nicht die erfreuliche Entwick- des Rechtssystems zu unterbrechen, zu »stören«, lung des Deutschen organisch fort, sondern zu »irritieren« vermag.28 Eine Fortsetzung der unterbricht sie, stört sie, verhindert ihre Voll- durch den Historiker Georg von Below einge- endung«.27 Dass die Immunabwehrkräfte des leiteten Fremdbeschreibung des Rechtssystems, deutschen Rechts nicht ausreichten, um die das einen wirkungsmächtigen Rechtstransfer- Störung durch einen Transfer abzuwehren, ist prozess, genannt: die Rezeption des römischen Georg von Below nicht entgangen. Rechts, durchlief, bleibt zu wünschen. Die Selbstbeschreibung des Rechts als Orga- nismus in notwendiger, zielgerichteter Entwick-

***

2 Eine Erwiderung auf Georg von Below also den Transfer zwischen westlichen Rechts- kulturen mit unterschiedlicher path depen- Dazu einige Überlegungen und Vermutun- dency.30 Die dritte Fallstudie beschreibt einen gen, die sich von drei auf der Konferenz »Rechts- Rechtstransfer zwischen fundamental unter- transfer in system- und evolutionstheoretischer schiedlichen Rechts- und Sozialstrukturen (Fami- Perspektive« (Februar 2005) diskutierten Fällen lienrechtsreform in der Türkei).31 Versucht man, des Rechtstransfers anregen lassen. Der eine Fall an diesen Fällen die Anschlussfähigkeit der oben betrifft die Rechtskolonisierung der Ex-DDR, angesprochenen Kategorien des 19. Jh. zur Re- also einen Transfer (oder gar Re-Transfer?) in- zeption des römischen Rechts (Innen / Außen, nerhalb einer historisch gewachsenen gemein- Notwendigkeit / Zufall) an die neuere Theorie- samen Rechtskultur, deren Teilgebiete zeitweise diskussion zum Rechtstransfer zu testen, so kann unterschiedlichen politischen Irritationen ausge- man damit über die Dynamik des Rechtstrans- setzt waren.29 Im zweiten Fall geht es um die fers Aufschluss erwarten. Insbesondere für die Europäisierung des englischen Vertragsrechts, Frage, ob für diese die Eigengesetzlichkeiten

23 So von Below selbst, 145. Welz, Opladen 2001, 351–380 passen sich nicht dem neuen kul- 24 von Below, 160. (353): »Wenn einer Rechtskultur, turellen Kontext einfach an, son- 25 von Below, 160. um sozialen Wandel herbeizufüh- dern lösen eine prinzipiell nicht 26 von Below, 156 Anm. 1 ren, eine fremde Norm auferlegt beherrschbare evolutionäre Dyna- (Schwartz). wird, bewirkt diese eine Irritation, mik aus, in der sowohl die Bedeu- 27 von Below, 155 f. eine schmerzhafte Störung des tung der externen Norm als auch 28 Man vgl. nur Gunther Teubner, Rechtsbetriebes, die eine ganze der interne Kontext grundlegend Rechtsirritationen. Zur Koevolu- Kette neuer und unerwarteter Er- verändert wird.« tion von Rechtsnormen und Pro- eignisse auslöst. … Rechtsirrita- 29 Manfred Aschke, siehe oben duktionsregimes, in: Moral und tionen sind nicht einfach domesti- S. 13. Recht im Diskurs der Moderne, zierbar, sie verwandeln sich nicht 30 Teubner (Fn. 28) 351 ff. hg. von Günter Dux und Frank von Fremdem in Vertrautes, sie 31 Mahidé Aslan, siehe oben S. 33. Debatte Marie Theres Fögen/Gunther Teubner 42

eines Transplanten, eines Formanten, eines Irri- schen methodischen und inhaltlichen Divergen- tanten gelten. Oder stoßen wir schlicht auf eine zen bei der Rechtsanwendung führt, so dass die Immunreaktion inkompatibler Rechtsordnun- Intention einer Rechtsangleichung durch Rechts- gen?32 transfer zur Überraschung der europäischen Rechtstechnokraten in ihr Gegenteil umschlägt. Ganz anders im Fall der Ex-DDR. Hier hat 2.1 Innen / außen zwar eine durchgehende Politisierung der Rechts- kultur stattgefunden (sozialistisches Rechtsbe- Die neuere systemtheoretische Begriffsbil- wusstsein, Einheit von Recht und Staat, führende dung schließt durchaus an hergebrachte Vor- Rolle der Partei), aber prinzipiell gleiche Episo- stellungen einer inneren Affinität / Nichtaffinität denverknüpfung und deutsch-deutsche Argu- verschiedener Rechtskulturen an. Ebenso nimmt mentationskultur (Gesetzespositivismus, Hierar- sie die Tradition einer der Rechtsordnung imma- chie der Rechtsnormen, politisch aufgeladene nenten Entwicklungslogik auf. Allerdings weist Begriffsjurisprudenz) dürfte in der Lage sein, sie Begriffe von Teleologie oder Fortschritt den erstaunlich schnell und reibungslos verlau- schroff zurück. Sie rekonstruiert Rechtskultur fenen Prozess eines West-Ost-Transfers von gan- imKernalseinejespezifische Form der Episo- zen Rechtsinstitutionen zu erklären. denverknüpfung im Recht. Sie wird als je eigen- Am Beispiel des misslungenen Transfers tümliche Verknüpfung von rekursiven Operatio- westlicher Rechtsnormen ins türkische Familien- nen der Selbstbeobachtung erfasst, die in einem recht werden die Turbulenzen der Rechtstrans- pfadabhängigen Prozess zu einer eigensinnigen plantation deutlich. Resultat war eine schmerz- Rechtskultur evolviert. hafte Immunreaktion des türkischen Familien- Im Fall des Transfers rechtsdogmatischer rechts. Hier dürften sich Legrands Vorstellungen Figuren von Kontinentaleuropa auf Großbritan- einer Unverträglichkeit der Rechtskulturen be- nien wird dabei deutlich, wie sehr die unter- stätigen, die sich nicht nur aus den drastischen schiedlichen Entwicklungspfade der Rechtskul- Unterschieden der Episodenverknüpfung erklä- tureneineglatteÜbernahmevonRechts- ren lassen, sondern die mit unterschiedlichen begriffen, wie sie der Rechtshistoriker Watson Graden der Ausdifferenzierung des Rechtssys- immer wieder behauptet, unmöglich machen tems zusammenhängen. oder jedenfalls drastisch verkomplizieren. Die Die Vorstellungen der Kausalität äußerer trotz aller Kontakte gegenüber dem Kontinent Einflüsse auf den Rechtstransfer, die im 19. Jahr- immer noch eigenwilligen Formen der Episoden- hundert als klimatische, politische, ökonomische verknüpfung in Großbritannien (Umgang mit Faktoren identifiziert wurden, werden in system- Generalklauseln primär über Fallrecht, Forma- theoretischer Sicht, die von der selbstreferen- lismus des stare decisis, begrifflich wenig ausge- tiellen Schließung von Rechtssystemen ausgeht, arbeitete Dogmatik, situativer Argumentations- als Phänomene struktureller Kopplung reformu- stil, nicht-mediatisiertes Eindringen moralisch liert. Hier ist das Konzept des Produktionsregi- aufgeladener Prinzipien) bewirken, dass die mes einschlägig, das als hybride Konstellation Inkorporierung von Generalklauseln der konti- von Rechtsinstitutionen und Sozialinstitutionen nentalen Tradition ins englische Recht zu drasti- ältere Vorstellungen von Kausalzusammenhän-

32 Zu legal transplants, legal for- mants, legal irritants und Immun- reaktionen des Rechts, vgl. Kahn- Freund, On Uses and Misuses in Comparative Law. Selected Wri- tings, London 1978, 294–319. Legrand, The Impossibility of Legal Transplants, in: Maastricht Journal of Comparative Law 4 (1997) 111 f. Rg7/2005 Rechtstransfer 43 gen ersetzt. Es geht nicht um externe Kausal- deutsch-deutschen Rechtsordnungen gibt diese faktoren, die die Entwicklung des Rechts steu- Übertragung von ganzen Produktionsregimes ern, sondern um zwei getrennte Evolutionspro- das externe Pendant ab, das den Erfolg des zesse, die je unterschiedliche Mechanismen der Rechtstransfers plausibel macht. Variation, Selektion, Retention aufweisen, dann Für den Misserfolg des Transfers im Falle der aber über ko-evolutive Mechanismen anein- Türkei dürfte es nicht genügen, auf den eklatan- ander gebunden sind. Transfers müssen dann ten Widerspruch von transferierten (internen) nicht nur mit der Resistenz rechtsinterner Struk- Rechtsnormen und (externen) Familienstruktu- turen (Episodenverknüpfung) rechnen, sondern ren hinzuweisen. Vielmehr erscheint hier die gan- mit dem Widerstand, der aus der Evolutions- ze Innen / Außen-Differenz als der Sozialstruktur dynamik eines an das Recht gekoppelten Sozial- unangemessen. Hier von einem Produktions- bereichs stammt. Die Ko-Evolution von Recht regime als der Separierung und Kopplung von und Sozialbereich ist für die Turbulenzen des Sozialsystemen zu sprechen, dürfte völlig un- Rechtstransfers verantwortlich. passend sein. Die Systemtheorie sollte in einem Die politische Ökonomie hat in zahlreichen solchen Fall nicht mit dem Modell der Intersys- empirischen Studien herausgearbeitet, wie sich temkollisionen arbeiten, sondern mit Kollision in den varieties of capitalism das Produktions- von unterschiedlichen gesellschaftlichen Orga- regime Großbritanniens von den Produktions- nisationsprinzipien. Auch wenn die Türkei dra- regimes in Kontinentaleuropa unterscheidet. In matische Wandlungsprozesse durchgemacht hat, allerKürze:hierprimärverbandsgesteuerte dürfte jedenfalls im Bereich der Familie die Wirtschaftsstrukturen mit kooperativ-korpora- Problematik darin bestehen, dass ein gesellschaft- tiven Normmechanismen, dort Konfrontation lich integriertes Recht, das auf der Einheit von von Großunternehmen in kompetitiven Märkten rechtlichen, religiösen, politischen, ökonomi- mit regulatorischer Politik. Dann ist das Resul- schen, kulturellen Elementen basiert, mit einem tat nicht mehr erstaunlich, dass identisch for- unifunktionalen, hochspezialisierten, autono- mulierte privatrechtliche Generalklauseln nach men, formalen Recht konfrontiert wird. Resultat dem Transfer nicht mehr als Kooperationspflich- ist ein Rechtsdualismus von einem schmalen ten im Verbandsregime, sondern als prohibitive Bereich autonomen Rechts und einem großen Normen im Marktregime konkretisiert werden. Bereich gesellschaftlich integrierten Rechts. Hier Im Fall der Ex-DDR dürfte von Bedeutung entstehen Turbulenzen der wechselseitigen Stö- sein, dass nicht bloß ein Rechtstransfer, der auf rungen, die durch politische Intervention nur resistente Sozialstrukturen trifft, stattgefunden ad hoc schlecht und recht bewältigt werden. hat, sondern ein Transfer von komplett einge- richteten und ausgeübten Produktionsregimes. Im Zuge der Wiedervereinigung wurden nicht 2.2 Notwendig / zufällig bloß Rechtsnormen oder Rechtsinstitutionen transferiert, sondern es wurden in einem Zug Die hergebrachte Debatte oszillierte zwi- gleichzeitig Rechtsstrukturen und Sozialstruktu- schen den Polen: innere Notwendigkeit der Re- ren in die ehemalige DDR übertragen. Gegen- zeption einer anderen Rechtsordnung oder reine über der oben angedeuteten inneren Affinität der Kontingenz. Hier schlägt die Systemtheorie vor, Debatte Marie Theres Fögen/Gunther Teubner 44

es stattdessen mit der Differenz enge Kopplung / wird. Der Unterschied zwischen Rechtstransfer lose Kopplung von Recht und Sozialbereich zu in »nahe« und »ferne« Rechtsordnungen kann versuchen. Die Art der empirisch identifizier- in dieser Weise als Unterschied von Rekonstruk- baren Kopplung entscheidet dann darüber, ob tion externer Norm-Perturbationen einerseits Rechtstransfers »gerichtet« verlaufen oder nur und der Kondensierung / Konfirmation von Nor- chaotische Effekte erzeugen. men andererseits gefasst werden. Lose Kopplungen finden sich in den zufälli- Die meisten Rechtstransplantationen betref- gen Kontakten von Recht und Sozialstruktur in fen aber gerade nicht diese beiden Extreme, Rechtsfällen vor den Gerichten. In einer solchen wechselseitig geschlossene Systeme einerseits Situation wird der Transferprozess nur spora- oder Kommunikationsverkettungen innerhalb disch von ko-evolutiven Prozessen im Sozialbe- eines integrierten Systems andererseits. Typi- reich beeinflusst. Dagegen werden enge Kopp- scherweise geht es um Kontakte zwischen »auto- lungen in den Produktionsregimes hergestellt. nomen Rechtsordnungen«, deren wechselseitige Hier entsteht eine doppelte Notwendigkeit: Der Beziehungen sich weder dem einem noch dem Transferprozess wird von der derzeitigen funk- anderen Modell fügen. Welche Konzepte sind tionalen Differenzierung abhängig und es ent- hier angemessen? wickelt sich notwendig eine Koevolution im Einen Schlüssel mag ein Zitat von Morin Kompatibilitätsraum von Recht und gekoppel- liefern: »L’ouvert s’appuye sur le fermé.« Die tem Sozialsystem. Art der wechselseitigen Schließung der Systeme entscheidet über ihre wechselseitige Öffnung. *** Für die Transfer-Beziehungen zwischen »Rechts- ordnungen« gibt es keine Einheitsmuster. Weder Sollte man nicht aus alledem folgern: Irritation und interne Rekonstruktion noch Rechtstransfer ist als Kategorie systematisch un- différend / litige im Sinne von Lyotard noch die geeignet? Es gibt keinen Transfer, es gibt nur wechselseitige Konstitution von Kontext und Resignifikation? Gegenstand können hier als einheitliche Konzep- Die Systemtheorie legt dies nahe. Denn im te weiterhelfen. Als Lösungsformel bietet sich an: einen Extremfall verläuft der Transfer zwischen Abhängigkeit der Strukturtransformation von unterschiedlichen Sozialsystemen. Von Transfer den Mechanismen der Schließung der involvier- über Systemgrenzen kann keine Rede sein, nur ten Systeme. von Rekonstruktion in anderen Systemkontex- So überraschend es klingen mag, die auto- ten. Im anderen Extremfall geschieht der Trans- poietische Schließung – über systemspezifischen fer innerhalb der Kommunikationsverkettungen Code, über systemspezifische Operationen – ist eines Sozialsystems. Doch auch innerhalb sol- nur eine von vielen möglichen Schließungen von cher Verkettungen ist die Vorstellung eines Sinnsystemen. Und der Normentransfer gestaltet Transfers irreführend. Sinngehalte werden auch sich höchst unterschiedlich, je nachdem ob es hier nicht »transportiert«, sondern, was statt- sich um autopoietische Schließung oder um an- findet, ist: Kondensierung und Konfirmation, dere Formen der Schließung handelt. also Strukturtransformation, die nur im Nach- Einige Beispiele mögen die Unterschiede der hinein als Stabilität von Strukturen rekonstruiert Schließung erläutern. Im Transfer zwischen So- Rg7/2005 Rechtstransfer 45 zialnormen und Rechtsnormen ist in der Tat die über das unterschiedliche Organisationsprinzip autopoietische Schließung des Rechts gegenüber der Gesellschaft hergestellt. Handelt es sich um ihrerseits autopoietisch geschlossenen Systemen Transferprozesse in einer und derselben Rechts- zu überwinden. Der Normentransfer muss die ordnung, dann gilt innerhalb einzelner Rechts- Grenzen des anderen Codes überwinden. Die disziplinen dieser Rechtsordnung natürlich der Rekonstruktion geschieht über De-Codierung, gleiche Code, die wechselseitige Schließung Einführung des Rejektionswertes und Recodie- findet aber über unterschiedliche Programme rung. Ganz anders aber gestaltet sich der Trans- statt, während unterschiedliche Rechtsgebiete fer von Organisationsnormen zu Rechtsnormen. der Rechtspraxis sich als Jurisdiktionen über Im Intersystemverhältnis Organisation – Recht unterschiedliche Gerichtshierarchien voneinan- wirken Mitgliedschaft und Entscheidungsverket- der abschließen. In all diesen Konstellationen tung als andersartige Schließungsmechanismen. hängt der Normtransfer in seinen Voraussetzun- Wieder anders wirkt die Schließung im Ver- gen und seinen Wirkungen von diesen je unter- hältnis verschiedener nationaler Rechtsordnun- schiedlichen Schließungsmechanismen ab. gen. Von wechselseitiger autopoietischer Ge- Vorschlag: Es gibt keinen Rechtstransfer, es schlossenheit kann keine Rede sein. Nationale gibt nur unterschiedliche Grenzüberschreitungen Rechtsordnungen sind nur Fraktionierungen ei- bei der Resignifikation von Rechtsnormen. Und nes einheitlichen Weltrechtssystems. Hier wirken diese unterschiedlichen Grenzüberschreitungen die Grenzbarrieren der nationalen Rechtskultur im Detail zu analysieren – darauf wird es in und der nationalen Gerichtshierarchien. Noch- Zukunft ankommen. mals anders ist dies im Verhältnis von autono- mem Recht zu sozial integriertem Recht. In diesem Fall wird die wechselseitige Schließung Marie Theres Fögen, Gunther Teubner Debatte Marie Theres Fögen/Gunther Teubner 46

Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? Zum Topos der angloamerikanischen Provenienz des Leasing-Rechts

I. forderungen der Wirtschaftsgesellschaft ent- sprechenden Rechtsänderungen als Handikap. Seit etwas mehr als vier Jahrzehnten kon- So grassiert die Virulenz neuer Vertragsformen frontiert die moderne Wirtschafts- und Vertrags- in der gegenwärtigen Vertragsrechtslehre als praxis die einzelnen europäischen Schuldrechts- vieldiskutiertes juristisches Problem.6 Weder ordnungen mit dem Problem der dogmatischen findet sich für sie ein handhabbares Abbild Integration und Rechtsinstitutionalisierung einer in den Typenkatalogen Bürgerlicher Gesetzbü- kaum mehr überschaubaren Vielzahl neuer, ge- cher, noch lässt sich deren unterstellte (und zu- setzlich nicht geregelter Vertragsformen.1 Lea- gleich heftig umstrittene) Rechtsnatur mit den sing-, Factoring-, Franchising-, Know-How-, überkommenen Mitteln einer klassifizierenden Management- / Consulting-, Pool- und Jointven- Rechtsbotanik so ohne weiteres vom kodifizier- turevertrag – um nur die geläufigsten solcher ten Gesetzesrecht her nachweisen: »Das Spekt- neuen Vertragsgestaltungen zu nennen – bestim- rum der Einordnungsversuche ist kaum mehr zu men heute den Wirtschaftsalltag. Sie gelten als überschauen.«7 geradezu »typisch … für die heutige moderne Diese modernen Verträge scheinen tatsäch- Wirtschaftsordnung in den westlichen Industrie- lich etwas genuin Neues zu artikulieren, das nationen, die sich auf ihrem Weg zur ›post- sowohl Schuldrechtswissenschaft wie Judikatur industriellen‹ Dienstleistungsgesellschaft befin- dazu herausfordert, zunehmend pragmatische, det«.2 Offenbar haben die »Neuen Vertrags- »billige« und ad-hoc-gefällte (Konflikt-)Lösun- formen der Wirtschaft«3 in kürzester Zeit eine genfürsiezuentwerfen.8 Angesichts solcher derart überragende ökonomische Bedeutung er- Rechtspraktiken ist es keineswegs unverständ- langt, dass in ihnen der Strukturwandel einer lich, wenn eine sich systematisch-hermeneutisch zunehmend differenzierten und sich globalisie- verstehende Rechtslehre befürchtet: »Jeder ein- renden (Markt-)Wirtschaftsgesellschaft gerade- zelne neue verkehrstypische Innominatvertrag zu sinnfällig wird.4 So ist über die modernen attackiert die klassische Vertragstypenordnung; Vertragstypen beispielsweise zu lesen: »Sie sind ihre Vielzahl droht sie zu derangieren; notwen- Spiegelbild und zugleich Initiator des sozialen dig ist es aber, die modernen Vertragsformen zu und ökonomischen Wandels und erfüllen eine integrieren.«9 eminent wichtige Rechtsfortbildungsaufgabe. Sie Letzten Endes manifestiert sich in den viel- greifen Impulse, Bedürfnisse und Erfordernisse fältigen juristischen Strategien und Bewälti- einer grundlegend geänderten Wirtschafts- und gungsformen einer Rechtsintegration neuer Ver- Sozialstruktur auf und setzen sie in neue Ver- tragsformen der Vorgang eines dogmatischen tragsformen um. Sie verbinden damit das Recht Wandels, der gleichermaßen Recht wie Methode von heute mit dem Recht von morgen.«5 des Schuldrechts betrifft. So gesehen, ließe sich Aus der Innensicht der Rechtsdogmatik al- über die zahlreichen dogmatisch-konstruktiven lerdings erscheinen solche, den gewandelten An- Typenbildungsprozesse solcher neuer Verträge

1DazuMartinek, Moderne Ver- Nutzungs- und Zugriffsdenken, lichen Systemdenken zum juristi- tragstypen, Bd. 1, 1991; Schluep, wie er in der Emergenz neuer Ver- schen Pragmatismus in Folge zu- Innominatverträge, 1979. Kra- tragsformen zum Ausdruck ge- nehmender »kautelarjuristischer mer, Innominatverträge, 1992. langt. Zum Leasing 59 ff., 100 ff. Instrumentalität«: Langenfeld, 2 Martinek,7. 5 Sefrin, Kodifikationsreife, 90. Vertragsgestaltung, 39 ff.; Stof- 3 Vgl. den Sammelbandtitel bei 6 Die Zahl der Publikationen ist fels, Schuldverträge, 157 ff.; zum Kramer (s. Literatur S. 56). beinahe nicht mehr zu überschau- angloamerikanischen Rechtsstil 4Rifkin schildert in »Access« den en. »Schon die Masse ist furcht- Martinek, 8f.; Sefrin, 56 ff. Strukturwandel der kapitalisti- erregend.« So Martinek,13. 9 Martinek, 10. Wobei er der dog- schen Gesellschaft als Übergang 7 Heermann, Grundprobleme, 329. matischen Rechtsintegration mo- vom marktorientierten Eigentums- 8 Vielfach beobachtet als eine Art derner Vertragsformen eine über- zu einem netzwerkorientierten Übergang vom rechtswissenschaft- aus innovative »Diskurstheorie« Rg7/2005 Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? 47

hinweg womöglich die Form einer Evolution lehren« als neue Methodenlehren der richter- des Vertragsrechts erschließen. Gerade anhand lichen Rechtsanwendung im Bereich des mo- eines theoretischen Konzepts von Rechtstransfer dernen Vertragswesens13 und nicht zuletzt auch könnte man dann zu verstehen versuchen, wie in »Vertragsgestaltungslehren« als Ansätzen ei- die Begründung eines Rechts neuer Vertrags- ner wissenschaftlichen Reflexion der modernen formen als vertragsrechtlicher Transformations- Kautelarpraxis zum Ausdruck.14 Dabei handelt prozess funktioniert, und wie schließlich das es sich durchwegs um juristische Bestrebungen, Neue neuer Vertragsformen als Recht ins beste- die vom Unbehagen getragen sind, dass sich das, hende Schuldvertragsrecht gelangt sein könnte. was sich derzeit im Herzen des Schuldvertrags- Mit der Emergenz neuer Vertragsformen rechts abspielt, so ganz nicht abgestimmt sei scheint sich der Übergang der kodifizierten mit dem, was die aktuellen gesellschaftlichen Schuldvertragsordnungen in einen Rechtszu- Herausforderungen ihm abverlangten. Die For- stand abzuzeichnen, der den veränderten Ver- derung nach Gesellschaftsadäquanz des Rechts hältnissen des Rechts zu seiner gesellschaftlichen geht insoweit auf Beobachtungen zurück, die das Umwelt, speziell gegenüber den Ansprüchen ei- veränderte Verhältnis eines nach wie vor (und ner zunehmend globalen und zunehmend spe- überwiegend) national verstandenen Rechts zu zialisierten Wirtschaft, vermutlich besser ent- einer im Kontext der Globalisierung zunehmend spricht. Das lässt sich als These tatsächlich nur entstaatlichten, zunehmend fragmentierten ge- vermuten, korrespondiert jedoch als Behaup- sellschaftlichen Umwelt selbst als zunehmend tung gerade mit den Forderungen der Schuld- prekär und als zunehmend problematisch emp- rechtslehre, für das Phänomen neuer Vertrags- finden.15 formen dogmatische Konzepte zu entwickeln, Angesichts der Aktualität, die dem Thema die schließlich gesellschaftsadäquat sein sollen.10 einer rechtsdogmatischen Bewältigung moderner Bezeichnend für einen solchen schuldrecht- Vertragsformen in der Schuldvertragslehre zu- lichen Transformationsprozess sind die immer kommt, liegt es nahe, den Ausgangspunkt des dringlicher empfundenen Fragen der Rechts- aufgeworfenen Rechtswandels in den norma- lehre, wie »ein ›Weiterdenken‹ klassischen Ver- tiven Herausforderungen der Institution des Ver- tragsrechts vorzunehmen«11 sei und juristisch trages zu suchen. Die Frage ist dann, ob nicht valable Lösungsalternativen zu denen einer tra- eben vermittels solcher neuer Vertragsgestaltun- ditionellen Rechtsdogmatik zu entwerfen wären. gen jene prekäre Beziehung von nationalem So scheint das Phänomen neuer Vertragsformen Schuldrecht und transnationaler Wirtschafts- über die rechtsdogmatische Erarbeitung und praxis normativ synchronisiert wird. Ob über Rechtsinstitutionalisierung einzelner Vertragsty- die verbindliche Form des Vertrages hinweg – pen hinaus offenbar das Bedürfnis geweckt zu dabei das orientierende Argument der Gesell- haben, radikaler über die dogmatischen Funda- schaftsadäquanz im Auge – die einzelnen Schuld- mente, Methoden, Strategien und Verfahren des rechtsordnungen gar unter eine Art normativen Vertragsrechts nachzudenken. Dies kommt dann Handlungs- und Rekonstruktionszwang gesetzt beispielsweise in der »Vision eines Allgemeinen werden, der sich schließlich als Rechtsänderung Teils moderner Vertragsformen«,12 in der Ent- in einem produktiven Prozess der Rechtsnorm- wicklung von besonderen »Innominatvertrags- genese auswirkt.

zugrunde legt, Bd. 1, 25 ff.; Bd. 3, 13 Solche richterrechtlichen »sui- 14 Rehbinder, Vertragsgestaltung, 386 ff. iuris-Theorien« tauchen in der 1974; Langenfeld, Vertragsge- 10 »Autonomie der Rechtsdogmatik Schweiz bereits sehr früh auf: staltung, 2004. gibt es nur unter der Bedingung Meier-Hayoz, Gesetzlich nicht 15 So das regelmäßige Problememp- »gesellschaftsadäquater« Rechts- geregelte Verträge, 1954; grundle- finden bei der Erörterung von begriffe«, Teubner, Netzwerk, gend Schluep, Innominatverträge Rechtskollisionsfragen anlässlich 17 f. 1979; Radikaler in Richtung All- von Streitigkeiten im grenzüber- 11 Amstutz, Vertragsverbindungen, gemeines Vertragsrecht neuerdings schreitenden Rechtsverkehr. 81. Dasser, Vertragstypenrecht im Vgl. für das sog. »cross-border- 12 Martinek, Bd.1,11ff.;Bd.3, Wandel, 2000; ders.,Vertrags- leasing« nur Girsberger, Grenz- 363 ff. Diese Forderung schon bei recht ohne Vertragstypenrecht, überschreitendes Finanzierungs- Tercier, Législateurs, 45 f. 2003, insbes. 211 f. leasing, 1997. Debatte Federico Gonzalez del Campo 48

II. gesellschaftlichen Globalisierung als Folgen ei- ner Übernahme fremden, angloamerikanischen Wird ein derart festgestellter Wandel des Rechtsdenkens und Rechtsstils. Schließlich wer- Schuldvertragsrechts einmal mit der zunehmen- den die besonderen dogmatischen Probleme, den Internationalisierung der Wirtschafts- und welche die Rechtsintegration neuer Vertragsfor- Kautelarpraxis in Verbindung gebracht, dann men in den kodifizierten Rechtssystemen auf- liegt es nicht mehr fern, das Neue der neuen wirft, genau diesem Umstand angelastet: »Die Vertragsformen schließlich dem Fremden frem- Verwurzelung der modernen Vertragstypen in der Rechtsordnungen zuzuschreiben. Genau die- der anglo-amerikanischen Rechtskultur ist die se Assoziation vollzieht die These der »Amerika- Ursache dafür, dass sie sich bei ihrer Einordnung nisierung des Rechts«. Eine solche hat H.-U. in die deutsche Rechtsordnung als überaus sper- Vogt unlängst im Rahmen seiner Antrittsvorle- rig erweisen.«17 Zugleich weist die Deutung sung an der Universität Zürich aufgestellt.16 Er einer gleichsam angloamerikanischen »Kolonia- meinte unter anderem: »Die Amerikanisierung lisierung« der europäischen Rechtsordnungen des Rechts ist … ein Prozess des Rechtswandels, auf ein ganz bestimmtes Transferkonzept hin. der das geschriebene Recht, das ›lebende Recht‹ In dem Ausmaß nämlich, in dem eine Amerika- sowie auch unser Rechtsdenken und unsere nisierung des Rechts im Rahmen gesellschaftli- Rechtskultur erfasst. Diesen Prozess des Rechts- cher Globalisierungsprozesse identifiziert wird, wandels kann man, wenn man ihn denn wür- in dem Ausmaß wird der Vorstellung Ausdruck digen will, nicht vom Kontext lösen, in dem er verliehen, es fände ein Zusammenkommen der steht. Dieser Kontext heißt Globalisierung, also Rechtsordnungen im Hinblick auf ein globales die Denationalisierung und Transnationalisie- Recht statt, das schließlich einen gemeinsamen rung von Politik, Wirtschaft und Kultur« (15). Ursprung in der bewährten Überlegenheit des Dabei sei »die Amerikanisierung des Rechts angloamerikanischen Rechtsdenkens habe.18 etwas, was im Rechtssystem als Reaktion auf Am Beispiel eines deutschen Rechts des Lea- genau diese Globalisierung« (16) stattfinde. singvertrages soll nun aufgezeigt werden, wie Gleichsam so, als produzierten die Vereinigten wenig zutreffend die Vorstellung von Rechts- Staaten ein Recht, das den Bedingungen der transfer als einer Übernahme oder Übertragung Globalisierung am besten entspreche (und in- fremden Rechts von einer Rechtsordnung auf sofern gesellschaftsadäquater sei), würden, so eine andere ist, und zwar gerade deshalb, weil heißt es weiter, »amerikanische Geschäftsformen von einer grenzüberschreitenden Ausbreitung und der amerikanische Vertragsstil … im Zuge angloamerikanischen Leasingrechts nicht die Re- der weltweiten Amerikanisierung … zu uns ex- de sein kann. Womöglich gestalten sich die Vo- portiert« (9). raussetzungen und Abläufe von Rechtstransfers Eines macht die Amerikanisierungsthese schwieriger, als die Amerikanisierungsthese glau- klar: Der wahrgenommene Wandel im Schuld- ben macht. vertragsrecht wird ursächlich auf Rechtstrans- fers zurückgeführt. Gerade das Deutungsange- bot »Amerikanisierung des Rechts«interpretiert solche Rechtsänderungsprozesse im Zuge der

16 Vogt, Amerikanisierung des Rechts, 2004. Die nachfolgenden Seitenangaben beziehen sich auf den Manuskripttext in der print- out-Version. 17 So Martinek,9;auchStoffels, Schuldverträge, 7; Sefrin, 56 ff. 18 Vogt spricht diesbezüglich von ei- nem »Recht, das auf die Bedin- gungen der Globalisierung zugeschnitten ist …«, 16. Rg7/2005 Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? 49

III. gunsten des Leasingnehmers vereinbart sein darf, während bei letzteren das Vorliegen eines solchen Eine Entsprechung findet die Amerikanisie- gerade zum entscheidenden Vertragsmerkmal er- rungsthese in der weit verbreiteten Behauptung hoben wird.26 Ein anderes Beispiel im Verhältnis der »US-amerikanischen Provenienz«19 des Lea- Deutschland mit den Vereinigten Staaten: Wäh- sings. So herrscht die Ansicht vor, bei Leasing rend ein deutscher Leasingnehmer frei wählen handle es sich um eine »Neuschöpfung des ang- kann, ob er das Leasinggut direkt beim Liefe- loamerikanischen Rechtssystems«,20 die sozu- ranten aussucht oder sich zunächst an das Lea- sagen als »Importprodukt«21 aus der in den singunternehmen wendet, um bei der Auswahl Vereinigten Staaten stehenden »Wiege«22 nach eines geeigneten Wirtschaftsguts von dessen Europa eingeführt worden sei. Dementspre- Know-How zu profitieren, ist es den Leasingge- chend sei zunächst »einmal festzuhalten, dass sellschaftenindenUSAdagegenperGesetz(Uni- mit der Anwendung des Finanzierungsleasing form Commercial Code § 2A–103 (1)(g)i) ver- in Kontinentaleuropa eine neue, in einer fremden wehrt, dem Leasingnehmer irgendwelche Dienst- Rechtsordnung entstandene Finanzierungsform leistungen zu erbringen, die über die reine Finan- übernommen« wurde.23 zierung des Leasingobjektes hinausgehen (»the Solche Auffassungen führen die Begründung lessor does not select … the goods«).27 Ange- eines deutschen Leasingrechts auf ein zwar be- sichts der vielfältigen aufsichts-, steuer-, buch- hauptetes, aber schließlich doch unbehandeltes führungs-, vertrags-, und sachenrechtlichen Im- Rechtstransferphänomen zurück. Wie lässt sich plikationen, welche die rechtliche Ausgestaltung die Idee des Leasing als ein amerikanisches Im- des Leasinggeschäfts in den einzelnen Ländern portprodukt jedoch mit der Beobachtung verein- mit sich bringt, dürften sich im grenzüberschrei- baren, dass ein einheitliches, angloamerikanisch tenden Vertragsverkehr bereits geringste Rege- geprägtes Leasingrecht im globalen Rahmen lungsunterschiede geradezu potenzieren.28 kaum festzustellen ist?24 Wo nämlich Konver- Dessen ungeachtet macht die Leasingindus- genz i.S. eines übergreifenden angloamerikani- trie keineswegs an den Grenzen einzelner Rechts- schen Rechts des Leasingvertrages zu erwarten ordnungen halt: »Wenngleich die Berührung wäre, da trifft man im Gegenteil auf eine Viel- unterschiedlicher nationaler Rechtsordnungen falt unterschiedlicher nationaler Leasingrechte – durch ein cross-border-leasing vielfältige ökono- man trifft auf Divergenzen: »In den verschiede- mische und rechtliche Probleme aufwirft, so nen nationalen Rechtsordnungen ist das Finan- wurden von der internationalen Leasingpraxis zierungsleasing sehr unterschiedlich ausgestal- doch längst die Anreize erkannt, diese Diver- tet …«25 genzen im Sinne kostenminimierender Gestal- Manche Legaldefinitionen des Finanzierungs- tungen im Rahmen institutioneller Arbitragen leasing sind derart verschieden, dass sie sich ge- zu nutzen.«29 So hinderlich solche Rechtsunter- genseitig geradezu ausschließen, wie dies bei- schiede im grenzüberschreitenden Verkehr emp- spielsweise im Vergleich der Vereinigten Staaten funden werden, so vorteilhaft werden sie letzten und Großbritannien mit Belgien oder Frankreich Endes genutzt. Beispielsweise bezwecken be- der Fall ist, wo bei ersteren im Finanzierungs- stimmte cross-border-Vereinbarungen – als so leasingvertrag grundsätzlich kein Kaufsrecht zu- genannte double- oder multiple-dip-leasing aus-

19 Stoffels, Schuldverträge, 925. tionsgüter-Leasingverträgen kaum 26 Vgl. Wulkan, 25 f.; Kronke, 20 Wulkan, Leasingvertrag, 23. jemals auf die Konvention zurück, Finanzierungsleasing, 388 ff. 21 Girsberger, 12. dieihnenzuvielewichtigeFragen 27 Heermann, 347. 22 Heermann, 327. offen lässt …«, s. Martinek, 28 Girsberger, 15, 21 ff.; Eben- 23 Wulkan, 25. Bd.3,360;FernerGirsberger, roth, Leasing im grenzüber- 24 So steht der UNIDROIT-Leasing- 23 f.; Dageförde, UNIDROIT- schreitenden Verkehr, 117 ff.; konvention eine »breite Akzeptanz Konvention; Feinen, Internatio- ferner: Gao, International leasing, und Übernahme in den einzelnen nale Leasingrechtsregeln, 1 ff. 1994; Dageförde, Internationa- Ländern durch deren Gesetzgeber 25 Girsberger, 4. Globalisierungs- les Finanzierungsleasing, 1992. oder Rechtsprechung noch aus; prozesse scheinen v. a. neue Unter- 29 Ebenroth, 119; Hövel, Interna- auch die Verkehrskreise greifen schiede zu schaffen: Teubner, tionale Leasingtransaktionen, bei grenzüberschreitenden Investi- Produktionsregimes, 1999, 7 ff. 1029 ff. Debatte Federico Gonzalez del Campo 50

gestaltet – in erster Linie die Erzielung von tionsbegriff tatsächlich einen ziemlich falschen Steuerersparnissen gerade dadurch, dass beson- Eindruck, widerspricht er doch deutlich der ders vermögensintensive Investitionsgüter (»big- Beobachtung, dass die praktische Anwendung tickets«) auf der Grundlage unterschiedlicher und Umsetzung fremder Gesetzeswerke in ei- Steuerordnungen sowohl dem Leasingnehmer nem neuen Rechtsumfeld und unter veränderten als auch dem Leasinggeber zurechenbar werden, Geltungskontexten regelmäßig zu einem ganz so dass sich für beide Vertragsparteien lukra- anders gearteten Recht führt: »Nach dem förm- tive steuerrechtliche Abschreibungsmöglichkei- lichen Transfer sieht die Norm als Text mögli- ten realisieren lassen.30 cherweise unverändert aus, hat sich aber tatsäch- Diese Beispiele veranschaulichen, wie un- lich mit der Einpassung in das neue Netzwerk zutreffend es ist, von Rechtstransfer als einer juristischer Distinktionen verändert.«33 schlichten Übertragung oder Übernahme frem- Der Vorstellung von Rechtstransfers, wie sie den Rechts i. S. einer Import- / Exportbeziehung dem Transplantationskonzept vorschwebt, liegt von Rechten zwischen einzelnen Staatsgebilden ein unzureichendes Rechtsnormenverständnis zu sprechen. Sie fordern dazu auf, sich von zugrunde, das auf eine fragwürdige Ansicht da- der Ansicht zu trennen, dass Rechtsnormen – rüber zurückgeht, wie Normen als Rechtsnor- körperlichen Gegenständen vergleichbar – sich men überhaupt zur Geltung gelangen. Ein ge- unversehrt von einem Ort zum anderen über- setzestextlicher (wie auch vertragstextlicher) tragen ließen. Gerade die Vielfalt unterschied- Transfer von Rechtsnormen macht keinen Sinn, licher Leasingrechte wird erst erklärbar, wenn wenn Normen erst aus den unterschiedlichen das in der Amerikanisierungsthese angedeutete Kontexten ihrer Anwendung heraus als Rechts- Transferkonzept von Rechtstransplantation auf normen entspringen – wenn das Normative erst Rechtsirritation umgestellt wird.31 unter den vielfältigen gesellschaftlichen Voraus- setzungen, unter denen es zur rechtlichen An- wendung oder Nichtanwendung, zur juristischen IV. Anerkennung oder Nichtanerkennung gelangt, in Rechtsgeltung erwächst. Bei Teubner liest man: »… [D]er Begriff So gesehen, handelt es sich bei Rechtstexten der Transplantation erzeugt … den falschen Ein- – ob als Gesetzestexte von fremden Rechts- druck, dass das transplantierte Material nach ordnungen inspiriert und »übernommen« oder einer komplizierten chirurgischen Operation als Vertragstexte von Parteienhand verfasst – mit sich selber identisch bleiben wird und im wohl eher um eine Art gesellschaftliche (poli- neuen Organismus die gleiche Rolle weiterspie- tische, wirtschaftliche, wissenschaftliche, etc.) len wird.«32 Handelt es sich beim »transplan- Absichtserklärung, die sich im Rahmen vorge- tierten Material« einer geläufigen Meinung nach gebener Rechts-, Organisations- und Entschei- um Rechtsnormen und bei der »komplizierten dungsstrukturen jeweils in ihrer besonderen chirurgischen Operation« beispielsweise um eine Rechtsqualität erst erweisen muss. »Hier, im Implementierung fremder Gesetze und Kodifi- Unterschied der rechtlichen Episteme, in den kationsteile im Rahmen nationaler Reformpro- unterschiedlichen Stilen des rechtlichen Argu- jekte, dann erweckt ein solcher Transplanta- mentierens, in den Arten der Interpretation, in

30 Eingehender Ebenroth, 120 ff.; tion wird der Sache eher gerecht Kuipers, Steuerrechtliche Aspekte als Rechtstransplantation.« des Leasing, 1995. Es sei an die 32 Teubner, Rechtsirritation, 352. öffentlichen Diskussionen erin- 33 Teubner, Rechtsirritation, 359. nert, die jüngst rund um die »Ver- mietung« des Frankfurter U-Bahn- Netzes an ein US-amerikanisches Konsortium entbrannt sind: FAZ Nr. 71 (2003) 44. 31 Diese Umstellung folgt einem Vorschlag von Teubner,Rechts- irritationen, 352: »Rechtsirrita- Rg7/2005 Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? 51

den Sichtweisen der sozialen Welt …«34 liegen Dadurch entsteht der Eindruck, es handle dann die dogmatischen Bedingungen von Recht sich bei der erhöhten Bedeutung von Richter- zugleich als gesellschaftliche Voraussetzungen recht im Bereich der neuen Vertragsformen um für dessen Vielfalt begründet. Kommt aber einer eine Art Anpassung an den angloamerikanischen Bestimmung – sei es eine Gesetzesnorm, sei es Rechtsstil.37 Diese Auffassung verkennt jedoch eine Vertragsnorm – erst aus dem gegebenen den Umstand (und verpasst damit ein entschei- Entscheidungszusammenhang und den gegebe- dendes Argument), dass die Geltungsbedingun- nen Entscheidungsbedingungen heraus Rechts- gen von Recht immer auf die Voraussetzungen normqualität zu, dann widerspricht gerade die- und Logiken einer (häufig richterlichen) Ent- ser Umstand der Vorstellung, eine Rechtsnorm scheidung über Recht und Unrecht zurückgehen. ließe sich irgendwie unbeschadet über Staats- Es mag sein, dass das empfundene Defizit grenzen hinweg transportieren. des gesetzlichen Vertragstypenrechts im Bereich Die Fragen, die sich im Rahmen eines zu der neuen Vertragsformen es erleichtert hat, die entwerfenden Rechtstransferkonzeptes stellen, normative Dimension des richterlichen Entschei- könnten dann etwa folgendermaßen lauten: dens, den richterlichen Willensakt, vermehrt als Wie und unter welchen gesellschaftlichen Vo- Rechtsquelle wahrzunehmen. Es mag auch sein, raussetzungen wird ein bestimmtes Recht des dass die Herausforderung der Rechtsintegration Leasingvertrages in Geltung gesetzt? Und was des Leasingvertrages wie auch anderer moderner vermag einen solchen Vorgang der Rechtsnorm- Vertragsgestaltungen dazu beitrug, den Glauben, genese überhaupt in Gang zu bringen? Das lässt im Gesetzestext sei jedwede Fallentscheidung als sich an der Auffassung, bei Leasingrecht handle Recht gleichsam vorausberechnet, als Mythos es sich um Richterrecht, kurz erläutern. zu entlarven.38 Gerade eine veränderte Schuld- rechtsmethodik, die beginnt, im Bereich der mo- dernen Vertragsformen der richterlichen Ent- V. scheidung eine erhöhte Bedeutung beizumessen, verweist das kodifizierte Recht vermehrt in die In Deutschland ist das Recht des Leasing- Rolle, schlicht ein Reservat an normativen Argu- vertrages vor allem durch eine Fülle an richter- menten und Entscheidungsalternativen zu sein, lichen Einzelentscheidungen geprägt.35 So sind welches den pragmatisch-abwägenden Zugriffen es die vielfältigen Judikate über einzelne Ver- der Rechts-»Anwendung« unterliegt. Führt man tragskautelen in Leasing-AGBs, die nach und sich nur die Vielfalt unterschiedlicher Rechts- nach – in erinnernder, dogmatisch-differenzie- naturbestimmungen des Leasingvertrages vor render Anknüpfung aneinander – einem ausge- Augen, so erhält man ein unmissverständliches reiften Recht des Leasingvertrages Kontur und Bild davon, wie kontingent jedes Entscheiden doktrinale Schärfe verliehen haben. Leasingrecht (auch) vom Gesetzestext her ist:39 »Es gibt kei- ist zum überwiegenden Teil ad hoc-produziertes nen Vertragstypus, mit dem der Leasingvertrag Richterrecht, indem die entscheidungsrelevanten auch nur von ferne zu tun hat, dessen Vorschrif- Rechtsnormen erst im Anschluss an den Rechts- tennichtvonirgendjemandeminderLiteratur fall jeweils vom Richter hergestellt und in Gel- zur Anwendung empfohlen würden.«40 So rei- tung gesetzt wurden.36 chen die Leasingqualifikationen vom Mietver-

34 Ebd., 359. recht par excellence« weiterent- 40 So Matz, Regulierung, 34. 35 Zwischen 1970 und 1990 sind wickelt. allein in Deutschland mehr als 37 Vgl. Fn. 16. 90 Urteile in Leasingstreitigkeiten 38 Zur Entmythifizierung von Geset- ergangen. Brunotte, Finanzie- zes-Recht vgl. nur Amstutz,Ge- rungsleasingvertrag, 397. setz, 2003; Brüggemeier, Kodex 36 Roth, Inhaltskontrolle, 293, be- als Irritation des Rechts, 2003. zeichnet Leasingrecht als »Rich- 39 Zu den Aporien des Entscheidens terrecht par excellence«, wobei er vgl. Fögen, Tragödie des Ent- die weit verbreitete Formulierung scheidens, in: NZZ Nr. 43 (2004) von Leasingrecht als »Formular- 45; Luhmann, Paradoxie des Entscheidens, 2000. Debatte Federico Gonzalez del Campo 52

trag oder atypischen Gebrauchsüberlassungsver- des Finanzierungsleasingvertrages maßgebend trag über die verschiedenen Varianten eines eine wirtschaftliche Leasingpraxis zugrunde lag, Rechts-, Nutzungs- oder Ratenkaufes bis hin deren Geltungsansprüche, einmal in besonderen zum Geschäftsbesorgungs- und Darlehensver- Leasingvereinbarungen und Allgemeinen Ge- trag.41 schäftsbedingungen festgehalten, die entschei- Was an der Auffassung, bei Leasingrecht denden Impulse dafür ausgelöst haben, dass ein handle es sich in erster Linie um Richterrecht, solcher Rechtsbegründungsprozess hat angesto- besonders auffällt, ist die Beziehung, die zwi- ßen werden können. schen Leasingvertrag und Rechtsentscheidung hergestellt wird, weist sie doch zurück auf einen Unterschied im Begriff von Vertragsnorm und VI. Rechtsnorm: So ist es der Vertrag, der den Rechtsfall veranlasst, über welchen die richter- Das Finanzierungsleasinggeschäft als ein liche Entscheidung schließlich zum Recht führt. selbständiger Unternehmensgegenstand, mit dem Und gerade in dieser speziellen Transferleistung auf den Finanzmärkten eine alternative Form der erweist sich der Vertrag als eine besondere Investitions- und privaten Konsumgüterfinan- Rechtsquelle, die gewährleistet, dass auch uner- zierung eingeführt werden sollte, wurde durch wartete gesellschaftliche Geltungsansprüche ins Schaffung spezieller Leasinggesellschaften erst- Recht vermittelt werden.42 Der Leasingvertrag mals in den Vereinigten Staaten begründet, bevor überträgt nach dieser Vorstellung kein Leasing- es in Europa Fuß fasste. So kam es in den USA recht, er provoziert vielmehr die Herstellung bereits in den 1950er Jahren mit der Eintragung eines solchen, indem er als Rechtsfall einen der States Leasing Corporation in San Francisco Prozess der juristischen Rekonstruktion anstößt, (im Jahre 1952) zu einer ganzen Welle von woraus ein bestimmtes Recht des Leasingver- Neugründungen besonderer Leasingunterneh- trages im Verlauf eines komplexen gesellschaft- men. Mit einer Verzögerung von etwa zehn Jah- lichen Diskussions-, Abwägungs- und Rekon- ren setzte ein solcher Gründungsboom auch in struktionsverfahrens erst hervorzugehen ver- Europa ein, der Anfang der 1960er Jahre in mag.43 Im Leasingvertrag werden daher keine Frankreich und England begann und mit der irgendwie vorbestehenden Rechtsnormen trans- 1962 in Düsseldorf eingetragenen Deutschen portiert und als Text von einem zum anderen Ort Leasing GmbH sich auch in Deutschland fort- übertragen – es liegt keine Transplantation von setzte.44 Abgesehen von den häufigen Bezug- Rechten vor, sondern der Leasingvertrag verur- nahmen auf die englische Bezeichnung,45 dürfte sacht einen produktiven Vorgang des juristischen diese Chronologie der Ereignisse für die These Nachvollzugs. Er verursacht eine Irritation im der angloamerikanischen Provenienz des Leasing Rechtsverständnis. Aber was wird da im Recht – für die Vorstellung also, dass das Finanzie- genau irritiert? Und wo rühren diese Irritationen rungsleasinggeschäft von den USA aus nach her? Europa eingeführt wurde – ausschlaggebend Auf der Grundlage des vorgestellten Rechts- gewesensein.AberwiesollteeinesolcheEin- transferkonzepts soll nun veranschaulicht wer- führung stattgefunden haben? Die Fälle jeden- den, wie der Begründung eines deutschen Rechts falls, in denen einzelne Wirtschaftspioniere den

41 Zu den unterschiedlichen Rechts- gesellschaftlichen Recht-Ferti- Koch, Leasing, 15 ff.; Martinek, naturansätzen der Rechtslehre vgl. gungsprozess neuer Vertragsfor- 40 ff. Stoffels, Leasingrecht, 948 ff.; men als »evolutionären Kommu- 45 Lüssi, Leasinggeschäft, 54; von Westphalen, Leasingver- nikations- und diskursiven Kon- Stoffels, Schuldverträge, 7: trag, 19 ff.; Papapostolou, Risi- turierungsprozess« bezeichnet, »Bereits die verkehrsgebräuchliche koverteilung 44 f.; Martinek,65. an dem »Kautelarjurisprudenz, Bezeichnung vieler neuer Ver- 42 Eingehender zu diesem Rechts- und Wirtschaftswissen- tragsformen … deuten auf einen Vertragsaspekt: Luhmann, schaften sowie die Rechtspre- US-amerikanischen Ursprung Rechtssoziologie, 74 ff.; ders., chung teilhaben«. hin.« Recht der Gesellschaft, 452 ff. 44 Jürgens, Entwicklung, 1 ff.; Gio- 43 Entsprechend hat Martinek, vanoli, Crédit-Bail, 151 ff.; Bd. 1, 29 ff.; Bd. 3, 386 ff. diesen Rg7/2005 Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? 53

Leasinggedanken als Geschäftsidee in den Ver- einen Zusammenhang von wirtschaftlicher Inno- einigten Staaten aufgegriffen und in Europa vation und rechtlicher Rekonstruktion betrifft durch Gründung einer Leasinggesellschaft um- und somit erstmals auf die normativen Geltungs- gesetzt haben, sind gezählt.46 So hervorragend ansprüche einer neuen ökonomischen Transak- solche Unternehmerleistungen auch sind, sie al- tionsform verweist. leine vermögen die immense Ausbreitung, die das Soweit sich das Finanzierungsleasingge- Leasinggeschäft schließlich in Deutschland er- schäft auf wachsende unternehmerische Finan- fahren hat, kaum ausreichend zu erklären.47 zierungs- und Absatzschwierigkeiten zurückfüh- Die bemerkenswerte Expansion des Finan- ren lässt, hat es sich auf den Kapitalmärkten zierungsleasings auf dem deutschen Finanzmarkt gerade in Konkurrenz zu bestehenden Formen erhält vielmehr erst vor dem Hintergrund von der Fremdfinanzierung, wie beispielsweise dem dessen wirtschaftlicher Funktion historische Geld- oder Warenkredit, etabliert.51 Ökono- Plausibilität.48 Das rückt die ökonomische Ei- misch ergibt sich die innovative Eigenart des genart des Leasinggeschäfts in den Vordergrund Finanzierungsleasings daher in erster Linie aus einer Erklärung, die bestrebt ist – wie anders dessen Vorteilhaftigkeit gegenüber solchen tra- lässt sich das Argument der angloamerikani- ditionellen Finanzierungs- und Güterumsatzfor- schen Provenienz verstehen – die Herkunft des men.52 Leasingrechts irgendwie zu begründen.49 Bezieht Während sich das Leasinggeschäft – wirt- man die Herausbildung eines deutschen Leasing- schaftlich betrachtet – im Wettbewerb mit be- rechts auf den ökonomischen Zusammenhang stehenden Transaktionsformen als besonders des Leasinggeschäfts, dann besteht die fragliche vorteilhafte Finanzierungsalternative herausge- Transferleistung weniger im Import angloameri- bildet hat, wurden die Eigenheiten eines Rechts kanischen Rechts, als vielmehr in einer über den des Finanzierungsleasingvertrages gerade in Vertrag und über vorformulierte Vertragsbedin- Abgrenzung zum geltenden Vertragstypenrecht gungen vollzogenen Übermittlung der beson- erarbeitet: Dem Finanzierungsleasingvertrag ist deren wirtschaftlichen Vorteile dieser neuen dadurch ein eigenständiges Rechtsgepräge ver- Form der Fremdfinanzierung in die Verbindlich- liehen worden, dass er von bereits bestehenden keitsvorstellungen des Rechts. So lässt sich die Vertragsformen (wie Kauf-, Miet- oder Darle- Begründung eines deutschen Leasingrechts vor hensvertrag), mit denen die erwünschten wirt- allem als Reaktion auf die ökonomischen He- schaftlichen Vorteile eben nicht erzielt werden rausforderungen einer Leasingbranche verste- konnten, dogmatisch unterschieden wurde. Auf hen, welche die Erschwerung der Fremdfinan- diese Weise vermochte der ökonomische Innova- zierungsmöglichkeiten auf den Kapitalmärkten, tionszusammenhang des Finanzierungsleasings bei gleichzeitig zunehmendem unternehmeri- ein entsprechendes Abbild in den Innenwelten schem Investitionsaufwand und Kapitalbedarf, desRechtszuerlangen.Damitstelltsichdie zum Anlass nimmt, alternative Finanzierungs- Frage nach den jeweils zugrunde liegenden Pro- konzepte zu entwickeln und als maßgeschnei- zessen, in denen das rechtlich »Abweichende«, derte Finanzierungslösungen in Gestalt von Lea- auf dem die ökonomischen Besonderheiten des singgeschäften am Markt anzubieten.50 Damit Leasinggeschäfts schließlich beruhen, als das ei- tritt eine Transferbeziehung zum Vorschein, die gentlich »Rechtliche« eines eigenständigen Lea-

46 Vgl. das Interview mit Albrecht 48 Zum wirtschaftlichen Zusammen- vor allem daraus, dass Leasing Dietz, Leasingpionier und Grün- hang: Feinen, Leasinggeschäft, eine Lücke in den mittel- bis län- der einer der ersten unabhängigen 18 ff.; Tacke, Leasing, 21 ff.; gerfristigen Finanzierungsmög- deutschen Leasinggesellschaften, Dietz, Grundlagen, 235 ff. lichkeiten schliesst«, Coester- in: spectrum 23 (2002) 4 f. 49 Zu den Frühzeiten des Rechts z. B. Waltjen, Grundstruktur, 123; 47 Die überragende wirtschaftliche Guarino, »Leasing« dei gladia- Martinek, 40 f. Bedeutung des Leasing kommt in tori, 153 ff. oder die Auffassung, 51 Wolf, Leasingrecht, 407. Als eine der sog. Leasingquote zum Aus- Leasing sei bereits bei den Sume- Art Weiterentwicklung des Miet- druck, die für das Jahr 2003 (ohne rern praktiziert worden: Etwa kaufes vgl. Fendel,182ff. Wohnungsbau) 17,9 % betrug. Bögli, Leasing, 2 ff. 52 Zu wirtschaftlichen Vorteilen Quelle: Ifo-Investitionstest 2003, 50 »Die immense Ausweitung des Gzurk, Finanzierungsleasing, Stat. Bundesamt (Deutschland). Leasing-Geschäfts … erklärt sich 208 ff. Debatte Federico Gonzalez del Campo 54

singrechts gerechtfertigt wurde. Wie und in wel- … Das Fehlen bzw. die mangelnde Verwertbar- chen Verfahren konnte also ein neues Recht des keit von Maßstäben und Vorgaben des anglo- Finanzierungsleasings gerade in vergleichender amerikanischen Rechts begünstigte nachhaltig Anknüpfung an bereits bestehendes Vertrags- die national-separatistische Entwicklung jeweils recht begründet werden? länderspezifischer Leasing …-rechte.«55 Fand Es ist vor allem die Sache der einschlägigen beispielsweise das US-amerikanische Rechts- Vertrags- und Kautelarpraxis, wirtschaftliche institut des »lease« als Form einer horizonta- Geschäftsabläufe mit Blick auf die vorliegende len Eigentumsspaltung keine Entsprechung im Rechtsordnung vertraglich abzusichern.53 Darin deutschen Sachenrecht, so vermochte es für kommt eine entscheidende Transferleistung zum die Beurteilung des Finanzierungsleasings in Tragen: In dem Rahmen, in dem die besonderen Deutschland auch keinen dogmatischen An- ökonomischen Geltungsansprüche einer sich neu knüpfungspunkt zu bieten.56 Schon deswegen etablierenden Leasingbranche in die verbindliche hat sich die Begründung eines deutschen Rechts Rechtskategorie des Vertrages übersetzt werden, des Finanzierungsleasings in Auseinanderset- in dem Rahmen werden die Möglichkeitsräume zung mit dem im BGB kodifizierten Vertrags- der Rechtsordnung wirtschaftlich abgetastet. typenrecht aus Anlass von Rechtsfällen im Bin- Vermag das Vertragswesen alleine es jedoch nenverhältnis und in Auseinandersetzung mit nicht, sich selber einen endgültigen Rechtsrah- inländischen Geschäftsbedingungen vollzogen. men zu setzen, so betrifft der wesentliche Schritt des Rechtstransferprozesses die juristische Re- konstruktion der einmal in Vertragsform gegos- VII. senen Leasingsachverhalte durch Rechtspre- chung und Rechtslehre. Für sie erweist sich der Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Leasingvertrag als normative Provokation, die der Genese eines deutschen Rechts des Finan- zu eingehender dogmatischer Auseinanderset- zierungsleasingvertrages maßgebend eine wirt- zung anhält. schaftliche Leasingpraxis zugrunde lag, deren Um noch einmal das Transferargument der Geltungsansprüche über den Vertrag und über angloamerikanischen Provenienz des Leasing- vorformulierte Vertragsbedingungen vermittelt, rechts aufzugreifen: Es lässt sich feststellen, dass die wesentlichen Impulse dafür ausgelöst haben, die Erarbeitung eines deutschen Rechts des Lea- dass ein solcher Rechtserzeugungsprozess hat singvertrages seitens der Rechtslehre und Judi- angestoßen werden können. Wie dargestellt, katur erstmals weder von angloamerikanischen gehen die hier artikulierten Transferleistungen Sachverhalten veranlasst war,54 noch dass sie in auf die Fähigkeit des Vertrages zurück, gesell- Anlehnung an US-amerikanisches Recht stattge- schaftliche Irritationsimpulse zwischen den un- funden hätte: »Außerhalb des anglo-amerikani- terschiedlichen Funktionssystemen von Wirt- schen Rechtskreises … bot das Studium des US- schaft und Recht zu übermitteln und auf diese amerikanischen Leasing …-rechts nur sehr be- Weise deren gegenseitige Berücksichtigung zu scheidene Hilfestellungen für die Aufgabe der gewährleisten.57 Versteht man den Finanzie- jeweilig national-rechtlichen dogmatisch-kon- rungsleasingvertrag als ein solches Transfervehi- struktiven Erfassung solcher Vertragsformen. kel unterschiedlicher gesellschaftlicher Funk-

53 Zu dieser Aufgabe als Vertragsge- 55 Martinek, Bd. 3, 358 f. Fleck der Systeme, 323 f.; ders., staltungslehre vgl. Langenfeld 56 Vgl. Koch, Störungen, 21 f. Vertragswelten, 250 ff. (Fn. 8). 57 Das beruht auf der Auffassung des 54 Vgl. etwa die erste zivilgerichtliche Vertrages als einer strukturellen Leasingentscheidung des OLG Kopplung unterschiedlicher sozia- Bamberg (NJW 1972, 1993 ff.) ler Funktionssysteme, wie sie von und das erste Leasingurteil des Luhmann soziologisch begründet Deutschen Bundesgerichtshofes (vgl. bereits Fn. 42) und von (BGH WM 1975, 1203 ff.). Einen Teubner für die Rechtswissen- guten Rechtsprechungsüberblick schaften weiterentwickelt worden geben Papapostolou, 42 ff. und ist. Bes. Teubner, Im blinden von Westphalen, 19 ff. Rg7/2005 Neue Vertragsformen als Rechtstransfer? 55

tionsrationalitäten, dann wird klar, dass der schaftsordnung normativ absichert und damit relevante Rechtstransfer nicht so sehr auf einer zugleich (und paradoxerweise) die Frage nach Übertragung von Rechtsnormen im Verhältnis deren Rechtsverbindlichkeit ermöglicht. Auf die- einzelner Rechtsordnungen – also nicht so sehr se Weise setzt der einmal geschlossene Leasing- auf einer Überschreitung von Nationalgrenzen – vertrag einen »komplexen Kommunikations- beruht, als vielmehr auf Irritationen des Rechts- und diskursiven Konturierungsprozess«58 in systems zurückgeführt werden, die durch be- Gang, in dessen Verlauf die ökonomischen Gel- stimmte Vorgänge in dessen gesellschaftlicher, tungsansprüche einer stetig wachsenden Lea- insbesondere wirtschaftlicher Umwelt ausgelöst singbranche vor dem rechtlichen Hintergrund wurden. Der hier behandelte Transfer gründet und aus dem juristischen Sinn- und Strukturzu- daher auf einer »Aufhebung« der Systemgrenzen sammenhang bereits bestehender Rechtsordnun- beteiligter sozialer Funktionssysteme vermittels gen heraus rekonstruiert und über Rechtslehre der Rechtsfigur des Vertrages. So ist ein Recht und Judikatur schließlich als besonderes Lea- des Leasingvertrages vor allem einer Wirtschafts- singrecht in Geltung gesetzt – in(s) Recht über- und Kautelarpraxis zu verdanken, die ihre An- setzt – werden. sprüche in vertraglicher Form umsetzt und mit Blick auf die jeweils geltende Rechts- und Wirt- Federico Gonzalez del Campo

58 Martinek, Bd. 1, 29 ff. und Bd. 3, 386 ff.: an dem »Kautelarjuris- prudenz, Rechts- und Wirt- schaftswissenschaften sowie die Rechtsprechung teilhaben«. Debatte Federico Gonzalez del Campo 56

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Aus der Schweizer Werkstatt Das Forum Junger Rechtshistoriker widmet sich dem europäischen Rechtstransfer

Luzern liegt am Fuße hoher weißer Berge. sor Rudolf Stichweh mit seinem Festreferat. Das Luzern liegt an einem großen klaren Wasser. Wie Transferproblem wurde von ihm in die Nähe zur die Stadtführerin dem Neuankömmling zu be- sozialen Ausdifferenzierung gerückt. Ausdiffe- richten weiß, leitet sich der Name der Stadt renzierung sei Voraussetzung für Transfer, weil etymologisch entweder von Licht (lux) oder sie Systemgrenzen erst schaffe und Transfer als Hecht (lucius) her. Dem Lateiner mag auch die Grenzüberschreitung damit ermögliche. Er ver- Ähnlichkeit zur Laterne (lucerna) einleuchten. schlagwortete die späteren Debatten mit der An der lucerna iuris der Universität Luzern, Beobachtung, dass Transfergegenstand in der dem Institut für die Grundlagen des Rechts, Regel »kompakte Sinneinheiten« seien, die sich wurde die diesjährige Tagung junger Rechtshis- durch ihren »Paketcharakter« auszeichneten, da toriker ausgerichtet. Es ist eine Dialektik des der Empfänger etwas erhalte, was er teilweise Rechts, dass es sich einerseits mit seinem territo- befürworte und teilweise ablehne. Regelmäßig rial beschränkten Geltungsanspruch nach außen würde der Transfer jedoch scheitern. Oft sei hin immunisiert, andererseits durch gesellschaft- dann aber zumindest ein neuer Evolutionspro- liche, wirtschaftliche oder politische Umwäl- zess angestoßen. Für das Problem des Rechts- zungsprozesse bedingt immer wieder für Elemen- transfers bedeutet dieser soziologische Befund te fremder Rechtsordnungen öffnet. Diesem Stichwehs, dass schon die bloße Öffnung für eine Zusammenhang von der Widerstandsfähigkeit nur mögliche Übernahme fremden Rechts die und der gleichzeitigen Offenheit des Rechts ge- Lernfähigkeit und Entwicklungsfähigkeit des genüber fremden Einflüssen widmete sich das Rechts erhöht. Es ist schade, dass nach Stich- diesjährige Forum unter dem Aspekt des wehs Referat keine Zeit für eine Diskussion »Rechtstransfers«. Die Zusammenkunft der jun- vorgesehen war. Auch später wurde die Chance gen Nachwuchswissenschaftler diente nicht vor- zu einer methodischen Reflexion des Transfer- derhand der Selbstdarstellung einiger ausge- begriffs von den Teilnehmern des Forums nur wachsenertollerHechte,diekurzvordem sehr vereinzelt aufgegriffen. Sprung ins Professorenleben stehen. Die breite WelchenGraddervonStichwehgeforder- thematische Streuung der Referate ermöglichte ten Differenzierung setzt Rechtstransfer voraus? vielmehr eine gute Ausleuchtung des Tagungs- Ab welcher Phase der historischen Rechtsent- themas unter diskursiv Gleichberechtigten. Der wicklung kann man überhaupt von Transfer Brückenschlag zu den Nachbardisziplinen Sozio- sprechen? Schon der erste Beitrag der Bonner logie, Politologie, Philosophie und Geschichte Rechtshistorikerin Andrea Brieger zu einer Di- war unter der Leitung von Nikolaus Linder gestenstelle des Celsus machte den Widerstreit und Vanessa Duss insgesamt gut gelungen. eines am gegenwärtigen Recht gewachsenen Eine Einführung in die Fragestellung aus Transferbegriffes und der Beschäftigung mit his- soziologischer Sicht lieferte der derzeit am Ber- torischen Gegenständen deutlich. Über die bloße liner Wissenschaftskolleg tätige Luzerner Profes- Textexegese hinaus reflektierte Brieger den his- Rg7/2005 Aus der Schweizer Werkstatt 59 torischen und politischen Kontext des Rechts- nur unvollkommen geeignet. Die Pandektistik streits um einen Fideikommiss zwischen der entfaltete im 19. Jahrhundert ein derartiges Ab- Tochter und der Konkubine eines Erblassers. straktionsniveau, dass es allein durch die bloße Dieser mündete in eine offene politische Ableh- Übersetzung der zivilistischen Rechtsbegriffe zu nung der kaiserlichen Sittengesetzgebung durch erheblichen Reibungsverlusten kam. die Senatsaristokratie. Dabei konnte Brieger zei- Es ist auffällig, dass die großen Transfer- gen, dass typische Elemente des republikani- projekte der neueren Geschichte gerade den Be- schen Prozesses in den kaiserlichen Kognitions- reich des Zivilrechts betreffen. Transfer ist hier- prozess übernommen wurden. Aber handelte bei vor allem von wirtschaftlicher Relevanz. es sich dabei um einen rechtlichen Transfer? Wenn der Impuls zur Übertragung von Recht Rechtstransfer definiert sich m. E. auch als be- nicht von dem Recht importierenden Land aus- wusste Entscheidung für die Hereinnahme frem- geht, gerät das Recht exportierende Land in den der Elemente in die eigene Rechtsordnung. Alle Verdacht der Durchsetzung eigener wirtschafts- an der juristischen Kommunikation Beteiligten politischer Ziele, wie dies etwa für den von den müssen grundsätzlich die Fremdheit des transfe- Westmächten forcierten Transfer des BGB nach rierten Rechts anerkennen. In der antiken Ord- China gezeigt wurde. Elisabeth Berger (derzeit nung erfüllt die Anknüpfung an das bereits Ge- Liechtenstein) demonstrierte am Beispiel der wesene dagegen eine Legitimationsfunktion für Zivilrechtsrezeption in Liechtenstein, dass es das Recht. Die antike Kontinuitätsidee spiegelt auch zu einem Rezeptionskalkül auf Seiten des gerade nicht eine Auseinandersetzung mit dem Empfängerstaates kommen kann. Der Rechts- eigenen und dem fremden Recht wider und steht transfer ermöglichte in Liechtenstein das un- damit zum heutigen Verständnis von Transfer im gehinderte Florieren der wirtschaftlichen Zu- Widerspruch. sammenarbeit mit Österreich und später der Das Problem der notwendigen Ausdifferen- Schweiz, indem teilweise »automatisch« wirt- zierung stellt sich ebenfalls bei der Beobachtung schaftsrechtliche Normensysteme übernommen des Transfers des Schweizer und deutschen Zivil- wurden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle rechts in die Türkei (Mahidé Aslan, Luzern), spielte zudem die Überbrückung der knappen nach China (Rüdiger Ham, Marburg) und nach Ressourcen des Kleinstaates, der sich weder eine Georgien (Tilmann Röder, Berlin und Shalva eigene gesetzgeberische noch eine selbständige Papuashvili, Tiflis) im 20. Jahrhundert. Es meint Rechtswissenschaft und Rechtsausbildung leis- hierbei nicht so sehr eine interne Differenzie- ten konnte. Die Verflechtung des liechtenstei- rungsleistung des Rechts, sondern verweist auf nischen Justizsystems mit Österreich und der die notwendige Ausdifferenzierung der Gesell- Schweiz ist daher bis auf den heutigen Tag aus- schaft und der Rechtskultur als Rahmenbedin- gesprochen eng. Auch im Transfer des Gesell- gung für Transfer. So fehlte China in den 1920er schaftsrechts im 19. und 20. Jahrhundert steht und 30er Jahren ein Juristenstand jenseits der das Bemühen im Vordergrund, das eigene konfuzianisch geprägten Staatsverwaltung. In Rechtssystem für die Wirtschaft operationabel Georgien ist die Rechtsdurchsetzung gegenwär- zu erhalten. Jan Thiessen aus Berlin zeigte in tigdurchdieKorruptionandenGerichtenge- seinem Referat anschaulich, wie sich seit Beginn fährdet. Auch die Sprache war für den Transfer der Gesellschaftsrechtsentwicklung der ausländi- Debatte Jana Lachmund 60

sche und deutsche Einfluss beständig ineinander Noch 1917/18 sei es in der Erwartung gegründet verwoben haben. Das deutsche GmbH-Recht worden, die Eroberung des »deutschen Ostens« des 19. Jahrhunderts wurde zu einem »Export- stehe kurz bevor und es bedürfe hierzu der recht- schlager«. Allerdings sei es selbst ohne den lichen Vorbereitung. Die Tätigkeit des Instituts »Wettbewerb der Rechtsordnungen« und das spiegelte auch später noch die ideologische Über- Bedürfnis nach einfachen Gesellschaftsformen zeugung von der kulturellen und insbesondere wie der englischen Aktiengesellschaft nicht zu auch rechtskulturellen Überlegenheit Deutsch- denken gewesen. Auf die Rechtsprobleme der lands wider. Gründerzeit reagierte zuerst das Ausland mit Im Auswahlprozess des nationalen Gesetz- einer Reform der Haftungsbestimmungen, bald gebers, aus fremden Vorbildern eine eigene darauf fanden sich auch in der deutschen Fach- Rechtsschöpfung zu gewinnen, spielt die Rechts- literatur Transferüberlegungen. wissenschaft als Teil der Rechtskultur eine wich- Neben wirtschaftlichen führen auch ideo- tige Vorreiterrolle. Innerhalb der internationalen logische Motive zu Rechtstransfers. Transferiert Wissenschaftsgemeinde ist teilweise erheblich werden dann zwar weiterhin Normen. Ideolo- früher ein Ideentransfer zu beobachten, ehe es gisch geprägt ist jedoch die Entscheidungsebene, zum eigentlichen Rechtstransfer durch den na- ob und was in ein anderes Rechtssystem über- tionalen Gesetzgeber kommt. Dieser Wissen- tragen werden soll. Diese Entwicklung ist vor- schaftstransfer, auch jenseits des geltenden wiegend ein Phänomen des 19. und 20. Jahr- Rechts, dient der ersten Erprobung und Vermitt- hunderts, das als Forschungsgebiet auf der lung des Fremden in die eigene Sphäre hinein. diesjährigen Tagung außerordentlich gut vertre- Wissenschaftliche Überlegungen de lege ferenda ten war. Stark von ideologischen Motiven be- bieten einen größeren kreativen Raum als Ent- stimmt war beispielsweise der Versuch, in den scheidungen de lege lata etwa auf der Ebene der 1920er Jahren im Völkerrecht der Minderheiten richterlichen Rechtsdurchsetzung. Der Zürcher entgegen den ausdrücklichen Vereinbarungen Rechtshistoriker Roger Müller hat die Semantik der Pariser Vorortverträge einen kollektivis- und Sozialstruktur einer solchen »Gelehrten- tischen Ansatz zu verankern. Der Politologe rezeption« anhand des Wissenschaftstransfers Samuel Salzborn (Gießen) legte dar, dass der des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz individualistische Ansatz der völkerrechtlichen dargestellt und als Paradox der mit der Natio- Verträge auf Gleichheit und Integration ausge- nalisierung im 19. Jahrhundert einhergehenden richtet gewesen sei und damit ein genuin liberales Internationalisierung der Wissenschaftskultur und demokratisches Anliegen verfolgt habe. Der formuliert. Als Voraussetzung für den späteren kollektivistische Ansatz sei auf die Betonung der Rechtstransfer des deutschen Verwaltungsrechts Andersartigkeit, ethische Sondergesetzgebung in die Schweiz erscheinen in seinem Beitrag die und Segregation hinausgelaufen und habe in Übernahme des Humboldtschen Universitätsmo- den 1930er Jahren einen hohen Anteil am anti- dells, der Zustrom zahlreicher deutscher Pro- demokratischen und elitären Denken gehabt. fessoren und ausländischer Studenten und die Ein verwandtes Thema hatte das Referat von damit zusammenhängende Internationalisierung Thomas Ditt aus Berlin, der einen Einblick in die der akademischen Arbeit. In beiden Verwal- Tätigkeit des Breslauer Osteuropainstituts gab. tungswissenschaften, Deutschlands und der Rg7/2005 Aus der Schweizer Werkstatt 61

Schweiz, liefen die rechtspolitischen Forderun- »europäisieren«, auf den Tag genau mit der gen daraufhin lange Zeit parallel. Margrit französischen Ablehnung des Europäischen Ver- Seckelmann (Speyer) veranschaulichte das Span- fassungsvertrages zusammenfielen. Das Sprach- nungsverhältnis unterschiedlicher Rechtskultu- problem eines europäischen Vorhabens wurde in ren mit der gleichzeitigen Durchlässigkeit des Luzern deutlich: Als englisch sprechender Kon- wissenschaftlichen Diskurses über Rechtskultur- ferenzteilnehmer bewegte man sich in einer Art grenzen hinweg am Beispiel des Begriffs »good einseitigem Diskurs, man wurde verstanden, governance« im Europäischen Verfassungsver- konnte aber dem Dargebotenen nicht folgen. trag. Ein Vorläufer von good governance sei Insgesamt boten die Referenten ihren Zuhörern das deutsche Rechtsstaatsprinzip gewesen, das, jedoch die Möglichkeit, an verschiedenen Enden aus englischen Prozessgrundrechten und franzö- der Transferdiskussion einzusteigen und Anre- sischen Grundsätzen entwickelt, von der deut- gungen für den eigenen Themenbereich mitzu- schen Staatslehre auf eine höhere Abstraktions- nehmen. Die theoretische Absicherung der ebene gehoben worden sei. Einerseits tauche es rechtshistorischen Überlegungen geriet aller- nun in seiner Beschränkung auf das Verhältnis- dings bei vielen Diskussionen ins Hintertreffen, mäßigkeitsprinzip als »Re-Import« in der briti- und »Transfer« wurde zu einem Allgemeinplatz, schen Rechtsprechung wieder auf. Andererseits der viele unterschiedliche und auch einander werde die deutsche Staatsrechtslehre über das widersprechende Konzepte bezeichnete. Eben Europäische Recht mit dem anglo-amerikani- das Schillernde der Begrifflichkeit provozierte schen ganzheitlichen Ansatz von good gov- jedoch gleichzeitig eine große Lebendigkeit der ernance konfrontiert. Die Frage, ob good gov- Debatten bis zuletzt. Anstatt sich auf den einen ernance als bloßes Optimierungsgebot oder als Begriff des Transfers geeinigt zu haben, wurden zwingender Auslegungsgrundsatz zu verstehen die Zuhörer mit vielen inspirierenden offenen sei, verweise in ihrer Konsequenz dabei durch- Fragen entlassen. aus auf die unterschiedlichen Verfassungstradi- Die nächste Tagung des Forums junger tionen des kontinentalen und des common law Rechtshistoriker kehrt im Frühjahr 2006 zurück Bereichs und damit auf einen »Zusammenprall zu ihrem einstigen Ausgangspunkt, an das Max- der Rechtskulturen«. Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte Es ist eine kleine Ironie der europäischen nach Frankfurt am Main. Rechtsgeschichte, dass die Überlegungen des Fo- rums Junger Rechtshistoriker, sich weiter zu Jana Lachmund Debatte Jana Lachmund 62

Übertragungen Zum Staats- und Familienroman der Modernen

Metaphérein, transferre, transférer, to trans- Gerade dort aber, wo Übertragung gelingt, fer: von einem Ort zum anderen tragen und (im weil sie im Übergang von Hier nach Da mehr übertragenen Sinn) von einem Wort zum ande- schafft als »rüberspielen« und kopieren von der ren. Im zweiten Fall haftet der Übertragung frei- einen auf die andere Seite, wird sie zu ihrer lich schon jene Künstlichkeit an, die eine frühere eigenen Metapher: Sie stellt sich als Übertragung Kritik der Verdinglichung mit der Unterschei- in Frage, indem sie sich als Mehrwert generie- dung eigentlich / uneigentlich dingfest machen rende Umformung behauptet – ist Übersetzung wollte. Von einem Objekt der Übertragung aber möglich? Worin besteht beispielsweise die Auf- ist zunächst gar nicht die Rede. Der Ausdruck gabe, »das Konzept der selbstreferentiellen Ope- bezeichnet, unempfindlich gegen ein Was und rationsweise auf die Theorie sozialer Systeme zu dessen Qualitäten, das Übertragen selbst als Ak- übertragen«? Ist die Benutzung von Metaphern tivität, die, wenn der Weg von Hier nach Da im Diskurs notwendig, erlaubt oder stellt sie einmal begangen ist, schnell Prozedur wird, schon eine Überschreitung, eine metábasis eis Technik, Methode. Der instrumentell-technische állo génos dar? Damit ist bereits der Krisenfall Aspekt ist so vorherrschend, dass »Übertragung« angezeigt, in dem das technisierte Sprechen des nicht nur transfer meint, sondern auch Transfer, Diskurses, seiner Kommunikationen nicht sicher, das Resultat der Übertragung. Die gegenüber eine Beobachtungsebene zweiter Ordnung mobi- Orten und Objekten verselbständigte Technik lisiert. wirft dann allerdings die Frage ihrer Angemes- In einer durch disziplinierte Erfahrung be- senheit auf. Sie führt zur Qualifizierung von stimmten Welt ist die Metapher heimatlos, Orten und Dingen (seit Freud auch von Personen, schreibt Hans Blumenberg. Die diskursive vonsozialenSystemenseitLuhmann)hinsicht- Sprechweise erlaubt und fordert das Absehen lich ihrer Erreichbarkeit durch Übertragung. von konkreten Sinnbezügen und lebensweltli- Auf der Hand liegt vorab die Unterschei- chen (Rück-) Übertragungsverhältnissen. Die dung von hier und da als Hier und Da, also als Metapher mit ihrem steten Fremdbezug macht Ausgangs- und Zielpunkt der Übertragung. Sie jenen surplus an Sinn sichtbar, den Technisierung scheint die Differenz von früher / später und ausblenden muss. Das macht sie subversiv. Die primordial (prinzipiell) / abgeleitet zu implizieren Metapher sperrt sich gegen Disziplinierung, in- und führt auf genealogisches Fragen. Die zeit- dem sie auf ihren Herkunftsort verweist, d. h. auf liche Hierarchisierung legt dann auch eine der die Kontinuität von Sinnproduktion. Sie macht Sachdimension nahe. Ist der Archetyp bloß »ar- Sinngebung als Substitution von Sinn kenntlich chaisch« und primitiv, oder ist er original auch in und Übertragung als einen Mechanismus, der die dem Sinn, dass ihm kein Modell vorausliegt, ist Normalität von Sinnerwartungen unterläuft also er der Prototyp, an dem sich alle folgenden oder, mit Blumenberg, die Sistierung von Gegen- Bildungen der Übertragung orientieren, wo sie wart als Selbstverständlichkeit. Das unerwartet nicht bloße Doppel sind? Überschießende der Metapher bringt, überra- Rg7/2005 Übertragungen 63

schend, das Schema des Erwartens zum Vor- später geboren worden. Fixiert auf das ange- schein. nommene Geburtsjahr, konnte oder wollte er So, als kontinuierliches Spiel von »Übertra- sich auch durch die amtlichen Dokumente nicht gung« und »Gegenübertragung« vergangener belehren lassen. Damit eng verbunden ist nach Sinnerwartungen / Erfahrungen auf die aktuelle der Rekonstruktion seines Biographen Maynard kommunikative Situation ist Transfert für die Solomon1 das Faktum, dass Beethoven nach Psychoanalyse interessant und von Freud zu 1810, als in halb Europa das Gerücht verbreitet dem »Gegenstand der Behandlung« erhoben war, er sei ein unehelicher Königssohn, nichts worden. In der psychoanalytischen Kur wird unternahm, seine faktische Abstammung öffent- die Form des Erlebens durch Interpretation lich aufzuklären. Offenbar war beides bedeutsam zum Thema der Kommunikation und verhilft im Rahmen einer imaginären Konstruktion Beet- dem Patienten dazu, neue Inhalte als Form der hovens, die der Korrektur der Vorstellung diente, Erfahrung zu verwenden: »Zum Schluß der Kur er sei ein ›falscher‹: illegitimer, da außerehelicher wird die Übertragung selbst abgetragen sein.« Sohn seiner Mutter, der nie die Stelle des Erstge- Die folgenden Überlegungen wollen die hier borenen hätte einnehmen dürfen. Entweder hatte angesprochenen Probleme nicht theoretisch ver- doch seine Taufurkunde nie existiert, oder sie tiefen oder gar lösen, sondern an Beispielen war versteckt oder zerstört worden – und aus unterschiedlicher Übertragungsleistungen illust- welchem Grund wohl? An diese schließen sich rieren. Die Beispiele drehen sich um das zentrale weitere Fragen und Vermutungen an, die wir hier Thema des ›Projekts‹ der Moderne: den Über- nicht verfolgen wollen. Was uns interessiert, ist, gang vom status naturalis zum bürgerlichen dass sie alle, indem sie in die fundamentale Frage Zustand, d. h. die Frage, wie aus der faktisch münden, »Wer ist mein wahrer Vater?«, auf das bestehenden Ordnung eine neue, vernünftig be- Problem des legitimen Ursprungs zurückführen. gründete hervorgehen kann, und sie betreffen Freud hat die phantastischen kindlichen eine zentrale Stelle ihres Diskurses, die Kantische Konstruktionen der Familienbeziehungen, bei Rechts- und Sozialphilosophie. Eine Betrachtung denen ein oder beide wirklichen Elternteile durch unter dem Aspekt des psychoanalytischen Fami- noblere Personen – Helden etwa, Könige oder lienromans zeigt, wie sich die Fäden der Über- Berühmtheiten – ersetzt werden, unter dem Titel tragung zwischen genealogischem Problem und ›Familienroman‹ als eine auf einer bestimmten patria potestas, über Mündigkeit zu Emanzipa- Stufe der Entwicklung ubiquitäre Erscheinung tion, zu Selbstbestimmung und Freiheit spinnen beschrieben.2 Ausgelöst durch die unvermeid- und zur Textur des Subjekts sich verweben. liche Enttäuschung des Kindes darüber, dass die Exeundem esse e statu naturali:dasist,nach realen Eltern seinen narzisstischen Wünschen wie vor, die Frage nach der Möglichkeit von und Allmachtsphantasien nicht entsprechen Gesellschaft. können, beschreibt die phantasierend-träumen- de Auseinandersetzung mit den Generationen- I. Beethoven, der Zweitgeborene, dessen älte- und Geschlechterverhältnissen in der Familie ein rer Bruder Ludwig Maria nur sechs Tage gelebt neues Stadium der Eltern-Kind-Beziehung, das hatte, glaubte die meiste Zeit seines Lebens, er sei der beginnenden Ablösung von den Eltern, um nicht im Dezember 1770, sondern erst zwei Jahre später in Amnesie überzugehen.

1Vgl.M. Solomon,Beethoven, Venezia 1996, 9 ff. 2Vgl.S. Freud,DerDichterund das Phantasieren, in: ders., Studienausgabe, Bd. X, Frank- furt a. M. 1969, 169–179; ders., Der Familienroman der Neuroti- ker, in: ders. Studienausgabe, Bd. IV, 1908, 223–226. Debatte Claudius Messner 64

Wie alle Phantasien, so ist auch der kindliche scheint, das ist der uralte römischrechtliche To- Familienroman als Reaktion auf unbefriedigte pos, der als Obersatz eines juristischen Syllogis- Wünsche zu lesen: Phantasien dienen der Kor- mus zur Begründung bzw. Bestreitung der rektur »der unbefriedigenden Wirklichkeit«.3 Verantwortlichkeit des Vaters gegenüber dem Einerseits gestattet der Familienroman dem Kind dient.9 Dieses Problem betrifft nicht die Träumenden eine imaginäre Rückkehr in das natürliche Verwandtschaft- und Abhängigkeits- unerreichbare Eden vor seiner Geburt und ein beziehung, sondern die rechtliche, wirtschaftli- Wiedererleben der verlorenen glücklichen Zeit, che und soziale Zuordnung des Kindes (und »when adults were Olympians and the child seiner Mutter!) zum Vater (bzw. Ehemann), shared their special privileges and unconditional d. h. den legitimen sozialen Ort des Kindes. love without special efforts being demanded«;4 Angelpunkt der Konstruktion des Familien- andererseits und zugleich bleibt das Kind, wenn romans ist die Differenzierung zwischen wirkli- es sich »wie ein Dichter … eine eigene Welt er- chem und wahrem Vater und die Zurückweisung schafft oder richtiger gesagt, die Dinge seiner des einen zugunsten des fingierten anderen. In Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung ver- der Imagination wird der Vater zugleich getötet setzt«,5 von »dem einen Wunsch« geleitet, es und auf eine höhere Ebene gehoben. Der Mecha- möge selbst »groß und erwachsen«6 sein. nismus ist dabei folgender: Die Macht des Vaters Bei Beethoven wird, wie es häufig der Fall wird neutralisiert und an seine Stelle wird eine ist, nur der Vater ersetzt. Das geschieht im We- mächtigere Figur gesetzt; dies wiederum erleich- sentlichen, weil dessen Beziehung zum Kind, tert das Schuldgefühl für den Tod des Vaters während über die Identität der Mutter meist (denn es war ein fremder Mann, nicht der wahre Gewissheit besteht, nicht evident ist und der Vater, der da getötet wurde); schließlich gestattet Vater daher immer auch fiktive Züge trägt, weil, die Teilung der Vaterimago in eine reale, negative wie Freud auf der Folie seiner eigenen Kultur- und eine illusorische, positive Komponente zu- theorie kommentiert, dem Kind allmählich be- gleich die identifikatorische Entfaltung der eige- wusst wird, »daß patersemperincertusest, nen Größenphantasien in der Inszenierung des während die Mutter certissima ist«.7 So antwor- eigenen Selbst als eines mächtigen unverwund- tet Telemachos, wie Beethoven in seinem Exem- barenHelden–unddenGenussjenerHoch- plar der Odyssee unterstreicht, auf Athenes Fra- stimmung der Sicherheit, deren Maxime lauten ge, ob er »schon ein Sohn des Odysseus selber« könnte »Es kann dir nix g’schehen«.10 Sich mit sei, mit entschiedenem Zweifel: »die Mutter dem realen Vater mit all seinen Schwächen und zwar sagt, daß ich von ihm bin; ich aber weiß Unzulänglichkeiten zu identifizieren würde dem- es nicht. Hat doch noch keiner je seine Abkunft gegenüber bedeuten, an ihm Maß zu nehmen selber genau gekannt!« Damit hört allerdings und sich in die Linie der Tradition zu stellen, das Thema des legitimen Ursprungs auf, eine bereits eingesehene Alternativen zu leugnen und rein innerfamiliäre Angelegenheit zu sein, und selbst zurückzutreten, ja, die eigene Größe zu aus der Frage nach dem wahren Vater wird verdrängen, kurz: man müsste unterdrücken, ein rechtlich-soziales Problem: Pater semper dass man selbst ›ganz anders‹ ist. Denn wie stellt incertus – was den Herausgebern Freuds als sich das Verhältnis zwischen dem mittelmäßigen eine bloße »juristische Redensart«8 bekannt er- Alten und dem Neuen, das man selbst vertritt,

3 S. Freud,DerDichter(Fn.2)174. Pflicht begriffen, die allen Lebe- matrimonium iustum gezeugt 4 L. J. Kaplan,TheConceptofthe wesen von Natur aus eigen war, worden waren«: E. Koch,Pater Family Romance, in: Psychoana- »eine Pflicht, die den Eltern ex semper incertus, in: Rechtshistori- lytic Review LXI (1974) 169–202, aequitate … et caritate sanguinis, sches Journal 9 (1990) 107–124, hier 171. aus Billigkeit und Liebe zu ihren 112. 5 S. Freud,DerDichter(Fn.2)171. Nachkommen oblag (D. 25.3.5.2). 10 »Ich meine aber, an diesem verrä- 6 Ebd., 173. Trotz dieses umfassenden natur- terischen Merkmal der Unverletz- 7 S. Freud, Der Familienroman rechtlichen Ansatzes bestand diese lichkeit erkennt man ohne Mühe – (Fn. 2) 225. Verantwortlichkeit auf Seiten des Seine Majestät das Ich, den Hel- 8 Ebd., Anm. 1. Vaters nur gegenüber bestimmten den aller Tagträume wie aller Ro- 9 Im römischen Recht wurde die Nachkommen, nämlich gegenüber mane«: S. Freud,DerDichter elterliche Unterhaltspflicht als eine denjenigen, die innerhalb eines (Fn. 2) 176. Rg7/2005 Übertragungen 65

dar? Gilt nicht, was Athene dem Telemachos sondern meint eine absolute Verfügungsgewalt: (weis-)sagt, ja ihm geradezu aufträgt: »fortan »Par elle est posé un pouvoir dont elle n’est pas wirst du nicht untüchtig und unverständig sein, un moyen, mais le tout: elle est le contenu d’une wenn deines Vaters gute Kraft in dich eingeträuft relation entre l’agent de la potestas et celui qui en ist … Doch bist du nicht sein Sohn und Penelo- est l’objet«.15 Die Formel enthält keine inhalt- peias, dann wirst du … nicht vollbringen, wo- liche Bestimmung ihres Objekts, sondern die nach du trachtest! Werden doch wenige Söhne abstrakte Definition einer unbedingten und un- dem Vater ähnlich, die meisten schlechter; we- beschränkten Macht.16 nige besser als der Vater. Doch wirst du hinfort Vitae necisque potestas, die Macht, die kon- nicht untüchtig sein noch unverständig«! Wie stitutiv ist für das Vater-Sohn-Verhältnis, ist die also die eigenen Talente mit den eigenen Ur- Macht schlechthin, primordiale Gewalt, die zu- sprüngen versöhnen? Wie, so lautet das genea- gleich die Ordnung der Familie und die Ordnung logische Problem, sich in die Tradition stellen der civitas politica begründet: Sie ist der Inbegriff und zugleich Selbständigkeit behaupten? Wie, so einer Legitimität, in der politische und rechtliche die Frage der Moderne, sich zurückbinden und Ebene noch ungeschieden sind – nicht umsonst zugleich frei sein? Dies ist die Komplikation im behauptet der Mythos, Romulus selbst habe sie Projekt des Sohnes, und der Familienroman den Vätern verliehen.17 Darum ist ihre Aus- bietet dafür eine Lösung an, indem er, wie Solo- übung niemals Routine, vielmehr Ereignis, in mon bemerkt, »die imaginäre Eroberung der das die civitas notwendig involviert ist. Ein Vater, väterlichen Gewalt«,11 der patria potestas,er- dervonihrGebrauchmacht,»manifesteimpé- laubt. rieusement un pouvoir qui excède de loin sa domus … son acte a portée normative: il fonde II. Nicht mehr untüchtig noch unverständig! le droit des autres pères à imiter son exemple.«18 Denn das Ich, das die Stelle des Vaters einnimmt, Sofern sie »als gegenwärtige Selbstverwirkli- ist nicht mehr alieno jure subiectum:Indemder chung der Existenz im Recht« erscheint, können Sohn die Rechtsnachfolge des Vaters antritt, in ihr die Rechtsgenossen sich erkennen und kehrt er »für sich selbst zur Legitimität«12 zu- reproduziert ihr Vollzug Gesellschaft immer rück. Selbst über die patria potestas zu verfügen, von neuem; sofern sie in der Selbstdeutung sich sui juris zu werden, besagt aber nach dem römi- als konstitutiv begreifen will, muss sie sich dem schen Recht nicht bloß, dass man endlich – ganz Leben schlechthin entgegensetzen: Das Leben, gleich, wie alt man ist, gleichgültig auch, in von dem ihre Formel spricht, ist kein Rechts- welchen konkreten Lebensverhältnissen man begriff, sondern jenes bloße, vom Kontext aller sich befindet13 – Herr im eigenen Haus ist, »lebendigen sozialen Form« abgetrennte Leben, sondern impliziert insbesondere den Besitz der welches ein Recht als sein notwendiges Kom- vitae necisque potestas, die das Rechtsverhältnis plement imaginieren muss, das sich selbst als zwischen Vater und Sohn auszeichnet;14 Frauen »das Vollkommene einer politischen Ordnung sind ihr ebensowenig wie Sklaven unterworfen. in Form«19 nur in der beständigen Drohung Die Macht des Vaters, den Tod (und damit das seiner Gewalt erkennt. Während das Vater- Leben) zu geben, ist, anders als eine strafrecht- Sohn-Verhältnis im römischen Recht so das ur- liche Norm, nicht an Bedingungen gebunden, sprüngliche Ineinander von familia und civitas

11 M. Solomon (Fn. 1) 31. 16 Lactanz überträgt in christlicher 17 Den Vätern: Rom war nie Athen, 12 S. Freud, Der Familienroman Zeit auf Gott, was nach Seneca und keineswegs sind alle Bürger (Fn. 2) 225. bereits für den Kaiser galt: »solus vor dem Gesetz gleich: das öffent- 13 Siehe die Definition der Digesten: pater vocandus est qui habet vitae liche römische Recht kennt als D. 1, 6, 4; D. 50, 16, 195, 2. ac necis veram et perpetuam po- volle Rechtssubjekte nur die sui 14 Zum Begriff statt vieler Y. Tho- testatem«; damit ist die patria po- juris,diepatres: alle anderen ha- mas, Vitae necisque potestas. testas nicht mehr bloß lebenslang ben nur durch sie am öffentlichen Le père, la cité, la mort, in: Du und unteilbar (vgl. Inst. 1.12), Leben teil. châtiment dans la cité, Rom 1984, sondern wird transzendent, was 18 Y. Thomas (Fn. 14) 512. 499–548. freilich ihren Grundzug nicht nur 19 Alle Zitate F. Wieacker,Lex 15 Ebd., 499. nicht ändert, sondern verstärkt. publica und politische Grundord- nung im römischen Freistaat, in: Debatte Claudius Messner 66

zeigt, erweist die Kategorie der vitae necisque sein ohne volljährig zu sein und dieses ohne potestas die Singularität der Vater-Sohn- Bezie- jenes, und kann beides sein ohne je mündig zu hung: Sie ist zugleich häuslich und politisch, werden. Und während die Übersetzungen die öffentlich und privat. Die Macht ist in diesem Konnotationen von Macht und Selbständigkeit System ganz, oder sie ist nicht. Daher wird man im Begriff der Mündigkeit verbergen, stellt sich Bürger und Erwachsener nur zugleich: Ein selb- dem anthropologisch interessierten Blick der ständiges Individuum ist notwendig ein pater Moderne die Frage der begrifflich-rechtlich zu- familias,weralsSohnbloßinderErwartung reichenden Unterscheidung zweier status –nicht lebt, es eines Tages zu werden, ist in mancipio des als ein Problem dar, sondern als geordnete Ab- Vaters: kein Bürger, nichts. folge von erlangten Entwicklungsstufen und Darum: Nicht untüchtig noch unverständig, Rollen, die durch verschiedene ›Mündigkeiten‹ sondern groß und erwachsen, mit einem Wort: benannt werden. Immerhin hält die rechtsphilo- mündig werden! ›Mündigkeit‹, das war und ist sophische Tradition daran fest, dass mündig und ein Rechtsbegriff. Mündigkeit meint, außerhalb unmündig nur von Mündeln bzw. Kindern in der Munt des germanischen Hausvaters zu ste- ihrem Verhältnis zu den Eltern, nicht jedoch von hen, »frei von seiner Herrschaft, aber auch ledig Sklaven auszusagen ist. Andererseits knüpft sich seines Schutzes zu leben, also ein Subjekt zu sein, an das Faktum, dass der förmliche Rechtsakt der das seine Handlungen selbst bestimmt und sie Entlassung beim Übergang zur Mündigkeit im sich rechtlich zurechnen lassen will und muß«, germanischen Recht keine Rolle spielte, eine bis wenn, ja wenn! jene Bedingung erfüllt und der zu Hegel nicht abreißende Tradition der Zurück- Sohn »nun seinerseits zum Hausherrn«20 ge- weisung des Begriffs der Emanzipation. worden ist. Mündig, das ist das in einem um- In der Tat muss dieses Konzept einem ra- fassenden Sinn ›vermögende‹ Individuum, das tionalen Denken, das seiner selbst bereits sicher kompetente, talentiert-tüchtige, zu seiner Selbst- ist, zunehmend zum Ärgernis werden: Sind näm- erhaltung fähige Individuum, das, wie wir in lich alle von Geburt frei und gleich, »dann ist einer Formulierung, die von Thomas v. Aquin Emanzipation nicht möglich und nicht nötig. über Christian Wolff bis zu Kant reicht, sagen Dann aber verliert der Zustand der Mündigkeit können, »ad conservationem sui« keines ande- seinen Anfang: man wird nie mündig oder ist es ren, insbesondere keiner Eltern, bedarf: alio non immer schon.«22 Das aber wäre doppelt aus- indiget. weglos, und nicht allein, weil das individuelle wie kollektive Projekt der Modernen von vorn- III. Die Rezeption verknüpft den Begriff der herein zum Scheitern verurteilt wäre, wenn Mündigkeit mit dem der emancipatio,des Emanzipation unmöglich ist; verzweifelter wäre Rechtsakts, durch den der pater familias den das Unternehmen noch, wenn sie, da man diesen Sohn freigibt und aus seiner Gewalt entlässt.21 rechtlich-politischen Status immer schon besitzt, Damit beginnt einerseits eine Reihe von Äquivo- bloß überflüssig wäre. Dann erst recht befände kationen: Während, wer emanzipiert wurde, man sich damit in einer Sackgasse, denn das unmissverständlich frei, d. h. rechtlich sein eige- zentrale Problem der Legitimation der eigenen ner Herr ist, kann mündig sein sowohl wer mai- Freiheit wäre noch gar nicht berührt, seine Lö- orennis als auch wer puber ist, man kann reif sung im Gegenteil in unerreichbare Ferne ge-

ders., Vom römischen Recht. vatrechts, 17. Aufl., Berlin 1949, Wirklichkeit und Überlieferung, 57 f., 534. 1944, 38–85, hier 79. 22 M. Sommer (Fn. 20) 120. 20 M. Sommer, Mündigkeit: Begriff und Metapher, in: ders., Identi- tät im Übergang: Kant, Frank- furt a. M. 1988, 117–139, hier 117. 21 S. Inst. 1.12, 1.16, 1.19; vgl. R. Sohm, Institutionen. Geschich- te und System des römischen Pri- Rg7/2005 Übertragungen 67

rückt: Könnte man ihren Anfang nicht bestim- schen in seiner eigenen Person: Der Mensch men, wüsste man doch nicht, wem Freiheit sich kann sich nie als Sache behandeln. Dies ist eine verdankt und könnte folglich niemals sicher sein, unerläßliche Pflicht daher ist der Satz vielmehr ob man je »nicht emancipirt wird oder sich selbst richtig: homo non est dominus sui ipsius, sed emancipirt«.23 Die Frage, wie denn der Über- tautum proprietate gaudet.«26 gangindenneuenStatuszudenkensei,wenn alle an sich frei sind, lässt sich so nicht abweisen. IV. Das ist die Prämisse der Überlegungen Kants Die Behauptung ihres Faktums macht das Prob- zum Zusammenhang von Mündigkeit und lem der Begründung der Mündigkeit nur dring- Selbstbestimmung, die in der Metaphysik der licher. Sitten (Rechtslehre §§ 28–30) in bündige Form Die aufgeklärten Vorläufer Kants behelfen gebracht sind. Da den Eltern, heißt es da, auf- sich, indem sie den Zusammenhang zwischen grund gemeinschaftlicher Zeugung die Pflicht paternalem Akt und kindlichem Status auf die zukomme, ihre Kinder zu versorgen, hätten um- Menschennatur des Kindes projizieren und ihn gekehrt diese »ein ursprünglich-angebornes … umdeuten in einen Zusammenhang zwischen Recht auf ihre Versorgung durch die Eltern, bis seinem Wesen und dessen Aktualisierung. Damit sie vermögend sind, sich selbst zu erhalten«, und ist das Problem verschoben auf die empirisch- zwar, wie Kant betont, »durchs Gesetz (lege) wissenschaftliche Operationalisierung und Fest- unmittelbar, d.i. ohne daß ein besonderer recht- stellung dieses Zustands: ›Mündigkeit‹ kann als licher Akt dazu erforderlich ist«. Wiederum folge Kriterium personalen Handelns aufgefasst und aus der Pflicht der Eltern gewiss ebenso ein dem Kind attribuiert werden. »Sobald die Kinder Recht, nämlich deren »Recht zur Handhabung sich selbst versorgen und regieren können,«24 und Bildung des Kindes«, freilich nur, solange sind sie für Chr. Wolff mündig. Achenwall, der dieses selbst »noch nicht mächtig« ist: »alles bis schulphilosophische Gewährsmann Kants, be- zur Zeit der Entlassung (emancipatio), da die hauptet in seinem Naturrecht das Recht der Eltern ›ihrem väterlichen Recht‹ und obendrein Kinder auf Schutz und Erhaltung von Leib und jederlei aus den erbrachten Leistungen abzulei- Leben so: »Proles est homo:ergoipsiadmini- tendem ›Anspruch auf Kostenerstattung‹ … ent- mum connascitur ius … ultimum et supremum sagen.« Kinder, so schärft uns Kant ein, werden … ius in vitae et corporis sui conservationem ohne förmliche Kündigung des bisherigen … Itaque parentum ius in liberos … concipi ne- Rechtsverhältnisses »durch die bloße Gelangung quit tamquam dominium, quippe proles non res zu dem Vermögen ihrer Selbsterhaltung (so wie est, sed homo«; das Recht der Eltern erlischt es, teils als natürliche Volljährigkeit [?] … teils gleichsam von selbst, wenn die Kinder für sich ihrer besonderen Naturbeschaffenheit gemäß, selbst Sorge tragen können.25 Dies non res, eintritt) mündig (maiorennes), d.i. ihre eigenen homo est, wird Kant zu dem festen Grundsatz Herren (sui iuris), und erwerben dieses Recht«, gerinnen: das sei noch einmal gesagt, »ohne besonderen »Der Mensch gehört sich selbst an, homo est rechtlichen Akt, mithin bloß durchs Gesetz (lege) sui juris. Dies gründet sich auf das Recht der – sind den Eltern für ihre Erziehung« – wir Menschheit in seiner eigenen Person … Daraus wissen schon und ergänzen selbständig: nebst folgt das erste Recht und Pflicht … des Men- aller etwaiger aufgrund der erbrachten Leistun-

23 I. Kant, Vorarbeiten zu Die Me- nicht, wie es möglich ist, daß Gott AA XXVII. 2.1, 601 [von nun an taphysik der Sitten, AA XXIII, freie Wesen erschaffe. zitiert als MdSV]. 279. Denn es ist unmöglich,so 24 Chr. Wolff, Vernünftige Gedan- führt Die Metaphysik der Sitten ken von dem gesellschaftlichen (1797), Werke (ed. Weischedel) Leben der Menschen, Halle 1721, VII, 393, [von nun an zitiert als 89. MdS] aus, sich von der Erzeugung 25 G. Achenwall, Juris naturalis eines mit Freiheit begabten Wesens pars posterior, Göttingen 1763, durch eine physische Operation §§ 54, 56, zit. nach I. Kant, einen Begriff zu machen. Und be- AA XIX, 323–442, hier 352. tont sei, damit keine Unklarheit 26 I. Kant, Metaphysik der Sitten bleibt, gegen wen das geht, Selbst Vigilantius (WS 1793/94), Debatte Claudius Messner 68

gen geltend zu machender Ansprüche – »nichts Kinder und die Legitimität der Ansprüche der schuldig«. Darüber darf keine Unklarheit beste- Einen gegen die Andern? Kant, ganz forum sive hen: »Die Kinder … sind jederzeit frei. Denn frei judex,27 verhandelt die Sache so: Wenn gilt, dass geboren ist jeder Mensch und« – ceterum censeo erstens das Produkt, um das es hier geht: das – »die Kosten der Erziehung bis zu seiner Voll- Kind, das »Erzeugte« der Eltern, eine Person, jährigkeit können ihm auch nicht als eine Schuld also ein freies Wesen ist, mithin nicht Sache, angerechnet werden«. »Machwerk«,28 Produkt und Geschöpf aus Kants Insistieren auf der Frage der Kosten- phallischer Macht: »Gemächsel«,29 das sie mit erstattung wirkt einigermaßen befremdlich. In Fug und Recht »als ihr Eigentum zerstören oder einer moralphilosophischen Schrift würde man es auch nur dem Zufall überlassen« dürften, und erwarten, dass von Verantwortung, auch wohl wenn weiterhin gilt, dass es unmöglich ist, ohne von Schuld die Rede ist, aber von Schulden? logischen Widerspruch von der Erschaffung sol- Sollte es Kant, dem Moralisten ernstlich darauf cher Wesen zu sprechen, dann folgt notwendig – ankommen, wie hoch die Kinder bei den Eltern dass der »Akt der Zeugung« nicht als bloße in der Kreide stehen? Wir müssen uns etwas »physische Operation« betrachtet werden darf. aufhalten, um seine Obsession zu verstehen. Der Sachverhalt der Zeugung resp. Geburt ist Zunächst geht es bei der Klärung der Verbind- vielmehr als ein Tatbestand anzusetzen. Der in- lichkeiten in der Tat nicht um moralische Ver- kriminierte Vorgang ist ins Auge zu fassen nicht antwortung, um »bloße Tugendpflicht«, sondern als bloßes Tun, sondern als ein Antun und ge- offenkundig um das Rechtsverhältnis zwischen meinschaftliche Gewalttat, »wodurch wir (sic!) Eltern und Kindern; es geht jedoch nicht, in der eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt Linie der juristischen Argumentation, um die gesetzt, und eigenmächtig in sie herüber ge- aus dem biologischen Verwandtschaftsverhältnis bracht haben«, ja! durch die jemand nicht nur stammenden Rechte und Pflichten beider Seiten; ohne, sondern geradezu gegen seinen Willen aus und um Eltern und Kinder und jenes persönliche dem einen in einen anderen »Zustand herüber Verhältnis innerhalb der Sphäre der Intimität, gezogen« wurde. Mann und Frau – offenbar das wir heute als ›Eltern-Kind-Beziehung‹ be- genauer: wir, als Männer und Frauen uns ver- zeichnen würden, geht es schon gar nicht. Es haltend – machen sich zu Eltern, indem sie einem handelt sich um jenes ausgezeichnete Rechtsver- Dritten Gewalt antun und ihn zum Opfer ma- hältnis, das sich aus der Qualität der Menschen chen. Solches Handeln »in Gemeinschaft« kon- als moralischer Personen ergibt und dessen Sub- stituiert ein illegitimes Machtverhältnis, in dem jekte darum nicht mehr Väter und Söhne sind, die Einen einen neuen Status gewinnen auf Kos- das sich vielmehr auf die conditio hominum ten des Anderen, den sie in eine inferiore Posi- erstrecken soll. Dieser Perspektivenwechsel muss tion bringen – »für welche Tat auf den Eltern uns an dieser Stelle umso mehr interessieren, als nun auch eine Verbindlichkeit haftet«, die Per- Kant jene von der rechtsphilosophischen Tradi- son »mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu tion verdrängten Konnotationen von Macht und machen«. Die Eltern sind, so lautet die Sentenz, Gewalt in den Diskurs zurückholt. in der Schuld, das Kind mit seinem Dasein zu Worauf gründet sich nämlich die Behaup- versöhnen. Der Allmacht des Einen entspricht tung der jederzeitigen vollständigen Freiheit der die gänzliche Schwäche des Anderen, und das

27 MdSV 572. 28 Vorarbeiten zur Einleitung in die Rechtslehre, AA XXIII, 261. 29 Dieses und die folgenden Zitate: MdS 393 f. Rg7/2005 Übertragungen 69

infantile Korrelat jener Eigenmächtigkeit der bestimmung ist nicht bloß Unabhängigkeit und Eltern ist die Ohnmacht des Kindes, das die Freiheit von Bevormundung, sondern schließt Geburt, den Übergang ins Leben, als Übergriff ein: »vermögend« sein, »mit allem alles tun zu erleidet. So ausgeliefert findet sich die Person können. Aus rechtlicher Sicht heißt das, wer ganz unten, »wo die Menschenwürde gar auf- frei ist, beansprucht eo ipso, alles als Eigen- hört und bloß der Mensch bleibt«. Reduziert tum zu besitzen«.36 Das wiederum heißt: In sein auf den stateofmerenature,aufsbloße der Figur des Kantischen ›Eigentümers seiner Leben, das heißt: im »Stande des Leibeigenen … selbst‹37 kehrt der pater familias wieder. oder eines Kindes«30 leben. Die Rede ist von Genau hier verläuft, wie sich gleich zeigen unserem Anfang, ontogenetisch und phyloge- wird, für die Bürger auch die summa divisio der netisch. Kantischen Rechtslehre. Noch mehr: Wer sicher Beweisgründe dafür findet Kant in der Anth- sein will, dass Natur, Zwangsverhältnisse der ropologie:31 Scheint doch das Kind, kaum der Gemeinschaft, vor allem aber die »Tierheit«in Verflechtung mit der Mutter und der »Fesse- einem selbst, die »doch … früher und im Grunde lung« durch sein »Unvermögen«32 entgangen, mächtiger als die reine Menschheit«ist,38 ihn »mit lautem Geschrei in die Welt zu treten« und nicht mehr einholen, dass er sie weit genug gegen jenen »Zwang« sofort »seinen Anspruch überwunden hat, um identisch zu bleiben mit auf Freiheit« zu behaupten. Unfrei mit dem seiner Person, der muss, »immer in Bereitschaft« Leben beginnend, verlängert sich seine Unmün- und wachsam,39 noch weiter hinauf, muss »un- digkeit mit den Abhängigkeiten seines Fortbe- endlich«40 erhoben sein – wer jene Hochstim- standes. Darum das Unbehagen: »Wer nur nach mung genießen will, ihm könne ›nix g’schehen‹, eines anderen Wahlglücklichseinkann(dieser der muss den Willen zu der unbedingten Freiheit mag nun so wohlwollend sein, als man immer haben, »nicht bloß unabhängig, sondern selbst will), fühlt sich mit Recht unglücklich«;33 und über andere ihm von Natur gleiche Wesen Ge- darum die Prätention der eigenen Kraft und bieter zu sein«.41 Auf diesem Gipfel und Höhe- Stärke, der »Eigenleistung«, wie Manfred Som- punkt, wo Sozial- und Moralphilosophie in eins mer emphatisch kommentiert: »Was wir sind fallen, implodiert gleichsam die Rechtsphilo- und haben … das sind und haben wir zu Recht: sophie, wird aus dem postulierten reziproken tätig erzeugt oder durch Tätigkeit redlich ver- Verhältnis zum Anderen erneut ein asymmetri- dient. So also wollen wir sein: legitime Eigen- sches, zerbricht die juridische Konstruktion tümer all unserer Eigenschaften«.34 Dabei geht wechselseitiger Obligation am Idealismus ihrer es nicht einfach um den Übergang von Fremd- eigenen Legitimitätsgrundlage. So scheint am erhaltung zu Selbsterhaltung. Bedeutete Fremd- Ende, nachdem das System des transzendentalen erhaltung ein Zwangsverhältnis, so stellt Eman- Idealismus errichtet und die kritizistischen Bau- zipation, die Entlassung daraus, den Übergang und Sicherungsmaßnahmen am Theoriedesign von der Fremd- zur Selbstbestimmung dar. lange abgeschlossen sind, die Anthropologie Selbstbestimmung meint »anfänglich die jeden- Kants alte Vermutung bestätigen zu können, falls versuchte Herstellung des Subjektseins noch dass die »Frage, ob die Freyheit möglich sey … vor aller theoretischen Selbstdurchsichtigkeit einerley« ist mit der, »ob der Mensch eine wahre und praktischen Selbstmächtigkeit«.35 Selbst- Persohn sey«.42

30 I. Kant, Anthropologie in prag- 34 M. Sommer (Fn. 20) 70 – Wobei 38 AP 681. matischer Hinsicht (1798), Werke wir Kant nicht Locke gleichsetzen 39 »Sie warten alle, daß die anderen X, 412 [von nun an zitiert als AP]. sollten,s.MdSV580. erst [auch] gut seyn sollen, damit 31 In jener Anthropologie, die neben 35 H. Ebeling, Das Subjekt in der sie es nicht allein seyn; also ist es Beobachtung und Selbstbeobach- Moderne, Reinbek 1993, 15. ein tausch«: Reflexionen zur An- tung auch auf Schauspiele und 36 M. Sommer (Fn. 20) 23. thropologie, AA XV, Nr. 1427, Romane als legitime methodische 37 Also gerade nicht im Sinne des 623 [von nun an zitiert als RA]. Mittel zurückgreift, vgl. AP 401. Sachenrechts: Man kann, und da- 40 AP 407. 32 AP 682, Anm. rum geht es, »sein eigener Herr (sui 41 AP 682. 33 AP 603. iuris)« sein, »aber nicht Eigentü- 42 Reflexionen zur Metaphysik, AA mer von sich selbst (sui dominus)« XVII, 464/65, Nr. 4225. oder von anderen: MdS 382. Debatte Claudius Messner 70

Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Per- »Der Mensch ist schuldig, die äußersten Kräfte son, darauf kommt es Kant im Grunde an, nicht anzustrengen, um ein freies und unabhängiges so sehr auf die moralische Verantwortung. »Frei- Wesen gegen andre zu bleiben.«48 Gegen andere: heit ist eigentlich nur die Selbstthatigkeit, deren Man muss bei sich sein, sich besitzen, sich nicht mansichbewusstist«,43 das ist die zentrale aus der Hand geben wollen.49 Frei und unab- Bastion, die es immer wieder, sei’s gegen Natur, hängig: Man darf sich nicht verstricken, muss sei’s gegen den Schöpfergott zu verteidigen gilt. eher den Andern in die inferiore Position brin- »Sonst müßte ich sagen: ich bin getrieben oder gen: »das Schuldenmachen«, erklärt Kant, sei bewegt, so oder so zu handeln, welches so viel »eine Erniedrigung«, da man dadurch »dem heißt als: ich bin nicht handelnd, sondern lei- Gläubiger die Autorität giebt … Man muß sich dend. Wenn Gott die Bestimmungen der Willkür in den Stand versetzen, dass man bei jedem regiert, so handelt er; wenn die Reize der Dinge Besuch zu erwarten habe, der andere bringe sie notwendig bestimmen, so nötigen sie; in etwas.«50 Wie zuvor die Anthropologie der beiden Fällen entspringt die Handlung nicht Moral, so sekundiert jetzt die Moral der Anth- aus mir, sondern ich bin nur das Mittel einer ropologie. Man begreift so, warum darauf zu andern Ursache«.44 In diesem Sinn arbeitet Kant beharren ist, dass Kinder gar »nichts schuldig« in den neunziger Jahren auch die Gegenüber- sind. stellung von Mensch und Menschheit aus. Sei- Verständlich wird von hier aus auch die nen Studenten gegenüber lässt er keinen Zweifel, lange Reihe der Gleichsetzungen, in denen was denn diese Menschheit nun sei: abstrakte Autor, Incola, Bürger, Herr die »Qualität« der Eigenschaft, ideales Ich und Gewissen oder Ding »Selbständigkeit (sibisufficientia)«51 des Kanti- an sich. »Die Persönlichkeit oder die Menschheit schen Subjekts paraphrasieren, und der Dua- inmeinerPerson…Mandenktsiesich…alsein lismen von Natur und Sittlichkeit, Tier und Subjekt, das bestimmt ist, dem Menschen mora- Mensch, Natur und Kultur, aktiv und passiv, lischeGesetzezugeben,undihnzudeterminiren: Kind und Erwachsener, Genosse und Bürger, als Inhaber des Körpers, unter dessen Gesetzge- die seinen Hof beschreiben. Sie sollen das zen- bung die Verwaltung aller Kräfte des Menschen trale Theorem stützen, das Kant mit Rousseau geordnet ist.«45 teilt: Dass wir »zum Menschen und Bürger zu- Homo, non res. Souveränes Subjekt, nicht gleich«52 werden, wenn wir es werden, dass die subiectum alieno iuris. Es geht zuletzt nicht um vita nova mit einem Schlag beginnt. Man kann Moral, sondern um das Bewusstsein eigener das eine nicht ohne das andere sein, und aus Vollkommenheit und Grandiosität, das aus Kindern können nur zugleich Erwachsene und dem siegreichen moralischen Kampf gegen die Bürger werden, weil das dritte konstitutive ständige Drohung sowohl der inneren – eripitur Merkmal des Staatsbürgers (neben Freiheit und persona manet res – und äußeren Natur als auch Gleichheit), »das Attribut der bürgerlichen Selb- des Anderen bezogen wird. Die Alternative ist ständigkeit«, nichts anderes ist als »die bürger- einfach: »Der Andere, dessen Willkühr die un- liche Persönlichkeit«.53 sere bestimmt, ist entweder die Idee der Mensch- Darin liegt nun auch die Antwort auf die heit in uns oder ein Mensch außer uns.«46 Frage, was es bedeutet, dass der Übergang keine Darum muss man sich »empor arbeiten«:47 »rein innerfamiliäre Angelegenheit darstellt, son-

43 Reflexionen zur Metaphysik, sius, sondern imperium« zu spre- 50 MdSV 601. AA XVII, 462, Nr. 4220. chen: »Imperium … oder die 51 Über den Gemeinspruch …, Wer- 44 A. a. O., Nr. 4225, 464. Pflicht sich selbst zu beherrschen, ke IX, 151, 150. 45 MdSV 627. folge aus dem Begriff von Pflicht; 52 Mutmaßlicher Anfang der Men- 46 Vorarbeiten zur Einleitung in die Pflicht sey der Grund der Bestim- schengeschichte (1786), Werke IX, Rechtslehre, AA XXIII, 269. mung der freien Willkür nach der 93. 47 MdS 434. reinen Vernunft. Dieser Grund sey 53 MdS § 46, 432 ff., 433. 48 MdSV 605, vgl. 603. unbedingt, nothwendig, und daher 49 Vgl. MdSV 625 f. Gegen Baum- die Formel der Pflicht jederzeit ein garten, halten die Studenten fest, Imperativ, wodurch die Art der habe »Herr Kant« nur erwidert, es Beherrschung angedeutet werde«; sei nicht von »dominium sui ip- vgl. MdS 553. Rg7/2005 Übertragungen 71

dern rechtlich geregelt und ›staatlich‹ abgesichert turzustand und status (artificialis) socialis.Nach ist«.54 Freilich verbergen sich in dieser Formu- Kant verläuft die Grenzlinie nicht zwischen Na- lierung zwei Probleme: Zunächst steht in Rede tur und Gesellschaft, sondern innerhalb der Ge- die Konstitution des Zusammenhangs von Ge- sellschaft: jener zwar rechtmäßige, aber, da ihm sellschaft, Recht und Politik in der modernen »austeilende Gerechtigkeit« ermangelt, eben Gesellschaft; um so mehr, als bei Kant das Recht doch »nicht-rechtliche« Zustand ist ihrem recht- seinen Ausgang nicht aus gemeinschaftlichen lichen bürgerlichen status entgegenzusetzen. Lebensformen nimmt, in denen dieser Zusam- Kurzum, es geht um zwei rechtliche Verfassun- menhang bereits realisiert ist, sondern vom »Be- gen des Sozialen: da die natürliche, hier die griff des Individuums«55 im Naturzustand, das bürgerliche, in der Gesellschaft sich »unter einer durchdenfreienAnspruchdesAnderenimeige- distributiven Gerechtigkeit« befindet; gegenüber nen jederzeit schon bedroht ist. Der bürgerliche jener enthält diese nicht mehr und nichts ande- Zustand steht hier unvermittelt, das heißt ohne res: »die Materie des Privatrechts ist eben die- aufhebende Einschaltung sittlicher oder ökono- selbe in beiden«, verschieden ist allein »die recht- mischer Beziehungen,56 die für den Einzelnen liche Form« des sozialen »Beisammenseins«. ›verbindlich‹ wären, neben dem Naturzustand. Naturzustand bedeutet demnach einerseits Aus dem alten darf das neue Leben, wir wissen den Zustand mere naturalis,denungeregelten es, gerade nicht ›herauswachsen‹. wilden Zustand »der natürlichen Freiheit« der Zweitens aber ist die Frage, welche Bedeu- konkreten Einzelnen; andererseits sind aber die tung dem Faktum zukommt, dass der Zusam- Rechtsbeziehungen der rechtsfähigen Personen, menhang von Gesellschaft und Politik bei Kant also sowohl der Glieder einer Rechtsgemein- anscheinend dennoch durch Regeln vermittelt schaft als auch von Rechtsgemeinschaften unter- ist, und zwar so sehr, dass er, verdichtet zum einander, gemeint. Bürgerlicher Zustand hinge- Überschritt vom niedrigeren zum höheren Zu- gen bedeutet die Existenz einer den Individuen stand, die Form des Rechts annimmt. Im Grunde übergeordneten Macht des Staates, die das un- wird die neue Staats-Form der alten Logik nur gestört-sichere Nebeneinander der privaten Frei- aufgesetzt, »denn bürgerliche Verfassung ist al- heitssphären garantiert, indem sie diese als Sys- lein der rechtliche Zustand, durch welchen je- tem von Rechten und Pflichten der einzelnen als dem das Seine nur gesichert, eigentlich aber nicht Mitglieder organisiert und diese Ordnung durch ausgemacht und bestimmt wird«. Alle Garantie ihre Zwangsgewalt verbindlich macht. »Recht aber setzt »das Seine von jemandem« und damit und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei« einen Rechtsbegriff »schon voraus«. Durch das in einem System, in dem sich als agierende Poten- Hinzutreten der neuen Form kann daher das zen nur noch Person und Staat gegenüberstehen. Naturrecht »nicht Abbruch leiden«, vielmehr In dieser »rechtlichen Verfassung, im eigentli- erhält sich sein (privat-)»rechtliches Prinzip in chen Sinn des Staates«, gelangt die »Konstruk- Kraft«.57 Da es, wie Kant gegen Achenwall tion« des Rechts »nach Analogie der Möglichkeit betont, »auch im Naturzustande rechtmäßige freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze Gesellschaften«58 geben kann, handelt es sich der Gleichheit« an ihr Ziel. Setzt man jenen beim Übergang vom status naturalis zum status Begriff des Bürgers voraus, in dem Freiheit und civilis nicht um die Gegenüberstellung von Na- Selbständigkeit bereits zusammengedacht sind,

54 M. Sommer (Fn. 20) 40. 58 Dieses und die folgenden Zitate 55 K. Lisser, Der Begriff des Rechts MdS 423 f., 340, 466. bei Kant, Berlin 1922, 14. 56 Fasst man Sitte als »die im Leben des Volks sich bildende verpflich- tende Gewohnheit«, so ist in dieser Definition jedes Wort ein Stachel im Fleisch des Kantischen Projekts: R. v. Jhering,Der Zweck im Recht, 4. Aufl., Leipzig 1905, 19. 57 Alle Zitate: MdS 366. Debatte Claudius Messner 72

dann erscheint als notwendige und hinreichende licae. finis constitutionis est 1. conservatio totius, Bedingung des gesellschaftlichen Zusammen- 2. suum cuiusque«:63 Darin ist alles beschlossen. hangs ein Recht, das dafür sorgt, dass die Freiheit Dieser Punkt des Zusammenfalls von Gesell- des Einen nicht auf Kosten der Selbsterhaltung schaft und Recht, der zugleich den des Ausfalls des Anderen geht, indem es beide einem Dritten der Politik bezeichnet, markiert freilich ebenso unterwirft und so bewirkt, dass sie im Hinblick die Kluft zwischen Recht und Gerechtigkeit. Die auf diesen Referenzpunkt einander »beigeord- Gerechtigkeit tritt ihre Kompetenzen zur Bestim- net« sind und sich »als gleich ansehen«. Das mung der ratio juris aus dem Verhältnis der bedeutet demnach Vermittlung von Gesellschaft Dinge zu den Personen ab an eine Politik, die und Politik durch das Recht: »Weil das Recht selbst keine andere Kompetenz beansprucht als eine Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung die, die Pluralität der Meinungen der Privaten zu in sich enthält welches ein Product des Freyheits- vermitteln. Damit steht einer ihres Inhalts be- gesetzes ist so ist es auch practisch das einzig raubten Gerechtigkeit ein Recht gegenüber, das taugliche Princip ein beharrliches Ganze unter ohne Zweck und ohne fundamentum in re ist. wiedersinnischen Köpfen möglich zu machen.«59 Das System verdrängt die ethisch-politische Fra- Welche Konsequenzen hat nun diese Kon- ge des ›Kampfs ums Recht‹. struktion für den Zusammenhang von Gesell- Das ist prekär nicht nur, weil der Einzelne, schaft und Politik? Die Gesellschaft der Bürger wie Kant wohl sieht, auf Gesellschaft angewiesen konstituiert sich als civitas politica nur durchs ist, sondern weil umgekehrt auch die Selbster- Recht, Recht ist das System des »öffentlich ge- haltung einer Gesellschaft, die ihren Zusammen- setzlichen äußeren« Zwanges,60 Rechtssystem hang nur dem Recht verdanken soll, die Reali- ist gleich Staat, mit einem Wort: »Staat ist die sierung der Idee des Rechts bereits voraussetzt.64 Gesellschaft, welche zwingt«.61 Wie es keine Gerade darum aber will Kant im Grunde nur sachliche Unterscheidung zwischen den beiden zwei Staaten kennen: den falschen, der auf dem status des privaten und des öffentlichen Rechts materialen Prinzip der »Glückseligkeit« beruht gibt, so verschwindet hier offenbar auch die und den wahren, den Rechtsstaat. Jenen hat er Differenz zwischen Politik und Recht. Politik im Polizei- und Merkantilstaat seiner Zeit vor kann »eigentlich« inhaltlich nichts ausmachen Augen, den eben noch (drei Jahre nach der ersten und nichts bestimmen, sie geht, will sie radikal deutschen Ausgabe von Lockes Abhandlungen) an den Anfang der bürgerlichen Gesellschaft Wolff dogmatisiert hatte,65 in dem patriarchali- rühren, bei Strafe ihrer Desavouierung als schen deutschen Kleinstaat, »(imperium pater- ›bloße‹ Gewalt, im Recht auf.62 Politische und nale), wo also die Untertanen als unmündige soziale Realität vor und außer dem Recht spielen Kinder … bloß passiv« sich verhalten müssen – so wenig noch eine Rolle wie die Menschen uti der folglich und mit einem Wort »der größte singuli: Wir befinden uns immer schon jenseits denkbare Despotismus« ist. Dagegen aber bäumt der Unterscheidung von Recht und Politik auf er sich auf: »Nicht eine väterliche, sondern eine dem Boden von Rechtsverhältnissen, die errich- vaterländische Regierung« allein scheint ihm tet sind nach Maßgabe der Vertragsidee (deren denkbar für »Menschen, die der Rechte fähig vernünftige Geltungsgrenzen allein noch zu be- sind«, bestimmter: sofern der Mensch »ein We- stimmen sind). »Iustitia publica est finis reipub- sen ist, das überhaupt der Rechte fähig ist«.66

59 Vorarbeiten zum Gemeinspruch, Staat ausmache, wesentlich gehö- sich zu Unterthanen, wie Väter zu AA XXIII, 135; vgl. MdS 464. ret«: MdS 463. Wie aber wird aus den Kindern«. 60 MdS 430. dem (bloßen) Volk ein (Staats-) 66 Alle Zitate: Über den Gemein- 61 R. v. Jhering (Fn. 56) 240. Volk? Wir bewegen uns im Kreis. spruch …, 145/46. 62 »Denn diese Umänderung müßte 63 Reflexionen zur Rechtsphiloso- durchs Volk, welches sich dazu phie, AA XIX, Nr. 7736, 504. rottierte, also nicht durch die Ge- 64 Vgl. RA Nr. 1435, 627; Vorar- setzgebung geschehen …« – Legi- beiten zum ewigen Frieden, timität kann nur ein Handeln AA XXIII, 162. beanspruchen, welches bereit ist, 65 Vgl. Chr. Wolff (Fn. 24) § 265: »diejenige Form bestehen zu las- »Regierende Personen verhalten sen, die dazu, daß das Volk einen Rg7/2005 Übertragungen 73

Damit schließt sich der Kreis: Der Übergang Freyheit. Er soll die humanitaet sich selbst zu des Kindes zur Selbstbestimmung ist identisch danken haben.«67 mit dem Übergang der Menschen zur Gesell- Wenn in der Tat der »Grundsatz« der mo- schaft. Emanzipation, das ist Koinzidenz von dernen Vernunft in dem erläuterten umfassenden Persönlichkeit und Person, Erwachsenem und Sinn lautet: »ihre Selbsterhaltung«,68 so zeigt Bürger, Ausgang aus jenem status naturalis,in sich am Begriff der Mündigkeit, dass sie ihre dem wir bloß getriebene Akteure sind, Über- Gestalt unter permanentem Rekurs »auf den schritt in den status civilis,indenRaum,»in Zusammenhang von Befreiung und Selbstän- welchem Gesetze Kraft haben«, deren Autoren digkeit, von Emanzipation und Selbstbestim- wir sind. Fallen so Autonomie des Subjekts und mung«69 gewinnt. Das ist sicher richtig. Es Begründung der Gesellschaft in eins, so ist dies bedeutet allerdings auch, dass diese Form nicht, auch der Berührungspunkt von Staats- und Fa- wie man gerne meint, sich dadurch bildet, dass milienroman. sie den einfachen Gegensatz von Freiheit und »Der Übergang aus dem wilden Zustand in Bindung begrifflich skandiert. Vielmehr handelt den bürgerlichen, aus dem rohen in den verfei- es sich, wie deutlich geworden sein sollte, um nerten … des Geschmacks und der Kunst, aus eine komplexe, auf vielerlei Aufführungen zu- der Unwissenheit in den Aufgeklärten der Wis- rückgehende, mit Erich Rothacker zu reden »ju- senschaft, kurz: aus der Unmündigkeit in die ristisch-logisch-mechanische ichgeborene« Kon- Mündigkeit ist der schlimste. Die Welt ist noch struktion der Übertragungen. Da wir weder O- jung. Eine Helfte ist kaum entdekt. Der Mensch Ton noch O-Bild haben, ist nicht sicher, was wird seine Bestimmung noch erreichen … Die gerade kommt. Natur entwikelt nicht den Mensch, sondern die Claudius Messner

67 RA Nr. 1423, 621. 68 RA Nr. 1509, 823. 69 M. Sommer (Fn. 20) 10. Debatte Claudius Messner 74

Wissenschaftsfreiheit Beobachtungen zum deutschen und japanischen »juristischen« Diskurs*

1. Stichwort Wissenschaftsfreiheit demic freedom) des Professors gegenüber dem Universitätsrat hervorgehoben. Die heutige japa- Die erste japanische Verfassung aus dem nische Verfassung hat der Leidensgeschichte der Jahr 1889 enthielt keine Regelung über die Wis- Universität vor dem II. Weltkrieg (die sogenannte senschaftsfreiheit. Erst die zweite, seit 1947 ge- Takigawa-Affäre; der Staatsorganlehre-Fall)1 ge- ltende Verfassung hat dieser Freiheit eine juristi- dacht und den Art. 23 in Anlehnung an die deut- sche Bedeutung zuerkannt. Art. 23 der Verfas- sche Verfassungstradition geregelt. Daher war sung lautet wie folgt: die Wissenschaftsfreiheit anfänglich nur auf die »Art. 23: Die Freiheit der Wissenschaft wird Forschung der Universitätsprofessoren sowie auf gewährleistet.« die Universitätsautonomie beschränkt gewesen Wie wird dieser Artikel heute im japanischen (Popolo-Theatergruppe-Urteil). Seit der Studen- verfassungsrechtlichen Diskurs gemeinhin ver- tenbewegung Ende der 60er Jahre wird die Frage, standen? Ziehen wir zur Probe eine repräsenta- ob auch noch die Teilnahme der Studenten an der tive lexikalische Darstellung heran: Selbstverwaltung der Universität zu gewährleis- »Freiheit der Wissenschaft: ten sei, ernsthaft erörtert. Das Asahikawa-Ga- 1. Bedeutung: Art. 23 der japanischen Ver- kute-Urteil des obersten Gerichtshofs (1976) hat fassung gewährleistet das Freiheitsrecht des auch die ›Lehrfreiheit des Schullehrers‹ sowohl Staatsbürgers in Bezug auf die Wissenschaft. der Grundschule als auch der Mittelschule bis zu 2. Konkreter Gehalt:Keinuniversalgelten- einem gewissen Grad der Wissenschaftsfreiheit der Gehalt dieses Begriffs ist durch vergleichende unterstellt. In der Literatur über das schulische Verfassungsgeschichte ermittelt worden, so dass Erziehungsrecht wird darüber hinaus auch der die Auslegung des fraglichen Artikels einer Erfin- Bezug der Wissenschaftsfreiheit zur Erziehung dungskraft bedarf. Deutsche Verfassungen ha- der japanischen Bürger zur Diskussion gestellt.«2 ben traditionell geregelt, Wissenschaft und ihre Der anonyme Verfasser dieses Artikels sowie Lehre seien frei. Damit ist gemeint, dass die die Herausgeber des Lexikons glauben damit die Autonomie der Universität und die Lehrfreiheit Aufgabe erfüllt zu haben, einem breiten Leser- des Universitätsprofessors gewährleistet werden. kreis eine gewisse Vorstellung von der Wissen- Hingegen gibt es in der französischen Verfassung schaftsfreiheit zu verschaffen. Die Sache sieht keine entsprechende Regelung. Vielmehr wird in aber anders aus, wenn diese Erläuterung mit Frankreich die Lehrfreiheit in der Privatschule einer Ausführung über die Wissenschaftsfreiheit geregelt. In England sowie in den USA war man in einem repräsentativen deutschen Rechtslexi- sich früher der von der Meinungsfreiheit sowie kon kontrastiert wird. Im Münchner Rechts- von der Freiheit der Meinungsäußerung geson- Lexikon, 3. Aufl., 20013 findet sich nämlich derten Wissenschaftsfreiheit nicht bewusst. In ebenfalls eine nur leicht modifizierte Wiedergabe den USA wurde indessen seit dem Ende des des Wortlautes von Art. 5 III 1 GG zusammen 19. Jahrhunderts die akademische Freiheit (Aca- mit einer terminologischen Erklärung:

* Prof. Shirô Ishii zu seinem 70. Ge- 1 In beiden Fällen wurde versucht, nur der Inhalt, sondern auch der burtstag am 31. Mai 2005 zuge- wissenschaftliche Meinungsbil- Gedankengang. Auf darstelleri- eignet. dung unvermittelt politisch und scheEleganzmusstedabeinotfalls Revidierte Fassung eines Vortrags gewaltsam zu beugen. verzichtet werden, vgl. Reichert, an der Universität Greifswald am 2 Hôritsugaku shô Jiten (= Kleines K., Die unendliche Aufgabe. Zum 26.1.2004. Peter Colin hat an der Wörterbuch der Gesetzeswissen- Übersetzen. deutschen Fassung des Beitrags schaft), Literaturverzeichnis siehe 3 Schmitt-Glaeser, W.,Art.Wis- mitgewirkt. Eine japanische Fas- unten. Zur Übersetzung: Im Fol- senschaftsfreiheit. sung erscheint demnächst. genden wird, soweit es geht, im- mer die wörtliche Übersetzung gegenüber der sinngemäßen be- vorzugt. In Betracht kommt nicht Rg7/2005 Wissenschaftsfreiheit 75

»Gem.Art5III1GGsindWissenschaft, einigen jungen, kritischen und zugleich mit Stolz Forschung und Lehre frei. Weil es außerhalb von bewusst nüchtern juristisch denkenden Rechts- Lehre und Forschung keinerlei Wissenschaft wissenschaftlern, vor allem Gerd Roellecke und gibt, geht es in Art 5 III 1 GG um Wissenschaft Bernhard Schlink, gestellt und eindringlich er- bzw. um wissenschaftliche Forschung und Leh- örtert. Dadurch, und nicht etwa aufgrund politi- re.«4 scher Voreingenommenheit, kam es zum Bruch Es folgen Erläuterungen zu einzelnen mit der Idee des »Grundrechts der deutschen Punkten: Definition des Wissenschaftsbegriffs, Universität«. Das war ein theoretischer Fort- Grundrechtsträger und -adressat, staatlicher schritt. Bemerkenswerterweise wurde in einer Schutz- und Förderauftrag als wesentliche In- politisch bewegten Zeit die juristische Denkwei- haltsbestimmungen und schließlich Gewährleis- se klar artikuliert. Im Folgenden wollen wir des- tungsbegrenzungen als Konturen des Begriffs. halb diese Denkweise darstellen, und zwar Die jeweiligen Ausführungen werden meist mit exemplarisch die scharfe, aber juristische Pole- gesetzlichen Vorschriften oder gerichtlichen Ent- mik von Roellecke gegen die Idee der institutio- scheidungen, vereinzelt auch mit wissenschaft- nellen Garantie der Wissenschaftsfreiheit und lichen Nachweisen belegt. Schlinks überlegene dogmatische Reaktion da- Vergleicht man diese deutschen lexikali- rauf. schen Ausführungen mit den japanischen, so ist Daran anschließend wollen wir eingehend bei letzteren der folgende Umstand besonders analysieren, wie die Wissenschaftsfreiheit in Ja- augenfällig. Der Artikel lässt viel Raum für pan nach dem Zweiten Weltkrieg aus Deutsch- Rechtsvergleichung. Das Ganze wird nicht sys- land ›rezipiert‹ und dann theoretisch entfaltet tematisch gegliedert. Gesetzliche Vorschriften oder eben nicht entfaltet worden ist. außer Art. 23 werden nicht herangezogen. Ein- zelneAussagenwerdennichtvonvorherigen logisch abgeleitet; vielmehr herrschen Assozia- 2. Der dogmatische Abschied von der Idee tionen vor. Der Gedankengang ist nicht streng »Grundrecht der deutschen Universität« nach einem juristisch geschlossenen Denkmodus organisiert. Schon diese flüchtigen Beobachtun- In einem 1969 publizierten Aufsatz7 be- gen stellen uns vor die Frage: Was ist der spezi- schrieb Gerd Roellecke, damals noch als junger fisch juristische Kerngehalt des Begriffs »Wissen- Privatdozent tätig, was er als herrschende Mei- schaftsfreiheit« im japanischen Diskurs? nung der deutschen Staatsrechtslehre zur Kern- Diese Frage führt uns zu einer historischen aussage von Art. 5 III GG ansah: Die Freiheit Reflexion. Während der Studentenbewegung um von Wissenschaft, Forschung und Lehre enthalte 1968 wurde über das Thema »Wissenschafts- »nicht nur ein Grundrecht auf wissenschaftliche freiheit«sowohlinJapanalsauchinDeutsch- Meinungsfreiheit, sondern auch eine institutio- land lebhaft diskutiert.5 Es war die Zeit des nelle Garantie, ein ›Grundrecht‹ der deutschen »universitären Bürgerkriegs«.6 In Deutschland Universität«.8 Der Ton des Aufsatzes lässt einer- wurde in dieser Zeit neben politischen Themen seits Aversionen gegen die politischen Implika- auch jene Frage nach einem spezifisch juristi- tionen der herrschenden Meinung deutlich er- schen Kerngehalt der Wissenschaftsfreiheit von kennen; entscheidend ging es ihm jedoch darum

4 Schmitt-Glaeser (Fn. 3) 4893. 5 Zum Milieu der damaligen deut- schen Universität s. Schlink, B., Sommer 1970. 6 Schlink (Fn. 5) 1130. 7 Roellecke, G., Wissenschafts- freiheit als institutionelle Garan- tie? 8 Roellecke (Fn. 7) 726. Debatte Kenichi Moriya 76

darzustellen, dass die herrschende Meinung den schaftsfreiheit zuerkennen will. Die Beziehung Anforderungen an eine methodisch saubere In- der Wissenschaftsfreiheit zur organisatorischen terpretation des Art. 5 III GG nicht gerecht Problematik ist für ihn – entgegen der h. M. – wurde. Roellecke stellte sich die Aufgabe, »nach keineswegs selbstverständlich, sondern ist erst dem spezifischen Gehalt des Art. 5 III GG, ins- über die zweckorientierte Hermeneutik herzu- besondere nach dem Sinn der Theorie von der stellen. Weil dabei die Wissenschaftsfreiheit als institutionellen Garantie und dem ›Grundrecht‹ Freiheit der Person verstanden wird, wird die der deutschen Universität« auf eine spezifisch wissenschaftliche Tätigkeit des einzelnen staat- »juristische« Art und Weise, i.e. konkret durch lich bediensteten Wissenschaftlers zunächst von »eine sorgfältige Exegese« des betreffenden Ar- der Universität als Institution abgekoppelt. Erst tikels zu suchen.9 Dabei räumte er zwar ein, eine dann bezieht Roellecke auf der Ebene der teleo- spezifisch juristische Methode gebe es eigentlich logischen Exegese die wissenschaftliche Tätigkeit nicht. Jedoch wolle er wenigstens »nach den des Einzelnen auf die Universität. Auf diese traditionellen Interpretationsgesichtspunkten« Weise ergibt sich immerhin aus dem Art. 5 III verfahren, die aus Wortlaut, Systematik, Entste- erst durch eine teleologische Interpretation ei- hungsgeschichte und Teleologie bestünden.10 ne Gewährleistung der individuell-persönlichen Roellecke stellte im Wege der philologi- Meinungsfreiheit für wissenschaftlich tätige Be- schen, systematischen und historischen Exege- amte und Angestellte innerhalb der staatlichen se fest, dass die herrschende Meinung, die in Kulturverwaltung, zum Beispiel im Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit ein »Grundrecht« der Anweisungen von Vorgesetzten.13 deutschen Universität hineindeute, sich nicht auf Es ist Roelleckes Verdienst, diese spezifisch das geltende Verfassungsrecht berufen könne.11 juristische Problematik der Wissenschaftsfreiheit Wissenschaftsfreiheit sei prinzipiell nur ein Un- von dem seit Rudolf Smend gleichsam mythisch terfall der Meinungsfreiheit. Dabei geht er von verdichteten Topos des Grundrechts der deut- der klassischen Auffassung der Freiheit der Per- schen Universität durch das Festhalten an »tradi- son aus und damit davon, »dass jede Insti- tionellen Interpretationsgesichtspunkten« befreit tutionalisierung einer Freiheit eben die Freiheit zu haben. Wir dürfen insofern seine Denkweise, gefährdet, die sie schützen soll«.12 Das Institu- die außer der tradierten Interpretationsmethode tionelle ist nach seiner Auffassung der persön- nichts rational Unbegründbares aufnehmen will, lichen Freiheit wesensfremd. Daraus folgt, dass einstweilen als streng juristisch bezeichnen. die Annahme jener tradierten Assoziation vom 1971 antwortet Berhard Schlink in einen Individualrecht und der institutionellen Garantie Aufsatz14 zumindest teilweise auf diesen Vorstoß nicht aufrechterhalten werden kann. Insoweit mit einer verschärften Reflexion über das Ver- bleibt »der spezifische Gehalt des Art. 5 III GG« hältnis zwischen der individuellen wissenschaft- unklar. Dieser wird nach Roellecke aber erst im lichen Tätigkeit einerseits und den in Deutsch- Rahmen der teleologischen Überlegungen he- land meist staatlich betriebenen, zum Zweck der rausgearbeitet. Wissenschaft eingerichteten Organisationen an- Es ist beachtenswert, dass Roellecke erst dererseits. Schlink geht es nicht nur um die Frei- hier, auf der Stufe der teleologischen Exegese, heit des individuellen Wissenschaftlers gegen- die organisatorische Komponente der Wissen- über staatlicher Intervention, sondern auch um

9 Roellecke (Fn. 7) 727. 10 Roellecke (Fn. 7) 727. 11 Roellecke (Fn. 7) 727 f. 12 Roellecke (Fn. 7) 732; insoweit auch Roellecke, G., Wissen- schaftsfreiheit als Rechtfertigung von Relevanzansprüchen, 689. 13 Roellecke (Fn. 7) 729. 14 Schlink, B., Das Grundgesetz und die Wissenschaftsfreiheit. Rg7/2005 Wissenschaftsfreiheit 77

den organisatorischen Bezug der Wissenschafts- verdichtete deutsche Tradition beigemessen, son- freiheit. Um diesen legitimieren zu können, muss- dern durch den Befund der soziologischen Be- te Schlink sich mit Roelleckes Ansicht auseinan- obachtungen über die gesellschaftliche Funktion dersetzen. Er bediente sich dabei des argumen- der Wissenschaft. Schlink: »Es ist nicht die Mei- tum ad absurdum. Roellecke sehe die spezifische nung, daß jede Verfassungsinterpretation so zu Bedeutung des Art. 5 III darin, dass die staatlich geschehen habe, daß die Überprüfung eines Ge- bediensteten Wissenschaftler gegenüber den an- setzes auf seine Vereinbarkeit mit den Grund- deren staatlichen Bediensteten bei der Meinungs- rechten eine Angelegenheit der soziologischen freiheit privilegiert würden. Dann aber hätte er Systemtheorie sei. Aber die Interpretation eines auch, so Schlink, erklären müssen, warum sie Grundrechts läßt sich daraufhin befragen, ob sie privilegiert würden. Roellecke habe also still- der Problemlage gerecht wird.«18 schweigend ein wie auch immer geartetes, von Am 29. Mai 1973 war das Hochschul-Urteil der Meinungsfreiheit verschiedenes Sonder- des BVerfG19 ergangen, das bis heute als para- grundrecht der Wissenschaft ins Spiel gebracht. digmatisches Präjudiz gilt. Kurze Zeit später ver- Schlink hingegen unterscheidet nun zwi- fasste Schlink einen Kommentar zu diesem Ur- schen dem Grundrecht aller und demjenigen teil. Ganz am Anfang des Kommentars sagte er: von Wissenschaftlern, die in Deutschland zum »Durch Gerichtsentscheidungen werden juristi- Staat in einer besonderen, institutionell vermit- sche Lehrmeinungen nicht eigentlich widerlegt, telten Nähe stehen: Art. 5 III GG gewährleiste sondern erledigen sich.«20 Es handelt sich um die nicht jenes Grundrecht aller, sondern dieses letz- Selbstironie eines Theoretikers, der nur Lehrmei- tere, besondere. Seiner Meinung nach »erweist nungen produziert. Aber dahinter steckt auch der sich Art. 5 III schon als Institutionelle Garantie, Stolz des Wissenschaftlers, der das Urteil kom- freilich in einem gegenüber dem herrschenden mentiert.21 Es wird im Kommentar analysiert Verständnis von Art. 5 III als Institutioneller Ga- »vor dem Hintergrund der zu Art. 5 III GG bis- rantie schwächeren Sinn«.15 In einem »schwä- her vertretenen Lehrmeinungen«,22 wird also in cheren Sinn« vor allem deshalb, weil die institu- einen betont wissenschaftlichen Diskussionszu- tionelle Garantie auf den Umstand achtet, dass sammenhang eingesetzt. DieäußersteGrenzeder die Freiheitsrechte des Art. 5 III auch gegenüber Lehrmeinungen hat Schlink, damals noch As- den Entscheidungsgremien der Universität gel- sessor in , zielsicher abgesteckt: einer- ten.16 Diese Nuance lässt sich allerdings nicht seits durch die Wissenschaftsfreiheit als die mit aus dem Gedanken des Grundrechts der deut- einem überlieferten Bild der deutschen Univer- schen Universität ableiten. sität aufs engste verbundene institutionelle Ga- Dies führt unmittelbar zu Roelleckes Aus- rantie, andererseits durch die radikal individu- gangspunkt zurück: Wie verbindet sich die In- alistische Auslegung Roelleckescher Prägung.23 stitutionelle Garantie exegetisch mit Art. 5 III? Schlink deutete an, diesen beiden Polen sei Auf diese Frage antwortet Schlink mit der Aus- »das dichotomische Argumentieren mit Grund- differenzierung der Wissenschaft als Teilsystem rechtsfreiheit und Grundrechtsschranken« ge- der Gesellschaft.17 Dem in Art. 5 III enthaltenen meinsam.24 In der Tat hat der eine Pol versucht, Begriff »Wissenschaft« werden institutionelle die Wissenschaftsfreiheit durch das »Grundrecht Komponenten nicht durch die zur Ontologie der deutschen Universität« gegen die staatliche

15 Schlink (Fn. 14) 251 f. kritischen Aufnahme der Theorie 24 Schlink (Fn. 20) 542. 16 Schlink (Fn. 14) 259. Schmitts in Heidelberg insgesamt 17 Schlink (Fn. 14) 256. vgl. Schlink (Fn. 5) 1124 f. 18 Schlink (Fn. 14). 256 n. 18. So 19 BVerfGE 35, 79 ff. hat Schlink weiterhin seine Theo- 20 Schlink, B., Die Wissenschafts- rie der institutionellen Garantie freiheit des Bundesverfassungs- von derjenigen Smends, auf die gerichts, 541. sich die herrschende Ansicht re- 21 Zum Potential des Kommentierens gelmäßig beruft, wegen deren ju- vgl. Kiesow, R. M., Das Alphabet ristischer Konturlosigkeit etwa im des Rechts, bes. 62–75. Vergleich zu derjenigen von Carl 22 Schlink (Fn. 20) 541. Schmitt, deutlich distanziert. Zur 23 Schlink (Fn. 20) 541. Debatte Kenichi Moriya 78

Intervention zu verteidigen, der andere, durch die Der Verfassungsrechtler hat das Urteil in inhaltliche Identifizierung der Wissenschaftsfrei- jene rechtswissenschaftliche Logik eingebettet, heit mit der Meinungsfreiheit den abwehrrecht- die er selbst wesentlich mitgestaltet hat, die so- lichen Kern derselben vor dem staatlichen Ein- wohl von der überlieferten Idee der deutschen griff zu retten.25 Das genannte Urteil habe, so Universität als auch von der radikal individua- Schlink, nicht nur diese beiden Auffassungen listischen Auffassung Abschied nimmt. Die neue abgelehnt, sondern durch die These der Wissen- Methode soll der aktuellen Problemlage des schaftsfreiheit wertbezogene Grundsatznorm vor Wissenschaftslebens gerecht werden, aber nicht allem die Abkehr von der schroffen Gegenüber- intuitiv, sondern soziologisch fundiert verfahren. stellung von Staat und Gesellschaft markiert.26 In der Literatur werden seither nicht nur das Schlink versucht, die Entscheidung des BVerfG genannte Urteil, sondernauchdessenwissen- in den Kontext zu bringen, in dem Grundrechte schaftlicher Kommentar sowie Luhmanns Sys- durch staatliche Leistung gefördert werden. temtheorie häufig zitiert, was auch Hans Hein- Folglich hat das Verfassungsgericht »seine Auf- rich Trutes entscheidende Untersuchung über gabe nicht mehr nur in der mit formalen Katego- die Wissenschaftsfreiheit aus dem Jahr 1993 rien des Rechts möglichen Wahrung von Frei- bezeugt, deren Titel »Die Forschung zwischen heiten, sondern in der Verteilung von Leistungen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institu- und Teilhaben«. Darum »erweist sich die Er- tionalisierung«lautet. füllung seiner Aufgabe an der sozialen und po- Ebenso interessant für uns ist es, dass Roel- litischen Richtigkeit der Verteilung und muß lecke im selben Jahr 1933 einen neuen Aufsatz entsprechend inhaltlich legitimiert sein«.27 An über die Wissenschaftsfreiheit schrieb, in dem er diese Ansicht schließt sich Schlinks Kritik an der seinen früheren korrigierte.29 »Ich glaubte 1969 »kargen Begründung«, mit der das BVerfG die wirklich«, so gesteht er nun, »es gehe in beiden Eigenart der Wissenschaftsfreiheit apodiktisch, Fällen [i.e. der Wissenschaftsfreiheit und der i.e. angeblich nur aus Wortlaut und Sinn des Meinungsfreiheit, K.M.] um das subjektive Art. 5, also hermeneutisch, ohne Berücksichti- Recht jedes einzelnen, zu denken und zu sagen, gung der soziologisch und politisch relevanten was er will. Inzwischen habe ich gelernt, dass die Beobachtungen, als über Werte entscheidende Berücksichtigung von Funktionen viel plausible- Grundsatznorm definiert hat. Die mit dieser re und stimmigere dogmatische Ergebnisse er- groben These eingeführte staatliche Pflicht zur möglicht.«30 Er berichtigt seine radikal indivi- Erhaltung des Wissenschaftslebens in der Gesell- dualistische Position und sieht nunmehr die schaft könnte gutem Gewissen zum Trotz die Wissenschaftsfreiheit »als das Forum, auf dem Wissenschaftsfreiheit faktisch gefährden, wovor die Gesellschaft … ihre Ansprüche an die Wis- sich Roellecke fürchtete. Dennoch gibt es kein senschaft geltend machen kann«. So gesehen, Zurück zur Dichotomielehre. Es ist die Zeit »braucht man die normativen Folgerungen, die des Leistungsstaats eingetreten. Hieraus geht herkömmlich aus Art. 5 III GG abgeleitet wer- die Aufgabe der Rechtswissenschaft (!) hervor: den, nicht aufzugeben«.31 »Eine Verfassungsrechtswissenschaft, die dem Es handelt sich um eine Korrektur, keine auf Rechnung tragen will, muß sich der politischen Harmonie hinzielende Entschärfung seiner Posi- und soziologischen Diskussion stellen.«28 tion. Roellecke hat nicht jene mit der Idee der

25 Es sei hier nochmals an Roelleckes 31 Roellecke (Fn. 29) 698. dogmatische Gegenüberstellung von Freiheit und dem Institutio- nellen erinnert. 26 Schlink (Fn. 20) 545. 27 Schlink (Fn. 20) 545. 28 Schlink (Fn. 20) 545. 29 Roellecke, G., Wissenschafts- freiheit als Rechtfertigung von Relevanzansprüchen. Eine Selbst- korrektur, 1993, 681–696. 30 Roellecke (Fn. 29) 696. Rg7/2005 Wissenschaftsfreiheit 79

deutschen Universität verbundene institutionelle rich Kitzingers Darstellung in dem von Hans Garantie hingenommen, sondern angesichts der Carl Nipperdey herausgegebenen Kommentar entwickelten soziologischen, hier systemtheore- zur Weimarer Reichsverfassung aus dem Jahr tischen Erkenntnis seine eigene Position dog- 1930. Dabei kam es durch die Übersetzung ins matisch revidiert und ist nun rechtstheoretisch Japanische zu starken Akzentverschiebungen. imstande, organisatorische Komponenten in der Davon soll hier nur ein Ausschnitt beobachtet Wissenschaftsfreiheit zu erkennen. werden: das Verhältnis zwischen der Wissen- schaftsfreiheit einerseits und zwei japanischen individualrechtlichen Freiheiten, der Meinungs- 3. Wissenschaftsfreiheit freiheit und der Freiheit zur Meinungsäußerung im japanischen Diskurs andererseits.34

Wenden wir uns nun wichtigen japanischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit Diskussionen über die Wissenschaftsfreiheit zu. Die Dogmengeschichte der Wissenschaftsfreiheit Zum Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit in einem engen Sinne hat erst mit der zweiten und Wissenschaftsfreiheit heißt es: Verfassung aus der Nachkriegszeit begonnen. »Die Wissenschaftsfreiheit ist inhaltlich in Die Japaner kannten bis dahin dazu keine ver- der durch Art. 19 gewährleisteten Meinungsfrei- fassungsrechtliche Dogmatik. So lag es nahe, die heit enthalten, aber über die Wissenschaftsfrei- Dogmatik zunächst nach ausländischen, vor al- heit ist, gemäß der Tradition, abgesondert von lem aber deutschen Vorbildern zu gestalten. der Meinungsfreiheit diskutiert worden, konkre- 1948 schlossen sich 17 Wissenschaftler, As- ter aus folgenden Gründen: (1)35 Wissenschaft sistenten wie Professoren aus verschiedenen ist ein köstliches Ergebnis des schöpferischen Rechtsgebieten, alle Angehörige der juristischen menschlichen Geistes, ist ein konzentrierter Aus- Fakultät an der Staatlichen Universität Tokio, zu druck der menschlichen Kultur, daher ist hierfür einer Forschungsgruppe zusammen, um einen eine besondere Fürsorge und eine besonders Kommentar zur neuen Verfassung zu schreiben, behutsame Behandlung wünschenswert«.36 Die der, so das Selbstverständnis der Forschungs- Wissenschaftsfreiheit verhalte sich zur Mei- gruppe,32 die ersten, nicht primär didaktischen, nungsfreiheit wie die »lex specialis zur lex ge- sondern wissenschaftlich bedeutsamen Ausfüh- neralis. Daher steht die Meinungsfreiheit mit rungen über sämtliche Verfassungsbestimmun- der Wissenschaftsfreiheit nicht im Widerspruch. gen anbieten sollte. Der Kommentar wurde so- … Während die Meinungsfreiheit, gemäß der fort zu einem Standardwerk. Tradition, vom Gedanken des individuellen DarinbefindetsichnatürlichaucheineEr- Grundrechts stark beladen ist, ist bei der Wissen- klärung zu Art. 23.33 Sie stützt sich einerseits auf schaftsfreiheit weniger der Gedanke des Indivi- den Artikel Academic Freedom von A. O. Love- dualrechts als vielmehr der der institutionellen joy in der Encyclopaedia of the Social Sciences Freiheit vordergründig, was eine Formel wie und andererseits, und zwar noch mehr, auf Fried- ›Freiheit der Universität‹ andeutet.«37

32 S. Einleitung, in: Chûkai Nihon sein dürften. Hier gibt es allerdings tionen ein, sind daher gleichsam Koku Kenpô (Kommentar der ja- interessante Abweichungen im ›Ausgewählte‹ in der Gesellschaft, panischen Verfassung). japanischen Text. Nur eine davon daher …« (223). Wer im Engli- 33 Chûkai, 228, n. 1. sei hervorgehoben. Bei Lovejoy schen nüchtern als »fachlich in- 34 Im japanischen Verfassungsrecht heißt es: »The function of the formierter Berater (expert advi- wird die Meinungsfreiheit zusam- scholaristhusinpartthatofex- ser)« bezeichnet wird, dem wird men mit der Gewissensfreiheit in pert adviser or informant of the im Japanischen deutlich die Nu- Art. 19 geregelt, die Freiheit zur community at large on the ques- ance der nicht nur fachlichen, Meinungsäußerung zusammen tions which fall within his science« sondern auch betont moralischen mit der Versammlungsfreiheit und (384). In Chûkai finden sich fol- Überlegenheit verliehen. Der Aus- der Pressefreiheit in Art. 21. gende Worte: »(2) Wissenschaftler druck »Ausgewählte« ist wahr- 35 Außerdem nennt Chûkai weitere sowie Forscher sind Experten im scheinlich nicht zufällig gewählt. vier Gründe, die vom Artikel der jeweiligen Bereich, nehmen im je- 36 Chûkai 223. englischen Enzyklopädie inspiriert weiligen Bereiche führende Posi- 37 Chûkai 227. Debatte Kenichi Moriya 80

Beim Verfassen der hier herangezogenen Stel- wenn nicht ein Gegensatz, so doch eine graduelle le muss der anonyme Autor folgende Passage aus Verschiedenheit zwischen Wissenschaftsfreiheit der Kitzingerschen Darstellung benutzt haben: und Meinungsfreiheit hervorgehoben. Der Cha- »Rechtlich läßt sich das Verhältnis des rakter »der unpersönlichen Rechtseinrichtung, Art. 142 [WRV zur Wissenschaftsfreiheit] zu der Institution« bei der Wissenschaftsfreiheit Art. 118 [zur Meinungsfreiheit] grundsätzlich wird mit dem des Individualrechts kontrastiert. als das der lex specialis zur lex generalis be- Dagegen geht die japanische Darstellung davon zeichnen, das Sondergesetz dabei veranlaßt aus, dass die Wissenschaftsfreiheit logisch der durch eine eigene geschichtliche Entwicklung, Meinungsfreiheit unterstellt ist. Die Trennung auch durch die noch für die deutsche Gegenwart der Wissenschaftsfreiheit von der Meinungsfrei- geltende Tatsache einer im wesentlichen beamte- heit wird nur unter Berufung auf die faktische ten Wissenschaft und Lehre und die sicher auch Dimension der Geschichte erklärt. Und daher noch gegenwärtige Vorstellung, daß Kunst und wird auch der mit der individualrechtlichen Mei- Wissenschaft besonders köstliche Offenbarun- nungsfreiheit kaum vereinbare »Gedanke der gen menschlichen Denkens, Fühlens und Schaf- institutionellen Freiheit« bei der Wissenschaft fens, daher von Staat und Recht besonders scho- einfach historisch akzeptiert. nend und pfleglich zu behandeln sind. Damit Die Formulierung »gemäß der Tradition« deutet sich, wenn auch kein Gegensatz, so doch ist durchaus als Widerhall der kitzingerschen eine Gradverschiedenheit zwischen Sondergesetz Formulierung »eine eigene geschichtliche Ent- und allgemeinem an. Das letztere [i.e. die Mei- wicklung« zu verstehen. Umso auffallender die nungsfreiheit] besteht sicher ganz wesentlich Akzentverschiebung. Während im deutschen auch um der Freiheit als solcher willen, nach Diskurs versucht wird, die Wissenschaftsfreiheit der die Einzelpersönlichkeit verlangt, also vor- logisch in Verbindung mit institutioneller Frei- nehmlich als Individualrecht. Wenn nun Kunst heit zu bringen, steht im japanischen Diskurs die und Wissenschaft nicht nur an diesem allgemei- individualrechtliche Auffassung gleichberechtigt nen Recht teilnehmen sollen, vielmehr ihrer Frei- neben dem Hinweis auf die institutionelle Seite heit noch besonders gedacht wird, so geschieht der Wissenschaftsfreiheit. dies in erster Linie um ihrer, der Wissenschaft und Kunst willen, und es tritt damit der Charak- Wissenschaftsfreiheit und ter des Individualrechts zurück hinter dem der Freiheit der Meinungsäußerung unpersönlichen Rechtseinrichtung, der Institu- tion im Sinne neuerer Lehre.«38 Zum Verhältnis zwischen der Freiheit der Trotz punktueller Übereinstimmungen zwi- Meinungsäußerung und der Wissenschaftsfrei- schen dem japanischen und dem deutschen Text, heit heißt es im japanischen Kommentar: finden sich deutliche Unterschiede. Wenn Kitzin- »Die wissenschaftliche Tätigkeit wird, so- ger von einer »eigenen geschichtlichen Entwick- weit sie im Rahmen der Forschungstätigkeit lung« der Wissenschaftsfreiheit spricht, dann bzw. im engen Personenkreis bleibt, gemäß weisterklaraufdasEntsteheneinersichvon Art. 23 gewährleistet. Wenn sie dagegen als Äu- der Meinungsfreiheit differenzierenden Eigenlo- ßerung des Forschungsergebnisses zum Bereich gik der Wissenschaftsfreiheit hin. Daher wird, des Ausdrucks schreitet, so wird sie nicht von

38 Kitzinger, F.,Art.142,458. Rg7/2005 Wissenschaftsfreiheit 81

Art. 23, sondern von Art. 21 über die Freiheit wissenschaftliche Freiheit. Dieser Befund ver- der Meinungsäußerung gewährleistet. Insofern stärkt allerdings den Verdacht einer falschen ist die Wissenschaftsfreiheit im Sinne des Art. 23 Übersetzung. Oder ist dies eine eigene Erfindung von der Freiheit der Meinungsäußerung begriff- des Autors? lich zu trennen.«39 Jedenfalls sah die Arbeitsgruppe für den Als diese Passage geschrieben wurde, hat der Kommentar offenbar keine Notwendigkeit, wis- Autor mit Sicherheit die folgende Stelle von senschaftliche Veröffentlichungen rechtlich in Kitzinger herangezogen, die sich an die bereits einen anderen Kontext als die freie Meinungs- zitierte Stelle unmittelbar anschließt: äußerung zu stellen. Das bedeutet aber auch, »Das [i.e. der Charakter der unpersönlichen dass die Veröffentlichungen eines staatlich be- Rechtseinrichtung] schließt nicht aus, verlangt diensteten Professors nicht besonders durch vielmehr, daß Kunst und Wissenschaft zum Art. 23 geschützt sind, sondern prinzipiell – wie mindesten die Freiheit genießen, die die Äuße- auch die Meinungsäußerung aller anderen staat- rung gemeinhin genießt. Diese nun gewährt lich Bediensteten – durch das besondere Dienst- Art. 118 …« Nun sei eine angemessene Ausle- und Treueverhältnis zum Staat eingeschränkt gung des Art. 118 wegen des Ausdrucks »inner- werden können. Kitzinger hat zwar auch zwi- halb der Schranken der allgemeinen Gesetze« schen Art. 142 und Art. 118 WRV keinen in- schwer festzustellen. »Bei dieser Sachlage ist haltlichen Unterschied gesehen. Gerade deshalb auch damit zu rechnen, daß von den verschiede- aber betonte er, in Art. 142 selbst eine Art »Aus- nen Auslegungsmöglichkeiten eine sich besser strahlung des Art. 118« über die Meinungsäu- einfügt in den Zusammenhang des Art. 142 ßerung sehen zu müssen. Der japanische Kom- [über die Wissenschaftsfreiheit], einer Art Aus- mentar aber hatte diese »Ausstrahlung« aus dem strahlung des Art. 118, denn in dem [sic!] Zu- Geltungsbereich des Art. 23 über die Wissen- sammenhang dieses Art. 118 selbst.«40 schaftsfreiheit getilgt und die Wissenschaftsfrei- Man ist geneigt, einen Übersetzungsfehler heit lediglich der allgemeinen Freiheit zur Mei- bei der Übertragung ins Japanische zu vermuten: nungsäußerung nach Art. 21 vorbehalten. der deutsche Ausdruck »zum mindesten« wäre Aus dieser Perspektive würde selbst Roel- vom japanischen Autor als »kaum« fehlinterpre- leckes Auffassung, die im deutschen Argumen- tiert worden. Gesichert ist jedenfalls: Der japa- tationszusammenhang ein radikal individual- nische Autor hat zwei Texte zur Grundlage für rechtliches Verständnis der Wissenschaftsfrei- seine eigene Darstellung gewählt. Der eine ist heit vertritt, schon als zu weitgehend verworfen. eben der Nipperdeysche Kommentar, verfasst Roellecke gesteht ohne weiteres den staatlich von Kitzinger. Der andere ist der englische Arti- bediensteten Professoren eine besondere Freiheit kel Lovejoys über Academic Freedom.41 Nun zu, nicht nur die der wissenschaftlichen Veröf- gibt aber weder der eine noch der andere Text fentlichung, sondern auch die der Meinungsäu- Anlass zu jener japanischen Auffassung, der Wis- ßerung – und zwar gerade gemäß Art. 5 III GG. senschaftsfreiheit sei die Freiheit der Meinungs- Dagegen ist im japanischen Kommentar die Wis- äußerung nicht inhärent, und erst die separate senschaftsfreiheit von der Meinungsfreiheit nicht Regelung der Freiheit der Meinungsäußerung nur inhaltlich, sondern funktionell fast vollstän- gewährleiste dem Wissenschaftler vollständige dig verzehrt.

39 Chûkai 227. lems of his science and to ex- competent or contrary to profes- 40 Kitzinger (Fn. 38) 458. press [!] his conclusions, whether sional ethics«. 41 Siehe Chûkai, 229 n. 1 mit falscher through publication or in the in- Angabe der Seitenzahl beim Ver- struction of students, without weis auf den Artikel von Lovejoy. interference from political or Statt384stehtdortfälschlich284. ecclesiastical authority, or from Am Anfang dieses Artikels liest the administrative officials of the man folgende Worte (384): »Aca- institution in which he is em- demic freedom is the freedom of ployed, unless his methods are the teacher or research worker in found by qualified bodies of his higher institutions of learning to own profession to be clearly in- investigate and discuss the prob- Debatte Kenichi Moriya 82

Es stellt sich also die Frage: Was regelt der ausden60erund70erJahren–immernoch Art. 23 eigentlich, wenn nicht die Freiheit wis- die gründlichste Studie zum Thema.43 senschaftlicher Meinungsäußerung? Diese Frage Takayanagi sprach in seinem 1968 veröf- beantwortet der japanische Kommentar nicht. fentlichten Aufsatz44 ganz offen das problema- Stattdessen findet sich hier lediglich eine Auf- tische Verhältnis zwischen der »bürgerlichen« zählung jenes individualrechtlichen Verständnis- Freiheit, i.e. der Freiheit der Person, und der ses mit der nur aus der Geschichte abgeleiteten Wissenschaftsfreiheit an45 – auch er sah die Wis- »Freiheit der Universität«. Dabei ist das Behar- senschaftsfreiheit als prinzipiell bereits in der ren auf der Autonomie der Universität »histo- »bürgerlichen« Freiheit eingeschlossen an.46 risch« nicht unbegreiflich: im Japan der Nach- Deswegen versuchte er, die Notwendigkeit der kriegszeit war es ein wichtiges Anliegen, die Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit neben Universität durch Art. 23 vor staatlichen Ein- der Freiheit der Person erneut zu begründen. Er flussnahmen, wie sie früher häufig ausgeübt hat offenbar die »Ausstrahlung« von der auto- worden waren, zu schützen. Nun hätte genau nomen Funktion der Wissenschaft in der Gesell- dieser historisch-politische Hintergrund japa- schaft gespürt. Es bleibt sein Verdienst, die nische Verfassungsrechtswissenschaftler dazu Professionalisierung der wissenschaftlichen Tä- veranlassen müssen, das prekäre Verhältnis zwi- tigkeiten und damit die Entstehung einer sozial schen der Funktion der Universität und der an bestimmbaren Gruppe der beruflichen Wissen- sich individualrechtlich verstandenen Wissen- schaftler in die verfassungsrechtliche Diskussion schaftsfreiheit dogmatisch genauer zu klären eingeleitet zu haben.47 und dadurch zu fundieren. Und doch haben sie Er hätte nun die Funktion der professiona- sich mit dem Hinweis auf die historische »Frei- lisierten Wissenschaft in der Gesellschaft wie heit der Universität« zufrieden gegeben.42 Schlink im Vergleich zur Meinungsfreiheit aller noch differenzierter konturieren können. Aber diese Möglichkeit, die er ja selbst eröffnet hatte, 4. Eher sozial-ethisch als juristisch? verwarf er sogleich wieder – aus doppeltem, durchaus moralisch motiviertem Bedenken. Er Japanische Verfassungsrechtler haben die konnte sich nicht dazu durchringen, die Wissen- Wissenschaftsfreiheit in einem sehr verinnerlich- schaftsfreiheit von der Freiheit der Person klar zu ten, fast spirituell zu nennenden Sinne gesehen. unterscheiden. Eine solche Unterscheidung hätte Recht eigentümlich ist dabei, dass neben dieser ja bedeutet, dem Wissenschaftler eine Art Privi- spirituellen Auffassung, wenn auch ohne er- leg gegenüber dem normalen »Bürger« einzuräu- klärten Zusammenhang, ebenfalls die Idee der men, was zum Gleichheitsgebot im Widerspruch Universitätsautonomie weiterwirkt. Dies bedarf stünde. Andererseits wollte er, vermutlich aus einer Erklärung. historisch-politischen Gründen, auf keinen Fall Diese Art zu denken ist in der japanischen die Autonomie der Universität einschränken. Verfassungsdiskussion, von Meinungsverschie- Takayanagis Augenmerk richtete sich daher denheiten im Grunde ungestört, bis heute aus- zwar auf das Wie der Begründung der Universi- nahmslos beibehalten worden. Das illustrieren tätsautonomie, aber – im Unterschied zu Roel- die Untersuchungen von Shinichi Takayanagi lecke und Schlink – nicht auf das Warum.

42 In der 2. Auflage wurde das Wort 44 Takayanagi, S., Gakumon no »Freiheit der Universität« durch Jiyû.Genri.(=Wissenschafts- »institutionelle Garantie« ersetzt, freiheit. Ihr Prinzip). ohne aber deren logischen Zu- 45 Takayanagi (Fn. 44) 47. sammenhang zur individualrecht- 46 Takayanagi (Fn. 44) 47–57, lichen Auffassung erklärt zu zusammenfassend 56. haben, vgl. Chûkai, 2. Aufl. 1953, 47 Takayanagi (Fn. 44) 61–69. 460. 43 Alle Aufsätze sind in einen Sam- melband zusammengestellt, Takayanagi, S., Gakumon no Jiyû (= Wissenschaftsfreiheit). Rg7/2005 Wissenschaftsfreiheit 83

Daher sieht Takayanagi nur eine einzige eine, wenn nicht juristische, so doch sozial-ethi- Möglichkeit, zwischen der spirituell aufgefassten sche Privilegierung. Takayanagis Gedanke kann Wissenschaftsfreiheit und der Beibehaltung der so zusammengefasst werden: Die Wissenschafts- Universitätsautonomie eine Harmonie herzustel- freiheit ist in der Freiheit der Person enthalten; len: die Verstärkung einer spirituell verinnerlich- dennoch ist die wissenschaftliche Tätigkeit ver- ten Auffassung von wissenschaftlicher Tätigkeit. selbständigt, historisch meist in die Gestalt der Statt eine funktionale Differenz zwischen Wis- Universität verdichtet worden; der Grund für senschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit festzu- diese Entwicklung liegt in der inneren Notwen- stellen und dogmatisch herauszuarbeiten, feiert digkeit, i.e. in der sozial-ethischen Präferenz der Takayanagi die moralische Überlegenheit des Wissenschaftler zu suchen. Wissenschaftlers gegenüber dem Bürger: In dieser Weise wird die tiefe Kluft zwischen »Mir scheint, dass die lehrenden Forscher, der Freiheit der spirituell (formlos) verstandenen die die Wahrheit untersuchen, die Forschungser- wissenschaftlichen Aktivität und dem Beharren gebnisse den Studenten lehren, gemäß dem ge- auf der Universitätsautonomie allein durch das sunden Menschenverstand als Lehrer (master)48 hochmütige Standesbewusstsein des Universi- der Menschheit gelten. Sie sind Diener aus- tätsprofessors überbrückt. schließlich für die Wahrheit, sind unmöglich Auf eine solche Sozial-Ethik ist sonst in Diener für private und individuelle Interessen repräsentativen japanischen Ausführungen über anderer.«49 »Ihre berufliche Aufgabe ist das Er- die Wissenschaftsfreiheit nie so explizit hinge- kennen der Gesetze der Natur sowie der Gesell- wiesen worden. Bis heute aber gibt es diese schaft durch ihre geistige Phantasiekraft und Konstruktion von spirituell aufgefasster Wissen- Konzipierungskraft, weiterhin die Erziehung,50 schaftsfreiheit und der Autonomie der Univer- die jenen formlosen51 Wert produziert. Eine sität.55 Eine solche Konstruktion funktioniert solche Aufgabe kann nicht durch Befehl anderer jedoch nur, wenn die spirituell verstandene wis- erfüllt werden. Daraus folgt naturgemäß das senschaftliche Tätigkeit an und für sich dennoch Gebot, daß die Befugnisse, die der Arbeitgeber etwas gesellschaftlich Sinnvolles darstellt. Bein- normalerweise bei der Produktion des dinglichen haltet dieses »Etwas« nichts Konkretes, nichts Wertes gegenüber dem Arbeitnehmer hat, auf die Sichtbares, so kann es nur noch etwas Gesell- Produktion der als geistiger Wert verstandenen schaftsspezifisches sein.56 Deshalb wollen wir Lehre und Forschung52 nicht anwendbar sind. folgern: Die schlichte Tatsache, dass jene Zusam- Die Wissenschaftsfreiheit ist eine dem lehrenden menstellung der individualistischen Auffassung Forscher zuzuschreibende Freiheit, die über die der Wissenschaftsfreiheit mit der Autonomie der gewöhnliche Kategorie der bürgerlichen Freiheit Universität im verfassungsrechtlichen Diskurs hinausgeht, um somit die Freiheit der Suche nach nie ernsthaft in Frage gestellt worden ist, spricht der Wahrheit zu gewährleisten.«53 deutlich dafür, dass jene sozial-ethisch gestützte Konsequenterweise hieße das: Der staatlich Hierarchie weiterhin besteht. bedienstete Professor – und Takayanagi war Dieses Problem ist nur einmal, allerdings mit selbst einer54 – sollte gegenüber anderen staat- aller Schärfe, aufgedeckt worden, freilich nicht lich Bediensteten deshalb bevorzugt werden, weil von einem Verfassungsrechtler, sondern von ei- seine Tätigkeit angeblich geistig überlegen war – nem Rechtshistoriker, Shiro Ishii, und zwar wäh-

48 Hier hat Takayanagi neben das japanischen Adjektiv für »geistig« 55 Vgl. Taneya, H., Art. Gakumon japanische Wort »shi« (= Lehrer) assoziiert. no Jiyû (= Wissenschaftsfreiheit); in Klammern das englische Wort 52 Es ist nicht klar, ob sich der Aus- Ashibe, N., Gakumon no Jiyû; »master« kommentierend hinzu- druck »geistiger Wert« auf die Nakamura, M.,Art.23,in:Chû- gefügt. »Produktion« oder auf die Lehre kai Nihon Koku Kenpô (= Kom- 49 Takayanagi (Fn. 44) 67. und Forschung bezieht. mentar zur Verfassung), 117–130. 50 Hier wird zwischen Lehre und Er- 53 Takayanagi (Fn. 44) 67. 56 Daher wollen wir in unserer Ana- ziehung kein terminologischer 54 Takayanagi war Professor für lyse nicht darauf hinaus, Takaya- Unterschied gemacht. Verfassungsrecht am Institute of nagi zu kritisieren. Es gehört sogar 51 Das japanische Wort für »form- Social Science der staatlichen Uni- zu seinem entscheidenden Ver- los« hat hier keine pejorative versität Tokio. dienst, dass er diesen Sachverhalt, Konnotation, ist vielmehr mit dem wenn auch nicht absichtlich, so Debatte Kenichi Moriya 84

rend eben jener Studentenbewegung, 1969.57 Perspektive, die die Möglichkeit eröffnen könn- Dieser damals junge Professor für Japanische te, Überlegungen über den letztlich immer auf Rechtsgeschichte an der Juristenfakultät der dem gesellschaftlichen Status quo basierenden Staatlichen Universität Tokio konstatierte mutig: Wert der Wissenschaft durch solche über die »Das Universitätswesen hat seine bereits vor gesellschaftliche Funktion derselben zu ersetzen. dem II. Weltkrieg erworbene Form auch nach Nur hat Ishii bei den Verfassungsrechtlern kein dem Ende des Kriegs am wenigsten geändert. Es Gehör finden können. hatte zwar während des Krieges gegen den Fa- schismus im Vergleich zumindest zu den anderen japanischen Körperschaften am entschlossensten 5. Dogmatik? Widerstand geleistet. Gerade deshalb hat es sich nach dem Krieg den in Folge der umfassenden Erinnern wir uns, dass Schlink durch die Reform des ganzen Erziehungssystems benötig- Reflexion über die gesellschaftliche Funktion ten Änderungen bloß pragmatisch angepasst, der Wissenschaft zu einer neuen, der modernen ohne über sich selbst kritisch reflektiert zu ha- komplexen Gesellschaft angemesseneren Inter- ben, was ja auch in der Öffentlichkeit nicht pretation des in Artikel 5 III GG enthaltenen gefordert gewesen war. Durch den ›Ausschluss‹ Wortes »Wissenschaft« gelangt war. Hierdurch der ›Ausnahmeerscheinungen‹, i.e. der als mili- konnte er der alten Lehre der institutionellen taristisch bzw. totalitaristisch stigmatisierten Garantie in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit Professoren, hat das vor dem Krieg geformte neue, dogmatisch kontrolliertere Konturen ge- Leitbild der Universität erhalten bleiben können. ben. In diesem Sinne könnte die ›Universität nach dem Bei einem spirituell angelegten Verständnis Krieg‹ möglicherweise Nutznießer der ›glor- der wissenschaftlichen Tätigkeit hingegen ist reichen Tradition‹ werden, die die Universität eine streng dogmatische Argumentation nicht ›vor dem Krieg‹ durch ihren Kampf um die möglich. Aus diesem Grunde ist die Wissen- ›Wissenschaftsfreiheit‹ etabliert hatte.«58 Ishiis schaftsfreiheit in Japan mit dem Ende der Auto- Hinweis auf die Kontinuität des Universitäts- rität der Universitätsprofessoren zwangsläufig in wesens über das Ende des Zweiten Weltkrieges die Krise geraten. Allerdings muss man differen- hinaus deutet an, dass das Verständnis der Wis- zieren. Die wissenschaftliche Tätigkeit steht in senschaftsfreiheit auch nachkriegszeitlich sozial- jeder hochentwickelten Gesellschaft unter gro- ethisch-hierarchisch geprägt gewesen ist. An an- ßem Druck von Seiten der Ökonomie, der Poli- derer Stelle liefert Ishii wieder eine wichtige tik, der Moral und nicht zuletzt der öffentlichen Beobachtung, dass die Idee der »Autonomie Meinung. Auf diesen komplexen Zugriff auf die der Universität« in Japan meist einseitig im Sinne Wissenschaft haben deutsche Öffentlichrechtler der Autonomie der einzelnen Universität begrif- in der Frage der »Wissenschaftsfreiheit« recht- fen wird, was die weitere Konnotation der Idee, zeitig reagiert. Sie bemühen dabei keine his- i.e. die interuniversitäre Zusammenarbeit um die torischen Begründungen, sondern haben eine Erhaltung der Wissenschaftsfreiheit, in den Hin- geschlossene Rechtsdogmatik der Wissenschafts- tergrund rückt. Hinter der polemischen Idee der freiheit entwickelt, die auf eine moderne sozio- interuniversitären Zusammenarbeit steckt eine logische, die herkömmliche Dogmatik irritieren-

doch erstmals aufgedeckt hat. Nicht begreiflich, ja fast unheim- lich erscheint deshalb das Schwei- gen über diesen Sachverhalt bei den meisten japanischen Verfas- sungsrechtlern. 57 Ishii, S., Hen’yô suru »Daigaku no Jichi« (= Autonomie der Uni- versität im Wandel), bes. 22. 58 Ishii (Fn. 57) 22. Rg7/2005 Wissenschaftsfreiheit 85 de Analyse der gesellschaftlichen Funktion von exegetisch zu Art. 23? Ohne tiefere wissenschaft- Wissenschaft, angeregt vor allem von Luhmanns liche Diskussion wurden bis heute alle japani- Systemtheorie, aufbaut, zugleich aber traditio- schen staatlichen Universitäten privatisiert. Viele nelle Rechtsdogmatik ebenso wie die institutio- Professoren klagen wehmütig, protestieren re- nelle Garantie kritisch prüft. Im Vergleich hierzu klamierend. Einige der Schlaueren haben sich ist der japanische verfassungsrechtliche Diskurs der veränderten Situation angepasst. Nur sucht nicht dogmatisch geschlossen, sondern hat bis manvergebens,ummitLuhmannzusprechen, heute wesentlich von der sozial-ethischen Hierar- die rekursiv-geschlossene und in dieser Geschlos- chie geprägt bleiben können. senheit offene Operation bei der Reproduktion Der verfassungsrechtliche Diskurs Japans ist der Argumente. also kein Teilsystem. Das ist nicht selbstverständ- Ist ein solcher Diskurs auch als ein dogmati- lich. Denn auch in Japan hat es vielfach massive scher zu bezeichnen? Ja, vielleicht. Er ist immer- Kritik an der überheblichen professoralen Selbst- hin durch japanische, als akademisch geschult auffassung gegeben, vor allem während der Stu- geltende Verfassungsrechtler geformt, nein, ge- dentenbewegung um 1968. Dies hätte zu einer tragen worden. Nur vertrüge sich ein solcher Reflexion darüber, was man bislang unter dem Wortgebrauch mit demjenigen im deutschen traditionellen Begriff »Autonomie der Universi- Sprachspiel allzu schlecht. tät« juristisch verstanden hat, führen können. Hier ist ganz bewusst die Diskussion in der Die Kritik hat in der Tat Aufsehen in der Öffent- fachlichen Literatur in Betracht gezogen worden. lichkeit erregt. Manche Verfassungsrechtler wa- Man glaubt oft, unter den Fachleuten sei Kom- ren von ihr betroffen, einige reagierten gereizt. munikation leichter. Dieser Fall zeigt, dass das Aber der verfassungsrechtliche Diskurs war und keineswegs so ist. Es ist fraglich, ob Juristen in ist jedoch nie ernsthaft irritiert worden, was auch Japan und Deutschland, oder gar anderen Japa- daran liegt, dass der Diskurs nicht schlüssig nern und Deutschen, unterstellt werden kann, organisiert war. Seither wurden unzählige Lehr- eine gemeinsame Vorstellung vom Recht zu ha- meinungen produziert, die sich unendlich fein ben. Dass aber eine Rechtsvergleichung nur nach voneinander unterscheiden und doch innerhalb eingehender Diskursanalyse erfolgen kann, das des sehr engen Rahmens bleiben. Denn von den könnte eine der Lehren aus den hier aufgeworfe- Verfassungsrechtlern wurde nie gefragt: Wie ver- nenFragensein. hält sich die so genannte Autonomie der Univer- sität nicht historisch, nicht moralisch, sondern Kenichi Moriya Debatte Kenichi Moriya 86

Literatur

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Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz

Semantik und Sozialstruktur einer »Gelehrtenrezeption«

1. Die Paradoxie: Wissenschaft und Nation deutschen Sprachraum galten die »Institutio- nen« seit ihrem Ersterscheinen im Jahre 19114 Paradoxien bilden stets den Anfang einer – folgt man den zeitgenössischen Rezensionen – Geschichte1 – und bei einer Transfergeschichte als das verbreitetste und populärste Lehrbuch steht am Anfang zumeist die Frage nach dem was des deutschen Verwaltungsrechts.5 Dies gilt es des Transfers, mithin die Frage nach dem Trans- um so mehr noch mit Blick auf die vorliegende ferobjekt, welches die Grenze überschreitet. In Fallstudie zu beachten, da dessen Autor – Fritz unserem Fall also das deutsche Verwaltungs- Fleiner – in seiner Rolle als Hochschullehrer recht: zugleich als aktiver Mittler in diesem Transfer- »Das deutsche Verwaltungsrecht entwickelte sich in prozess fungierte. autonomer Weise und ohne dabei fremden Einflüssen Soweit sich eine Transfersemantik von der ausgesetzt zu sein. … Zu allen Zeiten hat es, so wie auch Was-Frage leiten lässt, läuft sie unweigerlich auf die Lehre, welche ihm das wissenschaftliche System ver- die Paradoxie einer dreiwertigen Verlaufslogik lieh, über die deutschen Grenzen hinausgewirkt. Entspre- chend verlief die Entwicklung dieses Rechtszweiges in auf. Denn sie orientiert sich an der Begrenzung gewissen Ländern – allen voran in meiner Heimat, der des Eigenen, der Ausgrenzung des Anderen und Schweiz, so wie in Österreich, Italien, Spanien u. a. – in der über die Grenzen hinweggehenden Defini- ähnlicher Richtung wie in Deutschland, und dies erklärt tion des Gemeinsamen.6 Oder anders formuliert: das hohe Ansehen, welches das deutsche Verwaltungs- Transfer orientiert sich unter dieser Beobachter- recht und die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft in diesen Ländern genießt. Nirgends hat jedoch dieser Ein- perspektive ebenso an Identität wie an Differenz fluss die Autonomie des nationalen Rechts beeinträchtigt. – eine Beobachtung, die Mauern errichtet, über … So überschritt denn das Wesentliche des deutschen die sie blicken will.7 Verwaltungsrechts, seine freie geistige Schöpfung, die po- Als eine solche beobachtungsleitende Unter- litischen Grenzen.« scheidung liegt dabei der Semantik des vorliegen- Der besondere Reiz dieses Textausschnittes den Textes die Zwei-Seiten-Form der Nation und aus dem Vorwort zur französischen Übersetzung damit eine räumlich-segmentäre Differenz zu- der »Institutionen des Deutschen Verwaltungs- grunde.8 Diese nationenspezifische Semantik rechts«2 von Fritz Fleiner liegt zunächst in seiner lässt sich historisch wiederum einem Phänomen Selbstreferentialität, stammt er doch aus einem zuordnen, das man zuweilen auch als »die Para- Buch, das gerade durch seine zahlreichen Über- doxie des 19. Jahrhunderts« oder »die Paradoxie setzungen in verschiedene Sprachen zum wohl des Nationalismus« bezeichnet hat:9 dem Phä- bedeutendsten literarischen Medium des be- nomen, wonach die Nationalisierung des Wis- schriebenen Wissenschaftstransfers des deut- senschaftsdiskurses im Laufe des 19. Jahrhun- schen Verwaltungsrechts werden sollte.3 Im derts mit einem zunehmenden internationalen

1 Siehe dazu Luhmann (1990) 19; 4 Erschienenbei»J.C.B.Mohr risten-Zeitung 25 (1928/29) 366. Clam (2004) 136 ff. (Paul Siebeck)« in Tübingen. Es 6 Bös (1998) 240, 260; vgl. auch 2 Les principes généraux du droit folgten zwei »vermehrte« Aufla- Kortländer (1995) 16. administratif allemand, Paris gen (1912 und 1913), vier unver- 7 Zweigert u. Puttfarken (1982) 1933, Avant-propos von F. Flei- änderte Auflagen (1919, 1920 und 599. ner, 5 f. (deutsche Übersetzung 1922) sowie eine »neubearbeitete« 8 Zur (Selbst-)Beschreibung anhand des zitierten Textes von RM). Auflage (1928). Die Gesamtauf- der segmentären Differenzierung 3 Fleiners »Institutionen« wurden lage betrug 15 050. der Nation siehe Hahn (1993) außerdem ins Spanische, Griechi- 5SieheF. Stier-Somlo,in:Archiv 193 ff.; Luhmann (1998) 1045 ff.; sche und Japanische übersetzt. des öffentlichen Rechts 29 (1912) Richter (1996) 141 ff. Dazu Stolleis (1992) 409 500. Für die Schweiz später H. 9 Metzler (2000) 12; Stichweh Anm. 157. Leemann, in: Schweizerische Ju- (2003) 13 ff. Debatte Roger Müller 88

Wissenschaftsaustausch korrelierte. »Die (deut- Funktionsorientierung und dem Partikularismus sche) Wissenschaft ist ihrem Wesen nach welt- ihrer segmentären Raumorientierung aufzulö- bürgerlich«, wie es der renommierte Physiologe sen. Auf diese Weise gelang es denn auch Fleiner Emil du Bois-Reymond im Jahre 1878 in seiner – wie es im Text sichtbar wird –, sowohl die Rede »Über das Nationalgefühl« formulierte.10 normative Geschlossenheit einer territorialstaat- Bei der deutschen Verwaltungsrechtswissen- lich vermittelten Positivität des Rechts als auch schaft gibt sich dieses Phänomen nun besonders die kognitive Offenheit einer wissenschaftlich deutlich zu erkennen. War sie zum einen das ausdifferenzierten Fachdogmatik in den Blick zu Kind der deutschen Reichsgründung von 1871, bekommen. Das »autonome« nationale Verwal- die sich dergestalt am territorialen Geltungsraum tungsrecht überschritt die politischen Grenzen. einer staatlichen Rechtseinheit orientierte, so bildete sie zum anderen ihr nationales Selbstver- ständnis erst eigentlich am Vergleichshorizont 2. Die Einheit: Wissenschaft und Erziehung der so genannten »verwandten Culturstaaten« Frankreich und England aus, wie dies aus den Stellt man im Anschluss hieran die Frage, Schriften von Rudolf von Gneist, Lorenz von wie denn diese »freie geistige Schöpfung« des Stein, Otto Mayer und Julius Hatschek hinläng- deutschen Verwaltungsrechts die politischen lich bekannt ist.11 Damit trat also gerade hier die Grenzen überschritt, so rückt damit eine andere paradoxe Situation zum Vorschein, dass ein Semantik in den Vordergrund: Rechtsgebiet, das in besonderer Weise dazu ge- »HerrFleinerhatdarüberhinausinunsrerFakultät eignet schien, die nationalen Grenzen zu bestär- eine verwaltungsrechtliche Tradition geschaffen. Das Ver- ken und zu befestigen, diese Grenzen ebenso waltungsrecht ist die jüngste juristische Disziplin. Es ist im leicht und wirksam zu überwinden verstand. deutschen Sprachgebiet erst in den letzten Jahrzehnten, teilweise unter dem Einfluss der französischen Theorie, Nicht von ungefähr konnte daher Fleiner später- aus einer Verwaltungslehre zu einem Zweig der Rechts- hin noch feststellen: »Wenn irgendwo, so ist im wissenschaft geworden. Herr Fleiner hat nun mit seinen Rahmen des Verwaltungsrechts Rechtsverglei- Institutionen, wohl seine bedeutendste Leistung, die in chung am Platze.«12 mehrere fremde Sprachen übersetzt worden sind, die Aus systemtheoretischer Perspektive lässt Wissenschaft des modernen Verwaltungsrechts in der Schweiz eingebürgert. Er hat diese Disziplin in unsrer sich hierbei beobachten, wie diese semantische Fakultät in hohem Maße ausgebaut und ihr darin die Kopplung von Wissenschaft und Nation insbe- ihr heute gebührende Stellung verschafft. … So wurde sondere in Fleiners »Institutionen« eine beson- unsre Fakultät zu einer berühmten Stätte des Verwal- dere Form der Selbstbeschreibung ausbildete, die tungsrechts. Fleiner hat hier eine verwaltungsrechtliche sich in anderen Rechtsdisziplinen bereits früher Schule geschaffen.« bewährt hatte: die Einheit des gemeinen deut- Auch dieser Textausschnitt aus einer Rede schen Verwaltungsrechts.13 Diese asymmetrische des Schweizer Staatsrechtsprofessors Zaccaria Konzeption einer wissenschaftlichen Emanation Giacometti, gehalten aus Anlass von Fleiners als höhere Einheit in der Mannigfaltigkeit sollte Emeritierung an der rechts- und staatswissen- es der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft schaftlichen Fakultät Zürich auf Ende des Win- gleichermaßen ermöglichen,14 das Spannungs- tersemesters 1935/36,15 weist insofern Züge ei- verhältnis zwischen dem Universalismus ihrer ner gewissen Selbstreferentialität auf, als es sich

10 In: Reden von Emil du Bois-Rey- 13 Vgl. aus dem Zivilrecht etwa Handschriftenabteilung, Nachlass mond, hg. von Estelle du Bois- A. L. Reyscher, Die Einheit des F. Fleiner, Mappe 29. Reymond, Bd. 1, Leipzig 1912, gemeinen deutschen Rechts, in: 654 ff. Zeitschrift für deutsches Recht 11 Dazu Heyen (1996) 163 ff.; und deutsche Rechtswissenschaft Stolleis (1998) 23. 9 (1845) 337 ff. 12 F. Fleiner, Die politischen 14 Zur Entparadoxierungsform der Grundlagen des modernen Ver- »Emanationshierarchie« siehe waltungsrechts, Vortrag gehalten Luhmann (1992) 488 ff. in Istanbul im Mai 1936, in: 15 Das Manuskript dieser (unpubli- Fleiner (1941) 451. zierten) Rede befindet sich in: Zentralbibliothek Zürich, Rg7/2005 Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz 89

bei Giacometti um den wohl prominentesten »beinahe die ehemalige Geltung der Institutionen »Schüler« Fleiners auf dem Gebiete des schwei- Justinians erlangen konnten«,23 wurde diesem zerischen Verwaltungsrechts handelt.16 So ent- Lehrbuch – nach Alfred Kölz – in der schweize- sprach es auch ganz dem Geiste seines »Meis- rischen Judikatur »beinahe Gesetzescharakter« ters«, wenn Giacometti mit seiner Zürcher zuerkannt.24 Habilitationsschrift »Über die Grenzziehung Soziale Identität:DerTextweistfernerauf zwischen Zivilrechts- und Verwaltungsrechtsins- die institutionelle Etablierung des Verwaltungs- tituten in der Judikatur des schweizerischen Bun- rechts als selbständiges Lehrfach an der Zürcher desgerichts«17 den Befund Fleiners zusätzlich Rechtsfakultät hin. Diesen organisatorischen As- untermauerte,18 wonach sich die öffentlichrecht- pekt gilt es dabei vor dem Hintergrund von liche Ausbildung eines selbständigen Verwal- Fleiners regelmäßigen Vorlesungen und Übun- tungsrechts in der Schweiz »als ein getreues genzusehen,25 welche der neuen Disziplin eine Spiegelbild der Entwicklung des deutschen Ver- nachhaltige Stabilität im juristischen Fächerka- waltungsrechts« darstellen ließ.19 non verliehen. Die Transfersemantik – die mit dem Begriff Kognitive Identität: Wie schließlich der Be- der Einbürgerung prägnant zum Ausdruck ge- griff der »Schule« impliziert, war mit Fleiners langt – wird im vorliegenden Text in die Genese Verwaltungsrecht nicht zuletzt auch ein neues einer Rechtsdisziplin eingebettet. Der Text trägt Methodenparadigma verbunden: die »juristische so die Signatur der Selbstbeschreibung einer Methode« im öffentlichen Recht. Diese sollte Disziplin, welche die Einheit ihrer eigenen Lehr- im Zuge von Fleiners Lehrveranstaltungen als und Forschungstradition reflektiert, wie dies in wissenschaftliches Bildungsmodell einer rein for- den folgenden disziplinenspezifischen Identitäts- maljuristischen Durchdringung des verwaltungs- konstruktionen deutlich wird:20 rechtlichen Stoffes auch in der Schweiz erfolg- Historische Identität: Die Selbstvergewisse- reich assimiliert werden.26 rung historischer Kontinuität bezog die neue Ist es aus dieser Perspektive betrachtet die Disziplin aus der wissenschaftlichen Reputation Einheit der Disziplin, an der sich die vorliegende ihres »geistigen Gründervaters« Fleiner, dem auf Semantik des Transferprozesses orientiert, so ist diese Weise aufgrund seiner langjährigen Lehr- nunmehr nach dem sozialstrukturellen Korrelat erfahrung in Deutschland21 ebenso die Rolle des und damit nach den Bedingungen der Möglich- Vermittlers des deutschen Verwaltungsrechts zu- keit dieses Transferprozesses zu fragen. Zu die- geschrieben wurde.22 sem Zweck gilt es vorab die systemtheoretische Literarische Identität: Mit Fleiners »Institu- Prämisse zu formulieren, wonach sich die Dis- tionen des Deutschen Verwaltungsrechts« wurde ziplinenbildung als ein spezifischer Differenzie- dabei zugleich ein kanonisierter Wissenskorpus – rungsprozess in der strukturellen Kopplung von ein Urtext – der neuen Disziplin erkoren. Dieser Wissenschaftssystem und Erziehungssystem voll- Aspekt einer gleichsam normativen Geltungs- zieht und diese wiederum über die Organisa- kraft von Fleiners Kompendium sollte sich im tionsform der Universität in ihrer Selbstbeschrei- schweizerischen Kontext in verschiedenen Varia- bung als Einheit von Forschung und Lehre tionen tradieren. Während Peter Liver später ermöglicht wird.27 Gestützt hierauf soll im Fol- etwa davon sprach, dass Fleiners »Institutionen« genden beschrieben werden, wie der Wissen-

16 Vgl. dazu Stolleis (1999) 237, 21 Fritz Fleiner (1867–1937) lehrte 23 Liver (1955) 36. Anm. 214. von 1906 bis 1908 an der Univer- 24 Kölz (1989) 607. 17 Tübingen 1924. sität Tübingen und von 1908 bis 25 Gemäß den Vorlesungsverzeich- 18 Siehe dazu F. Fleiner in seiner 1915 an der Universität Heidel- nissen der Universität Zürich hielt Verwaltungsrechtsvorlesung (un- berg unter anderem »Deutsches Fleiner im Zeitraum von 1916 bis dat., anon. Mitschrift, Typoskript) Verwaltungsrecht«, bevor er im 1936 die Vorlesung »Allgemeines 19, in: Zentralbib. Zürich, HS- Jahre 1915 als Ordinarius für öf- Verwaltungsrecht« insgesamt 19 Abteilung, Nachlass Fleiner, fentliches Recht und Kirchenrecht Mal. Mappe 2. an die Universität Zürich berufen 26 Siehe dazu Schindler (1987). 19 Giacometti (1924) 45 f. wurde. 27 Zur strukturellen Kopplung von 20 Grundlegend hierzu: Lepenies 22 Siehe auch Giacometti (1937) Wissenschaftssystem und Erzie- (1981) 1 ff. 145. hungssystem über die Organisa- Debatte Roger Müller 90

schaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts de Strukturen hin. Wie diese gerade in der Or- einem transnational wirksamen »drift« diszipli- ganisation der Universität wirksam werden närer Differenzierung folgte und sich so letzthin konnten, lässt sich mit Blick auf die schweize- der strukturellen Kopplung zweier global wirk- rische Hochschullandschaft an drei Phänome- samer Funktionssysteme verdankte. nen veranschaulichen: Öffnet man hierzu das weite Beobach- Grenzüberschreitender Imitationszusammen- tungsfeld einer »longue durée« fakultätsinterner hang: Die schweizerischen Universitäten des Strukturtransformation, so zeichnet sich im Cur- 19. Jahrhunderts orientierten sich in ihrer Orga- riculum der Zürcher Rechtsfakultät ein fort- nisationsstruktur allesamt am deutschen Univer- schreitender Ausdifferenzierungsprozess ab, der sitätsmodell humboldtscher Prägung und können im Laufe des 19. Jahrhunderts von der enzyk- so gleichsam als getreue Kopien dieses Typs be- lopädischen »Einheit« der Staatswissenschaften zeichnet werden.32 Aus dieser Sicht kann es denn über die Verwaltungslehre bzw. Polizeiwissen- auch nicht Wunder nehmen, wenn die Zürcher schaft zu einer eigenständigen Disziplin des Ver- Rechtsfakultät im Rahmen ihrer Reformbestre- waltungsrechts führte.28 Der Beginn der letzten bungen regelmäßig auf deutsche Vorbilder zu- »Phase« eines selbständigen Verwaltungsrechts rückgriff.33 lässt sich dabei um das Jahr 1890 datieren, Grenzüberschreitende soziale Inklusion:Im als der Zürcher Publizist Gustav Vogt erstmals 19. Jahrhundert – ja noch bis zum Ausbruch des »Allgemeines Verwaltungsrecht«29 las, welches Ersten Weltkrieges – profitierten die schweize- schon kurz darauf als mündliches Prüfungsfach rischen Universitäten von einem breiten Zustrom festgeschrieben wurde.30 deutscher Professoren, deren Anteil am Lehr- Vergleicht man diesen Befund mit den ein- körper 30 bis 50 Prozent betrug.34 Gleichzeitig schlägigen Studien zu einzelnen deutschen (und waren die schweizerischen Lehranstalten aber österreichischen) Universitäten,31 so wird dabei auch bestrebt, ihre Attraktivität für die auslän- nicht bloß die parallele Phasenstruktur jenes dische Studentenschaft zu erhöhen, wie dies etwa Ausdifferenzierungsprozesses sichtbar, sondern an der Universität Zürich mit der frühen Ein- vor allem auch dessen signifikante Synchronizi- führung des Frauenstudiums gelang.35 Aus die- tät – insbesondere was die letzte »Phase« eines ser »Peregrinatio academica« erklärt sich denn selbständigen Verwaltungsrechts betrifft. Ein auch der hohe Anteil an ausländischen – und solcher synchroner Verlauf disziplinärer Diffe- insbesondere deutschen – Rechtsmaterien in den renzierung in Deutschland und in der Schweiz Vorlesungsverzeichnissen der Zürcher Rechts- deutet mithin auf universale, grenzüberschreiten- fakultät.36

tionsform der Universität siehe Zürich, Handschriftenabteilung, aus Tübingen, Würzburg und Luhmann (1998) 784 f.; dazu Nachlass G. Vogt, Mappe 54. Bonn), in: Staatarchiv Zürich, auch Lieckweg (2001) 276. Zur 30 In der Promotionsordnung vom U 105 a.1. Disziplinenbildung als Differen- 26.11.1896 wurde »Allgemeines 34 Vgl. dazu »Das deutsche Hoch- zierungsprozess siehe Stichweh oder Schweizerisches Verwal- schulsystem und die schweize- (1994) 15 ff. tungsrecht« erstmals als mündli- rischen Universitäten« von 28 Zur Geschichte der rechts- und ches Prüfungsfach sowohl für den M. Gutzwiller in: Das Aka- staatswissenschaftlichen Fakultät Doktor der Rechte wie auch für demische Deutschland, Bd. 3, der Universität Zürich vgl. Ga- denjenigen der Staatswissenschaf- Berlin 1930, 80 ff. gliardi (1938) 511 ff., 657 ff., ten vorgesehen (§§ 8 und 9), in: 35 Die Universität Zürich war die 831 ff.; spezifisch zum öffentlichen Staatsarchiv Zürich, U 105 a.1. erste Hochschule im deutschen Recht: Fleiner (1933) 311 ff.; 31 Vgl. etwa Götz (1987) 336 ff.; Sprachraum (und in Europa die Schindler (1981) 275 ff. Hollerbach (1984) 285 ff.; zweite nach Paris), an der seit 29 Gustav Vogt (1829–1901), der seit Kühn (2000) 102 ff.; Walter 1867 Frauen zum Studium zuge- 1870 als Ordinarius für öffentli- (1988) 611 ff. lassen wurden. Dazu Stadler- ches Recht an der Universität 32 Siehe dazu Im Hof (1967a) 9; Labhart (1991) 261 ff.; Gagli- Zürich wirkte, kündigte diese Schwinges (2001) 10 f.; Rüegg ardi (1938) 618 ff.; Erb (1937). Vorlesung erstmals für das Win- (2004) 25 ff. 36 Vgl. z. B. die Vorlesungsverzeich- tersemester 1890/91 an (Vorle- 33 Darauf deuten in den Fakultäts- nisse vom Sommersemester 1871 sungsverzeichnis der Universität akten die zahlreichen Prüfungs- bis Wintersemester 1872/73, in: Zürich). Das Manuskript hierzu ordnungen und Studienpläne Staatsarchiv Zürich, U 105 a.1. befindet sich in: Zentralbibliothek deutscher Universitäten hin (etwa Dazu Im Hof (1967b) 619. Rg7/2005 Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz 91

Grenzüberschreitende Selbstbeschreibung: So wird nach alledem sichtbar, dass es die Schließlich lässt sich für die schweizerische Uni- Strukturen im internen Milieu der Universitä- versitätskultur auch eine Semantik ausmachen, ten waren, welche den Möglichkeitsspielraum welche immer wieder den internationalen, kos- zugunsten von Fleiners Verwaltungsrecht ein- mopolitischen Charakter der akademischen schränkten und dessen Etablierung im akademi- »Gelehrtenrepublik« betonte.37 Als Beispiel hier- schen Lehrplan prädisponierten.43 Der Wissen- für sei ein Textausschnitt aus Fleiners Rede über schaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts »Die Universität als Stätte der Forschung und verdankte sich aus dieser Sicht nicht so sehr Lehre« aus dem Jahre 1933 angeführt:38 einem externen Importmechanismus, denn viel- mehr einem internen Selektionsmechanismus »Aber indem jede Universität ihre geistigen Güter, ihre geistigen Elemente pflegt, tritt sie in den großen wissenschaftlicher Selbstorganisation. internationalen Kontakt der Wissenschaften ein. … Diese So oder so fristete Fleiners Verwaltungsrecht große internationale Gemeinschaft der Wissenschaft und in der Folgezeit das Dasein eines deutsch- der Forschung wird uns an der Universität jeden Tag schweizerischen Doppelbürgers. Dies bis zu je- lebendig.« nem Zeitpunkt, als in den 30er Jahren, im Zuge Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Uni- der nationalsozialistischen Machtergreifung, die versalitätserwartung an den schweizerischen »Institutionen« ob ihrer rechtsstaatlich-liberalen Universitäten erscheintnunmehraberauchde- Gesinnung aus Deutschland ausgebürgert wer- ren Präferenz gegenüber einer gemeindeutschen den sollten.44 Da ergriff Fleiners getreuer Schü- Variante des Verwaltungsrechts plausibel. Ver- ler Giacometti erneut die Gelegenheit und bot gegenwärtigt man sich nämlich die damalige dem deutschen Verwaltungsrecht in der Schweiz alternative Option eines bloß partikular ausge- auch noch politisches Asyl an, indem er das richteten kantonalen Verwaltungsrechts staats- »klassische« Lehrwerk im Jahre 1939 als einen wissenschaftlichen Zuschnitts,39 so wird um so speziellen »Neudruck für die Schweiz« auflegen deutlicher, wie sehr sich der selektive Erfolg von ließ.45 Fleiners Lehrsystem ebendiesen universalen Strukturen zu verdanken hatte. »Der Internatio- nale Geist in der Jurisprudenz«, wie ihn ein 3. Die Differenz: Wissenschaft und Politik anderer Zürcher Rechtsprofessor – Friedrich Meili – damals verkündete,40 sollte daher gerade War es das Ziel der vorangehenden Darstel- auch das disziplinäre Bewusstsein einer großen lung, die Semantik des Transferprozesses in Kor- Schar von Fleiners Doktoranden prägen:41 relation zu den sozialstrukturellen Bedingungen einer Kopplung von Wissenschaft und Hoch- »Dass das Thema eher dem allgemeinen, als einem nationalen Verwaltungsrecht angehört, dass also eine Be- schulerziehung zu setzen, so soll nunmehr eine arbeitung erfolgen kann nach Sätzen, die jeder Rechts- Semantik aufgegriffen werden, die den Wissen- ordnung eigen sind, auch der schweizerischen, und dass schaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts deshalb zur Durchführung der Arbeit auf ein – unbe- in einen spezifisch rechtspolitischen Beziehungs- wusst – patriotisches und eigenstämmiges Rechtsdenken zusammenhang setzt und die dabei weniger und -gefühl verzichtet werden kann.«42 die Grenzüberschreitung als solche thematisiert denn jenes Phänomen, welches man – alteuro-

37 Siehe H. Blümner,in:NZZv. Universität Zürich ab 1885 Pro- 43 Zum hier verwendeten Begriff der 02.10.1902 (Nr. 273). fessor für internationales Privat- »Strukturen« Luhmann (1987) 38 Fleiner (1941) 417 ff., 422. recht, vergleichendes Recht und 377 ff. 39 Dieses wurde an der Zürcher Verkehrsrecht. Vgl. dazu Runge 44 Siehe Köttgen (1938) 47 ff., 49. Rechtsfakultät insbesondere von (1978). 45 Siehe aus dem Vorwort Giaco- Professor Jakob Schollenberger 41 Fleiner betreute in der Zeit von mettis zu dieser Ausgabe. (1851–1936) repräsentiert. 1915 bis 1937 an der Zürcher 40 Als »akademischer Rathausvor- Universität insgesamt 141 Disser- trag« gehalten am 19.11.1896 in tationen, wovon rund die Hälfte Zürich; siehe aus dem Separat- auf spezifisch verwaltungsrecht- druck, Zürich 1897, 5. Friedrich liche Themen entfielen. Meili (1848–1914) war an der 42 Kuczynski (1936). Debatte Roger Müller 92

päisch – gemeinhin als die national-kulturelle gerichtsbarkeit« bzw. zum »Vorkämpfer des Integration des importierten Gedankengutes zu Rechtsstaates« apostrophierte.52 Mit der zeitge- bezeichnen pflegt:46 nössischen Rhetorik des »Kampfes« klingt dabei »Auf dem Gebiete der Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits an, dass hier weniger auf eine harmo- sind sowohl im Bund als auch in den Kantonen seit dem nische Einheit, als vielmehr auf eine spezifische Weltkrieg bedeutende Fortschritte erzielt worden. Ein Differenz rekurriert wird! besonderer Verdienst hieran ist Fritz Fleiner beizumessen. In diesem Bezugsrahmen sei daher zunächst … Von ganz besonderem Einfluss waren für die Entwick- lung des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzgedankens an die symbiotische Beziehung erinnert, welche auch seine wissenschaftlichen Forschungen und Darstel- die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft mit lungen. … Freilich bleibt gerade auf diesem Gebiete noch der Rechtsstaatsidee eingegangen war. Der in der viel zu tun, und die autoritären Tendenzen in unserer zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzende Bundesregierung sind auch der Idee eines wirksamen Ver- Prozess einer wissenschaftlichen Verselbstän- waltungsrechtsschutzes abträglich gewesen. … Der rechts- staatliche Geist, den Fritz Fleiner durch seine akademische digung des deutschen Verwaltungsrechts stand Lehrtätigkeit und seine Schriften gepflanzt und gefördert dabei in einem engen Wechselverhältnis zu einer hat, wird nicht zuletzt dazu beitragen, diesen Bestrebun- politischen Entwicklung, die darauf abzielte, gen zum Durchbruch zu verhelfen.« durch eine gesetzmäßige Verwaltung und eine Auch dieser Textausschnitt aus einem Auf- unabhängige Verwaltungsjustiz den Rechtsstaat satz mit dem Titel »Fritz Fleiner und der schwei- bürgerlich-liberaler Prägung zu verwirklichen.53 zerische Rechtstaatsgedanke«, den der Berner »Der Rechtsstaat ist der Staat des wohlgeordne- Professor Ernst Blumenstein aus Anlass von ten Verwaltungsrechts«, wie es Otto Mayer in Fleiners Tod im Jahre 1937 verfasste,47 lässt sich seinem »Deutschen Verwaltungsrecht« paradig- vorab unter dem Blickwinkel der Selbstreferen- matisch formulierte.54 Dass das Selbstverständ- tialität beobachten. So galt Blumenstein sowohl nis einer unabhängigen Verwaltungsgerichtsbar- auf legislatorischer Ebene – als Redaktor des keit um so mehr noch die dogmatische Gestalt Entwurfes für ein Bernisches Verwaltungsrechts- von Fleiners Verwaltungsrechtssystem zu prägen pflegegesetz48 – wie auch auf publizistischer vermochte,55 bezeugte denn auch Blumenstein in Ebene – als Redaktor der »Monatsschrift für dem zitierten Aufsatz, wenn er darin ausführte, Bernisches Verwaltungsrecht und Notariatswe- dass »das Kapitel ›Rechtsschutz‹ in den ›Insti- sen«49 – als einer der wohl profiliertesten Für- tutionen‹ zu den schönsten Teilen des Werkes« sprecher des »rechtsstaatlichen Ausbaus der zähle, welches »die besondere Neigung des Ver- schweizerischen Demokratie«50 in den ersten fassers gerade zu dieser Materie« verrate.56 Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Nicht von ungefähr proklamierte daher Fleiner Indem sich die vorliegende Transferseman- selbst – aus seiner dezidiert liberalen Rechts- tik – wie sie mit der Metaphorik des Einpflan- schutzperspektive – die Verwaltungsgerichtsbar- zens veranschaulicht wird – mittels der Form keit allenthalben als die »Krönung des Rechts- des Rechtsstaates in den politischen Kontext staates«.57 um die Einführung der Verwaltungsgerichtsbar- Vor diesem Hintergrund würde die Vermu- keit einbinden lässt,51 steht dieser Text für eine tung nahe liegen, dass die ko-evolutive Entwick- in der Schweiz ebenso verbreitete Semantik, wel- lung von Verwaltungsrechtswissenschaft und che Fleiner zum »Vorkämpfer der Verwaltungs- Politik in der Schweiz in gleichen oder zumindest

46 Zum Aspekt der »Integration« in Grundsatz der gesetzmässigen »Rechtsstaatsidee und Verwal- Transferprozessen siehe Kort- Verwaltung, 46 (1948) 321 ff. tungsrechtswissenschaft«, in: länder (1995) 8; Eisenberg 50 So der Titel von Blumensteins Jahrbuch des öffentlichen Rechts 4 (2003) 399. Rektoratsrede, gehalten am (1910) 196 ff. 47 In: Monatsschrift für Bernisches 23.11.1929 in Bern. 54 Mayer (1914) 60; dazu Stolleis Verwaltungsrecht und Notariats- 51 Zur Zwei-Seiten-Form des Rechts- (1992) 313; Hueber (1982) 64; wesen 35 (1937) 369 ff. staates: Luhmann (1989) 493 ff. Schmidt-De Caluwe (1999) 118. 48 Gesetz betreffend die Verwaltungs- 52 Siehe etwa Giacometti (1937) 55 Vgl. auch Stolleis (1992) 409; rechtspflege vom 14.11.1908. 147; Blumenstein (1937) 372. Meyer-Hesemann (1981) 56 f. 49 Blumenstein gründete diese Zeit- 53 Beispielhaft hierzu die von 56 Blumenstein (1937) 377. schrift im Jahre 1903. Siehe darin R. Thoma im Jahre 1909 gehal- 57 Fleiner (1911) 38; ders. (1916) insbes. E. Blumenstein,Der tene Tübinger Antrittsrede 12. Rg7/2005 Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz 93

ähnlichen Bahnen verlief wie in Deutschland. schreitenden disziplinären Beobachtung als Dem war aber nicht so. Wie der vorliegende »Verwaltungsrechtspflege in vergleichender Dar- Text bereits andeutet, setzte das politische Sys- stellung« bereits im ausgehenden 19. Jahrhun- tem der Schweiz den programmatischen Forde- dert Einzug in den Zürcher Vorlesungsbetrieb rungen der Verwaltungsrechtswissenschaft deut- hielt,62 sollte später wiederum – vermittels des lich mehr Widerstand entgegen und zeigte sich »rechtsstaatlichen Geistes« von Fleiner – auch in im Hinblick auf die Einführung einer unabhän- zahlreichen Zürcher DissertationenseinenNie- gigen Verwaltungsgerichtsbarkeit zunächst äu- derschlag finden: 58 ßerst resistent. Während das rechtsstaatliche »Zugleich einen kleinen Beitrag zu leisten an die Be- Pflänzchen, gehegt und gepflegt von Professoren weisführung für die unvermeidliche Notwendigkeit der wie Gustav Vogt und Fritz Fleiner in Zürich, Einführung einer eidgenössischen Verwaltungsgerichts- 63 Erwin Ruck in Basel oder Ernst Blumenstein in barkeit ist nicht zuletzt das Bestreben dieser Schrift.« Bern, auf akademischen Boden zwar schon bei- Inwieweit sich jedoch das politische System zeiten kräftig zu gedeihen schien, sollte es auf von diesem »wissenschaftlichen Lärm über das dem politischen Boden der Schweiz nur zaghaft Verwaltungsgericht«64 irritieren ließ und welche seine Wurzeln schlagen.59 UndsotratmitBlick Differenzen dabei zwischen Politik und Wis- auf die Institutionalisierung der Verwaltungsge- senschaft zutage traten, soll auf den folgenden richtsbarkeit – ganz im Gegensatz zum synchro- Seiten anhand der schematisch dargestellten Ge- nen Verlauf der disziplinären Differenzierung des setzgebungsgeschichte der eidgenössischen Ver- Verwaltungsrechts – eine signifikant asynchrone waltungsgerichtsbarkeit verdeutlicht werden.65 Konstellation zwischen Deutschland und der In der Interaktion zwischen Fleiner und der Schweiz ein.60 Bundesverwaltung (Eidg. Justiz- und Polizei- Als daher von akademischer Seite ab ca. departement, EJPD) lassen sich dergestalt – 1890 – also just zu jenem Zeitpunkt, als sich »dem Rechtsstaat entgegen«66 – die konfligie- das Verwaltungsrecht als Lehrfach an den renden Erwartungshaltungen im »Kampf« um schweizerischen Hochschulen zu etablieren be- die Einführung einer unabhängigen Verwal- gann – der Ruf nach Einführung einer unab- tungsgerichtsbarkeit plastisch vor Augen führen: hängigen Verwaltungsgerichtsbarkeit ertönte, da »Die Widerstände, die Bundesrat und höhere Bun- konnte es nicht Wunder nehmen, wenn in der desbureaukratie der Verwirklichung der Verwaltungs- kontrastiven Wahrnehmung zu den Nachbar- gerichtsbarkeit entgegensetzen, sind Offenbarungen ein- 67 staaten immer wieder die »Rückständigkeit« gewurzelter Vorurteile.« der Schweiz und deren Nachholbedarf betont wurde.61 Was so vermittels einer grenzüber- Roger Müller

58 So waren Basel (1905) und Bern 61 F. Fleiner, Verwaltungsrechtsvor- tungs- und Disziplinarrechtspfle- (1909) die beiden einzigen Schwei- lesung (Anm. 18) 20; später etwa ge, in: Stenographisches Bulletin zer Kantone, die vor dem Zweiten A. Im Hof, Verwaltungsgerichts- der Bundesversammlung 1926, Weltkrieg eine unabhängige Ver- barkeit in der Schweiz, in: Reichs- Ständerat, 9. Zum »outside noise, waltungsgerichtsbarkeit errichte- verwaltungsblatt und preussisches der wilde Turbulenzen im Zusam- ten. Im Kanton Zürich wurde eine Verwaltungsblatt 51 (1930) 2. menspiel der Diskurse« auslöst, entsprechende Vorlage im Jahre 62 G. Vogt kündigte diese Vorlesung siehe Teubner (2001) 353. 1933 in einer Volksabstimmung an der Zürcher Universität in den 65 Siehe dazu Kölz (2004) 851 ff. (knapp) abgelehnt. Sommersemestern 1896 und 1900 66 So O. Hungerbühler zum Ent- 59 Siehe aus der zeitgenössischen an (Vorlesungsverzeichnisse der wurf des Bundesgesetzes über die Literatur A. Ziegler,Verwal- Universität Zürich). eidg. Verwaltungs- und Diszipli- tungsgerichts-Streitfragen, in: Po- 63 Beetschen (1923) Vorwort. narrechtspflege, in: Schweizeri- litische Rundschau 4 (1925) 409. 64 Zitiert nach einem Votum des sches Zentralblatt für Staats- und 60 Zu asymmetrischen Konstellatio- Ständerates Brügger in den parla- Gemeinde-Verwaltung 26 (1925) nen bei Transferprozessen siehe mentarischen Verhandlungen 209 ff., 243 ff., 289 ff., 321 ff. Werner (1997) 87 ff.; ders. v. 09.02.1926 zum Entwurf eines 67 Fleiner (1921) 177. Vgl. dazu (1995) 31 f. Gesetzes über die eidg. Verwal- Teubner (1989) 112. Debatte Roger Müller 94

Politik Wissenschaft

Einen ersten Gutachterauftrag zur Frage eines eidg. 1895 Verwaltungsgerichts erteilte das EJPD dem Zürcher Pro- fessor Gustav Vogt: »Sie würden uns zu grossem Dank verpflichten, hochgeehrter Herr, wenn Sie uns in dieser Sache mit Ihrem reichen Wissen und ihren langjährigen Erfahrungen im Gebiete der Staats- und Verwaltungs- rechtspflege zur Seite stehen wollten.«68

Nach dem Tode Vogts (1901) wurde Fleiner mit der 1903 Ausarbeitung eines entsprechenden Gesetzesentwurfes be- traut. 1906 Fleiner verfasste einen ersten Gesetzesentwurf. Gegenüber diesem Entwurf formierten sich innerhalb 1907 der Bundesverwaltung die ersten Widerstände; befürchtet wurde vor allem ein Autoritätsverlust der Verwaltung Nach einer verwaltungsinternen Vernehmlassung angesichts einer unabhängigen Verwaltungsjustiz. reichte Fleiner einen überarbeiteten zweiten Gesetzes- entwurf ein: »Überall hat zunächst in den Kreisen der Verwaltung die Befürchtung bestanden, es möchte die Verwaltungsgerichtsbarkeit die Tätigkeit der Verwal- tungsbehörden beengen und sich einseitig zu einem Schutz der Bürger gegen die Verwaltung auswachsen.«69 Gestützt auf eine Vorlage Fleiners erließ der Bun- 1911 desrat eine amtliche Botschaft zur Teilrevision der Bun- desverfassung. Diese zeugte von einem geradezu sym- biotischen Zusammenwirkungen von Wissenschaft und Politik: »So wird also ganz von selbst mit der Wissen- schaft des Verwaltungsrechts Fühlung genommen und durch die wissenschaftliche Pflege desselben eine konse- quente Ausgestaltung des Verwaltungsrechts nach einheit- lichen Grundsätzen in die Wege geleitet.«70 1916 Nach Annahme der Verfassungsrevision durch das Schweizer Stimmvolk (1914) arbeitete Fleiner einen drit- ten Gesetzesentwurf aus, worin er eine umfassende Zu- ständigkeit des künftigen Verwaltungsgerichts im Sinne der sog. »Generalklausel« statuierte. Dieser Gesetzesentwurf wurde in einer großen Ex- 1917 pertenkommission beraten, an der sich zahlreiche Ver- treter von Politik, Wissenschaft, Recht und Wirtschaft beteiligten.71 Mit den Alternativen »Generalklausel oder Enumerationsmethode« wurde dabei eine eigentliche Kontroverse in der Entscheidung über die Zuständigkeits- Fleiner trat als Referent dieser Kommission entspre- frage ausgelöst.72 chend für die »Generalklausel« ein: »So verwirklicht die Generalklausel das Postulat der Verwaltungsgerichtsbar- keit vollkommener als die Enumerationsmethode.«73 Eine Mehrheit der Kommissionsmitglieder sprach sich im Anschluss daran für die »Generalklausel« aus.

68 Schreiben des EJPD an G. Vogt v. 70 Botschaft des Bundesrates an die Treffraum für die unterschied- 19.12.1895, in: Zentralbibliothek Bundesversammlung betreffend lichsten Funktionssysteme, ohne Zürich, Handschriftenabteilung, die Revision der Bundesverfassung dass deren systemeigene Auto- Nachlass G. Vogt, Mappe 32. zur Errichtung eines eidg. Verwal- poiesis dadurch eingeschränkt 69 F. Fleiner, Vorentwurf zu einem tungsgerichtes v. 20.12.1911, in: würde.« Bundesgesetz über die Errichtung Bundesblatt 1911, Bd. V, 336. 72 Vgl. dazu Luhmann (2000b) 135: eines Eidgenössischen Verwal- 71 Vgl. dazu Luhmann (2000a) 398: »Aber ohne Alternative gäbe es tungsgerichtes. Mit Erläuterun- »Jenes Erzeugen und Wegarbeiten auch keine Entscheidung; nur die gen. Im Auftrag des Eidgenössi- von Entscheidungsmöglichkeiten Alternative macht die Entschei- schen Justiz- und Polizeidepar- durch Organisation nach dem all- dung zur Entscheidung. Also tements ausgearbeitet (zweiter gemeinen Prinzip von Überschuss scheint die Entscheidung das ein- Entwurf) Mai 1907, 34. undRepression…bieteteinen Rg7/2005 Der Wissenschaftstransfer des deutschen Verwaltungsrechts in die Schweiz 95

Politik Wissenschaft

1919 Aufgrund der Ergebnisse der Expertenkommission verfasste Fleiner einen vierten Gesetzesentwurf, der wei- terhin auf der »Generalklausel« beruhte. Ungeachtet dessen entschied sich der Bundesrat 1920 schließlich definitiv gegen Fleiners Vorschlag: »Die Kom- petenzen des Verwaltungsgerichts sind nach der Enume- rationsmethode zu umschreiben.«74 1921 Als Konsequenz hiervon setzte Fleiner der Interims- beziehung zwischen Wissenschaft und Politik mit einem »Abschiedsbrief« ein Ende: »Der Grundgedanke meines Gesetzesentwurfes … soll gemäss Bundesratsbeschluss weichen. Da bleibt mir nur übrig, gegen ein solches Vor- habeninOppositionzutretenundöffentlichfüreine wahrhafte Verwaltungsgerichtsbarkeit zu wirken.«75 Der Bundesrat erließ die Botschaft zu dem nunmehr 1925 von der Bundesverwaltung ausgearbeiteten Entwurf eines Verwaltungsrechtspflegegesetzes: »Wir wollen im folgen- den einige Gründe beispielsweise aufführen. Sie werden zeigen, zu welch unannehmbaren Ergebnissen die Gene- Als »oppositioneller« Wortführer wandte sich Flei- ralklausel führt.«76 ner an die politische Öffentlichkeit: »Heute stehen wir in der Entwicklung des Bundes an einem Scheideweg. Wir haben zu wählen zwischen dem autoritären Beamten- staat und dem die Bürger und die Kantone schirmenden Rechtsstaat.«77 In den darauffolgenden parlamentarischen Verhand- 1926 lungen stand die von der Wissenschaft geforderte »Ge- neralklausel« kaum noch zur Diskussion: »Zum mindes- tens wäre die Einführung der Generalklausel zurzeit ein Sprung ins Dunkle, sie könnte unangenehme Überra- schungen bringen.«78 1928 Auch die Verwaltungsrechtswissenschaft wich je- doch in der Folge nicht von ihrer rechtsstaatlichen Über- zeugung ab: »Aber die Erfahrung lehrt, dass das Ziel, dem die Verwaltungsgerichtsbarkeit dient – die Aufrichtung einer Rechtskontrolle über der Verwaltung – in rechts- staatlichem Sinne nur durch die Einführung der General- klausel zu erreichen ist. … Der Generalklausel gehört die Zukunft.«79 Das Bundesgesetz über die eidgenössische Verwal- 1929 tungs- und Disziplinarrechtspflege trat in Kraft.

geschlossene ausgeschlossene tungs- und Disziplinargerichtsbar- 27.03.1925, in: Bundesblatt 1925, Dritte zu sein.« keit, 962/63). Bd. II, 194. 73 Aus dem Referat Fleiners v. 75 Schreiben Fleiners an Bundesrat 77 Fleiner (1925). 12.02.1917, in: Eidgenössische Häberlin v. 06.06.1921 (MS), in: 78 Votum des Kommissionspräsiden- Verwaltungs- und Disziplinarge- Zentralbibliothek Zürich, Hand- ten Geel in den parlamentarischen richtsbarkeit, Verhandlungen der schriftenabteilung, Nachlass Verhandlungen v. 09.02.1926 Expertenkommission, I. Konfe- F. Fleiner, Mappe 25 u. 26. (Anm. 64) 4. renz: 12. bis 17. Februar 1917, 76 Botschaft des Bundesrates an die 79 F. Fleiner, Institutionen, 8. Aufl. 5. bis 9. März 1917, Bern, 69. Bundesversammlung zum Entwurf (Anm. 4) 255. 74 Aus dem Protokoll des Bundes- eines Bundesgesetzes über die eid- ratsbeschlusses v. 26.10.1920, in: genössische Verwaltungs- und Bundesarchiv Bern, E 22 (Verwal- Disziplinarrechtspflege v. Debatte Roger Müller 96

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Geltung Der Weg von der Gewohnheit zur Positivität des Rechts

1 Die Anwendungsgebote der frühneuzeitlichen Gesetze Im Jahre 1721 setzt der preußische König Friedrich Wilhelm I. für das Herzogtum Preußen ein sogenanntes »Landrecht« in Kraft. Anders als der moderne Gesetzgeber begnügt sich der König dabei nicht mit der bloßen Publikation des Gesetzes, sondern er fügt dem Gesetzestext am Schluss ein ausdrückliches, an die Gerichte ge- wendetes Anwendungsgebot bei. Damit soll augenscheinlich eine bestimmte Argumentationslinie, mit der die Gerichte die Nichtan- wendung des Gesetzes begründen könnten, von vornherein abge- schnitten werden: Der Einwand mangelnder Observanz, so heißt es in diesem Anwendungsgebot, sei kein Grund, das Landrecht nicht anzuwenden. Mangelnde Observanz entbinde die Richter keines- falls von der Pflicht, das Landrecht ihrer Urteilstätigkeit zugrunde zu legen. Denn es sei gerade die Schuldigkeit der Richter, »unsere Gesetze zur Observanz zu bringen«.1 Derartige Anwendungsge- bote sind häufig anzutreffender Bestandteil vor allem der früh- neuzeitlichen »Landrechte« und »Reformationen«.2 In der Regel beinhalten sie ein in erster Linie an die Rechtsstäbe gerichtetes Gebot, das betreffende Landrecht »gleich nach beschehener Publi- cation aller Orths ad observantiam«zubringen–sodieFormu- lierung etwa im Trierer Landrecht von 1668.3 Häufig ist dies dann verbunden mit dem Verbot, weiterhin neben oder gar an Stelle des neu ergangenen Landrechts das bislang gerichtsgebräuchliche Ge- wohnheitsrecht anzuwenden. In diesem Muster hält sich auch das eingangs zitierte Anwendungsgebot König Friedrich Wilhelms I., nur dass hier überdies ganz gezielt ein bestimmter Gegeneinwand von Seiten der Gerichte vorweggenommen wird: der Einwand nämlich, dass ein Gesetz – und sei es auch nach allen Regeln promulgiert und bekanntgemacht – so lange keine Wirksamkeit entfalten könne, als es nicht zur »Observanz« gelangt sei. In den reichskammergerichtlichen »Decisiones« Johann Meichsners etwa findet sich dieses Argument wie eine unbestrittene Selbstverständ- lichkeit vorgetragen: »Statutum enim, quod non est receptum in observantia, licet fuerit publicatum, nullas habet vires, ideo ligare non potest.«4

1 Zitiert nach Bernhard Diestel- rechts von 1555, (Druck: Quellen benachbarten Gebieten. Zugl. eine kamp, Das Verhältnis von Gesetz zur neueren Privatrechtsgeschichte Studie zum Verhältnis zwischen und Gewohnheitsrecht im Deutschlands, Bd. 1,2: Landrechte Gesetzesrecht und der Rechts- 16. Jahrhundert – aufgezeigt am des 16. Jahrhunderts, hg. von wirklichkeit im ausgehenden 17. Beispiel der Oberhessischen Erb- Franz Beyerle,bearb.von und im 18. Jahrhundert, Frank- gewohnheiten von 1572, in: Wolfgang Kunkel,Weimar furt a. M. 1973, 218 f. Rechtshistorische Studien. Hans 1938, 172; Proömium des Solmser 4 Johann Meichsner, Decisiones Thieme zum 70. Geburtstag, Köln, Landrechts (Druck: Ebd., 175). diversarum causarum in Camera Wien 1977, 1–33, 32. 3 »Vorrede«; Druck bei Hagen Imperiali iudicatarum, Bd. 3, 2 Siehe hierzu etwa den »Beschluß« Wend, Die Anwendung des Trie- Frankfurt a. M. 1604, Decisio XX, des Württembergischen Land- rerLandrechtsimrechtsrheini- S. 791, Nr. 41. schen Teil des Kurstaates und in Rg7/2005 Geltung 101

Die expressiven Anwendungsgebote, mit denen der frühneu- zeitliche Gesetzgeber die Justiz an seine Gesetze zu binden sucht, scheinen, von der Warte modernen Geltungsdenkens aus betrach- tet, fremdartig. Auch ohne eine eigenständige Aufforderung an die Adressaten, sich hinfort an das erlassene Gesetz zu halten, käme heute niemand in den Sinn, die Verbindlichkeit eines durch Pub- likation formell in Kraft getretenen Gesetzes zu bezweifeln. Es schließt das Gebot seiner gerichtlichen Anwendung unausgespro- chen mit ein. Der Sinn ausdrücklicher Anwendungsgebote, wie sie hier zur Rede stehen, erschließt sich indessen, wenn man sie im Kontext eines justiziellen Rechtsverständnisses sieht, das die Aus- richtung der Gerichte auf die zunehmend gewichtiger werdende staatliche Normsetzung erschwerte. Dieses Rechtsverständnis war auch in der frühen Neuzeit noch in starkem Maße von einer Art »usualem Geltungsdenken« bestimmt. Damit soll ein Rechtsden- ken bezeichnet werden, das dazu neigte, die Verbindlichkeit der Rechtsnormen von deren faktischen Gebrauch, deren »Obser- vanz«, abhängig zu machen – und zwar nicht nur im Falle des Gewohnheitsrechts, sondern auch im Bereich der Gesetzgebung. Im Gegensatz dazu ließen sich die modernen Vorstellungen von »Rechtsgeltung« als »formell« bezeichnen, denn bei ihnen ist zumindest die Verbindlichkeit der Gesetze von einem Formalakt abhängig, mit dem die gesetzgebende Gewalt ihren Willen äußert: Ein Gesetz tritt dann »in Kraft«, wenn das seinerseits gesetzlich festgelegte Verfahren der gesetzgeberischen Willensbildung und -äußerung mit der Gesetzespublikation formell abgeschlossen ist. Die Anwendungsgebote, die der frühneuzeitliche Staat seinen Ge- setzen beifügte, suchten solchen »formellen« Geltungsvorstellun- gen Raum zu verschaffen, indem sie dem Kriterium der Observanz den publizierten Befehl des Fürsten entgegensetzten: Nicht die Observanz sollte es sein, welche die Richter zur Anwendung des königlichen Gesetzes verpflichtet, sondern der im Publikations- patent geäußerte landesherrliche Wille. Ihn sollte das Gericht durch Anwendung des Gesetzes »zur Observanz bringen«. Die Obser- vanz ist hier nicht Geltungsgrund des Gesetzes, sondern das Ziel des Gesetzgebungsaktes.5 Es ist allerdings die Stimme des Gesetzgebers selbst,dieaus dem genannten Publikationspatent spricht. Sie kommt also aus der Sphäre der Politik und ist augenscheinlich an eine Justiz gewendet, der das dahinterstehende Gesetzesverständnis alles an-

5 Das wird allerdings verdeckt, Publikationspatent von 1721 liegt ment der Observanz überhaupt. wenn man solche Publikations- der Akzent auf einem anderen Gerade dies aber zeichnet das for- patenteinderWeisedeutet,der Punkt: Auf die faktische Frage der melle Geltungsdenken aus, das partikulare Gesetzgeber habe es Observanz soll es überhaupt nicht nicht nach »Observanz« fragt, darin den Parteien und den Rich- mehr ankommen. Die Richter sondern nach dem Willen des Ge- tern untersagt, »die Observanz des sollen das Gesetz vielmehr unab- setzgebers und dessen Publikation. schriftlich fixierten Rechts zu be- hängig von seiner Observanz an- zweifeln« (so Peter Oestmann, wenden, weil es der König als Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechts- Gesetzgeber so will. Nicht eine anwendung und Partikularrecht bestimmte Beweisführung wird im Alten Reich, Frankfurt a. M. also verboten, sondern weiterge- 2002, 649). In dem genannten hend der Rückgriff auf das Argu- Recherche Thomas Simon 102

dere als selbstverständlich war und augenscheinlich erst dazu gebracht werden musste, den Befehl des Landesherrn als alleinige Voraussetzung einer Normanwendung zu akzeptieren. Im Neben- einander der beiden Geltungsverständnisse war zugleich ein Kon- flikt zwischen frühneuzeitlichem Gesetzgebungsstaat und den Ge- richten angelegt. Wollte der Staat seinen Justizapparat an seinen Gesetzen ausrichten, dann musste er auf einem formellen Geltungs- verständnis insistieren und durfte den Gerichten nicht erlauben, nach der Observanz zu fragen. Denn die »Observanz« war etwas, was die Gerichte unabhängig von der Gesetzgebung selbst hervor- brachten. Wie dieses usuale Geltungsverständnis in der Rechts- kultur der frühen Neuzeit in Erscheinung und dabei gleichzeitig mit einem moderneren formellen Geltungsverständnis in ein span- nungsreiches Verhältnis trat, soll im Folgenden gezeigt werden.

2 Usuales Rechtsgeltungsverständnis Auf den ersten Blick scheint sich die Rechtswissenschaft in Deutschland spätestens im 17. Jahrhundert einem formellen Gel- tungsverständnis zu öffnen: Damals begann sich der Gedanke durchzusetzen, dass es in erster Linie die voluntas legislatoris sei, die den Rechtsnormen ihre Verbindlichkeit verleihe. Befragt man die Rechtsliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts zu der abstrakten Frage, worauf denn die Verbindlichkeit des Rechts beruhe, so stößt man auf eine verbreitete »voluntaristische« Nomenklatur, die den Willen des Gesetzgebers in den Mittelpunkt ihrer Geltungsbegrün- dung stellt.6 Die »Vorstellung vom positiven Gesetz als Wille des Gesetzgebers setzt sich seit Samuel Pufendorf auch im deutschen Naturrecht durch«; bis zum Ende des 18. Jahrhunderts »ist sie unbestritten«.7 Dieser Befund scheint ein modernes, »formelles« Verständnis der Geltung von Gesetzen zu implizieren: Die Äuße- rung des gesetzgeberischen Willens begründet die Verbindlichkeit der Gesetze. Man darf sich indessen von solchen Bekenntnissen zur Ver- bindlichkeit des gesetzgeberischen Willens nicht täuschen lassen. Sie waren augenscheinlich dem politischen Denken dieser Zeit geschuldet. Es hat den Gedanken der Herrschaftssicherung und -monopolisierung, der effizienten Beherrschung des Gemeinwesens durch den Monarchen in den Vordergrund gerückt und dieses Ziel mit der stetigen existenziellen Bedrohung des Menschen durch den

6 Heinz Mohnhaupt, Potestas le- gislatoria und Gesetzesbegriff im Ancien Régime, in: Ius Commu- ne 4 (1972) 188–239, 233 ff. 7 Jan Schröder, Recht als Wissen- schaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500– 1850), München 2001, 98. Rg7/2005 Geltung 103

Menschen legitimiert. Im Streben nach Konzentration und Zent- ralisierung von Herrschaft suchte es auch das Recht an den Willen des Fürsten zu binden. Das ältere Naturrecht ist gleichfalls von diesem Gedanken bestimmt, indem es das ganze positive Recht aus dem Willen dessen hervorgehen lässt, der über die »Summa Potestas« verfügt. Unter der Oberfläche demonstrativen Gehorsams gegenüber dem Gesetzgeber, vorgetragen in den abstrakten Definitionen des- sen, was »Recht«, »Gesetz« oder »consuetudo«seinsoll,kommen indessen an zahlreichen Stellen ausgesprochen traditionelle Vor- stellungen zum Vorschein, die noch viel mehr von der Grund- kategorie der »Observanz« bestimmt werden, als es die ständigen Referenzen auf die »voluntas legislatoris«vermutenlassen.Man kann sie erkennen, wenn man die Theorie des Gewohnheitsrechts und dessen Verhältnis zum Gesetz und zur Gesetzgebung ins Auge fasst. Dann bemerkt man, wie sehr das rechtliche Normgeltungs- verständnis des 17. und noch des 18. Jahrhunderts in ein alles überwucherndes gewohnheitsrechtliches Denken eingebettet war. Das äußert sich vor allem darin, dass sich das Gesetz hinsichtlich seines Geltungsgrundes im juristischen Verständnis dieser Zeit kaum vom Gewohnheitsrecht abhob (2.1) und im Übrigen jederzeit zum Opfer gesetzesderogierenden Gewohnheitsrechtes werden konnte, so dass ihm im Verhältnis zu jenem eine ausgesprochen schwache Stellung zukam (2.2).

2.1 Schwach ausgeprägte Differenz zwischen Gesetz und Gewohnheitsrecht Bis weit in das 18. Jahrhundert hinein tendiert die Rechtslehre dazu, Gesetz und Gewohnheitsrecht aneinander anzupassen, so dass es nicht zu einer wirklich trennscharfen Unterscheidung zwischen diesen beiden Normtypen kam. Das zeigt sich bei der rechtlichen Begründung des Gewohnheitsrechts: Wie das Gesetz wurde auch das Gewohnheitsrecht geradezu ostentativ mit dem Willen eines Gesetzgebers in Verbindung gebracht, aus dem es seine Verbindlichkeit bezieht. Da es nicht auf einen bewussten legislativen Setzungsakt zurückgeführt werden konnte, behalf man sich in diesem Falle mit dessen »stillschweigender Zustimmung«.8 Maßgebendes Kriterium für die Unterscheidung des Gesetzes vom Gewohnheitsrecht war demnach die Form, in der sich der gesetz-

8 Ebd. 105. Recherche Thomas Simon 104

geberische Wille äußert: Er äußert sich ausdrücklich beim Gesetz und stillschweigend im Falle des Gewohnheitsrechts. »Consuetudo a lege differt, tanquam tacitum ab expresso« lautet einer der zahlreichen, zu Topoi verdichteten Leitsätze in Johannes Meichs- ners Decisiones.9 »tacitum« korreliert dabei mit der consuetudo, »expressum«hingegenmitderlex; beide Adjektive sind auf einen normgebenden Willen bezogen. In politisch korrekter Weise wird das Gewohnheitsrecht damit unter dem Kriterium des gesetz- geberischen Willens an das Gesetz angepasst; es wird zu einer Art »stillschweigend erlassenem« Gesetz.10 Das »Gesetz« als In- begriff befohlener, auf Grund eines autoritativen Setzungsaktes erzeugter Normen wird zum dominierenden Leitbegriff, der nun auch dem Gewohnheitsrecht aufgezwängt wird; beide bleiben dadurch als Normtypen weitgehend aneinander angeglichen, denn hier wie dort ist es der fürstliche Wille, der ihnen die Legitimität verleiht. Diese Unterscheidung ist keineswegs frühneuzeitlicher Prove- nienz, sondern kann auf eine bis weit in das Hochmittelalter reichende Tradition zurückblicken.11 Denn schon die hochmittel- alterliche Kanonistik hatte mit dem Topos von der »consuetudo approbata« die Gewohnheit mit dem Willen des Fürsten legiti- miert:12 Das Gewohnheitsrecht wurde als Gesetz gedeutet, indem man es wie dieses auf einen Willensakt zurückführte. In der mittel- alterlichen Rechtslehre bedeutete dies ohne Zweifel eine erhebliche Umwertung. Denn in der älteren Unterscheidung zwischen lex und consuetudo hatte das Willensmoment keine Rolle gespielt; aus- schlaggebend war allein das Kriterium der äußeren Form gewesen, in der die Norm überliefert war: mündliche Überlieferung bei der consuetudo, schriftliche Form hingegen beim Gesetz; die lex ist dabei nicht mehr als eine »consuetudo in scriptis redacta«.13 In genauem Gegensatz zum Topos von der »consuetudo approbata« war das Gesetz hierbei lediglich als eine besondere Form des Ge- wohnheitsrechts aufgefasst worden. Das Gewohnheitsrecht gibt dabei auch das Deutungsmuster für das Gesetz ab, während bei der Figur der consuetudo approbata umgekehrt das Gewohnheitsrecht seinerseits an das Gesetz angeglichen wird. Der Schritt von dem vom Gewohnheitsrecht her denkenden Ansatz zu dem sozusagen »gesetzeszentrierten« Denkmuster wurde augenscheinlich zuerst in der Kanonistik, sodann auch im weltlichen gelehrten Recht voll- zogen.14 Gagnér hat ihn in seiner umfassenden »Ideengeschichte

9 Meichsner (Fn. 4) Decisio 9, 11 Siegfried Brie,DieLehrevom 13 Sten Gagnér, Studien zur Ideen- S. 177, Nr. 167. Nicht anders bei Gewohnheitsrecht. Eine histo- geschichte der Gesetzgebung, Andreas Gail,Practicaeobser- risch-dogmatische Untersuchung, Uppsala 1960, 216, 296; Win- vationes, Köln 1608, Lib. II, Obs. Breslau 1899 (ND Frankfurt fried Trusen, Römisches und 31, Nr. 10: »Unde etiam differen- 1968), 134. partikuläres Recht in der Rezep- tia inter consuetudinem et statu- 12 Udo Wolter, Die »consuetudo« tionszeit, in: Rechtsbewahrung tum colligitur: quod statutum im kanonischen Recht bis zum und Rechtsentwicklung. Fest- expressum populi consensum, Ende des 13. Jahrhunderts, in: schrift für Heinrich Lange, hg. von consuetudo vero tantum tacitum Gewohnheitsrecht und Rechtsge- Kurt Kuchinke, München 1970, habet.« wohnheiten im Mittelalter, hg. von 97–120, 100. 10 Schröder (Fn. 7) 105. Gerhard Dilcher u. a., Berlin 14 Wolter (Fn. 12) 104; Gagnér 1992, 87–116, 104. (Fn. 13) 355 f. Rg7/2005 Geltung 105

der Gesetzgebung« in den Zusammenhang der hochmittelalter- lichen »Positivierung des Rechts« gestellt.15 So tiefgreifend dieser Schritt allerdings auch gewesen sein mag, so elementar blieb der weitere Schritt, den augenscheinlich erst Bodin getan hat, indem er Gesetz und Gewohnheit nicht mehr unter lediglich neuem Deutungsmuster aneinander anglich, son- dern unter dem neuartigen Aspekt der Normentstehung scharf voneinander abhob. Soweit ersichtlich, hat er zuerst consuetudo und lex als zwei unterschiedliche Normtypen unter dem Gesichts- punkt der Normentstehung unterschieden: In seinen epochalen »Six livres de la République« trennt er zunächst »droit« und »loy«: Letzteres zeichnet sich gegenüber dem weiteren Begriff des »Rechts« ausschließlich dadurch aus, dass es durch einen Befehl dessen hervorgebracht wird, dem die summa potestas und damit die Gesetzgebungsgewalt zukommt.16 Das Recht eines Staates tritt auf in Gestalt der Gesetze und des Gewohnheitsrechtes; es ist kennzeichnend, dass für Bodin das Formkriterium bei dieser Ge- genüberstellung keine Rolle mehr spielt – und zwar auch, was die Äußerungsform des fürstlichen Willens anbelangt. Die Dichotomie schriftlich/mündlich ist für ihn ebenso wenig mehr maßgebend wie die Gegenüberstellung von ausdrücklich und stillschweigend geäußertem Willen. Ausschlaggebend ist für ihn allein der Um- stand, dass sich das Gewohnheitsrecht spontan und sozusagen »von selbst« im Zuge langfristiger Einübung bildet (»prend sa force peu à peu et par longues années d’un commun consentement de tous«) und nur das Gesetz von der Obrigkeit befohlen und publiziert wird (»commandée et publiée par puissance«).17 Es ist also der Modus der Normentstehung, der Gesetz und Gewohnheit unterscheidet: Bodin bringt mit dem »Gesetz« ausschließlich die durch willentlichen Setzungsakt erzeugten Normen in Verbindung, demgegenüber das Gewohnheitsrecht in scharfer Abgrenzung als »spontane Ordnung« jenseits zielgerichteter Setzungsakte er- scheint. Das Kriterium des von einer fürstlichen Willensentschei- dung getragenen Befehls »zur Trennung von lex und ius einzu- setzen«, so Quaritsch, »blieb Bodin vorbehalten«.18 Insofern konnte Hobbes (»auctoritas, non veritas facit legem«) in diesem Punkt später an den epochalen Neuansatz von Bodin anknüpfen. Ob Bodin bewusst war, dass er sich mit seiner scharfen Distanzie- rung von Gesetz und Gewohnheit auf ganz neuen Bahnen bewegt, ist unklar.19 Es muss aber auffallen, dass der Text, in dem dieser für

15 Gagnér (Fn. 13) 354 ff. facilem historiarum cognitionem« in der Krise. Zum Gesetzgebungs- 16 Helmut Quaritsch, Staat und noch erklärt: »Toute la force des verhältnis im Frankreich der Souveränität, Frankfurt a. M. loix civiles et coustumes gist au Religionskriege, Frankfurt a. M. 1965, 334. pouvoir du Prince souverain.« 2005,Kap.7.3.1. 17 Zitiert nach Quaritsch (Fn. 16) (Zit. Quaritsch, 338) Hier wird 338. »loi« und »coûtume« unter dem 18 Quaritsch (Fn. 16) 337. Gesichtspunkt der »pouvoir sou- 19 Der Perspektivenwechsel ist in verain«alsonochineinsgesetzt. Bodins Werk selbst sichtbar. Zehn Zur Diskussion über das Verhält- Jahre vor den »Six livres de la nis von Gesetzgebung und ›cou- République« hatte Bodin in dem tumes‹ in Frankreich siehe jetzt 1566 erschienenen »Methodus, ad Lothar Schilling, Normsetzung Recherche Thomas Simon 106

das neuzeitliche Rechtsverständnis entscheidende Schritt erstmalig getan wird, nicht in einer genuin als rechtswissenschaftlich ver- standenen Arbeit steht, sondern in einer »Politik«. In den rechtlichen Diskurs – jedenfalls in Deutschland – kann der Ansatz Bodins aber zunächst nur in auffallend abgeschwächter Form einfließen. Er wird vielmehr in ein konventionelles Deutungs- muster von »Gesetz« und »Gewohnheit« integriert. Dabei bleiben die zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Differenzierungs- kriterien nebeneinander stehen: Es ist zwar regelmäßig die Äuße- rungsform des gesetzgeberischen Willens, die das Grundmuster bei der Abgrenzung von Gesetz und Gewohnheitsrecht abgibt,20 aber die ältere Unterscheidung zwischen ius scriptum und non scriptum verschwindet deshalb nicht.21 Die Argumentation bewegt sich vielmehr wechselweise auf beiden Ebenen. So etwa bei Lauterbach: Wird eine Norm vom Gesetzgeber ausdrücklich, zunächst aber nur in mündlicher Form befohlen und erst später aufgezeichnet, soll ihm zufolge zunächst nur ius non scriptum entstehen, das erst durch seine Aufzeichnung zum ius scriptum wird. »Si lex expresse promulgata antequam scribatur, est lex: sed nondum est scripta lex, sed pertinet ad jus non scriptum.«22 Maßgeblich ist hier einerseits noch die ältere Dichotomie von ius scriptum und non scriptum, aber der Gesetzesbegriff wird bereits davon gelöst: Auch ein mündliches Gebot bringt eine »lex«hervor,nurebeneine»lex non scripta«. Auf diese Weise wird das (ältere) Kriterium der Überlieferungsform mit dem (neueren) Kriterium der Äußerungs- form verbunden.23 Dabei kommt man zu der auf den ersten Blick paradoxen Figur »schriftlosen geschriebenen Rechts«, zu einem ius scriptum, das aber dennoch lediglich mündlich bekannt gemacht wurde. Dem Compendium Juris24 Wolfgang Adam Lauterbachs gemäßsindsichdieRechtsgelehrtenweitgehenddarineinig,dasses ein ius scriptum sine scriptura, ein nur mündlich bekannt gemach- tes und überliefertes ius scriptum gibt.25 Zu dieser erstaunlichen Aussage kommt man, indem man die ältere Dichotomie ius scrip- tum/non scriptum mit der jüngeren Gegenüberstellung tacitus/ expressus consensus kombiniert: Der Begriff des »ius scriptum« fungiert dabei wie eh und je als Platzhalter für »lex«. Geht man 20 Siehe hierzu etwa die im Jahre sodann aber davon aus, dass es beim »Gesetz« nicht auf die 1712 an der Universität Rinteln publizierte Dissertation von Schriftform, sondern auf den ausdrücklich geäußerten fürstlichen Christian Laevin Starcke Willen ankommt, so erscheint auch die Schlussfolgerung logisch, (Resp.), Conrad Lüdeking (Prä- dass es ius scriptum (= Gesetz) geben kann, das auf einem zwar ses), De fundata pro lege, eiusque observantia, intentione, wo es un- ter Verweis auf Gail,Lib.2,Ob- serv. 31, Num. 10, § 22, heißt: 22 Lib. I, Tit. III, Nr. (4), S. 27. der Herkunft von Donellus in Ver- »In eo enim differt consuetudo a 23 Demgegenüber ist die Definition bindung gebracht werden kann. statuto, quod illa tacito consensu des Gesetzes bei Donellus deutlich 24 Ausg.: Thesaurus Iuris Civilis, sive superioris intraducatur, hoc vero stärker an Bodin angelehnt. Das Succincta Explanatio Compendii expressum ejus consensum requi- Kriterium der Überlieferungsform Digestorum Schützio-Lauterba- rat.« erscheint ihm als Unterscheidungs- chiani,hg.vonJoh.Heinr.Mol- 21 Roy Garré, Consuetudo. Das merkmal untauglich: »Non enim lenbeck, Lemgo 1717. Gewohnheitsrecht in der Rechts- lexest,quodscriptumest,sed 25 Neque etiam contradictionem in- quellen- und Methodenlehre des quod legislator voluit« (zit. nach volvit, jus scriptum esse absque späten ius commune in Italien Mohnhaupt [Fn. 6] 233, Fn. 72). scriptura; Lauterbach (Fn. 24) (16. – 18. Jahrhundert), Frank- Es ist die Frage, ob diese deutlich Lib. I, Tit. III, Nr. 4, S. 27. furt a. M. 2005, 107. modernere Betrachtungsweise mit Rg7/2005 Geltung 107

ausdrücklich, aber nur mündlich geäußerten Gebot des Gesetz- gebers beruht: »statutum statim post publicationem, etiam sine scriptura audit jus scriptura«.26 Umgekehrt wird deshalb die consuetudo durch ihre schriftliche Aufzeichnung auch nicht zum ius scriptum,27 denn die bloße Aufzeichnung vermag den fehlenden ausdrücklich geäußerten Willen des Gesetzgebers nicht zu ersetzen. Auch im Jus Controversum Civile (1729) von Samuel Cocceji findet sich jene auf den ersten Blick so eigenartige Aussage wieder, dass es gerade nicht die Schriftform sei, die das Wesen (»essentia«) des geschriebenen Rechts ausmache: Auf die Frage, »an Scriptura sit de essentia Juris scripti«,28 wird zunächst als Argument dafür auf das Römische Recht verwiesen, das von der »differentiam inter jus scriptum et non scriptum« ausgehe. Dem hält Cocceji aber sodann den bekannten Topos »sola voluntas Principis legem facit« entgegen: Danach besteht die »essentia Juris scripti« nicht in der Schriftform, sondern in der voluntas principis. Dies war in der Tat eine gewisse Akzentverschiebung: Für Lauterbach hatte die Schrift- form im Anschluss an Lyncker noch zur essentia juris scripti gehört.29 Für Cocceji scheint die Bezeichnung »jus scriptum« auf den ersten Blick nur noch historische Bedeutung zu haben: Der Gegensatz schriftlich–nichtschriftlich rühre aus der griechischen Antike; sie beruhe auf dem Gegensatz zwischen attischem und spartanischem Recht, denn ersteres sei durchgehend in schriftlicher Form abgefasst, letzteres hingegen nur mündlich überliefert ge- wesen. Die Dichotomie schriftlich/nichtschriftlich wurzele also ausschließlich in den »mores illarum civitatum«, habe aber nichts mit »rem ipsam, sententiam ac formam« zu tun. Cocceji ist es ersichtlich um eine Erklärung dafür zu tun, dass die Differenzierung zwischen geschriebenem und nur mündlich überliefertem Recht einerseits noch allgegenwärtig ist, ohne dass ihm aber andererseits eine Bedeutung bei der Bestimmung des »essentiale« geschriebenen Rechts zukäme. So schiebt er weitere Erklärungen nach: »scribere« sei nichts anderes als »sancire«. Diese für den modernen Leser recht kühne Gleichsetzung sucht er mit dem erstaunlich schlichten Argument zu untermauern, die herrscherlichen Befehle seien heut- zutage regelmäßig in Schriftform gegossen, so dass sie für gewöhn- lich gelesen und nicht lediglich gehört würden; auf diese Weise liefe »sancire« und »scribere« auf das Gleiche hinaus. Dies wird dann schließlich noch etymologisch untermauert: »lex dicatur a legendo, legi autem non potest nisi quod scriptum est«.30 Auf diese Weise

26 Lüdeking u. Starcke (Fn. 20), 30 Cocceji (Fn. 28) 40. a. a. O. 27 Ebd.: »E contrario vero consuetu- do, licet in scripturam redacta, nihilominus lex non scripta ma- net.« 28 Samuel Cocceji,JusControver- sum Civile, Bd. 1, Frankfurt an d. Oder, Leipzig 1729, Lib. I, Tit. III, Qu. II, S. 39. 29 Lauterbach (Fn. 24) Lib. I, Tit. III, Nr. 4, S. 27. Recherche Thomas Simon 108

wird das jus scriptum im Ergebnis zum jus sancitum umgedeu- tet. Dies bedeutet aber umgekehrt: Die Begriffe sind praktisch deckungsgleich. Die Grenze zwischen Gesetz und Gewohnheits- recht verläuft also weiterhin zu großen Teilen auf derjenigen zwischen schriftlichem und mündlichem Recht. Ein Blick in die juristischen Wörterbücher und Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts bestätigt diesen Befund. Diese Literaturgat- tung war in ihren Worterklärungen weniger um Originalität denn darum bemüht, die landläufigen Formeln und Topoi vor allem auch denjenigen leichter zugänglich zu machen, die »in Ermangelung erforderlicher Geld-Speesen entweder die Academien gar nicht oder nur kurze Zeit betretten« haben.31 »Lex/Gesetz« und »consue- tudo/Gewohnheit« werden in diesen Wörterbüchern durchgehend in einer Weise definiert, welche die Lehre Bodins zwar anklingen lässt, ohne dabei die ältere Sichtweise aufzugeben. Als durchaus typisch darf man die Formulierungen nehmen, wie sie etwa in einem »Manuale Juris« aus dem Jahre 1692 zu finden sind: Die lex wird in erster Linie (»latissime«) noch ganz allgemein als »omnem regulam seu institutum civitatis«, also gleichbedeutend mit dem »Recht« definiert, das sich vom Gewohnheitsrecht in keiner Weise abgrenzen lässt. Erst in zweiter Linie erscheinen dann engere Definitionen, die eine Unterscheidung zum Gewohnheitsrecht über- haupt erst möglich machen: Dabei steht dann die lex als »jussum Majestatis, sive sit scriptum, sive non« neben der lex als dem »jus scriptum seu expresso consensu sancitum«. Hier sind drei Defini- tionskriterien einfach nebeneinander gestellt: Einmal ist es der von der Überlieferungsform unabhängige (»sive sit scriptum, sive non«) Befehl (»jussum«), der die lex ausmacht, zum anderen die Über- lieferungsform (lex als »jus scriptum«) und schließlich die Form, in der sich der Wille des Gesetzgebers äußert (lex als »jus expresso consensu sancitum«).32 Unschwer erkennt man in dieser Aufstel- lung die beiden mittelalterlichen Abgrenzungskriterien (Schrift- form und Äußerungsform des gesetzgeberischen Willens) neben dem seit Bodin präsenten Kriterium des Gesetzes als eines fürst- lichen Befehls. Dementsprechend dreischichtig wird auch die con- suetudo definiert: Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht aufgeschrieben ist (»Jus non scriptum«), dass der Gesetzgeber seinen Willen nur stillschweigend äußert (»tacitoque summae potestatis consensu approbatum«) und schließlich dadurch, dass sie nicht durch einen obrigkeitlichen Befehl, sondern »subditorum

31 Carl Sigmund Schmid,Gazo- sensu sancitum, et opponitur con- philacium Politico-Iuridicum et suetudini. Theoretico-Practicum, Frankfurt und Leipzig 1736, Vorrede. 32 Sebastian Almers,ManualeJu- ris, Frankfurt und Leipzig, 1692, 725: Lex; latissime denotat om- nem regulam seu institutum civi- tatis; late et generaliter: jussum Majestatis, sive sit scriptum, sive non; specialiter: significant omne jus scriptum, seu expresso con- Rg7/2005 Geltung 109

usu introductum« wurde. Auf welches der drei Unterscheidungs- merkmale es letztlich ankommen soll, bleibt offen; das Verständnis von »Gesetz« und »Gewohnheit« oszilliert dadurch zwischen dem älteren, formbezogenen und dem neueren, willensbezogenen An- satz.33 Nicht anders stellt sich das Bild in dem 1736 erschienenen »Gazophilacium Politico-Iuridicum et Theoretico-Practicum«34 dar: »Lex«, so heißt es da einerseits, »ist eine Regel, von der höchsten Landesobrigkeit vorgeschrieben«, es wird aber anderseits verschiedentlich auch »nur für das geschriebene Gesetz genom- men« und hierin, also unter dem Differenzierungskriterium ge- schrieben/nicht geschrieben »den Gewohnheiten contradistin- guieret«. Die Gewohnheiten sind daher nichts anderes als die »unbeschriebenen Gesetze«;35 das ist nichts anderes als die Um- drehung der uralten Formel von der lex als einer consuetudo in scriptis redacta: consuetudo als »lex non redacta«. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat sich das Bild nicht wesent- lich geändert, wenn man in der herangezogenen Literaturgattung verbleibt und einen Blick in Georg Stephan Wiesands »Juristisches Handbuch«36 wirft: Gesetz ist diesem Autor einerseits »eine Vor- schrift des Obern, wonach der Untertan seine Handlung einrichten soll«,37 aber gleichzeitig wird die Gewohnheit nicht nur als »ein durch langen Gebrauch und stillschweigende Genehmigung des Obern eingeführtes Recht«, sondern auch als »geschriebene(s) Recht« definiert.38 Auch hier schimmern die drei bekannten Dif- ferenzierungskriterien noch deutlich durch: Befehl des Souveräns als Geltungsgrund (»Vorschrift des Obern«), Form der Willens- äußerung des Gesetzgebers (»stillschweigende Genehmigung des Obern«) und Überlieferungsform (»geschriebenes Recht«). Erst im »Churpfalzbayerisch gelehrt-decisiven Universal-Gesetz-Lexi- kon«39 von 1800 heißt es dann unter dem Stichwort »Jus scrip- tum«: »Geschriebenes Recht. Wird nicht von der Schrift, sondern von des Gesetzgebers ausdrücklichen Willenserklärung also ge- nannt und hierdurch dem Jure consuetudinario, welches sich nur auf seinen stillschweigenden Willen gründet, entgegengesetzt.«40 Kennt man nicht die Tradition, so wird die Aussage geradezu widersinnig, das »schriftliche Recht« heiße nicht wegen seiner Schriftform »schriftlich«, sondern wegen etwas ganz anderem, was mit der Form überhaupt nichts zu tun hat. Sie wird indessen verständlich, wenn man sich verdeutlicht, dass hier nun in der Abgrenzung des Gesetzes vom Gewohnheitsrecht zumindest das

33 Garré (Fn. 21) 107: Die Tradi- alten als neuern Zeiten aus ihren Rechtsschlüssel« von F. B. M. tion, »die von einer Äquiparation Quellen hergeleitet, der Verstand Wagner, churpfalzbayerischer zwischen ius non scriptum und dunkler Wörter und Redensarten Oberlandesregierungs-Secretär in consuetudo geprägt war, wurde erkläret, die merkwürdigsten Sa- München, Pappenheim 1800. nie völlig aufgegeben«. chen aber in alphabetischer Ord- 40 III. Teil, 155. 34 Oben Fn. 31. nung kürzlich erörtert werden, 35 Gazophilacium (Fn. 31) 370. Um- Hildburghausen 1762. gekehrt ebd., 173: »Consuetudo, 37 Ebd., 499. ein Gebrauch, eine Gewohnheit, 38 Ebd., 509. seu Jus non scriptum.« 39 Oder: »Allgemein von unterst 36 Juristisches Hand-Buch, worinnen bis höchsten Amtsstufen diensam die Teutschen Rechte sowohl der compendiös entscheidender Recherche Thomas Simon 110

Kriterium der Überlieferungsform ausgeschieden ist; es erhält sich nur in der Bezeichnung »Jus scriptum«. Das Stichwort selbst transportiert noch das älteste Unterscheidungsmerkmal der Über- lieferungsform, während die Erläuterung des Stichworts von der Form des gesetzgeberischen Willens als dem entscheidenden Defi- nitionsmerkmal ausgeht. Auf diese Weise verblieb die juristische Diskussion von »Ge- setz« und »Gewohnheit« auch im 18. Jahrhundert bei den älteren, formbezogenen Unterscheidungen, die – verglichen mit der moder- nen, auf die Normentstehung abstellenden Unterscheidung – zu einer Nivellierung von Gesetz und Gewohnheitsrecht führten. Und dies um so mehr, als die Anforderungen, die beim Gewohn- heitsrecht an den tacitus consensus des Gesetzgebers gestellt wur- den, ebenso gering wie die Fiktionen kühn waren, von denen man ausging, um die consuetudo mit der voluntas legislatoris in Verbindung bringen zu können. »Die Anforderungen an die Zu- stimmung des Gesetzgebers« blieben, so Jan Schröder, »sehr milde«; man sah sie allein schon »in den Vorschriften des Römi- schen Rechts, die das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle anerken- nen«.41 Die »Zustimmung des Gesetzgebers« wurde demnach aus einer Rechtsquelle abgeleitet, von der im 18. Jahrhundert längst klar war, dass sie ihrerseits nur usu receptum war.42 Durch solche Fiktionen wurde das Gesetz im Ergebnis mit dem Gewohnheits- recht weitgehend gleichgestellt, denn beide sah man gleichermaßen in den Willen des Landesherrn aufgenommen. »Die älteren Usus- modernus-Juristen« vermuteten demnach auch den stillschweigen- den Konsens des Gesetzgebers schon dann, »wenn die sonstigen Voraussetzungen des Gewohnheitsrechts gegeben sind«.43 Erst im 19. Jahrhundert begann sich eine Unterteilung der Rechtsnormen in »gesetzliche« und solche »gewohnheitsrecht- licher« Provenienz herauszubilden, bei der die beiden Normtypen durch das Willenskriterium nicht miteinander verbunden und an- einander angepasst, sondern vielmehr einander entgegen gesetzt wurden. Auch diese Entgegensetzung geschah unter dem Willens- gesichtspunkt, und zwar dadurch, dass nun nicht mehr in der Dichotomie ausdrücklich geäußerter Wille versus stillschweigende Zustimmung gedacht wurde, sondern danach unterschieden wur- de, wer der Träger dieses Willens ist: entweder das »Volk« oder die Obrigkeit bzw. der »Staat«. Bei dieser Unterscheidung wird der Gegensatz zwischen Gesetz und Gewohnheitsrecht betont, denn

41 Schröder (Fn. 7) 106 f. streben, seine Verbindlichkeit mit dadurch an das den gesetzgebe- 42 Auch beim römischen Recht zeigt der voluntas principis zu legiti- rischen Willen betonende Rechts- sich freilich gleichzeitig das Be- mieren.Esistzwar»perususre- verständnis angepasst; dazu ceptum«,aberdieserVorgang Klaus Luig, Der Geltungsgrund wird zusätzlich mit der zumindest des römischen Rechts im stillschweigenden Anerkennung 18. Jahrhundert in Italien, Frank- seitens der Territorialfürsten be- reich und Deutschland, erstmals gründet. Die vor allem seit Her- 1977,zit.nach:Ders., Römisches mann Conring vordringende Recht, Naturrecht, nationales Auffassung von der lediglich ge- Recht, Goldbach 1998, 3–29. wohnheitsrechtlichen Adaption 43 Schröder (Fn. 7) 106; ebenso des römischen Rechts wurde Garré (Fn. 21) 153. Rg7/2005 Geltung 111

nur das Gesetz wird dabei mit Herrschaft und Staat in Verbindung gebracht. Hinzu kommt, dass bei dieser Gegenüberstellung auch der unterschiedliche Normbildungsmechanismus von Gesetz und Gewohnheitsrecht in den Vordergrund gerückt wird: Ein bewusster staatlicher Setzungsakt im Rahmen eines formellen Verfahrens bringt hier das Recht hervor, dort bildet es sich hingegen im Schoße der Gesellschaft durch langfristige Übung. Nur dem Gesetz liegt also ein intentionaler, auf die momentane Neubildung von Normen gerichteter Willensakt zugrunde, während sich das Gewohnheits- recht im Laufe der Zeit auf der Grundlage zahlreicher summierter Einzelakte bildet, die jeweils für sich betrachtet keineswegs auf die Neubildung von Recht ausgerichtet sind, sondern im Gegenteil gerade in der Überzeugung vorgenommen werden, damit bestimm- ten rechtlichen Anforderungen zu genügen. Puchta nimmt noch direkt auf die frühneuzeitliche Gegenüber- stellung von Gesetz und Gewohnheitsrecht Bezug, wenn nunmehr auch betont ablehnend: Bei ihm wird jetzt in aller Schärfe zwi- schen »Entstehungsarten« (»Rechtsquellen«) einerseits und »Er- scheinungsformen« (»äußere Darstellung des Rechts«) unterschie- den.44 Die Differenzierung zwischen Gesetz und Gewohnheitsrecht ist bei ihm keine Frage der »äußeren Darstellung« mehr, sondern ausschließlich eine der Normentstehung. Aber noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind die älteren Ansätze augenscheinlich so prä- sent, dass sich Puchta ganz betont davon absetzen zu müssen glaubt: »Früher« habe man die Unterscheidung zwischen geschrie- benem und ungeschriebenem Recht »fälschlich auf die Entstehung« des Rechts bezogen, indem man das geschriebene mit dem gesetz- lichen, das ungeschriebene hingegen mit dem Gewohnheitsrecht gleichgesetzt habe. »Dieser Sprachgebrauch« habe sich »auch nach der Beseitigung dieses Irrtums erhalten«.45 An Stelle dessen, was Puchta einen »Irrtum« nennt, nämlich die alte, formbezogene Unterscheidung zwischen Gesetz und Gewohnheit, tritt nun bei ihm eine Differenzierung, bei der das Formkriterium ausgeschieden ist, indem er zwischen drei »Entstehungsarten« unterscheidet, die ihm zugleich »Rechtsquelle« sind: die »rechtliche Überzeugung der Nation«, der Wille der »Obrigkeit« und schließlich die »wissen- schaftliche Tätigkeit«; erstere bringt das Gewohnheitsrecht hervor, die Obrigkeit münzt ihren Willen in den Gesetzen aus und die Wissenschaft entwickelt das Juristenrecht. Bei dieser Gliederung wird nicht mehr nach der Form fürstlicher Willensäußerung und

44 Vorlesungen über das heutige rö- mische Recht, Bd. 1, Leipzig 1854, 25. 45 Ebd. Recherche Thomas Simon 112

noch weniger nach der Form der Normüberlieferung, sondern nach Normquellen gefragt. Die Gegenüberstellung von populus und princeps als den Quellen von Gewohnheit und Gesetz war dem älteren Rechtsdenken zwar keineswegs fremd gewesen; es konnte in diesem Punkt direkt an entsprechende Unterscheidungen im Römischen Recht anknüpfen. Aber diese rechtsquellenbezogene Differenzierung war im Mittelalter und der frühen Neuzeit von formbezogenen Kriterien überlagert. Es war erst die historische Rechtsschule, die das Gewohnheitsrecht theoretisch neu fundiert hat, indem sie erstmals konsequent auf die Normentstehung statt auf Formkriterien abstellte.46

2.2 Observanz als Geltungskriterium So wenig sich Gesetz und Gewohnheitsrecht nach dem älteren Rechtsverständnis noch des 18. Jahrhunderts unter dem Willens- kriterium abschichten lassen, so gering war auch der Unterschied, was den Geltungsgrund der beiden Normtypen anbelangt. Auf dem Feld der frühneuzeitlichen Rechtsanwendungslehre47 lässt sich dies besonders gut beobachten. Sie hatte sich auf der Grundlage der oberitalienischen Statutentheorie entwickelt. Hintergrund ist der Umstand, dass sich die Gerichte in einer Zeit, in der es die ab- schließenden Kodifikationen noch nicht gab, regelmäßig mehreren potentiell anwendbaren Rechten gegenüber sahen – vergleichbar mit der Situation im modernen »Internationalen Privatrecht«, wo- bei sich die »Rechtsvielfalt« nicht wie heute aus dem Nebeneinan- der mehrerer nationaler Rechtsordnungen ergab, sondern aus der gleichzeitigen »Geltung« einer überstaatlichen Rechtsordnung ge- lehrter Provenienz, eines territorialen Rechts und unter Umständen sogar noch eines lokalen Rechts gewohnheitsrechtlicher Art. Die unermessliche »Rechtsvielfalt« (Oestmann) schloss einen Zugriff der Gerichte auf das Recht, wie er heute ganz selbstverständlich vorausgesetzt wird, aus, weil es an der Grundvoraussetzung hier- für, einer entsprechenden gerichtlichen Rechtskenntnis nämlich, fehlte. Die Gerichte konnten nicht alle partikularen Rechte kennen. Das galt für das Reichskammergericht ebenso wie für die in der frühen Neuzeit entstandenen territorialen Obergerichte. Denn vor den großen Kodifikationen gab es keine Kodizes, aus denen sich die Gesamtheit der in einem Territorium jeweils geltenden Normen zweifelsfrei hätte entnehmen lassen. Schon deshalb wäre der An-

46 Hierzu eingehend Hans-Peter Haferkamp, Georg Friedrich Puchta und die »Begriffsjuris- prudenz«, Frankfurt a. M. 2004, 141 ff. 47 Hierzu vor allem Wolfgang Wiegand, Studien zur Rechtsan- wendungslehre der Rezeptionszeit, Ebelsbach 1977; neuestens Oest- mann (Fn. 5). Rg7/2005 Geltung 113

spruch, die Gerichte müssten alle in Frage kommenden Rechte eines Territoriums oder gar des Reichs kennen, von vornherein unerfüllbar gewesen, völlig abgesehen von dem Umstand, dass der gelehrte Richter durch seine juristische Ausbildung in erster Linie auf das Gemeine Recht orientiert war. Die Justiz war demnach nicht wie heute auf ein ihr zwar gegenwärtiges, von ihr gekanntes und daher ex officio anzuwendendes, aber dafür exklusives System vonNormenfestgelegt,sonderngrundsätzlichjedem,auchdem ihm unbekannten Recht gegenüber anwendungsbereit, soweit eine Partei sich mit der Behauptung darauf berief, dass ein bestimmtes Recht in dem vor Gericht gebrachten Fall gelte. Ob dies der Fall war, hatten die Gerichte sodann zu prüfen. Das zentrale Problem der frühneuzeitlichen Rechtsanwen- dungslehre war das Verhältnis der partikularen Rechte zum Ius commune, insbesondere die Frage, inwieweit erstere letzteres ver- drängen konnten. Untrennbar damit verbunden war das prozes- suale Problem, inwieweit die Parteien bei der Feststellung der im Einzelfall jeweils geltenden Rechte mitzuwirken hatten: Mussten sie die Rechte, auf die sie sich mit ihren Ansprüchen und Ein- wendungen jeweils beriefen, selbst beibringen oder wurde das im Einzelfall anzuwendende Recht vom Gericht ex officio festge- stellt?48 Unter welchen Voraussetzungen konnte das Gericht zu der Feststellung kommen, dass einem bestimmten Recht an einem bestimmten Ort »Geltung« zukomme? Basis der Rechtsanwen- dungslehre war die allgemein bekannte Subsidiaritätsregel, nach der das Recht des kleineren gegenüber demjenigen des größeren Rechtskreises, das speziellere gegenüber dem allgemeinen Recht den Vorzug genießt. Danach gingen die partikularen Rechte dem Gemeinen Rechts vor – dies allerdings nur, soweit es sich beim Partikularrecht um »geltendes Recht« handelte. »Geltend« hieß dabei: Es musste sich um faktisch angewendetes, faktisch ge- brauchtes Recht handeln. Dass kontinuierliche Übung den Kern des Gewohnheitsrechts ausmache, mag den modernen Beobachter nicht weiter erstaunen. Auffallend ist es hingegen, dass dies für das »Gesetz« ebenso gelten soll: Johannes Meichsner bezieht sich in seinen Decisiones auf eine »vulgarem Theoricam, qua dicitur, Statutum non observatum non esse considerabile, neque ligare, quando non dicatur receptum vel observatum«.49 Auch beim »Statut« soll es also erst die Observanz sein, die ihm jene Geltungs- kraft verleiht, auf Grund der es die Normunterworfenen bindet:

48 Wiegand (Fn. 47) 75. 49 Meichsner (Fn. 4) Decisio 14, S. 483, Nr. 92. Recherche Thomas Simon 114

»Statutum enim, quando non est receptum in observantia, nullas habet vires.«50 »Geltung« ist danach bei der Gewohnheit wie beim Statut etwas mit der Zeit Wachsendes; wie ein allmählich dicker werdender Baumstamm nimmt die Kraft einer langfristig beob- achteten Norm um so mehr zu, je länger sie faktisch geübt wird: »Et tali quidem statuto eo major vis tribuenda esse videtur«, so erscheint es Meichsner, »cum et longissimo temporis intervallo munitum sit«.51 Es ist keinesfalls allein der Setzungsakt, der dem Statut seine bindende Kraft verleiht, sondern seine dauerhafte wiederkehrende Bestätigung durch faktisches Tun, das sich an der betreffenden Norm orientiert.52 Es waren solche »usualen« Geltungsvorstellungen, welche die »Durchsetzungschance« der Gesetze im vormodernen Staat dras- tisch beschränkten.53 Auch wenn die Urteile der älteren Literatur, die der Praxis durchgehend »geringe Achtung« vor den Partikular- gesetzen unterstellen wollten,54 zu pauschal gewesen sein mögen, so werden sie durch die vereinzelt immerhin vorliegenden Spe- zialuntersuchungen zum tatsächlichen »Inkrafttreten« bestimmter frühneuzeitlicher Gesetze bestätigt. Für das eingangs erwähnte »Trierer Landrecht« von 1668 liegt eine derartige Untersuchung vor. Die Implementierung dieses Landrechts stellt sich im Ergeb- nis als ein viele Jahrzehnte dauernder Rezeptionsvorgang dar, im Zuge dessen das Landrecht dann ganz langsam in die schriftlichen Dokumente streitiger wie nichtstreitiger Gerichtsbarkeit – Schrift- sätze, gerichtliche Vertragsfertigungen oder Hypothekenbücher – eingesickert ist.55 Dies geschah zuerst auf der Ebene der am frü- hesten professionalisierten Obergerichte56 und dauerte am längs- ten bei der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit der lokalen Gerichte.57 Durch ihre Koppelung an die Observanz war die »Geltung« eines Rechts mithin eine Tatsachenfrage. In der Topik, wie sie für die vormoderne Rechtskultur typisch war, wurde dieser Zusam- menhang zu griffigen Leitsätzen kondensiert: »consuetudo est facti et in facto consistit«, hieß es etwa,58 aber gleichermaßen galt: »statutum est facti et in facto consistit«.59 Das »factum«, um das es hier ging, war die Observanz des in Frage stehenden Rechts. Sie konnte gerichtsnotorisch sein, dann war das betreffende Recht vom Gericht ex officio anzuwenden; es bedurfte dann keiner weiteren Ermittlungen mehr zur Geltung dieses Rechts. Dies war beim Gemeinen Recht allgemein der Fall; seine Observanz war gerichtsnotorisch, so dass sie weder vom Gericht ermittelt und

50 Ebd. Dementsprechend eine bei 51 Meichsner (Fn. 4) Decisio 14, über Civil-Prozess seit Rezeption Oestmann (Fn. 5) 628, wieder- S. 469, Nr. 27. der fremden Rechte bis zum Aus- gegebene Sentenz des Reichskam- 52 Ex qua consuetudine subsecuta gang des 18. Jhds., in: Festgabe mergerichts: Ein Statut gelte nur, robur et vires confirmantur ipsius der Juristenfakultät zu München wenn es »acceptatum et usu ob- statuti, ut operetur scilicet, ubi für J. J. W. Planck, München 1887, servatum fuerit«. alias forte operari non potuisset; 273 ff., 275. ebd. 55 Wend (Fn. 3) 116 ff. 53 Franz Wieacker, Privatrechts- 56 Ebd., 123. geschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 57 Ebd., 120. Göttingen 1967, 190. 58 Wiegand (Fn. 47) 139 mit zahl- 54 So etwa Georg Kleinfeller, reichen Nachweisen. Deutsche Partikulargesetzgebung 59 Ebd., 134. Rg7/2005 Geltung 115

noch weniger von den Parteien bewiesen werden musste. Man kann sicherlich auch davon ausgehen, dass die jeweils für das ganze Territorium erstellten »Landrechte«, wie sie seit dem 16. Jahr- hundert in Gestalt der zahlreichen »Reformationen« erlassen wur- den, zwar nicht unbedingt beim Reichskammergericht, aber jeden- falls bei den territorialen Obergerichten bekannt waren,60 so dass sie es dort wie das Gemeine Recht zu einer gerichtlichen Anwen- dung ex officio bringen konnten.61 Für die landeseinheitlichen Statuten galt das gleiche, was auf Reichsebene für das Römische Recht galt: Sie waren, wie es schon die oberitalienische Statuten- lehre formuliert hatte, »ius commune in patria«, so dass sie von den Landesgerichten als das ius fori ex officio anzuwenden und ihre Observanz nicht zu beweisen war. War die Observanz eines Rechts hingegen nicht gerichtsnoto- risch, dann stellte sich die Frage der Rollenverteilung zwischen Gericht und Parteien: Müssen die Parteien solche Rechte in den Prozess einführen, damit sie überhaupt berücksichtigt werden, und von wem und wie ist die Observanz dieser Rechte zu beweisen? In der frühneuzeitlichen Prozesspraxis waren, wie man jetzt der ein- gehenden Untersuchung von Oestmann entnehmen kann, beide Formen der Rechtsermittlung anzutreffen: Soweit ein Recht nicht gerichtsnotorisch war, wurde es von einigen Gerichten teilweise von Amts wegen ermittelt; andere Gerichte hingegen erlegten es den Parteien auf, das Recht, auf das diese sich beriefen, beizu- bringen und seine Observanz zu beweisen.62 Beweisen konnte man dies nicht nur mit Zeugen und anderen geläufigen Beweismitteln, sondern auch dadurch, dass man auf eine entsprechende gericht- liche Praxis verweisen konnte, der das behauptete Recht zugrunde lag.63 Wie auch immer die gerichtliche Praxis im Einzelnen – eine konsequente Linie wird sich in diesem Punkt ohnehin kaum fest- stellen lassen – ausgesehen haben mag: Das rechtliche Geltungs- verständnis blieb jedenfalls weitgehend dem »usualen« Muster verhaftet. Denn die Gerichtsnotorietät eines bestimmten Rechts hatte nur Auswirkungen auf seine Beweisbedürftigkeit: Die Partei, die sich darauf berief, musste das Recht nicht ausdrücklich in das Verfahren einführen, weil in solchen Fällen der Grundsatz jura novit curia galt; damit entfiel auch die Beweisbedürftigkeit der Observanz. Dies ließ den Geltungsgrund aber unberührt: Es war auch in diesem Fall die Observanz, deren Beweis allerdings erleich- tert oder sogar erlassen war. Es blieb aber auch jetzt noch grund-

60 Klaus Luig, Universales Recht undpartikularesRechtinden »Meditationes ad Pandectas« von Augustin Leyser, in: Diritto co- mune e diritti locali nella storia dell’Europa. Atti del convegno di Varenna (12.–15. giugno 1979), Milano 1980, 27–48, 30 f. 61 Trusen (Fn. 13) 113; Oestmann (Fn. 5) 661. 62 Oestmann (Fn. 5) 601 f. 63 Trusen (Fn. 13) 113. Recherche Thomas Simon 116

sätzlich der Gegenbeweis möglich, dass das vom Gericht ex officio angewendete Recht nicht mehr in observantia oder niemals ad observantiam gekommen sei. Zwischen einem »Statut« und einer bloßen »Gewohnheit« gab es dabei nicht nur in der Definition, sondern auch was ihre Geltung anbelangt keine grundsätzlichen Unterschiede; beide konnten nur dann in die gerichtliche Entscheidung einfließen, wenn ihre »Ob- servanz« entweder gerichtsnotorisch war oder bewiesen wurde. Eine klare Unterscheidung zwischen »Statuten« und »Gewohnhei- ten« war nach der juristischen Sprachregelung noch des 18. Jahr- hunderts nicht möglich.64 Beide Begriffe gingen ineinander über;65 hierin zeigt sich erneut, wie schwach sich »Gesetz« und »Gewohn- heitsrecht« in der älteren, sozusagen »usual« gestimmten Rechts- kultur voneinander abhoben. Wie tiefsitzend dieses rechtliche »Observanzdenken« noch im 18. Jahrhundert war, wird selbst bei dem so genannten »Policey- recht« sichtbar: Das »Policeyrecht« war eine sprachliche Neu- schöpfung dieser Zeit. Im historischen Rückblick hat man in der begrifflichen Verbindung von »Policey« und »Recht« ein Anzei- chen dafür sehen wollen, dass die überkommene »Trennung von Polizei und Recht« im 18. Jahrhundert allmählich zu schwinden begann; »tradierte Rechtsanschauungen« wären damit aufgegeben worden, indem man nun auch dem policeylichen Gebot den Charakter des Rechts zuerkannt habe.66 Aber damit dürfte die Bedeutung dieses Rechtsgebietes doch bei weitem überschätzt worden sein. In der sprachlichen Annäherung der Policey an das Recht manifestiert sich keineswegs ein wesentlich verändertes Rechtsdenken. Im Gegenteil: Dieses »Policeyrecht« war in seinen Anfängen im 18. Jahrhundert nicht mehr als ein in neuartiger Weise zusammengestellter Ausschnitt aus dem »teutschen Privat- recht«, wie es seit dem 17. Jahrhundert emporkam. Auch dieses teutsche Privatrecht unterteilte sich in der üblichen Weise in das nichtschriftliche Gewohnheitsrecht und schriftliches Statutarrecht. Unter der neuen Bezeichnung des »Policeyrechts« findet sich nun ein Teil dieses Statutenrechts zusammengefasst. Die neuartige Stoffgruppierung unter neuem Titel dürfte vor allem von Seiten der Kameralwissenschaften initiiert worden sein. Diese Disziplin begann sich damals universitär zu etablieren;67 gleichzeitig ent- stand das Bedürfnis nach einer zusammenfassenden Darstellung der kameral- und policeywissenschaftlich relevanten Teile des 64 Oestmann (Fn. 5) 669: Dem mo- dernen Beobachter ist es »nahezu unmöglich«, die »Unterschiede zwischen consuetudo und statu- 66 Reiner Schulze, Polizeirecht im zistik und Policeywissenschaft tum herauszuarbeiten«. Ebenso 18. Jahrhundert, in: Recht, Ge- 1600–1800, München 1988, Garré (Fn. 21) 264 f. richt, Genossenschaft und Policey. 374 ff.; Klaus Hinrich Hen- 65 Bei Zedler, Universal-Lexikon, Studien zu Grundbegriffen der nings, Aspekte der Institutiona- Art. Statut, Statuten (Sp. 1825), germanistischen Rechtshistorie. lisierung der Ökonomie an den erscheint das »Statut« nahezu Symposion für Adalbert Erler, deutschen Universitäten, in: Die identisch mit der »Gewohnheit«: hg. von Gerhard Dilcher und Institutionalisierung der Natio- Außerhalb seiner engeren Bedeu- Bernhard Diestelkamp, Berlin nalökonomie an deutschen Uni- tung im Sinne von »Stadtrecht« 1986, 199–220, 215 f. versitäten. Zur Erinnerung an bedeutet das Wort Statut »insge- 67 Michael Stolleis,Geschichte Klaus Hinrich Hennings, hg. von mein die eingeführte Gewohnheit, des öffentlichen Rechts in Norbert Waszek, St. Katharinen das alte Herkommen …«. Deutschland, Bd. 1: Reichspubli- 1988, 42–54. Rg7/2005 Geltung 117

deutschen Privatrechts – so jedenfalls wird die Stoffauswahl von den Autoren solcher »Policeyrechte« begründet.68 Man darf sich jedenfalls von der neuartigen Wortbildung nicht zu der Vorstellung verleiten lassen, hier würden nun mit einem Mal den Unmassen policeylicher Bestimmungen die Weihen des Rechts zuteil. Die Auswahl der Policey-Normen und deren Aufnahme in das so genannte »Policey-Recht« erfolgte vielmehr nach dem nun sattsam bekannten Kriterium der Observanz. Was die gesetzten Normen der Policey zum »Recht« machte, war weder die Setzung selbst noch der Setzungswille der gesetzgebenden Instanz. Das Policey- recht bestand vielmehr nur aus solchen Normen, die eine ent- sprechende Observanz im Rücken hatten. Johann Bernhard Hoffer, Professor an der Universität Altdorf, gibt in seinen 1764 erschiene- nen »Beyträge(n) zum Policeyrecht der Teutschen«69 eine einge- hende Begründung des neuen Rechtsgebietes, wobei er sich auch zu der Frage äußert, was eigentlich den Gegenstand des neuen Rechts- faches ausmache: Für eine Darstellung des Policeyrechts, so Hoffer, wäre es gänzlich sinnlos, nun einfach »aus allen und jeden vor- handenen Gesetzen, Statuten und Verordnungen« ein System zu verfertigen. Denn dabei würden einfach »gedruckte Gesetze« ge- sammelt, ohne weiter zu prüfen, ob diese Gesetz überhaupt jemals »in Observanz gebracht oder, wo nicht ganz, doch zum Teil, durch ein neueres, aber unpubliziertes Gesetz oder durch ein widriges Herkommen gänzlich abgeschaffet worden«.70 Die Aufgabe des Juristen besteht danach darin, aus der Masse des gedruckten Gesetzesmaterials die tatsächlich zur Observanz gekommenen Normen herauszufiltern und sodann diese Normen zur Grundlage der policeyrechtlichen Darstellung zu machen. Es ist höchst auf- schlussreich, wie Hoffer diese »Observanzprüfung« beschreibt: Er vergleicht sie mit einer geographisch-politischen und historischen Beschreibung, also mit einer Darstellung tatsächlicher topographi- scher und politischer Gegebenheiten und historischer Abläufe. Auch darin zeigt sich, dass der Topos vom Statut als factum wesentlich mehr war als eine bloße Beweisregel: Der Topos bringt vielmehr einen Kern frühneuzeitlichen Rechtsdenkens zum Aus- druck, bei dem sich Ansätze beginnenden formellen Geltungs- denkens mit traditionellem Observanzdenken verbanden. Ein Sys- tem, bestehend nur aus den Buchstaben gedruckter Gesetze, wäre –umnocheinmalHofferzuWortkommenzulassen–vielzu unzuverlässig, denn es verhalte sich damit ebenso »wie mit den

68 Siehe hierzu etwa Friedrich zeirechts als wissenschaftliche Christoph Jonathan Fischer, Disziplin. Ein Beitrag zur Wissen- Lehrbegriff sämtlicher Kameral- schaftsgeschichte des öffentlichen und Polizeyrechte, Bd. 1, Frank- Rechts, Frankfurt a. M. 2000, furt an d. Oder 1785, 14. Er sieht 92 ff. den »Endzweck« seiner Darstel- 69 Johann Bernhard Hoffer, lung darin, »den Kameralisten alle Beyträge zum Policeyrecht der Rechtsmaterien beyzubringen, die Teutschen, Frankfurt und Leipzig sie dereinst bei ihren Geschäften 1764. und Verrichtungen brauchen«. 70 Hoffer (Fn. 69) 20. Hierzu auch Johann Christian Pauly, Die Entstehung des Poli- Recherche Thomas Simon 118

geographisch-politischen und historischen Beschreibungen von Teutschland, deren Ungewissheit und Unrichtigkeit« sich in dem Maße vermehre, je weiter der »Aufenthalt des Schriftstellers« von demjenigen Orte entfernt gewesen, welcher beschrieben wurde.71 Um eine Gegend, einen Staat und sein Policeyrecht zutreffend beschreiben zu können, muss man, so könnte man ergänzen, mit der Topographie, der Verfassung und dem tatsächlich geübten Recht des Landes vertraut sein, sonst erhält man eine Phantasie- projektion, aber kein zutreffendes Bild der politischen und recht- lichen Wirklichkeit. Erst das an der Wende zum 19. Jahrhundert erschienene große »Handbuch des teutschen Policeyrechts«72 von Günther Heinrich von Berg zeigt eine Verortung des Policeyrechts, die nun eine deutlich veränderte Einstellung zum staatlichen Gesetz verrät. Berg löst den Zusammenhang des Policeyrechts mit dem Privatrecht und formiert den policeyrechtlichen Stoff ganz neu: Das »eigentliche« Policeyrecht ist bei ihm der »Inbegriff der Rechte und Verbind- lichkeiten, welche durch die Policeygewalt bestimmt sind«.73 Bei Berg ist das Policeyrecht also dadurch definiert, dass die ihm zuzuzählenden Normen von einer so genannten »Policeygewalt« – sei es dem Reich, sei es den Reichskreisen oder den Territorien – »bestimmt« sind, wie er sich ausdrückt, dass sie also von einer normgebenden Instanz gesetzt sind. Die Setzung reicht ihm für die Annahme von »Recht« aus; das Kriterium der Observanz ist nunmehr ausgeschieden. Beruhen aber »robur« und »vires« eines Gesetzes auf dessen Observanz, dann muss umgekehrt auch dessen Wirksamkeit ent- fallen, sobald seine Observanz schwindet. Daraus wiederum folgt, dass sich im Verhältnis von Statut und Gewohnheitsrecht letzteres immer gegen jedes Statut durchsetzen musste, denn der Gewohn- heit kommt die Observanz schon per definitionem zu, nicht aber dem Statut, bei dem außer seiner faktischen Befolgung irgendein weiteres Kriterium – sei es seine Verkörperung in einem Text, sei es seine Äußerung in einem ausdrücklichen Befehl – hinzutreten muss, damit es sich überhaupt von der consuetudo unterscheiden lässt. Stand jedenfalls ein Statut mit der Observanz nicht mehr in Über- einstimmung, so war letztere die maßgebliche Normquelle. Auch diesen Gedanken finden wir bei Meichsner ausdrücklich formu- liert: »Quod in observantia et moribus utentium observatur tantae est efficaciae, quod tollat statutum in contrarium.«74 Daher war –

71 Ebd. 72 Günther Heinrich von Berg, Handbuch des teutschen Policey- rechts, Bd. 1–7, Hannover 1802– 1809. 73 Berg, Buch I, Abschn. 1, S. 27. 74 Meichsner (Fn. 4) Decisio 14, S. 467, Nr. 15. Rg7/2005 Geltung 119

wie es Jan Schröder formuliert hat – »gesetzesderogierendes Ge- wohnheitsrecht« bis in das 18. Jahrhundert hinein auch »kein besonderes Problem«.75 Die Gesetzesderogation durch »desuetu- do« ist notwendiger Bestandteil einer Rechtsordnung, die in der »Observanz« eine wesentliche Geltungs- bzw. Anwendungsvoraus- setzung von Gesetzen sieht. Erst das allmähliche Vordringen »for- mellen Geltungsdenkens« hat dem staatlichen Gesetz eine von der Observanz unabhängige Legitimierung verschafft, indem es den Formalakt der Publikation als eigenständigen, gewissermaßen »observanzunabhängigen« Geltungsgrund betrachtete. Von der Warte eines usualen Geltungsverständnisses aus bleibt hingegen jedes Gesetz fortwährend durch den gewohnheitsrecht- lichen Kontext, in dem es sich bewegt, in Frage gestellt. Nicht nur durch »Desuetudo« und Derogation, sondern auch durch seine allmähliche und daher auch kaum auffallende Angleichung an das Gewohnheitsrecht durch »Auslegung« im Stile der so genannten »interpretatio usualis«. Die beiden eingehenden Untersuchungen Schotts zur Interpretationslehre im Usus modernus zeigen mit aller Deutlichkeit, wie diese interpretatio usualis im Ergebnis auf eine gewohnheitsrechtliche Derogation der »interpretierten« Gesetze seitens der Justiz hinauslief: »Es war letztlich«, so Schott, »oft nur eine Stilfrage, ob man sich des Gewohnheitsrechts interpre- tatorisch-instrumental bediente oder ob man es als Rechtsquelle heranzog.«76 Vielfach lässt man sich daher auf die Unterscheidung zwischen bloßer »Auslegung« eines Gesetzes und dessen faktischer Derogation durch unmittelbaren Rückgriff auf das Gewohnheits- recht gar nicht ein: »Interpretatio usualis dat ius consuetudina- rium«77 heißt es ganz unbefangen, oder auch: »Interpretatio usu- alis instar consuetudinis valet.«78 Es gibt hier nicht einmal den Versuch einer Abgrenzung zwischen »Auslegung« und »Rechts- fortbildung« – eine Frage, welche die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert dann in fundamentaler Weise umtreiben wird. Es kommt hinzu, »dass die Praxis überwiegend der Usualinter- pretation den Vorrang gegenüber der Doktrinalinterpretation zu- billigte«,79 die »Deutung eines Gesetzes mit Hilfe der Gewohn- heit«80 also einer stärker textimmanenten Auslegung vorzog.81 Die »Interpretatio usualis« hat das Gesetzesrecht in einem Maße in die Disposition der Rechtsprechung gestellt, wie man sich dies von der Warte moderner Vorstellungen aus kaum mehr zu vergegenwär- tigen vermag; sie ist Ausdruck einer Rechtskultur, der die Unter-

75 Schröder (Fn. 7) 107. Dement- wicklung der Methodenlehre in nach Schott, Interpretatio usualis sprechend kommt Wend (Fn. 3) Rechtswissenschaft und Philoso- (Fn. 76) 27. 121, in seiner Untersuchung zur phie vom 16. bis zum 18. Jahr- 79 Clausdieter Schott, Gesetzes- tatsächlichen Durchsetzung des hundert, hg. von Jan Schröder, interpretation im Usus modernus, Trierer Landrechts zu dem Ergeb- Stuttgart 1998, 65–83, 72. in: ZNR 21 (1999) 45–84, 65. nis, »gelegentlich« sei es zur »Neu- 77 So noch Joachim Georg Darjes, 80 Ebd., 64. bildung örtlicher und überörtli- Institutiones iurisprudentiae pri- 81 Zur Interpretatio doctrinalis ein- cher Gerichtsgebräuche gegen das vatae Romano-Germanicae, Jena gehend ebd., 69 ff. Landrecht« gekommen; siehe auch 1749, 13. 125. 78 Schaumburg, Compendium Iuris 76 Clausdieter Schott,Die»In- Digestorum, Leipzig 1766; zit. terpretatio usualis«, in: Die Ent- Recherche Thomas Simon 120

scheidung von Normsetzung und -anwendung jedenfalls noch kein grundlegendes methodisches Problem war.82 Und sie war es des- halb auch, die am Ende des 18. Jahrhunderts in das Schussfeld der Kritik geriet, als die »Bindung des Richters an das Gesetz« zu einem hochrangigen rechtspolitischen Problem wurde.83

3 Langsames Vordringen formellen Geltungsdenkens Der Anschauungswandel hin zu einem formellen Geltungs- verständnis vollzog sich langsam in vielen kleinen Schritten im Laufe des 18. Jahrhunderts. Er lässt sich auf verschiedenen Ebenen anschaulich machen, manifestiert sich aber nicht in abrupten Argumentationsumstellungen, sondern vielmehr in allmählichen Akzentverschiebungen. Sie lassen erkennen, dass man die Geltung der Gesetze zunehmend vom Gesichtspunkt der Observanz abzu- koppeln und von demjenigen der Gesetzespublikation abhängig zu machen begann. Dies geschah allerdings nicht dadurch, dass man nun plötzlich direkt auf die Publikation der Gesetze als dem entscheidenden Geltungskriterium verwiesen hätte. Ohne die dog- matischen Voraussetzungen der Geltung von Gesetzen grundsätz- lich umzustellen, machten Lehre und Rechtsprechung die Geltung von Gesetzen in zunehmendem Maße dadurch »observanzunab- hängig«, dass sie in großem Umfang mit Beweislastumverteilungen argumentierten (3.1). Dadurch wurde es vor Gericht zunehmend schwierig, mit dem Einwand mangelnder Geltung eines Gesetzes gehört zu werden. Wird aber die Geltung eines Gesetzes vom Kriterium der Observanz unabhängig gemacht, muss jenes an Beständigkeit gegenüber seiner Infragestellung durch gewohnheits- rechtliche Derogation gewinnen (3.2).

3.1 Beweislastumverteilungen: Vermutung für die Observanz des ius scriptum Die allmähliche Annäherung der gerichtlichen Praxis an ein formelles Geltungsdenken spielt sich vorrangig auf der Ebene des Beweisrechts ab. Abrupten Umstellungen abhold, begann die Justiz im Laufe des 17. Jahrhunderts eine vorsichtige Beweislastumver- teilung zu betreiben, indem sie eine Reihe von Vermutungsregeln und Beweiserleichterungen zugunsten des Gesetzes, d. h. in erster Linie zugunsten der schriftlichen Partikulargesetzgebung, wirksam

82 Schott, Gesetzesinterpretation (Fn. 79) 60: »Ungeschiedenheit von Gesetzgebung und Rechtspre- chung«. 83 Dazu Schott, »Interpretatio usu- alis« (Fn. 76) 80 ff. sowie ders., Gesetzesinterpretation (Fn. 79) 68 f. Rg7/2005 Geltung 121

werden ließ. Die Argumentation auf der Ebene des Beweisrechts gab die Möglichkeit, die materiellrechtlichen Bewertungen zu- nächst unberührt zu lassen. Derartige Vermutungsregeln wurden an drei Punkten eingeführt: Zunächst verlor die Observanz als Geltungsvoraussetzung an Gewicht; sie wurde bei Gesetzen vermutet: »Observantia legis sem- per praesumitur.«84 Mit ihr wurde demjenigen die Beweislast auf- gebürdet, der sich gegenüber einem Anspruch aus einem bestimm- ten, in Schriftform vorliegenden Gesetz auf dessen Unwirksamkeit infolge mangelnder Observanz berief. Ihm oblag es nun, gegenüber diesem Gesetz nachzuweisen, dass es durch entgegenstehendes Ge- wohnheitsrecht »derogiert«, d. h. seine Geltung verloren habe.85 Und wer sich umgekehrt auf ein schriftlich fixiertes Recht berief, konnte damit im Ergebnis eine »Vermutung zugunsten der Obser- vanz des geschriebenen Rechts« für sich in Anspruch nehmen.86 Gleiches galt für ein weiteres »factum«, das als beweisbedürf- tige Tatsache betrachtet wurde, die als Voraussetzung der Geltung oder zumindest der bindenden, verpflichtenden Kraft eines Ge- setzes betrachtet wurde: die Publikation oder Promulgation des Gesetzes; die Ausdrücke werden im 18. Jahrhundert noch synonym verwendet für die Bekanntmachung eines Gesetzes. Noch im 18. Jahrhundert wurde der Beweis hierfür vielfach demjenigen aufgebürdet, der sich auf das in Frage stehende Gesetz berief; der Beweisführende hatte dabei nachzuweisen, dass das betreffende Gesetz »in civitate aut pago«, in dem der Prozessgegner seinen Wohnsitz hatte, öffentlich angeschlagen oder ausgerufen wurde.87 Auch in diesem Punkt suchte man die Anwendungschance der neu erlassenen Gesetze dadurch zu erhöhen, dass man deren Promul- gation zumindest insoweit vermutete, als es sich um schriftlich niedergelegte Gesetze handelte: Konnte eine Partei etwa den Ab- druck oder die Abschrift eines Gesetzes vorlegen, auf dessen Gel- tung sie sich berief, dann wurde ihr vom Gericht der Beweis für die tatsächlich erfolgte Promulgation des Gesetzes abgenommen.88 Das eröffnete den Gesetzen um so höhere gerichtliche Anwen- dungschancen, je besser sie sozusagen »dokumentiert« waren – dokumentiert etwa in Form von Abschriften oder Drucken oder gar durch Aufnahme in eine gedruckte Sammlung. Freilich blieb dies bis an das Ende des 18. Jahrhunderts eine umstrittene Frage; noch Glück führt in seinen Pandekten zu dieser Frage aus, die »meisten Rechtsgelehrten« nähmen bei partikularen Landesgesetzen die

84 Lauterbach (Fn. 24) Lib. I, 87 Siehe etwa Augustin Leyser, 88 So auch die Meinung Leysers, Tit. III, Nr. (7) S. 28. Meditationes ad pandecteas, ebd.:»Quiexlegenova agit, 85 Hierzu nochmals Lauterbach, Bd. 1, Leipzig 1772, Spec. 7, publicationem ejus probare non ebd.: Observantia legis semper Ziff. II, S. 60, unter Bezugnahme debet, cum haec facta praesuma- praesumitur: Quia haec semper auf Mevius: »Sunt aliqui, qui ne- tur.« praesumitur, ita ut id neganti in- cesse putant, ut publicatio haec in cumbat probandi onus, quare so- singulis locis fiat, atque adeo ab lus non usus non minuit eo, qui in lege se fundat, deside- autoritatem legis, sed necesse est, rant, ut probet, illam ea in civitate ut contrarius usus doceatur. aut pago, ubi aversarius ipsius vi- 86 Oestmann (Fn. 5) 419, 629 f. vit, affixam aut per praeconem publice proclamatam fuisse.« Recherche Thomas Simon 122

Regel an, dass der sich auf ein Gesetz Berufende dessen Bekannt- machung beweisen müsse, wenn der Gegner sie leugne.89 Dennoch ist die Grundtendenz nicht zu verkennen, dass die genannten Beweisregeln dem ius scriptum zunehmend bessere gerichtliche Anwendungschancen vermittelten. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass sich dieser rechtliche Bewertungswandel zunächst ausschließlich auf der Ebene des Beweisrechts abspielte. Er ließ das usuale Geltungsdenken im Kern daher noch unberührt, weil die beweisrechtliche Argumentation nach wie vor auf der Vorstellung beruhte, dass die Observanz eines Statuts ein factum darstelle, das jenem erst Geltung verleihe. Lediglich die Anforderungen an die Beweisbedürftigkeit dieses factums änderten sich. Nach wie vor dachte und argumentiert man in der Kategorie einer Beweisregel, welche die Möglichkeit des Gegenbeweises offen ließ – des Be- weises etwa, dass ein bestimmtes Gesetz am Wohnort des Beklagten wegen entgegenstehenden Gewohnheitsrechts niemals zur Obser- vanz gekommen und daher auch niemals Geltung erlangt hat.90 Das ius scriptum lässt sich zwar keineswegs mit dem »gesetzten Recht« gleichsetzen, aber beide überschneiden sich mit ihren Bedeutungsbereichen zu großen Teilen. Denn bis in das 18. Jahr- hundert hinein wurde der Unterschied zwischen Gesetz und Ge- wohnheit zumindest auch über das Kriterium der Überlieferungs- form definiert,91 so dass die zunehmende beweisrechtliche Privi- legierung des »ius scriptum«imErgebnisaucheinesolchedes »Gesetzes« war. Der Unterscheidung zwischen Gesetz und Ge- wohnheitsrecht kam daher steigende prozessrechtliche Bedeutung zu: Da es sich bei den »Gesetzen« in der Regel um ius scriptum handelte, wurden sie von den Gerichten um so eher ex officio angewendet, so dass die Parteien geringeren Beweisanforderungen unterlagen, soweit sie sich auf ein »Gesetz« stützten. Die steigende Autorität des Gesetzes in Form seiner verbesserten gerichtlichen Anwendungschancen war also durch seine häufig gegebene Ver- körperung in einem Text bedingt. Es war in erster Linie die Schriftform und nicht der Legislativakt einer »gesetzgebenden Gewalt«, die demjenigen, der sich auf dieses Recht berief, die Beweispflicht für dessen Observanz abnahm. Es ist deshalb auch fraglich, ob man davon sprechen kann, die frühneuzeitliche Justiz habe sich von einer Vermutung leiten lassen »für die Anwendbar- keit aller Rechtssätze, die sich aus der gesetzgebenden Gewalt des absoluten Fürsten herleiten ließen«.92 Die Quellen, die hierbei

89 Christian Friedrich Glück, 90 Die Aussage, das geschriebene men, aber ebensowenig deren Ausführliche Erläuterung der Partikularrecht habe durch die Nichtobservanz oder ein entge- PandectennachHellfeld,Bd.1, Beweislastumverteilungen in der genstehendes Gewohnheitsrecht. Erlangen 1790, 129 ff.; Glück Rechtspraxis »gesetzesgleichen Die Geltung des Gesetzes ist dem selbst schließt sich allerdings Charakter« erlangt (Oestmann, modernen Rechtsverständnis nach Leyser an. 649), scheint mir deshalb nicht von solchen Faktizitäten gänzlich ganz treffend. Denn das moderne unabhängig, sieht man vom Fak- Gesetzesverständnis basiert auf tum seiner formell einwandfreien derVorstellung,dassesinder Publikation ab. Frage der Gesetzesgeltung nichts 91 Oben 2.2. mehr zu »beweisen« gibt – weder 92 Luig, Universales Recht (Fn. 60) die Observanz der Gesetzesnor- 43. Rg7/2005 Geltung 123

herangezogen werden, deuten in eine andere Richtung: Leyser sagt in seinen »Meditationes« wörtlich: »Perhibent omnes, jus scriptum probandum non esse.«93 Der Akzent dieser Regel liegt also weniger darauf, dass irgendein Fürst seinen Willen in Form eines Gesetzes kundgetan hat, sondern auf dem Umstand der Schriftform des Rechts, über dessen Anwendbarkeit entschieden werden soll.94 Bei der Regel »jus scriptum probandum non esse« kam es nicht darauf an, ob die zur Anwendung stehende Norm eine »gesetzliche« oder nur eine gewohnheitsrechtliche Norm war; maßgeblich war die Schriftform. Ebenso wenig kam es dabei auf die Unterscheidung zwischen statutum und consuetudo an. Da »kein einheitlicher Sprachge- brauch für den Statutenbegriff existierte«,95 vielmehr beide Be- griffe bis zur Austauschbarkeit ineinander übergingen, war die sichere juristische Qualifizierung einer Norm als »Statut« bzw. »Gewohnheitsrecht« undurchführbar, so dass man davon auch keine Rechtsanwendungsregel abhängig machen konnte. Statuta und consuetudines waren daher in der frühneuzeitlichen Rechts- anwendungslehre zu einem beweisbedürftigen Komplex zusam- mengefasst; sie bildeten zusammen eine Einheit, die als Ganzes dem Gemeinen Recht als Widerpart gegenübergestellt wurde.96 Dass Beweisaufnahmen über consuetudines tatsächlich wesentlich häufiger vorgekommen sind als solche über Statuten,97 ändert nichts an deren grundsätzlicher prozessualer Gleichstellung. Die unterschiedliche Beweisbedürftigkeit lässt sich unschwer mit dem stärkeren Verschriftlichungsgrad der statuta erklären: Im 18. Jahr- hundert dürfte ein Großteil dessen, was landläufig als »Statuten« bezeichnet wurde, in schriftlicher Form vorgelegen haben. Die Beweiserleichterungen zugunsten des geschriebenen Rechts wirk- ten deshalb auch zugunsten der statuta, indem sie deren Beweis- bedürftigkeit verringerten. Demzufolge musste im Bereich der statuta dann auch seltener Beweis erhoben werden.98 Die beweisrechtlichen Umstellungen, wie sie eben beschrieben wurden, bewirkten im Ergebnis, dass die Geltung der Gesetze in zunehmendem Maße von jeglichen faktischen Voraussetzungen abgekoppelt wurde. Einziges »Faktum«, von dem die Anwendbar- keit eines Gesetzes in der Moderne noch abhängig bleibt, ist die »formelle« Publikation, d. h. ein Publikationsakt, der seine Wirk- samkeit bereits dann entfaltet, wenn dabei ein bestimmtes Ensem- ble von Form- und Verfahrensvorschriften eingehalten wurde. Auf

93 Zitat nach Luig (Fn. 60) ebd. Rechtserkenntnisquelle, also der 95 Oestmann (Fn. 5) 35 f. 94 Luig deshalb auch zutreffend Überlieferungsart der anzuwen- 96 Wiegand (Fn. 47) 15, 178. (ebd., 45): »Bei der Legitimation denden Rechtsnorm« ab. Die 97 So die Beobachtung von Oest- von Geltungsgrund und Geltungs- »Trennlinie von gemeinem und mann (Fn. 5) 629. rang des römischen Rechts … lag besonderem Recht« (ebd.) folgte 98 Es ist deshalb auch nicht recht der Ton demgemäß sehr stark auf allerdings zu Beginn der Neuzeit ersichtlich, warum die These von dem Worte scripta«. Und ebd., 44: noch weitgehend der Unterschei- Wiegand (Fn. 47) 178 f., Statuten »Vermutung für alles geschriebene dung zwischen jus scriptum und und Gewohnheiten seien prozes- Recht, gleich welchen Rechtskrei- non scriptum, denn das Partiku- sual gleichgestellt gewesen, »brü- ses«. Ebenso Oestmann (Fn. 5) larrecht wies am Ende des Mittel- chig« geworden sein soll, wie 659: Die Probleme der Rechts- alters noch einen geringen Ver- Oestmann (Fn. 5) 635 meint. anwendung hingen »von der schriftlichungsgrad auf. Recherche Thomas Simon 124

der faktischen Ebene kann heute eine Norm nur noch mit der Begründung angegriffen werden, sie sei nicht in gehöriger Form im einschlägigen Gesetzblatt veröffentlicht worden. Der letzte Schritt zu dieser von nahezu allen faktischen Geltungserfordernissen emanzipierten Form der Gesetzesgeltung wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit der Umstellung vom sogenannten »materiel- len« zum »formellen« Publikationsprinzip getan. Im ersteren Fall geht der Gesetzgeber grundsätzlich davon aus, »dass der Gesetzes- befehl nur denjenigen bindet, dem er bekannt gemacht ist«.99 Tatsächliche Kenntniserlangung seitens der Normadressaten ist hier noch faktische Geltungsvoraussetzung eines publizierten Ge- setzes. Dies war bis in das 18. Jahrhundert unbestrittenes Mindest- erfordernis, um die verpflichtende Wirkung eines Gesetzes gegen- über einem davon Betroffenen geltend machen zu können: »Lex regulariter obligat a tempore scientiae.«100 Der frühneuzeitliche Staat hat daher auch ganz massive Bemühungen entfaltet, seine Gesetze tatsächlich bekannt zu machen und zu verbreiten, weil nicht nur die Implementierung allgemein, sondern insbesondere auch die gerichtlichen Anwendungschancen der Gesetze von deren Verbreitungsgrad und dem tatsächlichen Kenntnisstand der Norm- adressaten abhingen. Bei einer nur teilalphabetisierten Bevölke- rung machte dies nicht zuletzt auch die ständige Wiederholung der wichtigsten Gesetze erforderlich. Das auffallende Phänomen regelmäßig wiederholter Gesetzesverkündungen darf also keines- falls nur als Indiz mangelhafter Implementierung der Gesetze ver- standen werden, die für die frühe Neuzeit angeblich typisch ge- wesen sein soll,101 sondern war die notwendige Konsequenz eines an die tatsächliche Kenntnis der Normadressaten gekoppelten Geltungsverständnisses. Mit dem Wechsel zum »formellen« Publi- kationsprinzip, wie er mit der Begründung der modernen Gesetz- und Verordnungsblätter möglich wurde, entfiel auch dieses letzte faktische Geltungserfordernis.102

3.2 Stärkung des Gesetzes gegenüber dem Gewohnheitsrecht: An contraria consuetudo legem abroget? Je weitergehend die Geltung eines Gesetzes vom Faktum seiner Observanz unabhängig gemacht wird, desto stärker muss auch die Bestandskraft des Gesetzes gegenüber dem Gewohnheitsrecht sein. Bei einem observanzabhängigen, usualen Geltungsverständnis

99 Armin Wolf, Publikation von 102 Dazu eingehend Andreas Medien des 18. – 20. Jahrhun- Gesetzen,in:HRG4,Sp.85–92, Schwennicke, Die Entstehung derts, hg. von Michael Stolleis, 90. der Einleitung des Preußischen Frankfurt a. M. 1999, 67–105, 100 Lauterbach (Fn. 24) Lib. I., Allgemeinen Landrechts von 103; Lothar Schilling, Policey Tit. III, (15), S. 29. 1794, Frankfurt a. M. 1993, und Druckmedien im 18. Jahr- 101 So vor allem Jürgen Schlum- 189 ff.; Stefan Ruppert,Die hundert. Das Intelligenzblatt als bohm, Gesetze, die nicht durch- Entstehung der Gesetz- und Ver- Medium policeylicher Kommuni- gesetzt werden – ein Struktur- ordnungsblätter. Die Bekanntma- kation, in: Policey und frühneu- merkmal des frühneuzeitlichen chung von Gesetzen im Übergang zeitliche Gesellschaft, hg. von Staates?, in: Geschichte und Ge- vom Spätabsolutismus zum Früh- Karl Härter,Frankfurta.M. sellschaft 23 (1997) 647–663. konstitutionalismus, in: Juristi- 2000, 413–452, 428–435. sche Zeitschriften. Die neuen Rg7/2005 Geltung 125

trägt jedes Gesetz den Keim seiner alsbaldigen gewohnheitsrecht- lichen Derogation schon in sich: Jede entgegenstehende Gewohn- heit untergräbt die Observanz des Gesetzes und damit seine »Gel- tung«. In Entsprechung zu den eben behandelten beweisrechtlichen Verschiebungen lässt der Diskurs über das Verhältnis der Gesetze zum Gewohnheitsrecht erkennen, wie sich die rechtliche Argumen- tationskunst zunehmend um die Beständigkeit der Gesetze gegen- über ihrer gewohnheitsrechtlichen Derogation bemühte. Ausgangspunkt dieser Diskussion um Gesetz und Gewohn- heitsrecht war die grundsätzliche Gleichbehandlung beider Norm- typen. Dadurch, dass beide auf den fürstlichen Willen als den allein kompetenten Gesetzgeber zurückgeführt wurden, war eine solche Gleichbehandlung auch politisch opportun, weil der Primat des Gesetzgebers unangetastet blieb: Auch das Gewohnheitsrecht war letztlich »Gesetz«, nur eben stillschweigend erlassenes Gesetz. Dieser Grundansatz machte es auch möglich, die Konkurrenz von Gesetz und Gewohnheitsrecht nach der bekannten Regel lex posterior derogat legi priori aufzulösen. In dem bekannten Werk von Lauterbach lässt sich dies verfolgen: Unter der Frage »an contraria consuetudo legem abroget?« behandelt er die Kon- kurrenz von Gesetz und Gewohnheitsrecht, die er unter zeitlichem Aspekt auflöst. Maßgebliches Kriterium ist der Zeitpunkt des Gesetzgebungsaktes: Eine »lex noviter lata« gehe einer »consue- tudo praesens« immer vor. Ein neu erlassenes Gesetz soll sich also gegenüber einem zum Zeitpunkt des Gesetzeserlasses schon be- stehenden, und daher älteren, Gewohnheitsrecht durchsetzen. »Unde sequitur«, so schließt Lauterbach, »consuetudinem cedere legi posteriori.«103 Stellt man freilich in dieser Weise das Gewohn- heitsrecht mit dem Gesetz gleich, dann ist der umgekehrte Schluss gleichfalls naheliegend, dass nämlich eine »consuetudo posterio- ris« ihrerseits durchaus in der Lage ist, ein zuvor ergangenes Gesetz zu derogieren. Und in der Tat ist diese Konsequenz für Lauterbach vor allem deshalb unumgänglich, weil er Gesetz und Gewohnheits- recht konsequent gleich behandelt: Ein Gesetz kann durch nach- träglich gebildetes Gewohnheitsrecht derogiert werden, weil dies umgekehrt ein späteres Gesetz gegenüber älterem Gewohnheits- recht auch kann.104 So blieb das mit absolutistischem Politikverständnis nur schwer vereinbare Phänomen, dass ein vom Fürst erlassenes Gesetz von den Untertanen durch konsequente Nichtbefolgung einfach

103 Lauterbach (Fn. 24) Lib. I, daher hebet sie das vorige Ge- Tit. III, (24), S. 30. setz auf [bzw.] erkläret dasselbe.« 104 Ebd.: »Consuetudinem posterio- rem posse legem anteriorem abro- gare, quia et lex posterior idem potest.« Der gleiche Grundsatz findet sich in popularisierter Form im »Gazophilacium Politico-Iuri- dicum« (Fn. 31) 173: »Es hat aber die Gewohnheit eine solche Kraft, dergleichen ein neues Gesetz hat, Recherche Thomas Simon 126

außer Kraft gesetzt und »in desuetudo« gebracht werden konnte, indem sich eine vom Gesetz abweichende Gewohnheit heraus- bildet. Diesen der auctoritas des fürstlichen Gesetzgebers abträg- lichen Befund suchte die juristische Argumentation jetzt mit ver- schiedenen Kunstgriffen erträglich zu machen, die einerseits die »vis« des Gesetzes gegenüber den Gewohnheiten betonten, ohne dabei andererseits das usuale Geltungsverständnis des Gesetzes im Grundsätzlichen aufzugeben. So wird Lauterbach einerseits nicht müde, immer wieder den Vorrang des Gesetzes vor dem Gewohn- heitsrecht herauszustellen: Dem im Gesetz ausdrücklich geäußerten Willen des Landesherrn muss gegenüber der nur stillschweigend in der Gewohnheit niedergelegten voluntas principis die größere »vis« zukommen, denn »expressi major vis fit, quam taciti«, so dass dem Gesetz gegenüber der Gewohnheit auch die größere »auctoritas« zukommen müsse.105 Dies ändert aber andererseits nichts an dem für alle Autoren dieser Zeit anscheinend unumgäng- lichen Ergebnis, dass eine consuetudo »post legem latam inducta« das zuvor ergangene Gesetz ohne weiteres derogieren könne. Mit den obligatorischen Gehorsamkeitsbekundungen gegenüber dem fürstlichen Willen wurde dies sodann dadurch wieder in Überein- stimmung gebracht, dass man die Entstehung des gesetzesdero- gierenden Gewohnheitsrechts als einen von der stillschweigenden Duldung des Landesherrn getragenen Vorgang betrachtete, der mit Hilfe des Willensargumentes an einen förmlichen Gesetzgebungs- akt angeglichen wurde: Man erklärte die Gewohnheit als vom Princeps selbst »modo patiendo« eingeführt; damit wurde auch die gewohnheitsrechtliche Derogation des Gesetzes mit dem fürstli- chen Willen vereinbar.106 Aber hiermit gab man sich augenscheinlich nicht zufrieden; die Lehre entwickelte nun weitere Unterscheidungen, die das aller- orten faktisch anzutreffende Phänomen gewohnheitsrechtlicher Derogation der Gesetze mit dem Dogma vom fürstlichen Willen als der alleinigen Quelle des positiven jus humanum in Überein- stimmung zu bringen versuchten. Zu diesen aus heutiger Sicht recht gekünstelt wirkenden Differenzierungen zählt etwa die Unterschei- dung zwischen »tollere legem«und»vincere legem«: Ersteres meint die formelle Gesetzesaufhebung, die peinlichst vom nackten Ge- setzesverstoß (»vincere legem«) unterschieden wird. Letzterer darf unter keinen Umständen durchgehen, denn er untergräbt die Auto- rität des Gesetzes (»involvit autoritatem legis«).107 Die Gesetzes-

105 Lauterbach (Fn. 24) Lib. I, 107 So etwa im »Manuale Juris« Tit. III, (24), S. 30: »Quamvis legi (Fn. 32) Stw. Lex, § 33, S. 732: noviter latae non possit opponi »Differentia omnino est inter vin- consuetudo praesens, cum expres- cere legem et abrogare legem. si major vis fit, quam taciti atque Vincere legem involvit autoritatem ita legis major auctoritas sit, quam legis: Sic consuetudo non vincit consuetudinis …« legem, id est, non est majoris au- 106 Ebd.: »… tamen post legem latam toritatis, quam lex, vel non habet inducta consuetudo legem vincit, majorem vim, quam ipsa lex. Ab- quia Princeps patiendo induci rogare legem est effectus legis consuetudinem, obligationem Le- tollere.« gis praecedentis relaxare videtur.« Rg7/2005 Geltung 127

derogation durch Neubildung abweichenden Gewohnheitsrechts stelle indessen keinen Gesetzesverstoß (»consuetudo non vincit legem«108), sondern nur eine besondere Form formeller Aufhebung des Gesetzes dar; sie sei bloßer »effectus legis tollere« und lasse demgemäß die Autorität des Gesetzes unangetastet. Wenn Lauter- bach an anderer Stelle doch erklärt, »post legem latam inducta consuetudo legem vincit«, dann wird dies mit der Erläuterung sogleich wieder zurückgenommen, dass dies keinesfalls an einer prinzipiell stärkeren Durchsetzungskraft der Gewohnheit, sondern allein daran läge, dass sich die consuetudo zeitlich nach dem Erlass des derogierten Gesetzes gebildet habe.109 Ebenso wenig soll es nunmehr möglich sein, ein Gesetz da- durch aus den Angeln zu heben, dass man auf dessen »seltene« oder durch längere Zeiträume unterbrochene Anwendung ver- weist: Ist ein Gesetz irgendwann erst einmal in Observanz, dann bleibt es auch in Observanz und ist deshalb auch für geltend zu erachten: »Lex enim, quae semel coepit observari, semper loqui praesumitur, et in viridi esse observantia, et quidem in omnibus Imperii terris tantisper valere existimanda.« Freilich war auch dies kein eherner Grundsatz, denn er sollte augenscheinlich nur aus- schließen, dass die Gerichte vorschnell (»statim«) auf die Abroga- tion eines Gesetzes schließen;110 der »Abgang« eines Gesetzes durch »implicitus usus contrarius« sollte damit keinesfalls generell ausgeschlossen werden. Die Argumentation folgt dabei einem Muster, wie es bereits bei der generellen Legitimierung des Gewohnheitsrechts begegnet: Wie bei der Figur des tacitus consensus, mit der das gesamte Ge- wohnheitsrecht mit dem Willen der gesetzgebenden Macht legi- timiert werden kann, werden auch hier auf allgemeiner Ebene politisch opportune Formeln ausgeprägt, die den Vorrang der Ge- setzgebung vor dem Gewohnheitsrecht herausstellen, ohne aber letzterem die Derogationsfähigkeit gegenüber dem Gesetz generell abzusprechen. So oszilliert die Dogmatik in höchst flexibler Weise zwischen formellem und usualem Geltungsverständnis:111 Man wendet sich betont gegen eine leichtfertige »abolitio legum« durch allzu schnelle Annahme einer Gesetzesderogation,112 lässt eine solche dann aber mit der Einschränkung zu, dass sie mit einer 113 Freiheit« zugekommen. Die Ten- »intentio specialis jus novum introducendi« verbunden ist. denz zu einer gewissen Beliebigkeit Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die Geltung der Gesetze habe die richterliche Entschei- in ersten Anfängen von der Observanz unabhängig gemacht wur- dungsfindung deshalb »für die Parteien häufig unvorhersehbar« gemacht; ebd., 602. 112 So Lüdeking u. Starcke (Fn. 20) 108 Ebd. 110 Lüdeking u. Starcke (Fn. 20) 16, S. 18, Zeile 10, unter Verweis auf 109 Lauterbach (Fn. 24) Lib. I, § 19: »Nec obstat, quod lex in Lyncker, De Gravaminibus ex- Tit. III, (24) S. 30: »… ita ut con- judiciis raro observetur, quia trajudicialibus: »Et merito ergo suetudo legem vincat, ut posterior exinde ad ejus abrogationem ille eos increpat, qui in asserenda priorem cum obligatione, non ta- non statim potest concludi.« legum abolitione ideo facile sunt.« men in se vincat, ratione obliga- 111 So auch Oestmann (Fn. 5) 681, in Das wendet sich gegen den kom- tionis, quasi fortius obliget.« Bezug auf die gemeinrechtliche promißlosen Grundsatz, »nullam Ebenso das Manuale Juris Rechtsanwendungslehre: Den Ge- legem positivam esse dicat, quam- (Fn. 32): »Abrogatio legis non est richten sei in der Frage, ob römi- vis derogantem futurae consuetu- desumenda ab autoritate majori, sches, territoriales oder lokales dini, quae hac ipsa tamen tolli non sed a tempore« (732). Recht anzuwenden sei, »ein hohes posset«. Maß an Unabhängigkeit und 113 Ebd., S. 19 § 20. Recherche Thomas Simon 128

de, indem die Anforderungen an die Gewohnheiten, die jenes zu derogieren in der Lage wären, allmählich hoch gesetzt werden.114 Vor diesem Hintergrund ist die feine Unterscheidung zwischen desuetudo und consuetudo zu sehen: Verschiedentlich wird die Auffassung vertreten, ein Gesetz könne zwar durch spätere con- suetudo,nichtaberdurchbloßedesuetudo derogiert werden.115 Desuetudo, so die dahinter stehende Vorstellung, ist der bloße Nichtgebrauch eines Gesetzes; er soll die Geltungskraft eines Ge- setzes nicht beeinträchtigen können. Könnte er es, so das Argument hierfür, dann wäre die Geltung der Gesetze im Ergebnis vom Wissen und der Erfahrung der Advokaten abhängig, deren Kennt- nisstand der Gesetzgebung dann darüber entscheide, ob ein Gesetz angewendet und damit ad observantiam gebracht werde. Gesetzes- derogation solle vielmehr nur dann eintreten, wenn sich dem Gesetz entgegen eine consuetudo contraria gebildet hat.116 Eine solche consuetudo contraria nimmt etwa Carpzov dann an, wenn nach dem Erlass eines Gesetzes nachweislich Fälle aufgetreten sind, dieansichnachdiesemGesetzhätten entschieden werden sollen, tatsächlich aber ganz bewusst contra legem entschieden wurden. Erst mit der Begründung eines solchen »implicitus usus«117 ist danach die Grenze des bloßen non-usus überschritten, denn erst jetzt bilden sich neue Normen auf gewohnheitsrechtlicher Basis, die dann ihrerseits das Gesetz zu derogieren vermögen.118 So wurde die Durchsetzungskraft des Gewohnheitsrechts ge- genüber dem Gesetz in kleinen Nuancen zurückgenommen; in ihrer Gesamtheit haben solche Umakzentuierungen die Gewichtung allmählich zugunsten des Gesetzes verschoben. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einer kritischeren Einstellung zum tacitus consensus des Landesherrn als dem zentralen Legitimationstopos für das gesetzes- derogierende Gewohnheitsrecht: Den stillschweigenden Konsens begann man nun doch näher unter die Lupe zu nehmen. Einen tacitus consensus superioris solle man, so lautet nunmehr die Ein- schränkung, nur noch dann annehmen dürfen, wenn es sich dabei um einen offensichtlich feststellbaren »Spezialkonsens« handelte. Anders als beim »Generalkonsens«, der im Grunde eine reine Fiktion war, soll der Gesetzgeber das Gewohnheitsrecht in diesem Fall tatsächlich in seinen Willen aufgenommen haben; das setzt natürlich voraus, dass er von dem betreffenden Gewohnheitsrecht, das sein Gesetz zu derogieren drohte, zumindest Kenntnis erlangt hat. So suchte man die Gesetze vorsichtig vor gewohnheitsrecht-

114 Garré (Fn. 21) 103: »Nicht mehr heitsrechts lag den Juristen am 117 Ebd.: »Praeter non-usum vero die Rechtfertigung des Gewohn- Herzen, sondern vielmehr seine contrarius quoque usus requiri- Einschränkung.« tur.« 115 Lüdeking u. Starcke (Fn. 20) 18: 118 »Lex solo non-usu ne abrogant, »Desuetudo sola, si contraria sed necesse est, usui isti admixtum consuetudo non fuerit probata, esse actum legi contrarium, ita ut legem non tollit.« casus evenerit, quo secundum le- 116 Ebd., 16, § 19: »Ex non-usu legis gem terminari causa potuisset, sed consuetudo contraria non induci- contra legem decisa« (Benedict tur … Legis namque vigor per so- Carpzov, Responsa Juris Electo- lum non-usum non tollitur …« ralia, zit. nach Lüdeking u. Starcke [Fn. 20] S. 17, § 19). Rg7/2005 Geltung 129

licher Derogation zu sichern. Eine ähnliche Bedeutung haben die Derogationsklauseln,119 mit denen die frühneuzeitlichen Gesetz- geber ihre Normen gegen die Korrosion seitens des Gewohnheits- rechts zu imprägnieren suchten, indem sie jenes für kraftlos er- klärten, soweit es einem Gesetz, das mit einer solchen Klausel versehen war, widersprach. Auch in diesem Punkt zeigt sich, dass die Rechtswissenschaft einen solchen Befehl seitens des Gesetzge- bers nicht umstandslos und ohne Einschränkung, sondern nur in abgeschwächter Form übernahm, die Ausnahmen zuließ. Die De- rogationsklauseln hatten sich gegen die Vorstellung durchzusetzen, dass sich jedenfalls eine consuetudo posterior gegenüber jedem Gesetz durchsetzen könne, und zwar auch dann, wenn es mit einer Derogationsklausel verstärkt wurde. In der Tat wurde vielfach die Auffassung vertreten, dass eine Derogationsklausel, wie auch im- mer sie formuliert sein mag, nur bei Gesetzeserlass bereits be- stehendes Gewohnheitsrecht verdrängen, nicht aber späteres Ge- wohnheitsrecht ausschließen könne.120 Dem suchte man mit dem Argument beizukommen, dass dies dann nicht gelten könne, wenn die Derogationsklausel ausdrücklich auch künftige Gewohnheiten verbiete und somit eine Derogation durch Gewohnheitsrecht aus- schließe.121 Das zentrale Problem lag letztlich darin, die Bestandskraft des gesetzgeberischen Geltungsbefehls gegenüber dem Gewohnheits- recht zu bestimmen und dem Gesetz einen Bereich zu sichern, innerhalb dessen es nicht durch gewohnheitsrechtliche Normbil- dung fortwährend in Frage gestellt war. Völlig ausgeschlossen war dies nur dann, wenn man die Geltung des Gesetzes gänzlich von der Observanz unabhängig machte. In der Tat wurde dann im 18. Jahrhundert die grundsätzliche Frage aufgeworfen, inwieweit die Observanz »ad subsistentiam statuti« überhaupt erforderlich sei.122 Die Frage, ob dem ius scriptum auch dann Verbindlichkeit zukommen könne, wenn es nicht auf Observanz beruht, wurde von Samuel von Cocceji bereits bejaht. Cocceji behandelt in seinen zivilrechtlichen »Kontroversen« auch das Problem, »an Jus scrip- tumobliget,etsiasubditinonobservetur«.123 Dass dem so ist, bedarf allerdings auch bei Cocceji noch eingehender Begründung: Sie ergibt sich für ihn zunächst – ohne dass er sich in diesem Punkt auf irgendwelche Rechtsquellen bezöge – aus dem Zweck des Gesetzgebungsaktes und der Intention des Gesetzgebers: Das Ge- setz werde erlassen, damit es befolgt werde; es könne demgegen-

119 Die clausula »non obstante qua- 121 Carpzov (Präses) und Rudloff Observationes, Lib. 2, Observ. 31, cunque consuetudine«; siehe hier- (Resp.), De Observantia, Diss. num. 10, und Carpzov, Responsa zu etwa das Manuale Juris (Fn. 32) Leipzig 1674, Cap. 7, § 14, unter- (Fn. 118) p. 2, Decis. 101. 261. scheiden zwischen einfacher De- 123 Cocceji (Fn. 28) 40. 120 Auf diese Meinung nehmen rogationsklausel und einer Lüdeking u. Starcke (Fn. 20) Version, »quae etiam in futurum Bezug (S. 19, § 20): »Nullam le- est concepta«. Letztere soll auch gem positivam esse dicat, quamvis die Entstehung künftigen ab- derogantem futurae consuetudini, weichenden Gewohnheitsrechts quae hac ipsa tamen tolli non ausschließen. posset.« 122 Lüdeking u. Starcke (Fn. 20) §22,unterVerweisaufGail, Recherche Thomas Simon 130

über nicht im »arbitrium privatorum« liegen, ein einmal erlassenes Gesetz zu befolgen oder nicht. Sodann wendet sich Cocceji den Bestimmungen des römischen Rechts zu, die darauf hinzudeuten scheinen, dass ein Gesetz nur soweit verpflichte, als es auch tatsächlich beachtet werde. Er bezieht sich hier in erster Linie auf L. 32 § 1.h.t. verb. judicio populi receptae sunt: Die Stelle meine keineswegs den Fall, dass ein Gesetz gegeben, aber dennoch nicht beachtet werde, sondern ausschließlich den Fall, dass überhaupt kein geschriebenes Recht vorliege, so dass dann nach der Ge- wohnheit zu entscheiden wäre. Sodann deutet Cocceji das Wort receptae um: Das Wort bedeute nicht, dass sich bereits eine be- stimmte Observanz gebildet habe; »rezipiert« seien die Gesetze vielmehr bereits in dem Moment, in dem sie »ad populum ferun- tur«. Das Wort »receptio« meine also nicht die Observanz, sondern die »constitutio legis« selbst.124 Unverkennbar ist Cocceji bestrebt, die Geltung eines Gesetzes von seiner Observanz abzukoppeln und mit dem Gesetzgebungsakt selbst zu verbinden. Dies ist ohne Zweifel ein formelles Geltungsverständnis des Gesetzes, das aber augenscheinlich noch alles andere als selbstverständlich war, son- dern nicht zuletzt in Hinblick auf bestimmte Stellen im römischen Recht eingehender Begründung bedurfte.

4 Mediengeschichtlicher Hintergrund Allen Gehorsamsbekundungen der Rechtswissenschaft gegen- über dem fürstlichen Willen zum Trotz war es nicht der Gesichts- punkt der voluntas legislatoris, der über die Anwendungschancen eines Gesetzes vor Gericht entschied, sondern die Form, in der das Gesetz überliefert war. Denn es war in erster Linie die Schriftform, die einer Norm den Eingang in die gerichtliche Praxis erleichterte: Die Vermutungsregeln und Beweislastverteilungen, wie sie eben beschrieben wurden, sind vielfach ausdrücklich auf das geschrie- bene Recht bezogen. Und auch dort, wo generell von den »leges« die Rede ist, die durch Observanz- und Promulgationsvermutung gestärkt werden sollten, bezieht sich dies in erster Linie auf das ius scriptum,weil»lex«und»ius scriptum« in der frühen Neuzeit zwar nicht gänzlich, aber weitgehend deckungsgleich waren. Es gibt demgemäß einen engen Zusammenhang zwischen der Bereitschaft der Gerichte, gesetzliche Normen anzuwenden, und deren Dokumentationsstand.125 Mit dem »Dokumentationsstand«

124 Ebd., 41. 125 So auch die Beobachtung von Oestmann (Fn. 5) 659: Der »Zu- sammenhang zwischen Überliefe- rungsform und richterlicher Rechtsanwendung« wirke sich »auch materiellrechtlich« aus. Rg7/2005 Geltung 131

ist nicht nur die Überlieferungsform als solche – also der Grad der Verschriftlichung –, sondern auch die Verbreitung der Gesetze gemeint, also die Anzahl der umlaufenden Exemplare und deren Präsenz und Greifbarkeit bei den Gerichten. Je höher der Verviel- fältigungs- und Verbreitungsgrad eines Gesetzestextes war, um so eher war auch dessen Präsenz bei Gericht und seine Verfügbarkeit für den Richter gegeben.126 Das Gesetz hatte um so höhere Chan- cen, gerichtsnotorisch zu werden, je größer seine Verbreitung, mithin die Anzahl der Exemplare war, in denen es kursierte. Die Gerichtsnotorietät hat dann wiederum die Anforderungen an den Beweis eines solchen Rechts verringert oder gar gänzlich wegfallen lassen. Es liegt auf der Hand, dass die prozessuale Bevorzugung des ius scriptum zuerst und vorrangig auf der Ebene der Obergerichte anzutreffen war. Denn dort waren die gelehrten Juristen stärker vertreten, die schon durch ihre Ausbildung viel stärker auf den Umgang mit Rechtstexten orientiert waren als die Laien; über- dies dürften nur die Juristen mit den in der Statutentheorie wur- zelnden Konkurrenz- und Beweislastregeln vertraut gewesen sein, die mündliches und geschriebenes Recht, Gewohnheiten und Sta- tuten in ein geregeltes Verhältnis zueinander setzten und dabei schrittweise dem ius scriptum ein Übergewicht verschafften.127 Dem »Dokumentationsstand« der Gesetze kommt somit bei der allmählichen Umorientierung der Rechtskultur auf ein formel- les Geltungsverständnis eine zentrale Bedeutung zu. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gesetzgebung des frühneuzeitlichen Staa- tes nicht einmal im Ansatz einen Verbreitungs- und Verschrift- lichungsgrad aufwies, der sich mit demjenigen moderner Gesetze vergleichen ließe. Ein solches Niveau der Verschriftlichung und Greifbarkeit von Normtexten dürfte vor dem 19. Jahrhundert nirgendwo in Deutschland erreicht worden sein – nicht einmal in Preußen, das doch anerkanntermaßen nach den policeywissen- schaftlichen Maßstäben der Zeit in mancher Hinsicht als vorbild- lich galt. In Preußen wurden zwar vergleichsweise früh gedruckte Gesetzessammlungen herausgebracht, aber diese Sammlungen wa- ren – darauf hat vor allem auch Willoweit aufmerksam gemacht – »kein Ort formeller Gesetzespublikation«.128 Die frühen Samm- lungen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren zunächst rein private Projekte: In Preußen war es Christian Otto Mylius, der seit 1737 sukzessive die zahlreichen Bände des Corpus Constitutionum Marchicarum herausgab; in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-

126 Dazu Thomas Duve,Mitder 127 Wend (Fn. 3) hat beobachtet, dass schrift für Hermann Conrad, hg. Autorität gegen die Autoritäten? das aufgezeichnete Trierer Land- von Gerd Kleinheyer u. Paul Überlegungen zur heuristischen recht in der Gerichtsbarkeit »desto Mikat, Paderborn 1979, 601– Kraft des Autoritätsbegriffs für stärker beachtet« wurde, »je mehr 619, 607. die Neuere Privatrechtsgeschichte, Einfluß studierte Gerichts- oder in: Autorität der Form – Autori- Amtspersonen auf das Verfahren sierung – Institutionelle Autorität, hatten« (123). hg. von Wulf Oesterreicher, 128 Dietmar Willoweit, Gesetzes- Gerhard Regn, Winfried publikation und verwaltungsin- Schulze, Münster 2003, 239– terne Gesetzgebung in Preußen vor 256, 246 f. der Kodifikation, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnis- Recherche Thomas Simon 132

dert wurde dies von der Preußischen Akademie der Wissenschaften übernommen.129 Das Corpus Constitutionum bietet indessen alles andere als die Dokumentation einer aktuellen Regelungslage; das lag gar nicht in der Absicht von Mylius. Das Corpus Constitutio- num ist vielmehr eine bis in das Spätmittelalter zurückreichende »Collectio historica«, die keinerlei Auskunft darüber zu bieten vermochte, inwieweit die darin aufgenommenen Gesetze über- haupt noch galten.130 Eben dies dürfte sich – wie gerade angedeutet – als schwierig erwiesen haben, weil die Policeygesetze kaum jemals ausdrücklich außer Kraft gesetzt wurden; dies geschah allenfalls bei Erlass eines neuen Gesetzes mit dem pauschalen Hinweis, dass entgegenstehende Regelungen nunmehr als nichtig zu betrachten seien. Das alles zwang bei jedem Gesetz zur eigenständigen Gel- tungsprüfung, die nie ausschließlich auf der Grundlage formeller Kriterien, wie etwa der Publikation, durchgeführt werden konnte. Im »Vorbericht« einer zuvor schon erstellten kleineren Samm- lung der seit 1688 im Erzstift Magdeburg ergangenen preußischen Gesetze, die bereits im Jahre 1714 erschienen war,131 schildert Mylius die Schwierigkeiten und Mühen, die es damals zu über- winden galt, wollte man eine derartige Gesetzessammlung auf die Beine stellen. »An keinem Ort«, so schreibt Mylius dort, waren »die in gegenwärtigem Corpore enthaltenen Constitutiones« bei- sammen, sie mussten vielmehr unter langwieriger Recherche »aus denen Archiven und bey hohen und niedrigen Collegiis, auch einigen privatis vorhandenen Vorräthen« zusammengesucht wer- den.132 Als der in württembergischen und badischen Diensten stehende Hofrat Carl Friedrich Gerstlacher im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Gesetzessammlung dieser beiden Länder zu veröffentlichen begann, machte er die gleichen Erfah- rungen: Es wäre doch wenigstens zu vermuten gewesen, so schreibt er in der »Vorrede« der Württembergischen Gesetze,133 »dass, wo nicht in allen, so doch in den meisten Registraturen des Landes eine vollständige Sammlung dieser Gesetze zu finden sei. Allein dieses ist so weit gefehlet, dass vielmehr die Klagen über den Mangel und die Seltenheit derselben zu allen Zeiten sich in das allgemeine er- strecket haben und die größten Mühen und Kosten aufgewendet werden müssen, um auch nur eine unvollständige Sammlung zu wege zu bringen.«134 Wie schwierig sich noch im 18. Jahrhundert der bloße Zugriff auf die ergangenen Landesgesetze gestaltete, finden wir ein weiteres 129 Thomas Simon, Einleitung, in: Repertorium der Policeyordnun- gen der frühen Neuzeit, hg. von Karl Härter u. Michael Magdeburg, von anno 1680 biß 133 Sammlung aller einzeln ergange- Stolleis, Bd. 2: Brandenburg/ 1714 publ. u. samt einigen Re- nenHerzoglichWirtembergischen Preußen mit Nebenterritorien scripten … ans Licht gegeben Gesetze und anderer Normalien. (Kleve-Mark, Magdeburg und von Christian Otto Mylio, Nebst einer Einleitung in die alte Halberstadt), Frankfurt a. M. Magdeburg 1714. und neue gesetzliche Verfassung 1998, 1. Teilband, 1–56, 53. 132 Christian Otto Mylius, Vorbe- des Herzogtums Wirtemberg, hg. 130 Willoweit (Fn. 128) 605. richt, in: Corpus Constitutionum von Carl Friderich Gerstla- 131 Corpus Constitutionum Magde- Magdeburgicarum, Bd. 1, 1714, cher, 1759/60. burgicarum novissimarum oder o. S., am Ende. Deshalb kann 134 Carl Friderich Gerstlacher, Königl.Preuß.undChurf.Bran- Mylius auch nur »vermuten«, dass Vorrede, in: Sammlung (Fn. 133) denb. Landes-Ordnungen, Edicta seine Sammlung vollständig ist Bd. 1, 1759, o. S., auf der 2. Seite. und Mandata, im Hertzogthum (ebd.). Rg7/2005 Geltung 133

Mal in dem eben erwähnten Traktat Hoffers beklagt: Der Wissen- schaft vom deutschen Policeyrecht ermangele es vielfach schon an den Gesetzestexten als einer unerlässlichen Grundvoraussetzung. »Die Pfleger und Versorger der hohen Schulen«, so Hoffer wört- lich, seien »ohnerachtet ihres rühmlichen Eifers für den Flor der Juristen-Fakultäten … noch nicht allenthalben überzeugt, dass die Anschaffung der zu den weitläuftigen rechtlichen Wissenschaften erforderlichen äusserst kostbaren Hülfsmittel, dahin die Teutsche Gesetze vordersamst gehören, auf öffentliche Kosten bewürket werden sollte«.135 Dass die Gesetzgebung weder bei den Kriegs- und Domänen- kammern, sozusagen die »unteren Verwaltungsbehörden« Preu- ßens im 18. Jahrhundert, und noch viel weniger bei den Gerichten auch nur annähernd vollständig greifbar war, wurde dann aller- dings in Preußen gegen Ende des 18. Jahrhunderts auf Seiten der zentralen Regierungsinstanzen als offensichtlicher Missstand emp- funden. Seit den 60er Jahren lässt sich eine entsprechende Gesetz- gebung beobachten, die es den Kammern und den Gerichten des Landes zur Pflicht machte, sich die sukzessive erscheinenden Bände des Corpus Constitutionum Marchicarum zu beschaffen. In den zahlreichhierzuergangenenVerordnungenwirdimmerwieder beklagt, dass Gerichte sich nicht im geringsten für die jeweils neu erschienenen Bände des Corpus interessierten, obwohl doch, wie es in einer Verordnung vom 2.12.1766 heißt, »eine jede Gerichts- Registratur mit einer vollständigen Sammlung der Landes-Gesetze schlechterdings versehen sein muß«.136 In den meisten anderen Territorien lagen indessen nicht einmal derartige gedruckte Samm- lungen vor, die auch nur halbwegs mit dem Anspruch auf Vollstän- digkeit auftreten konnten – Preußen und Sachsen waren da die Ausnahme. Im Erzstift Köln etwa entstand die erste gedruckte Gesetzessammlung zu einem Zeitpunkt, zu dem dieses geistliche Staatsgebilde bereits Jahrzehnte von der Landkarte verschwunden war; es waren dort historisch interessierte preußische Beamte in der neuen Rheinprovinz, die sich dann an solche Sammlungen mach- ten.137 Die jeweils geltende Gesetzeslage war demnach in keinem Territorium so dokumentiert, dassesmöglichgewesenwäre,im modernen Sinne allein auf das formelle Geltungskriterium der Promulgation abzustellen. Denn dies setzt einen Stand der Gesetz- gebungsdokumentation voraus, der den jederzeitigen Zugriff auf

135 Hoffer (Fn. 69) 18. 136 Novum Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 4, 1766, Nr. 97. 137 Thomas Simon, Kurköln, Einlei- tung, in: Repertorium der Policey- ordnungen der frühen Neuzeit, hg. von Karl Härter und Michael Stolleis, Bd. 1: Deutsches Reich und geistliche Kurfürsten, Frank- furt a. M. 1996, 423–445, 443. Recherche Thomas Simon 134

die aktuelle Gesetzeslage gestattet: Es muss einen permanent aktualisierten Korpus geben, aus dem sich jederzeit genau ent- nehmen lässt, welche Gesetze durch Promulgation in Geltung gesetzt worden und welche dadurch außer Kraft getreten sind. Derartige Dokumentationstechniken wurden erst ganz am Ende der 18. Jahrhunderts in Gestalt der »Gesetz- und Verordnungs- blätter« entwickelt.138 Bis dahin waren die Gerichte darauf ver- wiesen, die Geltung und Anwendung der Gesetze von deren fakti- scher Observanz abhängig zu machen, weil sich das formelle Geltungskriterium der Promulgation vielfach gar nicht sicher fest- stellen ließ. »Usuales Geltungsdenken« war also zu einem Gutteil durch den Stand der Verschriftlichung des Rechts und die Publika- tions- und Verbreitungstechniken der Gesetzgebung bedingt. Und es waren umgekehrt erst die Vervielfältigung der Gesetzestexte und die Verbesserung des Publikationswesens im 18. Jahrhundert, die die Voraussetzungen für das Erstarken eines formellen Geltungs- verständnisses geschaffen haben. Erst die Perfektionierung des Publikationswesens durch die Ingangsetzung der modernen Gesetz- und Verordnungsblätter hat dann überdies im 19. Jahrhundert die Umstellung auf das formelle Publikationsprinzip ermöglicht:139 Dass man die formelle Publikation eines Gesetzes – ohne weiter nach seiner tatsächlichen Kenntnisnahme seitens der Normadres- satenzufragen–alsVoraussetzung seiner Wirksamkeit genügen lässt, setzt die Grundannahme voraus und das Vertrauen darauf, dass dieser Akt ausreichende Normkenntnis der betroffenen Bevöl- kerung bewirken wird. Die moderne Gesetzgebung basiert auf der Fiktion, dass die Veröffentlichung einer Norm in den amtlichen Publikationsorganen jene bei den Betroffenen auch tatsächlich bekannt macht, so dass man sie ohne weiteres mit den Rechtsfolgen einer solchen Norm belasten kann, und zwar gänzlich unabhängig (sieht man vom strafrechtlichen Sonderfall eines entschuldigenden Verbotsirrtums ab) vom tatsächlichen Kenntnisstand des einzelnen Normadressaten. Eine solche Fiktion ist nur akzeptabel, wenn der Gesetzgeber von einer Verbreitungsdichte und einem Dokumenta- tionsstand seiner Normen ausgehen kann, welche die fiktive Gleichsetzung von formeller Publikation und tatsächlicher Kennt- nisnahme der Norm seitens der Adressaten nicht völlig unrealis- tisch erscheinen lassen. Insofern ist auch das Prinzip lediglich formeller Publikation mit dem Verbreitungs- und Dokumentations- stand der Gesetzgebung eng verknüpft. Auch die von Oestmann

138 Ruppert (Fn. 102). 139 Wolf (Fn. 99) Sp. 89 f. Rg7/2005 Geltung 135

konstatierte »Aufwertung des Partikularrechts«140 dürfte entschei- dend durch dessen zunehmende Verschriftlichung und Vervielfäl- tigung der Normtexte bedingt gewesen sein. Es konnte sich da- durch im Regelwerk der frühneuzeitlichen Rechtsanwendungslehre besser durchsetzen, weil sich dadurch seine Gerichtsnotorietät verbreiterte und es sich nun als ius scriptum besser beweisen ließ.

5 Usuales Geltungsverständnis und Policey Es ist evident, dass die frühneuzeitliche Rechtsanwendungs- lehre und das sie tragende usuale Geltungsverständnis der Justiz im Ergebnis eine ausgeprägte autonome Entscheidungskompetenz über den Kreis der justiziell anwendungsfähigen Normen garan- tiert hat141 – eine Autonomie, an der sich der nach effektiver zentraler Steuerung strebende frühneuzeitliche Staat um so mehr stoßen musste, als er darum bemüht war, die Urteilstätigkeit der Gerichte an seine Gesetzgebung zu binden. Denn für die Implemen- tierung eines Gesetzesbefehls in der gerichtlichen Urteilspraxis bedurfte es so lange mehr als nur eines förmlichen Gesetzgebungs- aktes, als die Gerichte die Erzeugnisse der staatlichen Normsetzung von der Warte ihres usualen Geltungsverständnisses aus in den Blick nahmen und dabei diejenigen Gesetze herausfilterten, die ihnen nicht hinreichend durch eine entsprechende Observanz be- kräftigt schienen. Dieses bedenkliche Implementierungshindernis war der Policeywissenschaft des 18. Jahrhunderts auch wohl be- wusst. Sie hat deshalb stets gefordert, dass die Anwendung der policeylichen Anordnungen auf gar keinen Fall allein den traditio- nellen Justizinstanzen überlassen bleiben dürfe. In den policey- wissenschaftlichen Traktaten wird deshalb immer wieder dafür plädiert, solche Streitigkeiten, bei denen Policeynormen einschlägig sind, von neu zu installierenden Instanzen entscheiden zu lassen – Instanzen, besetzt mit policeysachverständigen »Kameralisten«, die ein anderes Normverständnis mitbringen konnten. Zumindest sollten derartige Entscheidungsinstanzen an den policeylich rele- vanten Verfahren beteiligt werden.142 Denn bei den Policeyge- setzen stellte sich das Problem der justiziellen Implementierung in besonders scharfer Weise: Anders als bei den »Landrechten«, die ja – soweit sie das Recht eines bestimmten Territoriums nicht einfach zu romanisieren versuchten – das herkömmliche Recht im Wesent- lichen lediglich verschriftlichten, basierten die Normen der Policey

140 Oestmann (Fn. 5) 649, 652, dung«. In die gleiche Richtung 660 f.; die verstärkte Berücksichti- Trusen (Fn. 13) 115. gung des Partikularrechts bewirkt 142 Eingehend hierzu Thomas Simon, nach Oestmann eine »Föderali- »Gute Policey«. Ordnungsleitbil- sierung der kammergerichtlichen der und Zielvorstellungen politi- Rechtsanwendung«. schenHandelnsinderfrühen 141 Ebd., 681: Die Gerichte besaßen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2004, unter den genannten Entschei- 484 ff. dungsbedingungen »ein hohes Maß an Unabhängigkeit und Freiheit in der Rechtsanwen- Recherche Thomas Simon 136

gerade nicht auf irgendeinem rechtlichen Herkommen, sei es des via usu rezipierten Römischen Rechts, sei es des traditionellen heimischen Rechts, sondern auf bestimmten sozialen Ordnungs- vorstellungen, die im Wege der Policeygesetzgebung erst erreicht werden sollten.143 Viel weniger als die »Landrechte« basierten also die policeylichen Gebote auf irgendeinem »usus« – um so geringer aber musste die Anwendungsbereitschaft der Justiz gerade gegen- über solchen Normen ausfallen, solange die Gerichte in irgendeiner Form »Observanz« als Anwendungskriterium betrachteten. In der Tat ist seit dem 17. Jahrhundert in vielen Territorien des Reichs das Bestreben der Landesherren zu beobachten, den tradi- tionellen Justizinstanzen die Entscheidung solcher Fälle zu ent- ziehen, in denen irgendwelche Policeynormen entscheidungsrele- vant sein konnten, um sie auf Instanzen meist jüngeren Ursprungs zu verlagern, bei denen man von größerer Folgebereitschaft gegen- über den Entscheidungen des Gesetzgebers glaubte ausgehen zu können. In Brandenburg-Preußen ist das auch weitgehend gelun- gen: Hier wurden bereits seit der zweiten Hälfte des 17. Jahr- hunderts die Kriegs- und Domänenkammern als Verwaltungsbe- hörden neuen Typs in die Entscheidung solcher Sachen zumindest mit einbezogen, die durch die fürstliche Policeygesetzgebung ge- regelt worden waren.144 Andernorts scheiterten derartige Kompe- tenzumschichtungen allerdings vielfach am Widerstand der Stände, die ein Interesse daran hatten, dass der Zuständigkeitsbereich der von ihnen dominierten traditionellen Justizorgane unbeeinträchtigt blieb.145 Die Begründungen, die dafür ins Feld geführt werden, den Justizinstanzen Teile der streitigen Gerichtsbarkeit zu entziehen oder sie dabei zumindest unter die Kontrolle policeylicher Behör- den zu stellen, sind ausgesprochen aufschlussreich. Sie offenbaren ein deutliches Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber den Ge- richten des eigenen Territoriums: In Policeysachen drohten, so heißt es etwa in einer preußischen Zuständigkeitsverordnung aus dem Jahre 1713, »Unsere Edicta und Mandata« durch die Ge- richtsurteile »geschwächet oder gar entkräftet« zu werden.146 »Entkräftet« wurden sie, weil die Gerichte zu sehr nach der Observanz auch der fürstlichen »Edicta und Mandata« fragten, die dann einer solcher Anwendungsvoraussetzung nicht genügen konnten. Hier lag ein aus der Sicht des modernen Territorialstaates bedenklicher Engpass, der den Normen der Policeygesetzgebung den Eingang in die gerichtliche Entscheidungspraxis erschwerte.

143 Thomas Simon,RechtundOrd- Der Riss im Himmel. Clemens nung in der frühen Neuzeit, in: August und seine Epoche, Bd. 2: Rechtshistorisches Journal 13 Im Wechselspiel der Kräfte. Poli- (1994) 372–392, 387 f. tische Entwicklungen des 17. und 144 Ebd., 375 ff.; ders., Einleitung 18. Jahrhunderts in Kurköln, hg. (Fn. 129) 33 f. von Frank Günter Zehnder, 145 So etwa in Kurköln, dazu einge- Köln 1999, 236–266, 256 ff. hend Thomas Simon, Hofrat und 146 Corpus Constitutionum Marchi- Hofkammer in Kurköln. Funk- carum, Teil II, Abt. 1, Nr. 131, tionsprofil und Verwaltungsver- Sp. 520, § V; eingehend zu dieser ständnis der Spitzenbehörden Verordnung Simon,Rechtund eines geistlichen Territoriums, in: Ordnung (Fn. 143) 375 ff. Rg7/2005 Geltung 137

Das allmähliche Platzgreifen formeller Geltungsvorstellungen in der frühneuzeitlichen Justiz lässt sich als Teilaspekt der »Positi- vierung des Rechts« verstehen: Die gerichtlichen Institutionen akzeptieren obrigkeitlich »gesetzte« Normen mehr und mehr auch dann als geltend, wenn diese nicht mit dem Argument der Ge- bräuchlichkeit in das Recht integriert werden können. Die Konsis- tenz mit den überlieferten Argumentationsmustern wird dabei dadurch hergestellt, dass man diesem rechtlichen Anschauungs- wandel zunächst nur auf der Ebene des Beweisrechts Raum gibt. Der Bezug zur »Positivierung des Rechts« ist in unserem Zusam- menhang aber nur dann sinnvoll, wenn man dieses Deutungsmotiv eng fasst: Es meint hier das Aufkommen eines Normverständnisses, das einen bewussten Setzungsakt – sei es einen obrigkeitlichen Befehl, sei es eine Vereinbarung der Normadressaten auf konsen- sualer Grundlage – als Geltungsgrund einer Norm ausreichen lässt und nicht länger auf der faktischen Normbefolgung als Geltungs- grundlage beharrt. Auf den Aspekt inhaltlicher Legitimierung der Normen im Sinne objektiv gültiger Bewertungsmaßstäbe religiöser oder naturrechtlicher Provenienz kommt es bei dieser Gegenüber- stellung hingegen nicht an.147

Thomas Simon

147 Weites und enges Verständnis des ter politischer Entscheidungen, »positiven Rechts« findet sich ne- die in Normsetzungsakten ausge- beneinandergestellt etwa bei Pe- münzt werden und deren Produkte ter Koller, Theorie des Rechts. dann allein schon deshalb – etwa Eine Einführung, 2. Aufl., Wien von der Justiz – akzeptiert werden; u. a. 1997, 22 f. Wenn Luhmann siehe hierzu Niklas Luhmann, von der »Positivierung« spricht, Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opla- dann spielt dabei zwar auch die den 1987, 190 ff. und 294 ff. Preisgabe »überpositiver« Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen hinein, im Vordergrund steht aber doch eindeutig das Motiv bewuss- Recherche Thomas Simon 138

»Im Vordergrund steht immer die Tat …«

Gerichtsverfahren gegen Mitglieder der RAF*

Die Auseinandersetzung mit den Strafverfahren gegen Mit- glieder der Roten Armee Fraktion und der Bewegung 2. Juni macht deutlich, dass es sich hierbei um ein Politikum und letztlich um eine Spiegelung gesellschaftlicher Konflikte handelt. Genauso zeigt sich ein erhebliches Forschungsdesiderat. Das gilt trotz der mittlerweile nicht mehr zu überschauenden Literatur zum bundes- deutschen Terrorismus, zumal die Tendenz vorzuherrschen scheint, bereits vorliegende Erkenntnisse zu reproduzieren. Dass dabei etliche Arbeiten ohne jeden Beleg bleiben und Wirklichkeit und Fiktion verwischen, sei nur am Rande erwähnt. Fakt ist, dass der desolate Forschungsstand mit dem Quellenzugang zusammen- hängt, der nach wie vor schwierig ist. In diesem Kontext sind die vielfältigen Geheimhaltungs-, Vertraulichkeits- und datenschutz- rechtlichen Bestimmungen zu berücksichtigen, wobei allerdings der Mangel an empirischem Material weitreichenden Erklärungs- versuchen des Terrorismus der siebziger Jahre nicht im Wege zu stehen scheint. Relativ schnell wird deutlich, dass es sich offenbar um keinen »normalen« Forschungsgegenstand handelt. Der prob- lematische Zugang zu den Quellen ist vor dem Hintergrund der Brisanz des Themas zu bewerten, die sich in politischen Graben- kämpfen, kaum überbrückbaren Polarisierungen oder in wechsel- seitigen Unterstellungen und Ressentiments widerspiegelt.1 In der Tat erschweren der »Mythos RAF« bzw. die Stereotypen über die »Terroristinnen« und »Terroristen« eine differenzierte Analyse und notwendige Kontextualisierung. Angesichts dessen wird der Versuch unternommen, unterschiedliche Positionen, hier bezogen auf die Prozesse gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, zu kontrastieren. Dies führt zwangsläufig zu einer Aus- dehnung des Prozessbegriffes, beispielsweise von der Ebene der Geschehensabläufe im Strafverfahren zum Wechselverhältnis zwi- schen Staat und Täterinnen bzw. Tätern oder staatlicher Reaktion einerseits und Haltung der Justiz andererseits. Dass dabei die Probleme im gesellschaftlichen, politischen und juristischen Um- gangmitdenStraftatenbzw.mitdenAkteurinnenundAkteuren

* Das Zitat stammt vom damaligen teidigung, hg. von Wolfgang Anregungen danke ich Kurt Bundesinnenminister Werner Mai- Dressen, Berlin 1976, 80. Bei Groenewold, Prof. Dr. Gerhard hofer, zit. nach Otto Schily, diesem Beitrag handelt es sich um Haupt, Andreas Knobelsdorf, Antrag zur Einstellung des Ver- Teilaspekte meines Forschungs- Prof. Dr. Klaus Marxen und Prof. fahrens in Stammheim (überarb. projektes »Ermittlungs- und Dr. Wolfgang Schild. Fassung der Gerichtsmitschrift), Strafverfahren gegen Frauen we- 1 Die Debatten über die Berliner in: Politische Prozesse ohne Ver- gen politisch motivierter Straftaten RAF-Ausstellung im Jahre 2003 1970–1990«. Primär handelt es haben die Konfliktlinien deutlich sich um Frauen, die mit der »Ro- gemacht, vgl. exemplarisch FAZ ten Armee Fraktion« und der vom 24.07.2003, 26.07.2003, »Bewegung 2. Juni« in Verbin- 08.08.2003, 27.09.2003; dung stehen. Für konstruktive Der Spiegel, Nr. 31/2003, 38. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 139

und die Bewertungen über damalige Sachverhalte aus heutiger Perspektive reflektiert werden, ist zu berücksichtigen.

1. »Staatsfeind Nr. 1« oder »gewöhnliche Kriminelle«? Bereits relativ früh – vor der Fahndungsaktion im Mai 1972 – wurde die RAF zum »Staatsfeind Nr. 1« erklärt und in ihren Aktionen die »Staatskrise«, die »Herausforderung des Rechts- staats« gesehen, »die es mit der ›streitbaren Demokratie‹ des Radikalenerlasses bis an die ›Grenzen des Rechtsstaats‹ abzuweh- ren galt.«2 Helmut Kohl beschrieb im Juni 1972 die Akteure als »Anarchisten, brutale Terroristen« und konstatierte, dass es sich um eine Gruppe handele, die einmal mit einem intellektuellen Anspruch angetreten und in der »brutalen Barbarei geendet« sei.3 Noch deutlicher wird es in der von der Bundesregierung am 29. November 1974 – also vor Prozessbeginn – herausgegebenen »Dokumentation über die Tätigkeit anarchistischer Gewalttäter« formuliert. Hier heißt es: »Die Mitglieder der kriminellen Baader- Meinhof-Vereinigung streben den radikalen Umsturz der gesell- schaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik an.«4 Die Debatte über die RAF und auch über die Bewegung 2. Juni führte zu polarisierten Kontroversen über den Zustand der Bundesrepublik. Die Gruppen wurden von Teilen der Medien und verschiedenen Politikern – wenn auch in unterschiedlichen Ausformungen – als wachsende Bedrohung eingeschätzt,5 wobei die »öffentlichen Feinderklärungen«6 immerlauterwurden.Währendetwadie sozial-liberale Koalition die »Guerilla-Ideologie als Herausfor- derung des Rechtsstaates« verstand, beurteilten die Oppositions- parteien CDU/CSU die Rote Armee Fraktion als »eine Bedrohung der Bundesrepublik«.7 Das spiegelt sich in der Äußerung von Franz-Josef Strauß wider, wonach die Baader-Meinhof-Gruppe dem Rechtsstaat einen Krieg erklärt habe, für dessen Dimension es bis jetzt in der Bundesrepublik keine rechtlichen Vorschriften gebe.8 Und der Historiker Golo Mann vertrat die Auffassung: »Man befindet sich in einer grausamen und durchaus neuen Art von Bürgerkrieg … auch nur zwölfhundert zu allem entschlossene Mörder, fähige, schlaue, phantasiebegabte Menschen … sind stark genug, den Staat zu zerbrechen … Wir befinden uns im Krieg.«9 In diesem Kontext ist auffallend, in welchem Maße Kriegsmeta- phern und Kriegsszenarien verwendet wurden bzw. sich der Kon- vgl. dies., Rechtsanwälte. Links- anwälte, Frankfurt a. M. 2004, 189 f. 6 Heinrich Hannover, Terroris- 2 Herta Däubler-Gmelin,Im 4 Dokumentation über Aktivitäten tenprozesse. Erfahrungen und Er- Zweifel für die Grundrechte oder anarchistischer Gewalttäter in der kenntnisse eines Strafverteidigers. Kontaktsperre im Parlament, in: Bundesrepublik Deutschland, hg. Terroristen & Richter 1, Hamburg Einschüsse. Besichtigung eines vom Bundesministerium des In- 1991, 26. Frontverlaufs. Zehn Jahre nach nern, Bonn 1974, IV. 7 Otthein Rammstedt,DieIn- dem Deutschen Herbst, hg. von 5 Auf die Tatsache, dass trotz der strumentalisierung der Baader- Michael Sontheimer und Otto permanenten Betonung der Ge- Meinhof-Gruppe, in: Frankfurter Kallscheuer, Berlin 1987, 99– fährlichkeit terroristischer Straf- Hefte 1975, Heft 3, 27–38, hier 116, hier 106 f. täter ihr statistischer Stellenwert 29. 3Zit.nachOtto Schily (Fn. *) in der Gesamtkriminalität ver- 8 Vgl. Frankfurter Rundschau, 66 f. schwindet, weisen Helmut 05.12.1974. Brunn und Thomas Kirn hin, 9 Die Welt, 07.09.1977. Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 140

flikt zwischen Staat und RAF zum »Krieg« entwickelte. So wird in der Begründung des Untergrundkampfes »Das Konzept Stadt- guerilla«, im April 1971 von der Journalistin Ulrike Meinhof verfasst, der »Sieg im Volkskrieg« gefordert und als Ziel der »Stadtguerilla« formuliert, »den antiimperialistischen Kampf of- fensiv«10 zu führen. Die »Kriegserklärung« der RAF wurde von unterschiedlichen Medien und Politikern aufgenommen, die »nun ihrerseits zur innenpolitischen Kriegsführung«11 übergingen. Dass die Kriegsterminologie auch nach der Verhaftung der Gründungs- mitglieder der RAF im Jahre 1972 bestimmend war, dokumen- tieren Prozesserklärungen der Beschuldigten oder Hungerstreik- erklärungen der Inhaftierten. Es wird von der »Vernichtungshaft«, der »Aussageerpressungsfolter in Gehirnwäschetrakts« und »Ver- schleppung … in die Bunker«12 gesprochen. Zu Recht weist An- dreas Musolff darauf hin, dass die Selbstdeutung der RAF und der Bewegung 2. Juni als Kriegspartei partiell von den Medien und Politikern übernommen wurde, die auf der Basis von pauschalen Verdächtigungen und Mutmaßungen über ein massenhaftes Unter- stützer-Heer die Öffentlichkeit zeitweilig in einen Kriegszustand versetzt haben, in dem Staats- und Gesellschaftskritiker als »Ter- rorismus-Sympathisanten« stigmatisiert und als Feinde bekämpft worden seien.13 Unbestritten wurde in denMassenmedienein Szenario einer »terroristischen Bedrohung« bzw. eines über »Top-Terroristen und Terroristinnen« aufgebaut. Dazu gehören Aussagen wie »Terror in Deutschland. Die Bombenleger«,14 »Die Baader-Story. Wie aus einem Angeber der Staatsfeind Nr. 1 wur- de«,15 »Schmidt: Die blutige Provokation richtet sich gegen uns alle«16 oder »Killer-Krieg gegen den Staat«.17 Dass die RAF als Politikum bewertet wurde, dokumentiert die Aussage des Präsidenten des Bundeskriminalamtes im Juni 1972 gegenüber dem Stern. Im Kontext der Verhaftungen der Grün- dungsmitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Ulrike Meinhof wies Horst Herold darauf hin: »Wir haben es mit einem gesellschaftspolitischen Problem zu tun. Wir müssen dem Anar- chismus den Boden entziehen.« Nach seiner Auffassung könne dies nur gelingen, wenn längst fällige Reformen in der Bundesrepublik durchgesetzt würden, und er konstatierte weiter: »Wenn die Re- volution in der nächsten Zeit nicht von oben kommt, dann kommt sie mit Sicherheit in kurzer Zeit von unten.«18 Tatsächlich ging es der RAF und der Bewegung 2. Juni um die Herausforderung

10 Rote Armee Fraktion. Texte und 11 Andreas Musolff, Terrorismus 13 Vgl. Andreas Musolff (Fn. 11) Materialien zur Geschichte der im öffentlichen Sprachgebrauch: 7. RAF, hg. vom ID-Verlag, Berlin seine Umdeutung zum Kriegsge- 14 Stern, Nr. 24, 04.06.1972, 18 ff. 1997, 48 und 42. schehen und die Folgen, unver- 15 Stern, Nr. 25, 11.06.1972, 18 ff. öffentl. Vortragsmanuskript, 16 FAZ vom 05.09.1977. 09.10.2004, 3. Vgl. ders., Krieg 17 Der Spiegel, Nr. 38/1977, 17 ff. gegen die Öffentlichkeit. Terroris- 18 Zit. nach Kurt Groenewold, mus und politischer Sprachge- Die Verteidigung der Gefangenen brauch, Opladen 1996. aus der RAF und die Gesetze zum 12 Hungerstreikerklärung, Ausschluss der Strafverteidiger, in: 13.09.1974, in: Rote Armee W. Dressen (Fn. *) 35–40, hier Fraktion (Fn. 10) 191. 36. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 141

staatlicher Instanzen und um einen Angriff auf die Legitimations- grundlage des Staates. Während in der studentischen Protestbewe- gung das staatliche Gewaltmonopol symbolisch herausgefordert wurde, standen jetzt die prinzipielle Negierung des Systems und die unmittelbare Anwendung gewaltsamer Mittel im Zentrum. Im April 1971 begründete Ulrike Meinhof den bewaffneten Kampf der RAF mit den Worten: »Stadtguerilla ist … die Konsequenz aus der längst vollzogenen Negation der parlamentarischen Demokra- tie durch ihre Repräsentanten selbst, die unvermeidliche Antwort auf Notstandsgesetze und Handgranatengesetz, die Bereitschaft, mit den Mitteln zu kämpfen, die das System für sich bereitgestellt hat, um seine Gegner auszuschalten … Stadtguerilla machen heißt, den antiimperialistischen Kampf offensiv führen … trotz der Schwäche der revolutionären Kräfte in der Bundesrepublik und Westberlin, hier und jetzt revolutionär intervenieren!«19 Vor diesem Hintergrund sind die Prozesse gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni und hierbei insbesondere die Haltung der Justizorgane zu untersuchen. Der Generalstaatsanwalt Weinmann beim Oberlandesgericht Stuttgart formulierte im April 1974 vor dem Prozess gegen Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe, es bestehe kein vernünftigerZweifel,»dasswireshiernichtmiteinempolitischen Prozess zu tun haben, sondern dass es um rein kriminelle Hand- lungen geht«.20 Wie ein roter Faden zieht sich durch die Strafver- fahren das Bemühen der Gerichte, die Beschuldigten wie »ganz nor- male Kriminelle« und »gemeingefährliche Täterinnen und Täter« zu behandeln. Demzufolge wurden die von den Angeklagten be- anspruchten politischen Beweggründe im Prozess ausgeklammert. Das galt selbst für Verhandlungen in so genannten Staatsschutz- sachen vor Staatsschutzsenaten oder Staatsschutzkammern.21 So- bald die Ursache eines Verbrechens politischer Natur sei – so der Jurist Helmut Brunn und der Polizei- und Gerichtsreporter Thomas Kirn – und dazu noch politischem Denken entspringe, das den Richtern fremd sei bzw. abgelehnt werde, sei die Wirkung in der Urteilsfindung gering.22 Der Bundesanwalt Wunder, einer der An- klagevertreter in Stammheim, hob beispielsweise in der Verhand- lung am 30. Juli 1975 hervor, dass es sich nicht um einen politi- schen Prozess handele. Vielmehr seien Delikte angeklagt aus dem Bereich des allgemeinen Strafrechts, also der allgemeinen Krimina- lität.23 Wird bei dieser Argumentation nicht übersehen, dass – wie

19 ID-Verlag. Das Konzept Stadtgue- seien, vgl. dies., Rechtsanwälte rilla, in: Rote Armee Fraktion. (Fn. 5) 201. Texte und Materialien (Fn. 10), 22 Vgl. ebd., 191. 27–48, hier 41 f. 23 Otto Schily (Fn. *) 78. 20 Zit. nach Otto Schily (Fn. *) 64. 21 Helmut Brunn und Thomas Kirn weisen darauf hin, dass Staatsschutzsenate und Staats- schutzkammern dem Verdacht der Abhängigkeit von der Regie- rungsmacht besonders ausgesetzt Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 142

Otto Kirchheimer ausführte – politische Fragen verkleidet oder unverkleidet in den Gerichtssaal gebracht werden? »Dennoch möchte so mancher Jurist schlankweg bestreiten, dass es so etwas wie einen politischen Prozess geben könne. Zu behaupten, dass das Ding existiere … heißt für diese Jünger des unbefleckten Rechts, die Integrität der Gerichte und das Ethos des Juristenberufes in Frage zu stellen.«24 Demgegenüber kritisierten die Strafverteidiger, z. B. Klaus Eschen zehn Jahre nach dem »Deutschen Herbst«, dass der Kon- flikt zwischen RAF und Staat allein in den Kompetenzbereich der Strafverfolgungsbehörden, also von Polizei und Justiz gezogen werden sollte. Voraussetzung hierfür sei die ausschließliche An- wendung »unpolitischer« Strafvorschriften, also der Tatbestände für Mord, Raub, kriminelle (später: terroristische) Vereinigung gewesen, um so das politische Anliegen der RAF nicht zum Ge- genstand der Auseinandersetzung machen zu müssen.25 Weiter fragt Eschen, ob hier der Staat nicht traditionellen Grundsätzen gefolgt sei, »nach denen systemverändernde politische Bewegungen auf die Ebene schlicht krimineller Vereinigungen oder Banden herabgestuft werden«.26 Sollten – wie der Verteidiger von Gudrun Ensslin, Otto Schily, in seinem Antrag zur Einstellung des Ver- fahrens in Stammheim darlegte – sämtliche Bestrebungen darauf angelegt gewesen sein, das politische Element des Prozesses zu eliminieren und das Verfahren als »normalen Straffall« abzuwi- ckeln?27 Betrachtet man die legislative Auseinandersetzung in dieser Zeit, stellt sich die Frage, ob und inwieweit die juristische Bewertung von terroristischen Gruppen mit strafrechtlichen Kate- gorien überhaupt möglich ist. Der Jurist Ulrich K. Preuß konsta- tierte im Jahre 1976 richtigerweise, dass das Strafrecht das juris- tische Medium der Entpolitisierung und des »Kleinarbeitens« von gesellschaftlichen Konflikten ist. Die Strukturen des Strafrechts, die um individuelle Täterschaft, Verantwortlichkeit und Schuld zen- triert seien, »sollen verhindern, dass der ›Täter‹ zur Bürgerkriegs- partei wird und dass dadurch die Legitimationsgrundlagen der gesellschaftlichen Ordnung in Frage gestellt werden«.28 Erklären sich vor diesem Hintergrund nicht die Versuche der Verteidiger, die politische Dimension der Handlungen und die Motive der Be- schuldigten zum Verhandlungsgegenstand zu machen? Dass diese Strategie auch mit einem veränderten Selbstverständnis über die Rolle des Verteidigers im Strafprozess zusammenhängt, darf nicht

24 Otto Kirchheimer,Politische 27 Vgl. Otto Schily (Fn. *) 78. Justiz. Verwendung juristischer 28 Ulrich K. Preuss, Anmerkungen Verfahrensmöglichkeiten zu poli- zum Begriff des politischen Ge- tischen Zwecken, Frankfurt a. M. fangenen, in: Wolfgang Dres- 1985, 81. sen (Fn. *) 17. 25 Vgl. Klaus Eschen,Rechtsstaat ohne Konfliktkultur. Die RAF- Prozesse im politischen Ausnah- mezustand, in: Michael Sont- heimer u. Otto Kallscheuer, Einschüsse (Fn. 2) 78–98, hier 80. 26 Ebd. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 143

unterschätzt werden. So formulierte der Rechtsanwalt Hans Dahs auf dem Deutschen Anwaltstag in West-Berlin im Jahre 1975: »Der Strafverteidiger erforscht eben nicht die Wahrheit ›gleich wem sie nütze oder schade‹, sondern tritt dem durch den Staatsanwalt repräsentierten Strafanspruch des Staates, dem der Richter zur Geltung verhelfen soll, entgegen.«29 Exemplarisch fragte Schily in seinem Plädoyer im Strafprozess Stammheim am 27. April 1977: »Waren die Anschläge auf die US-Armee nicht politische Verbre- chen, die gegen eine verbrecherische Politik eingesetzt wurden?«30 Nach Eschen sei es eine Selbstverständlichkeit gewesen, auch die politischen Beweggründe für das Handeln der Mandanten in die Verfahren einzuführen. Das sei schließlich strafprozessualer Alltag. Jedem NS-Verbrecher seien neben strafrechtlichen Aspekten auch gesellschaftliche und politische Bedingungen der Taten zugestan- den worden.31 Kurt Groenewold, der zahlreiche Mitglieder der RAF verteidigt hat, wies im Jahre 1976 ferner darauf hin, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht nur die Gefangenen selbst, son- dern auch ihre Verteidiger bekämpft hätten. So seien beispielsweise der schnelle Kontakt zwischen Gefangenen und Verteidigern nach der Festnahme verhindert, die wechselseitige Post angehalten und geöffnet, die Verteidiger in der Öffentlichkeit verdächtigt sowie diffamiert und Ehrengerichtsverfahren eingeleitet worden.32 Aber vor allem seien elementare Verteidigerrechte eingeschränkt und Gespräche der Verteidiger mit ihren Mandanten im Jahre 1975 abgehört worden. Prinzipiell habe sich – so der Strafverteidiger Heinrich Hannover im Jahre 1991 – die dem Terroristenprozess vorauseilende Schuldvermutung nach den altbewährten Diffamie- rungsmustern der Kontakt- und Konsensschuld auf alle ausge- weitet, die für den Angeklagten Partei ergreifen oder mit ihm umgehen, ohne ihn als Feind zu behandeln.33

2. Einzeldelikt versus Organisationsdelikt? Die Differenzierung von politischer und nichtpolitischer Kri- minalität bzw. die Kontroverse um »politische Delikte, politische Kriminalität« demonstrieren, dass es das »Recht … (nirgends) schwerer« hat, »den eigenen Ruf und das eigene Gesicht zu wahren, d. h. die ›Herrschaft des Rechts‹ statt die des Staates und seiner politischen Kräfte zu sein.«34 Tatsächlich werden erhebliche Konfliktlinien sichtbar bis zu der Frage, ob das Strafrecht, das

29 Zit. nach Gerhard Mauz,Esist Roland Houver, Ulrich K. nicht immer Haarmann, der Preuss u. a., Plädoyers in der kommt …, in: ebd. 7–11, hier 9. Strafsache gegen Rechtsanwalt 30 Zit. nach Stefan Reinecke, Otto Kurt Groenewold, Hamburg Schily. Vom RAF-Anwalt zum In- 1978. nenminister, Hamburg 2003, 191. 33 Heinrich Hannover (Fn. 6) 30. 31 Vgl. Klaus Eschen,Rechtsstaat 34 Fritz Sack, Politische Delikte, (Fn. 25) 82. politische Kriminalität, in: Kleines 32 Vgl. Kurt Groenewold,Die Kriminologisches Wörterbuch, hg. Verteidigung, in: Wolfgang von Kaiser u. a., Heidelberg Dressen (Fn. *) 35–40, hier 39 f. 1993, 382–392, hier 382. Vgl. hierzu auch Erik von Bagge, Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 144

wesentlich auf Einzeltäter angelegt ist, bei Organisationsdelikten – hier §§ 129 und 129a des StGB – nicht eindeutig an Grenzen stößt. In diesem Kontext ist zu berücksichtigen, dass es in einem rechts- staatlichen Strafrecht, wie der Jurist Wolfgang Schild betont, immer nur um eine tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuld- hafte Tat gehen könne. Die Tat des Täters werde bestraft, indem er zur Verantwortung gezogen werde, nur »mit ihr und in ihr ist er ›schuldig‹ geworden, nur auf sie bezieht sich der Schuldspruch: nur die Tat ist seine Schuld«.35 Oder wie der damalige Bundesinnen- minister Werner Maihofer ausführte: »Im Vordergrund steht im- mer die Tat, das Motiv ist immer zweitrangig. Wer anders argu- mentiert, macht sich zum Komplicen.«36 Untersucht man unter dieser Prämisse die Strafverfahren gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni, wird das Problem deutlich, den subjektiven Tatbeitrag der einzelnen »Terroristin« bzw. des einzelnen »Terro- risten« nachzuweisen. In den Prozessen gab es fast immer Beweis- not, wenn es darauf ankam, strafbare Handlungen wie Mord oder versuchten Mord, räuberische Erpressung, schweren Raub, uner- laubten Waffenbesitz, Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens oder Urkundenfälschung einzelnen Akteuren individuell zuzurech- nen. Dass die Beweisnot nicht zuletzt mit den konspirativen Bedingungen der illegalen Tätigkeit der Gruppen und den er- schwerten Ermittlungen zusammenhängt, ergibt sich zwangsläufig. Vielfach basierten die Anklagen auf Indizien, wobei häufig »Kron- zeugen« der Beweisnot entgegentreten sollten. Brunn und Kirn weisen darauf hin, dass die gesetzliche Klammer, die unter Um- ständen »kleinteilige Beweiserhebung« ersparte, das so genannte Organisationsdelikt, die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Ver- einigung nach § 129 StGB und ab 1976 nach einer Gesetzesände- rung die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung nach §129aStGB,gewesensei.37 Tatsächlich stand im Mittelpunkt der meisten Verfahren der Organisationsvorwurf, wobei bereits die Zugehörigkeit eine eigenständige Straftat war. Im Prozess gegen den Verteidiger Groenewold wegen Unterstützung einer kriminel- len Vereinigung im Jahre 1978 machte dieser deutlich, dass es sich bei dem allgemeinen Organisationsvorwurf um eine Konstruktion handele, »weil die Beweise für die einzelnen Delikte nicht aus- reichen«.38 Mit dem Vorwurf der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der Konstruktion einer hie- rarchischen Struktur bei einer kollektiven Entscheidungsfindung in

35 Wolfgang Schild, Straftaten 36 Zit. nach Otto Schily (Fn. *) 80. und Terroristentäter. Zum Ver- 37 Vgl. Helmut Brunn u. Thomas hältnis von rechtlicher und Kirn (Fn. 5) 186. Zmoralischer Betrachtung. Vor- 38 FAZ vom 31.01.1978. trag gehalten auf der Tagung »Terrorismus – Bestrafung – Versöhnung. Wie gehen wir in Deutschland mit früheren Ge- walttätern … um?« Ev. Akade- mie Bad Boll, 19. – 21.02.1999, in: epd. Dokumentation 32/99, 40–52, hier 42. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 145

der RAF wurde der Nachweis der konkreten Tatbeteiligung der einzelnen Angeklagten überflüssig. Nach der Kollektivitätsthese seien – so der Strafverteidiger Heinrich Hannover – alle Aktionen der RAF von den daran beteiligten Gruppenmitgliedern gemeinsam geplant, einstimmig beschlossen und mit Billigung aller Beteiligten durchgeführt worden.39 Faktisch konnte man aus jedem noch so geringfügigen, nachweisbaren Beteiligungsakt eine Täterschaft konstruieren.40 Über den Mitgliedschaftsvorwurf ließ sich eine Beihilfe und Täterschaft juristisch konstruieren, wobei mittels des Organisationsdelikts jedes Mitglied zum Mittäter bei den der Gruppe zur Last gelegten Straftaten wurde. Insoweit war für eine Verurteilung »nicht einmal Mitwisserschaft bei einem konkreten Vorhaben erforderlich, es genügt die sich aus der Mitgliedschaft ergebende Zustimmung, strafbare Handlungen der im Gesetz ge- nannten Art zu begehen«.41 Nach § 129a StGB machte sich aber nicht nur strafbar, wer eine terroristische Vereinigung bildete oder unterstützte, sondern auch, wer für sie warb. Ein solches Werben wurde von den Gerichten bereits angenommen, wenn jemand Parolen einer solcher Gruppe an Wände schrieb, zum Beispiel den Schriftzug RAF. Der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart verurteilte im Jahre 1981 den Studenten Johannes Thim- me wegen Werbung für eine terroristische Vereinigung zu 18 Mo- naten Gefängnis. Er hatte in der Mensa ein Flugblatt zum dama- ligen Hungerstreik der RAF verteilt.42 Oder ein typisches Beispiel aus den Prozessakten: Ein Mitglied der RAF oder der Bewegung 2. Juni, das eine Spur an einem Gegenstand hinterlassen hat, der mit einer Gruppen-Aktion in Verbindung gebracht werden konnte, war bereits überführt. Sowohl § 129 als auch § 129a StGB ermög- lichen in gewissem Umfang eine »Verfolgung und Verurteilung nach der Allerweltsweisheit des Mitgefangen-Mitgehangen«.43 Ein anderer wichtiger Aspekt ist zu berücksichtigen. Wolfgang Schild macht darauf aufmerksam, dass nach §§ 129, 129a StGB die Unrechtstat in einem Verhalten bestehe, das nicht bzw. noch nicht Mord, Totschlag usw. sei, sondern in der Gründung einer kriminel- len bzw. terroristischen Vereinigung, Beteiligung daran, Werbung für sie oder in ihrer Unterstützung bestehe.44 Dasaberbedeutet eine Vorverlagerung der Strafbarkeit von der Tatbegehung selbst in den Vorbereitungsbereich. Dadurch würden Wille und Gesinnung – »die den Betreffenden zu einem gefährlichen Subjekt machen« – wesentliche Bedeutung erhalten. Gerade durch das Abstellen auf Brunn und Kirn, dass die Taten als Staatsschutzdelikte zentral von der Bundesanwaltschaft, die dafür die originäre Zuständigkeit hatte, 39 Heinrich Hannover (Fn. 6) 200. 42 Vgl. Ulrike Thimme,EineBombe ermittelt und angeklagt werden 40 Hier ist zu berücksichtigen, dass für die RAF. Das Leben und Ster- konnten. Somit traten Probleme, eine Zurechnung schwerer Tatfol- ben des Johannes Thimme von die sich aus dem sonst geltenden gen im Zusammenhang mit ande- seiner Mutter erzählt, München Zuständigkeitsprinzip nach Tat- ren Taten ausschließlich über die 2004, 168. Der Spiegel (22. Juni orten ergaben, nicht auf. Der Ge- Beteiligungsformen der Alleintä- 1981) sprach von einem »Urteil neralbundesanwalt mit Sitz in terschaft, der Mittäterschaft, der von grotesker Härte … Das Straf- Karlsruhe war die Strafverfol- mittelbaren Täterschaft, der An- maß für die Flugblattverteiler er- gungsbehörde, »die alle für wich- stiftung und der Beihilfe erfolgen scheint hanebüchen.« tig gehaltenen Terror-Delikte kann. 43 Helmut Brunn u. Thomas Kirn bearbeitete«, dies., 186 f. 41 Helmut Brunn u. Thomas Kirn (Fn. 5) 186. Weitere Vorteile aus 44 Vgl. Wolfgang Schild (Fn. 35) (Fn. 5) 200. der Sicht der Justiz waren laut 50. Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 146

kriminelle oder terroristische Gesinnung und Haltung, die sich – so Schild weiter – in der Mitarbeit an einer Vereinigung gleich- gesinnter »Genossen« realisiere, werde »die rechtliche Bewertung von der Tat hin zum Willen und damit zu dem Inneren eines Subjekts«45 verlagert. Dass diese Verlagerung von der Tat zum Täter für die Angeklagten mit erheblichen Folgen verbunden war, belegen die einzelnen Prozesse. Trifft vor diesem Hintergrund die Aussage des früheren Bundesinnenministers – Werner Maihofer – zu, wonach immer die Tat im Vordergrund steht? Eher orientierte mansichindenVerfahrenander vermuteten Gesinnung und Gefährlichkeit der Täterinnen und Täter als an der Bestrafung von Unrechtstaten. Gerade die Vermischung von Tatstrafrecht und Täterstrafrecht demonstriert die Grenzen des rechtsstaatlichen Strafrechts, mit terroristischen Gruppen umzugehen.

3. Unvoreingenommenheit der Justiz oder Vorverurteilung der Angeklagten? In Deutschland sind das Recht auf ein faires Verfahren und das Recht auf Verteidigung garantiert. Das bedeutet in der Konsequenz – wie Groenewold in seiner Schlusserklärung am 14. Juni 1978 darlegte –, dass zu den Elementen des fair trial das Prinzip der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung gehört.46 War diese Waffengleichheit in den Prozessen gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni gegeben? So stellt sich die Frage, ob elementare Fundamente des Rechtsstaats wie die Unabhängig- keit der Richter oder die Unschuldsvermutung beachtet wurden. Traf es zu, dass Schuld oder Unschuld erst in der Hauptverhand- lung und vor allem im Urteil festgestellt wurden bzw. bis zum Ende des Verfahrens darum gerungen wurde? Oder wie es in einem Kommentar zur Strafprozessordnung steht: »Auch der schwersten Straftaten Beschuldigte und dringlich Verdächtige hat Anspruch auf ein faires, gesetzmäßiges Verfahren. Bei jedem Angeklagten wird bis zum gesetzmäßigen Nachweis seiner Schuld vermutet, dass er unschuldig ist … Keinerlei Ausnahmen sind zulässig.«47 Dass die Angeklagten von Teilen der Medien und verschiedenen Politi- kern vorverurteilt wurden, ist unbestritten. In diesem Kontext sei allein an die Diffamierung des Schriftstellers Heinrich Böll erinnert, als er im Jahre 1972 die Hetztiraden gegen Ulrike Meinhof öffent- lich verurteilte und auf den »Krieg von 6 gegen 60000000«48

45 Ebd. 46 Vgl. Kurt Groenewold (Fn. 18) 15. 47 Löwe u. Rosenberg,DieStraf- prozessordnung und das Ge- richtsverfassungsgesetz, Groß- kommentar, 22. Auflage 1971, Kapitel5,Absatz2,Einleitung (Schäfer), 47. 48 Vgl. Der Spiegel 3/1972, 54 ff. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 147

hinwies. Aber nicht nur Schriftsteller wurden angegriffen. Die Pressekampagnen richteten sich auch gegen Theologen oder Jour- nalisten, überhaupt gegen Menschen, die eine differenzierte Aus- einandersetzung mit der RAF forderten. Genauso bekannt ist, welches Bild in der Öffentlichkeit über die besondere Gefährlich- keit der zumeist jungen Frauen und Männer gezeichnet wurde, respektive in welchem Ausmaß ihre Anwälte Verleumdungen aus- gesetzt waren. Der Soziologe Otthein Rammstedt nennt es treffend: »Was einmal nur als Strömung galt, gedieh zum Krieg mit den Sicherheitsorganen und am Ende mit der Bevölkerung über- haupt.«49 In der Tat kann der Eindruck entstehen, dass die Vor- verurteilung in der Öffentlichkeit und bei der Justiz ein Bewusstsein dafür schaffen sollte, trotz der schwierigen Beweislage eine Verur- teilung der Beschuldigten als notwendig erscheinen zu lassen. Dass die öffentliche Vorverurteilung die Prozessführung in den Gerichts- sälen beeinflusste und bestimmte, ist offensichtlich. Der Verteidiger von Gudrun Ensslin – Otto Schily – kam im Jahre 1975 zu dem Ergebnis, dass die Angeklagten längst zu lebenslänglicher Freiheits- strafe verurteilt seien, nachdem sie über einen Zeitraum von mehr als drei Jahren einem massiven und sich immer mehr steigernden propagandistischen Trommelfeuer in einem Großteil der Massen- medien ausgesetzt gewesen waren.50 Selbst wenn man die kom- plexe Befangenheitsproblematik zugrunde legt, drängt sich die Frage auf, inwieweit diese damals – hier sei beispielsweise an den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Stuttgart, Theodor Prinzing,51 erinnert – symptomatisch war. Schon im Verfahren gegen Horst Mahler, Ingrid Schubert und Irene Goergens im März 1971 wegen Beihilfe zum Mordversuch an dem Institutsangestell- ten Georg Linke und Gefangenenbefreiung (Andreas Baader im April 1970) hatte Schily die Einstellung des Prozesses beantragt. So sei ein faires Verfahren angesichts der »Verurteilungspsychose«, der Vorverurteilung durch die Springer-Presse und Bundesinnen- minister Hans-Dietrich Genscher, der Horst Mahler als »Staats- feind Nr. 1« bezeichnet hatte, unmöglich. Laut Schily sei es kaum möglich, »in diesem Klima unbefangene Richter zu finden«.52 Auffallend ist, dass an der Vorverurteilung der Angeklagten in der Presse maßgebliche Politiker bis hin zum Bundeskanzler betei- ligt waren. Vor Prozessbeginn am 25. April 1975 charakterisierte Helmut Schmidt in einer Regierungserklärung die Angeklagten Meinhof, Ensslin, Baader und Raspe als »Verbrecher, Gewaltver-

49 Otthein Rammstedt (Fn. 7) 32. überlassen«. »In der Strafsache Nur am Rande sei vermerkt, dass gegen Andreas Baader, Ulrike der Rechtsstaat von der Roten Meinhof, Jan-Carl Raspe, Gudrun Armee Fraktion nicht bedroht Ensslin wegen Mordes u. a.«, war. Dokumente aus dem Prozess, hg. 50 Vgl. Otto Schily (Fn. *) 59. von Ulf G. Stuberger,Frank- 51 Er hatte ohne Wissen der Senats- furt a. M. 1977, 209. mitglieder Ablichtungen aus den 52 Stefan Reinecke (Fn. 30) 127. Ermittlungsakten des Verfahrens und aus dem Wortprotokoll der Hauptverhandlung »dritten am Prozess nicht beteiligten Personen Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 148

brecher, skrupellose Gewalttäter und Banditen«.53 Wie bereits erwähnt, veröffentlichte die Bundesregierung ebenfalls vor Prozess- beginn die »Dokumentation über Aktivitäten anarchistischer Ge- walttäter in der Bundesrepublik«, in der eindeutige Zuschreibun- gen vorgenommen wurden.54 Helmut Kohl forderte in einem Fernsehinterview am 25. April 1975, »den Sumpf aus(zu)trocknen – und ich sage es ganz hart – aus dem die Blüten der Baader- Meinhof-Bande emporgestiegen sind«.55 Hätte die Justiz ange- sichts ihrer Unabhängigkeit, zu der auch die Unabhängigkeit von politischer Einflussnahme zählt, gegen solche Vorverurteilungen der Angeklagten nicht intervenieren müssen? Vor diesem Hintergrund sind die zahlreichen Strafrechtsände- rungen im Rahmen der Bekämpfung der RAF und der Bewegung 2. Juni zu bewerten.56 So beschloss der Bundestag am 18. Dezem- ber 1974 das erste große »Anti-Terror-Paket«. Hierbei handelte es sich um eigens für den Prozess in Stammheim gegen Ulrike Mein- hof, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe geänder- te Gesetze. Es ging um dezidierte Regelungen für den Ausschluss von Verteidigern (§ 13 ff. StPO) zum 1. Januar 1975 und um das Verbot der Mehrfachverteidigung (§ 146 StPO). Danach verloren die Angeklagten das Recht, sich zu mehreren von demselben Ver- teidiger vertreten zu lassen. Auf die Folgen weist Eschen hin. Es bedeutete, dass sich für jede neue Verhandlung neue Rechtsanwälte in die zu Hunderten zählenden Akten mit Prozessmaterial ein- arbeiten mussten. Noch gravierender war die Tatsache, dass alle Rechtsanwälte, die jemals einen Mandanten aus der RAF verteidigt hatten, in den weiteren Prozessen nicht mehr eingesetzt werden konnten bzw. »verbraucht« waren.57 Darüber hinaus wurde die Zahl der Wahlverteidiger in »Terrorismusverfahren« auf drei be- schränkt und die Unterbrechung für die Vorbereitung neuer Ver- teidiger aufgehoben. Aber dazu kam vor allem, dass der Prozess auch dann geführt werden konnte, wenn die Angeklagten nicht anwesend waren (§ 231a StPO). Das widersprach, so der Jurist Uwe Wesel, eindeutig den Grundregeln des Strafprozesses. So sei eine Vorschrift dieser Art – mit gewissen Unterschieden – im NS- Regime erlassen und nach dem Krieg als »Nazirecht« aufgehoben worden.58 Ohne Zweifel wurde »der staatliche Handlungsbedarf« dramatisch beschworen, ohne zu sehen, dass sich »im Lichte internationaler Vergleiche … die objektive Sicherheitslage erst recht nicht bedrohlich (aus)nimmt«.59 Zwei Jahre später folgte

53 Ebd., 183. Rammstedt erinnert daran, dass es sich um eine klas- sische Form der Bestrafung von 56 Diese Änderungen erhalten ihre 59 Jürgen Habermas,Gewaltmo- Tabubrechern handelt, wenn Ein- Relevanz gerade angesichts der nopol, Rechtsbewusstsein und zelne oder Gruppen zu Krimi- Tatsache, dass das Strafgesetzbuch demokratischer Prozess. Erste nellen oder Verrückten erklärt und die Strafprozessordnung in Eindrücke bei der Lektüre des werden; »dies bedeutet, die als den Jahren zuvor liberalisiert »Endgutachtens« der Gewalt- solche Diskreditierten als außer- wurden. So waren die Rechte der kommission, in: Verdeckte Ge- halb des sozialen Systems zu plat- Angeklagten und der Verteidiger walt. Plädoyers für eine »Innere zieren«, vgl. ders., (Fn. 7) 36. gestärkt worden. Abrüstung«, hg. von Peter Ale- 54 Bundesministerium des Innern 57 Vgl. Klaus Eschen (Fn. 25) 84. xis Albrecht und Otto Backes, (Fn. 4). 58 Vgl. Uwe Wesel, Die verspielte Frankfurt a. M. 1990, 180–188, 55 Zit. nach Ulf G. Stuberger Revolution. 1968 und die Folgen, hier 181. (Fn. 51) 265. München 2002, 275. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 149

das zweite große »Anti-Terror-Paket«, das der Bundestag am 18. August 1976 verabschiedete. Danach wurde mit dem § 129a des Strafgesetzbuchs – wie bereits erwähnt – der Straftatbestand der »Bildung terroristischer Vereinigungen« eingeführt. Hiermit wurden aber auch die Möglichkeiten der Strafverfolgungsbehör- den zur Telefonüberwachung, Wohnungsdurchsuchung und zu Identitätsfeststellungen von Personen erweitert, sobald der Ver- dacht einer terroristischen Vereinigung vorlag. Während bisher derartige Maßnahmen, die laut Brunn und Kirn tief in die Persön- lichkeitsrechte von Bürgern eingreifen, grundsätzlich an einen Ge- richtsbeschluss gebunden waren, sind sie jetzt »bei Gefahr im Verzug auch ohne richterliche Zustimmung anwendbar«.60 Die Eskalation erfolgte im Jahre 1977 mit dem Kontaktsperregesetz, »das schnellste Gesetz in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte, nach der Entführung Hanns-Martin Schleyers erlassen, innerhalb vondreiTagenbeschlossenvonBundestag und Bundesrat, unter- zeichnet vom Bundespräsidenten und veröffentlicht im Gesetzes- blatt«.61 Damit konnten Inhaftierte auf unbestimmte Zeit von der Außenwelt isoliert und selbst den Verteidigern der Zugang zu ihren Mandanten verweigert werden, wenn letztere auf der Liste derer standen, die ausgetauscht werden sollten. Herta Däubler-Gmelin konstatiert, dass die Berufung auf den übergesetzlichen recht- fertigenden Notstand des § 34 StGB problematisch und überdies unsicher gewesen sei.62 Aufschlussreich ist die Position des dama- ligen Bundesjustizministers Hans-Jochen Vogel vor dem Bundes- verfassungsgericht am 15. September 1977, der die Notwendigkeit des Kontaktsperregesetzes mit der »bestehenden Kommunikation zwischen inhaftierten terroristischen Gewalttätern und in Freiheit befindlichen Gesinnungsgenossen« begründete. Aber bereits ein halbes Jahr später antwortete Vogel im italienischen Fernsehen auf die Frage, ob die Schleyer-Entführung aus den Gefängniszellen gesteuert worden sei: »Nein, das haben wir seinerzeit schon nicht angenommen, und es hat sich auch keine Bestätigung dafür ge- funden. Eine Planung oder überhaupt eine Steuerung im Detail aus der Zelle heraus, dafür gibt es keine Beweise.«63 Aber auch nach dem »Deutschen Herbst« gab es weitere Strafverfahrensänderungs- gesetze, z. B. wurden im Jahre 1978 in Verfahren wegen der Zuge- hörigkeit zu terroristischen Vereinigungen für das mündliche Ge- spräch zwischen dem Verteidiger und dem inhaftierten Mandanten die Einrichtung von Trennscheiben vorgeschrieben und darüber

60 Heinrich Brunn u. Thomas Kirn (Fn. 5) 198. 61 Uwe Wesel (Fn. 58) 278. 62 Vgl. Herta Däubler-Gmelin (Fn. 2) 100. 63 Zit. nach Hartwig Hansen,Den Staat aushungern oder Die zweite Niederlage der RAF, in: Einschüs- se (Fn. 2) 132. Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 150

hinaus Durchsuchungsbefugnisse und Identitätsfeststellungen er- weitert.64 Kontrastiert man die juristisch-prozessualen Bedingun- gen der RAF-Prozesse mit dem Grundsatz, dass sich ein Gericht nicht von politischen Überlegungen etwa über die Zweckmäßigkeit einer Anklageerhebung leiten lassen darf, bleiben Fragen offen. So beispielsweise die, ob die richterliche Gewalt, überhaupt das Rechtssystem durch die gesetzgebende Gewalt, durch staatliche Entscheidungen bzw. Reaktionen nicht erheblich belastet wurden. Hatten die Strafrechtsänderungen, die eine Verschärfung der Straf- gesetze bedeuteten, und die veränderten Regelungen der Prozess- ordnung nicht zur Folge, dass die Justiz politisiert wurde oder sich vielleicht sogar selbst politisierte?

4. Gleichbehandlung versus verschärfte Bedingungen? Wenn man die Häufigkeit und Dauer der Untersuchungshaft oder die Besonderheiten des Strafvollzugs betrachtet, wird deutlich, dass sich die These der staatlichen und politischen Institutionen, bei den Angeklagten der RAF und der Bewegung 2. Juni handle es sich um »normale Kriminelle«, selbst dementierte. Prinzipiell ist zu klären, ob es eine Gleichbehandlung der RAF-Gefangenen im Verhältnis zu »normalen Straftätern« gab. Unbestritten ist, dass die Akteure der RAF oft mehrere Jahre in Untersuchungshaft waren, etwa Ulrike Meinhof von 1972 bis 1976, Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe von 1972 bis 197765 oder Monika Berberich von 1970 bis 1974.66 In der langen Zeitdauer lag ein erheblicher Konfliktstoff, wobei zu berücksichtigen ist, dass gesetzlich sechs Monate Untersuchungshaft als Höchstgrenze fest- gesetzt sind. Ausnahmen sind nur aus besonderem Anlass möglich, etwa bei erheblichen Ermittlungsschwierigkeiten. Auf die über Jahre andauernde Untersuchungshaft und auf die »grundlose und willkürliche Verzögerung des Ermittlungsverfahrens«67 wiesen nicht nur die Verteidiger hin. Auch in einer vom Bundesjustiz- ministerium im Jahre 1982 herausgegebenen und von Richard Blath und Konrad Hobe durchgeführten Untersuchung werden erhebliche Unterschiede konstatiert. So machen sie deutlich, dass bei den Angeklagten, die in den Jahren 1975 bis 1979 insgesamt abgeurteilt wurden, nur bei einem Anteil von 4,5 Prozent Unter- suchungshaft vollzogen wurde. Demgegenüber waren es bei »den mutmaßlichen terroristischen Straftätern und ihren Unterstützern

64 Vgl. Jahresbericht der Bundes- 66 Vgl. FAZ vom 24.04.1974. regierung, hg. vom Presse- und 67 Ebd. Informationsamt der Bundesregie- rung 1978, Köln 1979, 136. 65 So ist zu berücksichtigen, dass Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe bis zu ihrem Tod am 18.10.1977 nicht verur- teilt worden sind. Das Urteil des OLG Stuttgart vom 28.04.1977 ist nicht rechtskräftig geworden. Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« 151

in demselben Zeitraum 65,7 Prozent«.68 Nimmt man den gesam- ten Zeitraum von 1971 bis November 1980, erhöht sich der Anteil auf 70,6 Prozent. Insoweit wurde bei mutmaßlichen terroristischen Straftätern in einem Umfang Untersuchungshaft angeordnet und auch vollzogen, wie es sonst nur bei schweren Verbrechen üblich sei, obwohl nicht alle von mutmaßlichen Terroristen verübten Straftaten als Verbrechen einzustufen gewesen seien. Aber vor allem die Dauer der durchschnittlichen Untersuchungshaft war ungewöhnlich hoch. Während beispielsweise bei den insgesamt Abgeurteilten nur 3,4 Prozent länger als ein Jahr in Untersuchungs- haft verbringen mussten, waren es bei den Mitgliedern der RAF und der Bewegung 2. Juni sowie ihren Unterstützern 52,1 Pro- zent.69 Betrachtet man in einem weiteren Schritt die Haftbedingungen, erscheint die These der Gleichbehandlung kaum haltbar. Gerade darüber ist viel gestritten worden. Die meisten Akteure saßen in strenger Einzelhaft, unter Bedingungen, die es vorher so in bundes- deutschen Haftanstalten noch nicht für eine Gruppe gegeben hatte. Die Einzelhaft bedeutete strengste Abschirmung, vielfach mit ver- schärften Auflagen und Kontrollen. Sie waren – zwar partiell unterschiedlich – von den anderen Gefangenen getrennt und er- hielten Besuche nur unter Aufsicht. Astrid Proll und Ulrike Mein- hof waren die ersten Häftlinge des »toten Trakts« in Köln-Ossen- dorf, wobei Meinhof insgesamt neun Monate dort verbrachte. Es handelte sich um einen völlig abgetrennten Teil des Gefäng- nisses, in dem die anderen Zellen des Flügels von Häftlingen geräumt worden waren. Margrit Schiller wurde bereits im Jahre 1971inHamburg»isoliert«.DieFolgenlassensichdaraner- messen, dass mehrere Mitglieder wie Astrid Proll,70 Katharina Hammerschmidt71 oder Marianne Herzog aus gesundheitlichen Gründen freigelassen werden mussten. Dass darüber hinaus gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni tendenziell höhere Freiheitsstrafen verhängt wurden, ist bekannt. Weiter heben Blath und Hobe hervor, dass insgesamt Strafen von bis zu zwei Jahren seltener zur Bewährung ausgesetzt worden seien.72 Häufigkeit und Dauer der Untersuchungshaft, die Auseinandersetzung mit den Bedingungen im Strafvollzug und nicht zuletzt die Höhe der ver- hängten Freiheitsstrafen lassen Zweifel an der Gleichbehandlung aufkommen. Solche Zweifel werden verstärkt, wenn man berück- sichtigt, dass die Gerichtsverhandlung in einem eigens für den

68 Richard Blath u. Konrad Ho- Laufe der ersten Hauptverhand- entlassen und das Verfahren ab- be, Strafverfahren gegen links- lung des Prozesses, der am 32. Ver- gebrochen. Trotz Protesten der terroristische Straftäter und ihre handlungstag abgebrochen wer- Anwälte war offensichtlich keine Unterstützer, hg. vom Bundesmi- den musste, vgl. Heinrich Han- ausreichende ärztliche Behand- nisterium der Justiz, Bonn 1982, nover, Die Republik vor Gericht lung durch die verantwortlichen 60. 1975–1995. Erinnerungen eines Ärzte der Justizvollzugsanstalt er- 69 Vgl. ebd., 61. unbequemen Rechtsanwalts, Ber- folgt. Sie starb zweieinhalb Jahre 70 Die Haftbedingungen waren of- lin 2001, 149 ff. später im Alter von dreiunddreißig fensichtlich für die schwere Kreis- 71 Nach siebzehn Monaten Unter- Jahren in Berlin. lauferkrankung von Astrid Proll suchungshaft wurde Katharina 72 Vgl. Richard Blath u. Konrad verantwortlich. Eine Folge war Hammerschmidt im Januar 1974 Hobe (Fn. 68) 153. ihre Verhandlungsunfähigkeit im wegen einer Krebserkrankung Recherche Gisela Diewald-Kerkmann 152

Strafprozess gegen Gründungsmitglieder der RAF errichteten Ge- bäude stattfand. Hierbei handelte es sich um eine schuss- und detonationssichere Mehrzweckhalle, die von fünfhundert Kräf- ten der Schutz- und Kriminalpolizei, mobilen Einsatzkommandos und des Bundesgrenzschutzes bewacht und kontrolliert wurde.73 Darüber hinaus wurde das Prozessgebäude von Betonmauern, Stacheldraht, spanischen Reitern, Alarmanlagen und Videokame- ras geschützt. Gerade dieser Ausbau des staatlichen Repressions- potentials kam der Überzeugung der RAF nahe, dass der Staat durch gezielte Provokationen »seine heuchlerische rechtsstaatlich- demokratische Fassade« abstreife und »sein wahres faschistisch- repressives Gesicht«74 zeige. In der Tat ist der Hochsicherheitstrakt Stammheim zu einem Begriff in der Rechtsgeschichte der Bundes- republik Deutschland geworden. Steht nicht Stammheim für eine symbolische Inszenierung von Machtverhältnissen mit dem Ziel, die Bedrohung durch den Terrorismus öffentlich zu machen? Die hier vielfach nur angerissenen Fragen zum Komplex der Prozesse gegen Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni do- kumentieren, wie notwendig eine differenzierte Analyse ist. Ziel kann es also nicht sein, die Geschichte der Roten Armee Fraktion oder der Bewegung 2. Juni lediglich zu rekonstruieren oder stereo- typ zu bewerten, vielmehr müssen Widersprüche und Ambivalen- zen im zeithistorischen Kontext untersucht werden. Dazu gehören das Wechselverhältnis zwischen Staat und RAF bzw. zwischen staatlicher Reaktion einerseits und der Haltung der Justiz anderer- seits. Oder konkret gefragt: Begünstigten die Inszenierung und Dramatisierung der terroristischen Gefahr auf der gesellschaftli- chen Ebene und die Vermischung von Tatstrafrecht und Täterstraf- recht bzw. die Entpolitisierung auf der Prozessebene nicht ein Klima in der Bundesrepublik, das terroristischen Aktivitäten über- haupt erst eine »Bühne« gab? Wurden hierdurch nicht vor allem Solidarisierungseffekte verstärkt?75 Prinzipiell bleibt die Frage, ob nicht eine maßvolle Reaktion des Staates, also ohne verschärfte Verfolgungs- und Sicherheitsmaßnahmen oder Strafrechtsände- rungen, und ein rechtsstaatliches Strafrecht, das den Grundsatz der Gleichbehandlung zum Maßstab nimmt, wirkungsvollere Stra- tegien gewesen wären. Gilt dies nicht umso mehr, wenn man Terrorismus als »Provokation der Macht«76 begreift?

Gisela DiewaldKerkmann

73 Vgl. Butz Peters, Tödlicher Irr- Arbeit in »Anti-Folter-Komitees« tum. Die Geschichte der RAF, oder »Rote Hilfe-Gruppen« re- Berlin 2004, 336. krutiert werden konnten. 74 Peter Waldmann, Terrorismus. 76 Vgl. Peter Waldmann (Fn. 74). Provokation der Macht, München 1998, 78. 75 Das lässt sich exemplarisch an der Diskussion über die Haftbedin- gungen verdeutlichen und der Tatsache, dass etliche Mitglieder der so genannten zweiten und drittenGenerationerstdurchdie Rg7/2005 »Im Vordergrund steht immer die Tat …« Kritik 154

Im Guten wenig und im Schlimmen viel*

Der Henker hatte ganze Arbeit geleistet, der Jehôha-na-n (Johannes). Der Fund ist bisher ein- Verurteilte hing am Kreuz. Zwar war der eine zigartig. Da sich die Überreste aber in einem Nagel nicht ganz durch das rechte Fersenbein in schlechten Erhaltungszustand befinden, ist die den Pfahl getrieben worden, so wie es eigentlich Art und Weise der Kreuzigung in der Forschung hätte sein sollen, aber daran war das harte, ebenso umstritten wie das crurifragium.Zeitlich knorrige Olivenholz schuld. Vielleicht wurden wird diese Hinrichtung in das erste nachchrist- deshalb die Arme des Delinquenten auch nicht liche Jahrhundert gesetzt (t.a.q. 66/70 n. Chr.), an den Querbalken genagelt, sondern nur ge- vielleicht geschah sie unter dem kreuzigungswü- bunden. Ölbäume waren nicht die bevorzugte tigen Statthalter Judäas Antonius Felix (ca. 52– Holzart für Kreuzigungen, aber geeigneteres 60 n. Chr.).1 Material war wohl in diesem Moment knapp. Ob nun genagelt oder gebunden, die Kreu- Letztlich erfüllte die Aufhängung ihren Zweck. zigung war ein blutiges Geschäft, ging ihr doch Wir wissen nicht, wie lange der Mann am Kreuz auch eine ausgiebige Geißelung voraus. Aber ob hing, aber es scheint, als sei der Henker milde der Fund nun die ultimative Form der Kreuzi- gestimmt gewesen. Die Todesqual beendete er gung in der Antike zu belegen vermag, wie durch das crurifragium, d. h. die Schienbeine des mancher Forscher in seiner Begeisterung meinte, Gekreuzigten wurden zerschlagen, wodurch der ist nicht sicher. Darf hierbei doch nicht über- Tod unmittelbar eintrat. Die Verwandten des sehen werden, dass Johannes von seinem Henker Verurteilten waren nicht ohne Einfluss, wurde zwar in dieser Art aufgehängt wurde, dies aber doch der Leichnam zur Bestattung freigegeben, nicht zwangsläufig heißen muss, dass grundsätz- statt am Stamm zu verfaulen – aber vielleicht lich in dieser Weise gekreuzigt wurde bzw. wer- brauchten die Schergen auch einfach nur das den musste. Auf der Suche nach »historischen Holz für die nächste Hinrichtung. Allerdings Wahrheiten« wird gelegentlich übersehen, dass hatte der Henker große Mühe, den Toten vom menschliche Faktoren eine Rolle spielen: Ein- Kreuz abzunehmen, da sich besagter Nagel nun fluss auf Entscheidungen kann nämlich auch kaum mehr aus dem Holzstamm wieder heraus- haben, wie gut der Henker morgens gefrühstückt ziehen ließ und letztlich herausgebrochen wer- hatte, ob ihm das Wetter aufs Gemüt drückte den musste. Der Eisenstift, der die Schmach der oder er sich einfach nur ärgerte über die mindere Hinrichtung verriet, verblieb jedoch im Fersen- Qualität des Holzes. Der Phantasie der Schergen bein, auch bei der späteren Wiederbestattung waren überdies keine Grenzen gesetzt, sadisti- der Gebeine in einem Ossarium. Es war nämlich sche Neigungen konnten hemmungslos ausge- nicht möglich, ihn aus dem Knochen herauszu- lebt werden (Jos. bell. 5,11.449 ff.). ziehen, seine Spitze hatte sich im Holz verbogen. Recht oder Willkür? Diese Frage müssen wir 1968 wurden die Überreste dieses Gekreuzigten uns nicht nur für die Niederungen des Richt- in Givat(ha-Mivtar nordöstlich von Jerusalem platzes stellen, sondern auch für die hohe Politik. zufällig bei Bauarbeiten entdeckt. Eine Inschrift Guido Kirner hat nun in seiner Berliner Disser- auf der Knochenkiste nennt seinen Namen: tation aus dem Jahr 2002 den Versuch unter-

* Guido O. Kirner, Strafgewalt Schlimmen viel, lässt sich durch- Niedergang der Römischen Welt und Provinzialherrschaft. Eine aus bringen unter den Gebrauch 2, 25.1, 711 ff. Ergänzungen bzw. Untersuchung zur Strafgewalts- oder Missbrauch der magistrati- Berichtigungen J. Zias, E. Seke- praxis der römischen Statthalter in schen Fürsorge für die öffentliche les, The Crucified Man from Judäa (6–66 n. Chr.), (Schriften Sicherheit.« Givat(ha-Mivtar, in: IEJ 35 (1985) zur Rechtsgeschichte, Bd. 109), 1 N. Haas, Anthropological Obser- 22–27. Berlin: Duncker & Humblot 2004, vations on the Skeletal Remains 396 S., ISBN 3-428-11381-0; from Givat(ha-Mivtar, in: Israel das Zitat stammt von Theodor Exploration Journal (IEJ) 20 Mommsen, Strafrecht, 1899, 237: (1970) 49–59; H. W. Kuhn,Die »Was die Statthalter gethan ha- Kreuzigungsstrafe während der ben, im Guten wenig und im frühen Kaiserzeit, in: Aufstieg und Rg7/2005 de Libero, Im Guten wenig und im Schlimmen viel 155 nommen, den Charakter der Strafgewalt eines ronischen Verrinen nachzuweisen, auf die ich römischen Statthalters am Beispiel Judäas zu wegen ihrer Bedeutsamkeit ein wenig näher ein- untersuchen, der »Provinz«, in der das Kreuz gehen möchte: überaus beliebtes Hinrichtungsinstrument war. Der erste von Kirner behandelte Fall ist der Ziel seiner Arbeit ist es aufzuzeigen, dass die Kapitalprozess gegen Sopatros von Halikyai Maßnahmen des Statthalters weder in ein nor- (Verr. 2,2,68–81), in der der Propraetor C. Ver- matives Strafrechtssystem eingebettet gewesen res unter einem Vorwand einen Großteil seines seien, noch er ein rein »souveränes Herrenrecht« consilium entließ, um den Angeklagten endlich (Mommsen, Strafrecht, 238) ausgeübt habe. Für schuldig sprechen zu können. Anders als Kirner Kirner agierte der Statthalter in einem »Zwi- möchte ich gerade hierin einen Beweis für eine schenbereich rein persönlicher Willkürjustiz Bindungswirkung des Gremiums sehen, wobei und Vollstreckung übergeordneter normativer ich davon ausgehe, dass es sich, wenn nicht um Rechtsregelungen« (15). Kern- und Angelpunkt gesetztes Recht, so doch zumindest um aucto- seiner sorgfältig recherchierten Untersuchung ist ritas bzw. um gebündelte auctoritates handelt, die statthalterliche Kapitalgerichtsbarkeit. Nach die so wohl kaum vom kognoszierenden Juris- der obligatorischen Kritik an der Mommsen- diktionsmagistraten ignoriert werden konnten. schen Rechtssystematik hinterfragt Kirner des- Auch die sorgfältig arrangierte Zusammenset- sen strikte Trennung von coercitio und cognitio zung des consilium im Kapitalprozess gegen im Bereich militiae, also von magistratischer Philodamos von Lampsakos (Verr. 2,1,63–85), Zwangsgewalt und Strafgerichtsbarkeit in den die darauf abzielte, seine Verurteilung sicher zu Provinzen. Allerdings müssen wir zur Ehrenret- stellen, lässt eher auf eine Verbindlichkeit des tung des gescholtenen Mommsen festhalten, dass Votums schließen. Was allgemein das consilium dieser sich der Realität römischer Rechtspraxis betrifft, hat also Kunkels Satz weiterhin Gültig- durchaus bewusst war, welche in seinem juristi- keit: »Eine cognitio sine consilio galt als ver- schen System aber nichts zu suchen hat, was ihm werflich, wenn nicht gar als rechtswidrig« (Die kaum vorgeworfen werden kann. Anschließend Magistratur, 1995, 146). Der Prozess des Sthe- untersucht Kirner die in der Forschung umstrit- nius von Thermai (Verr. 2,2,83–118) zeigt, wie tene These Kunkels zum consilium im magistra- sichVerresüberdielex Rupilia,dasProvinz- tischen Kapitalstrafverfahren. Kunkel geht da- statut Siziliens seit 131 v. Chr., und die vom von aus, dass die Beisitzer des (Pro-)Magistraten Senat garantierte Autonomie der Stadt Thermai, nicht nur beratend tätig gewesen seien, wie etwa die er selbst in seinem Edikt anerkannt hatte, Mommsen meint, sondern deren Votum darüber hinwegsetzte. Rechtlich fixierte Satzungen wur- hinaus bindende Wirkung besessen habe. Mit denalsovonVerresmitFüßengetreten,auch dieser Überlegung stellt sich Kunkel überdies eine Ediktsklausel, die Kirner anführt, gewährte gegen Mommsens Vorstellung von einer »selbst- ihm rechtlich diesen Spielraum nicht, da es sich herrlichen Gerichtsbarkeit«, da über die Schuld bei dem Sthenius-Prozess nicht um die dort in eines Angeklagten das consilium zu entscheiden Aussicht gestellte zweitinstanzliche Überprüfung und der Statthalter nur den Richtspruch zu ver- von Urteilen handelte (Verr. 2,2,33: »wenn je- künden habe. Seine These sucht Kirner im ersten mand eine Fehlentscheidung treffe, dann werde Hauptteil der Arbeit (72–120) anhand der cice- er den Fall untersuchen etc.«). Der Fall zeigt, Kritik de Libero, Im Guten wenig und im Schlimmen viel 156

dass sich Statthalter eigentlich an gesetztes einem dem syrischen Legaten untergeordneten Recht hielten. Aber das ist das sogenannte Recht Praefecten oder Procurator verwaltet wurde. Er- des Stärkeren, der sich selbst durch das Recht kenntnisse zur ›Strafgewalt‹ können also nicht bindet – oder es eben auch ignorieren kann. unbedingt als herkömmliches Muster für römi- Wenn aber Statthalter allzu sehr über die Strän- sche Provinzialverwaltung auf andere Provinzen ge schlugen, wie eben Verres, konnte dies in übertragen werden. Es überrascht in diesem Zu- Rom von politischen Feinden etwa im Rahmen sammenhang, dass Kirner nicht die Münchner eines Repetundenverfahrens ausgenutzt werden. Dissertation von Peter Egger, ›Crucifixus sub Letztlich spricht dieses Fallbeispiel eher für Pontio Pilato‹. Das ›Crimen‹ Jesu von Nazareth Mommsens Bild einer »selbstherrlichen Straf- im Spannungsfeld römischer und jüdischer Ver- gerichtsbarkeit«, der ja mit Blick auf Verres waltungs- und Rechtsstrukturen, aus dem Jahr explizit vom »schrankenlosen römischen Her- 1997 zu kennen scheint. renrecht« spricht. Auch wenn ich Kirner in Kirner geht davon aus, dass das Verhalten seiner plausiblen These über die informellen der Statthalter Judäas »allein von ihrer persön- Handlungsspielräume statthalterlicher Politik lichen Einschätzung der Lage, nicht aber von zustimmen möchte, wird mir hier dem Recht etwaigen rechtlichen Vorgaben abhing, nach de- doch zu wenig Gewicht beigemessen. Das Pro- nen sie sich zwangsläufig zu richten hätten« vinzstatut, bilaterale Verträge sowie das Statt- (189). Sicherlich hat das eigene Ermessen eine halteredikt sind Teile einer Rechtsordnung, die große Rolle gespielt, ja spielen müssen, wenn es Bestand hatte, auch wenn sie von einem Verres um die Anwendung koerzitioneller Strafmaß- mit Füßen getreten wurde. Von einer »Rechts- nahmen ging; allerdings darf nicht außer Acht praxis« kann im Sthenius-Fall nicht gesprochen gelassen werden, dass wir es tatsächlich kaum werden, hier findet sich Willkür oder milder mit unterschiedlichen Verhaltensweisen der je- ausgedrückt, Herrschaft, die bestehendes Recht weiligen Statthalter zu tun haben. Die einheit- ignoriert. liche Vorgehensweise kann durchaus auf (ge- Während für Mommsen die Statthalter der wohnheits-)rechtliche Grundlagen zurückgehen, Republik »Verwalter des Herrenrechts« sind, hatte doch Rom schon seit mehr als drei Jahr- sieht er in den kaiserzeitlichen Legaten »Träger hunderten Erfahrungen in der Wahrung der der Reichsjustiz«. Die These will Kirner anhand öffentlichen Ordnung. Gelungen sind in diesem der »Provinz« Judäa (6–66 n. Chr.) überprüfen. Zusammenhang Kirners Ausführungen zum Zwar ist die Überlieferungslage zu Judäa gut, »informellen Kooperationsverhältnis« zwischen aber es liegt doch in der Verfasstheit administra- Statthalter und Führungsschicht der Provinzial- tiv-organisatorischer Strukturen und der Singu- bevölkerung. Hier hätte ich mir nur noch eine larität religiöser Empfindsamkeiten eine Sonder- Berücksichtigung der Ausführungen von Egger form vor. Der rechtliche Status des Territoriums (100–136) gewünscht. und die Stellung des Statthalters sind in der Die unbestrittene Tatsache, dass der syrische Forschung umstritten: Entweder wird Judäa als Legat auch in Judäa seine Strafgewalt ausüben, Provinz eines eigenständigen, nur dem Princeps ja sogar einen Praefecten vor das Kaisergericht verantwortlichen Statthalters angesehen oder bringen konnte, bedeutete, wie Kirner richtig bloß als Annex der Provinz Syrien, welches von ausführt, eine prekäre Situation für den Statt- Rg7/2005 de Libero, Im Guten wenig und im Schlimmen viel 157 halter, die so in anderen Provinzen nicht gegeben halters zum Opfer gefallen ist oder aufgrund war. Bei all seinen Entscheidungen musste er eines strafrechtlichen Verfahrens gekreuzigt wur- negative Reaktionen des Legaten befürchten de. Auch werden wir wohl nie erfahren, welche und damit auch mögliche Auswirkungen auf Interessen, Ängste oder Ressentiments zu diesem den kaiserlichen Hof, zudem war persönliche kapitalen Urteil beigetragen haben. So wie der Einflussnahme durch prominente Provinziale Nagel im harten Holz des Ölbaumes mag sich auf den Kaiser selbst zu berücksichtigen. Abhän- auch der Statthalter bei seinen Entscheidungen gigkeiten, Eitelkeiten, Schwachheiten bestimm- gewunden und vielleicht auch gegen seine eigene ten politische und rechtliche Entscheidungen – Überzeugung verbogen haben, wie wir etwa am ohne dass wir aber rechtlich normierte Ver- Beispiel der Prozesse gegen Jesus und Paulus waltungsstrukturen auszuschließen bräuchten. sehen. Kirner hat mögliche anthropologische DeutlichwirddiesandenProzessengegenJesus Konstanten in der politischen und sozialen Inter- von Nazareth und Paulus aus Tarsus, denen aktion trefflich herausgearbeitet. Aber in dem Kirner jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Bestreben, die menschliche Seite des Regierens Richtig verweist er auf vielfältige herrschafts- aufzuzeigen, schießt Kirner in seinem berechtig- pragmatische Überlegungen, die einerseits zu ten Anliegen mitunter über das gewünschte Ziel einer Verurteilung des Galiläers oder anderer- hinaus. Das Recht verschwindet allzu sehr hinter seits zur Verschleppung des Verfahrens gegen dem damit notwendig zusammenhängenden Paulus geführt haben. Diese menschelnde Grau- menschlichen Ermessen. Rechtssätze, Rechtstra- zone um das Recht herum hat es wohl zu al- ditionen werden in ihrer Bedeutung relativiert. len Zeiten gegeben. Unabhängige, unbefangene Kirner läuft Gefahr, nun wiederum dem Recht »Träger der Reichsjustiz« werden sich vermut- kaum mehr ein Recht einzuräumen. Letztlich ist lich kaum finden lassen. Allerdings sieht auch ihm zuzustimmen, wenn er feststellt: »Für eine Kirner in dem Vorgehen des Praefecten Pontius Untersuchung der statthalterlichen Strafgewalts- Pilatus zumindest im Strafverfahren vorgegebe- praxis bedeutet die Trennung der rechtlichen von ne, rechtlich fixierte Bahnen (290), während er der politischen Ebene ebenso einen Anachronis- dagegen eine rechtskräftige Wirkung der erfolg- mus wie die Überbetonung der einen oder der reichen Appellation im Fall des Paulus m. E. zu anderen Ebene« (344). Unrecht bezweifelt (332). Recht und Willkür: Wir wissen nicht, ob Jo- hannes der Willkür eines selbstherrlichen Statt- Loretana de Libero Kritik de Libero, Im Guten wenig und im Schlimmen viel 158

Spiegelkunde*

Die Tatsache, dass zwei Rechtsfälle mit ähn- werden die Grundlagen der Rechtskultur aufge- lichem Tatbestand, die unter dasselbe Gesetz zeigt, die noch heute die norwegische Rechts- fallen, jedoch mit zwei unterschiedlichen Urteils- ordnung prägen. sprüchen enden, mag das große Publikum empö- Heute ist es recht populär, über »Rechtskul- ren, einen Juristen allerdings nicht unbedingt. tur« oder »Juristenkultur« zu schreiben. Jedoch Einen rechtspolitisch oder -theoretisch orientier- fehlt eine klare Definition, und fast jeder bildet ten Forscher macht dies neugierig und Rechts- eine eigene. Die Rechtskultur des Rechtsspiegels historikern, die Materialien zu längeren Zeit- ist, so lesen wir nun, eine Einheit von »physi- perioden bzw. mehreren Orten oder Instanzen schen und mentalen Strukturen« des Rechts: Es studieren, ist diese Kombination recht bekannt. geht um physische Einrichtungen und Maßnah- Und es gibt eine Fülle an unterschiedlichen Er- men sowie um Ideen und Vorstellungen. Rechts- klärungen dafür. kultur ist etwas, das zwischen einem Individuum Jørn Øyrehagen Sunde (Tromsø) beginnt und kollektiven Vorstellungen und Erwartungen seinen »Rechtsspiegel« mit zwei Fällen: Der eine sowiezwischenPraxisundIdeenliegt.Sosinddie stammt aus dem Thingprotokoll von 1744 und Individuen Akteure der Rechtskultur – und da- der andere aus einem 33 Jahre später verfassten. mit kommen wir zurück auf die eingangs ge- In beiden Fällen war das norwegische Gesetz- schilderten Rechtsfälle. Zur unterschiedlichen buch von König Christian V. in Kraft, in beiden Urteilsfindung, so das Ergebnis, kam es deshalb, Fällen zogen sich die Parteien an den Haaren und weil der zweite Richter professionell ausgebildet schlugen sich. Im ersten Urteil wurden mehrere war: Er hatte nach den Regeln aus dem Jahre einzelne Straftaten aufgezählt und jede wurde 1736 ein juristisches Amtsexamen abgelegt und mit neun Reichstalern bestraft, im zweiten Urteil somit juristische Literatur studiert. jedoch war nur von einer Schlägerei die Rede, die Die Schlussfolgerung per se ist überzeugend, mit einer Geldbuße von neun Talern belegt wur- ob man dazu einen Rechtskulturbegriff braucht, de. Was war passiert, was hatte sich verändert? ist allerdings eine andere Frage. Besser funktio- Man findet weder Hinweise auf Veränderungen niert (eben) diese Idee der Rechtskultur als Kritik in der Rechtslage noch auf Veränderungen in der an der – nicht nur – traditionellen norwegischen »Umwelt« des Rechts. Doch die Rechtskultur in Rechtsgeschichte, die erst mit den mittelalter- Norwegen, so der Autor, hatte sich in der Zeit lichen Gesetzbüchern beginnt, und noch besser zwischen den zwei Fällen verändert, und da- als Möglichkeit, eine rechtliche »Subkultur« in durch war die Rechtspraxis auch nicht mehr Norwegen, die samische, zu beschreiben und zu dieselbe. So ist dieser Rechtsspiegel »ein Buch analysieren. über die Geschichte der Rechtskultur – nicht Anhand der »physischen und mentalen über die Rechtsgeschichte«. Und es ist dem Au- Strukturen« des Rechts und ihrer Veränderun- tor zufolge ein – vor allem als Lehrbuch gedach- gen kann man die norwegische Rechtskultur in tes – Grundlagenwerk: Durch Studien bestimm- zwei Epochen unterteilen. Der Wendepunkt der ter Episoden der norwegischen Rechtsgeschichte Epochen liegt in den 90er Jahren des 16. Jahr-

* Jørn Øyrehagen Sunde, Speculum legale – rettsspegelen. Ein introduksjon til den norske rettskulturen si historie i eit euro- peisk perspektiv, Bergen: Fagbok- forlaget Vigmostad & Bjørke 2005, 409 S., ISBN 82-450-0090-6 Rg7/2005 Letto-Vanamo, Spiegelkunde 159 hunderts. Die erste Epoche wird in weitere zwei Verfassungsrechts gehören, obwohl die »physi- Perioden (900–1260 und 1260–1590) geglie- schen und mentalen Strukturen« des Rechts dert. Die frühere Periode ist die der rechtlichen sicher eine wichtige Rolle auch in vertraglichen Frühordnung und die spätere die der Rechts- Beziehungen zwischen den Menschen spielen. ordnung. Dem Autor zufolge wurde seit den Weil der »Rechtsspiegel« ein der Rechtskul- 90er Jahren des 16. Jahrhunderts die mittelalter- tur verpflichtetes Buch ist und seine Rechts- liche Rechtsordnung endgültig durch ein Rechts- kulturdefinition das Mentale und Ideale betont, system ersetzt. Der Übergang zu einer friedlichen rückt die juristische Ideengeschichte stark ins Konfliktlösung am Thing war schon für die Blickfeld. Ein anderer Grund hierfür ist dem Frühordnung typisch. Es existierte aber noch Titel zufolge die Betrachtung der norwegischen eine Pluralität der Rechtsquellen. In der Periode Rechtskultur aus europäischer Perspektive. Im- der Rechtsordnung verstärkte sich die Rolle des mer häufiger fragen ja Juristen, insbesondere Königs, was man besonders in der Gesetz- Jurastudenten, ob das nordische Recht sui ge- gebungstätigkeit von Magnus Lagabøtir (um neris sei, ob man ins Ausland fahren müsse, um 1270) bemerkt. Trotzdem lebte die Idee des Europa und sein Recht kennenzulernen. Und Thing und der Teilnahme des Thingsvolks stark wenn das Europa des Rechts nach wie vor an- weiter, und es gab einen ständigen Kampf um die hand der Merkmale des gelehrten Rechts und Balance zwischen dem König, der Kirche und der nur mit Hilfe des römischen und kanonischen Aristokratie. Rechts definiert wird, muss man den Norden – Die Zeit des Rechtssystems beginnt nicht aber vielleicht nicht Norwegen – verlassen: Sun- mit der Reformation, sondern mit dem endgül- de geht etwas überraschend davon aus, dass tigen Abschied von der mittelalterlichen Rechts- sowohl das römische Recht, besonders die Di- ordnung. Der absolutistische (dänische) König gesten, als auch das kanonische Recht, zumin- Christian V. war Urheber des neuen norwegi- dest das Decretum Gratiani, schon im 12. Jahr- schen Gesetzbuches aus dem Jahre 1687. Andere hundert in Norwegen bekannt und wirksam Zeichen des Übergangs von einer Rechtsord- waren. In der Konfliktlösung während der Früh- nung zu einem Rechtssystem waren der Kampf ordnung-Periode kann man Einflüsse von Au- gegen die Kriminalität (aufgrund der mora- gustin und Isidor von Sevilla sowie etwas über lischen Panik nach der Reformation), die juris- die Idee des bellum justum finden. tische Universitätsausbildung, Amtsexamen, die Man kann wohl davon ausgehen, dass die Entstehung des Anwaltstandes, eine feste Instan- Texte der nordischen mittelalterlichen Rechtsbü- zenordnung und der »Appellationszwang« zum cher (vom 13. und 14. Jahrhundert) nach dem König sowie die Kritik der Folter. Das 18. Jahr- damaligen allgemeineuropäischen Muster ange- hundert wird sehr gründlich, das 19. Jahrhun- ordnet und redigiert wurden. Sie bestanden aus dert auf zehn Seiten und das 20. Jahrhundert verschiedenen Textstufen, in denen man Spu- (u. a. mit dem norwegischen Rechtsrealismus) ren der Macht der katholischen Kirche sowie auf nur drei Seiten behandelt. Hier, wie in den des kanonischen Rechts entdecken kann. Die anderen Teilen des »Rechtsspiegels«, wird fast ersten nordischen Gelehrten waren ja Geistliche. nur auf diejenigen Grundlagen eingegangen, die Aus der Entstehungsgeschichte von Magnus heute zu den Gebieten des Prozess-, Straf- oder Lagabøtirs Land- und Stadtrechten weiß man Kritik Letto-Vanamo, Spiegelkunde 160

auch, dass diese von Männern konzipiert waren, den, dass man sich allmählich von den Ritualen die in Bologna studiert hatten. Der Einfluss des und Formalitäten befreite und dass die Urteilen- römischen Rechts im – meist bäuerlichen – nor- den eine – wenigstens in den Augen der Parteien dischen Rechtsleben ist aber sehr umstritten. – zunehmend autoritäre Rolle in der Konflikt- Jedenfalls ist es methodologisch gewagt zu be- lösung spielen konnten. haupten, man könne in Gulatings- und Frosta- Womöglich wurde die Rechtspraxis in Nor- tingsrechten Spuren der Rezeption des römi- wegen etwas früher als in den anderen nor- schen und kanonischen Rechts finden, nur weil dischen Ländern professionalisiert, weil einige die einzelnen Texte den europäischen ähnlich Richter (lagman) dem Autor zufolge schon im sind. 12. Jahrhundert juristisch ausgebildet waren. Auch in der Periode der Rechtsordnung Jedenfalls hat Norwegen (mit Dänemark) ohne wurden europäische Verbindungen aufgespürt. Zweifel im Laufe des 18. Jahrhunderts »europä- Zu den mentalen Pfeilern der Rechtskultur ge- isches Niveau« erreicht. Das System der Amts- hört die juristische Methode. Im »Rechtsspiegel« examen war auch für die Entwicklung der wird sie als Technik verstanden, die es möglich Rechtswissenschaft, die in jenem Jahrhundert macht, dass zwei Personen aus zwei unterschied- besonders von Naturrechtsdenken geprägt war, lichen geographischen Gebieten und/oder zu von großer Bedeutung. So gab es nach 1590 einem unterschiedlichen Zeitpunkt auf gleiche höchst verschiedene Ursachen für Veränderun- Weise urteilen können. Seit ca. 1260 galt die genimnorwegischenRechtundinderRechts- Distinktionstechnik als neue Methode und es kultur: Änderungen in »den physischen und wurde damit auch ein neues Gerechtigkeitsideal mentalen Strukturen« des Rechts wurden – wer- geschaffen. Gleichzeitig kann man einen Über- den – häufig durch Inspirationen ausgelöst, die gang vom Äquivalenz-Prinzip zum Billigkeits- man aus dem Recht außerhalb des eigenen er- Prinzip beobachten. Diese Ideen werden mit fährt. Darum ist das Recht dynamisch und mo- europäischen Texten von Aristoteles und dem bil. Nach dem »Rechtsspiegel« erfolgte die Re- Liber extra sowie mit norwegischen von Magnus zeption des deutschen Rechts zuerst durch Lagabøtir und Passagen aus dem so genannten Gewohnheitsrecht, besonders durch die Hanse »Königsspiegel« unterfüttert. Die Tatsache, dass und das norddeutsche Recht, und später durch man in den mittelalterlichen volkstümlichen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft des 17. Rechtstexten zwischen unterschiedlichen Tat- und 18. Jahrhunderts. Nach dem zweiten Welt- beständen und Sanktionen differenziert, könnte krieg verstärkte sich in Norwegen der anglo- manaberauchalsZeichenderKasuistikunddes amerikanische Einfluss, und schließlich bedeutet Konkretismus verstehen. Und wenn die frühen das Europa des Rechts immer häufiger das der Texte die Verpflichtung / das Recht der Urteilen- Europäischen Union. den (Schöffen) zur Untersuchung und Wertung betonen, kann dies als Zeichen verstanden wer- Pia LettoVanamo Rg7/2005 Letto-Vanamo, Spiegelkunde 161

Folter: Rituale der Macht?

»Folter« ist ein höchst aktuelles Thema. Die Pinochets und in den Haftanstalten der türki- Vernehmungspraxis vieler sowohl demokrati- schen Polizei. … Aber diese Folterungen gescha- scher als nicht demokratischer Staatsapparate hen und geschehen heimlich, jenseits der Gesetze in der Welt ist in jüngerer Zeit zunehmend oder gar im Widerspruch zu den Gesetzen …« zum Thema in Medien und Gegenstand ent- (14). Damit stellt Baldauf auf einen bestimmten sprechender Kritik geworden. Dies hat auch rechtspositivistischen bzw. »demokratietheoreti- Wirkung im wissenschaftlichen Feld gezeigt. schen« Begriff des Rechts ab: »Die Folter im Mehrere Neuerscheinungen auf dem deutschen Sinne unserer Betrachtungen war also – und das Büchermarkt sind ein Indikator dafür. Sie ma- unterscheidet sie von den Folterpraktiken un- chen darüber hinaus deutlich, dass Folter auf serer Epoche – jedenfalls dem Grundsatz nach ganz unterschiedliche Art und Weise thematisiert geltendes Recht. Geltung konnte dieses Recht werden kann. freilich nur als positives (nicht notwendig immer geschriebenes) Recht haben, also im Sinne der 1. In seinem Buch »Die Folter. Eine deutsche Überzeugung zumindest einer großen Mehrheit Rechtsgeschichte«* rekonstruiert Dieter Baldauf der Zeitgenossen von der Rechtmäßigkeit ihres 500 Jahre Folter in Deutschland – vom ersten Handelns« (14). Baldauf fragt explizit nach Ent- belegten Fall im Jahr 1321 in Augsburg bis zur stehung und Bedingungen der Möglichkeit des Abschaffung der Folter in Baden 1831 – als eine Rechtsinstitutes der Folter und deren Beibehal- »Unrechtsgeschichte«. Der Titel des Buches ist tung (14). Empirischer Ausgangspunkt der Ar- mehrdeutig. Weist er auf »eine deutsche Rechts- beit ist die Stadt Regensburg, wo Dieter Baldauf geschichte«, auf »eine deutsche Rechtsgeschich- als Rechtsdezernent gearbeitet hat. Eine Mikro- te« oder auf »eine deutsche Rechtsgeschichte« geschichte der Folter bzw. des Einsatzes der hin? Folter in Regensburg zu verfassen, unternimmt Anders formuliert: Weist er auf die Kontin- Baldauf im zweiten Teil seiner Arbeit (17–41): genz der Rekonstruktion, auf den nationalen Anhand einer zwischen 1800 und 1824 in meh- Charakter bzw. auf die deutsche »Besonderheit« reren Bänden erschienenen Regensburgischen der Geschichte der Folter oder auf den Umstand Chronik des Archivars Carl Theodor Gemeiner hin, dass es sich um eine (Rechts-)Geschichte thematisiert er die Anwendung der Folter im handelt und zwar um Vergangenheit, die keinen mittelalterlichen Regensburg. Der erste Fall Bezug zur Gegenwart mehr hat? Baldauf be- stammt aus dem Jahr 1338. Es handelt sich um gründet seine Periodisierung mit dem Argument, einen klassischen Fall von »Hochverrat«: Infolge ihm gehe es um die Folter als »Rechtseinrich- einer Auseinandersetzung mit dem Rat der Stadt tung«, um »die peinliche Frage« (13 ff.): »Ge- lässt der Kaiser Ludwig (der Bayer) seine Trup- foltert wurde in Deutschland ja auch noch von pen vor die Stadt anrücken. Die Anhänger des den Schergen der Gestapo. Gefoltert wurde und Kaisers in der Stadt versuchen, einen Tunnel für wird auch in unserer Zeit noch in den Verliesen die Angreifer zu bauen. Zwei werden entdeckt eines Chomeini, in den Polizeigefängnissen eines und gefoltert, um die Existenz weiterer Mittäter

* Dieter Baldauf, Die Folter. Eine deutsche Rechtsgeschichte, Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004, 235 S., ISBN 3-412-14604-8 Kritik Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 162

festzustellen. Weiterhin schildert Baldauf andere selbst. Als historische Bedingungen der Entste- Folterfälle aus den Jahren 1387, 1440 und 1441, hung der Folter in Deutschland gelten nach Bal- 1457 bis zum Jahre 1519. Insbesondere richtet dauf 1. der Kampf der Kirche qua kanonischem er seine Aufmerksamkeit auf die Folterung von Recht gegen die Ketzer; 2. der »Import des rö- Juden. Diese wird plausibel im allgemeinen ju- mischen Rechts aus Italien« und 3. »der Kampf denfeindlichen Kontext im europäischen Mittel- gegen die ›landschädlichen Leute‹«. Die Inquisi- alter positioniert. Ein Ritualmordprozess gegen tion mit ihrem Bezug auf die »materielle Wahr- Juden von 1476 wird unter anderem eingehend heit« wird als Fortschritt bezeichnet (65 ff.). Die durch Baldauf rekonstruiert. Auf dem Rückweg Constitutio Criminalis Carolina wird als Reak- von einer Reise nach Rom trifft der Bischof von tion gegen die »Willkürjustiz im Spätmittelalter« Regensburg seinen Kollegen in Trient. Von ihm aufgefasst (83 ff.). Hier befremdet den Leser erfährt er von einem 1475 in Trient durchge- Baldaufs Beschäftigung mit dem Problem der führten Ritualmordverfahren gegen Juden. Ein Entstehung bzw. Ausbreitung der Folter gerade Angeklagter habe unter der Folter Aussagen inderZeit,inderdieBambergerHalsgerichts- über den durch Juden verübten Mord an einem ordnung, die Carolina und insbesondere die »Christenkind« in Regensburg gemacht. Der deutsche Strafrechtswissenschaft entstanden. Regensburger Bischof lässt sich eine Abschrift Exemplarisch: Johann Freiherr von Schwarzen- des Verhörprotokolls anfertigen, kehrt nach Re- berg ist ein »in ritterlicher Tradition erzogener gensburg zurück und fordert den Rat in Regens- Mann, in seiner Jugend ein zech- und spielfreu- burg dazu auf, das Verfahren einzuleiten. Unter diger Haudegen«, der »dann durch väterliche der Folter beschuldigen sich die Juden gegenseitig Mahnung zu ernsthafter Lebensführung veran- und gestehen noch weitere Verbrechen. In diesem lasst« wurde (87). Schwarzenberg habe sich »als wie in den anderen geschilderten Folterfällen Staats- und Verwaltungsmann mit sittlichem Ver- hebt Baldauf plausibel hervor, dass die Folter antwortungsbewusstsein und in humanistischem als Mittel zum Zweck der Aussageerzwingung Geist der Behebung der Mängel seiner Zeit« bzw. -produktion angewendet wird. Er benennt gewidmet (87). Wie steht es aber mit der Folter? zu Recht auch die ökonomischen Folgen des »Schwarzenberg hat die Folter nicht abgeschafft Geständnisses, d. h. die Beschlagnahme des oft (er hat sie ja auch nicht in Deutschland einge- erheblichen Vermögens des Angeklagten (31 ff.). führt), dafür war die Zeit noch nicht – noch lange In den weiteren Teilen des Buches findet eine nicht – reif« (88). Damit wird deutlich, dass für Verschiebung von der Mikrogeschichte der Stadt die Erklärung der Foltererfindung und -beibe- Regensburg bzw. ihrer Folterstätte auf die Ma- haltung der Gründermythos, der mit der Figur krogeschichte der Folter statt. Hier rekonstruiert Schwarzenbergs verbunden ist, nicht gehalten Baldauf die Geschichte des »Rechtsinstituts« der werden kann. Alle Qualitäten, die Schwarzen- Folter von der Bulle »Ad extirpanda« über die berg aufweist, erweisen sich als wirkungslos in Bamberger Halsgerichtsordnung, die Constitutio Bezug auf die Frage der Folter. An die Stelle tritt Criminalis Carolina, die Hexenprozesse, bis zur die Geschichte mit ihren strukturellen Unmög- Forderung der Abschaffung und – über von Spee, lichkeiten, die Folter abzuschaffen. Die Mög- Thomasius, Voltaire, Beccaria und allgemeiner lichkeit einer positiven Wirkung des juristischen die Bewegung der Aufklärung – zur Abschaffung Handelns wird sogar im Allgemeinen verneint: Rg7/2005 Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 163

»Freilich hat das Wirken von Juristen letztlich nicht mehr der Überzeugung einer großen Mehr- noch nie rechtliche Irrwege politischer oder ideo- heit der Zeitgenossen von der Rechtmäßigkeit logischer Art verhindern können. Dafür ließen des Quälens von Menschen. Die Rechtsgeschich- sich eindrucksvolle Beispiele aus jüngerer deut- te der Folter in Deutschland war damals längst scher Vergangenheit anführen, schließlich war beendet – es gab noch eine Unrechtsgeschichte auch – um ein Extrembeispiel zu nennen – Ro- der Folter« (215). Hier stellt sich aber nun die land Freisler Jurist« (101 f.). Damit wird aber Frage, wie Baldauf davon ausgehen kann, dass implizit auf die Möglichkeit einer negativen Wir- die »große Mehrheit« der Rechtsgenossen in der kung der Juristen hingewiesen. Wie es möglich Zeit des Nationalsozialismus nicht davon über- ist, dass nur »irrige« und »ungerechte« politische zeugt war, dass es rechtmäßig sei, Staatsfeinde Handlungen der Juristen wirken können, bleibt (nicht Menschen! Die gab es und gibt es heute dabei unklar. Baldauf neigt gelegentlich dazu, für den Sicherheitsstaat auch nicht!) zu quälen? die Geschichte zu naturalisieren bzw. ihre prä- Insbesondere die Diskussion in der historischen zisen gesellschaftlichen Bedingungen zu über- Literatur der letzten zwanzig Jahre hätte zumin- sehen: »Die Hexenprozesse der frühen Neuzeit, dest zur Differenzierung und Vorsicht veranlas- des 16. und 17. Jahrhunderts, stellen in der sen können! deutschen Rechtsgeschichte – dieser Begriff im- Problematisch ist auch der Ausblick. Es ist mer verstanden als die Justizgeschichte im Sinne unklar, weshalb Baldauf von einer deutschen der Überzeugung der großen Mehrheit der Zeit- Rechtsgeschichte der Folter plötzlich auf das genossen von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns – Problem der Folter in der Türkei zu sprechen die Katastrophe schlechthin dar« (135). Ein aus kommt: »Es ist unverständlich, dass die Europä- der Nahvergangenheit angestellter Vergleich ische Union, die ja ein Zusammenschluss von führt Baldauf zu weiteren Naturalisierungen Rechts- und Kulturstaaten ist, ein Land wie die von historischem, wohl zurechenbarem Han- Türkei, das die Folter zwar auf dem Papier ver- deln: »Die noch viel größere Mordkatastrophe boten hat, massenhafte Folterungen aber sehen- der deutschen Geschichte, nämlich die des sog. den Auges weiterhin zulässt, als Beitrittskandi- Dritten Reiches, hatte mit ›Rechtsgeschichte‹ daten behandelt« (220). auch in diesem eingeschränkten Sinne überhaupt Zum einen wäre es vielleicht angebrachter nichts mehr zu tun« (135). gewesen, den Blick konsequent nicht auf die Ähnliches in der eineinhalb Seiten langen Türkei, sondern reflexiv auf Deutschland zu Ausführung zur »seitherige(n) Entwicklung in richten. Der Fall Daschner, aber auch der Einsatz Deutschland«. Nach der Bemerkung, dass in von Brechmittel durch die Polizei böten ausrei- der nachfolgenden deutschen Rechtsgeschichte chend Material dazu. Zum zweiten und m. E. nur im Nationalsozialismus und in der DDR noch wichtiger: Baldauf knüpft implizit an eine die Folter wieder angewendet worden sei, Tradition der deutschen Strafrechtsgeschichte schließt Baldauf die Notwendigkeit der Thema- an, die das Problem der ›deutschen Identität‹ tisierung solcher Fälle mit dem Hinweis auf den und deren Bedrohung von außen in den Vorder- schon erwähnten rechtspositivistischen bzw. grund stellt. So kam etwa Eberhard Schmidt »demokratietheoretischen« Begriff des Rechts noch 1965 nach 485 Seiten über die Geschichte aus: »Nun entsprach sie [die Folter] allerdings der deutschen Strafrechtspflege zu folgenden Kritik Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 164

Schlussworten: »Die über die Millionenzahl Beziehungen herausreißt, dann aber durch die hinausgegangene Masse fremdländischer ›Gast- Inszenierung eines absoluten Machtzustandes in arbeiter‹ wird in dem Augenblick, wo dem ›Ver- einer permanenten Liminalität festhält und somit teilerstaat‹ das Sinken des Sozialprodukts eine auf die Zerstörung der Möglichkeit einer Wie- Erfüllung der ihm gegenüber immer mehr ge- derangliederung in soziale Gemeinschaften zielt? steigerten Ansprüche an Arbeitsverkürzung und Folter ist in diesem Sinne der Versuch im Me- Lohnerhöhung nicht mehr möglich macht, zu dium absoluter Gewalt, Liminalität auf Dauer einem sozialen und politischen Problem werden, zu stellen, d. h. die permanente Inszenierung des das alle Erinnerungen an die ›displaced persons‹ Opfers um der Demonstration der absoluten der Nachkriegszeit in erschreckende Erinnerung Macht willen« (129). ruft. … Nicht nur für das deutsche Volk, sondern Zirfas bevorzugt das zweite Erklärungsmus- für die Erhaltung der westeuropäisch-abend- ter. Seine These lautet, dass die Folter »ein Ritual ländischen Kultur zumindest in Europa über- der Grausamkeit (ist), weil es dem Opfer vor- haupt wird es von entscheidender Bedeutung führt, dass es dieses in einem unvollendet-voll- sein, ob die im Grundgesetz geschaffene Ent- endeten Übergang festhalten kann« (129, Her- scheidung für eine auf der Idee der Verantwor- vorhebung im Original). Die Folter sei »eine tung und des Rechts beruhende Ordnung des rituelle Metamorphose, die keinen Übergang, Gemeinschaftslebens aus den beängstigenden in- sondern einen Status, den des Leidens und Ster- neren und äußeren Gefahren der Gegenwart be- bens, arrangiert«. Damit werde die »Unsterb- freit werden und wiederum zu einer alle ver- lichkeit« der »Macht« inszeniert und somit wie- pflichtenden Bedeutung gelangen kann …«1 derum eine wichtige Differenz gegenüber den »klassischen Ritualtheorien« markiert (129 f.). 2. Ein anderes Licht in die Folterkammer wirft Dies ist jedoch nicht die einzige Definition der Beitrag »Rituale der Grausamkeit. Perfor- der Folter, die von Zirfas vorgeschlagen wird. mative Praktiken der Folter« von Jörg Zirfas.** Folter wird durch ihn auch als »Bestandteil einer Zirfas geht es weder um die Frage nach der Politik der Eliminierung des Andersartigen« de- Moralität der Folter, noch um die Psychologie, finiert (130). Unter Ritual versteht Zirfas »eine noch um die Frage der Funktion der Folter und symbolische Inszenierung …, die einen räum- schließlich nicht um die Möglichkeit der Deu- lichenundzeitlichenRahmenhatundderen tung der Folter als eine »Umkehrung der Norma- Praktiken mit der Differenzkonstituierung und lität«, die darin liegen würde, dass die Folter -bearbeitung des Sozialen zu tun haben« (130, »radikal die sozialen Beziehungen in Frage stellt« Hervorhebungen im Original). Das »Performa- (131). Ihm geht es lediglich um die Betrachtung tive« liege darin, dass die Folter »als eine ›per- der Folter als Ritual bzw. Performance. formance‹, ein Handlungszusammenhang, eine Das theoretische Gerüst wird durch die Ri- Inszenierung und ein Arrangement der intentio- tualtheorie von Arnold van Gennep und Victor nalen und systematischen Schmerzzufügung zu Turner geliefert: »Folgt die Folter dem Schema verstehen« sei (131). von Ablösung, Umwandlung und Angliederung Die Analyse des »performativen Rituals« oder ist die Folter ein ›unvollständiges‹ Ritual, der Folter wird systematisch anhand der Variab- das Menschen zwar zunächst aus allen sozialen len Raum, Zeit und Körper durchgeführt. Zum

1 Eberhard Schmidt, Einführung ** Jörg Zirfas, Rituale der Grau- in die Geschichte der deutschen samkeit. Performative Praktiken Strafrechtspflege, Göttingen 1965, der Folter, in: Die Kultur des 458. Rituals. Inszenierungen. Prakti- ken. Symbole, hg. von dems. und Christoph Wulf, München: Wilhelm Fink 2004, ISBN 3-7705-4017-4, hier: 129–146. Rg7/2005 Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 165

Beispiel bedeutet Raum im Falle der Folter: »be- das einen Angriff auf die »Realität« darstellt: grenzte, geschlossene und überschaubare Räu- »Die Folter zerstört … jede gemeinsame Form me«. Das Performative liege in der »Abschlie- von Realität. Paradox formuliert ist die Folter ßung und Minimierung des Raumes«. Der ein Ritual, das jegliche Ritualität auflöst. Denn geschlossene Raum gilt alsOrtder»Überwa- Rituale zielen auf die Ordnung eines gemein- chung« (Foucault) und der »Unendlichkeit der samen Handelns, das für alle Teilnehmer ver- Ordnung« (132), in dem die Macht »sich ver- bindlich ist« (141). dichtet«. Als Musterbeispiel gilt das Konzentra- Nach Zirfas handelt es sich also im Falle der tionslager, dessen »Organisation des Raums« Folter um eine besondere bzw. paradoxe Form zur »Zerstörung der Territorien des Selbst« von Ritual. Diese Besonderheit bzw. paradoxe führe (133): »Verdichtete Massenräume führen Beziehung des Rituals der Folter zur Ritualtheo- nicht zur Solidarität, sondern zur Isolation und rie wird weiter beobachtet. Ausgehend von der Selektion« (133). Definition von Jan Philipp Reemtsma, der in der Der Gegenstand, auf den die »absolute Folter die »totale Herrschaft des Menschen über Macht« wirke, das »empirische Substrat«, das den Menschen« sieht, erfasst Zirfas die Folter durch die Folter performativ ausgemerzt werden als einen »Grenzfall eines Rituals« (142). Sie sollte, ist die Sprache. Hier verweist Zirfas auf stelle »nicht eine Differenzierung im Sozialen, die Idee Foucaults, der die Folter als »rituelle sondern eine Differenzierung des Sozialen selbst Technik der Wahrheitsproduktion« versteht. Da- dar …, denn in und mit der Folter löst sich das gegen betont Zirfas, dass Foucault sich damit Soziale in Täter und Opfer, in Subjekt und Ge- auf die Funktion der Folter konzentriere. Damit genstand auf. Als Grenzfall kann die Folter würden aber durch Foucault die »Performan- zugleich als vollkommenes Ritual gelten, da ihr zen« der Folter nicht berücksichtigt: »Das Spre- eine Differenzialität der Macht innewohnt, die chen des Folterers ist ein erniedrigendes, zer- die Grenzen zwischen Täter und Opfer in radi- störerisches, zersetzendes Sprechen, das als kaler und absoluter Weise zu markieren ver- peinliche Befragung eine Form der Folter dar- mag …« (142, Hervorhebungen im Original). stellt, in der der Körper der Macht zum diskursi- ›Radikalität‹, ›Absolutheit‹ kehren in den Dis- ven Element transformiert wird« (140). Mit aus- kurs von Zirfas zurück: »Die absolute Macht drücklichem Hinweis unter anderem auf Judith bedient sich zynischer performativer Praktiken. Butler und auf ihre Berücksichtigung des »hate Man könnte hier von einer exzessiven Ritualität speech« wird die Folter als eine »sprachliche sprechen, die das Opfer ständig mit unvorher- Waffe« rekonstruiert, die die Sprache des Ge- sehbaren Entscheidungen konfrontiert, weil die folterten zerstört: »Die Folter ist somit ein Pro- Folter radikale Gewalt mit radikaler Kontingenz zess der sozialen, kulturellen und sprachlichen kombiniert« (142, Hervorhebung im Original). Entdifferenzierung; auf der einen Seite herrscht Auf einer symbolischen Ebene erweise sich reine Körperlichkeit, auf der anderen inszeniert Folter als ein »Grenzfall«: »die Inszenierung sich reine Sprachlichkeit. … Die Folter ist daher der vollendet-unvollendeten Transformation, die unter performativen Gesichtspunkten eine Ver- Macht, jemanden zwischen Leben und Tod fest- ordnung von Sprachlosigkeit« (141). Damit zuhalten und sich damit auf beiden Seiten der wird aber die Folter als ein Ritual verstanden, Grenze zu situieren, symbolisiert in unverhohlen Kritik Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 166

eindeutiger Form die Art der Herrschaft, die in- 3. Horst Herrmann, Professor der Soziologie tendiert ist, nämlich Unsterblichkeit. Die Folter in Münster, versucht, »das Grauen« der Folter zu ist das theologische Projekt einer absoluten beschreiben. In seinem Buch »Die Folter. Eine Macht. Die Folter ist die Aufführung einer abso- Enzyklopädie des Grauens«*** liefert er eine luten Macht, die paradoxerweise auf das Ritual detaillierte Beschreibung der unzähligen Folter- der Folter angewiesen bleibt, weil sie nur in methoden. Sein Alphabet des Grauens fängt diesem Rahmen die Fiktion ihrer Absolutheit mit den Stichworten Abschneiden, Abschneiden aufrechterhalten kann« (142 f.). der Finger (der Hände), Abschneiden der Füße, Der Ansatz von Zirfas ist unter mehreren Abschneiden der Lippen, Abschneiden der Nase, Gesichtspunkten problematisch. Es ist zum einen Abschneiden der Ohren, Abziehen (der Haut) zu fragen, ob die Ritualtheorie zur Erklärung an. In kurzem Abstand folgen: Aufessen, Auf- von Folter fruchtbar ist. Zirfas selbst muss ein- ziehfolter usw. bis hin zu Zahnfolter und räumen,dassessichimFallederFolterumeinen Zwangstracht. Nach dem systematisch »grau- »Grenzfall« handelt, um ein Ritual, das »jegliche samen« Teil mit der jeweiligen Rekonstruktion Ritualität auflöst«. Diese theoretischen Wider- der technischen Aspekte werden Beispiele ange- sprüche müssten einen ausreichenden Ausgleich führt, die manchmal interessante Informationen finden. Dies aber scheint nicht der Fall zu sein. anbieten. So wird an verschiedenen Stellen des Ausdrücke wie »totale Erfassung« »absolute Buches auf das umfangreiche Folterwissen und Macht« »vollständige leibliche Beherrschung«, die entsprechende Tradition der katholischen »radikale Kontingenz«, »permanente Inszenie- Kirche bzw. der Päpste hingewiesen.2 Was die rung«, »permanente Gewalt«, »permanente Li- jüngere Tradition der Folter betrifft, so finden minalität«, »permanente Gegenwart«, »radikale sich unter Elektroschockfolter (93 ff.) Informa- Gewalt« weisen auf eine Auflösung der Struktur- tionen über den verbotenen bzw. erlaubten Ver- merkmale von Zeit und Raum hin. Nicht the- kauf von Elektroschockgeräten und Ähnlichem matisiert sind »relative Macht«, »zeitlich be- in den USA, Europa und China. Unter Folter- grenzte Gewalt«, »verhältnismäßige Gewalt« folgen ist weiterhin zu lesen, dass der ungarische usw. Wo sich die »absolute Macht« befindet, Nobelpreisträger Imre Kertész, der in Auschwitz ist keine Gesellschaft, keine Geschichte mehr zu und Buchenwald gefangen war, in seinem Werk rekonstruieren. Damit geht die Möglichkeit der Kaddisch für ein nichtgeborenes Kind schreibt, Ausdifferenzierung in der Gesellschaft und in der er lebe mit dem Gedanken, das Lager nie ver- Geschichte verloren. So ist z. B. die Möglichkeit lassenzuhabenundimmernochdasGefühlzu der »relativen Macht«, d. h. der Freiheit und haben, die Deutschen könnten »jederzeit zurück- damit irgendeines Widerstandes bzw. eines Spiel- kommen« (zit. zu 131). In diesem Zusammen- raumes, schon im Ansatz ausgeschlossen. Die hang werden unbeschreiblich schlimme Folgen Gefahr der Ontologisierung wird hierbei deut- der Folter in vielen Fällen aufgezählt, insbeson- lich. Die Folter im Allgemeinen und speziell die dere in China in den letzten 20 Jahren. Unter Folter in und durch Auschwitz bzw. durch die Folterschulen ist zu lesen, dass ein US-amerika- nationalsozialistischen Konzentrationslager ge- nischer Ausbilder am Anfang der Militärdiktatur raten somit in die Gefahr, im Ergebnis enthisto- in Brasilien die brasilianischen Folterer auf dem risiert zu werden. Leib von Bettlern ausgebildet habe, die von der

*** Horst Herrmann, Die Folter. 2 Vgl. zum Autor auch: M. Th. Fö- Eine Enzyklopädie des Grauens, gen, Second hand-Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Eichborn 2004, in: Rechtshistorisches Journal 2 383 S., ISBN 3-8218-3951-1 (1983) 315–322. Rg7/2005 Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 167

Straße geholt worden seien. Ähnliches habe die- Überwältigung voraussetzte, »um die juristische ser im Anschluss daran in Uruguay gemacht Wertlosigkeit des erfolterten Geständnisses be- (141 f.). haupten und die Grausamkeit des Verfahrens Trotz der Absicht des Autors, sich gegen die anprangern zu können« (130), weise der litera- Verdrängung der Folter in der Vergangenheit rische und der ästhetische Diskurs auf die Mög- einsetzenzuwollen(8f.),läuftdasBuchGefahr, lichkeit des Widerstandes hin. Es ist die Zeit des aus der Folter ein Spectaculum zu machen, wo- sog. »standhaften Individuums«, das im Sinne rauf im Übrigen schon der Titel hinweist. der Aufklärung der Folter erfolgreich Wider- stand leistet. Paradigmatisch hierfür ist der Ro- 4. Als Gegengift sowohl zu einer Naturalisie- man Christian Fürchtegott Gellerts Leben der rung als auch zu einer Spektakularisierung der Schwedischen Gräfin von G*** von 1747/48. Folter kann die Lektüre der Habilitationsschrift Hier kreuze sich das religiöse Thema des Stand- von Sven Kramer »Die Folter in der Litera- haltens im Glauben des Gemarterten mit dem tur«**** empfohlen werden. Standhalten des Mannes der Aufklärung qua der Die Arbeit ist der Darstellung der Folter in Tugend der constantia: »Der ganze Roman han- der deutschsprachigen Literatur gewidmet. Die delt davon, wie das Festhalten an Tugend und gewählte Zeitspanne ist bedeutsam: Dort, wo Vernunft unter den schlimmsten Bedingungen Baldaufs Rekonstruktion fast aufhört, setzt die erreicht werden kann. Das identitätsstiftende Arbeit von Kramer ein. Es geht ihm um die Fundament des bürgerlichen Charakters besteht Rekonstruktion der Darstellung der Folter in gerade darin, sich den einmal gefassten Grund- der deutschen Prosa seit 1740 bis zur Literatur sätzen unter allen Umständen zu unterstellen« »nach Auschwitz«. Damit wird gerade die Lite- (75). Bald seien in der literarischen Darstel- ratur einer Zeit thematisiert, in der die Folter lung der Folter Verschiebungen festzustellen: nicht mehr als »Rechtseinrichtung«, sondern »Je mehr die Säkularisierung unter dem Banner nur (!) illegal bzw. rechtswidrig mehr oder weni- der Vernunft voranschritt, desto größer wurde ger systematisch praktiziert wurde. Die Methode der Druck, der mit dem Postulat des Wider- ist eine Diskursanalyse, die an Foucaults Archäo- stehens in der imaginierten Folter auf dem Indi- logie des Wissens anknüpft: Es geht um die viduum zu liegen kam« (131). Schon Schiller Suche nach den Diskursen, nach den diskursiven positioniere sich zwischen der klassisch-stoizisti- Formationen, die regelmäßig auftreten. Der Cor- schen Haltung, die dem Gefolterten die Mög- pus der Texte ist der »hochwertigen Literatur« lichkeit des Widerstandes bescheinigt, und einer entnommen. Der diskursive Leitfaden ist durch Haltung, die die Möglichkeit der Erzwingbarkeit die Thematisierung der Fähigkeit des gefolterten der Aussage, und damit der Erzwingbarkeit des Individuums dargestellt, Autonomie bzw. Rück- Subjektes einräumt (96). Der Druck erhöhe sich zugsräume unter der Folter zu erhalten, um von in der Zeit nach der Französischen Revolution ihr nicht überwältigt zu werden. bis zum Anfang des ersten Weltkrieges 1914. Die Periodisierung, die Kramer skizziert, Hier setzt die zweite Zäsur an. Kramer spricht sieht zuerst die Zeit von 1740 bis zur Französi- von »Erschütterungen und Überbietungen des schen Revolution von 1789 vor. Im Unterschied Individuums«. Gegenstand der Analyse sind ins- zum politischen Diskurs über die Folter, der die besondere die Arbeiten des Richters und Schrift-

**** Sven Kramer, Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis »nach Auschwitz«, München: Wilhelm Fink 2004, 527 S., ISBN 3-7705-3895-1 Kritik Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 168

stellers E. T.A. Hoffmann und Ludwig Tiecks. Das Eindringen der Erfahrung der »obrigkeitlich So gebe es bei E. T.A. Hoffmann vom »stand- verursachten Gewalt« bzw. des Ausgeliefertseins haften Individuum« keine Spur mehr (168 ff.). in den Alltag des totalen Kriegs führe zu »neuen Hoffmanns Folterkritik finde »(n)icht im Namen Überwältigungsphantasien« (302 ff.). Dazu ge- eines zu bewahrenden harmonischen Zustan- hörten zum einen der Primat der Technik, die im des«, d. h. der durch Folter zerstörten »Autono- Sinne des durch Foucault in Überwachen und mie und Selbstidentität« statt. Sie gründe eher Strafen entwickelten Disziplinkonzepts ermög- auf der »Zurückweisung der Quälerei und ihrer liche, die Kontrolle über die Menschenmassen traumatischen Folgen« (179). Hoffmann verwei- bzw. das »Menschenmaterial« zu erhöhen; zum se »auf die Interdependenzen von Körper, Geist zweiten der Einsatz der neu eingerichteten poli- und Herrschaft« (175). Als Schriftsteller habe tischen Polizei, die die Kontrolle der Bevölke- Hoffmann – die Traumaforschung antizipierend rung erhöhe (291 ff.). Es wird wieder gefoltert, – »die sozialpsychologischen Dimensionen der natürlich illegal. Hier rekonstruiert Kramer die Folter, die Folgen der mit ihr einhergehenden Wiedereinführung der Folter, zuerst schon im Schock- und Traumatisierungsvorgänge [er- 19. Jh. im zaristischen Russland gegen die Anar- kannt]« (190 f.). Anhand der Biographie Hoff- chisten, dann ebenfalls in Russland durch die manns bzw. seiner Tätigkeit als Richter stellt Geheimpolizei der Sowjetunion, in Italien durch Kramer unter anderem die interessante Hypo- die faschistische Geheimpolizei. In Deutschland these auf, dass dessen »Sensibilisierung« von der wird ab 1933 bis 1941/1942 durch die Gestapo »reformierten Strafrechtslehre« bzw. von der und dann auch durch die Polizei systematisch Zunahme des Interesses für die Täterpsychologie gefoltert. In der Literatur sei eine »Ausdifferen- beeinflusst worden sei (191). Mit der zweiten zierung des Diskurses über die Folter« festzu- Hälfte des 19. Jh. habe die Thematisierung des stellen (302 ff.). Ernst Jünger, Hans Henny Jahnn Körperschmerzes zuerst in der französischen und Franz Kafka sind die Autoren aus der Literatur (mit Verknüpfung auf de Sade: Baude- Weimarer Zeit, die hier eingehend in Betracht laire, Flaubert, Lautréamont, Rimbaud), dann in kommen. In der Zeit von 1933 bis 1941/1942 der deutschen Literatur (Stefan George, Rainer sei eine Zunahme der politisch motivierten Lite- MariaRilke,GeorgHeym)quaTextewie»Zur ratur festzustellen und damit eine Rücknahme Genealogie der Moral« oder »Also sprach Zara- der Ausdifferenzierung im literarischen Diskurs thustra« des Literaten und Philosophen Nietz- über Folter, der angesichts der Tatsache, dass sche verstärkt. Exemplarisch und sehr selektiv erneut gefoltert wird, zunehmend moralisiert aus der eingehenden und detaillierten Analyse werde. Die letzte Zäsur in der Periodisierung Kramers: Mit Baudelaire finde die »Entkop- Kramers stellen die »Folter und Vernichtung pelung des Ethischen vom Ästhetischen« statt in den Konzentrations- und Todeslagern« dar. (252), die ermögliche, die These zu formulieren, Während sich Zirfas auf Primo Levis Erinnerun- der Liebesakt habe »eine große Ähnlichkeit« mit gen stützt, konzentriert sich Kramer auf die der Folter oder mit einer chirurgischen Opera- literarische Beschreibung der Folter und des KZ tion (254). Auschwitz durch Jean Améry. Mit dessen 1966 Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges in Deutschland erschienenem Buch Jenseits von (1914) markiert Kramer eine weitere Differenz. Schuld und Sühne: Bewältigungsversuche eines Rg7/2005 Siciliano, Folter: Rituale der Macht? 169

Überwältigten komme man nach Kramer zu Obwohl manchmal die nicht ausreichende einem »historischen Nullpunkt«. Die Position Operationalisierung der durch Kramer metho- Amérys sei die »… diametral entgegensetzte(n) disch entworfenen Diskursanalyse irritiert, so Position« zur Position Gellerts (449). Während handelt es sich dennoch um ein sehr aufschluss- Gellert die Autonomie des Subjekts unter der reiches und »mit Herz und Kopf« geschriebenes Folter behauptete, behaupte Améry die Über- Buch. wältigung des Subjekts unter der Folter. Hier Resümierend kann man festhalten, dass Fol- beziehe er seine Position explizit in Gegenüber- ter keine deutsche Rechtsgeschichte ist. Sie ist stellung zu der Position Sartres, der auf den auch keine Geschichte bzw. keine naturgegebene Widerstand der algerischen Widerstandskämp- Konstante der Gesellschaft. Folter dient grund- fer auch unter der Tortur abstellt: »Wer der sätzlich der Feststellung bzw. der Konstruktion Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden der Wahrheit durch den Staat im Strafprozess. in der Welt« (451). Mit der Folter finde die Insofern hat die Folter immer eine politisch- »irreversible Überwältigung eines Individuums« staatliche Dimension. Ihre Verabsolutierung, statt (473). Naturalisierung und Spektakularisierung lenkt Mit Plausibilität kritisiert Kramer die These den Blick von den Wahrheits- bzw. Machtstrate- Amérys, indem er mit dessen Worten auf die gien ab, die der Staatsapparat durch sie verfolgt Schwierigkeiten hinweist, die »Widerstands- und durchsetzt. Es muss keinen Skandal dar- kraft« zu messen: »Noch keiner hat übersicht- stellen, dass Literaten besser als Juristen diese liche Grenzen ziehen können zwischen den sog. Machtstrategien durchschauen, beschreiben und ›moralischen‹ und der gleichfalls unter Anfüh- kritisieren. rungszeichen zu setzenden ›körperlichen‹ Wider- standskraft gegen physischen Schmerz« (452). Domenico Siciliano

Angry Old Man*

Als vor mehr als zwanzig Jahren der erste das kanonische Recht gewesen, das elaborier- Band von Harold J. Bermans Law and Revolu- teste, umfassendste seiner Zeit, und eine profes- tion erschien, kam dies selbst einer Revolution sionelle Methode seiner Handhabung, die Scho- gleich. Nicht mit der Renaissance nämlich, nicht lastik. Mit ihrer Hilfe habe die römische Kirche mit dem Absolutismus und nicht mit 1789 setzte die Bevormundung durch weltliche Mächte ab- der Rechtshistoriker aus Harvard The Formation gestreift, ihren Supremat über die Laien fest of the Western Legal Tradition (1983; dt. 1995), etabliert, eine hoch effiziente Hierarchie geist- also die Entstehung des modernen Staates, an, licher Juristen und Gerichte aufgebaut und die sondern mit dem Sieg der Papstkirche im Investi- bis heute gültigen Prinzipien westlichen Rechts turstreit zwischen 1075 und 1122. Die entschei- geprägt: die Idee, dass es immer weiter entwickelt denden Ergebnisse dieser Papal Revolution seien werden müsse, dass seine Autorität über allen

* Harold J. Berman, Law and Revolution,II.TheImpactofthe Protestant Reformations on the Western Legal Tradition, Cam- bridge, Mass. and London: The Belknap Press of Harvard University Press 2003, XII, 522 S., ISBN 0-674-01195-3 Kritik Walther, Angry Old Man 170

anderen stehe und dass ihm daher auch der der Recht als Willensäußerung des Staates defi- Mächtigste unterworfen bleibe. niert. Das sehe wie Säkularisation aus, sagt er. In seinem neuen Werk beschreibt Berman, Man könne es aber auch eine Spiritualisierung inzwischen Emeritus, die beiden nächsten großen des weltlichen Rechts nennen (64, 349, 369). Wendepunkte des Western legal system:diedeut- Ihre wichtigste Aufgabe nämlich hätten pro- sche Reformation Martin Luthers und die Eng- testantische Theoretiker seit Melanchthon gera- lische Revolution von 1640 bis 1689. Auf jeweils de darin gesehen, alles Recht auf dessen Über- 170 Seiten folgen auf eine ereignisgeschichtliche einstimmung mit den biblischen Geboten hin zu Einführung jeweils Einzelkapitel über Legal prüfen. Kraft einer neuen Art von Topik, den loci Philosophy, Legal Science, Criminal Law, Civil communes, unterwarfen sie so die gesamte Ju- and Economic Law und Social Law. Ein jedes ist risprudenz einer Systematisierung im Zeichen eine souveräne Synthese der internationalen For- des Glaubens. Seien die Humanisten entweder schungsliteratur – auch und gerade der deutsch- in negativer Kritik an den Autoritäten der Scho- sprachigen: Germanica leguntur –, die in langen, lastik verharrt (wie Valla) oder mit Rekonstruk- aber oft geradezu spannenden Anmerkungen tionsversuchen des römischen Rechts befasst ge- diskutiert und anhand einer klaren These ausge- blieben (wie Zasius und Alciat), so habe der usus wertet wird: dass nämlich auch die neuere Ge- modernus protestantorum (108) wie überhaupt schichte des westlichen Rechts weit stärker vom die »Rezeption« darauf gezielt, alle konkurrie- jeweils herrschenden belief system geprägt wor- renden Rechte – das römische, die fürstlichen, den sei, als heutige, säkular denkende Forscher feudalen, städtischen und kaufmännischen – auf wahrhaben wollen. einheitliche, gemeinsame Grundsätze zurückzu- Von epochaler Bedeutung für die Rechts- führen. Dahin habe einerseits die akademische geschichte sei die Reformation vor allem der Behandlung des Rechts durch einen professionel- juristischen Konsequenzen wegen, die aus Lu- len Juristenstand gewirkt, andererseits die Ge- thers Aufwertung des Gewissens zur einzig mög- setzgebung der Fürsten, deren Interessen eine lichen Verbindung des Gläubigen mit Gott er- solche Vereinheitlichung optimal entgegen kam. wuchsen. Durch sie nämlich sei das Recht, dem Sie behielten viele Regelungen des kanonischen diese Bedeutung bis dahin zugekommen sei, ganz Rechts bei, übernahmen es aber in ihre eigene, auf die irdische Sphäre beschränkt und damit weltliche Regie. stark funktionalisiert worden. Dies habe zu- In England kam die revolutionäre Entmach- gleich bedeutet, dass alle irdischen Verhältnisse tung der Papstkirche nicht Fürsten zugute, son- der Gläubigen untereinander nun rechtlicher dern jenen bürgerlichen Korporationen, die seit Regelungen bedurften. Gesetze aber hätten nur 1640 die Macht ergriffen. Diese echt calvinisti- noch den pragmatischen Zweck gehabt, die sche »strong emphasis placed on the corporate sündhaften Menschen mit allem Nachdruck an character of both action and thought« (305) Vergehen zu hindern (die Herrschenden vor manifestierte sich in der Abschaffung der könig- allem an Machtmissbrauch) und zur Erfüllung lichen prerogative courts zugunsten der common ihrer Pflichten gegenüber Gott und den Men- law courts, in epochalen Neuerungen im bürger- schen anzuhalten. So wird Luther bei Berman lichen, Handels- und Besitzrecht, aber auch in zum eigentlichen Begründer jenes Positivismus, einer neuen Rechtsauffassung, die nur noch das Rg7/2005 Walther, Angry Old Man 171 als Recht akzeptierte, was die Gemeinschaft der angehöre. Bis 1914, letztlich sogar bis 1989, Experten als solches anerkannte. Die ebenfalls habe der Westen ein (wenn auch nur »under- calvinistische Gewissheit, dass die Engländer das neath the surface« feststellbares) Ius commune von Gott auserwählte Volk seien, beflügelte den besessen (17). Stolz auf die nationale Rechtskontinuität – die Dass das christliche Moment inzwischen fast englischen Revolutionäre behaupteten, zu voll- ganz aus dem westlichen Recht verschwunden enden, was Wilhelm der Eroberer begonnen ist, kann Berman historisch erklären. Doch es habe, begünstigte aber auch die relativistische schmerzt ihn, weil es bewirkt habe, dass »our Einsicht, dass vernünftige Leute über Wahrheit network of legal values lacks the power and sehr unterschiedlicher Meinung sein können. vitality that it once had«(X). Das zeige gerade Von Max Webers »protestantischer Ethik« hin- auch die akademische Rechtshistorie, die in gegen will Berman nichts wissen. Alles, was er übertriebener Spezialisierung den Blick für große darüber sage, sei auch bei Katholiken nachzu- Zusammenhänge verloren habe, sinnlose Epo- weisen (162). chentrennungen zwischen Mittelalter, Renais- Methodisch bekennt sich Berman mit pro- sance und Neuzeit vornehme und ohne Glauben, vokanter Offenheit zur Tradition der Histori- ohne Überzeugungen, ohne Botschaft ans Werk schen Rechtsschule: was er mit belief system gehe. meine, entspreche ziemlich genau dem, was Sa- Wem der nüchtern-säkulare Ton etwa von vigny einst Volksgeist genannt habe (381). Auch Michael Stolleis’ Geschichte des öffentlichen er ist überzeugt, dass das westliche Recht über Rechts als Norm vorschwebt, wird sich von zehn Jahrhunderte kontinuierlich vorangeschrit- dem Eifer, mit dem Berman ausgerechnet die ten sei und zwar jeweils in enger Verbindung Kirche, den klassischen Feind aller Aufklärer, zum belief system. Immer dann, wenn die Dis- zum Motor der Modernisierung und zum Ga- krepanz zwischen beiden Sphären zu groß ge- ranten westlicher Rationalität erklärt, irritiert, worden sei, hätten revolutions dafür gesorgt, die vielleicht sogar pikiert fühlen. Der Verfasser Harmonie zwischen Glaubens- und Rechtssys- weiß und will das. Ostentativ tritt er einer Ge- tem wiederherzustellen. Auch bei Berman also genwart, die das Sprechen über »westliche Wer- gibt es eine List der Vernunft – und einen Gang te« für degoutant hält, als angry old man gegen- des Weltgeistes: Auf die Papal Revolution in über, dem es nichts ausmacht, den Zorn von Italien folgte die deutsche Reformation, dann Strukturalisten, Kontingenztheoretikern, Mikro- der Englische Bürgerkrieg. Eine künftige Fort- historikern und Eine-Welt-Enthusiasten auf sich setzung soll den deistischen Rationalismus als zu ziehen. So ist auch sein neues Buch ein eigentliche French Revolution darstellen, dann provokanter Alleingang, eine jener Meisterer- die American Revolution: Part ›English‹, Part zählungen, die man mögen muss, wenn man es ›French‹ und schließlich die Russische Revolu- als das Meisterwerk würdigen will, das es ist. tion von 1917, da selbst der Bolschewismus als christliche Häresie dem Western belief system Gerrit Walther Kritik Walther, Angry Old Man 172

Bürgersouveränität*

Der italienische Büchertisch ist reich ge- pas. Natürlich ist es ein Blick aus der Vogel- deckt. Enger wohl als anderswo ist die Verbin- schau, aber dieser Blick ist frei für größere dung zwischen der Welt der Gelehrten, der Uni- Zusammenhänge der Rechts- und Verfassungs- versitätsausbildung und dem breiten Publikum. geschichte. Der Blick auf die Stellung des Bürgers Es ist nicht anstößig, ein großes Thema auf erlaubt den Schluss darauf, wes Geistes Kind der hundert Seiten gemeinverständlich zu behan- Staat ist, dem er den Rechtsstatus »Bürger« ver- deln, nur die wichtigste Literatur zu verzeichnen dankt. und das Ganze in gefälliger Form unter die Leute Diego Quaglioni schreibt über »La sovra- zu bringen. Der Verlag Laterza hat mit seiner nità«, jenes seit dem Mittelalter bekannte Rätsel- kleinformatigen Serie »Universale« gerade die wort, das durch Bodin (und Hobbes) zum Sym- Nr. 856 erreicht, in einer parallelen »Biblioteca bol der Zusammenfassung aller Macht nach Essenziale« die Nr. 56. Dort gibt es Klassiker- außen und innen aufstieg. Heute wird es im texte, »Einführungen« in alle Künste und Wis- Kontext der Globalisierung nur mit großen Ein- senschaften, aber auch zugespitzte Thesen, aus schränkungen und fast entschuldigenden Zu- der Rechtsgeschichte etwa von Bretone und sätzen verwendet. Quaglioni, der sich vor allem Talamanca »Il diritto in Grecia e a Roma« oder als mediävistischer Rechtshistoriker versteht, Grossis »Prima lezione di diritto«. Auch die schafft sich Raum für die Erörterung der Souve- beiden letzten Bändchen beider Reihen, die hier ränität avant la lettre, indem er Souveränität vorgestellt werden, stammen von bekannten funktional auffasst und sie in die mittelalterli- Rechtshistorikern. chen Diskurse über Macht und Recht, über Ge- Pietro Costa, der zwischen 1999 und 2001 horsam und Widerstand gewissermaßen hinein- eine vierbändige Geschichte des Bürgerstatus liest. Erst dann gelangt er zur »eigentlichen« (cittadinanza) publiziert hat, bietet nun ein Kon- Souveränität im Vorfeld des europäischen Abso- zentrat seines monumentalen Werks. Er beginnt lutismus, erörtert deren Schranken sowie den mit einer Begriffsbestimmung, geht dann zum Neologismus der Staatsraison. Im Umfeld des Stadtbürger über, von da zum Bürger als »Unter- Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts kon- tan« sowie zur Diskussion über Rechte und statiert er zunächst die rechtliche Bändigung der Pflichten des »cives« im europäischen Natur- Souveränität, ihren Kulminationspunkt im Na- recht der Frühen Neuzeit. Über den »citoyen« tionalstaat, aber auch die ersten Anzeichen ihres der Französischen Revolution, den egalisierten Verfalls. Die Totalitarismen des 20. Jahrhun- Bürger des Nationalstaats im 19. Jahrhundert derts und die aktuelle Transformation des sou- und das Gegenmodell der Genossenschaften ge- veränen Nationalstaats in globale Netzwerke, langt er über die von Grundrechten beschirmte die eines Namens noch bedürfen, bilden dann Position des Staatsbürgers zum Paradox der den Abschluss. Quaglioni führt politische Ge- »cittadinanza totalitaria«. Am Ende stehen der schichte, Rechts- und Ideengeschichte auf engs- Bürger im Verfassungsstaat und der neuerlich tem Raum parallel, manchmal in fast atemloser auf schwankenden Füßen stehende Bürger Euro- Kürze.

* Pietro Costa, Cittadinanza (Universale Laterza, vol. 856), Roma, Bari: Editori Laterza 2005, 162 S., ISBN 88-420-7587-6; Diego Quaglioni,Lasovranità (Biblioteca Essenziale Laterza, vol. 56), Roma, Bari: Editori Laterza 2004, 156 S., ISBN 88-420-7001-7 Rg7/2005 Stolleis, Bürgersouveränität 173

Den Gewinn haben in beiden Fällen die Autoren durch Mittelalter und Neuzeit bis zur Leser mit einem Bedürfnis nach rascher Informa- Gegenwart surfen, um am Ende vor einer unbe- tion. Wer noch wenig weiß, erhält einen brauch- kannten Zukunft Halt zu machen. baren Überblick und Hinweise auf die wichtigste Literatur. Wer Vorwissen hat, kann die eleganten Schleifen bewundern, mit denen hier erfahrene Michael Stolleis

Ein Schwabe im Dornröschenschlaf*

Im Märchen schläft Dornröschen so lange, ihre Gegenstände auf einem stetigen Weg von bis ein Prinz sie wach küsst. In der Rechts- unvollkommenen zu besseren Formen. geschichte warten viele ehemals prominente Mauntel komponiert mit der Konstitutiona- Juristen darauf, dornröschengleich von einem lisierung der Rechtswissenschaft ein Leitmotiv Doktoranden erweckt zu werden. Christoph für Wächter. Das ist neu. Nach der üblichen Mauntel will den Schwaben Carl Georg v. Wäch- Einleitung, die den Forschungsstand referiert ter wieder ins rechte Licht rücken. Programma- und die eigene Methode vorstellt, folgen lesens- tisch darf sich Mauntel nicht nur über seinen werte Schwerpunkte zu »Recht und Reform« Doktorvater Hans-Peter Benöhr dem Netzwerk (frühkonstitutionelle Verfassungs- und Gesetzge- der Frankfurter (Historischen) Schule zurechnen. bungstheorie, Volksrecht, Geschworenengerich- Er versteht die »Rechtswissenschaft als komple- te, Liberalismus), »Wissenschaft und Gesetzge- xen sozialen Interaktionsprozess, der sprachliche bung« (ausführlich zu Straftheorien, Moderni- Deutungs- und Regulierungsmuster der sozialen sierung des Strafrechts, Strafrechtsgesetzgebung, Wirklichkeit hervorbringt« (29). Um Wächters bedeutend kürzer zum Wert der Rechtsgeschich- hohe Reputation unter seinen Zeitgenossen zu te, württembergischen Privatrecht, Privatrechts- entschlüsseln, möchte Mauntel »eine möglichst gesetzgebung), »Gesetzgebung und Praxis« genaue Rekonstruktion des Diskursumfeldes in (Auslegung, Analogie), »Einheit oder Freiheit« zeitlicher, regionaler und personaler Hinsicht« (Programm und Methode der Partikularrechts- (29) vornehmen. Mit anderen Worten soll sich wissenschaft, Begriff des gemeinen Rechts, Inter- die Studie von den traditionellen Wächter-Ikono- nationales Privatrecht, Rechtsquellenlehre) und graphien lösen. Trotzdem vermag sich die Unter- schließlich ein Schlusskapitel zur Rechtswissen- suchung nicht ganz von hermeneutischen Auto- schaft im Frühkonstitutionalismus. Es sei hier suggestionen zu befreien. Wenn die Worte von allerdings die Frage erlaubt, ob die Monographie einer »modernen Liberalismusforschung« und Wächter nicht etwas einseitig als Staats- und einer »modernen rechtsstaatlichen Verfassung« Strafrechtler präsentiert. Dem Titel der Arbeit fallen (77), wird zwangsläufig das verzerrte Bild wäre diese Beschränkung jedenfalls nicht zu ent- erzeugt, als seien die Geschichtswissenschaft und nehmen. De facto gerät das Privatrecht und mit

* Christoph Mauntel,Carl Georg von Wächter (1797–1880). Rechtswissenschaft im Frühkon- stitutionalismus (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffent- lichungen der Görres-Gesellschaft, N.F. Bd. 110), Paderborn, Mün- chen, Wien, Zürich: Schöningh 2004, 344 S., ISBN3-506-71689-1 Kritik Schäfer, Ein Schwabe im Dornröschenschlaf 174

ihm Wächters postum publiziertes Pandekten- Mauntels Buch will keine Biographie nebst lehrbuch sowie die Umsetzung der program- Werkbericht im klassischen Sinn sein. Konse- matischen Positionen in konkrete dogmatische quent vermeidet das Werk den üblichen bio- Sätze aus dem Blick. Wer sich darüber näher graphisch-bürokratischen Wasserkopf. Wer sich informieren will, dem sei ein separater Auf- über Anekdoten aus Wächters Leben, wie etwa satz Mauntels empfohlen.1 Besonders die Ab- sein Geburtshaus in Marbach, erkundigen will, schnitte »Wissenschaftliche Gesetzesauslegung« ist mit den üblichen Reiseführern besser bedient. und »Das Wissenschaftsprogramm des Partiku- Ob man allerdings wie Mauntel so weit gehen larismus« konzentrieren sich recht deutlich auf sollte, die biographischen Elemente fast vollstän- das Strafrecht. Es hätte präziser herausgearbeitet dig auszublenden, darf mit Verlaub bezweifelt werden müssen, inwiefern sich die dort erzielten werden. Jenseits der Anekdoten verknüpfen die Ergebnisse tatsächlich auf andere Rechtsbereiche Lebensumstände den eigenen Protagonisten mit übertragen lassen. Das Strafrecht hat mit ganz seinem akademischen Umfeld, seinen Lehrern anderen Sachproblemen als das Privatrecht zu und Schülern. In einer Zeit, in der keine Parteien kämpfen. Eine Methodenfigur wie die Analogie im heutigen Sinn existierten, wird der Lebensweg unterlag und unterliegt im Strafrecht und Privat- umso wichtiger. So aber erscheint Wächter trotz recht vollkommen anderen Bedingungen. Mauntels Versprechen, das Diskursumfeld zu Unschwer erkennt der Leser, dass Mauntel untersuchen, stellenweise als voraussetzungslo- sich Joachim Rückerts Monographie zu Wäch- ser Solitär, der in selbstreferentiellen Schubladen ters schwäbischem Landsmann August Ludwig wie »organisch-liberal« verschwindet. Ebenso Reyscher zum Vorbild genommen hat.2 Wie fehlt ein Verzeichnis aufschlussreicher Rezensio- Rückert relativiert Mauntel mit erfrischender nen zu Wächters Werken. Zwecks Referenz eines Klarheit den festgefahrenen Forschungsstand. gelungenen Mittelwegs zwischen rechtlich ent- Nur die Fn. 1277 auf S. 296 fällt – wohl eher leerten biographischen Werkteilen und einer rei- ungewollt – zu ambivalent aus. Der Leser weiß nen Werkanalyse sei an dieser Stelle auf die an dieser Stelle nicht recht, ob die heutige Sekun- erwähnte Reyscher-Monographie verwiesen. därliteratur nun an den 30er Jahren des 19. Jahr- Wie wichtig eine umfassende historische hunderts, oder, was wesentlich brisanter wäre, Rundschau wäre, sei am Beispiel des Verhältnis- an den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gemes- ses des römischen und einheimischen Rechts in sen werden soll, wenn von der »Darstellung der denPrivatrechtslehrbüchernzudenPartikular- seit Ende der dreißiger Jahren [sic] geführten rechten demonstriert. Wächter beschritt, anders Auseinandersetzungen um deutsches, bzw. na- als Mauntel behauptet (137), keineswegs »Neu- tionales Recht« die Rede ist. Überhaupt hätte der land«, als er die bis dahin herrschende germa- Leser einen leichteren Zugriff ohne Lupe, wenn nistische Trennungsmethode verwarf. August er die zahlreichen in den Fußnoten geführten Friedrich Schott hatte in seinen ab 1778 publi- Wortgefechte (exemplarisch Fn. 360 auf S. 88 f. zierten Institutionen des kursächsischen Privat- mit sage und schreibe 66 Zeilen!) im Haupttext rechts zur Integration des gemeinen römischen finden könnte. Rechts folgende Bedingungen aufgestellt: Sätze Im Vergleich zur Reyscher-Monographie des römischen Rechts seien einzubeziehen, wenn sind die Fragestellungen erheblich zugespitzt. sie für das kursächsische Privatrecht charakter-

1 Christoph Mauntel,Carl Georg von Wächter und sein Handbuch des im Königreich Württemberg geltenden Privat- rechts, in: Zwischen Romanistik undGermanistik.CarlGeorgvon Waechter (1797–1880), hg. von Bernd-Rüdiger Kern,Berlin 2000, 101–130. 2 Joachim Rückert, August Lud- wig Reyschers Leben und Rechts- theorie 1802–1880, Berlin 1974. Rg7/2005 Schäfer, Ein Schwabe im Dornröschenschlaf 175

bildend seien, sie sich in Sachsen von ihrer ur- seiner Rechtsquellenlehre. Aus dem Traum eines sprünglichen Gestalt entfernt hätten oder wenn universalen Reichsrechts aufgewacht, stellte er ihre Anwendung in Sachsen umstritten sei.3 Die sich dem realen Kosmos des württembergischen Einbeziehung des römischen Rechts erschien Privatrechts, in dem sich römisches und einhei- Schott noch rechtfertigungsbedürftig, gleich- misches Recht quasi als Usus modernus particu- wohl gelangte er, wie die Lektüre seines Werks laris begegneten. Wächters Methode führte je- beweist, bei den Rechtsquellen zu einer Zitaten- doch anders als der klassische Usus modernus folge, die nur wenig zwischen römischem und die verschiedenen Rechtsfaktoren auf der Ebene sächsischem Recht unterscheidet. Vor diesem des Partikularrechts gleichberechtigt zusammen. Hintergrund perfektionierte Wächter wissen- Ohne Wächter wären Heinrich Dernburgs und schaftsgeschichtlich betrachtet ältere Versuche, Joseph Ungers Leistungen in Preußen und Öster- gemeines römisches Recht und Partikularrecht reich, aber auch Otto Stobbes und Paul v. Roths darstellerisch zu homogenisieren. Seine Bedeu- Systeme des Deutschen Privatrechts undenkbar. tung wird dadurch keinesfalls relativiert, son- Dies alles beleuchtet zu haben, ist das große dern konkretisiert. Verdienst der Wächter-Monographie. Historiker Abgesehen von den genannten Punkten, die und Rechtshistoriker werden in Zukunft gerne mehr als weiterführende Hinweise denn als Kri- auf die »Rechtswissenschaft im Frühkonstitu- tik verstanden werden wollen, gelingt es Maun- tionalismus« zurückgreifen. Die neue Arbeit tel, zahlreiche seit Landsbergs Tagen vertraute zu Wächter ragt in ihrer Quellentiefe, im Ana- Geschichtsbilder zu revidieren. Nicht der poli- lyseniveau sowie in ihrem Problembewusstsein tisch geprägte, auf die deutsche Einheit abzie- bei weitem über vergleichbare Dissertationen lende Kodifikationsstreit zwischen Savigny und der neueren Zeit zur Rechtswissenschaft des Thibaut, sondern der Untergang des Alten Reichs 19. Jahrhunderts hinaus. und mit ihm das Ende der Selbstsicherheit des gemeinen Rechts stand für Wächter am Anfang Frank L. Schäfer

Gesetzeskunst*

Wenn wir heute, im frühen 21. Jahrhundert, Tradition des Nachdenkens über die Kunst guter Gesetze schreiben, so schreibt sich unsere moder- Gesetzgebung. Dies allerdings wissen wir schon ne Praxis ein in eine lange historische Tradition. weit weniger genau, und entsprechend wenig nur Das wissen wir. Doch wie sehr prägt dieses vermag diese historische Reflexionstradition un- Wissen auch unsere Praxis? Und wenn wir bei ser Tun hier und heute zu beeinflussen. Ohnehin unserem modernen legistischen Tun darüber hat sich das Gesetzeschreiben im deutschsprachi- nachdenken, wie man es wohl am besten macht gen Raum erst in den vergangenen Jahrzehnten beim Gesetzeschreiben, so schreibt sich auch allmählich einen wissenschaftlichen Spiegel zuge- diese Reflexion ein in eine lange historische legt – die Gesetzgebungslehre (mit entsprechen-

3 August Friedrich Schott,In- * Bernd Mertens, Gesetzgebungs- stitutiones iuris Saxonici electora- kunst im Zeitalter der Kodifika- lis privati, 3. Aufl., besorgt von tionen. Theorie und Praxis der Christian Gottlieb Haubold, Leip- Gesetzgebungstechnik aus histo- zig 1795, XI (Vorwort 1. Aufl.). risch-vergleichender Sicht (Tübin- ger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 98), Tübin- gen: Mohr Siebeck 2004, XVI, 549 S., ISBN 3-16-148300-6 Kritik Nussbaumer, Gesetzeskunst 176

den Lehrbüchern, Lehrveranstaltungen, wissen- Das Zeitalter der Kodifikationen meint den Zeit- schaftlichen Gesellschaften, Tagungen, Fachzeit- raum von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis schriften). Doch ist dieser jüngere Zweig der zum Beginn des 20. Jahrhunderts, als man in Methodenlehre (ich zögere zu sagen: der juristi- weiten Teilen Europas planmäßig und systema- schen Methodenlehre, vielmehr einer Methodik tisch große Bereiche der Rechtsordnung legisla- im Grenzgebiet der Rechtswissenschaft und der torisch zu erfassen, aufzuarbeiten und darzustel- politischen Wissenschaft) bis heute eher unter- len begann und zugleich das, was an Verstreutem belichtet, um nicht zu sagen blind, was seine bisher galt, außer Kraft setzte. Mertens befasst eigene Geschichte anbelangt, und er vermag der sich eingehend mit den folgenden sieben Kodifi- modernen Gesetzgebungspraxis entsprechend kationsprojekten: wenig Bewusstsein für die Historizität ihres Tuns – Preußisches Allgemeines Landrecht von 1794 und der Reflexion über dieses Tun zu vermitteln. – Österreichisches Allgemeines Bürgerliches Ge- Doch »was soll’s?«, wird man einwenden. setzbuch von 1811 Hauptsache, die Köche können gut kochen. Sie – Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 brauchen nicht zu wissen, wie man früher ge- – Preußisches Strafgesetzbuch von 1851 kocht hat (irgendwoher wird ihr Wissen schon – Strafgesetzbuch für Britisch-Indien von 1860 kommen), und noch weniger brauchen sie zu – Deutsches Bürgerliches Gesetzbuch von 1896 wissen, was in alten Kochbüchern steht – die – Schweizerisches Zivilgesetzbuch von 1907 alte Frage nach Nutzen und Frommen der Ge- schichte für die Probleme der Gegenwart. Bernd Diese Auswahl ist anspruchsvoll, ja mutig: Mertens, dessen dickes Buch hier präsentiert Sie umfasst schwergewichtig kontinentaleuropä- werden soll, stellt sich dieser Frage kaum. Ihm ische, genauer deutschsprachige Kodifikationen ist das »Schließen einer historischen Forschungs- (sieht man davon ab, dass das schweizerische lücke« eigentlich Legitimation genug. Zivilgesetzbuch zumindest von der Fiktion her Eine Forschungslücke schließt er tatsächlich. dreisprachig ist), blendet wichtige Impulsgeber Wohl gibt es Einzelabhandlungen zu historischen wie namentlich den französischen Code Civil Gesetzgebungsprojekten – der Praxis und der aus, nimmt dafür aber eine Kodifikation des dazugehörigen Reflexion – in großer Zahl, und angelsächsischen Common Law in die genauere zahllos sind die verstreuten Bemerkungen in Ar- Betrachtung auf. Mertens begründet Letzteres – beiten anderer thematischer Ausrichtung. Doch überzeugend wie mir scheint – zum einen damit, fehlt die umfassende Erschließung wichtiger dass so eine fruchtbare Kontrastierung möglich Quellen und ihre Zusammenfügung zu einer wurde, zum andern damit, dass dies erlaubte, historischen Gesamtschau. Hier leistet Mertens den äußerst wichtigen theoretischen Stimmen ohne Zweifel eine historische Herkulesarbeit – eines Francis Bacon und eines Jeremy Bentham historisch im doppelten Sinn: eine Arbeit zur ausgiebig Gehör zu verschaffen. Mutig ist die Historie, die selber Fachgeschichte schreiben Auswahl auch, weil sie sowohl Privatrechtsko- wird. difikationen wie auch Kodifikationen des Straf- Was genau ist der Gegenstand von Mertens’ rechts umfasst. groß angelegter Untersuchung? Die »Gesetzge- Die Darstellung konzentriert sich sowohl bungskunst im Zeitalter der Kodifikationen«. auf die in diesen Projekten entwickelte und an- Rg7/2005 Nussbaumer, Gesetzeskunst 177 gewandte Praxis wie auch auf die zeitgenössi- Befehlende oder belehrende Gesetze? Vollstän- schen Zeugnisse der Reflexion dieser Praxis, also digkeit oder aber Exemplarisches, Wichtigstes die »Gesetzgebungskunst« als Vorläuferin des- und Vertrauen auf die Analogie? Das Bestimmt- sen, was heute Gesetzgebungslehre heißt und erst heitsgebot. Die Diskussion um die Gemeinver- heute, wie dargelegt, allmählich Züge einer eige- ständlichkeit. Das Gebot der Kürze und der nen Disziplin bekommt. Redundanzfreiheit. Was ist ein zweckmäßiger Die Gesetzgebungskunst oder »Gesetzge- Aufbau, was leistet ein Allgemeiner Teil? Beson- bungstechnik«, wie der Untertitel des Buches dere Gesetzgebungstechniken wie Legaldefinitio- sie moderner nennt, meint den formalen und nen, Verweisungen oder Fiktionen. den prozeduralen Aspekt der Frage nach der In jedem dieser zahlreichen Kapitel durch- guten Gesetzgebung, soweit sich diese Aspekte schreitet Mertens den Raum seiner sieben Kodi- von inhaltlichen Aspekten überhaupt trennen zes und ihrer zahlreichen Begleitstimmen. Der lassen. Der prozedurale und der formale Aspekt Leser findet eine Überfülle an Informationen, wie – das sind die beiden Problembereiche, die der man es tatsächlich gemacht hat und wie man Darstellung ihre Struktur verleihen: In einem geraten hat, es zu machen oder nicht zu machen. ersten Hauptteil behandelt Mertens »die Ent- Der Autor stellt umsichtig Position gegen Posi- wicklung des zweckmäßigen Verfahrens zum tion und vergleicht sie, stellt Übereinstimmungen Abfassen, Bekanntmachen und Verbessern von und Differenzen heraus. Die Gesetze kommen Gesetzen«, also Fragen des Gesetzesproduk- dabei kaum je selber zu Wort, auf Exempel wird tionsprozesses. Gute Texte sind ja – das lehrt zumeist nur verwiesen, und das ist ausgespro- uns die Schreibforschung – nicht zuletzt das chen schade. Die referierten Autoren werden Resultat guter Bedingungen ihrer Produktion. zumeist paraphrasiert. Originalton ist auch hier WasalsosinddiegutenBedingungenderGe- wenig zu vernehmen, und wenn, dann in den setzestextproduktion? In einzelnen Kapiteln be- Fußnoten. Ja diese Fußnoten! Sie machen, klein- handelt Mertens Fragen wie: Was soll Veran- gedruckt, über die Hälfte des Textes aus. Wir lassung sein und was ist der richtige Zeitpunkt lesen, wie könnten wir es vergessen, eine deut- für die Lancierung eines Gesetzgebungsprojek- sche Habilitationsschrift! Diese Fußnoten also, tes? Wer soll das Projekt vorbereiten und wie? siebietenabundzuOriginalton,Verweiseauf Soll eine Kommission oder ein Einzelredaktor Beispielhaftes in den behandelten Gesetzestex- den Entwurf schreiben? Welche begründenden ten, und dann vor allem Verweise auf Literatur und erläuternden Begleittexte sollen zu einem sonder Zahl und sehr viele sehr anregende wei- Entwurf veröffentlicht werden? Wie sollen die terführende Gedanken. Beratung und die Beschlussfassung über den Am Ende der Lektüre, ich muss es gestehen, Entwurf gestaltet werden? Wer soll sich um die war ich regelrecht erschlagen, müde, satt. Die Schlussredaktion kümmern? Anlage der Darstellung bringt es mit sich, dass Im zweiten Hauptteil widmet sich Mertens sich vieles wiederholt, weil die behandelten Fra- der »Entwicklung der formalen Anforderungen gestellungen sehr eng zusammenhängen, und an den Gesetzesinhalt« und behandelt dabei so dass man am Ende angesichts der Überfülle an zentrale Fragen wie: Verallgemeinerung oder Einzelnem etwas den Blick für das Ganze ver- Kasuistik? Abstraktion oder Anschaulichkeit? loren hat. Ich habe das Buch nach dem zweiten Kritik Nussbaumer, Gesetzeskunst 178

Hauptteil und vielen übersprungenen Fußnoten es liest, eigentlich sofort Lust bekommen müsste, (mit schlechtem Gewissen übersprungen, wis- sich mit seiner Stimme einzumischen. send, dass sich darin so manche Kostbarkeit Als Schweizer hat mich der »Schlussstein« in verbirgt) ermattet zur Seite gelegt, mit dem Ge- Mertens Kodifikationsbogen, das schweizerische fühl, nun fast zu viel zu wissen und keiner Ganz- Zivilgesetzbuch, besonders interessiert, und ich heit mehr gewiss zu sein. Zugleich aber hatte habe mit ausgesprochenem Genuss und Gewinn ich die Gewissheit, dass ich einzelne Kapitel die umsichtige Kontrastierung dieser späten Zi- später wieder und wieder lesen würde im festen vilrechtskodifikation mit dem um einige Jahre Wissen darum, zu einer sektoriellen Fragestel- älteren deutschen BGB gelesen: Dieses ungleiche lung schnell sehr viel zu finden. Paar auf der Weltbühne der großen Kodifika- Dann habe ich das Buch wieder zur Hand tionen gibt bei Mertens ein eigentliches Lehr- genommen und den kurzen dritten Hauptteil, stück ab. die »Schlussbetrachtung«, gelesen und darin zu Schließlich hat sich eine Bemerkung des meiner Freude nun doch die eine oder andere Autors in der Einleitung bei mir festgesetzt und Synthetisierungsleistung des Autors gefunden, mich nicht mehr losgelassen – und mit ihr kom- etwa zum »Rhythmus« bestimmter Diskussions- men wir nun doch noch einmal zurück zur ein- schwerpunkte über den Zeitraum von 150 Jah- gangs gestellten Frage nach Nutzen und From- ren hinweg, zur gesetzestechnischen Vorreiter- men einer Geschichte der Gesetzgebungskunst rolle des Strafrechts vor dem Zivilrecht oder für die Gegenwart und die Zukunft: »Nachdem zum Unterschied zwischen der kontinentaleuro- das 19. Jahrhundert das Zeitalter der großen päischen und der angelsächsischen Diskussion. nationalen Kodifikationen war«, heißt es da Zum Schluss möchte ich vier Bemerkungen (15), »spricht einiges dafür, dass das gerade be- anfügen aus meiner persönlichen Stellung als gonnene 21. Jahrhundert besonders in Europa Sprachwissenschaftler, der in der Schweiz als eine Zeit großer grenzüberschreitender Kodifi- Gesetzesredaktor tätig ist: kationsanstrengungen wird, um die unterschied- Bernd Mertens schreibt zwar eine deutsche lichen Rechtsordnungen innerhalb der Europä- Habilitationsarbeit nach allen Regeln der Kunst, ischen Union zusammenzuführen.« Dabei wird er schreibt aber eine wohltuend klare, verständ- es nicht bloß um eine inhaltliche Rechtsanglei- liche und unprätentiöse Sprache, die uns mit der chung gehen, sondern es müssen auch unter- Selbstverständlichkeit eines Kamels durch die schiedliche, zum Teil aber auch gemeinsame über 500 Seiten Wort- und Bleiwüste trägt. historische Traditionen der Gesetzgebungskunst Gesetzgebungskunst ist eine interdiszipli- aufgearbeitet, zusammengeführt und fruchtbar näre Angelegenheit – oder sollte es zumindest gemacht werden. Europa braucht eine intensive sein. Wenn in der vorliegenden Abhandlung nur Diskussion über gute Gesetzgebung. Diese wird Juristen und »Staatsdenker« zur Sprache kom- aus meiner Sicht kaum geführt. Könnte da eine men, so hat dies vermutlich seine historischen historische Abhandlung von diesem Kaliber Im- Gründe. Ein Kapitel über das Bestimmtheitsge- pulse geben? Ich würde es mir wünschen. bot zum Beispiel ist aber so bar aller sprach- theoretischen Reflexion, dass jeder Linguist, der Markus Nussbaumer Rg7/2005 Nussbaumer, Gesetzeskunst 179

Unsichtbare Hände*

Es gibt mit Bedeutungen beladene Worte; Geschichte der verschiedenen Verfassungstexte Bedeutungen, die sich in einem unerreichbaren zu schreiben. Hespanha zeigt, meiner Meinung Ort zu befinden scheinen, jenseits aller Topo- nach mit großem Erfolg, die Komplexität des grafie. Diese Worte sind oft ein Teil von Diskur- »Diskurses über die Verfassung« auf; ein Diskurs sen, deren Gültigkeit absolut ist zu jeder Zeit und mit verschiedenen Empfängern und Sprechern, überall. Begriffe wie »Verfassung«, »Liberalis- mit einer Fülle an spezifischer Lektüre und mit mus« und »Rechtsstaat« können von dieser Art verschiedenen Ansätzen der Annäherung. sein. Ihre Geschichte zu schreiben, darauf auf- merksam zu machen, dass ein einzelnes Wort in 2. Ich möchte in dieser Rezension keine Zu- Abhängigkeit des geschichtlichen Hintergrundes sammenfassung des Inhaltes geben. Es genügt, ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann, die generelle Struktur des Buches aufzuzeigen. die Kontinuität und die Brüche von einigen die- Die Kontinuitäten und Unterschiede zwischen ser Begriffe in Bezug auf die portugiesische Ver- dem alten Regime und dem portugiesischen fassungsgeschichte – und parallel dazu auch ihre Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts wer- Verbindung mit anderen juristischen Diskursen den detailliert herausgearbeitet. Hespanha dis- in Europa – aufzuzeigen, ist ein Ziel dieses Bu- tanziert sich von einer evolutionär-teleologi- ches. schen Sicht der Geschichte. Im ersten Teil des Buches (welcher die Verfassung von 1822 und 1. Hespanha stellt seinem Buch eine sinnvolle ihre verschiedenen konservativen Entwürfe ana- methodologische Einleitung voran. Diese Heran- lysiert) werden die Kontinuitäten besonders gehensweise ist für den Verfasser nichts Neues: sichtbar (bis Kapitel 11 inklusive). SchoninseinemWerkPanorama historicó da Ab der Verfassung von 1838, die aus der cultura jurídica europeia (Portugal, Lissabon Revolution von 1836 hervorging, zeigten sich 1997, Italien, Bologna 1999, Spanien, Madrid, der Wandel der monarchischen Verfassung hin 2002) finden wir auf den ersten Seiten eine zu einer moderneren konstitutionellen Kultur wichtige methodologische Betrachtung. Der Zu- (Kapitel 13) und die Beziehungen zwischen dieser sammenhang ist dort jedoch ein anderer, es han- und der Ökonomie (Kapitel 15). Das 16. Kapitel delt sich um eine juristische Propädeutik. Mit schließt mit einigen Schlussfolgerungen ab. Man seiner Einleitung in dem hier besprochenen Buch findet interessante Anhänge (unter anderen einen hält der Verfasser Abstand zu einem naiven Überblick über die Geschichte des Verfassungs- Empirismus, der leider sehr häufig unter den rechts in Portugal im 19. Jahrhundert [17.1]; Historikernzufindenist.DieDistanzierung eine Liste der Legislaturperioden in dieser Zeit von einer rein deskriptiven oder reduktionisti- [17.2.1] und eine Auflistung von Quellen zur schen Perspektive (ob sozio-ökonomisch oder Geschichte des Verfassungsrechts in Portugal). hinsichtlich der Ideengeschichte oder der politi- schen Praxis) ist nicht nur eine bloße Aussage. Es 3. Die Komplexität eines Diskurses hängt da- geht auch nicht darum, eine rein dogmatische von ab, verschiedene Stufen der Argumentation

* António Manuel Hespanha, Guiando a mão invisível. Direitos, Estado e Lei no Liberalismo Mo- nárquico Português, Coimbra: Libraria Almedina 2004, 588 S., ISBN 972-40-2321-4 Kritik Fernández-Crehuet López, Unsichtbare Hände 180

miteinander zu verbinden. In einer rechtsge- nach einer bestimmten juristischen Weltanschau- schichtlichen Monografie löst sich auf diese ung existierten, sondern eingehend beschrieben, Weise die Chronologie auf, auch wenn sie weiter- welches die Handlungen sind, die die Gestalt der hin als wichtiges Argument fungiert. Ich möchte juristischen kollektiven Vorstellung beeinflussen: dies an einem Beispiel aus dem Buch verdeut- die Anzahl der Gesetzesvorschläge bezogen auf lichen: »Vom Standpunkt der doktrinalen Per- die politische Orientierung der jeweiligen Regie- spektive betrachtet, ist das Sprechen über die rung (Grafik 261), Struktur der Ministerien und Verfassung [ca. 1820 in Portugal] im Grunde Bedienstete im Staatswesen (Grafiken 292 und genommen ein Sprechen über den Einfluss der 293) und vieles mehr. Auf ähnliche Weise wird politischen Verfassungs-Theorie des Franzosen manmitdenweiterenportugiesischenVerfas- Benjamin Constant (1767–1830) in Portugal.« sungstexten des 19. Jahrhunderts konfrontiert. (162). Dies ist eine erste Stufe der Argumenta- tion, die natürlich im Text von Hespanha aus- 4. Hespanha betont auch die Relevanz des Wer- führlicher behandelt wird. In einer weiteren Ar- kes von Johann Kaspar Bluntschli »Allgemei- gumentationsstufe analysiert er aus Sicht der nes Staatsrecht geschichtlich begründet« für das Ideengeschichte den Einfluss, den Constant auf portugiesische Verfassungsdenken des 19. Jahr- die namhafte Strömung der »douctrinarios« hunderts. Die wichtigsten Aspekte Bluntschlis (176 ff.) und auf die alternative Strömung der sind: »republicanos« ausübte. Er fügt als dritte Argu- – Der Staat entsteht nicht durch einen Vertrag mentationsstufe eine Analyse des dogmatisch (entgegen Rousseaus Meinung), sondern er ist positiven Plans der Carta von 1826 an, die neben ein »sittliches Wesen«. Das heißt, dass der einer Beschreibung auch die Paragrafen aufzeigt, Staat als ein Organismus verstanden werden die in besonderer Weise von den Ideen Constants muss. geprägt sind. Vierte Komplexitätsstufe: Durch – Für Bluntschli (und seine portugiesischen diese Prozesse erhalten die Begriffe eine neue Nachfolger) ist die Organismuslehre weder Nuance. So präsentiert der Begriff »Liberalis- eine Rechtfertigung des monarchischen Abso- mus« in der Carta von 1826 ein Zusammenspiel lutismus noch des bloßen Rechtsstaates. Dies von verschiedenen Bedeutungen: Während für bedeutet eine Verwandlung des Polizeistaates den ersten Liberalismus das Konzept der Nation in eine Unterart des Wohlfahrtsstaates, wobei eine Folge eines Sozialvertrages war, und also die Hauptaufgabe des Staates das Allgemein- jeder Bürger in den Genuss derselben Rechte wohl sein sollte. kommen sollte, wird ab der berühmten Rede – Der Staat sollte nicht als mathematischer Syl- Constants von 1819 »De la liberté des anciens logismus verstanden werden, wo die große comparée à celle des modernes« die Bürgerschaft Prämisse durch den Gesetzgeber festgesetzt als Recht der Partizipation an politischen Be- und die kleine Prämisse von den Richtern reichen auf wenige Bürger begrenzt. Der Be- deduziert wird. griff »Liberalismus« historisiert sich, verändert – Die Ideen von Bluntschli hatten nicht nur auf sein Profil. In einer fünften Argumentationsstufe den theoretischen Diskurs, sondern auch auf wird die Praxis behandelt. Es wird nicht nur die politische Praxis Einfluss. Das Parlament erklärt, welche theoretisch-politischen Ideen sollte nicht die individuellen Interessen der Rg7/2005 Fernández-Crehuet López, Unsichtbare Hände 181

Bürger, sondern bestimmte Institutionen wie 6. Obwohl es ein Kapitel gibt, das den Schluss- Universitäten, Akademien und Kirchen reprä- folgerungen gewidmet ist, bietet uns das Buch sentieren. Hespanha führt die Initiative von wesentlich mehr als das, was auf diesen letzten Oliveira Martins an, in diesem Sinn einen Seiten formuliert ist.1 Als Beleg dafür möchte Reichstag zu organisieren (389). ich an dieser Stelle ein Zitat aus dem letzten Kapitel anführen: »Das juristisch konstitutio- 5. Neben der aus einer »politischen und dog- nelle Denken des 19. Jahrhunderts ermöglichte matischen« (432) Perspektive vorgenommenen einen Wandel des Grundsatzes des Rechtsstaates, Analyse der verschiedenen Verfassungstexte des formuliert in der deutschen und italienischen 19. Jahrhunderts (von der Petition 1808 über die Rechtslehre der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- Verfassungen von 1822, 1826, 1838 und de- derts, und die absolute Staatsauffassung, nicht ren verschiedene Modifikationen: 1852, 1871, durch die Rechte des Einzelnen limitiert und 1885, usw.) werden die Beziehungen zwischen typisch für die Faschismen der ersten Hälfte des Recht und Ökonomie untersucht. Es handelt sich 20. Jahrhunderts« (528). Hespanha stellt in sei- hierbei nicht um einen naiven Marxismus, der nem Buch deutlich heraus, wie bestimmte Vor- das Recht auf die ökonomischen Kräfte redu- stellungen des konstitutionellen Denkens und ziert. Es ist die Erkenntnis, dass die Beziehungen Handelns im 19. Jahrhundert eine theoretische zwischen diesen beiden Systemen »reziprok und Basis für den Faschismus des 20. Jahrhunderts nicht in eine Richtung verlaufend« sind. Der bildeten. Ein konkretes Beispiel hierfür ist der Schritt zu einem immer interventionistischeren Aufschwung der Organismuslehre des Staates Staat, die Einführung des Katasters, der wirt- gegenüber dem »Contract social«, der so bedeut- schaftliche Aufschwung als eine Realität, die den sam für unsere heutige Auffassung des demo- alten dogmatischen Kategorien der Pandektisten kratischen Denkens ist (Rawls). entflieht, sind exzellente Beispiele, wie intensiv sich die Wechselbeziehungen zwischen dem öko- nomischen und dem juristischen Bereich entwi- ckeln. Federico FernándezCrehuet López

1 Die Leistungen des Buches von der Folge wird geschrieben, re- Hespanha sind umfangreich. flektiert und anhand von Texten Der Verfasser hat, gemeinsam mit belegt. Cristina Nogueira da Silva, eine DVD unter dem Titel Fontes para a história constitucional portu- guesa, Lisboa, Faculdade de Di- reito da UNL, 2004, herausge- bracht. Diese Arbeit fungiert als ein festes Fundament für das hier besprochene Werk: Zuerst lernt man die Quellen kennen und in Kritik Fernández-Crehuet López, Unsichtbare Hände 182

This is not a Biography*

1929 malt René Magritte eine Pfeife. Darun- Gleichartigen gesetzt. Der »echte« Pollock inter- ter schreibt er: »Ceci n’est pas une pipe.«1 Eine essiert nicht – so er denn überhaupt jemals zu Provokation ist geboren. finden wäre. Denn: »People are not always con- Knapp achtzig Jahre später erscheint ein sistent« (80). Buch. In seinem Titel prangt, gedruckt in großen Und Rechtshistoriker sind keine Psycho- Lettern, ein Name: Frederick Pollock. Seine Ein- logen. Sie haben es mit Recht als sozialem Phä- leitung verspricht die Rehabilitierung eines nomen zu tun. Die Gleichartigkeit – nicht die Juristen des viktorianischen England, der lange Ähnlichkeit – von Frederick Pollock und F.P. in der zweiten Reihe hinter den Größen des ermöglicht, dass Pollock der Mensch nicht ver- Fachs stand: Austin, Dicey, Maine, Maitland, schwindet, aber als F.P. in die Umwelt des Rechts Wendell, Holmes. Und dann dies: »This book is rückt und dort die Chiffre bildet für jene Kom- not a biography« (xi). Scharf, lakonisch und munikationszusammenhänge, die Duxbury in- allem anderen vorangestellt. Autor dieser bemer- teressieren; für jene »English Juristic Tradition«, kenswerten Studie ist Neil Duxbury. Lebte er wie es im Titel der Studie weiter heißt, die auf noch, Magritte könnte sich ein Lächeln kaum die spätviktorianische Initiative zurückgeht, das verkneifen. common law als wissenschaftliche Disziplin zu Die Provokationen sind wohl überlegt. betreiben, und die damit für das moderne eng- Magritte und Duxbury lösen von der Ähnlich- lische Rechtsdenken der zweiten Hälfte des keit die Gleichartigkeit und spielen diese gegen 20. Jahrhunderts anschlussfähig wurde. Dass jene aus. Die Ähnlichkeit hängt an einer Refe- Pollock der Mensch zeit seines Lebens ein Au- renz, die vorschreibt und klassifiziert; sie hängt ßenseiter blieb, dass er professor of jurispru- am Original. Die Gleichartigkeit dagegen ge- dence an der Universität Oxford, aber letztlich horcht keiner Hierarchie; sie etabliert zirkuläre für das Fach bedeutungslos war (83), dass er Referenzen, die sich über Unterschiede hinweg Lincoln’s Inn angehörte, aber nur zweimal vor fortsetzen.2 Magrittes Bild der Pfeife ist keine Gericht auftrat (20, 29), dass er unermüdlich Pfeife, aber gleich einer Pfeife. Duxburys Text ist publizierte, aber heute kaum mehr gelesen wird keine Biographie, ist seinem Patron nicht unter-, (328) – all dies ist dann kein Hinderungsgrund, sondern gleichgeordnet, ist ein Spiel von Über- F.P. als für die Gegenwart wirkmächtige Ver- tragungen, die sich einander annähern und von- gangenheit zu entwickeln (327 f.). Wichtig sind einander entfernen. Duxbury weiß, was er tut, die Rechtskommunikationen. Zu deren Veror- wenn er dem Menschen Pollock gerade einmal tung reicht ein Kürzel, ja reicht sogar Anony- etwas mehr als siebzig Seiten widmet. »F.P.« mität, wie im Fall von Pollocks case notes steht über diesem Kapitel: ein Kürzel statt eines in der Law Quarterly Review,derenHeraus- Namens, eine Abstraktion statt einer konkreten geber er 35 Jahre lang war (172, 321). Anony- Person, ein Konstrukt statt einer Repräsenta- mität machte F.P.’s Texte anschlussfähig für tion. So wird anstelle einer Vergegenwärtigung Kommunikationszusammenhänge weit über die ein umkehrbarer Bezug des Gleichartigen zum Beschränkungen des Menschen Pollock hinaus.

* Neil Duxbury, Frederick Pollock 1 »La trahison des images« (Öl auf gue raisonné, Bd. 4: Gouaches, and the English Juristic Tradition, Leinwand), Kat. Nr. 303. David Temperas, Watercolours and Pa- Oxford, New York: Oxford Uni- Sylvester, Sarah Whitfield, piersCollés1918–67,hg.von versity Press 2004, 360 S., René Magritte. Catalogue raison- David Sylvester, Basel 1994, ISBN 0-19-927022-8 né, Bd. 1: Oil Paintings 1916–30, 156 f. hg. von David Sylvester,Basel 2Cf.Michel Foucault,Dasist 1992, 331 f. Cf. auch die beiden keine Pfeife; mit zwei Briefen und späteren (1952 oder 1953) Werke vier Zeichnungen von René Ma- (Gouache auf Papier resp. Kar- gritte, Frankfurt a. M., Berlin, ton), Kat. Nr. 1357 und 1358. Wien 1983, 40. Sarah Whitfield u. Michael Raeburn,RenéMagritte.Catalo- Rg7/2005 Brupbacher, This is not a Biography 183

Was Duxbury in seiner quellenreichen Un- die einzelnen Rechtsepisoden verknüpfen und tersuchung zu diesen Kommunikationszusam- eine Selbst-Thematisierung in den semantischen menhängen erzählt, ist eine Geschichte der ope- Größen Rechtssicherheit, Einzelfallgerechtigkeit rativen Schließung des englischen common law und dogmatische Konstruierbarkeit erlauben.5 am Ende des 19. Jahrhunderts und seiner gleich- »What frustrates unfettered judicial discretion zeitigen strukturellen Öffnung durch Binnendif- … is the constraining power of principles« (164). ferenzierung. Anders als auf dem Kontinent resultierte Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatte jener Meta-Diskurs nicht in großen Begriffssys- sich eine Auffassung des common law als eines temen, sondern in einer Relationierung der Sach- Systems von Rechtsbehelfen etabliert, in dem verhalte von Fällen.6 »Legal rules exist not for sich das materielle Recht gleichsam von unten their own sake, but to further justice and con- aus den vor Gericht getragenen Streitigkeiten venience in the business of human life« (214). entwickelte.3 Zwar waren seit den 1830er Jah- Es war jener Pragmatismus, der F.P. betonen ren die mittelalterlichen Klageformeln abge- ließ, Arbeit an Prinzipien sei kein Selbstzweck, schafft, aber das common law verharrte in ak- sondern müsse der Reduktion von Komplexität tionenrechtlichem Denken: »The forms of action und Abstraktion sowie der Verständlichkeit von we have buried, but they still rule us from our Rechtsdoktrin dienen (222): »Law, in short, graves.«4 Duxbury reformuliert diesen Befund must come first« (110). Es war jener Sinn für als Krise der Moderne: »The forms of action … die Vielfalt und den Nuancenreichtum des Le- had militated against abstraction to principle« bens, der F.P. vor grand theory7 und Absoluta (234). Ein fragmentarisches, sich von Fall zu Fall zurückschrecken, ihn einen brillanten Textbook- vorwärtstastendes Recht konnte der modernen autor, aber inspirationslosen professor of juris- Welt immer weniger bieten, dessen sie eigentlich prudence werden ließ (87 f., 201, 282). Und es bedurft hätte – Systematik und Prinzipien zur war jene Achtung F.P.’s für das Funktionieren Stabilisierung immer komplexerer Verhaltenser- desRechtsjenseitsallerRechtswissenschaft,die wartungen. ihn den performativen Widerspruch zwischen Krisen sind Treiber der Rechtsevolution. offenbarer Vernünftigkeit des Rechts und gleich- F.P.’s Restabilisierungsvorschlag bestand in der zeitigem Mangel an Kohärenz und Logik dem These der doppelten Vernünftigkeit des common »perverse genius of his lady the common law« law. Dieses entspreche erstens dem common zuschreiben und damit ertragen ließ, wo konti- sense (157–160) und beruhe zweitens auf Prin- nentale wie amerikanische Rechtsgelehrte fürch- zipien (162). Während die erste Behauptung teten, die Welt stünde still, gelänge es ihnen noch stark Bezug nimmt auf die gesellschaftliche nicht, umfassende Erklärungen zu entwickeln Umwelt einer gebildeten viktorianischen Ober- (214 ff., 282). Entstanden war damit ein ge- schicht, lässt die zweite die selbstreferentielle schlossener Kreislauf, in dem ein praxisnaher Schließung des Rechtsdiskurses erkennen. Nicht Diskurs Fallerfahrungen in Prinzipienkonstruk- mehr wird in jeder einzelnen fallbezogenen tionen wandelte und diese zurück in den Ent- Rechtsepisode die Lebenswelt auf akzeptable scheidungsprozess der Gerichte einspeiste. Die- Lösungen hin geprüft; es wird jetzt eine parallele ser Kreislauf hat eine Chiffre: F.P. Und er hat Ebene abstrakterer Rechtsdiskurse etabliert, die einen Körper: Frederick Pollock – gleichzeitig

3 Michael Lobban, The Common mann zum 60. Geburtstag, hg. von (1985), hg. von dems., Cambridge Law and English Jurisprudence Dirk Baecker, Jürgen Marko- 1990, 3–20, 3 ff., 12 ff. 1760–1850, Oxford 1991, 257. witz, Rudolf Stichweh, Hart- 4 Frederic William Maitland, mann Tyrell u. Helmut Willke, The Forms of Action at Common Frankfurt a. M. 1987, 423–446, Law. A Course of Lectures, hg. 432. von A. H. Chaytor u. W. J. 6 Teubner (Fn. 5) 436. Whittaker, Cambridge 1968, 1. 7DazuQuentin Skinner,Intro- 5Cf.Gunther Teubner,Episo- duction: The Return of Grand denverknüpfung. Zur Steigerung Theory, in: The Return of Grand von Selbstreferenz im Recht, in: Theory in the Human Sciences Theorie als Passion. Niklas Luh- Kritik Brupbacher, This is not a Biography 184

leitender Herausgeber der Law Reports,Kom- men auf diejenigen »sound principles of justice« mentator der von ihm selbst edierten Urteile im (142) reduzierte, mit denen die Gerichte dann Medium der von ihm herausgegebenen Law operieren konnten. Scholarship, in F.P.’s Spra- Quarterly Review und herausragende Autorität che, is a craft (128). für die Gerichte (169), deren Urteile er wiederum Jede Beobachtung hat ihren Ort. This is not a rapportierte. biography. Der Ort der vorliegenden Studie ist Jener Diskurs des operativ geschlossenen bei einem heutigen akademischen Juristen, der common law lag nicht mehr allein in den Hän- Beobachtungen der viktorianischen akademi- den der Richter, sondern auch und vor allem in schen Juristen beobachtet, deren Diskurskon- denen der akademischen Juristen wie F.P. (165). stellationen an Frederick Pollock untersucht Genau aber hielt F.P. diese beiden Sphären aus- und in F.P. chiffriert. Der Ort dieses Buches ist einander: »Jurists, whetherwelikeitornot,are bei der gegenwärtigen englischen Rechtswissen- at the periphery of common law development« schaft, die sich ein Stück ihrer eigenen Geschichte (169). Im Zentrum des Rechts operieren die erzählt – jener Geschichte, die sie selbst verortet: Gerichte. Sie stehen unter Entscheidungszwang. Duxbury ist – wie Pollock – unerhört genau und Sollte das common law nicht einfach als willen- kenntnisreich. Und auch er ist kein Theoretiker. lose Fortsetzung rechtsexterner Pressionen arbei- Jede Beobachtung hat ihren Ort. Ohne weitere ten und seiner Autonomie verlustig gehen, be- theoretische Selbstreflexion kann Duxbury, der durfte es einer von Operationszwang befreiten Beobachter, nicht sehen, dass er nicht sieht, was Peripherie, in der die zunehmenden Irritationen er nicht sieht:9 dass er eine wunderbare Ge- der Moderne aufgenommen und in Rechtsform schichte der Evolution des englischen Rechtssys- gebracht werden konnten – oder auch nicht.8 In tems geschrieben hat. der akademischen Peripherie fand ein Sedimen- tierungsprozess statt, der gesellschaftliche The- Oliver M. Brupbacher

Das Ganze des Rechts*

I. Die Beschäftigung mit Rechtstheorie ist thanasie nehmen sich geradezu populär aus, uncool geworden. Das Fach ist kein Teilgebiet wenn man sie mit den Dauerbrennern der »all- des Wirtschaftsrechts. Zur sozialen Stilisierung gemeinen Rechtslehre« vergleicht. Einem Vor- juristischer Kompetenz gibt die Theorie nichts trag, der sich der Frage widmet, was die Ermäch- her. Im akademischen Bereich ist sie das Stecken- tigungsnorm sei, ist das leere Auditorium gewiss. pferd des »studentischen Sonderlings«.1 Unter den juristischen Fächern verbreitet die all- Das Uncoole ist bekanntlich steigerungsfä- gemeine Rechtslehre die Aura der unendlichen hig. Nicht jeder Schlagersänger ist wie Heino. Langeweile. Die Beschäftigung mit den Grund- Nicht jede Theorie ist gleich grau. So genannte begriffen und den Relationen, welche das Rechts- »rechtsethische« Debatten über Klonen oder Eu- system ausmachen (287), holt niemanden hinter

8 Niklas Luhmann, Das Recht der * Andreas Funke, Allgemeine 1 Diesen Ausdruck verdanken wir Gesellschaft, Frankfurt a. M. Rechtslehre als juristische Struk- Regina Ogorek. Siehe Regina 1993, 322. turtheorie. Entwicklung und Ogorek, Rechtsgeschichte in der 9DazuDirk Baecker,Kybernetik gegenwärtige Bedeutung der Bundesrepublik (1945–1990), in: zweiter Ordnung, in: Heinz von Rechtstheorie um 1900 (Grund- Rechtswissenschaft in der Bonner Foerster, Wissen und Gewissen. lagen der Rechtswissenschaft, Republik. Studien zur Wissen- Versuch einer Brücke, hg. von Bd. 1), Tübingen: Mohr Siebeck schaftsgeschichte der Jurispru- Siegfried J. Schmidt,2.Aufl. 2004, xii, 338 S., denz, hg. von Dieter Simon, Frankfurt a. M. 1994, 17–23, 19. ISBN 3-16-148476-2 Frankfurt a. M. 1994, 12–99, hier: 14. Rg7/2005 Somek, Das Ganze des Rechts 185

demOfenhervor.WersindunsalsoMerkel, Rechtslehre und die aus ihr hervorgehende Bergbohm, Bierling und Somló (20–29)? Sie sind Rechtstheorie studieren das Ganze des Rechts klassische Exempel für Meister der Vergangen- als ein Kontinuum, in dem sich normativer Sinn heit, über welche die Wirkungsgeschichte ihr generieren lässt. Diese Faszination mit dem Urteil gesprochen hat. Sie sind aus ihr ausge- Machbaren erklärt auch, weshalb den allgemei- schieden worden. Ihre Werke sind pedantisch, nen Rechtslehrern wesentlich war, dass das posi- verschroben, abstrakt und für die Praxis irrele- tive Recht das soziale Gebiet ist, in dem der Wille vant. herrscht (52). Das Augenmerk liegt auf der Set- zung von Recht. Nüchternheit ist das Leitmotiv. II. Das Buch von Andreas Funke belehrt uns eines Besseren. Es erinnert daran, dass die so III. Funkes Buch ist eine Meisterleistung an genannte allgemeine Rechtslehre (9–12) sich Synthese. Anstelle einer langatmigen sukzessiven historisch als Wegbereiterin der »Rechtstheorie« Wiedergabe von Werken der Altmeister werden verstehen lässt (24). Ihre Entstehung markiert deren Fragestellungen, ihre Methoden und ihre den ersten bedeutsamen Versuch, die Vorausset- Vorstellungen vom Gegenstand ihrer Lehre in zungen des Sprechens über positives Recht auf- kondensierter Form präsentiert (siehe 280–286). zuklären. Eine allgemeine Rechtslehre, die sich Die Auffassungsunterschiede werden aus dem als Strukturtheorie des Rechts versteht (9, 39, Gemeinsamen herausgearbeitet. Das Unterfan- 78), rekonstruiert die begrifflichen Grundlagen gen ist von Sympathie getragen, vor allem, was für die juristische Darstellung von Rechtslagen das positivistische Wissenschaftskonzept angeht. (284). Da juristisches Sprechen auf einen Gegen- Nach der Lektüre weiß man mehr, nicht nur über stand bezogen ist und dieser Bezug die Semantik das Rechtssystem, sondern auch über die geistige dieses Sprechens bestimmt, isoliert die diesbe- Situation, in der Kelsens Rechtstheorie entstand, zügliche Rekonstruktion die für die Existenz auf die man die Entwicklung der allgemeinen von positivem Recht vorauszusetzenden Grund- Rechtslehre letztlich hinauslaufen sieht. begriffe (94). Sie tut dies, indem sie im Hinblick Wo die Verdienste überwiegen, sollte man auf empirisches Material allgemeine Schlussfol- nicht beckmesserisch sein. Funkes besonnenes gerungen auf dessen Möglichkeit zieht. Plädoyer ist lesbar und informativ. Dem Projekt Der Möglichkeitssinn ist das Markenzeichen ist bloß die Grenze zu bezeichnen. Funke sieht der allgemeinen Rechtslehre (etwa 98–99). Sie richtig, dass es den Erfindern der allgemeinen deckt auf, was sich mit juristischem Sinn (etwa Rechtslehre um das Ganze ging. Sie wollten die Geboten, Verboten, Erlaubnissen, Ermächtigun- Formen isolieren, in denen sich das positive gen) so alles anstellen lässt. Die Grundbegriffe Recht schlechthin präsentiert und vor allem je- sind auf Machbarkeit bezogen. Meines Erach- nen Grundbegriff bestimmen, der enigmatisch tens hätte das niemand klarer ausdrücken kön- dessen Geltungsanspruch signalisiert: das vom nen als Kelsen, wenn er die Schadenszufügung moralischen Sollen verschiedene Sollen des bloß unzweideutig als Ermächtigung zur Erzeu- Rechts (216–222). Was dieses Sollen bedeutet, gung der Schadenersatzpflicht durch den Schädi- sollte freilich bis heute ein Rätsel bleiben. Darü- ger gedeutet hätte.2 Erst in der Übertreibung ber hinaus wussten die Vertreter der allgemeinen zeigt sich der Genius einer Idee. Die allgemeine Rechtslehre, dass jede Form sich einer systemati-

2 Kelsen ist alles andere als klar an diesem Punkt. Siehe Hans Kel- sen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, 118–119, 262. Kritik Somek, Das Ganze des Rechts 186

schen Bestimmung verdankt. Die Rechtsbegriffe Ich halte die Wahrnehmung dieser Aufgabe sind Teil eines Systems. Was für die Form gilt, für ziemlich cool. Die Rechtstheorie stellt den bewahrheitet sich auch für den Inhalt. Das Recht juristischen Experten den Erhalt ihrer intellek- ist Ordnung. Aber diese Ordnung, so mag man tuellen Gesundheit in Aussicht.5 Sie verspricht, Funke und seinen Meistern entgegenhalten, ist unseren Verstand und unsere juristischen Be- kein Ding oder Aggregat von Gegenständen der griffe vor den Anschlägen durch die lenkenden, Rechtserkenntnis. Sie ist keine Angelegenheit der normierenden und urteilenden Stellen zu bewah- theoretischen Feststellung. Die Rechtsordnung ren. Ich sehe nicht, warum »der Jurist« damit als ein System ist eine regulative Idee.3 Sie leitet nichts soll anfangen können. Es gibt sogar einen die systematische Konstruktion des Rechts an praktisch greifbaren Ertrag. Ohne Begriff von und hat unterschiedliche Konsequenzen, je nach- den in Rechtssystemen obwaltenden Relationen dem, welches Vorverständnis man davon hat, sind Juristen in transnationalen Kontexten auf was eine Rechtsgemeinschaft ausmachen soll.4 das angewiesen, was die Organe internationaler Organisationen ihnen wortreich und in kreativer IV. Das Buch ist durchwirkt von einer immer Terminologie verabreichen. Ohne einen Sinn für wiederkehrenden bangen Frage: Ist die allgemei- die Problematik der Normativität lässt sich auch ne Rechtslehre als Strukturtheorie zur methodi- nicht der Sinn dafür schärfen, dass immer dann, schen Anweisung fähig? Die Frage wird vorsich- wenn Normen nichts mehr gelten, im juristischen tig bejaht (82–84, 89, 284). Gleichwohl fürchte Denken die Relevanz von Werten und Zweck- ich, dass die Erwartung, die Rechtstheorie sei zur mäßigkeiten implodiert. Für das Begreifen des Überdogmatik berufen, verfehlt ist. Das recht- intellektuellen Terrains, auf dem sich juristische liche Wissen ist ein Gebiet, auf dem sich die Sprecher bewegen, ist die Rechtstheorie unver- beruflichen Besserwisser tummeln. Im Überfluss zichtbar. Ohne sie bewegt man sich auf ihm nicht der juristischen Expertise kann der Theorie nur mit intellektuell aufrechtem Gang. eine zutiefst philosophische Funktion zuwach- sen. Es ist dies die der Unsinnsvermeidung. Alexander Somek

Heut’ gehn wir ins … Labor!*

Nein, heut’ geht es nicht ins Maxim! selbst: »Ein Gedanke, der augenblicklich auf- Schenken wir aber Walter Pauly Glauben, so tauchte, wurde in die Verfassung hineingeschrie- scheint es im »Weimarer Grundrechtslabor« zu- ben. Hatte jemand den Wunsch, einen bestimm- mindest zeitweise nicht weniger bunt und tur- ten Rechtssatz in der Verfassung festgelegt zu bulent zugegangen zu sein. Dem Abgeordneten sehen, so wurde er in die Verfassung hinein- der Deutschen Volkspartei Rudolf Heinze zu- genommen, ohne Rücksicht darauf, ob nicht folge steuerte sich in den Grundrechtsberatungen andere Rechtssätze von derselben Bedeutung des Verfassungsausschusses das Chaos offenbar ebenso gut hätten aufgenommen werden kön-

3 Verschämt und bloß mangels ge- 4SieheRonald Dworkin,Law’s * Walter Pauly, Grundrechtslabo- eigneterer Fremdreferenz gestatte Empire, Cambridge, Mass. 1986, ratorium Weimar. Zur Entstehung ich mir den bescheidenen Hinweis 212–213; Christian Hiebaum, des zweiten Hauptteils der Reichs- auf ein eigenes Werk, das den Die Politik des Rechts. Eine Ana- verfassung vom 14. August 1919, Aufstieg, Niedergang und die lyse juristischer Rationalität, Ber- unter Mitarbeit von Olaf Hüne- Wiederkehr dieser Idee rekonstru- lin,NewYork2004,217. mörder, Tübingen: Mohr Siebeck iert: Alexander Somek, Rechts- 5SiehePierre Schlag,TheEn- 2004, VIII, 122 S., system und Republik. Über die chantment of Reason, Durham, ISBN 3-16-148479-7 politische Funktion des systema- London 1998. tischen Rechtsdenkens, Wien, New York 1992. Rg7/2005 Schulte, Heut’ gehn wir ins … Labor! 187

nen.« Dem Sozialdemokraten Ernst Max Quarck tisch-rechtlicher, insbesondere gesetzgeberischer drängte sich gar der Eindruck auf, dass mit den Ausgestaltung bedürftiges Modernisierungspro- Grundrechten eine »salatähnliche Komposition« gramm erstrebte (2). Dem Ringen um dieses zustande gekommen sei. Und für den Deutsch- divergierende Grundrechtsverständnis im »Wei- DemokratenErichKochwiederumbesaßendie marer Grundrechtslaboratorium« widmet Pauly Grundrechte den Charakter eines »interfrak- deshalb mit Grund den Hauptteil seiner Unter- tionellen Parteiprogramms«; es habe nun ein- suchung. Mit von ihm gewohnter Akribie zeich- mal »kein Halten mehr« gegeben, so dass am net er – gründlich belegt – die diesbezüglichen Ende ein »allgemeiner Bürgerkatechismus« ste- Beratungen von der ersten Plenarlesung der hen musste. Nationalversammlung, über die Verhandlungen Man darf mit Grund vermuten, dass diese im Ausschuss und Unterausschuss sowie im Ver- »Weimarer Realsatire« wohl heute nur noch fassungsausschuss nach. Auch die Entwurfsge- vom gesetzgeberischen Aktionismus der »Berli- schichte bis zur amtlichen Regierungsvorlage ner Republik« übertroffen wird. Als ein Beispiel und sogar Privatentwürfe wie Parteiprogramme von vielen mag hier nur der Beschluss des Deut- bleiben nicht unberücksichtigt (7–61). Der Ver- schen Bundestages vom 15.4.2005 zum »Zwei- fasser leistet damit einen wichtigen Beitrag zur ten Gesetz zur Neuregelung des Energiewirt- bislang eher wenig erforschten Genese der Wei- schaftsgesetzes« (BT-Drucks. 248/05) dienen. marer Grundrechtsordnung, wobei es ihm aus- Der § 21a dieses Gesetzentwurfs, der schon mit drücklich nicht um die Entstehung einzelner seiner Überschrift »Regelungsvorgaben für An- Grundrechte, sondern um die tiefer liegenden reize für eine effiziente Leistungserbringung« Strukturdiskussionen geht. Und dies ist gut so, durch besondere »sprachliche Schönheit« be- denn genau hier bestand ein Desiderat verfas- sticht, wird von Fachleuten geradezu für ein sungshistorischer Forschung. Paradebeispiel aus der Rubrik »Formelkompro- Im dritten Teil der Untersuchung (63–69 misse getreu dem Motto: Wünsch dir was« ge- »Grundrechte für die Republik«) zieht Walter halten, lässt aber leider genau das vermissen, was Pauly dann gleichsam die kritische Summe jedes Gesetz auszeichnen sollte, nämlich Be- seiner Analysen. In der Sache überzeugend ar- stimmtheit in der Formulierung und Sicherheit beitet er heraus, wie sehr die Weimarer Grund- in der Rechtsanwendung.1 rechtsdiskussion letztlich der Überzeugung Hinter den Weimarer Formelkompromissen entsprang, auch mit einem noch so demokra- im Bereich der Grundrechte stand aber, worauf tisch legitimierten, insgesamt aber »kahlen Ge- Pauly zu Recht hinweist, ein fundamentaler rüste der Verfassungsorganisation« nicht die Streit unterschiedlicher Grundrechtskonzeptio- »Herzen der Bürger« zu gewinnen.2 Für ihn nen. Dem traditionell liberalen, rechtsstaatlichen erweist sich die Weimarer Grundrechtsdiskus- Freiheitsverständnis, das eine strikte Schran- sion damit gleichsam als »Kompensationserfor- kenziehung zwischen Staat und Gesellschaft dernis« auf der »Verlustseite der Revolution« verlangte, stand ein Grundrechtsverständnis ge- (65), wobei von hierher die Verbindungslinie zur genüber, das eine staatliche Gestaltungsaufgabe Smendschen Integrationsfunktion der Grund- im Grundrechtsbereich anerkannte und mit rechte ebenso nahe liegend wie überzeugend den Grundrechten ein gesellschaftliches, poli- erscheint.

1 Vgl. oben »Gesetzeskunst«, 175– 178. 2 R. Thoma, Die juristische Bedeu- tung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Die Grund- rechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, hg. von H. C. Nipperdey, Bd. 1, Berlin 1929, 10. Kritik Schulte, Heut’ gehn wir ins … Labor! 188

InsgesamtwirdindiesemTeilderUnter- informativen Anhang, der in der Verantwortung suchung deutlich, wie sehr es dem Verfasser ein von Olaf Hünemörder und eingeleitet durch eine Anliegen ist, die Weimarer Grundrechtsdiskus- editorische Notiz desselben »Die gutachterlichen sion in den »konkreten zeitgeschichtlichen Kon- Stellungnahmen zu den Entwürfen des Unteraus- text« (66) einzubetten. In gleichem Maße sei es schusses für die Vorberatung der Grundrechte nämlich darum gegangen, das Freiheitsverständ- von Weimar im Nachlass von Konrad Beyerle« nis des liberalen Bürgertums und die sozial- umfasst (73–122). Unter diesen Stellungnahmen ökonomischen Interessen der Arbeiterschaft zu ragen in ihrer Gründlichkeit der Auseinan- bedienen. Dieser umfassenden Interessenberück- dersetzung zweifellos die rechtsgutachterlichen sichtigung misst Pauly eine »elementare politi- Äußerungen Otto von Gierkes und Richard sche Funktion« zu, auf die der Weimarer Ver- Schmidts vom 18. Mai 1919 heraus. Diese und fassungsgeber weder verzichten konnte noch die anderen Stellungnahmen namhafter Rechts- wollte. In der Selbstbeschreibung des Rechts- lehrer (Karl von Amira, Karl Rothenbücher, systems habe deshalb auch Adalbert Düringer Robert Piloty, Ernst von Beling, Hans Gmelin) davor gewarnt, den Zweiten Hauptteil der Wei- erstmals und vollständig einer breiteren wissen- marer Reichsverfassung mit den »Augen des schaftlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht Fachjuristen« zu sehen, »denn die Verfassung zu haben, zählt ebenfalls zu den nicht geringen ist im eminenten Sinne ein politisches Gesetz. Verdiensten der komprimierten verfassungshis- Kein Satz findet sich in den Grundrechten und torischen Studie. Grundpflichten, der nicht eine gewisse politische Walter Pauly legt damit alles in allem eine Bedeutung hätte, auf den nicht die eine oder konzise, gründlich recherchierte verfassungshis- andere Partei von ihrem Standpunkte aus beson- torische Studie zu den Strukturdiskussionen um deren Wert gelegt hätte. In diesem ihrem politi- den Weimarer Grundrechtskatalog vor, der nicht schen Gehalt ist der einheitliche Gesichtspunkt zuletzt Lob dafür gebührt, anstelle der zahllosen zu suchen.«3 Für den Systemtheoretiker zeigt Abhandlungen zu Krise und Untergang der Wei- sich darin als Ergebnis der Fremdbeschreibung marer Republik endlich einmal den Blick auf die des Rechtssystems als eines sich selbst beschrei- Chancen und Perspektiven derselben gerichtet zu benden Systems einmal mehr, dass es gerade haben. Dass die Untersuchung nicht ganz ohne die Verfassung ist, die die Funktionssysteme ein Wort zum Scheitern der Weimarer Republik »Recht« und »Politik« strukturell koppelt. Als auskommt, ist nur verständlich und wird von Verfassung des Staates löst sie politisch das Pauly erfreulicherweise dafür genutzt, argumen- Selbstreferenzproblem des Rechts und rechtlich tativ überzeugend, nämlich unter Verweis auf das Selbstreferenzproblem der Politik.4 Dies na- das Ausbleiben der ökonomischen Realisierungs- türlich immer nur in der Gegenwart und vor bedingungen, mit dem Mythos der Grundrechte dem Horizont einer per se ungewissen Zukunft, als einem der »Konstruktionsfehler« der Weima- d. h. letztlich der Evolution unterworfen.5 rer Republik aufzuräumen. Kurz und knapp: Abgerundet wird die verfassungshistorische Laborversuch gelungen! Untersuchung zur »Strukturgeschichte« der Wei- marer Grundrechtsordnung durch einen äußerst Martin Schulte

3 A. Düringer, Die Verfassung des Deutschen Reiches, in: Recht und Wirtschaft 9 (1919) 168. 4 N. Luhmann, Das Recht der Ge- sellschaft, Frankfurt a. M. 1993, 478; ders., Die Politik der Ge- sellschaft, Frankfurt a. M. 2000, 390 f. 5 Ders., Verfassung als evolutionä- re Errungenschaft, in: Rechtshis- torisches Journal 9 (1990) 176 ff. Rg7/2005 Schulte, Heut’ gehn wir ins … Labor! 189

Law after Auschwitz – Law in Auschwitz?*

»Law after Auschwitz«, das jüngste Buch Großbritannien, Kanada und Australien) vor des kanadischen Rechtswissenschaftlers David dem Zerfall in völlig unzusammenhängende Ein- Fraser, ist keine streng durchgeführte Abhand- zelteile bewahrt. So gerät das Buch zu einem lung mit nur einer strukturbildenden Fragestel- Thema mit Variationen; kaum ein Kapitel, in lung, sondern eine Sammlung von historischen, dem Fraser nicht dem heutigen Juristen vor philosophischen und soziologischen Betrachtun- Augenführt,dassseinStoffundseineMethoden gen über den Holocaust, das Recht, die Justiz sich in vielen Aspekten nicht wesentlich von und die Juristen in verschiedenen Ländern. An- denen seiner deutschen Kollegen aus der Zeit ders als der Titel vermuten lässt, geht es Fraser von 1933 bis 1945 unterscheiden: »… there is keineswegs darum, die Erfahrung der Massen- no inherent epistemological, ontological jurid- vernichtung als einzigartigen Zivilisationsbruch ical set of ideas, concepts or practices which und nachhaltigste Zäsur in der Menschheits- distinguishes nazi law from our law.« Hier hat geschichte darzustellen. Das Buch reiht sich nicht man schon eine etwas spezifischere Variante der in die inzwischen lange Serie von Studien ein, die These vom NS-Recht als beständigem Recht, die aus einem »Davor« und »Danach«-Blickwinkel dennoch viele Fragen offen lässt. Worin das Auschwitz auf seine Folgen hin untersuchen, wie »set of ideas«, das sich fortsetzt, genau besteht, es bekanntlich für ›das Denken‹ im Allgemeinen, kann sich der Leser mosaikartig aus Einzelbei- die Theologie, die Möglichkeit, Gedichte zu spielen (etwa Berichten über Euthanasietenden- schreiben u.s.w. bereits geschehen ist. Fraser zen der Rechtsprechung im heutigen Großbritan- setzt der Grundrichtung dieser Literaturgattung nien) zusammensetzen, definiert wird dieser eine drastische Kontinuitätsbehauptung entge- Grundbegriff aber nicht. Doch aus der verein- gen: Auch bei den Normen, die den Massenmord fachenden Zuspitzung bezieht die These ihren regelten, handelte es sich um Recht und damit Schwung; sie wirkt provozierend und wurde so um ein Instrument, das heute nach wie vor drastisch wahrscheinlich noch nicht formuliert. ähnlich verwendet wird. Kritisiert werden Deu- Ob sie völlig neu ist, ist hingegen eine andere tungsmuster, die das Recht unter der NS-Herr- Frage. Zumindest die wichtige Teilaussage von schaft als Nicht-Recht, Rechtsperversion oder Frasers Annahme, dass der NS-Staat sich auch Legalitätsfassade etikettieren und damit aus bei der Massenvernichtung rechtlicher Normen dem Rechtsgeschichtsverlauf ausklammern wol- bediente, ist beispielsweise schon von Ernst len. Auch Verbrechen können und konnten (im Fraenkels zeitgenössischer Beobachtung nicht formellen Sinn) legal sein: Nazi law was law. geleugnet worden. Fraenkel wollte den Maßnah- Diese These ist eine Art Gravitationszentrum, menstaat nicht als formell-rechtsfreien, d. h.: völ- das die weit in verschiedene Bereiche ausgrei- lig normlosen Raum verstanden wissen, wie man fende Darstellung (sie enthält Auseinanderset- an seinen präzisen Ausführungen zu gesetzli- zungen mit der Philosophie Agambens sowie chen Rechtfertigungsmustern des verbrecheri- mit verschiedenen juristischen Behandlungen schen Systems erkennen kann. Es gab, Fraenkel von NS-Verbrechen in Frankreich, den USA, zufolge, normgesteuerte Maßnahmen, nur war

* David Fraser, Law after Auschwitz. Towards a Jurispru- dence of the Holocaust, Dur- ham, N.C.: Carolina Academic Press 2005, XI, 451 S., ISBN 0-89089-243-1 Kritik Keiser, Law after Auschwitz – Law in Auschwitz? 190

ihre gerichtliche Nachprüfbarkeit beschränkt. scher Texte entnommen; die Darstellung steuert Unter »Recht« verstand Fraenkel allerdings eher in die Breite als in die Tiefe. Die meisten etwas anderes. Bei Fraser ist dagegen wörtlich einschlägigen Studien über Recht im National- dieRedevom»Nazi-Rechtsstaat«, ohne, wie sozialismus, die in Deutschland seit Ende der Fraenkel es getan hätte, formelle und materielle sechziger Jahre entstanden sind (z. B. von Rü- Rechtsstaatsbegriffe zu unterscheiden. thers oder Gruchmann), bleiben unberücksich- In dieser Definitionsfrage des Rechtsbegriffs tigt, was aber wohl nicht auf Geringschätzung, liegt ein zentrales Problem der Darstellung. Defi- sondern eher auf sprachliche Defizite des Autors niert man Recht (gegen seine metaphorische zurückzuführen ist. Aussage) neutral als bloßen Komplex von hand- Insgesamt hat Frasers Zugriff aber nicht nur lungsleitenden Satzungen, die beliebige Folgen, Nachteile. Dass er die Definition des Rechtsbe- auch Ausgrenzung und Vernichtung, herbeifüh- griffs umgeht, kann man ihm so sehr nicht übel ren können, und nicht als Komplex von Regeln nehmen. Er wirft mit diesem Ausweichmanöver mit immanenter Eignung zu einer die individuel- einen gewaltigen Literaturballast über Bord, in le Würde schützenden Ordnung eines Gemein- dem es um Naturrecht und Positivismus und wesens, dann lässt sich leicht behaupten, dass damit um die unendlichen rechtsphilosophischen NS-Recht Recht war. So hat man gelegentlich Kernfragen des 20. Jahrhunderts geht. Die zu den Eindruck, dass Fraser zu variabel mit seinem diesem Thema maßgeblichen Aussagen von Rad- Rechtsbegriff verfährt, um die wichtigen Fragen bruch, Hart und vielen anderen Autoren wurden konsequent erörtern zu können. zu den Akten gelegt. Fraser zog es vor, ziel- Aus der Sicht strenger Rechtshistoriker gerichtet aus individuellen, philosophischen Ver- könnte man das Buch und seine These in man- gangenheitsbetrachtungen auf aktuelle Themen chen Aspekten auch als vergebene Chance an- zuzusteuern. Das hat auch etwas für sich und sehen. Fraser beschreibt leider nicht genau, wie stiftet auf jeden Fall produktive Verwirrung. Es dieses »NS-Recht« im Hinblick auf den Holo- bleibt Frasers Verdienst, gezeigt zu haben, wel- caust im Einzelnen funktionierte, er geht nicht che Katastrophen auch im heutigen juristischen z. B. auf die Problematik der Schutzhaftanord- Alltag Vorschriften oder Überzeugungen anrich- nungen oder der justizfreien Hoheitsakte ein, ten können, die für sich in Anspruch nehmen, obwohl sich gerade hier noch viele Anknüp- Recht zu sein, und die nur aufgrund dieser fungspunkte geboten hätten. Überhaupt scheint Eigenschaft solche Wirkung entfalten, dass sie die quellengestützte Aufarbeitung vergangener Widerspruch erschweren oder sogar als ausge- Situationen nicht sein Anliegen zu sein. Die schlossen erscheinen lassen. Wer Recht hat, ist historischen Passagen über NS-Deutschland sind noch lange nicht sicher. ausschließlich der englischsprachigen Sekundär- literatur oder englischen Übersetzungen deut- Thorsten Keiser Rg7/2005 Keiser, Law after Auschwitz – Law in Auschwitz? 191

OpferdesFaschismusunddesAntifaschismus*

Wer nach der Befreiung der Konzentrations- Weg der Selbstorganisation, um ihre Interessen lagerimWinterundFrühjahr1945alseinOpfer wahrzunehmen. Bereits im Mai 1945 entstand des Faschismus galt, das verstand sich nicht von der Berliner Hauptausschuss ›Opfer des Faschis- selbst und bleibt in gewisser Weise bis heute mus‹, mit dem KZ-Überlebenden und Kommu- Gegenstand vergangenheitspolitischer Kontro- nisten Ottomar Geschke, der zugleich Stadtrat versen. Nach Kriegsende waren es zunächst die für Soziales war, an der Spitze. Während andere politischen Häftlinge, die für sich den Status spontan gegründete Antifa-Ausschüsse bald von ›Opfer des Faschismus‹ beanspruchten und eine den neuen Machthabern aufgelöst wurden, Heroisierung des antifaschistischen Widerstan- konnte der Hauptausschuss sich als politisches des betrieben. Die europäischen Juden aber, die Gremium wie auch als eine Art amtliche Wohl- im engeren Sinne keine politischen Gegner des fahrtsstelle aller in Berlin lebenden NS-Verfolg- Nationalsozialismus waren, sondern ›nur‹ auf- ten behaupten. Der Hauptausschuss geriet bald grund rassistischer Kriterien verfolgt und ver- in den Strudel der politischen Auseinanderset- nichtet wurden, blieben anfangs aus der symbol- zung zwischen Ost und West. In der DDR behielt politischen Gemeinschaft der ›Opfer des Faschis- er – und damit die Überlebenden der Lager selbst mus‹ ausgeschlossen – eine Sichtweise, die sich – die Definitionsmacht darüber, wer ein Opfer wiederum bis heute nahezu umgekehrt hat. desFaschismuswarundwernicht.InderBun- Doch der Vernichtungswillen des nationalsozia- desrepublik entschieden über die Entschädigung listischen Deutschlands galt auch Gruppen der letztlich Verwaltungsbehörden, in der viele alte Gesellschaft, die sich zur Heroisierung wenig Eliten des ›Dritten Reiches‹ weiter wirkten. eigneten: ›Asozialen‹, ›Kriminellen‹, Homosexu- Dass die Anerkennungs- und Entschädi- ellen oder geistig Behinderten. Dem Umgang gungspraxis damit selbst Gegenstand des Kalten mit diesen vermeintlich unwürdigen Opfern Krieges wurde, kann nicht überraschen und im Berlin der unmittelbaren Nachkriegszeit hat wurde, etwa in den Arbeiten von Constantin Susanne zur Nieden eine konzise Fallstudie ge- Goschler, bereits ausführlich beschrieben. So fie- widmet. lenKommunistenoftmalsimWestenbaldaus Der erste Teil des Buches rekonstruiert, zum der Entschädigungspraxis heraus, weil sie an der Teil im Rückgriff auf die Forschungsliteratur, die Errichtung einer neuen totalitären Gewaltherr- Berliner Anerkennungs- und Entschädigungs- schaft arbeiten würden, wie umgekehrt die Geg- politik der Opfer der nationalsozialistischen ner des Antifaschismus der DDR, vor allem die Gewaltherrschaft der Jahre 1945 bis 1948/49. Nichtkommunisten unter den KZ-Überleben- WährenddieMillionen›DisplacedPersons‹,die den, selbst zu Faschisten erklärt wurden. Noch sich nach Kriegsende in Europa befanden, der irritierender ist der Befund, dass in beiden deut- Fürsorge der Vereinten Nationen und der west- schen Nachkriegsgesellschaften die gleichen lichen Alliierten unterstanden, waren die deut- Gruppen von NS-Verfolgten keine Chance auf schen NS-Verfolgten auf die deutschen Behörden Wiedergutmachung hatten, jene Gruppen, die angewiesen. In dieser Situation gingen sie den nicht aus politischen oder rassistischen Gründen

* Susanne zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin: Metropol Verlag 2003, 208 S., ISBN 3-936411-20-4 Kritik Hoffmann, Opfer des Faschismus und des Antifaschismus 192

verfolgt wurden, jedenfalls nach den Begriffen hatte. Zwar wurde das Verfahren von der Staats- vonPolitikund›Rasse‹,dieinderNachkriegs- anwaltschaft eingestellt, da der Paragraph 175 zeit vorherrschend waren. des Strafgesetzbuches ausschließlich gleichge- Das zeigt eindrucksvoll der zweite, empi- schlechtliche Beziehungen zwischen Männern risch dichtere Teil der Studie, der eine als unter Strafe stellte, der Hauptausschuss wurde ›Säuberung‹ deklarierte Überprüfung durch den dennoch aktiv. Im Zuge der Überprüfung stellte Berliner Hauptausschuss zum Gegenstand hat, sich heraus, dass die beiden Schwestern im Som- bei der in den Jahren zwischen 1946 und 1949 mer 1945 bei der ersten Anerkennung als Opfer über 700 politische Verfolgte (von insgesamt des Faschismus fälschlicherweise angegeben hat- 9.000) ihren Status als anerkannte ›Opfer des ten, sie seien aufgrund politischen Widerstandes Faschismus‹ verloren. Die überlieferten Akten verhaftet worden. Zu diesem Zeitpunkt besaß der individuellen Fallprüfung durch den Haupt- der Verweis auf ihre jüdische Herkunft keine ausschuss legen die Kriterien frei, nach denen die Chance auf Anerkennung als Opfer. Noch bevor ehemaligen politischen Häftlinge der Konzentra- der Ausschuss zu einer endgültigen Entschei- tionslager darüber entschieden, wer in das Passe- dung kam, entzogen sich die beiden Schwestern partout des antifaschistischen Heroismus passte. durch Emigration in die Vereinigten Staaten Die Kriterien geben mithin indirekt Auskunft dem Richterspruch der selbsternannten Sitten- über die Wert- und Ordnungsvorstellungen eines wächter. Teils der Überlebenden, der sich als politische Weniger Skrupel zeigte der Hauptausschuss Widerstandskämpfer sah. bei anderen Formen ›unwürdigen‹ Verhaltens. Dieses politische Selbstverständnis besaß Wer aufgrund von Homosexualität, geistiger eine Vorgeschichte in der Ordnung der Lager. Behinderung oder ›asozialem‹ Lebenswandel in So wurden gleichgeschlechtliche Beziehungen, die KZs kam, konnte auf eine Anerkennung als gefördert zumal durch die jahrelange Internie- Opfer des Faschismus nur hoffen, wenn er die rung, von den politischen Häftlingen strikt ab- Verfolgung als politische ausgab. Und wer nach gelehnt und schon in den Lagern sanktioniert. 1945 teilhatte an der weit verbreiteten Beschaf- Da man um das öffentliche Ansehen der Opfer fungskriminalität der Nachkriegszeit, an der des Faschismus ängstlich besorgt war, besaßen in praktisch alle Schichten der Gesellschaft parti- der Nachkriegszeit die Vorurteilsstrukturen der zipierten, musste ebenfalls mit Aberkennung sei- deutschen Bevölkerung für die Entscheidungen nes Opferstatus rechnen. Die genaue Rekon- des Hauptausschusses ebenfalls eine nicht zu struktion einzelner Fallbeispiele zeigt nicht nur unterschätzende Bedeutung. Das zeigt die Studie die Bruchlinien innerhalb der Gemeinschaft des exemplarisch an einzelnen Fällen. So erfuhr der Lagers, die sich gleichsam in die Nachkriegszeit Prüfer des Hauptausschusses von der Berliner verlängerten. Sie bietet auch einen Einblick in Oberstaatsanwaltschaft im November 1946 von das soziale Flechtwerk der Umbruchsgesellschaft einer Anzeige gegen zwei Schwestern, beide zwischen Befreiung und Kaltem Krieg, in der die Auschwitz-Überlebende. Die Vermieterin der vom Nationalsozialismus Deklassierten nun ver- Wohnung hatte die beiden Schwestern angezeigt, suchen sollten, die Stereotypen der Verfolgung nachdem eine von ihnen ein Verhältnis mit der durch eine Lebensführung zu widerlegen, die an volljährigen Tochter der Vermieterin begonnen den sozialen und moralischen Realitäten, zumal Rg7/2005 Hoffmann, Opfer des Faschismus und des Antifaschismus 193

der Zusammenbruchsgesellschaft, völlig vorbei- borene Verbrecher‹, ›sexuelle Devianz‹ und ›un- ging. Folglich sollte auch das gegenwärtige An- wertes Leben‹, der lange vor dem Nationalsozia- liegen einer nachholenden Erinnerung an ver- lismus, im bürgerlichen 19. Jahrhundert, einsetzt gessene Opfergruppen des Nationalsozialismus und weit in die Nachkriegszeit der beiden deut- die Vielschichtigkeit der Verfolgtenbiographien schen Gesellschaften hineinreicht. Diesem Dis- nicht aus dem Blick verlieren. Zur Nieden ent- kurs über abweichendes Verhalten konnten und geht der Gefahr neuer Stilisierungen dadurch, wollten sich die politischen Gegner des Faschis- dass sie auch jene Fälle behandelt, in denen mus nicht entziehen. Nicht nur in dieser Hinsicht ehemalige Häftlinge der Konzentrationslager war das Wertesystem des neu geschaffenen Ar- sich wechselseitig Verbrechen gegen die Mensch- beiter- und Bauernstaates im Osten Deutsch- lichkeit vorwarfen, mithin die Grenze zwischen lands, an dessen Spitze bis zuletzt viele politische Opfern und Tätern nicht scharf gezogen war. Widerstandskämpfer standen, ›bürgerlicher‹ als Die Perspektive für künftige Studien, die zur gemeinhin angenommen. Nieden implizit freilegt, zielt auf eine diachrone Längsschnittanalyse eines Diskurses über ›ge- StefanLudwig Hoffmann

Eine Entscheidung, die vom Himmel fiel*

Der Bundesgerichtshof hat im Jahre 1954 deutschen Juristen doch nicht nur seit Inkraft- im sogenannten »Schacht-Leserbriefentscheid«1 treten des BGB, sondern – wie man eindrücklich das allgemeine Persönlichkeitsrecht als »sonsti- erfährt – weit über 100 Jahre zuvor beschäftigt. ges Recht« im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB an- Die Autorin scheut nun – zu Recht – davor erkannt. Es handelte sich um eine – zumindest zurück, die Nachweise (spät-)naturrechtlicher für reine Gesetzespositivisten – skandalöse prae- Diskussionsbeiträge des ausgehenden 18. Jahr- ter oder extra legem-Entscheidung. Eine Münch- hunderts oder die eingehend von ihr geschilder- ner Dissertation, entstanden bei Hermann Nehl- ten juristischen Positionen des 19. Jahrhunderts sen, widmet sich, rund 50 Jahre nach diesem dafür zu bemühen, die BGH-Entscheidung als Markstein richterlicher Rechtsfortbildung, der unausweichlich zu begründen. Schließlich steht Vorgeschichte. Sie untersucht, wie es soweit hat am Ende dieser Phase das BGB von 1900, wel- kommen können, und legt dar, dass diesem Ur- ches gerade kein allgemeines Persönlichkeits- teil eine jahrzehntelange, wechselvolle und span- recht anerkannte. nende Diskussion in der juristischen Lehre vo- Das hinderte allerdings die deutschen Juris- ranging. ten (und zum Teil dieselben wie zuvor!) keines- Es liegt nahe, im BGH-Urteil vom 25. Mai wegs daran, die Frage weiter intensiv zu erörtern 1954 den Endpunkt einer rechtshistorischen Ent- und sich für und wider eine Anerkennung eines wicklung in einem – durchaus wichtigen – Be- solchen Rechts auszusprechen. Der »Wille des reich zu sehen. Hatte das Persönlichkeitsrecht die Gesetzgebers« hat der Diskussion in der Lehre

* Katrin Kastl, Das allgemeine ches, Dr. Hjalmar Schacht, wurde Anwalts erschien, der presserecht- Persönlichkeitsrecht. Der Prozess im Nürnberger Prozess freige- liche Hintergrund seiner Interven- seiner Anerkennung als »sonstiges sprochen und gründete 1952 eine tion und das Mandatsverhältnis zu Recht« im Sinne von § 823 Abs. 1 Privatbank. Dies war Anlass für Schacht blieben dem Zeitungsleser BGB (Abhandlungen zur rechts- die »Welt am Sonntag« (WamS), damit verborgen. Der Anwalt wissenschaftlichen Grundlagen- seine politische Vergangenheit zu setzte nun seinerseits aus eigenem forschung, Bd. 92), Ebelsbach: beleuchten, worauf der Anwalt Recht durch, dass die »WamS« Aktiv Druck 2004, XVI, 292 S., Schachts, Müller, einen Berichti- ihre Behauptung, Anwalt Müller ISBN 3-932653-17-3 gungsanspruch für seinen Man- habe ihr einen Leserbrief in Sachen 1 Zur Einnerung: Der frühere danten geltend machte. Die Dr. Schacht gesandt, zurückneh- Reichsbankpräsident und Wirt- »WamS« druckte den Text so ab, men musste – dogmatische schaftsminister des Dritten Rei- dass er als bloßer Leserbrief des Grundlage war das mit dieser Kritik Schwaibold, Eine Entscheidung, die vom Himmel fiel 194

ersichtlich kein Ende bereitet. Dabei spielt die Autorin selbst vor lauter Bäumen den Blick auf Rechtsfigur des »Urheberpersönlichkeitsrechts« den Wald verloren hat: Sie verfolgt genau jede eine ambivalente Rolle, welche die Autorin ganz Oszillation der juristischen Diskussion (auf 271 richtig beleuchtet. Man würde vermutlich auf Textseiten über 1300 Fußnoten, rund 280 Auto- den ersten Blick und ohne Sensibilität für die ren mit mehr als 500 Werken im 21seitigen Subtilitäten des nationalsozialistischen Rechts- Literaturverzeichnis), ist aber vor lauter Rappor- diskurses auch kaum erwarten, dass ausgerech- tieren nicht mehr in der Lage, kohärent zu struk- net von dieser Seite die Anerkennung eines Per- turieren – bzw. ihre vorsichtigen Ordnungsver- sönlichkeitsrechts erheblichen Zuspruch erfuhr, suche haben kaum noch einen Erkenntniswert. wie die Autorin – mit spürbarem Erstaunen über Denn der Bundesgerichtshof hätte genau so gut ihren eigenen Befund – nachweist. Dass diese anders entscheiden können, als er tatsächlich Thematik dagegen in der unmittelbaren Nach- entschieden hat – das ist die zwingende Erkennt- kriegszeit unter anderen, nämlich (neo-)natur- nis des Berichts der Autorin über den Stand der rechtlichen Vorzeichen, fortgesetzt wird, ist we- Lehrmeinungen im Jahre 1954. Und so sieht man niger überraschend. Und dass sich dabei mit zum am Ende weder eine Entwicklung noch eine Teil wundersamen Wendungen in der Argumen- Erklärung für die nachgezeichnete (Nicht-)Ent- tation auch Autoren mit einer braunen Vergan- wicklung. Mit dem Befund, der ja seinerseits genheit und gänzlich unbelastete Vertreter eines zu kommentieren wäre!, dass eine Entscheidung grundgesetzlich angehauchten und mit Werten sozusagen »vom Himmel fiel«,stehtderLeser aufgeladenen, neuen Zivilrechts treffen, ist, im allein im Wald. konkreten Zusammenhang dargestellt, durchaus Orientierung hätte er sich erhoffen dürfen erhellend. Allein es bleibt die Frage im Raum – vom Wortlaut und Kontext des »Schacht-Leser- und letztlich unbeantwortet –, warum sich das brief«-Entscheids, den die Autorin jedoch be- allgemeine Persönlichkeitsrecht 1954 am BGH dauerlicherweise nicht abdruckt, so wie sie auch durchsetzte. so gut wie jeden Hinweis auf die einschlägige Die Autorin legt großen Wert auf die natur- Rechtsprechung vor diesem Entscheid vermei- rechtlich eingefärbten Strömungen in der Zivil- det. Selbst wenn die Diskussion über das allge- rechtslehre nach 1945 einerseits, die »Renais- meine Persönlichkeitsrecht vor allem eine solche sance des Naturrechts« in der Rechtsprechung der Rechtslehre gewesen war, wären doch die der frühen Bundesrepublik andererseits. Sie stellt raren Äußerungen der Rechtsprechung um so zwischen den beiden Phänomenen jedoch keine wichtiger, um zu analysieren, welche Bezüge kausale Beziehung her, wie sie sich überhaupt (oder auch gerade Nichtbezüge!) zwischen Lehre angestrengt bemüht, nur chronologisch korrekt und Rechtsprechung in der »Endphase« der De- und redlich und vollständig eine Diskussion batte bestanden. abzubilden. Aber genau diese bis zum Exzess Die Autorin bleibt auch jedes Wort zu dem getriebene Unentschiedenheit, diese Scheu vor doch befremdlichen Befund schuldig, dass es einer eigenen Meinung, und sei es nur über die (mittelbar) ausgerechnet einem Altnazi, nämlich Gründe und Hintergründe einer einzigen, rich- dem früheren Reichsbankpräsidenten Schacht, terlichen Entscheidung, um die es ja letztlich vergönnt war, der Figur des »allgemeinen Per- geht, lässt den Verdacht aufkommen, dass die sönlichkeitsrechts« in eigener Sache neun Jahre

Entscheidung erstmals anerkannte allgemeine Persönlichkeitsrecht, das seither in ständiger Recht- sprechung bestätigt wurde. Rg7/2005 Schwaibold, Eine Entscheidung, die vom Himmel fiel 195

nach Kriegsende zum Durchbruch zu verhelfen – Und so bleibt das Gefühl einer verpassten was schon Alfons Bürge, den die Autorin häufig Chance: Wer sich derart engagiert in ein schwie- zitiert, aufgefallen war. Spätestens an dieser Stel- riges und literarisch umfassend bearbeitetes The- le hätte sich die Autorin dem subtilen Zusam- ma hineinkniet, dem sollte doch die Gabe erhal- menhang zwischen grundgesetzlich veranker- tenbleiben,auchnachLektürevonTausenden tem und naturrechtlich legitimiertem Zivilrecht, von Seiten diese mit kritischem Verstand aus- nachweisbarer dogmatischer Anpassungsfähig- zuwerten und mit etwas mehr Mut zu einer keit von maßgebenden Vertretern der Rechts- Meinung darüber zu schreiben. Der rein doku- lehre und rechtspolitischer Realität der Adenau- mentarische »chronologisch-systematische An- er-Jahre nicht länger verschließen dürfen. Da satz« wird zwar als »Methode« dargestellt (2), ihr solche Überlegungen fremd sind, erscheint er entzieht der Arbeit aber auch jede im eigent- es umso mysteriöser, warum es erst 1954 oder lichen Sinne rechtshistorische Betrachtung. Aus schon 1954 und dem Anwalt von Schacht und einer Darstellung historischer Rechtsliteratur niemandem vorher gelungen ist, der Rechtsfi- wird, wie figura zeiget, eben nicht per se Rechts- gur des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes die geschichte. höchstrichterliche Anerkennung zu verschaffen. Matthias Schwaibold

Begriffe aufräumen*

Muss Ordnung sein? Der Leipziger Politik- über das Recht (Kapitel V: »Die Ordnung des wissenschaftler Andreas Anter bejaht diese Fra- Rechts«) und den Staat (Kapitel VI: »Die Ord- ge. In seiner Habilitationsschrift über Die Macht nung der Ordnungen«) von Interesse, aber auch der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des das Kapitel über die Ökonomik (Kapitel IV: Politischen widmet er sich der Frage nach den »Ordnungsökonomik«) liest sich mit Gewinn. Problemen politischer Ordnungsbildung. Er Zunächst scheint Anter für klare Verhält- möchte mit seiner Untersuchung im Begriffshim- nisse zu sorgen: Er differenziert grundsätzlich mel der Ordnungsvorstellungen vorwiegend des zwischen selbstgenerierten und gesetzten Ord- 20. Jahrhunderts systematisieren, kategorisie- nungen. Seine Sympathie gilt vor allem den letz- ren, kurz: aufräumen. In beeindruckender Bele- teren. Mit deutlicher Polemik gegen die Vertreter senheit und in großen interdisziplinären Bögen der Selbstorganisationstheorie schreibt er: »Die nähert sich Anter seinem Thema. Er analysiert Konjunktur der Selbstorganisationstheorie wie die Ordnungsdiskurse der Politikwissenschaft, auch der Hayekschen Ökonomik hat der auto- der Ökonomik, der Soziologie, der Kultur- und generativen Position zwar gewisse Marktvorteile schließlich auch der Rechtswissenschaften – mit verschafft, aber Konjunkturen sind, zumal in den Streifzügen in die Philosophie, Linguistik, Theo- Sozialwissenschaften, zumeist nur von kurzer logie, Anthropologie und weitere Gebiete. Für Dauer. Die grundlegende Dualität des Ord- den Rechtshistoriker sind besonders die Kapitel nungsbegriffs, die sich durch die ganze Geschich-

* Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grund- kategorie des Politischen, Tübin- gen: Mohr Siebeck 2004, XII, 311 S., ISBN 3-16-148370-7 Kritik Seckelmann, Begriffe aufräumen 196

te des abendländischen Denkens zieht, hat sich mulierungen wie »Die Ordnung der Dinge«, keineswegs verflüchtigt. Dies zeigt auch ihre un- »Die Ordnung des Rechts« und »Die Ordnung verminderte Präsenz in der neueren sozialwissen- der Ordnungen« finden sich neben Unedlem. schaftlichen Theorie.« (34) Zum Letzteren gehört beispielsweise der Begriff Anter plädiert mithin letztlich für eine Re- der »Großraumtheorie«. Anter entwirft in sei- naissance staatlich, also politisch, gesetzter Ord- nem letzten Abschnitt über »Die Ordnung der nungen – und somit für eine Rückbesinnung auf Grenze« einen Ausblick auf eine mögliche Ab- das Politische. Er differenziert zwischen Staat lösung des (National-)Staates durch ein »Super- und Verfassung und betont, dass der Staat nicht gebilde«, ein Empire, wie es auch in dem gleich- nur »von Verfassungs Gnaden« sei (167). Die namigen Buch von Michael Hardt und Antonio Verfassung sei als »die Ordnung, die die Ord- Negri beschrieben wird.2 Anter übersetzt diesen nung der Ordnungen ordnet« (161), eine Supra- Begriff so: »Vielmehr müsste man wohl zu einer ordnung über dem Recht als »Ordnung der Ord- neuen – oder eigentlich alten – völkerrechtlichen nungen« (159). Sie habe aber selbst keinerlei Kategorie greifen und von einem Reich sprechen, materiellen Gehalt, wie er für den am Natur- einem Empire« (254). Er schreibt in dialektischer recht und der Smendschen Integrationstheorie Uminterpretation des kommunistischen Gegen- geschulten Anter notwendig zu sein scheint. entwurfs von Hardt und Negri zu der von ih- Mit Bezug auf das bekannte Diktum Ernst-Wolf- nen als imperial beschriebenen Weltordnung und gang Böckenfördes von den durch diese selbst unter Rekurs auf die Globalisierungskritik Jean- nicht-garantierbaren Voraussetzungen des de- Marie Guéhennos:3 »Die Theorie wäre damit, mokratischen Rechtsstaates1 betont Anter den wieder einmal, bei Schmittschen Kategorien an- logischen Vorrang des Staates vor der Verfas- gelangt. Im Angesicht der geopolitischen Lage sung und warnt zugleich vor der Transformation kurz vor dem Zweiten Weltkrieg hatte Carl der Bundesrepublik in einen Jurisdiktionsstaat Schmitt den Begriff des Reiches als neuen völ- (177). Wer hier Einflüsse Carl Schmitts vermutet, kerrechtlichen Ordnungsbegriff entwickelt, der liegt nicht falsch. Nicht nur Anters Diktion ist einer neuen ›Großraumordnung‹ Rechnung tra- durch den Plettenberger spiritus rector geprägt, gen sollte. Es spricht vieles dafür, dass sich im dessen Selbststilisierung zum Verfemten des NS- 21. Jahrhundert erneut eine solche Großraum- Regimes Anter in Fußnote 244 recht unkritisch ordnung bilden wird. Diese wird zwar von ganz übernimmt. Zumindest aber versucht er, Carl anderer Art sein als diejenige, die Schmitt vor Schmitt vor sich selbst zu retten, indem er den Augen hatte, aber strukturell gesehen geht es um Schmitt vor 1933 gegen den späteren ausspielt das gleiche Ziel: die Expansion der Herrschaft (191). auf dem Wege der Auflösung tradierter Gren- Aber schafft Anter wirklich die Ordnung, zen.« (255) die er ordnend zu ordnen verspricht? Im Detail Dass diese von »ganz anderer Art« sein offenbart sich, dass die großen Bögen, mit denen wird, bleibt zu hoffen. Anters sprachliche Ele- Anter Ordnung schaffen will, eher den Bewegun- ganz wird nämlich um den Preis einer ahisto- gen des Goldgräbers gleichen, der – im Bemühen rischen und kontextunabhängigen Begriffsver- um große Interdisziplinarität – betrachtet, was wendung erkauft, die die Optik bis zur Un- sich in seinem Sieb gesammelt hat: Schöne For- kenntlichkeit vergrößert. Ein weiteres Beispiel

1 Ernst-Wolfgang Böckenför- de, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Staat, Gesellschaft, Frei- heit, Frankfurt am Main 1976, 92–114, 112. 2 Michael Hardt, Antonio Negri, Empire, London 2000. 3 Jean-Marie Guéhenno,Das Ende der Demokratie, München, Zürich 1996. Rg7/2005 Seckelmann, Begriffe aufräumen 197

hierfür ist die – immer wieder mit Seitenhieben vielen multidisziplinären Fäden jedoch, die Anter auf liberale Theoretiker wie Hayek, die »Pri- durchaus elegant verknüpft, entsteht weniger vatisierungsbegeisterung« der aktuellen politik- eine »große Erzählung« als das Stimmengewirr und verwaltungs(rechts)wissenschaftlichen The- eines akademischen Diskurses unter zeitlich und orie (242) oder »die Bielefelder Chaos-Eupho- räumlich voneinander Entfernten. rie« (50) gespickte – Beobachtung der Diskus- Dieses Stimmengewirr verhindert auch ein sionen um das »Ende der Staatlichkeit«. Anter Zusteuern auf die rechtstheoretisch hochinteres- beschreibt, wie Arnold Gehlen in den sechziger sante Frage, wie sich Ordnung in der Grauzone Jahren vor einer Auflösung der Staatlichkeit zwischen Staat und Markt, zwischen heterono- durch Verbände und Interessengruppen warnte mer und autonomer Steuerung bildet. Denn auch – er hätte auch Ernst Forsthoff zum Beleg an- Anter muss letztlich einräumen, dass es keine führen können. Erneut kommt Anter am Beispiel »reine« Ordnung gibt, für die er als Schreckbild der modernen Sicherheitsdienste auf Schmitt zu insbesondere die DDR bemüht. Er schreibt, dass sprechen, diesmal auf dessen 1963 gestellte »tief- »jede Ordnung grundsätzlich Unordnung zu- schwarze, vielzitierte Prognose« vom Ende der lassen muß, um sich erfolgreich behaupten zu »Epoche der Staatlichkeit« (245). Anter erwähnt können« (260). Letztlich ist Anter damit den die »Gegenreaktionen« von Helmut Kuhn und aktuellen Forschungen der »Bielefelder Chaos- Wilhelm Hennis (246) nach 1970, um dann zu Euphorie« (50) näher, als er zugibt. Er konze- schreiben, dass Joachim Jens Hesse, Thomas diert etwa Helmut Willke, dass »auch Vertreter Ellwein und andere ab 1990 die »Krise der der sozialwissenschaftlichen Systemtheorie in- Staatlichkeit« mit bemerkenswerter Verspätung zwischen auf den Geschmack gekommen« seien registriert hätten (246). Eine Kontextualisierung und die reine Lehre von der Selbstorganisation der jeweiligen »Krisen« und Staatsvorstellungen »zugunsten komplexerer Verschachtelungen von hätte dieser auf anderthalb Seiten recht lapidar Ordnung und Unordnung«4 aufgegeben hätten vorgenommenen Diskursanalyse gut getan. (49). Selbstverständlich sind beispielsweise unter Hat Anter die »Ordnung, die die Ordnung den Ordnungsdenkern der Weimarer Republik der Ordnungen ordnet«, sowie alle anderen Ord- starke interdisziplinäre Verbindungen vorhan- nungsbegriffe schlussendlich geordnet? Nein, den. Berühmt etwa ist der Einfluss Carl Schmitts wie im Kinderzimmer lugt trotz intensivsten auf Walter Benjamins Trauerspielbuch. Diese Aufräumens doch wieder der eine oder andere Verbindungen herauszuarbeiten – und der Frage Bauklotz hervor. Und das hat auch etwas Beruhi- nachzugehen, inwieweit die Denker der Wei- gendes. marer Republik eine Antwort auf die Krisen- phänomene ihrer Zeit versuchten –, wäre rechts- historisch hochinteressant gewesen. Durch die Margrit Seckelmann

4 Helmut Willke, Heterotopia, Frankfurt am Main 2003. Kritik Seckelmann, Begriffe aufräumen 198

Erbvergleich*

Zweihundert Jahre Erbrechtsgeschichte zunehmende »Durchsetzung des Gleichheits- Deutschlands, Frankreichs und der USA, re- prinzips im gesetzlichen Erbrecht« oder die »in- konstruiert anhand von Gesetzgebung und terne Pluralisierung des Modells der Konjugal- Diskursen zu Testierfreiheit, Familienerbrecht, familie« (134 f.), also die erbrechtliche Gleich- Fideikommiss und Erbschaftssteuerrecht: jedes stellung nichtehelicher Nachkommen im Verlauf Thema für sich ein rechtshistorisches Schwerge- der letzten 200 Jahre, sind keine aufrüttelnden wicht. Und im Vorwort zu den kaum mehr als Nachrichten. »Dass sich die Fideikommisse und 300 Seiten wird die Frage aufgeworfen, »was wir der Zeitpunkt ihrer Abschaffung in den drei daraus über die Evolution normativer Struktu- untersuchten Ländern nur aus dem engen Zu- ren moderner Gesellschaften, und insbesondere sammenhang mit der Entwicklung politischer über das Verhältnis von Individuum, Familie und Strukturen erklären lassen« (140) oder dass die Gesellschaft lernen können« (9). bis heute stabile Systematik der Besteuerung Kein bescheidenes Programm. Liest man vonNachlässeninDeutschland,denUSAund selektiv, intensiv, historisch, wird man entspre- Frankreich weitgehend im frühen 20. Jahrhun- chend kritteln können: Darf man die Geschicht- dert eingeführt wurde – alles dies zeigt »struktu- lichen Grundbegriffe derart ausschreiben, wie es relle Übereinstimmungen und parallele Entwick- an manchen Stellen geschieht? Löst Max Weber lungstrends«, zugleich aber auch »erhebliche als Rechtshistoriker wirklich immer ein, was Unterschiede bei der Rechtsgestaltung« in den er als Soziologie und Wissenschaftstheoretiker jeweiligen Ordnungen des Erbrechts (318). verspricht? Was versteht der Autor eigentlich Historische Rechtsvergleichung legt an die- unter »rechtstheoretische[n] Schriften zum Erb- sem Punkt nicht selten den Griffel nieder: So ist recht«? Fing die Geschichte der Fideikommisse es halt – andere Länder, andere Sitten, aber ir- im deutschen und französischen Recht tatsäch- gendwie haben wir ja doch die gleichen Wurzeln. lich im 15. Jahrhundert an, und verdienen die Beckerts Erkenntnisinteresse setzt hier jedoch »Wakufs« zwei von viereinhalb der Dogmen- ein: Warum Übereinstimmungen und Unter- geschichte gewidmeten Zeilen? Kann man von schiede zugleich? Unterschiedliche wirtschaft- »liberal«, »sozial« und »frei« im deutschen Pri- liche Strukturbedingungen, Interessengruppen, vatrecht des 19. Jahrhunderts schreiben, ohne nationale Eigenheiten? Hofer, Repgen, Rückert zu berücksichtigen? Seine Antwort geht von Durkheim und Auch die Einzelbefunde sind überwiegend Weber aus. Auch Beckert liest die Geschichte nicht wirklich neu: Die »erstaunliche Kontinui- der Gesetzgebung als Indikator von Modernisie- tät« im Bereich der Regelung der Testierfreiheit rungsprozessen – von vielfältigen Modernen, wie (99) ist dem an die Eigenlogik des juristischen er am Schluss unterstreicht (338). Das liegt an Diskurses und die traditionelle Prägung der na- den unterschiedlichen Begründungsordnungen, tionalen Rechtsordnungen Gewöhnten gar nicht die sich in den diskursiven Prozessen um diese so erstaunlich; auch der »Bedeutungsrückgang Institutionen kristallisieren und reproduzieren. des Prinzips der dynastischen Vererbung«, die Ihnen gilt sein Hauptinteresse. Nicht nur, weil

* Jens Beckert, Unverdientes Ver- mögen. Soziologie des Erbrechts (Theorie und Gesellschaft, Bd.54),Frankfurt,NewYork: Campus 2004, 423 S., ISBN 3-593-37592-3 Rg7/2005 Duve, Erbvergleich 199 die Normen selbst stets nur einen Teil des Gan- Gleichheitsarguments in Frankreich, dem Ge- zen darstellen. Vor allem der vergleichende Blick danken der Familien- und Sozialbindung des macht deutlich, dass rein funktionalistische Er- Eigentums in Deutschland, der Bedeutung der klärungsmodelle für die Evolution von Recht zu Chancengleichheit in der US-amerikanischen kurz greifen: Die ökonomische Institutionen- Debatte und ihrer Wirkung auf die Beschränkun- theoriekanndietrotzallerKonvergenzan- gen der Testierfreiheit oder an der Rolle von dauernden Eigenheiten nicht wirklich erklären, chancenorientiertem Leistungsprinzip und resul- der Interessengruppenansatz nicht die Kontinui- tatorientierter Umverteilung als Leitgedanken tät über politischen Wandel. Beide führen in den der Erbschaftsbesteuerung. So führt er anschau- verschiedenen Rechtsordnungen zu unterschied- lich und zugleich präzise vor Augen, wie norma- lichen Folgen. Warum z. B. gibt es in den USA tive Strukturen entstehen – handlungstheoretisch höhere Erbschaftssteuersätze, obwohl die besit- zentriert, institutionenanalytisch geschult und zenden Klassen dort sicher nicht schwächer re- kultursoziologisch vergleichend. präsentiert waren als in Deutschland? Lange waren historische Soziologie und ver- Das missing link sind normative und kogni- gleichende Rechtsgeschichte einander nicht mehr tive Haltungen der Akteure. Selbst Teil der sym- so nahe – Max Weber, Otto Hintze und ihre um bolischen Ordnungen, sind sie Einflussfaktor der den Begriff der »Kultur« kreisenden Zeitgenos- Erbrechtsentwicklung (323 ff.). Nur sie erklären senhättenihreFreudeandiesemBuchgehabt!– die nationalen Muster und helfen, verschiedene und zukünftige Gesetzgebungsgeschichte wird institutionelle Designs, deren Stabilität und sich an dem analytischen Standard messen lassen Wandel zu verstehen. Beckert zeigt dies in jedem müssen. Abschnitt, etwa an der besonderen Kraft des Thomas Duve Kritik Duve, Erbvergleich 200

Die Rede des Gerichts – Die Rede vor Gericht*

Die Rhetorik als Disziplin geht auf das Mandanten zu gestalten. Die Rhetorik entwi- 5. Jahrhundert v. Chr. und Sizilien zurück. Für ckelt sich in der Kunst des Redestreits zu einem die rationelle Durchführung von Gerichtsver- allgemeinen dialektischen Verfahren. Der Dis- fahren wurde ein Regelsystem entwickelt, das kurs wird auf die Relativität des Erkennens aus- die zur Verhandlung gebrachten Rechtsansprü- gelegt, auf die anthropozentrische Maxime, dass che schwergewichtig auf Wahrscheinlichkeit ab- der Mensch das Maß aller Dinge sei (Protago- stützen und damit bereits im Beweisverfahren ras). Mit andern Worten hat der Gerichtsredner sichern sollte. Die Rhetorik nahm ihren Anfang darauf hinzuwirken, dass der Richter die Kelle mit einer nach der Lehre ihrer Kunst dreiglied- an der passenden Stelle eintaucht, wenn er seine rigen Gerichtsrede (Prooimion, Agon und Epi- normative Orientierung aus sich selbst schöpft logos). (Habermas). Sokrates hat die Sophisten dieses Ihre philosophische Grundlegung und Ver- Argumentierens für beliebige Zwecke wegen als breitung verdankt die Rhetorik den Sophisten. Scharlatane gebrandmarkt. Damit wandelte sich in der vorsokratischen Zeit Die römische Rhetorik brachte gegenüber das Bild des Philosophen. Im Gegensatz zu ihren der griechischen insofern eine Akzentverschie- wissenschaftlichen Vorgängern stammten die So- bung, als dem ethischen Bewusstsein des Redners phisten nicht mehr aus der wohlhabenden Aris- vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. tokratie und waren daher darauf angewiesen, Die rein technisch verstandene Redekunst wird ihre Kunst vom rein idealistischen Streben nach in Rom auf die Grundlage einer universalen Wahrheit und Gerechtigkeit zu lösen, um sich Bildung zurückgeführt. Dies gilt vor allem für von ihr ernähren zu können. Als Wanderlehrer Ciceros Theorie des orator perfectus, den er als unterrichteten sie die junge Oberschicht in der Ankläger wie als Verteidiger gleichermaßen ver- Kunst des Argumentierens und lehrten sie, ihre körperte. Und an ihn knüpft Seibert an. Er be- Interessen in der Volksversammlung oder vor leuchtet das Thema der Gerichtsrede weiterfüh- Gericht erfolgreich zu vertreten. Ziel des Unter- rend aus einem zeitgemäßen Blickwinkel und richts war, eine bestimmte Meinung vor Gericht arbeitet es gekonnt auf, indem er die traditionelle auch dann erfolgreich durchzusetzen, wenn sie Dreiteilung weiter verfeinert und den Diskurs in nicht der Wahrheit entsprach. Damit entwickel- den zeitlichen Ablauf des Verfahrens integriert; ten die Sophisten die Sprache zu einem Macht- ein ebenso fesselndes wie anspruchsvolles Unter- instrument, zu einem Mittel der Technik, mit fangen. deren Hilfe der Hörer von beliebigen Ansichten Seibert schöpft als Tatrichter aus reicher überzeugt werden sollte. Sie erscheinen derge- praktischer Erfahrung und weist sich wissen- stalt als Vorläufer des Anwaltsstandes, wie dieser schaftlich als fundierter Kenner der modernen darum bemüht, sich in den einschlägigen Argu- Verständnislehre aus. Sein Werk ist eine überaus menten listig auszukennen und sie brillant zu geglückte Verbindung von theoretischer Er- präsentieren, um den unvermeidlich volitiven kenntnis und praktischer Realität. Es ist ausge- Akt der Rechtsprechung zu Gunsten des eigenen wogen auf Theorie und Praxis ausgerichtet, ver-

* Thomas-Michael Seibert, Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs (Schriften zur Rechts- theorie, Bd. 222), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 279 S., ISBN 3-428-11239-3 Rg7/2005 Walter, Die Rede des Gerichts – Die Rede vor Gericht 201 liert dank der zahlreichen illustrativen Beispiele destillieren. Auf der andern Seite geht es im nie den Bezug zur Realität und gehört als hoch- Rechtsanwendungsbereich für den Anwalt in karätiges Arbeitsinstrument in die Bibliothek all erster Linie nicht mehr darum, das Gericht von jener, die beruflich mit Gerichtsreden befasst sind einer dem Einzelfall angemessenen Lösung zu oder damit konfrontiert werden. überzeugen, sondern darum, es behutsam auf Seibert widmet der Gerichtsrede insgesamt einen aus dem Gesetz begründbaren Lösungsweg zehn Kapitel, die sich nach einer allgemeinen und zu führen. Sodann ist auf der prozessualen Ebene einer historischen Einführung mit Pragmatik, mit den beweisrechtlichen Verfahrensgarantien Rhetorik und Enthusiasmus, mit der Gliederung verbreitet der Zweifel an die Stelle der Über- der Rede und ihrem Vortrag, mit der eigentlichen zeugung getreten. Angesichts der strafrechtlichen Verfahrensrhetorik, mit dem Verhältnis von Unschuldsvermutung und der zivilrechtlichen Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Verfahren Beweislastverteilung steht für den Anwalt weni- sowie mit Fragen des Stils im weiteren Sinn ger das Anliegen im Vordergrund, das Gericht befassen. Der Autor stellt die Gerichtsrede in von der Wahrheit der eigenen Sachverhaltsdar- den allgemeinen forensischen Diskurs, versteht stellung zu überzeugen, als vielmehr das – ein- sie damit zu Recht als Wortwechsel und nicht als fachere – Bemühen, Zweifel an der Wahrheit der Einbahnstraße des anwaltlichen Plädoyers, dem den Mandanten belastenden Tatsachen zu we- er – als Schlussvortrag – einen allgemein wirk- cken. Nicht Überredung braucht es mehr zum samen Einfluss auf die Streitentscheidung ohne- Sieg, sondern bloß noch anwaltlich geschürte hin abspricht. Er verlagert daher die Gerichts- Unsicherheit über den tatsächlichen Ablauf der rede in den gesamten Kontext des Prozesses, Geschehnisse. Dass aber solche Zweifel von sieht in ihr einen ständigen Dialog im Verfah- Beginn des Verfahrens an und nicht erst nach rensablauf und unterstellt sie in dessen ver- Abschluss des Beweisverfahrens zu wecken sind, schiedenen Abschnitten unterschiedlichen Re- bedarf keiner Erörterung. geln. Auf Einzelheiten einzugehen ist hier nicht Zu Recht versteht Seibert die Gerichtsrede Raum. Im Sinne eines Diskussionsbeitrags seien als Diskurs, als Wortwechsel oder als Rede und daher bloß einige Bemerkungen angebracht: Gegenrede. Indessen kann dieses Verständnis Die Strategie der anwaltlichen Gerichtsrede zum Justizverfahren in Kontinentaleuropa heute hat sich – mindestens in Kontinentaleuropa – im noch keineswegs als durchgesetzt bezeichnet Gefolge der Kodifikationen des Privatrechts und werden. Verbreitet gilt unverändert die germa- des Strafrechts sowie im grundrechtlichen Ver- nische Rechtsregel, wonach der Richter wie ein fahrensbezug entscheidend geändert. Dies hat griesgrämiger Löwe auf seinem Stuhl zu sitzen seinen Grund einmal darin, dass die Gerichtsrede und ein Bein über das andere zu schlagen hat. der Justiz sich unter deren plakativer Abstempe- Damit wird im traditionellen Schema die Rolle lung als »bouche de la loi« von der induktiven einer verfahrenspassiven, allein auf die Gewäh- Fallentscheidung immer mehr in die deduktive rung des rechtlichen Gehörs und die autorita- Normanwendung verlagert hat. Die richtige Ent- tive Streitentscheidung verpflichteten Justiz um- scheidung ist danach nicht aus dem Sachverhalt schrieben. Indessen ist der moderne Prozess und allgemeinen Prinzipien zu entwickeln, son- wenn immer möglich nicht nur auf Streitent- dern deduktiv aus der vorgegebenen Norm zu scheidung ausgelegt, sondern vorerst auf Streit- Kritik Walter, Die Rede des Gerichts – Die Rede vor Gericht 202

behandlung, d. h. auf die Aufarbeitung des Kon- gestaltung, sowohl auf dem Parkett der Beweis- fliktstoffs und auf den Abbau gestauter Aggres- führung wie der Subsumtion. Dazu aber reicht sionen. Dies mag für den Zivilprozess weit wich- nicht bereits aus, einen autoritativen Verhand- tiger sein als für den Strafprozess, hat indessen lungsstil dahingehend zu mildern, dass den Par- auch in ihm seine Bedeutung, wenn es gilt, Opfer teien weitherzig gestattet wird, eigene Gesichts- und Täter zu therapieren, Bestrafung oder Frei- punkte in das Verfahren einzubringen. Gefordert spruch überzeugend und nachvollziehbar zu be- ist vielmehr der Verzicht auf eine streng mono- gründen. Die Rede des Gerichts soll in der ge- logische Verhandlungsführung; ein Dialog soll mäßigten Form ergehen, welche übrig bleibt, die Überzeugung an die Stelle des Diktats set- wenn das anwaltliche Feuerwerk seiner gebo- zen. Wer etwa einer oberinstanzlichen Gerichts- tenen Überzeichnungen, seiner Emphase und verhandlung in den USA beiwohnt, staunt aus seiner einseitigen Darstellung entkleidet ist. Der seiner europäischen Erfahrung, wie aktiv die Richter ficht weder mit Degen noch mit Florett, Mitglieder eines Court of Appeal selbst die Plä- er gebraucht das Skalpell, um Eiterbeulen aufzu- doyers der Anwälte mit der mahnenden Fest- stechen und Wunden zu säubern. Justice should stellung unterbrechen, was zur Zeit vorgetragen not only be done, but should manifestly and werde, sei längst bekannt, unstreitig oder ge- undoubtedly be seen to be done (Lord Chief festigte Rechtsauffassung und dem Gericht nicht Justice Hewart). Der Richter hat sich bewusst mehr zu unterbreiten, wogegen die Auffassung zu sein, dass das Gericht letztlich ein Ort des der plädierenden Partei zu dieser oder jener an- Schmerzes ist, wo sich Rechtsuchende und deren Frage weit mehr interessieren würde; und Pflichtvergessene begegnen, und er hat in diesem dieses Interesse wird ohne Verzug anwaltlich Bewusstsein vorerst nicht zu verurteilen, sondern gestillt. Das diskursive Verständnis Seiberts zur zu lenken. Der Dialog der Gerichtsrede unter- Gerichtsrede vermag auch hier Wesentliches zur steht damit diesseits und jenseits der Schranke Rechtsfortbildung beizutragen. unterschiedlichen Parametern: hier die rhetori- Eine Rede ist keine Schreibe. Zu Recht weist sche Überredung in den Schranken des Standes- daher Seibert darauf hin, dass es wenig Sinn rechts, dort die überzeugende und nachvollzieh- macht, die Gerichtsrede in einer mündlichen bare Begründung der letztlich unausweichlichen Wiedergabe der schriftlichen Prozessunterlagen Entscheidung. Des Richters Waffe ist der Zwei- zu erschöpfen. Die Mündlichkeit ist das Hand- händer nicht, des Anwalts schon eher. Der Die- werkszeug der Demagogie, und ohne sie wird ner am Recht sitzt richtig besehen nur auf der der Prozess wohl niemals auskommen. Münd- Richterbank. lichkeit ist andererseits – namentlich in der laien- Diskurs bedeutet andererseits auch Dialek- haften Darstellung – ebenfalls ein hervorra- tik, aktives Eingreifen in die Diskussion auf gendes Mittel zur Sachaufklärung, weil die beiden Seiten. Das traditionelle Markenzeichen schriftliche Lüge erfahrungsgemäß der Feder der Justiz, vornehme Distanz zum Streit und weit unbeschwerter entfließt als die mündliche seinen Parteien zu zeigen, im Prozessverfahren den Lippen. In der Waage der Justiz und damit bloß Regie zu führen, ohne die Bühne zu be- der Gerechtigkeit aber wiegt die Schale der treten, ist überholt. Erste Richterpflicht ist nicht Wahrheit unverändert schwerer als diejenige mehr bloßes Zuhören, sondern aktive Prozess- der verwirrenden Taktik. Wer von Berufs wegen Rg7/2005 Walter, Die Rede des Gerichts – Die Rede vor Gericht 203

der Taktik verpflichtet bleiben muss, beherzige den Weg zu einem neuen Verständnis der Ge- die trefflichen »Maximen vom Nutzen und richtsrede, vielleicht auch zu einer Rückbesin- Nachteil mündlicher Rede«, die Seibert ihm mit nung auf deren Aufgaben und Grundsätze, regen auf den Weg gibt. zum Nachdenken, vielleicht auch zum Wider- Abschließend hingewiesen sei auf die in spruch an, werden aber nur schwerlich zu wider- besonderem Maße dem Praktiker dienlichen legen sein, weil ihrer und des gesamten Werkes Gedanken des Autors zu den Stilfragen, d. h. Überzeugungskraft kaum zu widerstehen sein zum Sinn des Regelverstoßes, zu den Form- wird. varianten und zu möglichen Inhaltskreationen. Seine unter den Titel »Dissemination« gestellten Schlussbetrachtungen begründen und weisen Hans Peter Walter

Traurige Wirklichkeit*

»Gerichtsrede«? Wer denkt da nicht an das person«, »schwere Milieuschädigung« etc.) noch große Plädoyer engagierter Anwälte, denen es einmal kursorisch zusammenfassen, sondern vor wortgewaltig gelingt, einem verblüfften Publi- den Augen und Ohren der Geschworenen alter- kum ihre Sicht der Dinge aufzuzwingen? Nur native Welt-Bilder erzeugen. wenige werden in diesem Augenblick allerdings Dass solche Szenen hierzulande selten sind, einen deutschen Gerichtsredner, sei es einen folgt teils aus der deutschen Gerichtsverfassung, Staatsanwalt, sei es einen Advokaten vor sich die dem Geschworenenprozess nur noch einen sehen. Zwar gibt es zweifellos auch hierzulande kleinen Winkel zugebilligt hat, teils aus der saftige Zeugnisse forensischer Rhetorik. Aber im Handhabung des Verfahrens in den einzelnen allgemeinen erreichen die meist glanzlosen Dar- Gerichtszweigen, die die Mündlichkeit entgegen bietungen germanischer Justizredner das durch den Absichten des Gesetzgebers auch dort in die filmischen Auftritte redegewandter Lichtge- Schriftlichkeit konvertierte, wo es prozessual stalten im amerikanischen courtroom drama ver- nicht erforderlich war, teils aus dem Niedergang wöhnte Publikum nicht. Nur dort finden jene rhetorischer Kultur, der sich in Deutschland seit gigantischen Redeschlachten statt, in denen der den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts wider Er- rednerisch gewitzte und schon fast siegreiche warten noch beschleunigte, weil die Wiederent- Staatsanwalt am Ende doch der überlegenen deckung der Rhetorik nicht in ihrer Verleben- Redekraft seines Gegenspielers unterliegt. Nur digung, sondern in Musealisierung endete. dort kann der Beobachter gebannt, überrascht Schließlich fehlt auch noch eine deutsche filmi- und (manchmal) gerührt großen, geschlossenen sche Kompensation, denn was die zahlreichen Fallerzählungen beiwohnen, die nicht nur das Justizkarikaturen, die im Unterschichtenfernse- längst Vertraute (»früher Verlust der Bezugs- hen ihr irreales und stotterndes Prozessunwesen

* Thomas-Michael Seibert, Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs (Schriften zur Rechts- theorie, Bd. 222), Berlin: Duncker & Humblot 2004, 279 S., ISBN 3-428-11239-3 Kritik Simon, Traurige Wirklichkeit 204

treiben, an zusammenhängender Rede zu bieten gemeine Rhetorik auseinander getreten. Aber haben, wird kaum jemand mit einem Rededuell dass diese Erscheinung »der textlich ausdiffe- in Zusammenhang bringen. renzierten Jurisprudenz« den Bedeutungsverlust So ist es denn eher Wunsch oder Reminis- des Plädoyers (das doch im römisch-kanoni- zenz als Beschreibung gegenwärtiger Realität, schen Prozess schwerlich etwas »bedeuten« wenn Thomas-Michael Seibert feststellt: »Jeden- konnte) bewirkt habe, wird sich der Geschichts- falls repräsentiert das Plädoyer bis zum heutigen freund lediglich für die Gegenwart vorstellen Tag die hohe Kunst sprachlicher Schulung und wollen, wo das große Plädoyer tatsächlich »zu wird in der juristischen Ausbildung als Vortrags- einem Redebeitrag am Ende des Verfahrens« form bis heute gelehrt und geübt« (31). geschrumpft ist (52). Die »Tradition des Plädoyers«, der das zwei- Dergestalt schnittig in der Moderne gelan- te Kapitel des neuen Buches von Seibert gewid- det, wirft Seibert einen leicht angeekelten Blick met ist, repräsentiert allerdings – nicht zuletzt auf Jacques Vergès, den Verteidiger des Klaus auch deshalb, weil sie nicht bis in die Gegenwart Barbie, des Schlächters von Lyon, der, neben verlängert werden konnte – nur einen bescheide- der Länge und der sofortigen Publikation seiner nen Brocken aus der großen Tradition. Rede, der überlieferten ciceronianischen Form Der Brocken beginnt mit Cicero, was eini- auch insofern verpflichtet blieb, als er sich nicht germaßen verwundert. Denn schließlich hat sich auf den anstehenden Fall beschränkte, sondern der Wortkünstler und gerissene Politiker keines- Republik und Gesellschaft in seine causa hi- wegs als der geniale Anfang der großen abend- neinzog und raffiniert in ihr spiegelte (53 ff.). ländischen Redetradition in die Annalen ein- Frankreich den Prozess zu machen, ist allerdings geschrieben, sondern er bewerkstelligte nicht Vergès ebenso wenig geglückt wie vor ihm den mehr – zugegebenermaßen auch nicht weniger – Anwälten der RAF die Anklage der Bundesre- als die Rezeption und Transformation der Rede- publik. kunst aus jenem Land, in dem das europäische Das zweite Kapitel, das nach dem Willen des Denken seinen Anfang genommen hat: aus Grie- Autors abhandelt, »was man sich unter einer chenland. Die von Seibert wortlos übergangene Gerichtsrede fast ausschließlich vorstellt« (8), ist griechische Rhetorik, allen voran die zehn atti- demnach der wirkliche Beginn des auf 10 Kapi- schen Redner und an ihrer Spitze der Vater aller tel angelegten Buches. Dieses heißt auch nicht Redekunst, der göttliche Demosthenes, haben zufällig »Gerichtsrede« – unter Verzicht auf den dem Abendland die Rhetorik geschenkt – ent- bestimmten Artikel. Denn mit dem Titel »DIE wickelt und abstrahiert aus der forensischen Gerichtsrede« wäre der Text schon mit diesem Praxis der griechischen Gerichtsredner. zweiten Kapitel am Ziel angekommen. Dass die Spätantike diesen Weg in gewisser Das erste Kapitel wird folgerichtig als »Vor- Weise wieder zurückgegangen sei, indem sie die rede« eingeführt, die den Leser auf den eigent- forensische Rede aus der allgemeinen Rhetorik lichen Gegenstand des Werkes vorbereiten soll, ausgegliedert hätte, ist ein Märchen, für das sich nämlich auf die sorgsame Behandlung aller Ar- Seibert kaum zu Recht auf den italienischen ten des Redens und Geredes im Gericht. Das ist Rechtshistoriker Mario Bretone beruft (51). Erst ein absolut neues Unternehmen, für das der im Mittelalter sind unbestritten Recht und all- Autor schon dann zu preisen wäre, wenn er nicht Rg7/2005 Simon, Traurige Wirklichkeit 205 mehr getan hätte, als erstmalig auf die Notwen- Was bringt dem Leser dieses Wissen? Ich digkeit einer umfassenden Analyse dieses Phäno- fürchte: nicht viel. Das ist schnell behauptet, mens hinzuweisen. aber nicht ohne Umwege zu belegen. Er hat aber mehr getan. Denn in den Kapi- Solange wir den Blick auf die Person des teln4bis7werdeninsgesamt70Vorkommnisse Philosophen richten, ist die Sache einfach. Nie- praktischen Redens analysiert, die aus der Selbst- mand wird einem bedeutenden Denker das und Fremdbeobachtung des Richters Seibert Recht bestreiten, sich zur Darstellung seiner Vor- stammen und schon als solche einen außeror- stellungen und Lehren seine eigene, gleichsam dentlich schätzenswerten Fundus zur Aufklä- private Sprache zu schaffen, weil er in der Regel rung über Bedeutung, Bedingungen und Grenzen nur so seinen neuen Gedanken den angemesse- der Rede »vor Gericht« bilden, für das jeder nen Ausdruck verleihen kann. Tatsächlich pfle- nicht im Justizsystem arbeitende Jurist dankbar gen die Herrschaften ihre Umwelt auch nicht zu sein wird. Was nicht heißen soll, dass sich nicht fragen. Von Aristoteles bis Hegel, Wittgenstein, auch für den Praktiker überraschende Lerneffek- Heidegger und Luhmann wurden die Zeitgenos- te einzustellen vermögen. sen mit Neologismen, Transformationen des ge- Doch zurück zur Vorrede. Sie entstammt meinen Wortschatzes und sprachlichen Bildun- einem Vortrag, mit dem Seibert seinen Zuhö- gen konfrontiert, die sie je nach Gemütslage in rern die Merkmale des »Justizdispositivs«, ge- Staunen, Eifer oder Wut versetzten. Geholfen hat würzt und unterstrichen mit mancherlei Zitaten in allen Fällen nur die geduldige Versenkung und aus dem Kaukasischen Kreidekreis von Bertolt sensible Einfühlung in den vorgelegten philoso- Brecht, nahe zu bringen versuchte. phischen Text – zugleich die erste Stufe lern- Mit der Verwendung des Ausdrucks »Dis- williger Rezeption. positiv« gibt sich ein Autor als Anhänger post- Von jetzt an wird die Sache schwierig. Wer strukturalistischer – vor allem französischer – rezipiert, schleppt nur in den wenigsten Fällen Denkmethoden zu erkennen. Da die dabei an- die gesamte Theoriearchitektur in seine eigene fallende Begrifflichkeit nicht selten kartesischer Umwelt, wo sie ohnehin regelmäßig nur schlecht Klarheit entbehrt, sind Erläuterungen erwünscht oder überhaupt nicht passt. Außerdem ist der und jedenfalls nützlich. Seibert gibt sich denn Kärrner meistens weder gewillt noch in der Lage, auch redlich Mühe, den von Foucault zur Welt dort weiterzubauen, wo der König geendet hat. gebrachten Ausdruck auf etwa eineinhalb Seiten Er will nicht als Zwergdenker das große Theorie- (13 f.) zu erläutern. Der Leser weiß jetzt, dass er werk fortbilden, sondern er will »anwenden«. sich eine »Diskursformation« vorzustellen hat, Also werden zunächst einzelne Signalwörter in der »bereichsspezifisch differenziert Macht, (»Dialektik«, »Holzweg«, »Sprachspiel«, »Dis- Recht und Wahrheit verknüpft sind«, woraus positiv«) gepackt und hochgehalten, damit die folgt, dass er das (Justiz-)Dispositiv nicht mit Adressaten des Fuhrknechts sehen können, wie der Justiz als Institution verwechseln darf. Das fein der Karren etwa aus der Philosophie zum Justizdispositiv ist ein Mittel und verfügt über Beispiel in die Jurisprudenz befördert wurde. bestimmte Mittel (Macht, Gefängnisse, Akten, Anspruchsvollere – und zu ihnen zählt Tho- Wahrheit), mit deren Hilfe die Rechtsfrage be- mas-Michael Seibert – wollen allerdings mehr. arbeitet wird. Sie möchten, im besten Falle, in ihrem eigenen Kritik Simon, Traurige Wirklichkeit 206

Arbeitsbereich ihre Ansichten anhand der rezi- sehen müssen, dass sie am Ende genau so schlau pierten Thesen entwickeln. Nicht selten bleibt es sind wie zuvor: freilich bei dem Versuch, allein mit dem rezipier- »Akten repräsentieren nie die vollständige, ten Vokabular und durch dieses hindurch zum sondern immer eine willkürlich ausgegrenzte Zielzugelangen.Sowirddennetwaausdem Welt. Erst die Ausgrenzung – angefangen bei »Recht« das »Rechtszeichen«: der Sammlung der Papiere – macht etwas zum »Das historisch entfaltete Recht wird von Satz- und damit auch zum Urkunden- und einem Enthusiasmus begleitet, der es als einheit- Aktenbestandteil. Die Differenz von Welt und liches, sinnbestimmtes Zeichen konzipiert, auch Akten entsteht dadurch, daß die Akten etwas wenn es empirisch aus vielen Zeichenketten be- Besonderes enthalten, die Welt aber nicht. Sie ist steht, deren Zweck wie Herkunft man kaum das unbestimmt Ausgegrenzte, das sich erst da- kennt. Das Rechtszeichen ist ein Symbol, und durch Gehör verschaffen kann, daß es durch das macht es offen für Überraschungen. Das weitere Schrift formuliert wird; und wenn dann Symbol bezeichnet nicht nur etwas, es trägt etwas einmal formuliert worden ist, eignet sich etwasDrittesheran,esspringtdenWanderer der dargestellte Satz auch zum Vorhalt im Ver- an, setzt sich auf seine Brust und fragt: … Was ist fahren.« (181 f.) Recht? Was da als Befehl, Spruch oder Gesetz An die Stelle des ehrwürdigen und erschöp- gerade bezeichnet worden ist – soll das wirklich fenden Beamtenspruchs quod non est in actis, Recht sein?« (68 f.) non est in mundo ist hier eine zweifellos richtige Eine Frage, deren Beantwortung den Juris- und ambitionierte PoMo-Formulierung getreten, ten bekanntlich unmöglich ist, wie weder zuerst deren dräuendes Murmelnjedochkeineneuen noch zuletzt, aber am schönsten Immanuel Kant Einsichten gebiert. angemerkt hat. Die Legitimität wird man solchen Unterneh- DerJuristaufderStraßedarfdieserPhilo- mungen um so weniger absprechen wollen, als sophie ruhig die Gefolgschaft verweigern und sie nicht nur von Seibert inszeniert werden. weiterhin statt »Justizdispositiv« einfach »Jus- Ein Beleg: Früher, so erinnert man sich, ha- tiz« und statt »Rechtszeichen« schlicht »Recht« ben die Historiker in aller Einfalt und Anschau- sagen oder denken, ohne befürchten zu müssen, lichkeit von »Entwicklungsgeschichte« gespro- dass er bezüglich der geschilderten Sachverhal- chen. Inzwischen hat aber in vielen Köpfen die te verständnislos und unerleuchtet im Dunkel soziologisch-systemtheoretisch orientierte Evo- selbstverschuldeter Unmündigkeit herumirren lutionstheorie einen Siegeszug angetreten. Diese muss. Theorie hat aus der Naturwissenschaft (Biologie) Für den Autor Seibert ist der Fall schon die bekannten Komponenten »Variation«, »Se- deswegen weniger leichtgewichtig, weil es ver- lektion« und »Stabilisierung« übernommen und mutlich relativ wenig Leser geben wird, die bereit sich auf diese Weise der im Begriff »Entwick- sein werden, sich um des Verständnisses von lung« (siehe nur: »Entwicklungsländer«, »Ent- Seibert willen durch die französische philoso- wicklungshilfe« o. Ä.) immer mitschwingenden phische Po(st)Mo(derne) hindurchzuwühlen, die Elemente der (intentionalen) Zielgerichtetheit doch selbst von den französischen Juristen kaum und (positiven) Fortschrittlichkeit entledigt. Also eines Blickes gewürdigt wird. Zumal, wenn sie wird jetzt zum Beispiel nicht mehr danach ge- Rg7/2005 Simon, Traurige Wirklichkeit 207 fragt, wie sich die mittelalterliche Stadt »ent- »Grundlagen darzustellen, die den akademisch wickelte«, sondern wie sie »evoluierte«. Bei der schulmäßigen Inhalt der Rhetorik voraussetzen Prüfung, wie Variation, Selektion und Stabilisie- und darüber hinausgehen« (57). rung im Einzelnen zugeschlagen haben, kommen Zu diesen Grundlagen gehört, wie ohne wei- naturgemäß alle jene Bausteine zum Vorschein teres einleuchtet, die analytische Trennung von und zur Sprache, die von fleißigen Historikern Herstellung und Darstellung, die schon früh von seit dem Historismus aus den Quellen zusam- den Rechtstheoretikern rezipiert wurde. Seibert mengekratzt wurden. In mancherlei originäre macht darauf aufmerksam, dass die Rhetorik auf Terminologie verpackt, erzählen sie die alte Ent- der Darstellungsseite werkelt, und zwar in sol- wicklungsgeschichte der Stadt in neuer Sprache; chem Umfang, dass die Herstellungsbedingun- »richtiger«, wie die Evolutionstheoretiker tat- gen sich »am darstellerischen Erfolg messen las- sächlichzumeinenscheinen. sen müssen«. Das heißt nichts anderes, als dass Bei Lichte betrachtet: Eine Übersetzungsleis- die Performance Tatsachen hervorbringt. tung, die den Genießer entzücken mag, aber dem Nächster, nicht minder animierender Grund- Alltag die Frage stellt: Lohnt sich das? Verhüllen lagenpunkt ist das Pathos – der Verfasser bevor- die neuen Kleider wirklich den alten nackten zugt, im Anschluss an Kants Analysen, »Enthu- Kaiser? siasmus« – in der Rechtsdarstellung. Enthusias- Diese Frage beschleicht den bemühten Leser mus soll schon dort am Werke sein, wo »Recht in vielerorts in diesem Buch – und so auch bei der genereller Perspektive proklamiert wird«. Aber Befassung mit den in der Vorrede skizzierten überzeugende Beispiele liefert eigentlich nur die Elementen des Justizdispositivs. Vier Merkmale revolutionäre Situation, bei der die Qualität des werden (knapp und kurzweilig) behandelt, de- Ereignisses durch das moralische Engagement ren das Dispositiv strukturierende Bedeutung überhöht und erhoben wird. Es folgt noch das schwerlich zu leugnen ist: Geld (»Justiz kostet durch den Enthusiasmus geformte »Rechtszei- Geld«, 17), Zeit (»Rede kostet selbstverständlich chen«, von dem (siehe oben) schon die Rede war. Zeit«, 21), Freiheit (»Die moderne rechtstheore- Auch es gehört zweifellos zu jenen Grundlagen, tische Diskussion hat den freiheitsbeschränken- die über den »schulmäßigen Inhalt der Rheto- den Charakter des Justizbetriebs betont … Man rik … hinausgehen«. kann überhaupt nur noch bestimmte Sachen Nach dem transzendentalpragmatischen Ex- wollen, wenn man das Dispositiv bedient«, 25 f.) kurs geht es wieder gut intra-rhetorisch weiter. und Redetaktiken (»Der Rechtsfall wird durch Zunächst mit der Selbstermächtigung in der Sätze konstituiert, mit denen das für die Ent- Rede (Paradefall: Wer die Unabhängigkeit er- scheidung Bedeutsame beschrieben wird«, 29). klärt, wird durch die Erklärung unabhängig, Damit sind die Kosten des Dispositivs ange- 75) und dann mit dem letzten Grundlagenpunkt messen umrissen, und der Verfasser kann sich im »Begründungspflicht und Enthymem« (Die Un- 3. Kapitel – dem bei weitem theoretisch-speku- ausdrücklichkeit im begründenden Syllogismus lativsten, von dem Seibert allerdings selbst meint, als Chance und Weisung, die passenden Ober- dass es aus dem Rahmen falle (8) – der Frage sätze zu »finden«, 77 ff.). nach der »Tugend unter lauter Kosten« widmen. Wer bis dahin durchgehalten hat, wird jetzt Es gilt, so meint er (warum eigentlich?), die üppig belohnt. Es folgen (in den Kapiteln 4 bis 7) Kritik Simon, Traurige Wirklichkeit 208

die in Aussicht gestellten 70 »Fälle« aus der gen.« Zur Illustration dieses Sachverhalts wird Seibertschen Praxis, in denen, schön gegliedert im 9. Kapitel (»Wie man schafft, wovon man nach den Instanzen der klassischen Rhetorik spricht«) ein Verfahrensantrag aus einem der be- (inventio, dispositio, elocutio), das Reden und deutendsten Zivilverfahren der Bundesrepublik, Schweigen vor Gericht analysiert, die prozes- dem Contergan-Prozess, vorgestellt und souve- sualen und sonstigen Folgen des jeweiligen Ver- rän kommentiert. haltens dargestellt und die normativen Lehren Abschließend bedient sich Seibert des glei- für Praktiker und Theoretiker expliziert werden chen Kunstgriffs, mit dem er auch sein Buch – vom Protokollierungsverlangen bis zum Ver- eröffnet hat. Wie er dort auf eine eigens erstellte zicht auf Zeugenvereidigung. Diese Texte sind Einleitung verzichtete, so schließt er hier nicht für Juristen und andere aller Mühe wert, und mit einer Zusammenfassung des Geleisteten, für sie lohnt es sich, das Buch zu erwerben und sondern bedient sich eines jüngeren Vortrags, durchzuarbeiten (84–204). mit dessen Abdruck er zugleich in die Zukunft Wie in der traditionellen Rhetorik, bei der greift. Es geht darum, Tendenzen zu skizzieren, die genera elocutionis, die Stilarten, vorzugswei- »mit denen eine juristische Rhetorik in Zukunft se am Ende behandelt werden, folgt auch bei fertig werden muss, weil sie auf Verfahrensform Seibert noch ein Kapitel 8 über »aktuelle Stile der angewiesen ist, gleichzeitig aber die notwendige Gerichtsrede« (205 ff.). Hier kommt Benjamin eigene Einheit von Zeit, Raum und handeln- Nathan Cardozo (1870–1938) zu seinem Recht, den Personen immer weniger selbst inszenieren das in diesem Zusammenhang vorwiegend in kann« (243). dessen erneuter Erfindung des Rades besteht – Geprüft werden die Zunahme von Recht will sagen: in seiner Wiederentdeckung der rhe- und Juristen, die Vervielfältigung der Redefor- torischen genera simplex, medium und sublime men (siehe die neuen Topoi: »Verhältnismäßig- anhand der amerikanischen Verfassungsrecht- keit« und »Fairness«!), die Ausdehnung des sprechung. »Falls« auf Kosten der Regel und die aus dieser Alsdann werden verschiedene Elemente der »Zerstreuung« (»Dissemination«, so Kapitel 10; vieltraktierten und noch mehr gepriesenen Sach- 242 ff.) folgende tragikomische Feststellung: lichkeit (etwa: Strukturiertheit, Gelassenheit, »Die Kraft des Rechts scheint sich in der An- Fehlerargumentation etc.) sorgfältig und von strengung zu erschöpfen, es zu finden« (244). allen Seiten beklopft, wodurch sich die abschlie- Dem lehrreichen Buch wird es schwerlich ßende Feststellung des Autors legitimiert, dass zum Vorwurf gereichen können, dass weitere dann, wenn die Frage nach dem »richtigen« Stil Instanzen der Rhetorik wie memoria und pro- zur Debatte stünde, an erster Stelle die »Sach- nuntiatio die in modernen Nachzeichnungen lichkeit« zitiert würde. Dass man dieser, wie übliche Nichtberücksichtigung gefunden haben, Seibert betont, weder durch Regeln noch durch obwohl es nicht an jedem Ansatzpunkt für diese Vorbilder so richtig habhaft werden kann, dürfte Themen gefehlt hätte. unbestritten sein. Der von Seibert glücklich zi- WasjedochwirklichaneinemTextzube- tierte Hans Blumenberg (221) hat es auf die anstanden ist, der sich über bald 300 Seiten mit treffende Formel gebracht: »Rhetorik hat es der Redekunst (!) beschäftigt, ist das Fehlen des nicht mit Fakten zu tun, sondern mit Erwartun- segensreichen Wirkens eines gebildeten Lektors. Rg7/2005 Simon, Traurige Wirklichkeit 209

Die Sprache des Autors besticht nicht durch nehmen sollte?)]. Es geht schneller, als rheto- natürliche Eleganz. Das ist bei Juristen nicht rische Kämpfe auszufechten, die sich insbeson- gerade selten. Aber dass sie vielfach noch hinter dere in die Länge ziehen, wenn wie in (56) [57?] einer schlampig präsentierten Alltagssprache zu- zur Benennung des Inhalts aufgefordert wird. rückbleibt – ein Umstand, den auch die umfäng- Auszuweichen anstelle [?(statt?)] anzugreifen ge- liche Rezeption postmoderner Gallizismen zu hört in der juristischen Rhetorik schon [?] zu den mildern nicht geeignet ist –, wäre durch einge- raffinierten Taktiken« (184). schaltete Dritte zu vermeiden gewesen. Auch nach Ausmerzung aller Fehler und Beispiel: »Einen Inhalt in die Akten hinein- Missgestalten wird es unmöglich sein, in einen zuzwingen, die [!] andere Verfahrensbeteiligte solchen Text eine auch nur schwache Erinnerung dort scheinbar [anscheinend?] heraushalten an die großen Meister deutscher Rhetorik »hi- wollten, halten die meisten Antragsteller auch [?] neinzuzwingen«. Im Schillerjahr 2005 ist das für für einen großen Erfolg. Das sollte zum Nach- den hochgespannten Leser ein echter Trauerfall. denken darüber veranlassen [wen?], ob man den Inhalt einfach aufnimmt [? (nicht einfach auf- Dieter Simon

»Mit den Vokabeln der Systemtheorie«*

Es muss die Steuererklärung von 1982 oder tieren, sich ihr annähern, sie ausplündern, sie 1983 gewesen sein. Unter den steuermindernden »anwenden«, um damit althergebrachte Themen »Werbungskosten« befand sich eine Liste mit wie »mittelalterliche Rituale«, den »frühmoder- wissenschaftlichen Büchern, darunter Niklas nen deutschen Reichstag«, den »brandenbur- Luhmann, Liebe als Passion. Das Finanzamt gischen Adel«, die »soziale Frage und soziale teilte mir mit, dieser Titel könne die Steuerschuld Bewegung im 19. Jahrhundert«, den »frühneu- nicht reduzieren, da es sich »offenkundig um zeitlichen Hof«, die »Humboldtsche Universi- einen Roman« handele. So aussichtslos es war, tätsreform« oder »das Militär des Kaiserreichs« das Finanzamt zu überzeugen, dass das Buch neu zu bearbeiten und zu analysieren. Eröffnet etwas mit Systemtheorie und Systemtheorie et- wird der Band mit einer programmatischen, alte was mit Wissenschaft zu tun habe, so hoffnungs- und neue Vorurteile gegen die Systemtheorie los erschien es lange, mit Historikern über Sys- tapfer zurückweisenden Einleitung des Heraus- temtheorie ins Gespräch zu kommen. gebers2 und mit zwei übersichtlichen, schönen »Liebe als Roman?« (das bejahte das Fi- und nützlichen Berichten, der eine zur Wissen- nanzamt doch schon 1983!) heißt ein Beitrag in schaftsgeschichte von Evolutionstheorien,3 der einem Sammelband, in dem nun neun Historiker andere zum zentralen Thema aller Historiker: und eine Historikerin (eben diese kümmert sich Zeit und Gedächtnis.4 Die Stunde der Wahrheit um die Liebe)1 mit der Systemtheorie experimen- freilich schlägt erst bei den »Fallstudien«, also

* Frank Becker (Hg.), Geschichte schaften vgl. Rechtsgeschichte 3 wird hier (inzwischen) auf Papp- und Systemtheorie. Exempla- (2003) 214 f. kameraden geschossen. rische Fallstudien, Frankfurt, 2 Frank Becker, Einleitung: Ge- 3 Rainer Walz, Theorien sozialer New York: Campus 2004, 357 S., schichte und Systemtheorie – ein Evolution und Geschichte, 29–75. ISBN 3-593-37587-7, Zitat auf Annäherungsversuch, 7–28. Der Bericht ist präziser, informier- S. 180. Zurückweisung u. a. des »Vorur- ter und gescheiter als die 2003 im 1 Elke Reinhardt-Becker,246– teil[s], die Systemtheorie sei sta- Campus Verlag erschienene, eher 277. Zu der von ihr und Frank tisch und könne Veränderung platte Einführung von Manuela Becker 2001 publizierten Einfüh- nicht denken. Ein ebenso ärgerli- Lenzen, Evolutionstheorien in den rung in die Systemtheorie für die ches Vorurteil ist die Behauptung, Natur- und Sozialwissenschaften. Geschichts- und Kulturwissen- Evolutionstheorien seien biologis- 4 Frank Buskotte, Der Stellenwert tisch.« Ein wenig, so scheint mir, von Zeit, Gedächtnis und Ge- Kritik Fögen, »Mit den Vokabeln der Systemtheorie« 210

bei den, wie es häufig in dem Band heißt, »kon- die vorgestellte Interpretation noch wenig deut- kreten« oder »empirischen« Forschungen am lich geworden sein.«7 Stimmt. Für den zweiten Material. Blick bedarf es eines siebenseitigen Selbstkom- Wahr ist, dass alle Beiträge der Systemtheo- mentars des Autors. rie große Sympathie entgegenbringen. Das ist Die »Anwendung systemtheoretischer Kate- keineswegs selbstverständlich. Überwog und gorien … erproben« will auch ein Beitrag über überwiegt bei Historikern, auch bei Rechtshisto- »Formen des Politischen«.8 Dann aber liest man rikern, doch Renitenz und Resistenz gegenüber seitenlang die üblichen Handlungs-, Motiv-, Ab- diesem Theorieangebot.5 Dass nun, im Jahr sichts-, Akteurs- und Notwendigkeitsgeschich- 2004, größtenteils junge, frisch promovierte ten: »Nachdem die Kurfürsten die Pläne des oder habilitierte Historiker, unbeeindruckt vom Kaisers zu blockieren drohten …«, »Denn natür- weitgehend trägen Mainstream ihres Fachs, in lich haben die Kurfürsten der Verfestigung dieser einer neugierigen und offenen Haltung mit sys- Entwicklung Widerstand geleistet …« Auch die- temtheoretischem Wissen an ihren »Gegenstän- ser Beitrag mündet in einem Versuch, das Er- den« experimentieren, bleibt wissenschaftsge- zählte »mit den Vokabeln der Systemtheorie zu schichtlich bemerkenswert – gleich ob sich benennen«. dieser Versuch eines Tages als Eintagsfliege oder Auffallend ist an den meisten Beiträgen das als Durchbruch eines neuen Paradigmas erwei- Bedürfnis der Autoren, sich selbst und dem Leser sen wird. Der Leidensdruck, den klassische Ge- zu erklären, warum das alles systemtheoretisch schichtstheorien oder blanke Theorielosigkeit passt oder nicht zueinander passt. Solche Meta- verursachen, muss schon erheblich sein, ehe kommentare mögen durch anhaltende Legitimie- man sich der Mühe unterzieht, Luhmanns »So- rungsbedürfnisse gegenüber orthodoxen Fachge- ziale Systeme« von S. 1 bis 661 zu studieren. nossen motiviert sein, sind jedoch ebenso eine Wahr, und für Sammelbände gleichzeitig rhetorische und schriftstellerische Sünde wie un- trivial, ist auch, dass die Experimente unter- trügliches Zeichen einer theoretischen Gehbe- schiedlich gut gelungen sind. Es gibt manche hinderung. überraschende Einsichten und spannende Bei- Ein dicker, für diese Behinderung verant- träge, allen voran Rudolf Schlögls Analyse des wortlicher Stolperstein scheint mir in einer Diffe- Hofs in der frühen Neuzeit,6 in dem er das renz zu liegen, die den gesamten Band explizit9 Verhältnis von System- und Funktionsdifferen- oder implizit durchzieht: »abstrakt/theoretisch« zierung zu (hinterherhinkenden) Kommunika- versus »konkret/empirisch«. Setzt man diese tionsstrukturen (einschließlich Architektur und Unterscheidung als unabweisbar voraus, will Zeremonie) auffächert. Andere Beiträge sind sie aber gleichzeitig – was ja das Anliegen aller über weite Strecken durchaus traditionell gear- Autoren ist – aufheben, so beginnt unweigerlich beitet. So erfährt man auf über 20 Seiten viel von das Gezerre, sei es an der Theorie, um sie auf die mittelalterlichen Familien- und Kaufmannsbü- Seite der Empirie zu bringen, sei es (was viel chern, ständischer Kleidung und Ritualen des seltener vorkommt) am empirischen Befund, um Gerichtsverfahrens, um dann einen Verdacht be- ihn der Theorie gefügig zu machen. Wenn das stätigt zu finden: »Auf den ersten Blick mag die nicht klappt, und es klappt selten, so endet man Bedeutung systemtheoretischer Grundlagen für in einer traurig-komischen Feststellung wie: »In

schichtswissenschaft in der Sys- Rechts. Festschrift für Peter Lan- Übergangsriten als basale Kom- temtheorie, 76–107, ein geschick- dau, Paderborn 2000, 1065– munikationsform in einer stratifi- ter und anschaulicher Überblick 1102, Horst H. Jakobs,in:Rg1 katorisch-segmentären Gesell- über Luhmanns verstreute Äuße- (2002) 32 f. schaft, 108–156 (142). rungen zu Zeit mit Verknüpfungen 6 Rudolf Schlögl, Der frühneu- 8 Michael Sikora,Formendes zu Koselleck und Assmann. zeitliche Hof als Kommunika- Politischen. Der frühmoderne 5 Beispiele: Otto Gerhard Oexle tionsraum. Interaktionstheoreti- deutsche Reichstag in systemtheo- in: RJ 10 (1991) 53–66, Chris- sche Perspektiven der Forschung, retischer Perpektive, 157–184 tian Gizewski in: RJ 17 (1998) 185–225. (163). 477–492, Andreas Thier,Sys- 7 Franz-Josef Arlinghaus,Mit- 9 Beispiele: »Wer konkret forschen temtheorie und kirchliche Rechts- telalterliche Rituale in system- möchte« (8), »Anhand von kon- geschichte, in: Grundlagen des theoretischer Perspektive. kreten Beispielen« (109), »Nutz- Rg7/2005 Fögen, »Mit den Vokabeln der Systemtheorie« 211

ihrer Anpassungs- und Tragfähigkeit stünde die sondern als eine Reflexionsleistung des Wissen- Theorie, aus historischer Perspektive, dabei schaftssystems. Als solche ermöglicht sie, auf selbst auf dem Prüfstand.«10 Bieg dich oder ich eine bestimmte Art Beobachtungen zu beobach- brech dich! Gerade so, als ließe sich eine Theorie ten, auf eine bestimmte Art zu sehen, zu unter- empirisch verifizieren, als habe sie denselben Sta- scheiden und zu bezeichnen. Und auch auf eine tus wie der Dreißigjährige Krieg, die mittelalter- bestimmte Weise die Welt und ihre Geschichte zu lichen Kaufmannsbücher oder die Lebensdaten erschaffen. Von der Vorstellung, es gäbe just in eines beliebigen Protagonisten der Geschichts- dieser Welt »Gegenstände«, die man »empi- schreibung. Dabei ist es doch die Theorie, welche risch« erforschen könne, muss man sich dann die Einheit des Gegenstands, also das »Empiri- allerdings verabschieden. Was sicherlich hoch sche« und »Konkrete«, konstruiert und kon- riskant ist. Denn: »Wird auf die Rückversiche- stituiert, und nicht etwa bringt umgekehrt der rung in Ontologie verzichtet, bleibt das System »Gegenstand« die Theorie hervor. Ohne ein als Differenz. Es ist (wie jede Differenz) kein Mindestmaß an konstruktivistischem Denken Ding, kein Subjekt, kein Objekt, keine Festigkeit. ist Systemtheorie nicht zu haben. Die Unterschei- Außer für einen Beobachter ist es: nichts.«11 Sich dung abstrakt versus konkret oder theoretisch von Berufs wegen mit dem Nichts zu beschäf- versus empirisch aber enthält ein ontologisches tigen dürfte manchen Historikern unzumutbar Bekenntnis. scheinen. Aber als Beobachter aus dem Nichts Paradox und gleichzeitig erkenntnistheore- etwas zu machen – eine gute Erzählung, eine tisch unvermeidlich, wie alle Differenzen sind, geistreiche Studie, eine plausible Geschichte, ei- können sie doch keinen Ewigkeitswert beanspru- ne sensible Re-Konstruktion vergangener Kon- chen. Das gilt auch für die altehrwürdige Unter- struktionen – ist das etwa nichts? scheidung von Theorie und Empirie. Also könnte Und deshalb kann es eben doch Freude man versuchen, sie auszutauschen durch wo- bereiten, unverdrossen am »Nichts« weiterzu- möglich fruchtbarere Differenzen. Zum Beispiel arbeiten, nicht nachzulassen im Beobachten ver- könnte man »Quellen« (= »Empirie«) als Beob- gangener Beobachter und ihrer Unterscheidun- achtungen erster Ordnung begreifen und den gen durch gegenwärtiges Unterscheiden von Historiker, der sie betrachtet, studiert, analysiert, Vergangenheit und Gegenwart, von System und als Beobachter zweiter oder höherer Ordnung Umwelt, von Struktur und Ereignis, von Selbst- einstufen. Der Historiker beobachtet Beobachter und Fremdbeschreibung und was der Differen- und, sofern er sich als Wissenschaftler versteht, zen mehr sind. Nur die Differenz Theorie-Empi- wird er dies mit der Leitdifferenz wahr-unwahr rie sollte man, zumindest probehalber, einmal tun. Ist er ein unersättlicher Historiker, so wird fallen lassen. Vielleicht hat dann die Systemtheo- er als Beobachter dritter Ordnung nach der Be- rie Zukunft, auch und gerade in der gegenwär- obachtbarkeit des Beobachtens von Beobachtun- tigen Wissenschaft von der Vergangenheit. gen fragen, womit sich das weite Feld von Re- flexion und Theorie öffnet. Theorie ist mithin nicht als das Gegenteil von Empirie zu verstehen, Marie Theres Fögen

barmachung der Theorie im For- schungsalltag« (112), »in der Theorie und Empirie sich gegen- seitig stützen« (351). Auch der Ausdruck »Anwendungsbeispie- le« (122) signalisiert diese Diffe- renz. 10 Sikora (Fn. 8) 182. 11 Peter Fuchs, Der Sinn der Beob- achtung, Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2004, 0.6.4 (16 f.). Kritik Fögen, »Mit den Vokabeln der Systemtheorie« 212

Das dritte Recht*

Was hält die Gesellschaft zusammen? Wie Um diesen Dritten geht es Supiot. Recht ist schafft man es, dass sich die Menschen nicht nicht nur eine Regeltechnik, eine Konfliktlö- gegenseitig massakrieren? Wo ist der Frieden? sungsmaschine, ein Erwartungsgenerator. Nein, Alte Fragen, fürwahr. Die Antworten liegen Recht ist mehr, viel mehr. Recht macht aus jedem seit jeher geborgen irgendwo zwischen Selbst- von uns, jedenfalls in der Geschichte des Okzi- organisation und Fremdorganisation, zwischen dents, einen homo juridicus. Diese Fabrikation Selbstherrschaft und Fremdherrschaft, zwischen des abendländischen Rechtsmenschen besteht Selbstreferenz und Fremdreferenz. Konkret: in einer Verbindung der biologischen (selbstre- Brauchen die Menschen, um friedlich miteinan- ferentiellen) und symbolischen (fremdreferen- der auszukommen, eine Instanz, die ihnen zeigt, tiellen) Konstituanten des Menschseins: »Das wo es lang geht? Oder finden und haben die RECHT bindet die Unendlichkeit unseres men- Menschen einen Grund in sich selbst, um nicht talen Universums an die Endlichkeit unserer zu Mördern zu werden? physischen Erfahrung, und gerade damit erfüllt Der französische Arbeitsrechtler Alain Su- es bei uns eine anthropologische Funktion, näm- piot hat nun eine Antwort auf diese Fragen ge- lich die Einrichtung der Vernunft.« Le Droit – geben, eine Antwort in einer Zeit, in der – trotz groß geschrieben, der Vater, der Dritte, der Meis- George W. Bush, Interventionsvölkerrecht und ter. Nun, man erkennt es leicht, und Supiot europäischem Direktivenwahn – die Teile über macht keinen Hehl daraus, der große Pierre das Ganze, das Periphere über das Zentrale, das Legendre steht Pate, über 300 Seiten lang. Internet über das Diktaphon zu triumphieren Die Feinde des wahren homo juridicus sind scheinen. Die alten Mächte, der Mittelpunkt die (vor allem biologische) Wissenschaft, der der Welt, das Vorhersehbare – alles untergegan- (weltweit operierende) Managerkapitalismus, gen im Strudel der globalen und damit massen- der (nicht nur juristische) Positivismus. Allen haften und massenhaft verschiedenen Stand- drei ist gemeinsam, dass sie alles für möglich punkte. Das Eis, auf dem wir gehen, ist dünn halten, ohne Grenzen. Supiot sieht darin das geworden, was allerdings schon Nietzsche wuss- Delirium, den Wahnsinn unserer Zeit. Wir hät- te. Supiot beginnt mit einem Motto von Pierre- ten die Lehren aus dem Nationalsozialismus, Yves Narvor: »Gleitet, Sterbliche, tretet nicht als Biologie und Recht entfesselt waren, nicht stark auf, das Eis unter euren Schritten ist zer- wirklich begriffen. Wieder sind wir mitten drin brechlich.« Der erste Satz des Autors selbst im wertevergessenen juristischen Positivismus. bedeutet denn auch die Rettung der Sterblichen Homosexuelle dürfen heiraten, Frauen zu Män- vor dem Eiseinbruch: »Der Mensch ist ein meta- nern werden und Männer zu Frauen. Wo »die physisches Tier.« Wer hat schon einmal einen totale Emanzipation den Menschen auflöst«, ist Metaphysischen ertrinken gesehen? Meta sind der – ebenfalls groß geschriebene – DRITTE wir unsterblich. Und damit ist eigentlich schon gefragt, auch Dogmatik und RECHT, um »die alles gesagt. Das Heil liegt in der Fremdreferenz, Tür zu schließen«, »Grenzen zu ziehen«, »Werte im großen unfassbaren Dritten. zu schaffen«, »Vernunft zu geben«.

* Alain Supiot, Homo Juridicus. Essai sur la fonction anthropolo- gique du Droit, Paris: Éd. du Seuil 2005, 333 S., ISBN 2-0206-7636-2 Rg7/2005 Kiesow, Das dritte Recht 213

Das Buch homo juridicus berichtet von den weil sie die Richter waren, die sie waren, mit historischen und gegenwärtigen Gegenden, in allen ihren politischen, gesellschaftlichen, priva- denen der heilbringende Dritte segensreich ge- ten Einstellungen. Und wenn Supiot in seinem wirkt hat und wirken könnte. Im ersten Teil Affekt gegen Wissenschaft, Technik und Ökono- findet sich ein ziemliches Sammelsurium von mie einfach schreibt: »Rechnen ist nicht den- Themen. Es geht um Gesetze, Verträge, Religion, ken«, dann möchte man ihm gerade 100 Jahre Gilgamesch, Babylon, Sankt Augustin, moderne nach dem Jahr 1905, und sei es nur, um einmal Wissenschaft, Klonen, Geschlechter, Bioethik, etwas gegen dieses allgemeine Gerede zu sagen, den »DRITTEN als Garanten der Identität«, zurufen: Einstein ist also kein Denker. Techno-Wissenschaft, imago dei, China, rechts- Mit den Werten ist es eben so eine Sache. positivistisch herbeigeführte »Ruinen der Seele«, Sich auf Hannah Arendt und Simone Weil zu »ökonomischen Darwinismus«, das »Reich des berufen, vermittelt einen zwar in eine feine, Kontraktualismus«, urbane Technikzentren. Der moralisch unangreifbare Gesellschaft. Doch soll zweite Teil enthält eine Kritik des Computers, die man die Erfahrungen mit Konzentrationslager Vorstellung des RECHTS als »eines Werkzeugs und Faschismus wirklich auf die Formel bringen: der Humanisierung der Technik« und vor allem Am Ende kommt es auf die Moral an; und wenn Reflexionen über die Rolle des Staates und des die Moral flöten geht, geht die Welt unter. Wel- Arbeitsrechts. Hier entschwindet der homo juri- che Moral, welche Werte, welches Naturrecht dicus langsam aber sicher von der Szene. soll man den Menschen mit dem RECHT vor- Mit Supiot ist ein Scout auf dem Weg, der schreiben? Wir haben schlechte Erfahrungen mit nicht das reaktionäre Lied »Rückkehr zu den Wertediktaturen gemacht, mit linken, mit rech- alten Werten« singt, sondern ein progressisti- ten, mit allen. Demokratische Gesellschaften sches »Hin zu den Werten«. Das ist zuweilen sind demgemäß eher vorsichtig und zurückhal- nicht unsympathisch, allerdings nur als politi- tend, wenn es um Werte geht, gerade im Zusam- sche Weltanschauung. Als historische, juristi- menhang mit dem Recht. Demokratie hat im sche, philosophische Analyse steckt dieser Wer- Übrigenauchvielmit»Rechnen«zutun.Supiot teaufruf – sei ein homo juridicus, sei gerecht, sei frönt einem autoritär parfümierten Katastro- nicht geldgierig, sei nicht beliebig, achte das phismus der entwerteten Welt, einer Welt, die Dogma, sei wertvoll! – voller altbekannter Wi- historisch betrachtet mit Recht (von Jurispru- dersprüche und Schwierigkeiten. Es ist ein alter denz ist beim homo juridicus kaum die Rede) Hut, dass ein Naturrecht das Aufkommen der nicht schlecht gefahren ist. Jedenfalls besser als Hitlerherrschaft wohl kaum verhindert hätte. mit RECHT. Die Richter der Weimarer Republik und des Dritten Reichs haben nicht wegen des Positivis- mus so geurteilt, wie sie geurteilt haben, sondern Rainer Maria Kiesow Kritik Kiesow, Das dritte Recht Marginalien 216

Savignys Schüler, Bettinas Hirtenknabe Philipp Hössli*

»Mit Bettina und Savigny in traulich scher- Göttingen und gibt damit Bettina Gelegenheit, zendem Gespräche den Sonnenuntergang be- ihre Kunst des Briefeschreibens zu entfalten und trachtet. Savigny heim, wir allein zurük und gute ihre Sehnsucht zu stilisieren: »Warum ich auch Nacht, Hand in Hand, in denen die ersten Küsse heute noch keinen Brief von Dir erhalten? … Ist glühen, tief bewegt zu Bette …« Das notierte Dir bange vor meiner Liebe? Willst Du Dich mir Philipp Hössli, Gast auf dem Landsitz der von entwenden?« Ihr »Hirtenknabe« antwortet pro- Arnims in Wiepersdorf, in sein Tagebuch am saisch: »Mit meiner Wohnung hier in Göttingen 21. September 1822. Im Frühjahr 1821 war bin ich sehr zufrieden, das Äußre der Stadt der 21jährige Philipp Hössli aus Nufenen, Grau- machte aber einen sehr unangenehmen Eindruck bünden, in Berlin zum Studium eingetroffen, aufmich…VondenProfessorenhabeichden hatte sich umgehend bei Wilhelm von Humboldt Herrn Eichhorn besucht, dessen beide Collegien, und Carl Friedrich von Savigny vorgestellt und Staatsrecht und deutsche Reichsgeschichte1 ich wurde von diesem herzlich willkommen gehei- hören will, und den Herrn Göschen, welche mich ßen. Savigny machte ihn mit seiner Familie, beide freundschaftlich empfingen.« Die »teure darunter auch seiner Schwägerin, Bettina von Familie Göschen« schenkte Hössli »einige selige Arnim, bekannt. »Die Frau von Arnim beglei- Stunden«: »Ich werde jetzt wieder zu Göschen tet«, »Bald weg zu Frau von Arnim«, »Zu gehen, wo wir zusammen eine Predigt für den Madame von Arnim«, »Bei Frau von Arnim« – selbigen Tag, von dem berühmten Prediger und fast für jeden Tag findet sich ab Juni 1822 ein Professor Schleiermacher in Berlin zusammen solcher Eintrag in Hösslis Tagebuch. Im Juli lesen werden.« heißt es dann: »Zu Bettina. Wunderbare Stun- Drei Jahre hat Philipp Hössli in Berlin und den!« Eine glühende Liebesgeschichte zwischen Göttingen fleißig studiert: »Den Gaius durch- Bettina und ihrem 15 Jahre jüngeren »Schweizer- genommen.« »Vormittags an den Aufgaben und knaben« nimmt ihren Lauf. »Nach dem Essen an Pendenzen repetiert. Dann bei Schleiermacher in die Castanien. … Dann auf die Bäume gestiegen. der Predigt.« »In Niebuhr gearbeitet.« 1824 Wonniges Gefühl …« »Dann eilen wir in ihr kehrt er in seine Heimat zurück und engagiert Zimmer aufs Sopha. … In reinster, innigster sich dort, wie dies damals fast alle Schweizer Liebe beisammen. Über Freundschaft gespro- nach Auslandsstudium und »Löffelschleife«2 ta- chen.« ten, in der Politik. Man findet ihn bei der Tag- Savigny ist stets in der Nähe. »Ihn um Rath satzung3 in Bern 1841 und als Präsidenten des gefragt«, notiert Hössli, »räth mir, nach Göttin- Graubündner Parlaments. Savigny erteilt dem gen zu gehen, und alles, was Eichhorn liest, zu hoch beschäftigten Politiker – wie könnte es hören. Über Niebuhr, dessen Gedächtnis und anders sein? – weiterhin Aufträge. »Deshalb Kenntnisse von allem möglichen, große Produc- wünsche ich dringend, dass von Ihnen … zu- tionskraft, schnelle Entdekung des Gaius in nächst ganz einfach aufgezeichnet würde, was Verona …« Im Herbst 1822 reist Hössli nach jetzt von verschiedenen Verfassungen im Ganzen

* Bettina von Arnim,»IstDir und Verein für Bündner Kultur- Frauenfeld 1929, s.v. Löffelschlei- bange vor meiner Liebe?« Briefe forschung Chur, 2000. Diese Bio- fe: »2. (höhere) Erziehungs-, Bil- an Philipp Hössli, nebst dessen graphie ist nicht leicht erhältlich. dungsanstalt (Institut, Pension), Gegenbriefen und Tagebuchnoti- Es empfiehlt sich ein Ausflug nach die bes. gesellschaftlichen Schliff zen, hg. von Kurt Wanner, Splügen oder Fax an die Walser- vermittelt.« Frankfurt a. M. und Leipzig: vereinigung: 0041 81 664 1942. In diesem Sinn belegt in Aargau, Insel, 2. Auflage 1997, 242 S., 1 Recte: »Rechtsgeschichte«? Basel, Bern, Graubünden (Chur), ISBN 3-458-16798-6 und Kurt 2 Die zeitgenössische schweizerische Schwyz, Solothurn, Zug, Zürich. Wanner, Philipp Hössli oder die Bezeichnung für »Kavalierstour« 3 Dem dazumal einzigen Zentralor- Sehnsucht nach der Aussicht auf und für den Ort, an dem junge gan des schweizerischen Staaten- dem Gipfel des Berges, Walserver- Leute »Schliff« erhalten; Schwei- bundes. einigung Graubünden Splügen zerisches Idiotikon, Bd. 9, Rg7/2005 Savignys Schüler, Bettinas Hirtenknabe 217

und einzelnen [in Graubünden] in Übung ist. Ich hatsiedenVerewigtenhierdochauchgeliebt meyne also eine politische Statistik …« Dann und einst treu an ihm gearbeitet. So mag sie ihm setzt er Hössli darauf an, eine Handschrift der nun auch noch eine Thräne letzter Freundschaft Lex Romana, die Haenel bekannt, dann aber aus widmen.« Ob Bettina diese Träne je vergossen dem aufgelösten Kloster Pfäfers verschwunden hat, wissen wir nicht. war, zu suchen und gegebenenfalls käuflich zu Den Einblick in das Milieu des Gutshauses erwerben (was misslang).4 Im August 1853 trifft Wiepersdorf, den Eintritt in die alltägliche Welt Hössli mit seinem »theuersten Lehrer und väter- des Savigny, der Arnims, des Schleiermacher, lichen Freund«, der mit Familie in Bad Ragaz zur Eichhorn und Goeschen, die Einsicht in das Kur weilt, noch einmal zusammen. Leben und Erleben eines jungen Bündners in Bettina von Arnim und Philipp Hössli haben dieser Gesellschaft und so manche biographisch sich nie wieder gesehen. Hösslis Tochter Agathe oder wissenschaftsgeschichtlich witzige Winzig- unterrichtet Savigny in einem Brief vom 30. Juni keit verdanken wir den unermüdlichen Archiv- 1854 vom frühen Tod des Vaters und bittet: studien von Kurt Wanner. »Theilen Sie diese schmerzliche Trauerbotschaft auch der hochgeschätzten Frau von Arnim mit, Marie Theres Fögen

4 Die Bestände des ehemaligen Klosters Pfäfers wurden dem Stiftsarchiv St. Gallen einverleibt. Marginalien Marie Theres Fögen 218

Bomben-Werbung*

Das flüchtige Blättern in den Waschzetteln nationalen Korps und im Rahmen kollektiver endet jäh. Was stand da eben? »Historisch und Sicherheitssysteme im Hinblick auf die demo- komparativ angereichert, skizziert der Autor die kratische Legitimation und die parlamentarische Entwicklungstendenzen transatlantischer Sicher- Kontrolle der Befehlskette aufwirft. Dass sein heit und Verteidigung, zeigt die integrations- Werk durch das deutsche Parlamentsbeteili- bedingten Kontrolldefizite des Deutschen Bun- gungsgesetz vom 18. März 2005 eingeholt wur- destages auf und liefert einen Beitrag zur de, entwertet die lesenswerte Arbeit keineswegs. aktuellen Diskussion um die gesetzliche Ausge- Enttäuscht wird nur, wer bei Anreicherung staltung der parlamentarischen Beteiligung beim in nahe liegender Weise Methoden der Kerntech- Streitkräfteeinsatz.« Die Zielgruppe eines Buches nik assoziiert (»angereichertes Uran«) und daher über die »Parlamentarische Kontrolle der inter- ein Buch erwartet, das historische und verglei- nationalen Streitkräfteintegration« mag mit die- chende Aspekte in besonderem Maße berück- ser Werbeattacke voll getroffen werden, der sichtigt. Während Schmidt-Radefeldts kurzer grammatische Kollateralschaden ist jedoch ge- europäischer Verfassungsvergleich zur Kompe- waltig. »Der Bezug des satzwertigen Partizips tenzverteilung zwischen Regierung und Parla- auf das entsprechende Glied im zugehörigen Satz ment beim Streitkräfteeinsatz auf den Primär- muss eindeutig sein«, verlangt der Duden, »um quellen beruht, sind die eingestreuten histori- Missverständnisse oder unfreiwillige Komik zu schen Passagen generell aus zweiter oder gar vermeiden.« Der historisch und komparativ an- dritter Hand (wenn, wie auffällig oft, die ent- gereicherte Autor ist eine würdige Ergänzung des sprechende Fußnote auf juristische Kommentar- Beispiels »Mit Wein angefüllt, überreiche ich literatur verweist). So zu verfahren ist durchaus dem Jubilar diesen goldenen Becher«. legitim, sollte als Mindestanforderung aber eine Apropos Wein: Nach den deutschen Rechts- Selbstverständlichkeit sein, die keiner Hervor- vorschriften ist eine Anreicherung bei »Quali- hebung in der Werbung bedarf. Denn wie lässt tätsweinen mit Prädikat« per definitionem aus- sich ein solches Thema mit wissenschaftlichem geschlossen. Es kann unterstellt werden, dass Anspruch überhaupt anders abhandeln als unter der Verfasser des Werbetextes weder derartige Berücksichtigung der geschichtlichen und ver- Vergleiche heraufbeschwören noch der Studie gleichenden Aspekte? Die gehören zum Kern, bescheinigen wollte, sie sei nur durch den Zu- sind Voraussetzung für Qualität und kein satz historischer und komparatistischer Elemen- schmückendes Beiwerk, wie der Autor selbst be- te genießbar geworden. Er hätte auch Unrecht: weist. Solange wesentliche Bestandteile als An- Schmidt-Radefeldt behandelt in seiner Leipziger reicherung angepriesen werden, ist die Wissen- Habilitationsschrift kompetent und sprachlich schaft arm dran. einwandfrei die verfassungsrechtlichen Proble- me, die der Einsatz deutscher Soldaten in multi- KarlHeinz Lingens

* Roman Schmidt-Radefeldt, Parlamentarische Kontrolle der internationalen Streitkräfte- integration (Schriften zum Völkerrecht, Bd. 156), Berlin: Duncker & Humblot 2005, 322 S., ISBN 3-428-11349-7 Rg7/2005 Bomben-Werbung 219

Welt und Nachwelt Zur Rezeption zweier Werke*

I. Einleitung (4 Stunden!) und die damit einhergehende Ab- stumpfung der Sinne. Auch war die musikali- Am 22. Dezember 1808 wurde im Theater sche Ausführung wohl nur teilweise geeignet, an der Wien eine Akademie abgehalten, die nach das Hörerlebnis seiner geschichtlichen Bedeu- den Maßstäben der seit Jahrzehnten dauer- tung anzupassen; nach nur fragmentarischer krisengeschüttelten Musikindustrie der Gegen- Probenarbeit waren weder Orchester noch Sän- wart schwerlich angemessen beschrieben werden ger den Werken in vollem Umfange gewachsen, könnte. Kein geringerer als Ludwig van Beet- Beethoven selbst soll in seiner Erregung die Ker- hoven, schon damals ein über die Grenzen des zenhalter vom Klavier gestoßen und den um- deutschsprachigen Raums hinaus hochberühm- stehenden Chorknaben »derbe Maulschellen« ter Mann, veranstaltete ein »Konzert zu seinem (Thayer) verpasst haben, und die abschließende Benefiz«, das ausschließlich aus Werken »von Chorfantasie musste nach Aussetzern bei den seiner eigenen Arbeit« (Johann Friedrich Rei- Instrumentalisten abgebrochen und neu begon- chardt) bestand – »und welche Werke!« (Alexan- nen werden. der Wheelock Thayer) –, die an jenem Abend zur Entsprechend bestimmten Ratlosigkeit, Re- Uraufführung gelangten. Darunter waren Stücke serviertheit oder gar Ablehnung den Ton der wie das Klavierkonzert G-Dur op. 58 oder die ersten Kritiken. Der Rezensent der Allgemeinen Chorfantasie op. 86 (beide mit Beethoven als Musikalischen Zeitung konstatierte am 25. Ja- Solisten), die bis heute zu den meistgespielten nuar 1809 vor allem seine Unfähigkeit, den Kompositionen des Konzertrepertoires gehören. Abend in Anbetracht seiner Länge und der Viel- Innerhalb des an Höhepunkten reichen zahl der aufgeführten Werke angemessen zu be- Abends stachen jedoch zwei Werke besonders urteilen. Definitiv einschätzen könne er nur die hervor: die sechste Symphonie F-Dur op. 68, künstlerischen Leistungen, die »in jedem Be- die das Programm eröffnete, und die fünfte tracht mangelhaft« gewesen seien. Symphonie c-moll op. 67, die am Anfang des Eine über diesen Befund hinausgehende Be- zweiten Teils stand – beides Kompositionen, die sprechung lieferte als einer der ersten E.T.A. in ihrer Gattung zu den bedeutendsten der ge- Hoffmann,dermehralseinJahrspätereineRe- samten Musikgeschichte gehören: »die Annalen zension zur fünften Symphonie veröffentlichte, der Tonkunst« können kein »Konzertprogramm in der er die epochale Bedeutung von Komposi- … namhaft machen, welches mit [jenem] den tion (»eins der wichtigsten Werke des Meisters«) Vergleich aushielte« (Thayer). und Künstler (»erster Rang als Instrumental- Im vom »großem Überfluß an Instrumental- Componist«) feststellte. Seine Musik eröffne das Virtuosen« (Thayer) verwöhnten Wien freilich »Reich des Ungeheuren und Unermesslichen«, wurde das epochale Ereignis kaum als ein sol- in dem »alles in uns vernichte[t] [werde], nur ches wahrgenommen. Man beklagte sich über nicht de[r] Schmerz der unendlichen Sehnsucht«. die Kälte im Raum, über die Dauer des Konzerts Beethoven sei ein »rein romantischer Compo-

* Dieter Simon zum 70. Geburtstag. Marginalien Benjamin Lahusen 220

nist«, der »Haydn und Mozart ganz an die Seite Die Fünfte überrumpelt den Hörer gleich in zu stellen« sei. Damit bestätigte Hoffmann eine den Eröffnungstakten mit ihrem unwidersteh- lange zuvor vom Grafen Waldstein in Beet- lichen Vorwärtsdrang und ihrer übermächtigen hovens Stammbuch eingetragene Prophezeiung: Stärke; ruht sie einerseits unerschütterlich auf »Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: dem Fundament ihrer Kraft, so überschreitet Mozarts Geist aus Haydns Händen.« sie andererseits beständig ihre eigenen Grenzen, transzendiert sich gewissermaßen selbst auf ihrer unaufhaltsamen Reise vom ersten Satz und sei- II. Exposition ner kriegerisch-düsteren Verbissenheit bis zum strahlenden Ausbruch des Freudengesangs im Es ist wenig erstaunlich, dass E.T.A. Hoff- Schlusssatz, dessen prachtvoller und siegreicher mann sich von den Werken, die an jenem Abend Gestus dem vorausgegangenen Ringen, Suchen erstmalig zu Gehör kamen, ausgerechnet eine der und Tasten ein Ende bereitet und das dunkle Symphonien aussuchte, um den größten aller c-Moll des Anfangs endgültig vergessen macht künstlerischen Genien aller Zeiten und aller im grandiosen Licht des gleißenden C-Dur: Ein Länder (Dietrich von Hildebrand) einer musik- Triumphgesang, der »bis an die Pforten der wissenschaftlichen Würdigung zu unterziehen. Ewigkeit schallt« (Arnold Schmitz). Die Musik Schon der Form nach war die Symphonie als ist über das ganze Werk hinweg ihrem eigenen der Musik »schönste[r] Tummelplatz, auf wel- Ideal als Kunst verpflichtet, Schöpfer und Ur- chem sie ihre Saturnalien feiert« (Arthur Scho- sprung ihrer selbst, losgelöst von allen stoff- penhauer) den übrigen Kompositionen so weit lichen Zutaten der außermusikalischen Umwelt überlegen, dass sich ihre gesonderte Behandlung und unabhängig von allem, was jenseits der in den Rezensionen von selbst rechtfertigte. Und Töne liegt. Ein Kunstwerk, dessen Wesen nicht im Falle der Fünften lag nun ein Werk vor, dessen in der Wirkung besteht, die es evoziert, nicht im künstlerische Qualitäten schon früh darauf hin- Gegenstand, den es imitiert und nicht in der deuteten, dass ihm auch in der Königsklasse der Empfindung, die der Künstler darin fühlbar Instrumentalmusik eine herausgehobene Stel- macht, sondern einzig in seinem Bezug auf sich lung zukommen würde. selbst. Die Komposition legimitiert sich durch Überraschend erscheint die Fokussierung sich selbst und weist eben dadurch über ihre der fünften Symphonie jedoch angesichts des eigenen Grenzen hinaus auf die Unendlichkeit Umstandes, dass am selben Abend mit der Sechs- der Kunst: »tönend bewegte Form« (Eduard ten eine weitere Symphonie ihre Uraufführung Hanslick), reine Tonkunst, absolute Musik. erlebte, die ihren Platz bei den bedeutendsten Ganz anders die Sechste: Durchdrungen von Vertretern der vornehmsten musikalischen Gat- einer idyllischen Erfahrung der Natur, getragen tung zwar ebenfalls bald nach der Premiere ein- von ihrer optimistischen Verherrlichung und the- zunehmen versprach, sich inhaltlich aber kaum matisch immer wieder bestimmt vom Erlebnis deutlicher von der Fünften unterscheiden könn- ihrer Laute, vertont sie die Wahrnehmung des- te. Trotz ihrer musikhistorischen Gleichrangig- jenigen, der mit den Augen der Musik auf die keit sind die Symphonien von völlig verschiede- entfesselte und wieder befriedete Natur schaut. nem, ja geradezu gegensätzlichem Charakter. Weise und zurückhaltend treibt die Komposition Rg7/2005 Welt und Nachwelt 221 auf dem Strom göttlicher Verehrung, der selbst der Sechsten atmet so befreit auf, als empfinde keine reichere Quelle kennt als die berauschende auch sie die Distanz zum schicksalsklopfenden Leidenschaft ihres Klanges. Dieser thematischen Eingang der Fünften als Erlösung. Dem Hörer Verwobenheit von natürlicher und künstlerischer offenbart sich unmittelbar, dass es nun nicht Schöpfung zum Trotz ist die Musik jedoch weit mehr um das »titanische Streben und Ringen« davon entfernt, die Unmöglichkeit einer in Mu- (Alexander Wheelock Thayer) gegen die Ab- sik gegossenen Physis zu versuchen. Sie möchte gründe der Welt geht, sondern einzig um den nur dem zur Sprache verhelfen, der im Angesicht »Ausdruck des (fast nicht gestörten) Wohlbefin- der Schöpfung der Sprachlosigkeit anheimfällt, dens« (Arnold Werner-Jensen), um die stille, und den Empfindungen Ausdruck verleihen, naturfromme Apotheose. »welche der Genuß des Landes im Menschen Keine der Symphonien folgt somit auch nur hervorbringt« (Ludwig van Beethoven). grob dem gleichen Ansatz oder der gleichen Idee; Die verschiedenen Ausprägungen dieses außer der Orchesterbesetzung haben sie so gut Landlebens werden in den Überschriften der wie nichts miteinander gemeinsam. Der Betrach- einzelnen Sätze näher konkretisiert: »Erwachen ter erlebt mit Staunen, dass sich hier zwei Werke heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem gegenüberstehen, deren Verhältnis zueinander Lande«, »Szene am Bach«, »Lustiges Zusam- nur mit dem von These und Antithese angemes- mensein der Landleute«, »Gewitter, Sturm«, sen beschrieben werden kann: »Schicksalssym- »Hirtengesang, Frohe und dankbare Gefühle phonie« und »Pastorale« – unvereinbare Gegen- nach dem Sturm« – Beschreibungen, die den sätze, die der Welt am selben Abend erstmalig Hörer in seiner Deutungsfreiheit dort einschrän- zugänglich gemacht wurden und zwei Extrem- ken, wo er sich allzu weit vom auktorial inten- punkte markierten, an denen sich die symphoni- dierten Verständnis entfernt, indem sie seinem sche Entwicklung der Nachwelt zu orientieren Verstande ein »Hülfsmittel« (Franz Liszt) an die hätte. Hand geben, das über die reine Musik hinaus- geht. Das Werk erhält so einen außermusikali- schen Gehalt und Ursprung, eine fremdbestimm- III. Durchführung te Idee und Ordnung, welche die Komposition in weite Ferne der sich selbst begründenden Den kohärenzbemühten Nachfahren freilich und sich selbst genügenden absoluten Musik können derlei Oppositionen nur ein Gräuel sein. der fünften Symphonie rücken – hin zur inhalts- Wie soll man den Urheber solcher Verschieden- ästhetischen Programm-Musik. heiten epochal verorten, was soll sein letztgülti- Damit stehen den vier namenlosen Sätzen ges Wort sein, welches Werk kann den Nach- der fünften Symphonie fünf verheißungsvolle der ahmern als Richtschnur dienen? Der vom Leben sechsten gegenüber, die unterschiedlicher nicht Gekreuzigte (Richard Benz) schweigt dazu, na- sein könnten: ländlicher Friede, ruhige Heiter- türlich, doch nicht nur das: Sein Schweigen keit, idyllische Naturschilderung einerseits, don- spricht nicht, es verweigert sich der historio- nernder Triumph über jeden Widerstand, strah- graphischen Sinngebung, es stellt sich quer. Den lende Überwindung von Dunkelheit und Nacht bei derlei Gegenpolen üblichen Fluchtweg in andererseits. Schon die erste melodische Phrase die Differenzierung verschiedener künstlerischer Marginalien Benjamin Lahusen 222

Phasen oder die Unterteilung in Früh- und Spät- tenz dem Komponisten Ansporn waren und de- werk verbaut das Sprachrohr einer höheren Welt ren Verschwinden ihm den Rückzug nahegelegt (Hans Heinz Stuckenschmidt) nachdrücklich hätte. Jede Etikettierung des Nacheinanders, jede durch seine Arbeitsgebräuche, indem er einfach Behauptung der Aufhebung der einen Komposi- beide Werke zugleich komponiert. tion durch die andere muss deshalb willkürlich Reichen die Wurzeln der fünften Symphonie erscheinen. Die beiden Symphonien schließen auch etwas weiter zurück, so beginnt doch die sich inhaltlich aus und gehören doch zusammen. intensive Arbeit erst im Sommer 1807 – zur Sie sind komplementäre Erzeugnisse desselben selben Zeit wie die Pastorale. Und beinahe zeit- Urhebers, deren Gegensätzlichkeit die Nachwelt gleich – im Sommer 1808 – werden die Werke nur anerkennen, nicht aber durch den Rekurs vollendet. So eng verwoben sind die beiden auf den Willen und die Vorstellung des Schöpfers Werke, dass sie in der Zeit unmittelbar nach überwinden kann. der Premiere noch in umgekehrter Reihenfolge Indes rückt die Akzeptanz solch innerer genannt werden: schon auf dem vom Schöpfer Antinomien in die gefährliche Nähe einer mehr- der Freude (Romain Rolland) autorisierten Pro- deutigen Wahrheit: Von zwei Gegensätzen kön- gramm des Konzertabends erscheint die Fünfte nen nicht beide richtig sein, und wenn der Urhe- als sechste und die Sechste als fünfte Symphonie, ber, der die Differenzen in die Welt gebracht hat, und auch die Rezensenten der Allgemeinen Mu- trotzig an ihrer Gültigkeit festhält, so müssen sikalischen Zeitung übernehmen in ihren ersten eben die interessierten Nachfahren sich ans Werk Besprechungen die verdrehte Nummerierung der machen und die Widersprüche auflösen, indem Schwesternwerke. sie eine der beiden Aussagen für irrig und die Ein Symphonienpaar also, das bei allen in- andere für wahr erklären. neren Unterschieden und gegensätzlichen Kom- Und so geschah es denn auch. Die gesam- positionsprinzipien demselben schöpferischen te symphonische Entwicklung des 19. Jahrhun- Moment entspringt, ja, erst in dieser konträren derts wird bestimmt vom Gegensatzpaar Pro- Zusammensetzung seine Vollendung findet, gramm-Musik – absolute Musik, und gleichgül- scheint es doch, als habe die edle Seele (Adolf tig, welchem ästhetischen Ideal ein Komponist Bernhard Marx) im einen Werk genau das for- anhängt, auf den siegreichen Überwinder (Hans mulieren wollen, was in den musikalischen Kon- Joachim Moser) berufen sich alle – ohne freilich text des anderen nicht zu integrieren war; anstatt zu explizieren, welcher Überwinder (Adolf Sand- die Unterschiede zu nivellieren, trug die parallele berger) ihren künstlerischen Plänen Pate stand, Entstehung der Werke wohl eher dazu bei, den der verkörperte Trotz (George Bernhard Shaw) Gegensatz der Werkphysiognomien ins Extreme oder der große Ethiker (F. Wengk). Und so teilt zu steigern. sich die Musik der Romantik in zwei Strömun- Das übliche Instrumentarium der biographi- gen, die erbitterte Kämpfe darüber austrugen, schen Werkdeutung versagt also. Keines der wie viel außermusikalischen Sinn Noten in Be- Werke kann für sich die Autorität des Alters in zug nehmen, welche nichtinstrumentalen Ele- Anspruch nehmen, keines trägt den Makel der mente sie enthalten und wie deutlich sie erzählen Jugendsünde, keines ist der ästhetische Widerruf dürfen und dabei die gegenteilige Position des des anderen, keines löst Probleme, deren Exis- anderen Lagers immer wieder mit demselben Rg7/2005 Welt und Nachwelt 223

Argument letztgültig zu widerlegen suchten: Einschränkungen Schumann und Mendelssohn, Beethoven. die zwar die direkte symphonische Auseinander- Wie so oft begann auch diese Auseinander- setzung mit dem Willensriesen (F. Wengk) weit- setzung harmonisch. Allen Musikern nach dem gehend vermieden, institutionell aber wesentlich wahren Inbegriff des Musikers (Richard Wag- zur Verbreitung des klassizistischen Ideals bei- ner) stellte sich zunächst dasselbe existentielle trugen; schließlich Brahms, der 53 Jahre nach Problem: Was gab es noch zu sagen? Wie konnte der letzten Symphonie des Mahners und Richters nach dem Ende des Unendlichen (Ernst Bloch) (Richard Benz) als erster die offene Konfronta- überhaupt noch komponiert werden? Wer ver- tion mit diesem suchte: In seiner ersten Sympho- mochte nach Fortunio (Hans Joachim Moser) nie inszenierte er einen Durchbruch von Nacht »noch etwas zu machen« (Franz Schubert)? Die zu Licht, der unverhohlen an die Ausdrucks- Antwort auf diese Fragen erging grundsätzlich situation der Schicksalssymphonie anknüpfte im Gleichklang: Es galt, das Werk des Armen, und in dieser Weise seit dem Lenker und Tröster Kranken, Einsamen (Romain Rolland) fortzu- (Leo Schrade) unerhört gewesen war. Auch wenn setzen, aufzuarbeiten, weiterzuentwickeln, vor- Brahms die Auseinandersetzung mit dem Klein- wärts zu bringen, aufzugreifen, und letztendlich lichkeitskrämer und Menschenschinder (Editha natürlich: zu überwinden. Als Ausgangspunkt und Richard Sterba) nicht scheute, wurde zu- der weiteren Entwicklung war der erste Mensch gleich bereits in seiner ersten Symphonie deut- in der Musik (Otto Bie) also unbestritten. lich, dass er die Diskussion mit dem Sieger (Franz Doch damit waren die Gemeinsamkeiten Grillparzer) doch unter dessen Prämissen zu füh- verbraucht. Während die Konservativen in der ren gedachte. Folgezeit versuchten, die rein instrumentale Zur selben Zeit sangen die Neuerer ein ganz Form der klassischen Symphonie beizubehalten anderes Lied. Die epigonale Erstarrung vor der und sie nur mit dem neuen Inhalt der roman- klassischen Symphonie lehnten sie genauso ab tischen Tonsprache zu füllen, zielten die Fort- wie ihre konservative Innovation und eröffneten schrittlichen auf die Überwindung der sympho- der Diskussion um das Erbe der Beethovenschen nischen Gattung als solcher durch die Aufnahme Symphonik deshalb eine weitere Alternative: nichtinstrumentaler Elemente oder die Bindung Aufgabe der Kompositionsform Symphonie als an ein außerhalb der Musik liegendes Pro- solcher und Schaffung neuer Gattungen durch gramm. Dabei konnten sich beide Richtungen die Vermengung der Musik mit anderen Kunst- trotz ihrer Gegensätzlichkeit mit dem gleichen formen. Recht auf den Maßstab, an dem wir alles Übrige Noch ein wenig zögerlich stieß Berlioz in messen (Ferruccio Busoni), berufen: die Klassi- dieses Horn. Immerhin kam schon seine erste zisten auf die fünfte, die Fortschrittlichen auf die Symphonie von 1830 nicht mehr ohne das ver- sechste Symphonie. träumte und zugleich programmatische Attribut Auf der einen Seite standen damit die Be- »fantastisch« aus sowie einen erklärenden Un- wahrer – Schubert, dem sich als Wiener Zeitge- tertitel: »Aus dem Leben eines Künstlers«. Bei nossen die Frage nach dem kompositionstechni- Liszt wurde dann aus dem Gattungsbegriff selbst schen Primat einer der beiden Symphonien mit schmückendes Attribut einer neuen Werkform: biographischer Heftigkeit stellte, mit gewissen Der einsätzigen Symphonischen Dichtung, die Marginalien Benjamin Lahusen 224

ganz bewusst eine Sprachlichkeit der Musik sug- verglichen: »Die Gegenwart wird durch ihre gerierte, ging es doch um die musikalische Er- Parteien charakterisiert. Wie die politische kann zählung literarischer, mythischer oder drama- man die musikalische in Liberale, Mittelmänner tischer Sujets. Wagner hingegen konnte auch und Reactionäre oder in Romantiker, Moderne durch solche begrifflichen Schiebereien nicht und Classiker theilen. Auf der Rechten sitzen die mehr auf den Boden der klassischen Symphonie Alten, die Contrapunctler, die Antichromatiker, zurückgeholt werden: Seine Form des musika- auf der Linken die Jünglinge, die phrygischen lischen Dramas verband die unterschiedlichsten Mützen, die Formenverächter, die Genialitäts- künstlerischen Disziplinen, und gerade diese frechen, unter denen die Beethovener als Classe Wiedervereinigung der Musik mit ihren Schwes- hervorstechen.« ternkünsten wurde zum Ideal der Tonkunst. Contrapunctler versus Formenverächter – Auch erläuternde Werktitel oder Vorworte, die dies schien sich zunächst nur auf die musikali- Liszt noch anerkannte, konnten die Instrumen- schen und kompositionstechnischen Differenzen talmusik nicht mehr retten: »Nicht ein Pro- zu beziehen, die ja in der Tat ohne weiteres gramm, welches die hinderliche Frage nach feststellbar waren. Derlei Unterschiede schim- dem Warum mehr anregt als beschwichtigt, kann merten aber natürlich nicht isoliert am musikali- daher die Bedeutung der Symphonie ausdrücken, schen Ausdruckshimmel. Sie wurden begleitet sondern nur die scenisch ausgeführte dramati- von einem ungeheuren theoretischen Aufwand, sche Aktion selbst.« von riesigen pädagogischen Überbauten und ideologischen Apparaten sowie nicht zuletzt von immensen institutionellen Anstrengungen, IV. Reprise mittels derer jede Seite versuchte, die Gegenposi- tion der Tonkünstelei zu überführen und die Damit standen sich mehr als fünf Jahrzehnte eigene Stellung endgültig zu konsolidieren. nach dem Tod von Deutschlands erhabenstem Das bedeutendste Forum des theoretischen Künstler (Robert Schumann) zwei musikalische Teils der Auseinandersetzung blieb für lange Positionen gegenüber, die gegensätzlicher kaum Zeit die 1833 von Schumann gegründete Neue sein könnten und dennoch beide für sich bean- Zeitschrift für Musik (NZfM). Von einer wirk- spruchten, die legitimen Erben des Titanen der lichen Debatte konnte im ersten Jahrzehnt nach Weltkultur (Willi Stoph) zu sein: die überaus dem Tod des Löwen (Robert Schumann) jedoch beethovennahen Symphonien von Brahms auf noch nicht die Rede sein. Die verschiedenen der einen, Wagners monumentale musikalische Meinungen, Deutungen, Interpretation und ihre Dramen auf der anderen Seite. einzelnen kompositorischen Ausprägungen hat- In Anbetracht dieser extremen Unterschiede tensichnochkaumzuRichtungen,Strukturen ist es wenig verwunderlich, zu welch frühem oder Schulen verdichtet, und dementsprechend Zeitpunkt sich der jahrzehntelange »Kampf um trug die Diskussion eher die Merkmale eines Beethoven« (Adolf Sandberger) angekündigt Austausches als eines Streitgesprächs, konnten hatte. Bereits 1836 hatte Schumann die Aus- sich doch die Zeitgenossen mit der Gelassenheit einandersetzung zwischen Klassizisten und Fort- derer äußern, denen es noch nicht ums Prinzip schrittlichen mit dem Streit politischer Parteien geht. Rg7/2005 Welt und Nachwelt 225

Dies änderte sich insbesondere ab 1844, als denziösere Formen der Namensgebung ersetzt. der entschieden fortschrittlich orientierte Franz So wurde aus der Position der Fortschrittlichen Brendel die Redaktion der NZfM übernahm; der das Lager der »Neudeutschen«, deren künst- Ton begann sich zu verschärfen – freilich ganz lerisches Schaffen nichts weniger als »Zukunfts- allmählich und anfangs noch recht unauffällig. musik« generierte. Darüber hinaus verschwan- Zum Ausdruck kam dies in einer Art und Weise den die bisher nur impliziten Fremdbeschrei- des Sprachgebrauchs, der schon früh in die De- bungen und machten Platz für offene Angriffe. batte eingeführt wurde: Man bildete gegensätz- Der Klassizismus erhielt auf diesem Wege das liche Begriffspaare, von denen eine Seite der Attribut des »überwundenen Standpunkts«, der expliziten Selbstbeschreibung diente, der unge- in seiner »blos formalen Schönheit« zur »Er- nannte Teil aber zugleich stillschweigend die starrung« führe und überhaupt zur »ganzen Wesenheiten der Widersacher zu charakterisie- nachbeethoven’schen Entwicklung« nicht ge- ren bestimmt war. In diesem Sinne ist etwa die zählt werden könne. Bezeichnung »reine, absolute Tonkunst« zu ver- Die Empörung bei den Klassizisten über stehen oder die Klassifizierung der eigenen Posi- diesen Vorwurf des Anachronismus drückte sich tion als »Fortschritt«. vor allem darin aus, dass sie die Begriffe »neu- Nachdem Wagner 1849 für sich die Defini- deutsch« und »Zukunftsmusik« nie ohne die tionshoheit über das »Kunstwerk der Zukunft« Relativierung von Anführungszeichen oder den in Anspruch genommen hatte, um nur zwei Jah- Zusatz »sogenannt« zu gebrauchen pflegten. re später erstmalig den Primat der Sprache über Doch abgesehen von der Abwehr der ehrenrüh- die Musik zu behaupten (Oper und Drama, rigen Titulierungen hielten sich auch die Konser- 1850/51), wurden aus den impliziten Sticheleien vativen mit Beschimpfungen nicht zurück. Die ausdrückliche Angriffe. Wagners »Kritiker-Erz- programm-musikalischen Ideale der »neudeut- feind«, Eduard Hanslick, bezog in seiner Schrift schen Tendenzmusiker und Beethovenfälscher« »Vom Musikalisch-Schönen« (1854) ausdrück- (Max Kalbeck) liefen auf eine »Entartung der lich Stellung gegen die Verknüpfung von Sprache Instrumentalmusik« hinaus (Friedrich Chrysan- und Musik: »Was die Instrumentalmusik nicht der), ja, das Lager der »Neudeutschen« liege wie kann, von dem darf nie gesagt werden, die Mu- ein »Moloch … drohend über dem ganzen Mu- sik könne es; denn nur sie ist die reine, absolute sikschaffen unserer Tage« (Thomas Scheffer). Tonkunst.« Und ein Parteigänger äußerte gar die Auch die Protagonisten mischten sich ein Befürchtung, die von Wagner propagierte Ästhe- ums andere Mal in das Geschehen ein. Vor allem tik wolle »unter dem Panier des sogenannten Wagner nahm für sich Anspruch, mit der Schaf- Fortschritts das eigentliche Wesen der Musik fung des Musikdramas als einziger das Beetho- auflösen« und drohe, »ihre Natur zu verkehren« vensche Vermächtnis eingelöst zu haben, eine (Ludwig Friedrich Christian Bischoff). Spätes- Einschätzung, welcher der erst fortschrittlich tens hier hatte die Debatte ihren Plauderton ver- und dann klassizistisch geprägte Hans von Bü- loren und wurde fortan mit der Verbissenheit des low recht ungerührt begegnete, indem er Brahms’ Grundsätzlichen geführt. erste Symphonie kurzerhand als »Beethovens Zunächst wurden dazu die ohnehin nicht Zehnte«, die gesamte neudeutsche Richtung da- wertfreien Selbstbeschreibungen durch noch ten- gegen als »verflucht« apostrophierte (was auch Marginalien Benjamin Lahusen 226

damit zusammenhängen mochte, dass Bülows strang wurde selbstverständlich vor dem Hinter- erste Frau, Franz Liszts Tochter Cosima, ihn grund einer intensiven Beschäftigung mit dem 1870 zugunsten Wagners verlassen hatte). Ähn- größten Musiker aller Zeiten (Encyclopaedia lich deutlich drückte sich Hanslick aus, der Britannica) selbst widerlegt. Dabei wurde dessen Wagners Werke als »die zum Prinzip erhobene Werk in ein evolutives Schema gepresst, das Formlosigkeit« und »gesungenen und gegeigten durch die Setzung einzelner »Höhepunkte seines Opiumrausch« bezeichnete. Schaffens«, »wahrer Abschlüsse« seines schöp- Deutlich feinsinniger reagierte dagegen ferischen Lebens oder »eigentlicher Resultate« Schumann. Auf einen direkten Angriff der Fort- seines kreativen Ringens zweifelsfrei beweisen schrittlichen verzichtete er ganz und nutzte seine konnte, dass die oberste Autorität (Theodor Kräfte überwiegend, um die eigene Position im- Wiesengrund Adorno) der Nachwelt den Weg mer grenzenloser zu idealisieren. Dies kam vor in Richtung des einen oder des anderen Musik- allem Brahms zugute, den Schumann in der ideals gewiesen habe. Insbesondere die Wag- NZfM als den neuen Messias der Musik an- nerianer deuteten das Werk des Licht-Genius kündigte, »an dessen Wiege Grazien und Helden (Adolf Sandberger) als den Kulminationspunkt Wache hielten«, ein Musiker, der – »wie Miner- der symphonischen Form. Mit dem Finale der va … vollkommen gepanzert aus dem Haupt Neunten habe die titanische Natur (August des Kronion« entsprungen – die »Wahrheit der Wilhelm Ambros) eine historische Mission in Kunst« zu verbreiten verspräche. Brahms wie- Auftrag gegeben, die ihrer Vollendung erst in derum dankte es dem Mentor, indem er öffent- Wagners Musikdrama zugeführt worden sei, lich bekundete, die Grundsätze »einer gewissen eine Deutung, die Hans von Bülow wiederum Partei …, deren Organ die Brendel’sche Zeit- sozuwiderwar,dasserdasFinalederNeunten schrift für Musik ist«, nicht anzuerkennen. Im als angeblichen Ausdruck einer inhaltsästhe- Übrigen könne er »die Produkte der Führer und tischen Gesinnung mit dem recht pointierten Schüler der sogenannten ›Neudeutschen‹ Schule Verdikt der Gemeinschädlichkeit belegte. … als dem innersten Wesen der Musik zuwider, Des ungeachtet ging die Katalogisierung des nur beklagen oder verdammen«. Und wenn ihm Beethovenschen Werkes schließlich so weit, dass seine klangliche und formale Nähe zu den Beet- Wagner alle Kompositionen, in denen der musi- hovenschen Symphonien als Stilkopie ausgelegt kalische Shakespeare (Amadeus Wendt) zwar würde, dann sei daran nur bemerkenswert, dass eine dichterische Sprache angestrebt, sich dabei »jeder Esel« diese Nähe gleich höre. aber innerhalb der Grenzen der absoluten Musik bewegt habe, zu bloßen »Skizzen« degradierte. Um nun nicht einen Großteil der Hinterlassen- V. Coda schaft in den Rang bloßer Vorstudien abwerten zu müssen, mühten sich die Wagnertreuen flei- Deutlich tiefgreifender und theoretisch an- ßig, neben der Neunten weitere Kompositionen spruchsvoller als diese Scharmützel an der Ober- auszumachen, die sich nicht mit den Einschrän- fläche wurde die dahinterstehende Auseinander- kungen der Instrumentalmusik begnügten. Lud- setzung um den gemeinsamen Ausgangspunkt wig Nohl fand auf diese Weise Pläne für eine geführt. Der jeweils gegenteilige Entwicklungs- ähnlich der neunten konzipierte zehnte Sympho- Rg7/2005 Welt und Nachwelt 227 nie (die tatsächlich Skizzen eben der Neunten Kompositionen: »wir interessieren uns nicht waren) und deutete die Worte »Herr, wir danken mehr für die Tondichtung allein – wir interessie- dir« auf einem Skizzenblatt zur sechsten Sym- ren uns auch für den Tondichter« (August Wil- phonie kurzerhand als geplanten Choreintritt. helm Ambros). Hinter diesen aus heutiger Sicht überhol- Im Falle der beiden Symphonien muss ein ten musikwissenschaftlichen Studien verborgen solches Unterfangen, die inhaltlichen Unterschie- steht natürlich die sehr viel ernstere Frage, was de der Hinterlassenschaft durch den Bezug auf nach all der Rezeption und Inanspruchnahme autobiographische Elemente zu glätten, zu nivel- vom ersten Menschen (Hugo von Hofmanns- lieren oder gar letztgültig aufzulösen, schon auf- thal) selbst geblieben ist. Die Versuche jedenfalls, grund ihrer Entstehungsgeschichte scheitern. sein Werk als Gradmesser für die Legitimität Doch abgesehen von diesen partikularen Eigen- derjenigen zu nehmen, die sich als seine wahren heiten der Geschehnisse scheint die Erweiterung und einzigen Erben bezeichnen, müssen als ge- des historiographischen Gegenstandes grund- scheitert betrachtet werden. Überhaupt scheint sätzlich wenig dazu geeignet, der Erkenntnis die Überwucherung der ursprünglichen Hinter- Grenzen zu setzen. Inseln im Meer des Wissens lassenschaft durch die vielen Rezipienten und entstehen nicht dadurch, dass mehr Wasser Deuter, durch die Kritiker, Kommentierer, Er- zugefügt wird, und das Leben des Schöpfers klärer und natürlich durch die Interpreten und verschwindet nicht weniger in dem Wust von Ausführenden der Musik so dicht und undurch- Anmerkungen, Verarbeitungen, künstlerischen dringlich, dass die Kompositionen im Nebel Auseinandersetzungen und vermeintlichen Über- der Musikgeschichte allenfalls schemenhaft zu windungen als die Schöpfungen selbst. erkennen sind; die Rezeptionskonstanten sind Der Rezeption bleibt nichts anderes übrig, vom Werk nicht mehr zu trennen, sie kleben als diesen Untergang ihres Ziels im Morast der an ihm, überschatten seine Erscheinung und Geschichte anzuerkennen. Immerhin mag sie zwingen zur Auseinandersetzung: »Distanzie- sich damit trösten, dass dieser Verlust ebenso rung von ihnen würde automatisch und un- Produkt des Hier und Jetzt ist wie jede andere ausweichlich zur Distanz gegenüber Beethoven Art von Wissen auch, das Werk also zu allen selbst« (Hans Heinrich Eggebrecht). Zeiten gleichermaßen verloren war und in seiner Der Versuch, diesem Verlust des Werkes zu Existenz schon immer von den konstruktiven begegnen, führt fast immer über den Umweg des Bemühungen fleißiger Rezipienten abhing. Die- Autors. Kann das Werk seine Auslegung und ser Trost hat freilich seinen Preis: die unvermeid- Rezeption nicht einschränken, so muss es doch liche Distanz zum Gegenstand nämlich, der nie wenigstens der dahinterstehende Mensch tun. anders als gebrochen beobachtet werden kann, Und so deklariert die Forschung die Einheit gebrochen am Prisma der Gegenwart. von Leben und Schaffen und konzentriert sich Von seiner hässlichsten Seite zeigt sich dieser auf den Künstler »hinter der Musik«, auf den rezeptive Bruch an den von allen möglichen »eigentlichen« Ludwig van Beethoven, auf die Regimes unternommenen Versuchen, die Musik Auswirkungen seiner Taubheit, auf sein span- des Revolutionärs im wahrsten Sinne (Eugen nungsgeladenes Verhältnis zum Neffen oder auf Jochum) für ihre Zwecke zu vereinnahmen. seine eigenen Äußerungen zur Aufnahme seiner Hatte schon Wagner die Kunst des obersten Marginalien Benjamin Lahusen 228

Vertreters deutschen Wortes und Sinnes (Robert Schulenbildung, bei aller Begrenzung von Be- Schumann) mit dem »Wesen des Deutschen« griffsfeldern kann demnach die eine Rezeptions- gleichgesetzt, galt sie spätestens 1871 als Inbe- geschichte nicht entstehen: Die Rezeption kann griff des Triumphes deutscher Innerlichkeit über sich nur noch selbst rezipieren. französischen Expressionismus. Bismarck soll Auf diesem Wege wird aus Beethoven ein der Legende nach vor der Entsendung der Trup- Vorbild, Wegweiser, der neue Gott, der größte pen Aufführungen der fünften Symphonie an- Mensch, Offenbarung, die Zukunft, das Gebot geordnet haben. Im ersten Weltkrieg bewahrten der Stunde und alles zugleich (Leo Schrade), er die Franzosen »ehrfürchtig das ›Leben Beetho- wandert zu den Großen aller Zeiten, unantastbar vens‹« – Romain Rollands Biographie – in ihrem für immer (Franz Grillparzer) und ist eben damit »schmutzigen Brotbeutel« auf (Raymond-Raoul unwiederbringlich verschwunden. In dem Mo- Lambert), während auf deutscher Seite »unsere ment, in dem er sein Werk der Nachwelt über- Feldgrauen in den Unterständen Beethovens Kla- gibt, ist es für die Nachwelt verloren. Untergang viersonaten analysieren« (Hugo Riemann). Die durch Rettung, Verlust durch Überantwortung Sondermeldung zu Hitlers Tod wurde mit dem an die Rezipienten: an das Geschwätz der Inter- Trauermarsch der dritten Symphonie untermalt, pretationen, das Palaver der Meinungen, das während gleichzeitig die Fünfte aufgrund der Durcheinander der Ansichten. rhythmischen Ähnlichkeit der Eröffnungstakte Der Mensch unter Menschen (Leo Schrade) zum Buchstaben V des Morsealphabets den Vic- wandelt sich so zum Phänomen, zum Schlag- tory der Alliierten symbolisierte. wort, zum Stichwortgeber, zum Assoziationswe- Zu diesem einen Bruch gesellt sich im Lauf cker, zur Zitierautorität, zum Topos, zur Phrase, der Zeit noch eine unendliche Horde von Hin- zum Kulturgut, zum Inbegriff, zum Begriffsfeld – dernissen, welche den rezeptorischen Blick zu bis er sich schließlich ganz auflöst; dann kann er immer weiteren Umwegen, Abschweifungen nur noch erinnert werden und wird dadurch und Winkelzügen zwingt. Auf die eine logische Bestandteil einer Art von Wissen, die unentrinn- Sekunde, in der das Werk rein und jungfräulich bar der allmächtigen Deutungshoheit des Erin- in der Welt steht, folgt unweigerlich die befle- nerers überantwortet ist, der das, was er erinnert, ckende Empfängnis durch die Nachwelt, die nur mit der Struktur des gegenwärtigen Erfah- selbst wiederum Gegenstand der Beobachtung rungshorizontes ausstatten kann. Aus dem He- wird. Ist jedoch schon die erste Rezeption kein ros (Karl Böhm) wird ein Tropus, der alle Be- teilnahmsloser Vorgang, sondern von der Unum- griffshöfe öffnet, eine rhetorische Wendung, die gänglichkeit der Konstruktion geprägt, so muss jeden Begriffskern zertrümmert, eine epistemo- sich die weitere Beschreibung der fremden Er- logische Erscheinung, welche die letzten meta- kenntnisleistung notgedrungen mit der weiteren physischen Überbleibsel hinwegfegt und eine Entfernung von ihrem Gegenstande abfinden; plane Fläche der Uneigentlichkeit hinterlässt. dem Rezipienten bleibt nur die Erkenntnis des Beethoven – Algorithmus der Gemeinschaft, Ge- bereits Erkannten und die Interpretation des dächtnis des Gedächtnisses, oder einfach nur: schon Interpretierten. Bei aller Verdickung und Metapher. Verhärtung von Meinungssträngen, bei aller Benjamin Lahusen Rg7/2005 Welt und Nachwelt 229

Literatur

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The Journal of Comparative Law

We are pleased to announce the launch of ›comparative legal studies‹, unlimited in its geo- a new publication, the Journal of Comparative graphical focus and range of legal topics, a view- Law. The journal will be published twice a year point which stresses the importance of analyti- and will be refereed; the first issue is due to cal, contextual and, where possible, multi-dis- appear in Autumn 2005. ciplinary work. Trends since 1989 have led to a need for The journal will usually contain the follow- comparative legal knowledge unparalleled in ing sections: Articles; Notes; Reviews; Noted history. It has become an ›essential instrument Publications; Sources and Commentaries (occa- for legal understanding‹.1 Such a situation re- sional); Bibliography (occasional); Other Voices quires scholarly analysis. However, despite a (occasional); and Classics of Comparative Law marked increase in academic interest and activ- (occasional). Articles of unusual length (whether ity, significant problems and gaps remain. long or short) are very welcome. It is clear therefore that a new journal, Of particular interest is the innovative ›No- providing a forum for comparative law analysis, ted Publications‹ section, edited by Professor the exchange of ideas and other scholarly re- Pierre Legrand, which provides short summaries sources, will be of considerable utility. The num- and assessments of notable books and articles. ber of outlets for comparative legal studies has not even kept pace with the increase of scholarly output to date. It is certainly insufficient to The First and Second Issues encourage the amount of activity which is neces- sary in view of the importance of the field. The The contents of the first issue Autumn 2005 journal was set up by Professor Michael Palmer include: (School of Law, School of Oriental and African Nicholas Foster, ›The Journal of Compara- Studies, University of London), Professor Wil- tive Law: A New Scholarly Resource‹, the ›mis- liam Butler (Dickinson School of Law, Pennsyl- sion statement‹ of the Journal. vania State University; Professor Emeritus, Uni- Pierre Legrand, ›Antivonbar‹, on Professor versity College, London) and the author. It is an Christian von Bar’s European Civil Code pro- organ of The Association for Comparative Legal ject. Studies Limited, a company limited by guarantee Bernard Jackson, ›Internal and External incorporated in England and Wales. Comparisons of Religious Law: Reflections from Jewish Law‹. Andrew Harding, ›Thailand’s Reforms: Hu- Content man Rights and the National Commission‹. Robin Munro, ›The Ankang: China’s Spe- The journal will aim to cover the entire cial Psychiatric Hospitals‹. range and depth of comparative law and has William Twining et al. (Nicholas Foster, ed.), therefore adopted an inclusive understanding of ›A New Direction for Comparative Legal Stud-

1SeeÖrücü, E. (2002), Unde Venit, Quo Tendit Comparative Law, in: Örücü, E. and Harding, A. (eds.), Comparative Law in the 21st Century, London 2002, esp. 15–16. Rg7/2005 The Journal of Comparative Law 231

ies? A Symposium Review of Patrick Glenn’s Pierre Legrand, ›Noted Publications‹. Legal Traditions of the World, 2nd edition‹. This Andrew Huxley, ›Case-note: Comparative is a very in-depth review, with the following Law Aspects of the Doe v. Unocal Choice of contributions: William Twining, ›Glenn on Tra- Law Hearing‹, a note on one of the very rare dition: An Overview‹; Andrew Halpin, ›Glenn’s occasions in which comparative law classifica- Legal Traditions of the World: Some Broader tion was discussed in court, written by a col- Philosophical Issues‹; Gordon Woodman, ›The league with direct experience of the proceedings. Chthonic Legal Tradition – or Everything That is A substantial part of the second issue will not Something Else‹; Bernard Jackson’s article be devoted to ›Reception and Legal Transplants‹, above, containing an assessment of the chapter a topic discussed at a symposiumheldinJune dealing with Jewish law; John Bell, ›Chapter 2005 by, inter alia, Mads Andenas, Wade Chan- Five: Civil Law Tradition‹; Camilla Baasch An- nell, Janet Dine, Patrick Glenn, Pierre Legrand, dersen, ›Scandinavian Law in Legal Traditions Geoffrey Samuel, Ann and Bob Seidman, Wil- of the World‹; William Butler, ›Russia, Legal liam Twining and Alan Watson. Traditions of The World, and Legal Change‹; Nicholas Foster, ›Islamic Law as Tradition: Chapter Six of Legal Traditions of the World‹; Further Details Martin Shapiro, ›Common Law Traditions‹; Werner Menski, ›Glenn’s Vision of the Hindu We look forward to receiving submissions Legal Tradition‹; Andrew Huxley, ›Buddhist for inclusion in all sections of the Journal. In Law, Asian Law, Eurasian Law‹; Michael Pal- particular, we welcome submissions from col- mer, ›On Galloping Horses and Picking Flowers: leagues who may not necessarily think of them- China, Chinese Law and the Asian Legal Tra- selves as comparatists, for example legal his- dition‹; Sian Stickings, ›Where Does Japan Be- torians, socio-legal scholars (including legal long?‹; Nicholas Foster, ›Kindling the Debate on anthropologists) and legal theorists. For sub- Diversity: Chapter Ten of Legal Traditions of the mission and subscription details, either go to World‹. www.wildy.com or e-mail [email protected]. Alan Watson, ›Jesus and the Samaritan Woman: a Coda‹, on the pitfalls of translation in comparative law. Nicholas H. D. Foster*

* SchoolofLaw,SchoolofOriental and African Studies, University of London. Marginalien Nicholas H. D. Foster 232

Corrigendum

Der Titel der Rezension von Christine Hohmann-Dennhardt in Rg 6 (2005) 227–231 war von der Autorin nicht autorisiert. Der originale Titel lautete: »Anständige Menschen«. Rg7/2005 Rg7/2005 Abstracts 234

Unity following years were not successful at enforcing the new Theoretical Aspects of a major Transfer of Law and marriage rules. In 2001 a revision of the Turkish(-Swiss) legal Staff (p. 13) Civil Code took place which once again referred to contemporary Swiss law. Though the legal transfer from The unification of the German states in 1990 was Switzerland to Turkey seems clearly to have failed, it has accompanied by a major transfer of law and a remarkable had some impact on the evolution of Turkish law. transfer of legal staff. The legislation which followed in the train of the unification was extraordinary in its Mahidé Aslan dimensions. It does not, however, present fundamentally new problems for the evolutionary theory of social sys- tems. The role of conscious, intentionally planned polit- ical action as well as the efficiency of legislation – both Legal Transfer (p. 38) striking aspects of German unification – can reasonably be taken into consideration by the theory. The challenging In 1905 the historian Georg von Below published a question is how western administrative law could settle book on the reasons for the reception of Roman law in down and survive in the »niche« consisting of the heritage . The 19th century theories on reception worked of the former GDR, despite the fact that citizens in Eastern with certain distinctions which are analyzed and inter- Germany for the most part have little understanding of preted by M. Th. Fögen and G. Teubner. Especially prom- the principles of western administrative law. The phenom- inent were two pairs of distinctions: (1) »inside / outside«, enon of such a weak structural coupling between commu- whereby the relation of the legal system and its »environ- nication systems and individual mind was possible be- ment« is adressed, and (2) »necessary / contingent«, which cause of the lack of any alternative. People in Eastern may be translated as loose or intensive coupling of the Germany can use the new law because it is managed by a legal system with other social systems. In contrast to von professional legal staff, and they depend on the utilization Below, one can nowadays hardly speak of legal transfers of the new law even if they scarcely understand it and even as such. Rather – as one learns also from the articles of if they do not accept that it is just law. The evolutionary M. Aschke and M. Aslan – so called legal transfers ap- theory of social systems can explain why there is little pear as processes of border-crossing by which legal norms probability of alternatives in spite of weak structural undergo a re-signification at their new location. coupling. Therefore the theory must observe not only the communication systems but also the coordination that Marie Theres Fögen, Gunther Teubner has grown up on the basis of the new communication systems and that has led to an evolutionary path which limits other possibilities. Manfred Aschke New Forms of Contract as Legal Transfer Anglo-American Provenience of Leasing as a legal Topos (p. 46)

Round-Trip Ticket Modern business is characterized by new forms of The Swiss Civil Code in Turkey (p. 33) contracts which are usually not regulated by statutes or codifications. The relatively spontaneous appearance of The young republic of Turkey of 1922 was obliged these new forms of contract is part of present changes in by an international convention to establish a modern legal the doctrines of the law of obligations and the concept of system. Very quickly the Swiss Civil Code was translated contracts as such. According to a prominent opinion these and enacted in Turkey. This article traces the fate of Swiss changes are due to a general »Americanisation of law«. In marriage law within Turkish society and shows how the an analysis of the German law on financial-leasing this newly imported law was largely ignored and disregarded assumption is put to the test and is confronted with the by the people. Even many special legislative acts in the concept of transfer which it implies. In particular, cross- Rg7/2005 Abstracts 235

border-contracts reveal the function of transporting nor- how society is possible. Various performances of transfer mative economic expectations into the law. Some crucial are shown to be central to the modern discourse, Imma- questions are put: What kind of border is being discussed nuel Kant’s philosophy of law and social philosophy. in the concept of legal transfers? Can the crossing of these Emancipation, independence, self-determination, sover- borders be understood as a phenomenon of transition or eignty – the essay suggests that modern reason is a con- as founding acts of law? Where exactly are the borders struct of transfers. whichlawhastotransgresssothatonecanspeakofa Claudius Messner »new law of leasing contracts«?

Federico Gonzalez del Campo Academic Freedom Reflections on a German and Japanese Discourse (p. 74) Report from the Swiss Workshop (p. 58) Academic freedom in Japan has been constitution- This year’s symposium of »The European Forum of ally guaranteed only since the close of the Second World Young Legal Historians« (Lucerne, May 2005) was ded- War. In the first authoritative commentary on the con- icated to the problem of »Legal Transfer in History«. The stitution one discovers an explicit allegation of German report reveals the rather broad spectrum of lectures deal- commentary literature on the subject of academic free- ing with transfer phenomena in ancient law up to the legal dom. Obviously, there is a general assumption of analogy history of the 20th century. To some extent the presenta- in the fundamentals of academic freedom in both coun- tions included neighbouring disciplines and their polit- tries. However, a closer look reveals not only individual ological, sociological, philosophical and historical argu- but also structural differences in the matter. Whereas ments. It was noteworthy that the theoretical basis was German legal sciences have attempted to liberate academ- often wanting, e. g. lectures on ancient law were exposed ics in the late 68s from a historically rooted idea of the to a problematic relationship between their subject and »fundamental law of the German university«, especially the relatively modern concept of transfer. Often the con- with Schlink and Roellecke, academic freedom in Japan is cept of transfer was so vaguely framed that quite different seen until today as a result of the combination of freedom and contradictory but also thought-provoking conclu- of thought and the autonomy of the university. Behind this sions and questions were posed; for apart from its legal dogmatically rather foggy construction lies an idea of the function, the question is posed as to what role the trans- moral superiority of the university-professor over normal fer of law plays in an ideological, economic or academic people. Japanese dogmatics is therefore filled with social- context. ethical elements. In the face of the privatization of all Jana Lachmund Japanese universities, academic freedom – which is guar- anteed by the constitution – proves itself too weak in the political-juridical debate on account of its dogmatic lack of focus. Transfers Kenichi Moriya Modern Discourses on State and Family (p. 62)

The longing for legitimacy always precedes the con- struction of any particular foundation of modern society. This essay examines the desire for theoretical foundations in its relation to the issue of legitimate origins. The in- dividualistic configuration of the modern conception of legitimacy is determined by the concurrence of the indi- vidual’s problem of becoming a person and the question of Abstracts Rg7/2005 236

Transfer of German administrative Law to necessary precondition for its binding force, the gradual Switzerland change to a positivistic understanding of law is first Semantics and social Structure of an »Academic realised at the level of the law of evidence. Step by step Adoption« (p. 87) the demands for proof of the validity of a legal norm are heightened in the legal cases, in which a party relies upon German administrative law is a product of the a printed or at least a recorded legal norm. In this way the foundation of the German Reich in 1871, which on the form of the tradition of the legal norm takes on a new one hand was orientated towards a national jurisdiction meaning: Legal norms which have a written tradition or and on the other took account of the comparative horizon are contained in an authorised collection of enactments of related »Culturstaaten«. The result was a paradox: have a higher chance of being accepted by the court. a legal field both enhanced national borders in a very distinct way and was at the same time capable of stepping Thomas Simon across borders. This essay investigates the semantic cou- pling of academia and nation following the example of Fritz Fleiner, especially his »Institutionen«. When Fleiner came back from Germany to Switzerland, his adminis- trative law became »adopted« there and was spread by »The Offence is always at the Forefront …« his sity lectures and his »pupils«. As easily as the coupling The Trials against Members of the Rote Armee of legal science and university outwith the nation-state Fraktion (RAF) (p. 138) was achieved, so problematic proved the connection to politics, which let itself get distracted by the academic When analyzing the trials against the members of the debate on the establishment of administrative courts, but RAF and the 2nd of June Movement, one notices to what nevertheless offered continuing resistance. extent they are a political issue and a reflection of conflicts in German society. At the same time the field reveals a Roger Müller considerable need of research. This remains true despite the abundance of literature concerning terrorism in Fed- eral Germany, given the tendency merely to reproduce existing knowledge. It is in fact the »Myth RAF« and the Validity widespread stereotypes of »terrorists« – the unbridgeable ThePathfromCustomtopositiveLaw(p.100) polarizations and the mutual insinuations and resent- ments – that have impeded a more sophisticated analysis The transition to a written form of law, as also the and the necessary contextualization. Against this back- mass reproduction and dissemination of statutory enact- ground divergent positions, here relating to the prosecu- ments, are decisive preconditions for the emergence of tions against members of the RAF and the 2nd of June positive law. This process of »positivisation« is here Movement, are contrasted. There are four questions at understood as a process in the course of which the thecentreofthisessay:1.»StateenemyNo.1«orjust conception of law and the conditions for its acceptance »ordinary criminals«? 2. Is it individual or organized change. Legal norms will increasingly be accepted as crime? 3. Is the trial unprejudiced or is there a prejudg- binding or »in force« because a formal enactment and ment of the defendant? 4. Is there equal treatment or are the command of a legislator to obey the norm stand sharpened conditions in force? behind them. If throughout the entire early modern period legal theory saw in the actual usage of a norm the Gisela DiewaldKerkmann Rg7/2005 Abstracts 237 Autoren

Manfred Aschke Gießen, Weimar Mahidé Aslan Luzern Oliver M. Brupbacher Frankfurt am Main Gisela DiewaldKerkmann Bielefeld Thomas Duve Buenos Aires Federico FernándezCrehuet López Almería Marie Theres Fögen Frankfurt am Main, Zürich Nicholas H. D. Foster London Federico Gonzalez del Campo Zürich StefanLudwig Hoffmann Bochum Thorsten Keiser Frankfurt am Main, Florenz Rainer Maria Kiesow Frankfurt am Main Jana Lachmund Frankfurt am Main Benjamin Lahusen Berlin Pia LettoVanamo Helsinki Loretana de Libero Hamburg KarlHeinz Lingens Frankfurt am Main Markus Nussbaumer Bern Claudius Messner Lecce Kenichi Moriya Osaka Roger Müller Zürich Frank L. Schäfer Frankfurt am Main Martin Schulte Matthias Schwaibold Zürich Margrit Seckelmann Speyer Domenico Siciliano Frankfurt am Main, Florenz Dieter Simon Berlin, Frankfurt am Main Thomas Simon Frankfurt am Main, Wien Alexander Somek Iowa City Michael Stolleis Frankfurt am Main Gunther Teubner Frankfurt am Main Hans Peter Walter Bern Gerrit Walther Wuppertal Autoren Rg7/2005 238

Abbildungsnachweise

S. 10, 12, 16, 32, 33, 37, 43, 44, 45, 48, 55, 58, 60, 61, 62, 68, 73, 75, 85, 181, 199, 213, 217, 219, 231, 232, 236: Uwe Dettmar, Frankfurt am Main Rg7/2005 Abbildungsnachweise