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IV. Inflation und Deflation 501 nen französischen Stinnes nicht gebe584. François de Wendel, der oft in einem Atemzug mit Stinnes genannt wurde, wie auch andere Arbeitgebervertreter nah- men zwar Einfluß auf die Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik, aber den Kurs der Politik konnten und wollten sie nicht maßgeblich bestimmen. In Deutschland hingegen hatte der Korporatismus Tradition. Nach dem Krieg wurden sowohl die Gewerkschaften als auch die Unternehmer weitaus mehr als in Frankreich in die staatliche Politik eingebunden. Die Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik war in Deutschland weitaus größer als in Frankreich, wo die industriellen Interessenkonflikte viel seltener auf der politischen Bühne ausgefochten wurden. Daß die deutschen Unternehmer spätestens seit 1922 unverbrämt einen Füh- rungsanspruch nicht nur gegenüber den Gewerkschaften, sondern auch gegen- über der Politik verfochten, war freilich auch in Deutschland nur möglich, weil die katastrophale inflationäre Entwicklung allgemeine Ratlosigkeit hinterließ. Ge- rald D. Feldman hat die politischen Konsequenzen dieses Denkens pointiert zu- sammengefaßt: „Hatte die Politik der Interessengruppen lange Zeit eine heraus- ragende Rolle in der deutschen Gesellschaft und Politik gespielt, so war eine der hauptsächlichsten Konsequenzen der Inflation, ihre Überspitzung bis zur Karika- tur zu fördern, während die größeren bürgerlichen Parteien der Mitte untermi- niert wurden."585 Die Inflation brachte auch die Gewerkschaften an den Rand des Zusammenbruchs, weil sie ihren traditionellen tarifpolitischen Aufgaben nicht mehr gerecht werden konnten und bei ihren Mitgliedern einen bleibenden Legiti- mationsverlust erlitten, wenngleich sie durch die Inflation nicht so zerrieben wer- den konnten wie die deutschen liberalen Parteien.

IV. Inflation und Deflation: Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnbewegung, Lebenshaltung und industrielle Konflikte in Deutschland und Frankreich (1920-1922/23)

1. Scheinblüte und Verarmung: Die Inflation in Deutschland

Substanzaufzehrung Auch in der neueren Literatur wird noch häufig die Auffassung vertreten, daß die deutsche Inflation nicht eine Belastung für die junge deutsche Demokratie gewe- sen sei, sondern ganz im Gegenteil ein Faktor der Stabilität. So schreibt Hans- Ulrich Wehler in seinem Standardwerk „Deutsche Gesellschaftsgeschichte" von 1914 bis 1949: „Die Inflation erleichterte die Demobilmachung, den Übergang zur Friedenswirtschaft und nach der Rezession die Ankurbelung der Konjunktur. Sie ermöglichte die Finanzierung der Kriegsrenten, vor allem aber einen Lohnanstieg, der bis Mitte 1922 auch die Reallöhne nachhaltig verbesserte. Sie versprach Voll- beschäftigung und Wachstumsimpulse und federte den Acht-Stunden-Tag ab. Sie förderte ein Klima der sozialen Entspannung und erhielt die sozialpolitische

584 Richard Lewinsohn, Frankreichs Wirtschafter, Vossische Zeitung vom 5. 2.1924. 585 Feldman, Great Disorder, S. 856. 502 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Handlungsfähigkeit' der Republik."586 Nach dieser Interpretation wurde Deutschland dank der Inflation von einer quälenden Depression und Arbeitslo- sigkeit, wie sie die angelsächsischen Länder und in abgeschwächter Form auch Frankreich erlebten, verschont. Diese Sichtweise ist sehr stark von Hugo Stinnes beeinflußt, der in dem Anheizen der Notenpresse den Königsweg zur Uberwin- dung der wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit sah. Ohne „Rücksicht auf die entstehenden außerordentlichen Kapitalverluste" wollte er die „Waffe der Inflation" sowohl zu einer „Art Notwehr gegen die über- triebenen Forderungen des Versailler Vertrags" als auch für eine Eroberung der Exportmärkte, ohne die es zu einer Heerschar von für den „Bolschewismus anfäl- ligen Arbeitslosen" in Deutschland kommen müsse, benutzen. An eine Stabilisie- rung der Mark wollte Stinnes erst dann denken, „wenn eine günstige Weltkon- junktur entstände, die wir dann in der Lage sein müßten, voll ausnutzen zu kön- nen. Würde man heute [...] versuchen die Mark zu stabilisieren, so wären England und Amerika in zwei bis drei Jahren vollkommen in Ordnung, dagegen wir, Frankreich und Rußland wären vollkommen kaputt". Für Stinnes hing die Exi- stenz der deutschen Wirtschaft von einem ausreichenden Exportüberschuß ab. Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt verfocht einen gegenteiligen Stand- punkt. Er war geradezu erzürnt über die Anschauungen Stinnes', der selbst eine Besetzung des Ruhrgebietes in Kauf nehmen wollte, und hoffte, daß Stinnes hier nur sein „persönliches Interesse" zum Ausdruck gebracht habe587. Tatsächlich wurde Stinnes' Inflationsenthusiasmus in deutschen Industriekrei- sen nur selten geteilt. So erntete Hermann Bücher auf der Mitgliederversammlung des RDI im September 1921 in München keinen Widerspruch, als er vor Augen führte, daß der hohe Beschäftigungsgrad der deutschen Industrie „im Grunde nichts anderes als die Röte auf den Wangen eines Schwindsüchtigen" sei 588. Adolf Friebe-Batocki, damals in der Regierungskommission für den Wiederaufbau tätig, blieb im Bild und verglich die inflationären Entwicklungen „mit den Erscheinun- gen an einem schwerkranken Menschen, der durch Kampfer- oder Kokainsprit- zungen weiter am Leben erhalten wird. Er hat blanke Augen, hat leuchtende Bak- ken, ist lebhaft in seiner Konversation, läßt manchmal geistige Blitze von sich und schließlich geht er dann langsam, wenn keine Heilung eintritt und wenn die Ga- ben immer mehr gesteigert werden müssen und der Herzmuskel nicht mehr mit- tut, zugrunde."589 Die Inflation hatte die Rückgewinnung der Märkte erleichtert und bis 1921 die Industrieproduktion dank eines Anstiegs um 65 Prozent in den Jahren 1920/21 schneller wachsen lassen als in Frankreich, die dort aufgrund der Deflation 1921 um 12 Prozent sank, allerdings im nächsten Jahr gleich wieder um 41 Prozent in die Höhe schnellte590. In der Schwerindustrie konnte ein großer Teil

586 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 245. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Buchheim, Vom alten Geld zu neuem Geld, S. 143 f. 587 Vgl. ACDP, 1-220-041/2, Aktennotiz über eine Besprechung am Freitag, den 23. Juni 1922 in Ber- lin; ACDP, 1-220-025/3, Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des A.A. vom 27. 5. 1922; ACDP, 1-220-026/3, Stinnes an Severing, 3. 7. 1922; ferner Feldman, Hugo Stinnes, S. 758 f. 588 RDI, Die deutsche Industrie und die Wiedergutmachungsfrage; Bericht über die dritte Mitglieder- versammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 27. bis 29.9. 1921, S. 24. s»' Ebenda, S. 57. 5,0 Vgl. Holtfrerich, Die deutsche Inflation, S. 200; Blaich, Der schwarze Freitag, S. 164 f. IV. Inflation und Deflation 503 der 1919 erlittenen Produktionsverluste wieder ausgeglichen werden591. Daß diese wirtschaftliche Entwicklung nur einer Scheinkonjunktur zu verdanken war, war spätestens seit Herbst 1921 den meisten Unternehmern bewußt. Kaum einer von ihnen hätte auf die Frage nach dem geschäftlichen Erfolg wie Stinnes geantwortet: „Hervorragend"592. Felix Deutsch hatte 152 Aktiengesellschaften untersuchen lassen und war zu dem Ergebnis gekommen, daß bereits im Geschäftsjahr 1919/20 die Dividenden- ausschüttung nur noch 11,6 Prozent des Gesamtkapitals dieser Gesellschaften be- trug593. Die Kapitalnot war bereits zu diesem Zeitpunkt so weit fortgeschritten, daß hinreichende Rückstellungen und Abschreibungen nicht mehr getätigt wer- den konnten. Die Dividendeneinkommen schrumpften weiter. Das Statistische Reichsamt stellte fest, daß sie in Gold im Jahr 1922 auf weniger als ein Fünfzigstel derjenigen der Vorkriegszeit zusammengeschmolzen waren594. Die Dividenden waren praktisch wertlos geworden. Carl Friedrich von Siemens erläuterte einem ausländischen Korrespondenten Anfang 1923, daß man die Dividenden aus der Portokasse zahlen könne595. Die Buchgewinne entpuppten sich häufig als Schein- gewinne596. In einer Überprüfung von 360 Aktiengesellschaften wurde festge- stellt, daß sich deren Kassenbestand von 1913 bis 1922 auf durchschnittlich den viertausendsten Teil verringert hatte597. Durch die Entwertung des Betriebskapitals litt die Industrie unter einer immer größer werdenden Kredit- und Kapitalnot, die die für Deutschland ohnehin typi- sche hohe Konzentration und Kartellierung weiter vorantrieb. Da die Banken die Zinssätze in die Höhe schraubten, zogen viele Unternehmen den Weg der Kapital- erhöhung durch die Ausgabe von Vorzugsaktien ohne Stimmrecht vor, was jedoch zu einer Verwässerung des Aktienkapitals führte598. Unter diesen Bedingungen konnte es in Deutschland keine Investitionskonjunktur während der Inflation ge- ben599. Investitionen in fast allen Industriesektoren - der Textil- wie der Maschi- nenbauindustrie, der Chemie- wie der Stahlindustrie, der Werft- wie der Automo- bilindustrie - wurden auf das Notwendigste begrenzt und blieben fast immer hin- ter denen der Vorkriegszeit zurück600. Nicht selten waren Investitionen zu Fehl-

Vgl. Wiel, Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebietes, S. 127, 227 und 238. 5« ACDP, 1-220-043/7, Stinnes an Tirpitz, 16. 8. 1921. 5,3 Vgl. Kapital und Arbeit, Wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern vom 21.10. 1921. 594 Vgl. Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Deutschlands Wirtschaftslage, S. 38. 5« Vgl. SAA, 4 Lf 533, Interview Carl Friedrich von Siemens' vom 17.2. 1923. 5" Vgl. Lindenlaub, Maschinenbauunternehmen, S. 65, 124; Ferguson, Paper and Iron, S. 412f. 5,7 Vgl. Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 294. 598 Vgl. u.a. AEG, Geschäftsbericht über das Geschäftsjahr vom Juli 1921 bis 30. Juni 1922, S. 12f.; Buschmann, Unternehmenspolitik, S. 390, 395; StAC, 31136, Baumwollspinnerei Flöha Nr. 1337, Baumwollspinnerei Flöha an den Aufsichtsrat der Georg Liebemann Nachf. A.G. 20.11. 1922; Schäfer, Bürgertum in der Krise, S. 373; VSI, Teuerung und Arbeitslosigkeit, S. 49; vgl. auch die Zusammenstellung über Kapitalerhöhungen der deutschen Aktiengesellschaften in den Jahren 1913-1922, in: Wirtschaft und Statistik 3, 1923, S. 220. 5,9 Holtfrerich liefert für seine Behauptung, daß es eine solche Investitionskonjunktur gegeben habe, keinerlei empirische Belege, vgl. Holtfrerich, Die deutsche Inflation, S. 202. 600 Vgl. u.a. Aus dem Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr vom 1. Juli bis 30. Juni 1922, Kruppsche Mitteilungen Nr. 43 vom 9.12. 1922, S. 214; Wiegmann, Textilindustrie, S. 159; Lindenlaub, Ma- schinenbauunternehmen, S. 24-48 und 226; Flik, Von Ford lernen?, S. 152; Mertelsmann, Zwi- 504 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen allokationen führende Notmaßnahmen, um Papiergeldüberschüsse vor dem Wertverfall zu bewahren. Die Preiskalkulation wurde insbesondere bei längeren Lieferfristen erschwert, so daß zur Sicherung der Vermögenssubstanz zunächst die Wiederbeschaffungskosten als Kalkulationsgrundlage dienten, die jedoch mit fortschreitender Inflation keinen Schutz vor Vermögensverlusten mehr boten, weil sie zur reinen Spekulation wurden. Deshalb wurden häufig in die Kaufver- träge Vereinbarungen über Gleitpreise und Risikozuschläge aufgenommen601. Eine solide Kalkulationsbasis bot nur noch die Abwicklung des Geschäftsver- kehrs in ausländischer Währung, die allerdings durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 12. Oktober 1922 im innerdeutschen Zahlungsverkehr und bei Preisfestsetzungen im Inland untersagt wurde602. Wie nicht anders zu erwarten, war dem RDI dieses Verbot ein Dorn im Auge. Die den Markverfall verstärkende Flucht in die Devisen erfolgte weit weniger in der Hoffnung auf Spe- kulationsgewinne als zur Sicherung des Vermögens und der Ansammlung von Re- serven für Notfälle. Die Exporte deckten seit Beginn der Hyperinflation kaum mehr die nötigen Kosten für die Rohstoffeinfuhren. Die Exporterlöse für Fertig- fabrikate waren jetzt häufig geringer als die Kosten für die zur Fabrikation ver- wendeten eingeführten Rohstoffe603. Das Ausmaß der Kapitalverluste zeigte sich erst bei den Goldmarkeröffnungsbilanzen. Weil ihnen das Eigenkapital fehlte, konnten viele Unternehmen Investitionen nur noch aufgrund ausländischer Bankkredite tätigen, was sich in der Weltwirtschaftskrise geradezu ruinös auswir- ken sollte. Wenn der Großteil der deutschen Unternehmer die durch die Inflation herauf- beschworene nahende Krise erkannte, warum unterstützte er dann den Staat nicht in seinen Bemühungen, die Währung zu stabilisieren? Warum stellte er sich so ve- hement gegen die vom ADGB geforderte Erfassung der Sachwerte? Weil die Mehrzahl der deutschen Unternehmer, ungeachtet des Opfers, das der Industrie auferlegt worden wäre, sich keinen Erfolg von diesen Stabilisierungsplänen ver- sprach. Carl Friedrich von Siemens führte im Reichswirtschaftsrat vor Augen, daß selbst die Erfassung von 20 Prozent des in den Aktiengesellschaften investierten Kapitals nur dazu ausreiche, eine halbe Jahresrate der im Londoner Ultimatum festgelegten Reparationszahlungen zu decken604. Die ohnehin schon zu Kapital- erhöhungen gezwungenen Aktiengesellschaften hätte der Entzug von Aktienka- pital in noch größere Kapitalnot gebracht. Auch die Befürworter der Kreditaktion der deutschen Industrie unter den Unternehmern verbanden damit keine hohen

sehen Krieg, Revolution und Inflation, S. 246; Hackenholz, Die elektrochemischen Werke Bitter- feld, S. 147. 601 Vgl. u.a. VSI, Bericht über die 18. ordentliche Hauptversammlung des Verbandes Sächsischer In- dustrieller am 3. 5.1922, S. 10; Wiegmann, Textilindustrie, S. 156 f.; Lindenlaub, Maschinenbauun- ternehmen, S. 98 f.; AEG, Geschäftsbericht über das Geschäftsjahr vom Juli 1921 bis 30. Juni 1922, S. 8; Flik, Von Ford lernen?, S. 142; Buschmann, Unternehmenspolitik, S. 376-378; Schäfer, Bür- gertum in der Krise, S. 369. 602 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 375, Drucksache Nr. 5054. 603 Vgl. Sitzung des Reichsbankkuratoriums vom 26. 9. 1922, in: AdR, Die Kabinette Wirth I und II, Bd. 2, S. 1107; BAB, R 601, Nr. 732, Reichswirtschaftsministerium, Bericht über die wirtschaftli- che Lage Deutschlands in den Monaten Juni bis November 1922, S. 17. 604 Vgl, Protokolle über die Verhandlungen des Vorläufigen Reichswirtschaftsrates, Bd. 1, S. 993 (Sit- zung am 14. 9. 1921). IV. Inflation und Deflation 505

Erwartungen. So stellte beispielsweise Carl Dulsberg rückblickend fest: „Aus der vom Reichsverband der Deutschen Industrie auf Grund des Münchener Beschlus- ses von allen Seiten so freudig begrüßten Kreditaktion wurde leider aus politi- schen Erwägungen nichts. Im Fall der Verwirklichung hätte sich dann für unsere Freunde im Innern, die Schwärmer für die Erfassung der Goldwerte, und für un- sere Gegner draußen, die Verfasser des Versailler Friedensvertrages, gezeigt, wie hoch die Finanzwelt des Auslandes noch den Kredit der deutschen Industrie ein- schätzte und wieviel Goldmilliarden wir mit nach Hause hätten bringen kön- nen."605 Im Sommer 1922 erkannten selbst Sozialdemokraten, daß die im Juli vom Reichstag beschlossene Zwangsanleihe aufgrund der Kapitalknappheit der Unter- nehmen in ihrem ursprünglichem Umfang nicht mehr durchführbar sei606.

Temporäre Arbeitslosigkeit, Reallohnverluste und Hunger Das Gespenst vom Bolschewismus infizierter Arbeitsloser, das Stinnes immer wieder an die Wand malte, um die Notwendigkeit des Anheizens der Notenpresse zu rechtfertigen, schreckte dessen Unternehmerkollegen kaum. Die eine Million Vollarbeitslose und die 1,5 Millionen Kurzarbeiter, die es trotz Inflation im zwei- ten Halbjahr 1920 gegeben hatte607, waren den Parolen der Kommunisten weit weniger gefolgt, als diese sich das erhofft hatten, wenn es auch - wie bereits er- wähnt - zu einigen gewalttätigen Demonstrationen kam. Ursache für die Arbeits- losigkeit war eine Absatzkrise, die zum Teil auf die Verbesserung der Valuta zu- rückzuführen ist, hauptsächlich aber durch den Verlust der Kaufkraft der breiten Masse der Bevölkerung verursacht wurde, der in der zeitgenössischen Terminolo- gie irreführend „Käuferstreik" genannt wurde608. Zu den Krisenregionen zählten die Großstädte Hamburg und sowie Sachsen, wo im Vogtland die Spitzen- und Stickereiindustrie vollständig zum Stillstand gekommen war. Allein in Plauen gab es 12 000 Arbeitslose609. In den drei genannten Krisenregionen lebten fast drei Viertel aller unterstützten Arbeitslosen610. "Wie in Frankreich war auch in Deutschland die Textilindustrie am härtesten von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit betroffen. Im Juni 1920 zählte der Textilarbeiterverband beispielsweise für den Gau über 25155 arbeitslose Gewerkschaftsmitglieder. Uber 64000 Mit- glieder arbeiteten weniger als 30 Stunden pro Woche611. Das hieß, daß über die Hälfte der dortigen Textilarbeiter von Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit betroffen waren. Im Januar 1921 arbeiteten in ganz Deutschland noch immer 14,5 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Textilarbeiter und 12,3 Prozent der Textil- arbeiterinnen kurz und selbst nach dem Anziehen der Konjunktur im Frühjahr 1921 war Kurzarbeit in der Textilindustrie noch verbreitet. In der ZAG wurde die

605 Dulsberg, Meine Lebenserinnerungen, S. 127. 606 Vgl. die Ausführungen Hermann Müllers auf dem sozialdemokratischen Parteitag in Augsburg am 19. 9. 1922, in: Protokoll der Sozialdemokratischen Parteitage in Augsburg, Gera und Nürnberg 1922, S. 47. 607 Zahlen nach Lewek, Arbeitslosigkeit, S. 99. 608 Vgl. SHStAD, Sächsische Gesandtschaft Nr. 1630, Sächsische Gesandtschaft an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Dresden, 20. 9. 1920; ferner Song, Staatliche Arbeitsmarkt- politik, S. 185. «» Vgl. Feldman, , S. 125. 610 Vgl. Song, Staatliche Arbeitsmarktpolitik, S. 203. 611 Vgl. Deutscher Textilarbeiterverband, Jahrbuch 1920, S. 88. 506 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Zahl der Kurzarbeiter in der Textilindustrie im Juli 1921 auf 23 Prozent veran- schlagt612. Es dürfte an dem hohen Frauenanteil in der Textilindustrie gelegen ha- ben, daß der Aufruf des Textilarbeiterverbandes, „auf die Schanzen" zu gehen und für eine Neuorganisation der Textilarbeiterfürsorge zu demonstrieren613, weitge- hend ungehört blieb. Sowohl die Vollzeitarbeitslosen als auch die Kurzarbeiter mußten ein Leben fri- sten, das weit unter dem Existenzminimum lag. In Berlin konnte ein Arbeitsloser nicht einmal die Hälfte seiner Lebenshaltungskosten mit der Erwerbslosenfür- sorge decken614. Die Erhöhungen der Erwerbslosenfürsorge reichten keineswegs aus, um den inflationären Preisanstieg auszugleichen. Zudem muß davon ausge- gangen werden, daß die Zahl der nicht unterstützten Arbeitslosen doppelt so hoch war wie die der unterstützten615. Die Arbeitgeber lehnten Ende 1921 die Forde- rung des ADGB, sich mit einer Konjunkturabgabe an der Unterstützung der Ar- beitslosen zu beteiligen, ab616. Für völlig inakzeptabel hielten sie auch das Pro- gramm des ADGB gegen Arbeitslosigkeit vom Februar 1921, in dem neben der Einführung einer produktiven Erwerbslosenfürsorge eine Arbeitsstreckung ver- langt wurde, wobei allen Kurzarbeitern ein Teil des Lohnausfalls durch die Ar- beitgeber ersetzt werden sollte. Das Nein konnte mit der „geringen Leistungsfä- higkeit vieler Betriebe" begründet werden. Entgegenkommen wollte man allen- falls dort zeigen, wo Interesse an der Erhaltung eines „Facharbeiterstammes" be- stand617. Der Demobilmachungskommissar konnte zwar auf der Grundlage der bereits erwähnten Demobilmachungsverordnung vom Februar 1920 eine Arbeits- streckung anordnen. Diese war aber für die Betriebe mit erheblichen Unkosten verbunden618. Das Arbeitslosenproblem löste sich indes relativ rasch. Nach der im Frühjahr 1921 beginnenden Scheinkonjunktur war bald schon nicht mehr die Ar- beitslosigkeit, sondern der Arbeitermangel das Hauptproblem. Wer unter Hin- weis auf diese Entwicklung die Hinnahme der inflationären Entwicklung legiti- mierte, übersah, daß die Nachfrage nach Arbeitskräften nur etwa ein Jahr andau- erte, ein Einbruch der Konjunktur bei anhaltender Inflation aber katastrophale Folgen hatte, weil die sich ständig verringernden Leistungen der Arbeitslosenun-

Vgl. Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, Der Textil-Arbeiter vom 25.2. 1921; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 15036, Regierungspräsident Grützner an den Vertreter der Rheinlandkommis- sion, 7.6. 1921; ACDP, 1-220-007/2, Niederschrift über die Sitzung des Zentralvorstandes der ZAG am 7. 7. 1921. 6,3 Vgl. An die deutsche Textilarbeiterschaft, Der Textil-Arbeiter vom 25. 6. 1920. 614 Vgl. Führer, Arbeitslosigkeit, 445-450; Dettmer, Arbeitlose in Berlin, S. 108 f. Niehuss, Lebens- weise und Familie, S. 249. 615 Vgl. Lewek, Arbeitslosigkeit, S. 99. 616 Vgl. ACDP, 1-220-007/3, Niederschrift über die Sitzung des geschäftsführenden Vorstandes der ZAG am 2. 12. 1921. 617 Zu dem Arbeitslosenprogramm des ADGB vgl. Zehn Forderungen zur Behebung der Arbeits- losigkeit an Reichsregierung und Reichsparteien vom 26.2. 1921, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 285-288; zum Nein der Arbeitgeber vgl. BAB, R 3901, Nr. 33292, Schreiben des RDI an das Reichsarbeitsministerium, 10.4. 1920; SAA, 11 Lf 300, Fritz Tänzler, Stichworte für die Besprechung mit dem Herrn Arbeitsminister am 1. 3. 1921. 618 Die Verordnung vom Februar 1920 wurde durch die Stillegungsverordnung vom 8.11. 1920 er- gänzt, die den Verkauf von Produktionsmitteln an das Ausland verhindern sollte und einen Teil der Beschäftigten in den Vorteil einer vierwöchigen Entlassungssperre brachte. Vgl. Preller, Sozi- alpolitik in der Weimarer Republik, S. 237. IV. Inflation und Deflation 507 terstützung die von Arbeitsverlust oder -einschränkung Betroffenen - zumal wenn sie Familie hatten - zu einem Leben in sozialem Elend verurteilte. Und sie waren beileibe nicht die einzigen, die kaum mehr wußten, wie sie ihren Lebens- unterhalt bestreiten sollten. Neben den Arbeitslosen waren es die Kriegsinvaliden und Hinterbliebenen so- wie die Sozialrentner, die unter dem Anheizen der Notenpresse am meisten litten. Die unter der Inflation zusammenbrechenden Versicherungssysteme konnten ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen und sollten noch während der Weltwirtschaftskrise unter den Folgen dieses Ruins leiden619. Mit der Invaliden- und Altersrente ließ sich der Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten und kein geordneter Hausstand mehr führen. Ende 1920 erhielt ein Invalidenrentner nur noch fünf bis zehn Pro- zent eines Tagelohnes. Auch durch die Beitragserhöhungen im Dezember 1920 und im Juli 1921, die von Seiten der Arbeitgeber als „Wucher" gebrandmarkt wur- den, konnte das marode Versicherungssystem nicht mehr gerettet werden. Die gewerkschaftlichen Appelle, die Renten den Preissteigerungen anzupassen, waren angesichts der unter schweren Substanzverlusten leidenden Kassen wenig reali- stisch620. Mit dem Gesetz über Notstandsmaßnahmen für Rentner der Invaliden- und Angestelltenversicherung vom 7. Dezember 1921 wurde den Gemeinden die Last auferlegt, eine Sonderfürsorge für die Sozialrentner einzurichten. Da die Renten immer bedeutungsloser wurden, entwickelten sich die Sozialrentner zu einem Fürsorgefall. Karl Christian Führer stellt zutreffend fest: „Die Jahre der Inflation müssen [...] für die Mehrheit der alten Menschen in Deutschland eine Zeit extremer Not gewesen sein. In der Sozialgeschichte des Alters markieren sie in diesem Jahrhundert einen Tiefpunkt, da sich das Problem der Altersarmut bis zur Bedrohung der nackten Existenz der Rentner verschärfte."621 Die weiterhin bestehende Nahrungsmittelknappheit und die enorme Steige- rung der Lebensmittelpreise ließen freilich nicht nur Erwerbslose und Rentner, sondern weite Kreise der Bevölkerung unter Hunger leiden. Nach dem weitge- henden Abbau der Zwangsbewirtschaftung, der zahlreiche Lebensmittelpreise auf Schwarzmarktniveau steigen ließ, kam es im Sommer 1920 in ganz Deutschland wiederum zu Hungerprotesten, Lebensmittelkrawallen und Plünderungen von Geschäften. In Zittau mußte der Belagerungszustand verhängt werden, weil dort im Anschluß an Lebensmittelunruhen der Generalstreik propagiert wurde622. Im Hamburg kam es zum Einsatz von Truppen, der mehreren Menschen das Leben kostete623. Auch in Würzburg, Ulm und Ravensburg gab es Tote, als Demonstran- ten dort die Rathäuser und Oberamtmanngebäude zu stürmen versuchten624. Im Gegensatz zu 1919, wo Noske noch an der Spitze des Reichswehrministeriums

Vgl. hierzu Feldman, The Fate of the Social Insurance System, S. 433^47. 620 Vgl. Die Vorstände von ADGB, AfA-Bund und Gewerkschaftsring an die Reichsregierung, 27. 8. 1921, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 380-382. 62' Führer, Für das Wirtschaftsleben „mehr oder weniger wertlose Personen", S. 179. 622 Vgl. SHStAD, Ministerium des Innen, Nr. 11105, Bericht über die Vorgänge in Zittau am 30. Juli 1920 und den nachfolgenden Tagen erstattet von Oberbürgermeister Dr. Külz. 623 Vgl. Feldman, Great Disorder, S. 225. 624 Vgl. Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen, S. 328; Die Urheber der Lebensmittelunru- hen, Die Freiheit vom 30. 6. 1920; zu den Lebensmittelkrawallen der Chemiearbeiter in Höchst und Oppau vgl. Patton, Flammable Material, S. 184 und 253. 508 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen stand, übte allerdings die Regierung diesmal Zurückhaltung bei dem Einsatz von Gewalt, so daß die von Plünderungen Betroffenen über den mangelnden Schutz Klage führten. In mehreren Gemeinden beteiligten sich die Bürgermeister und Gemeindebehörden an der Bildung von Preisabbaukommissionen, die die Kauf- leute und Händler oft unter Androhung von Gewalt nötigten, Preisabschläge vor- zunehmen625. Auch die Gewerkschaften, Betriebsräte und politischen Parteien organisierten Teuerungsdemonstrationen. Die KPD unterstützte diese Aktionen nur halbherzig und äußerte wie auch die USPD sogar den Verdacht, daß sie von „Provokateuren" angezettelt worden seien. Sie folgte damit dem Oktroi Moskaus, das immer wieder mahnte, auf keinen Fall Hungerkrawalle anzuzetteln, die nur vom großen Endziel der Revolution ablenken konnten, was u.a ein Grund dafür gewesen sein mag, daß bis zum Beginn der Hyperinflation keine weiteren Hun- gerunruhen ausbrachen626. Die Regierungen waren sich durchaus bewußt, daß die Versorgungskonflikte wie schon im Krieg eine große soziale Sprengkraft besaßen. Die Verteuerung des Brotes, das noch bis Oktober 1923 der Bewirtschaftung unterlag, und die sowohl im Herbst 1920 als auch 1921 herrschende Kartoffelnot entwickelten sich zu einem Politikum ersten Ranges. Nach Angaben von Reichsernährungsminister Hermes hatte die Regierung im Haushaltsrechnungsjahr 1920 allein 27 Milliarden Mark zur Subvention von Brotgetreide und Kartoffeln aufgewandt627. Die staatli- che Subventionierung wäre noch höher gewesen, wenn nicht die sogenannte Ge- treideumlage, die die Landwirte zum Verkauf einer festgelegten Getreidemenge unter dem Marktpreis zwang, die staatlichen Finanzen entlastet hätte. Die Umlage war allerdings so umstritten, daß sie im Juni 1922 fast zum Zerplatzen der Regie- rungskoalition geführt hätte. Die SPD hatte im Falle eines Scheiterns der Getrei- deumlage mit dem Austritt aus der Regierung gedroht und auch zu Massenver- sammlungen gegen den „Brotwucher" aufgerufen628. Die Subventionierung von Lebensmitteln wie auch Textilien und Schuhen riß riesige Löcher in den Reichs- haushalt, und so heizte das Bemühen, die Teuerung zu stoppen, die Inflation wei- ter an. Arbeitgeber wie auch Gewerkschaften - die freilich gegen jede Brotver- teuerung Sturm liefen629 - machten die Regierung für das Haushaltsdefizit und die damit verbundene inflationäre Entwicklung verantwortlich und nahmen damit die Feststellung Knut Borchardts, daß die Inflation ein „primär politisches Phäno- men" gewesen sei, vorweg630.

625 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 112258, Deutscher Industrie- und Handelstag an den Reichskanzler, 5. 8. 1920. «6 Vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/10/52, Radek an Thalheimer, Heckert u.a., 28. 12. 1921; Kontos, Die Partei kämpft wie ein Mann, S. 210. 627 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, Bd. 346, 42. Sitzung am 6. 12. 1920, S. 1474; ferner: Kerstingjohänner, Die deutsche Inflation, S. 171. 628 Vgl. Kampfbereitschaft, Vorwärts vom 20. 6. 1922; Volk, wehr Dich! Abrechnung mit Katastro- phenpolitik und Brotwucher, Vorwärts vom 23. 6. 1922. 629 Vgl. z.B. die in der Sitzung des Bundesausschusses vom 16.-18. 8. 1921 verfaßte Resolution gegen die Brotverteuerung, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 354 f. 630 Vgl. Borchardt, Zwangslagen und Handlungsspielräume, S. 157; vor allem der Metallarbeiterver- band nannte es „beschämend", daß die Regierung sich nicht um einen Haushaltsausgleich bemühe und so die Inflation vorantreibe. Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1922, S. 26 f. IV. Inflation und Deflation 509

Die Regierung hatte jedoch kaum eine Alternative, denn eine Verschärfung der Zwangswirtschaft, wie sie von Teilen der MSPD und vor allem der USPD gefor- dert wurde631, war politisch nicht durchsetzbar und hätte erneut den Schwarz- markt aufblühen lassen. Ohne ein künstliches Niederhalten der Lebensmittel- preise hätten wiederum die Löhne auf eine Höhe gesteigert werden müssen, die den Staat als Arbeitgeber vermutlich zu noch größeren Aufwendungen gezwun- gen hätte. Kartoffeln und Brot waren zudem die beiden Lebensmittel, mit denen die große Masse der arbeitenden Bevölkerung, die Hermes zu Recht als „unter- ernährt" bezeichnete632, ihren Hunger zu stillen versuchte. Hatten die Ausgaben für Fleischwaren und Fische im Lebensmittelbudget einer Arbeiterfamilie vor dem Krieg etwa 30 Prozent, für Kartoffeln hingegen nur 3,5 Prozent ausgemacht, so lagen die Ausgaben für die beiden erstgenannten Lebensmittel aufgrund des erzwungenen Konsumverzichts nach dem Krieg bei etwa elf Prozent633. Doch selbst der Kartoffelverbrauch hatte sich stark verringert. Hatte der jährliche Pro- Kopf-Verbrauch an Kartoffeln 1913/14 noch 700 kg betragen, so sank er 1921/22 auf 340 kg. Der Brotverbrauch war um 27 Prozent gefallen. Der Fleischverbrauch hatte sich von rund 43 kg im Jahr 1913 auf ungefähr 26 kg 1922 reduziert, der Bier- verbrauch von 102 Litern auf 51. Südfrüchte und Kaffee waren zu unerschwing- lichen Luxusartikeln geworden. Katastrophale Folgen für die Gesundheit der Kinder hatte das Sinken des Milchverbrauchs von 408 Litern im Jahr 1913 auf 192 Liter 1921634. Das Kinderelend in den großen Städten war unbeschreiblich. Nach dem Jahrbuch der deutschen Krankenversicherung aus dem Jahre 1921 waren 27,8 Prozent der Säuglinge unter dem Alter von einem halben Jahr Rachiti- ker, bei Kindern zwischen einem halben und einem Jahr betrug der Anteil bereits 41,1 Prozent, bei Kindern über zwei Jahren stieg er auf 59 Prozent635. Der Gesundheitszustand der Schüler war um nichts besser. So konnten in Dresden sie- ben Prozent der Knaben und 43 Prozent der Mädchen nach ihrer Schulentlassung „infolge Schwächlichkeit" keine gewerbliche Arbeit übernehmen636. In waren 50 Prozent der Schüler an Tuberkulose und Skrofulöse erkrankt637. In einer Krisenregion wie in Plauen waren von 20 000 Schulkindern über 5000 schwer un- terernährt und 7000 bis 8000 mangelhaft ernährt638. In Duisburg litten fast 60 Pro- zent der Schüler an Unterernährung639. Eine in 20 Städten durchgeführte Enquete ergab, daß 1922 42,5 Prozent der Schulkinder unterernährt die Schulbank drücken

631 So z.B. in der Denkschrift der sächsischen Staatsregierung über die zunehmende Teuerung vom Mai 1922, in: SHStAD, Sächsische Staatskanzlei Nr. 310. 632 Β AB, R 1507, Nr. 112257, Der Reichswirtschaftsminister: Aktenvermerk vom 7. 7. 1920 über die am 3. 7. 1920 im Reichswirtschaftsministerium stattgehabte Besprechung. 633 Vgl. von Tyszka, Die gegenwärtige Ernährungslage des deutschen Arbeiters, S. 1682. 63,1 Vgl. Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Deutschlands Wirtschaftslage, S. 32; Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 319; Die Lage der Arbeiterschaft in Deutschland, S. 68; Milchnot! Ein Kapitel deutschen Elends, Westdeutsche Arbeiterzeitung. Verbandszeitung der katholischen Arbeiter- und Knappenvereine vom 5. 3. 1921. 635 Vgl. Niehuss, Lebensweise und Familie, S. 256. 636 Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1921, Bd. 2, S. 3.114. Beispiele für weitere Städte, S. 3.114-116. 637 Vgl. Verhandlungen des Preußischen Landtages, 168. Sitzung am 30. 9. 1922, Sitzungsberichte des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode, Bd. 9, S. 12214. 638 Vgl. Verhandlungen des Sächsischen Landtages, 1. Wahlperiode, 9. Sitzung am 11. 1. 1921, S. 237. 639 Vgl. Heid u.a., Kleine Geschichte der Stadt Dulsberg, S. 272. 510 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen mußten. Bei zehn Prozent war sogar eine schwere Unterernährung festgestellt worden640. In Berlin war die Ernährungslage nur unwesentlich besser. Im Bezirk Lichten- berg beispielsweise waren 29 Prozent der Volksschüler 1921 mangelhaft ernährt, im Prenzlauer Berg im Herbst 1922 neun Zehntel aller Kleinkinder. In Pankow waren aus gesundheitlichen Gründen 1922 31 Prozent der Knaben und 30 Prozent der Mädchen unfähig, einen Beruf auszuüben641. Harry Graf Kessler sprach von der „Kinderhölle" in Berlin und verwies darauf, daß in der Berliner Charité fünf- mal so viel Kinder mit Rachitis und Tuberkulose lägen als vor dem Krieg642. Häu- fig gingen Kinder ohne Hemd und warme Kleidung in die Schule643. Als der fran- zösische Kommunist Marcel Cachin im Sommer 1920 nach Berlin kam, mußte er ebenso erstaunt wie entsetzt konstatieren, daß die meisten Kinder selbst im Stadt- zentrum barfuß liefen644. Das war in Hamburg nicht anders. Dort hatten nur 58 Prozent der Volksschüler brauchbares Schuhzeug. Die Versorgung mit Hemden und Strümpfen sah nicht viel besser aus645. Die CGT führte dieses Kinderelend in Deutschland, das trotz der dürftigen Lebenshaltung der Arbeiterfamilien in Frankreich mit Betroffenheit registriert wurde, vor Augen, um die eigene Regie- rung von einem Einmarsch ins Ruhrgebiet zur Durchsetzung ihrer Reparations- forderungen abzuhalten646. Es waren aber keineswegs nur die Kinder der Arbeitslosen und der Arbeiter, die der Verelendung ausgesetzt waren. Reichsbankpräsident Havenstein kam auf- grund einer Untersuchung der statistischen Abteilung der Reichsbank im Septem- ber 1920 zu dem Ergebnis, „daß es dem Einzelnen einfach unmöglich ist, seine Einkäufe so wie früher zu machen. Jeder muß sich in allen seinen Bedürfnissen auf das äußerste einschränken und kann nur noch das Unentbehrliche kaufen"647. Die Gewerbeaufsichtsbeamten beschrieben die Situation in ihren Berichten mit ähn- lichen Worten. Stellvertretend für viele sei hier der Bericht über die Kreishaupt- mannschaft Bautzen für das Jahr 1921 zitiert: „Außergewöhnliche Lohnerhöhun- gen hatte die im Berichtsjahre herrschende zunehmende Verteuerung aller Le- bensmittel und Bedarfsgegenstände zur Folge. Es vermochten jedoch die Lohn- und Gehaltssteigerungen mit der fortschreitenden Entwertung der Mark nicht gleichen Schritt zu halten. Es ist demzufolge trotz aller Lohn- und Gehaltserhö- hungen eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der meisten Arbeiter, Angestellten und Beamten eingetreten. Die ungewöhnlich teuren notwendigsten Lebensmittel gaben den wenigsten Arbeitern die Möglichkeit, sich so wie in der Vorkriegszeit zu ernähren. Besonders haben kinderreiche Familien unter der all- gemeinen Teuerung zu leiden."648 Auch Haushaltsrechnungen aus Arbeiterfami-

640 Vgl. Die Lage der Arbeiterschaft in Deutschland, S. 83. 6.1 Vgl. Landwehr, Funktionswandel der Fürsorge, S. 99. 6.2 Vgl. Kessler, Die Kinderhölle in Berlin, in: ders., Künstler und Nationen, S. 214-219. 6,î Vgl. Gustav Böß, Kinderelend, in: ders., Beiträge zur Berliner Kommunalpolitik, S. 20-24. «4 Vgl. Cachin, Carnets, Bd. 2, S. 409. 645 Vgl. Niehuss, Lebensweise und Familie, S. 259. 646 Vgl. La question de la Ruhr, La Voix du Peuple, Januar 1921, S. 56-69. 647 SHStAD, Sächsische Gesandtschaft Nr. 1630, Sächsische Gesandtschaft an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten Dresden, 20. 9. 1920. 648 Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1921, Bd. 2, S. 3.179; vgl. auch S. 3.222; Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für IV. Inflation und Deflation 511 lien machen deutlich, daß die Einkommen von Arbeiterfamilien mit Kindern nicht mehr zur Deckung der Ausgaben reichten649. Die in der wissenschaftlichen Forschung teilweise aufgestellte Behauptung, die Reallöhne seien während der Inflation - zumindest bis zur Hyperinflation - gestiegen650, beruhen entweder auf der falschen Prämisse, der Reichsindex für die Lebenshaltungskosten sei in der Nachkriegszeit derselbe geblieben wie in der Vorkriegszeit, oder unterschätzen zumindest den Tatbestand, daß der dem Reichsindex zugrundliegende Warenkorb der eingeschränkten Lebenshaltung der Nachkriegszeit angepaßt wurde. Es muß jedoch davon ausgegangen werden, daß der vom Reichsamt für Statistik konstruierte Lebenshaltungsindex für eine fünf- köpfige Familie, der vor allem den Schlichtern die Arbeit erleichtern sollte, unge- fähr 14-15 Prozent unter dem Konsumniveau der Vorkriegszeit lag. Zudem wur- den Ausgaben für Kleidung, Bildung, Steuern und Versicherung bei der Berech- nung nicht berücksichtigt651. Die von Calwer ermittelten Teuerungsziffern lagen in der Regel um mindestens 30—40 Prozent höher als die des Reichsindexes, wäh- rend Robert Kuczynski niedrigere Ziffern als das Statistische Reichsamt nannte652. Die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hielt indes auch den einge- schränkten Warenkorb des Statistischen Reichsamtes noch für viel zu üppig. Nach ihrem Dafürhalten mußte vom wöchentlichen Ernährungsbedarf eines Mannes ausgegangen werden, bei dem keine Ausgaben für Milch und nur für ein Ei anfie- len und der Fleischverbrauch in sieben Tagen 119 Gramm nicht überschritt. Au- ßerdem durften 238 Gramm Schellfische und 125 Gramm Salzheringe konsumiert werden653. Wir werden noch sehen, daß die patrons in Frankreich einen ähnlichen Kampf um die Reduzierung des Warenkorbs führten wie die deutschen Arbeitge- ber, die geradezu darauf insistierten, daß es ihnen, wollten sie ihre Konkurrenz- fähigkeit erhalten, unmöglich sei, einen „Friedensreallohn" zu zahlen654. Eine exakte Erfassung der Reallohnentwicklung erschwert nicht nur die um- strittene Berechnung des Lebenshaltungsindexes, sondern auch das Fehlen einer amtlichen Statistik über die Effektivlöhne. Eine amtliche Lohn- und Gehaltserhe- bung wurde nur für Februar 1920 durchgeführt, da sich die Unternehmer der Ein-

das Jahr 1922, Bd. 1, S. 1.344; Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1920, Bd. 2, S. 3.67 und 3.149. 649 Vgl. Feldman/Niehuss, Haushaltsrechnungen aus der Inflationszeit, S. 271; Werner Abelshausers Behauptung, daß sich in den Haushaltsrechnungen von Arbeiterfamilien keine Anzeichen für eine fortschreitende Verelendung finden, entbehrt jeder empirischen Grundlage. Selbst sein aufgrund der Datenerhebung schon problematischer Vergleich des Nahrungsmittelverbrauchs in deutschen und schweizerischen Haushalten beweist das Gegenteil des Gewollten. Der Milchverbrauch war in der Schweiz ungefähr viermal so hoch wie in Deutschland. Daß bei den Kartoffeln der umge- kehrte Fall vorlag, demonstriert anschaulich, daß die Kartoffel in Deutschland zum Hauptnah- rungsmittel geworden war. Vgl. Abelshauser, Verelendung der Handarbeiter?, S. 465. 650 So vor allem Holtfrerich, Die deutsche Inflation, S. 229. 651 Vgl. Scholz, Lohn und Beschäftigung, S. 287f.; vgl. auch Flemming/Witt, Einkommen und Aus- kommen „minderbemittelter Familien" vor dem 1. Weltkrieg. Probleme der Sozialstatistik im Deutschen Kaiserreich, Vorwort zu: Erhebung von Wirtschaftsrechnungen minderbemittelter Familien im Deutschen Reiche. Haushaltsrechnungen von Metallarbeitern, S. XLIIIf. 652 Die unterschiedlichen Teuerungszahlen Calwers, Kuczynskis und des Statistischen Reichsamtes sind wiedergegeben in: DMV, Jahr- und Handbuch 1921, S. 13. 653 Vgl. VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1922, S. 53 f. Die VDA lehnte den vom statistischen Landesamt in Hamburg konstruierten Warenkorb ab. Vgl. VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1922, S. 92 f. 512 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen führung eines „Eillohndienstes" widersetzten und auch die ZAG erhebliche Zweifel an der Brauchbarkeit einer Lohnstatistik für die Tarifverhandlungen äu- ßerte655. Ganz offensichtlich fürchteten auch die Gewerkschaften eine Einengung ihrer Kampfkraft durch eine amtliche Statistik. Allgemein muß von starken Unterschieden und einem erheblichen Schwanken der Effektiv- und damit auch der Reallohnverdienste ausgegangen werden, wobei die Entwicklungen in den einzelnen Industriesektoren und auch Städten stark dif- ferierten. Auch die Akkordpolitik einzelner Betriebe verhinderte die Übersicht- lichkeit der Lohntarife und eine einheitliche Lohnpolitik656. Eindeutig war, daß die Bergarbeiter des Ruhrgebietes ihre in der Vorkriegszeit innegehabte Spitzen- position bei den Löhnen verloren hatten. Selbst unter Zugrundelegung der Reichsindexziffern für die Lebenshaltungskosten lagen die Reallohnverdienste (einschließlich Soziallohn und Uberschichtenzuschläge) für Hauer und Schlepper in den Jahren 1920-1922 stets unter denen der Vorkriegszeit. In der Phase der „re- lativen Stabilisierung" stiegen sie allerdings an und überschritten von August 1920 bis Juni 1921 stets die 90-Prozent-Marke. Seit 1922 fielen sie auf unter 80 Prozent der Vorkriegsreallohnverdienste. Mit Anbruch der Hyperinflation im August 1922 brachte ein Bergarbeiter nur noch 53,1 Prozent seines Vorkriegsreallohnes mit nach Hause657. Durch das Zurückbleiben der Löhne wie auch durch das Feh- len von Bergarbeiterwohnungen verlor der Bergbau als Arbeitsplatz an Attrakti- vität und war einer starken Fluktuation ausgesetzt. Die festangestellten Schauerleute im Hamburger Hafen hatten ebenfalls Grund, ihren Vorkriegsverdiensten nachzutrauern. Ihre Reallöhne lagen allenfalls in eini- gen Monaten der ersten Jahreshälfte 1921 über dem Vorkriegsniveau658. Auch die Wochenlöhne der gelernten wie der ungelernten Chemiearbeiter bei Höchst er- reichten während der Inflationsjahre nicht den Vorkriegsstand. Anders als bei den Bergarbeitern kletterten die Löhne der Chemiearbeiter aber bei Ausbruch der Hyperinflation nach oben und die Frauenlöhne überschritten nun sogar das Vor- kriegsniveau - freilich nur unter Zugrundelegung des amtlichen Reichsindexes für die Lebenshaltungskosten. Die Leuna-Arbeiter verdienten besser als ihre Kolle- gen bei Hoechst. Die gelernten Arbeiter hatten laut der Reallohnstatistik von Pat- ton während der Phase der „relativen Stabilisierung" in einigen Monaten gering- fügig höhere Löhne als vor 1914, während die ungelernten Arbeiter 1921 am Wo- chenende durchweg 10-20 Prozent mehr in der Lohntüte fanden als in der Vor- kriegszeit. Allerdings geht auch Patton vom amtlichen Warenkorb aus659. In der Maschinenbauindustrie differierte die Reallohnentwicklung stark. Die Firmendi- rektion des MAN-Werkes in Augsburg konnte - wenn sie den eingeschränkten Warenkorb des Reichsindexes für Lebenshaltungskosten bewußt ignorierte - be- haupten, daß ihre Beschäftigten im Frühjahr 1921 und im Sommer 1922 mehr als

Vgl. BAB, R 8104, Nr. 48, ZAG an Reichsarbeitsminister, 10. 12. 1919; Scholz, Lohn und Beschäf- tigung, S. 305; zu der Lohnerhebung vom Februar 1920 vgl. auch Ergebnisse der amtlichen Lohn- erhebung, in: Wirtschaft und Statistik 1, 1921, S. 29-32. Vgl. Winschuh, Praktische Werkspolitik, S. 106-108. 657 Vgl. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 185 ff. 658 Vgl. Weinhauer, Alltag und Arbeitskampf, S. 150. Vgl. Patton, Flammable Material, S. 335 ff. IV. Inflation und Deflation 513

vor 1914 verdienten. In der Maschinenfabrik Esslingen traf dies offensichtlich nur für den Juli 1922 zu660. Schon dieser grobe Uberblick belegt, daß von einer allgemeinen Reallohnstei- gerung während der Inflationszeit in Deutschland keine Rede sein kann. Zudem muß berücksichtigt werden, daß es sich bei den angeführten Beispielen um Ak- kordarbeiter handelte, die besser bezahlt wurden als die im Zeitlohn Beschäftig- ten, zumal als sich im Sommer 1921 ein Facharbeitermangel abzeichnete. Die Minderheit der Arbeiter, die vom Zeitlohn leben mußte und nach Tarif bezahlt wurde, fristete ein Dasein weit unter dem Existenzminimum, wie das folgende Beispiel eines Berliner Metallarbeiters zeigt:

Tabelle 6; Tarifmäßiger Wochenlohn eines volljährigen verheirateten gelernten Metallarbei- ters mit zwei Kindern in Berlin im Vergleich mit den gestiegenen Lebenshaltungs- kosten (1914-1922)^

Zeitpunt Wochenlohn Wochenlohn Wöchentliche Monatliche absolut in (Juli 1914 = 100) Kostendes Lebenshaltungskosten Mark Ernährungs- einer 5köpfigen Familie bedarf s 1914 = 100 in Berlin

1914 42,44 100 100 100 April 1920 254,25 599 1676 913 November 1920 291,45 687 1518 903 Oktober 1921 406,80 959 1871 1309 Januar 1922 673,73 1496 2405 1563 Mai 1922 1001,00 2388 4167 3087

Ein im Tariflohn beschäftigter gelernter Berliner Metallarbeiter mußte nach diesen Zahlen 1920 mehr als doppelt so lang wie in der Vorkriegszeit arbeiten, um seinen Ernährungsbedarf zu decken. Auch in den späteren Jahren blieb die Steigerung des Tariflohnes mit Ausnahme von Januar 1922 38 bis fast 50 Prozent hinter der der Ernährungskosten zurück. Im Januar 1922 konnte er zwar mit seinem Lohn die Lebenshaltungskosten zu rund 95 Prozent, also nahezu vollständig bestreiten, im Mai blieb aber der Tariflohn eindeutig hinter der Steigerung der Lebenshal- tungskosten zurück. Wie in anderen Industriesektoren auch erzielten die stärk- sten Lohnsteigerungen die ungelernten Metallarbeiter. Ein ungelernter verheira- teter Berliner Metallarbeiter konnte seinen durchschnittlichen Wochenlohn bis Januar 1922 um fast das zwanzigfache steigern und sich zumindest zu diesem Zeit-

660 Vgl, Lindenlaub, Maschinenbauunternehmen, S. 235. 661 Die Statistik beruht auf folgenden Quellen: Die Entwicklung der tarifmäßigen Metallarbeiter-, Bauarbeiter- und Buchdruckerlöhne in Berlin, in: Wirtschaft und Statistik 2, 1922, S. 120; Die Ta- riflöhne der Bauarbeiter, Metallarbeiter und Buchdrucker in Deutschland im Juli 1914 und April/ Mai 1922, in: Wirtschaft und Statistik 2,1922, S. 303; Wöchentliche Kosten des Ernährungsbedarfs 1913, 1919-1923. Physiologischer Notbedarf nach den Ermittlungen des Statistischen Amtes der Stadt Berlin, Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 1924, S. 31. Die dort angegebenen Teuerungs- ziffern für den Ernährungsbedarf lagen geringfügig unter dem Ernährungsindex des Deutschen Reichs; Monatliche Lebenshaltungskosten einer 5köpfigen Familie 1913/14, 1920-1923, ebenda, S. 32. 514 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen punkt eine bessere Lebenshaltung als vor dem Krieg leisten, wobei allerdings die Kosten für die Ernährung noch rasanter als sein Lohn stiegen. In Städten wie Hamburg, Köln, Dresden und Chemnitz überstiegen im April/Mai 1922 die Real- löhne im Bau-, Metall- und Buchdruckgewerbe das Vorkriegsniveau geringfügig, freilich wieder nur, wenn man den Reichsindex für die Lebenshaltungskosten zu- grundelegt662. Daß die deutschen Arbeiter keine Inflationsgewinner waren, wird vielleicht noch besser als durch die nackten Zahlen dadurch belegt, daß viele Ar- beiter weiterhin sehr zum Unwillen der Gewerkschaften freiwillig Uberstunden machen wollten oder „wilde Überschichten" verfuhren und in ihrer Not so weit gingen, die Firmendirektion zu bitten, selbst an Weihnachts- und Osterfeiertagen arbeiten zu dürfen663. Auch der internationale Vergleich der Lohnentwicklung bezeugt, daß die deut- schen Arbeiter nicht mehr einen vorderen Platz unter den Lohnempfängern ein- nahmen, sondern im untersten Teil der Lohnskala rangierten. Eine komparative Darstellung der Lohnentwicklung wirft allerdings zahlreiche Probleme auf, denn nicht zu Unrecht empörten sich die deutschen Arbeitgeber über einige verglei- chende Lohnstatistiken. So wurde in der Textilarbeiter-Zeitung vom 19. August 1921 eine von einem Komitee des Parlaments der Vereinigten Staaten angefertigte Zusammenstellung über die in den wichtigsten Industriestaaten gezahlten Löhne in der Textilindustrie abgedruckt, nach der Deutschland ganz am unteren Ende stand:

Tabelle 7: Internationaler Lohnvergleich in der Textilindustrie 1921, umgerechnet in Dollar

Baumwollwebereien Wollspinnereien Wollwebereien

USA 20,80 39,33 38,98 England 12,39 15,58 17,70 Belgien 12,29 9,54 9,63 Frankreich 9,12 12,90 - Italien 5,14 - - Japan 4,56 - 6,00 Deutschland 4,35 4,74 4,35

Die Textilarbeiter-Zeitung nannte die Statistik ein „Denkmal der Schande", das vor Augen führe, daß „der deutsche Arbeiter mehr denn je und mehr als andere Arbeiter der Welt ausgebeutet werde". Bei der Zusammenstellung war jedoch we- der der Dollarumrechnungskurs noch der Vergleichstag angegeben und auch nicht die in Deutschland weitaus niedrigeren Lebenshaltungskosten berücksich-

662 Vgl. Die Entwicklung der tarifmäßigen Metallarbeiter-, Bauarbeiter- und Buchdruckerlöhne in Berlin, in: Wirtschaft und Statistik 2, 1922, S. 120; Die Tariflöhne der Bauarbeiter, Metallarbeiter und Buchdrucker in Deutschland im Juli und April/Mai 1922, S. 303. «3 Vgl. u.a. StAC, 31072, Audi-AG, Nr. 5, Betriebsratssitzung am 21. 1. 1921; AdsD, ITBLAV, Inter- nationale Vereinigung der Textilarbeiter, Berichte für Dezember 1921; StAC, AH Zwickau Nr. 1478, Wochenbericht der AH vom 3. 11. 1921; Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1921, Bd. 1, S. 1.531; Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung, S. 329. IV. Inflation und Deflation 515 tigt worden664. Vor allem ausländische Unternehmer und Arbeitgeberorganisatio- nen ließen es sich nicht nehmen, Deutschland als Land des Lohndumpings vorzu- führen. Der französische Metallarbeitgeberverband beispielsweise beklagte sich darüber, daß ein gelernter deutscher Metallarbeiter Ende 1921 umgerechnet in Francs nicht mehr als 63 Centimes und ein ungelernter gar nur 53 Centimes die Stunde verdiene, während ein gelernter Metallarbeiter in Paris über 3 Francs be- komme und ein ungelernter immerhin 1,75 Francs in die Tasche stecke. Auf diese Weise könne der gleiche Artikel in Deutschland um 55 Prozent billiger produziert werden als in Frankreich665. Die Reallohnunterschiede waren keineswegs so groß, wie diese Zahlen suggerieren, wenngleich auch ein vom Internationalen Gewerk- schaftsbund durchgeführter Vergleich der Kaufkraft eines Möbeltischlers in meh- reren europäischen Staaten im Jahre 1914 und 1922 zu ähnlichen Ergebnissen kommt666. Aber zumindest die Kaufkraft des französischen Möbeltischlers wurde in dieser Untersuchung viel zu hoch angesetzt. Zutreffend ist lediglich, daß sich die Kaufkraft eines französischen vollerwerbstätigen Arbeiters gegenüber der Vorkriegszeit in den Jahren 1921/22 um durchschnittlich etwa 20 Prozent vergrö- ßerte, während sie in Deutschland sank667. Methodisch am überzeugendsten ist ein von dem Direktor des Statistischen Bü- ros des britischen Arbeitsministeriums, John Hilton, durchgeführter Reallohn- vergleich, der auf der Kaufkraft der Löhne für Lebensmittel basiert, wobei den unterschiedlichen Lebensmittelindizes in den einzelnen Ländern Rechnung getra- gen wurde. Hilton, der die Kaufkraft eines englischen Arbeiters im April/Mai 1922 zum Vergleichsmaßstab nimmt, ermittelte für die Kaufkraft eines deutschen und französischen Arbeiters in denselben Monaten folgende Ergebnisse668 (siehe Tabelle nächste Seite). Der Befund, daß die Kaufkraft eines deutschen gelernten Arbeiters fast um die Hälfte geringer war als die seines britischen Kollegen, während der ungelernte deutsche Arbeiter über 20 Prozent mehr Lebensmittel einkaufen konnte als ein ungelernter Arbeiter in Frankreich, wird nur leicht modifiziert durch einen von Hilton vorgenommenen Vergleich der Stundenzahlen, die für den Kauf eines 4- Pfund-Brotes, von sieben Pfund Weizenmehl, einem Pfund frischer Butter, einem Liter Milch und sechs Eiern in England, Frankreich und Deutschland gearbeitet

664 Zur Kritik der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberbände an dieser Statistik vgl. Hermann Meißinger, Tarif- und Lohnpolitik, in: Die Räder 2,1921, S. 433-437. 665 Vgl. CAMT 1996110 0611, Note relative aux salaires et au coût de la vie en France et à l'étranger. 666 Vgl. Die Lage der Arbeiterschaft in Deutschland, S. 17. Die Einschätzung der Kaufkraft des fran- zösischen Möbeltischlers ist völlig unzutreffend. Um die dort angegebene Lebensmittelmenge kaufen zu können, hätte er durchschnittlich um die 40 FF pro Tag verdienen müssen. Dies ver- diente aber nicht einmal ein hochbezahlter Pariser Metallarbeiter, der Anfang 1922 pro Stunde 3,22 FF erhielt. Zu den Lebensmittelpreisen in Frankreich vgl. Documents pour l'élaboration d'indices du coût delà vie; zu den Löhnen der Pariser Metallarbeiter vgl. Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 508. 667 Vgl. hierzu auch Kurse, Preise und Löhne. Kosten der Lebenshaltung in Deutschland, England, Frankreich, Die Freiheit vom 14.12. 1921; J. H. Richardson, Die Reallöhne im heutigen Europa verglichen mit den Löhnen von 1914, in: The Manchester Guardian Commercial. Wiederaufbau in Europa vom 26. 10. 1922, S. 587. 668 John Hilton, Vergleich der Lohnsätze in Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien und den Vereinigten Staaten, in: The Manchester Guardian Commercial, Wiederaufbau in Europa vom 26. 10. 1922, S. 586. 516 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Tabelle 8: Internationaler Reallohnvergleich durch Indexziffern (Großbritannien = 100) April/Mai 1922

Beschäftigung Großbritannien Deutschland Frankreich

Maurer 100 50 66 Zimmerleute 100 50 83 Monteure 100 58 61 Schriftsetzer 100 43 66 Ungelernter Arbeiter 100 71 50 Durchschnitt 100 54 65

werden mußte, wobei für Deutschland der subventionierte Brotpreis zugrunde- gelegt wurde. Hilton präsentiert die folgenden Zahlen669:

Tabelle 9: Notwendige Arbeitsstunden für den Kauf eines Warenkorbs im internationalen Vergleich, April/Mai 1922

Beschäftigung Großbritannien/ Deutschland/ Frankreich/ Stunden Stunden Stunden

Maurer 3,00 7,15 5,30 Zimmerleute 3,00 7,15 5,00 Monteure 3,15 7,15 6,30 Schriftsetzer 3,00 7,45 5,00 Ungelernte Arbeiter 4,30 7,15 10,30 Durchschnitt 3,20 7,20 6,30

Wenngleich die komparativen Statistiken Hiltons auch keinen vollständigen Real- lohnvergleich erlauben, da wichtige Indizes wie z.B. die Mieten, die in Jahren 1921/22 in Deutschland nur noch 1-2 Prozent betrugen, ausgeklammert wurden, so dürfte doch außer Frage stehen, daß der Reallohn eines deutschen gelernten Arbeiters beträchtlich hinter dem eines britischen zurückblieb und auch der vor dem Krieg sehr schlecht verdienende gelernte französische Arbeiter sich mehr Lebensmittel leisten konnte als der deutsche. Der Reallohn des französischen ge- lernten Arbeiters lag erstmals über dem des deutschen, und polnische Bergarbeiter zogen vom Ruhrgebiet nach Nordfrankreich, weil sie dort ein besseres Auskom- men hatten670. Die Ausgaben für Ernährung dürften in Deutschland während der Inflationsjahre auf etwa 70 Prozent des Haushaltsbudgets gestiegen sein, während sie in Frankreich auf ebenfalls hohe 60 Prozent veranschlagt wurden671. Daß der ungelernte deutsche Arbeiter beträchtlich mehr verdiente als der schon in der Vorkriegszeit an und manchmal auch unter der Grenze des Existenzmini- mums lebende französische, spiegelt die allgemeine Lohnnivellierung in Deutsch-

Ebenda. 670 Vgl. Kulczycki, The Polish Coal Miners' Union, S. 224. 671 Vgl. Niehuss, Arbeiterschaft in Krieg und Inflation, S. 111. IV. Inflation und Deflation 517 land wider, während in Frankreich der große Facharbeitermangel zu einer starken Lohndifferenzierung führte. Nach den Berechnungen Hiltons konnte der unge- lernte deutsche Arbeiter die gleiche Lebensmittelmenge erwerben wie der ge- lernte, während er in Frankreich fast doppelt so lange arbeiten mußte, um seinen Bedarf an Grundnahrungsmitteln zu decken. Die Löhne der ungelernten Arbeiter wie auch der Frauen waren in Deutschland sehr viel schneller als die der gelernten männlichen Arbeiter gestiegen. Hatten die Frauenlöhne in der Vorkriegszeit nur 30-60 Prozent des Männerlohnes ausgemacht, so erreichten sie während der Infla- tion 60-98 Prozent672. In Frankreich war es hingegen nur zu einer geringfügigen Anpassung der Frauen- an die Männerlöhne gekommen673. Die Lohnnivellierung in Deutschland war freilich allein dem Tatbestand geschuldet, daß die davonga- loppierenden Preise ein ausdifferenziertes Lohnsystem nicht mehr zuließen. Die durch die Inflation verursachte Außerkraftsetzung des Leistungslohnprin- zips und der Leistungsdemoralisierung widersprach gleichermaßen den Grund- sätzen der Arbeitgeber wie auch denen der Gewerkschaften, in denen die Fachar- beiter lange Zeit dominant waren. Als die VDA während der Inflationszeit plötz- lich zu einer beredten Befürworterin des Soziallohnprinzips wurde, ließen die Gewerkschaften es sich nicht nehmen, darauf hinzuweisen, daß Soziallöhne im Widerspruch zu der bisher von Arbeitgeberseite immer verteidigten Akkordar- beit, bei der die Entlohnung nach Leistung zähle, ständen674. Anders als bei den französischen Unternehmern entsprang der Wunsch nach Einführung von Sozial- löhnen bei den deutschen Arbeitgebern weder ideologischer Überzeugung noch einer demographischen Obsession. Auch als Kampfmittel gegen die Gewerk- schaften taugte der Familienlohn in Deutschland kaum. Er war vielmehr ein Kind der Not. Die VDA ließ keinen Zweifel daran, daß sie grundsätzlich Leistungs- löhne bevorzuge und in der Einführung von Soziallöhnen keine Dauereinrichtung sah: „Wenn man auch grundsätzlich am Leistungslohn festhalten muß, so erfor- dern doch die derzeitigen schwierigen Wirtschaftsverhältnisse unter Umständen außergewöhnliche Maßnahmen, und es ist nicht zu bestreiten, daß verheiratete Arbeitnehmer, besonders mit größerer Kinderzahl, sich in einer schwierigen Wirt- schaftslage befinden. Dieser Schwierigkeit könnte dadurch entgegengetreten wer- den, daß die soziale Entlohnung als vorübergehende Maßnahme zur Lohnpolitik anerkannt und eingeführt werde."675 VDA-Syndikus Hermann Meißinger machte freilich gar keinen Hehl daraus, daß die Einführung der Soziallöhne vor allem ei- nem Ziel diente: „das jetzt schon zum Überlaufen angefüllte Lohnkonto der deut- schen Wirtschaft" zu entlasten676. In den Augen des ADGB war dies nichts anderes als eine mit dem Mantel der Philanthropie kaschierte „Lohndrückerei"677, gegen die er anders als die schwa-

672 Vgl. Bajohr, Die Hälfte der Fabrik, S. 46 f. 673 Vgl. J. H. Richardson, Die Reallöhne im heutigen Europa verglichen mit den Löhnen von 1914, in: Manchester Guardian Commercial. Wiederaufbau in Europa, 26. 10. 1922, S. 589. Vgl. Vom Soziallohn, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 22 vom 3. 6. 1922, S. 309f. VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1921, S. 102. 676 Hermann Meißinger, Die Staffelung der Lohntarife, in: Der Arbeitgeber 1923, S. 7. Vom Soziallohn, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 22 vom 3. 6. 1922, S. 310; Der Soziallohn, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 39 vom 24. 9. 1921, S. 542 f. Zur Frage des Soziallohnes, Der Textil-Arbeiter vom 26. 8. 1921; Der Soziallohn, Der Textil-Arbeiter vom 14. 10. 1921. 518 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen chen französischen Gewerkschaften mit Erfolg intervenierte, wenn er auch da- durch in Gegnerschaft zu den christlichen Gewerkschaften geriet, die wie auch in Frankreich den Familienstandslohn als ein Element christlicher Familien- und So- zialpolitik verteidigten678. Es wurden zwar gegen den Willen der Gewerkschaften während der Inflationsphase häufig Soziallöhne eingeführt, aber ihre Bedeutung blieb gering. Im Bergbau, wo in Anknüpfung an Traditionen der Vorkriegszeit Anfang der 1920er Jahre auch in Deutschland durchweg Soziallöhne gezahlt wur- den, was nicht zuletzt ein Zugeständnis an die im Ruhrbergbau starken christli- chen Gewerkschaften war, machte Anfang 1923 das Hausstands- und Kindergeld bei einer Familie mit einem Kind wie auch in Frankreich fünf bis sieben Prozent des Lohnes aus. In einigen Zweigen der Metallindustrie übertraf der Anteil der Familienzulagen am Lohn mit acht bis zwölf Prozent sogar den in der Pariser Metallindustrie, was aber vor allem der sprunghaften inflationären Entwicklung geschuldet war. In den meisten metallverarbeitenden Betrieben lag er jedoch nur zwischen zwei und vier Prozent. Die Textilarbeitgeber, die mit Unterstützung der christlichen Gewerkschaften ganz vehement für die Einführung eines Familien- lohnes fochten, begnügten sich mit Zulagen in der Höhe von drei bis vier Prozent des Lohnes679. Versuche von Unternehmen wie Siemens, die Arbeiter gegen die Gewerkschaften, den Familienvater gegen den jungen ledigen Arbeiter auszuspie- len, um so den Widerstand der Gewerkschaften gegen die Soziallöhne zu brechen, scheinen nicht sehr erfolgreich gewesen zu sein680. In Deutschland war der Fami- lienlohn nicht nur bei den Freien Gewerkschaften, die sich für staatliche Kinder- zulagen aussprachen, sondern auch bei vielen Arbeitern nicht populär. Die ge- werkschaftliche Aufklärungsarbeit hatte bei den deutschen Arbeitern offensicht- lich die Erkenntnis wachsen lassen, daß sich der Soziallohn als Mittel gegen allge- meine Lohnerhöhungen mißbrauchen ließ. Der Streit um den Soziallohn blieb in Deutschland außerhalb des Staatsdienstes, wo Mitte der zwanziger Jahre ein ge- setzliches Kindergeld eingeführt wurde, Episode681. Ein seltener Konsens herrschte bei Gewerkschaften und Arbeitgebern in der Ablehnung von Indexlöhnen oder einer gleitenden Lohnskala. Die Idee einer au- tomatischen Anpassung der Löhne an die Schwankungen der Lebenshaltungs- kosten wurde von Reichsarbeitsminister Schlicke bereits Ende 1919 ventiliert682. Als Schlickes Mitarbeiter Friedrich Sitzler Anfang 1920 in der ZAG für die Ein- führung der gleitenden Lohnskala warb, stieß er bei Gewerkschafts- wie Arbeit- gebervertretern auf ein eindeutiges Nein683. Obwohl die wirtschaftspolitische Ab- teilung der Deutschen Botschaft in Paris geradezu ein Loblied auf die streikverhü- tende Rolle der Commissions d'étude du coût de la vie in Frankreich sang - von

678 Vgl. Schneider, Die christlichen Gewerkschaften, S. 581-583; Christliche Gewerkschaften für So- ziallohn, Der Textil-Arbeiter vom 24. 2. 1922. 679 Vgl. VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1922, S. 134-136; Hermann Meißinger, Die Staffelung der Lohntarife, in: Der Arbeitgeber 1923, S. 6 f. 680 Vgl. Eine Lösung des Lohnproblems, Wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern, Nr. 15 vom 1.5. 1920, S. 63 f. 681 Vgl. Fr. Buße, Die Soziallöhne und die Frage ihres Abbaues, in: RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1926, Nr. 2, S. 57-61. «ß Vgl. BAB, R 8104, Nr. 26, Schlicke an Cohen, 20.12.1919. 683 Vgl. Β AB, R 8104, Nr. 48, Niederschrift über die Sitzung am 6.1. 1920 im Arbeitsministerium in Sachsen. IV. Inflation und Deflation 519 deren Funktionieren sie allerdings nur ungenau unterrichtet war684 - ließ mit der Stabübergabe von Schlicke an Brauns das Interesse des Reichsarbeitsministeriums an der Einführung einer gleitenden Lohnskala nach. war Vertre- ter einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik, der im Frühjahr 1921 trotz des Widerspruches des Alten Verbandes und der Schwerindustrie, die eine Kohlen- preiserhöhung durchzusetzen versuchte, im Bergbau einen Schiedsspruch für ver- bindlich erklärte, der ein Junktim von Lohn- und Leistungssteigerung enthielt685. Erst Anfang des Jahres 1922, als sich die Lohn-Preis-Schraube immer schneller zu drehen begann, propagierte auch Brauns die Einführung einer gleitenden Lohn- skala, die er allerdings mit einem „System der schiedsgerichtlichen Lohnfestset- zung" verbunden sehen wollte. Von den Tarifparteien sollten Schiedsgerichte ein- gesetzt werden, die in kurzen regelmäßigen Abständen die Lohnhöhe aufgrund der Indexzahlen nachprüften686. Im April desselben Jahres beauftragte der Reichs- tag die Reichsregierung mit der Abfassung einer „Denkschrift über die gleitende Gehaltsskala für Beamte", die erst im September vom Reichsfinanzministerium vorgelegt wurde, das zur Genugtuung der VDA aus finanz- und volkswirtschaft- lichen Gründen zu einem ablehnenden Standpunkt kam687. Nur einige Städte wie z.B. Flensburg entschieden sich für eine automatische Anpassung der Löhne an die Lebenshaltungskosten688. Warum war der Widerstand gegen die Installierung einer gleitenden Lohnskala in Deutschland so viel größer als in Osterreich oder Frankreich, wo ihre Einfüh- rung nach dem Krieg als Mittel der Streikverhütung zunächst auf wenig Wider- spruch stieß, oder auch in England, wo sie insbesondere im Bergbau schon lange Zeit praktiziert wurde? Gewerkschaften und Unternehmer in Deutschland waren sich einig, daß eine Bindung der Löhne an die Lebenshaltungskosten im Gegen- satz zu dem von ihnen befürworteten Produktionsimperativ stand. Der ADGB teilte nahezu uneingeschränkt die Auffassung des Tarifausschusses der VDA, der sein ablehnendes Votum mit der Begründung rechtfertigte: „Die Lohnhöhe kann sich nicht lediglich nach den Lebenshaltungskosten richten, sondern ist in beson- derem Maße von der Leistung des einzelnen Arbeiters, der Art seiner Arbeit, den Verhältnissen des Unternehmens und der wirtschaftlichen Gesamtlage abhängig. Ist es schon danach grundsätzlich falsch, die Lohnhöhe lediglich auf einen Le- benshaltungsindex abzustellen, so birgt das System automatischer Lohnfestset- zung außerdem die große Gefahr in sich, daß es das eigene Verantwortungsgefühl des Arbeiters beim Streben nach höherer Entlohnung verringert oder gar beseitigt und damit die Arbeitsmoral und die Arbeitsleistung ungünstig beeinflußt. Es würde sich auch gar nicht vermeiden lassen, daß automatisch eintretende Lohn- erhöhungen eine ungünstige Einwirkung auf die Preisgestaltung der gesamten Le- bensbedürfnisse haben, da sie zu einer ebenso automatischen Verteuerung der

•.«ι Vgl. PA/AA, R 71034, Deutsche Botschaft in Paris, Zoepfl, Bericht vom 16.10. 1920. 685 Vgl. Feldman, Arbeitskonflikte im Ruhrbergbau, S. 204-206; ders., Great Disorder, S. 248 f. 686 Vgl. RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1922, Nr. 4, S. 129 f.; Heinrich Brauns, Die gleitende Lohnskala, Vorwärts vom 8. 2. 1922. 687 Vgl. Denkschrift über die selbsttätig gleitende Lohnskala vom 30. 9. 1922, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 375, Drs. 5007. 688 Vgl. Robert Kirchhoff, Die gleitende Lohnskala in Flensburg, in: Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt vom 4. 3. 1921, S. 473^78. 520 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen gesamten Lebenshaltung führen und so wiederum Anlaß zu neuen Lohnsteige- rungen geben."689 Insbesondere für den ADGB mußten die ausländischen Erfahrungen mit der gleitenden Lohnskala eher abschreckend denn vorbildhaft wirken. In Frankreich bedeuteten die Indexlöhne ein Abfinden der Gewerkschaften wie der Arbeiter mit dem Existenzminimum. Sie konnten darüber hinaus Streiks nicht verhüten, son- dern provozierten sie geradezu, wenn die Steigerung der Lebenshaltungskosten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften umstritten war. Darüber hinaus ver- loren Gewerkschaften an Attraktivität, wenn die Lohnfestsetzung in einer „Art staatlicher Arbeiterwohlfahrt" gewährt wurde. Der ADGB verwies darauf, daß der Verein der Bergarbeiter in Cleveland nach Einführung der gleitenden Lohn- skala die Hälfte seines Mitgliederbestandes eingebüßt habe und ließ keinen Zwei- fel daran, daß er als organisationsstarke Kampforganisation von der Entscheidung über die Lohnfestsetzung nicht ausgeschaltet werden wollte690. Die französischen Gewerkschaften, die von den Unternehmern als Tarifpartner nicht akzeptiert wurden, hätten hingegen nur auf dem Wege des Streiks eine Lohnentscheidung er- zwingen können, die aber - zumindest dort, wo ein starker Arbeitgeberverband den Widerpart bildete - in einer Niederlage enden mußte. Die Inflation hatte freilich - ohne daß der ADGB dies offen eingestehen wollte - die Kampfkraft der Gewerkschaften ganz erheblich geschwächt. Je rasanter die Inflation sich beschleunigte, desto mehr wurde eine schnelle Anpassung der Löhne an die Lebenshaltungskosten zu einer Überlebensfrage. So bröckelte auch im ADGB die Front der Gegner gegen die gleitende Lohnskala. Hermann Müller- Lichtenberg, seit 1922 Redakteur des Korrespondenzblattes des ADGB, hatte schon im August 1921 erwogen, ob nicht der Brotpreis als Grundlage für eine gleitende Lohnskala genommen werden könne, während die USPD sich für einen gesetzlichen Lohnausgleich ausgesprochen hatte691. Auch innerhalb des Metallar- beiterverbandes gab es schon vor der Hyperinflation Stimmen, die in den Lohn- bewegungen nur noch einen Wettlauf mit dem Schatten und in der gleitenden Lohnskala ein Mittel sahen, das davor behütete, „unter die Räder zu kommen". Jedenfalls würden dadurch, so lautete der Kommentar der Metallarbeiter-Zei- tung, die Gewerkschaftsfunktionäre von der Last befreit, unentwegt Verhandlun- gen führen zu müssen, „an deren Ende man im Grunde kein Deut weiter ist als vorher"692. Auch der Vorsitzende der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, An- ton Erkelenz, entwickelte sich zu einem Advokaten der selbsttätigen Anpassung der Löhne an die Lebenshaltungskosten693. Aus der freilich durch ausländische Beispiele leicht zu widerlegenden Furcht, die gleitende Lohnskala könne die Infla-

689 VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1922, S. 75; vgl. auch Hermann Meißinger, Die gleitende Lohnskala, in: Der Arbeitgeber 1922, Nr. 10, S. 164-168. 690 Vgl Die Anpassung der Löhne und Gehälter an die Lebenshaltungskosten, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 11 vom 18. 3. 1922, S. 133-135; Sitzung des Bundesausschusses am 27728.11. 1922, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 717. 6,1 Vgl. Die große Lohnbewegung, Die Freiheit vom 26. 8. 1921. 692 Die gleitende Lohnskala, Metallarbeiter-Zeitung vom 4. 3. 1922; der Artikel blieb allerdings nicht unwidersprochen, vgl. Toni Sender, Wider die gleitende Lohnskala, Metallarbeiter-Zeitung vom 22.4. 1922. 6,3 Vgl. Brantz, The Hirsch-Duncker-Unions in the , S. 164 f. IV. Inflation und Deflation 521 tion noch mehr anheizen, blieb die ADGB-Spitze bei ihrem (nun nicht mehr völ- lig uneingeschränkten) Nein. Eine Stabilisierung der Löhne versprach sich insbe- sondere Tarnow eher durch die Einführung von Goldlöhnen, wobei er - ohne Er- folg - die widerstrebenden Unternehmer für diesen Vorschlag dadurch zu gewin- nen glaubte, daß er auf die Forderung nach Weltmarktlöhnen und Friedensgold- marklöhnen verzichtete694. Der ADGB war weit entfernt davon, die Löhne ohne Rücksicht auf die wirt- schaftliche Entwicklung in die Höhe zu treiben. Einen Inflationskonsens zwi- schen Gewerkschaften und Arbeitgebern hat es nie gegeben. Während die Ge- werkschaften sich um einen Preisabbau bei den landwirtschaftlichen Produkten bemühten, um weitere Lohnsteigerungen zu vermeiden695, gingen die Arbeitgeber in der sogenannten Phase der relativen Stabilisierung auf Konfrontationskurs. Am 20. Mai 1920 verschickte der Tarifausschuß der VDA ein vertrauliches Rund- schreiben an alle Arbeitgeberverbände, in dem vor Lohn- und Gehaltserhöhungen gewarnt wurde. Der ADGB legte zwar „Verwahrung" gegen den „einseitigen Ver- such führender Arbeitgeberverbände, die Lohnregelung der paritätischen Ver- ständigung zu entziehen", ein, räumte aber ein, daß der inflationären Entwicklung Einhalt geboten werden müsse, was eine Senkung der Lebensmittelpreise voraus- setze696. Im September verfaßte die VDA erneut ein geheimes Rundschreiben, in dem sie ihre Befriedigung darüber zum Ausdruck brachte, daß die „ausgegebene Parole, keine Lohnerhöhungen zu bewilligen [...] im allgemeinen befolgt" wor- den sei. Größere Streiks seien selten gewesen, gegen Teilstreiks sei die Waffe der Aussperrung anzuwenden. Ein allgemeiner Lohnabbau sei anzuvisieren, der bei den Löhnen der Jugendlichen und Unverheirateten beginnen müsse697. Die Schlichter trugen diesem Ansinnen zum Teil durchaus Rechnung698. So sprach sich beispielsweise Reichs- und Staatskommissar Mehlich während der Tarifver- handlungen in der rheinisch-westfälischen Eisen und Stahlindustrie im April 1921 für Lohnabbaumaßnahmen aus699. Bereits Anfang 1921 hatte der ADGB die Unternehmer dazu aufgerufen, eine gemeinsame Front gegen die Landwirtschaft zu bilden, um eine Lebensmittel- preissenkung durchsetzen. Diese schlugen sich jedoch auf die Seite der Landwirt- schaft und plädierten für eine völlige Aufhebung der Zwangswirtschaft, während die SPD-Fraktion in Übereinstimmung mit dem ADGB im Sommer 1921 die weitgehende Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung für die Preisexplosion bei den Lebensmitteln verantwortlich machte700. Die im Sommer 1921 vom Reichstag beschlossene Brotpreiserhöhung, die in Arbeiterkreisen eine starke Verbitterung

β« Vgl. Sitzung des Bundesausschusses vom 28. 9.-1. 10. 1922, in: Quellen zur Geschichte der deut- schen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 655; vgl. ACDP, 1-220-007/1, Niederschrift über die Sit- zung des Zentralvorstandes der ZAG am 6.10. 1920; vgl. auch Feldman/Steinisch, Industrie und Gewerkschaften, S. 84 f. 6.5 Vgl. Chefbesprechung mit den Führern des ADGB am 18.2. 1921, in: AdR, Das Kabinett Fehren- bach, S. 471—475. 6.6 Vgl. Sitzung des Bundesausschusses vom 6.-8. 7. 1920, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 193 f. 6.7 Das Rundschreiben ist abgedr. in: Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 41 vom 9. 10. 1920. 6.8 Vgl. Feldman/Steinisch, Industrie und Gewerkschaften, S. 87 f. Vgl. RWWA, 130-300141/29, Sitzung der Direktoren der Gutehoffnungshütte am 4.4. 1921. ™ Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 351, S. 4996 (Sitzung am 11. 11. 1921). 522 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen hervorgerufen hatte, wurde für die ZAG zu einer ernsten Zerreißprobe. Die von der VDA bekundete Ablehnung einer Lohnerhöhung, die mit der Mahnung ver- bunden war, daß jede Lohnerhöhung eine Leistungssteigerung voraussetze, be- antwortete der ADGB mit einem Aufruf an die deutsche Arbeiterschaft, „sich ge- gen die drohende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung mit aller Kraft zur Wehr zu setzen"701. Unter dem Eindruck drohender Streiks lenkten die Arbeitgeber in der Vorstandssitzung der ZAG am 19. August 1921 ein und appellierten an die Tarifparteien, die Brotpreiserhöhung bei ihren Verhandlungen zu berücksichti- gen702. Eine zentrale Regelung der Lohnfrage wurde jedoch von der VDA katego- risch ausgeschlossen. Einige Arbeitgeberverbände fuhren weiterhin einen scharf- macherischen Kurs. So rief der Zentralausschuß der Leipziger Arbeitgeberver- bände noch Ende Dezember 1921 dazu auf, auf keinen Fall weitere Lohnerhöhun- gen zu gewähren703. Wirtschaftliche Gründe waren hierfür kaum mehr ausschlaggebend. Angesichts der rasch steigenden Preise waren die Löhne zumindest für die Großbetriebe kaum mehr ein Kostenproblem. Die Direktion der Siemens-Schuckert-Werke hatte schon im Sommer 1920 eingeräumt, daß der prozentuale Lohnanteil bei den Fertigfabrikaten immer geringer werde und auf die Gestaltung der Preise kaum noch Einfluß ausübe704. Seit Ende 1921 wurden die Löhne auch kaum mehr durch Lohnbewegungen hochgetrieben, sondern - abgesehen von den steigenden Prei- sen - durch den Facharbeitermangel, auf den insbesondere einige Metallarbeitge- berverbände schließlich mit einem allgemeinen Abwerbungsverbot reagierten705. Das Bild von der unaufhörlich gedrehten Lohn-Preis-Schraube spiegelte fast nur die Verhältnisse im Bergbau, wo die Versuchung zur Preisabwälzung bei den Pro- duzenten groß war und nur durch das Einspruchsrecht des Reichswirtschaftsmi- nisteriums gestoppt werden konnte706.

Fehlender Inflationskonsens: Streiks und Aussperrungen Daß die Inflationsjahre eher Jahre des Konflikts als des Konsenses zwischen Ar- beitgebern und Gewerkschaften waren, manifestiert sich auch in der starken Be- anspruchung der Schlichtungsinstanzen und der zunehmenden Intervention des Reichsarbeitsministeriums. Die durch die Inflation geschwächten Gewerkschaf- ten sahen in der staatlichen Schlichtung einen Rettungsanker, obwohl der Reichs- arbeitsminister der Wirtschaftspolitik den Vorrang vor der Sozialpolitik ein-

701 Die VDA-Erklärung vom 10. 8. 1921 ist abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1921, S. 47 f. und in: Die Freiheit vom 13. 10. 1921 (Kampfansage der Unternehmer). Vgl. ACDP, 1-220-007/2, Niederschrift über die Sitzung des Zentralvorstandes der ZAG am 19. 8. 1921. 703 Das Rundschreiben vom 28. 12. 1921 ist abgedr. in: Die Rote Fahne vom 3. 1. 1922, und in: Leip- ziger Volkszeitung vom 7. 1. 1922. ™ Vgl. BADH, R 13 I, Nr. 372, Die Direktion der Siemens-Schuckert-Werke an Reichert, 6. 7. 1920. Auch in der Stahlindustrie wurde das Lohnproblem gering veranschlagt, vgl. Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen, S. 145; vgl. auch Lederer, Die Gewerkschaftsbewegung 1918/19, S. 220. 705 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 144, Grundsätze gegen das Wegengagieren von Arbeitern, ange- nommen in der außerordentlichen Hauptversammlung des Verbandes der Metallindustriellen im Bezirk am 11.2. 1923; VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1922, S. 128. 706 Zu der Ablehnung von Kohlenpreiserhöhungen durch die Reichsregierung vgl. Kabinettssitzung vom 27. 10. 1920, in: AdR, Das Kabinett Fehrenbach, S. 251 f. IV. Inflation und Deflation 523 räumte und einige unparteiische Vorsitzende in den Schlichtungsausschüssen den Gewerkschaftsvertretern geradezu ein Dorn im Auge waren707. Das sich verschär- fende Klima zeichnete sich in der abnehmenden Akzeptanz der vom Reichsar- beitsminister oder in seinem Auftrag gefällten Schiedssprüche ab. Lag die Zustim- mungsquote in der Zeit vom 1. April 1919 bis 31. März 1920 noch bei 92 Prozent, so sank sie im darauffolgenden Jahr auf 70 Prozent708. Die Regierung wie der Arbeitsminister unterstützten die restriktive und pro- duktionsorientierte Lohnpolitik der Arbeitgeber und praktizierten sie dort, wo sie als Arbeitgeber auftraten, selbst. Eine solche Politik lag nicht zuletzt im Inter- esse des Reichsfinanzministers, der schon wegen der anstehenden Reparationsver- handlungen auf eine Konsolidierung der Reichsbudgets bedacht sein mußte. Sie führte aber dazu, daß die Beamten zu den eindeutigen Verlierern der Inflation ge- hörten. Die Hierarchien der Vorkriegszeit stürzten dort geradezu ein. Bei den hö- heren Beamten lagen die Reallohnverluste gegenüber der Vorkriegszeit ungefähr zwischen 50 und 70 Prozent. Auch die Kaufkraft der unteren Beamtengruppen war um etwa ein Viertel gesunken709. Die zunehmende Unterernährung ließ bei vielen Beamten die Erbitterung wachsen. Bereits im Winter 1920/21 wäre es fast zum Ausbruch eines größeren Eisenbahnerstreiks gekommen, denn das Kabinett hatte zunächst allgemeine Teuerungszuschläge abgelehnt und nur eine Erhöhung der Kindergeldzuschläge, abgestuft nach den Ortsklassen, die neu eingeteilt wer- den sollten, beschlossen. Die mit Rücksicht auf die Reichsfinanzen gefällte Ent- scheidung des Kabinetts führte Ende November/Anfang Dezember 1920 im Ruhrgebiet zu örtlichen Streikbewegungen der Eisenbahner und zu passiver Resi- stenz bei einem Teil der Beamten. Der dem ADGB angehörende Deutsche Eisen- bahnerverband drohte im Dezember im Falle eines Scheiterns von Lohn- und Ge- haltsverhandlungen mit dem Reich mit einem Streik. Die Reichsgewerkschaft der Eisenbahnbeamten, in der über die Hälfte aller Reichsbahnbeamten organisiert war, hatte sich noch zu einem radikaleren Schritt entschlossen und in der berech- tigten Hoffnung, eine Zweidrittelmehrheit für einen Streik zu erhalten, eine Urab- stimmung unter ihren Mitgliedern anberaumt, in der sich 82 Prozent der Urnen- gänger für einen Arbeitskampf aussprachen. Auch weil sie die Militarisierung der Reichseisenbahn in den besetzten Gebieten fürchtete, ließ sich die Regierung auf einen Kompromiß ein, der durch die Gewährung von Teuerungszuschlägen in einer Höhe von bis zu 70 Prozent die Eisenbahner zunächst einmal beruhigte, aber den Reichshaushalt mit einer Gesamtsumme von 3,7 Milliarden Mark stark belastete und das Konfliktpotential nur kurzfristig beseitigen konnte710.

707 Zu der Kritik der Gewerkschaften an den unparteiischen Vorsitzenden vgl. u. a. GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 95, Bd. 1, Deutscher Metallarbeiterverband, Verwaltungsstelle Berlin, Ziska, an das preußische Ministerium für Handel und Gewerbe, 19. 2. 1921; StAL, Meier & Weichelt Nr. 168, Rundschreiben des Zentralausschusses Leipziger Arbeitgeberverbände vom 25. 7. 1921. ™ Vgl. Bähr, Staatliche Schlichtung, S. 25. Vgl. Kunz, Civil Servants, S. 62. Vgl. Kabinettssitzung vom 11.11. 1920, vom 20. 11. 1920, vom 2. 12. 1920, vom 18. 12. 1920 und 14. 1. 1921, in: AdR, Das Kabinett Fehrenbach, S.277f., 293f., 319-322, 358-360, 407-409; Vor- wärts vom 8. 12. 1920; Der Eisenbahner Schicksalsstunde, Vorwärts vom 21. 12. 1920; zum Ab- schluß der Eisenbahnerbewegung, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 5 vom 29. 1. 1921, S. 57- 60; ferner Kunz, Civil Servants, S. 212-235. 524 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Der durch die Inflation ausgelöste Verarmungsprozeß zerstörte die schon wäh- rend des Kriegs und der Revolution erschütterte Loyalität der Beamten gegenüber der Regierung und gefährdete dadurch auch die Staatsautorität. Die Eisenbahnbe- amten wurden anfällig für radikale Tendenzen. In der Reichsgewerkschaft, die an- ders als der Eisenbahnerverband der CGT bisher eine Domäne der Vertreter der bürgerlichen Parteien gewesen war, wurde im Herbst 1921 Ernst Menne, der sich im Juli 1919 bei der Absetzung des Präsidenten der Erfurter Eisenbahndirektion hervorgetan hatte und offensichtlich der USPD nahestand, zum Vorsitzenden ge- wählt711. Im Dezember 1921 erklärten sich zwar die Richtungsgewerkschaften, die angesichts der bevorstehenden Reparationskonferenz in Genua keine Regie- rungskrise heraufbeschören wollten, mit den von der Regierung angebotenen Ver- dienststeigerungen einverstanden, nicht jedoch die Reichsgewerkschaft, die die allgemeine Empörung darüber, daß bei der Neuregelung der Besoldung die obe- ren Besoldungsgruppen eindeutig privilegiert worden waren, zum Anlaß nahm, um der Regierung am 24. Januar ein Ultimatum zu stellen, in dem diese aufgefor- dert wurde, binnen fünf Tagen eine bindende Erklärung über die Einführung einer gleitenden Lohnskala abzugeben. Strittig war zudem der vom Reichsverkehrsmi- nisterium ausgearbeitete Entwurf eines Arbeitszeitgesetzes, der am Tabu des Achtstundentages rüttelte712. Obwohl dem angekündigten Streik im Gegensatz zu dem Eisenbahnerstreik in Frankreich allein wirtschaftliche Motive zugrunde lagen, bedeutete er einen An- griff auf die Staatsautorität, deren Fehlen in der noch jungen deutschen Demokra- tie von konservativer Seite wie auch der Industrie immer wieder beklagt wurde. Die Mehrheit des Reichskabinetts, aber auch der Reichspräsident entschieden sich zunächst wie Millerand für ein kompromißloses Durchgreifen. Unmittelbar nach dem Streikbeschluß wurde eine von Ebert bereits unterzeichnete Verordnung ver- öffentlicht, mit der den Reichsbahnbeamten die „Einstellung oder Verweigerung der ihnen obliegenden Arbeit verboten" wurde. Streikaufrufe konnten mit Ge- fängnis oder mit einer Geldstrafe bis zu 50000 Mark geahndet werden713. Auf der Grundlage dieser Verordnung ließ der Berliner Polizeipräsident die für den Streik bestimmten Gelder beschlagnahmen und die Drucklegung von Streikaufrufen verhindern. Reichsverkehrsminister Groener wies die Präsidenten der Eisenbahn- verwaltungen an, die Polizeibehörden anderer Kommunen zu ähnlichen Maßnah- men zu veranlassen714. Abermals zeigte sich die große Dissonanz zwischen Ebert und dem ADGB, aber auch Teilen der SPD, die in der Verordnung des Reichspräsidenten eine Be- drohung des Koalitionsrechts sahen715. Die KPD forderte die Ausrufung des Ge-

711 Zu Ernst Menne vgl. BAB, R 43 I, Nr. 2125, Bericht des Staatskommissars Weismann vom 18. 3. 1922. 712 Vgl. Kunz, Civil Servants, S. 283-296; ein Exemplar des Ultimatums befindet sich in: BAB, R 43 I, Nr. 2120; Der Eisenbahnerstreik, Vorwärts vom 3. 2. 1922. ™ Verordnung vom 1. 2. 1922, RGBl. 1922 I, S. 187. 714 Vgl. IfZ, MA-2, Film 25, Telegramm Groeners an die Präsidenten der Eisenbahnverwaltungen, 1.2. 1922. 715 Vgl. Streiks in gemeinwirtschaftlichen Betrieben, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 6 vom 11.2. 1922 und Nr. 7 vom 18. 2. 1922, S. 72-75, 81-84; Ausführungen Otto Wels' in der Reichstagssit- zung am 19. 2. 1922, Verhandlungen des Reichstages, Stenographische Berichte, Bd. 352, S. 5755. IV. Inflation und Deflation 525 neralstreiks gegen die Verordnung, fand aber hierfür nur geringe Resonanz716. Die Kommunisten hatten in der Reichsgewerkschaft keine Stützpunkte und die von ihnen angestrebte Eroberung der Basis des DEV gelang nur an einigen Orten wie in Berlin, wo Ottomar Geschke zum Vorsitzenden gewählt worden war, der aber in seinem Amt vom Hauptvorstand des DEV nicht bestätigt worden war717. Der Hauptvorstand konnte indes nicht verhindern, daß der Berliner Eisenbahnerver- band dem Drängen der KPD folgte und sich am Streik beteiligte. Die Führung des DEV war ebenso entschieden gegen den Streik wie der ADGB, der als Mediator zwischen der streikenden Reichsgewerkschaft und der Reichsregierung zu fun- gieren versuchte. Auch der Mitvorsitzende der SPD Hermann Müller hatte sich bemüht, die Vertreter der Reichsgewerkschaft mit den Spitzenverbänden der übrigen Gewerkschaften zusammenzubringen718. Wirths Bestreben, Kontakt mit der streikenden Reichsgewerkschaft aufzunehmen, stieß im Kabinett und auch bei Ebert zunächst auf Ablehnung und wurde schließlich nur unter der Bedingung akzeptiert, daß die Vertretung der Reichsgewerkschaft von Vertretern des Deut- schen Beamtenbundes wahrgenommen wurde719. Dank der Verhandlungen dau- erte der Streik nur sechs Tage. Den Eisenbahnern wurde eine Erhöhung der Grundgehälter in Aussicht gestellt, der Arbeitszeitgesetzentwurf sollte unter Be- teiligung der Spitzenorganisationen revidiert werden720. Das widersprach diame- tral den Erwartungen der deutschen Industrie, die den Reichskanzler zu Unnach- giebigkeit aufgefordert hatte, da Konzessionen in den Staatsbetrieben nicht ohne Rückwirkung auf die Lohnbewegungen in der Industrie blieben721. In Deutschland waren die Gewerkschaften zu stark, die Notlage der Eisen- bahnbeamten zu groß, die wirtschaftliche Lage zu katastrophal und die außen- politische Situation zu unsicher, um kompromißlos durch Repressivmaßnahmen die Streikenden in eine völlige Niederlage zu treiben, wie Groener das wollte und wie Millerand dies in Frankreich praktiziert hatte722. Massenentlassungen der streikenden Eisenbahner wie in Frankreich wären in Deutschland politisch nicht durchsetzbar gewesen. Insgesamt wurden nur in 483 Fällen Disziplinarverfahren gegen unkündbar eingestellte Beamte eingeleitet, von denen 320 durch Beschluß des Reichsverkehrsministeriums eingestellt wurden. Von den kündbar angestell- ten Beamten wurden sieben endgültig entlassen, die sich der Sabotage schuldig ge-

716 Vgl. Ankündigung neuer Gewaltmaßnahmen, Die Rote Fahne vom 6.2. 1922; BAB, R 43 I, Nr. 2124, Informationsdienst, Gespräch mit der politischen Abteilung des Polizeipräsidiums am 6.2. 1922. ™ Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/208, VKPD an die Exekutive der Komintern, 24. 2. 1922; zu Geschke vgl. Weber/Herbst, Deutsche Kommunisten, S. 242 f. 718 Vgl. Besprechung mit Vertretern der Gewerkschaften am 3.2. 1922, Kabinettssitzung am 3.2. 1922, Besprechung mit Parteiführern und Kabinettssitzung vom 5.2.1922, in: AdR, Die Kabinette Wirth I und II, Bd. 1, S. 534-548. 719 Vgl. Besprechung mit Parteiführern und Kabinettssitzung vom 5.2. 1922, in: ebenda, S. 547; zur Haltung Eberts vgl. Mühlhausen, , S. 757. 720 Vgl. die Ausführungen Wirths in der Reichstagssitzung am 9.2. 1922, Verhandlungen des Reichs- tages, Stenographische Berichte, Bd. 352, S. 5738-5742; Kunz, Civil Servants, S. 327f.; Adolf Wuschik, Streikbetrachtungen, Vorwärts vom 22. 2. 1922. 721 Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 2124, Niederschrift über die Besprechung des Herrn Reichskanzlers mit Vertretern der Industrie am 6. 2. 1922. 722 Zu der Kontroverse Groener-Wirth vgl. u. a. BAB, R 43 I, Nr. 2124, Groener an den Staatssekretär der Reichskanzlei, 2. 2.1922; Kabinettssitzung am 21. 2. 1921, in: AdR, Die Kabinette Wirth I und II, S. 586-590. 526 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen macht hatten723. Ebert hob, wie von den Gewerkschaften gewünscht, seine Ver- ordnung wieder auf. Das Streikverbot für Beamte galt freilich auch in Deutsch- land weiter724. Der Reichskanzler war indes zwischen die Fronten geraten. Der Eisenbahnerstreik führte in Deutschland nicht zu einer Stärkung der Regierung, sondern zu einer Regierungskrise. DVP und DNVP, die in der Verhandlungsbe- reitschaft Wirths einen die Staatsautorität gefährdenden Kotau vor der Sozialde- mokratie sahen725, sowie KPD und USPD, die ein Streikverbot für Beamte mit der uneingeschränkten Koalitionsfreiheit für unvereinbar hielten und die Maßrege- lungen einer scharfen Kritik unterzogen, wollten, daß dem Kabinett Wirth das Mißtrauen ausgesprochen wurde726. Der Kanzler konterte und stellte am 15. Fe- bruar 1922 die Vertrauensfrage, die er mit 230 zu 185 Stimmen für sich entschied - klarer als erwartet, denn angeführt von Rudolf Breitscheid waren mehrere USPD- Abgeordnete, die im Falle eines Scheiterns der Regierung Wirth eine Koalitions- regierung aus DVP und DNVP fürchteten, der Abstimmung ferngeblieben727. Zu der explosiven Stimmung in Deutschland hatte nicht nur der Eisenbahner- streik, sondern der gleichzeitig stattfindende Streik der Berliner Gemeindearbei- ter beigetragen, die nach Kündigung des bestehenden Manteltarifs eine Ver- schlechterung des neuen Tarifs befürchteten und deshalb einen vom Reichsar- beitsministerium gefällten Schiedsspruch, nach dem allerdings der alte Manteltarif noch bis 30. Juni in Geltung bleiben sollte, ablehnten und ohne Genehmigung durch den Hauptvorstand des Verbandes der Gemeinde- und Staatsarbeiter in den Streik traten. Ihre Forderung beschränkte sich auf die Verlängerung des Mantel- tarifs bis zum 31. Dezember 1922728. Das Movens dieses Streiks war weniger die soziale Not wie bei den Eisenbahnern - die Berliner Gemeindearbeiter verdienten besser als die Reichs- und Staatsarbeiter -, als die Streikpropaganda der Kommu- nisten, die im Berliner Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter mit ungefähr einem Drittel der Mitglieder eine starke Bastion besaßen729, und der Union der Hand- und Kopfarbeiter, die nach dem Ausstand noch weiteren Zulauf erhielt730. Der Streik brach sehr schnell zusammen, weil er innerhalb der Berliner Arbeiter- schaft, die von dem Ausstand weitaus mehr betroffen war als die Bessersituierten im Westen der Stadt, die Licht und Wasser nicht zu missen brauchten, keinerlei

7» Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 2125, Übersicht über die aus Anlaß des im Februar 1922 stattgefundenen Streiks der Eisenbahnbeamten eingestellten Verfahren, welche die Entfernung aus dem Amte zum Ziel hatten; Schreiben der Reichskanzlei vom 19.2. 1923, ebenda. ™ Vgl. Kolb, Streikrecht für Beamte?, S. 237-255. "5 Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 2124, Stellungnahme der Fraktion der DNVP vom 7.2. 1922. 726 Vgl. die Ausführungen Dittmanns (USPD) in der Reichstagssitzung am 10.2. 1922, Verhandlun- gen des Reichstags, Bd. 352, S. 5784-5787; Dittmann, Erinnerungen, Bd. 2, S. 831 f. Zu dem Wort- laut der Mißtrauensanträge vgl. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 371, Drs. Nr. 3513,3517,3529 und 3530. 727 Vgl. Dittmann, Erinnerungen, Bd. 2, S. 833; Rudolf Breitscheid, Die Abstimmung der Fraktions- minderheit, Die Freiheit vom 19. 2. 1922; Die Darstellung Winklers, Von der Revolution zur Sta- bilisierung, S. 484, daß die USPD-Dissidenten die Regierung Wirth retteten, ist unzutreffend, da die Regierung Wirth auch ohne deren Fehlen die Abstimmung gewonnen hätte. 728 Vgl. Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter, Filiale Berlin, Bericht über das Geschäftsjahr 1922, S. 65-68, 125-140. ™ Vgl. Sühl, SPD und öffentlicher Dienst, S. 87. «0 Vgl. Β AB, R 134, Fiche 17, Bericht des RKO vom 17.2. 1922; vgl. auch die Ausführungen des so- zialdemokratischen Abgeordneten Krüger im preußischen Landtag am 17.2. 1922, Sitzungsbe- richte des Preußischen Landtages, 1. Wahlperiode, Bd. 5, S. 7023-7027. IV. Inflation und Deflation 527

Rückhalt hatte731. Zudem hatte schon ein Ausstand in den Berliner Gaswerken im November 1921 den Unmut der arbeitenden Bevölkerung hervorgeru- fen™. Die Streiks der Eisenbahner, der Gemeindearbeiter und auch der Arbeiter in den städtischen Transportbetrieben, die in jenen Jahren nicht nur in Berlin, son- dern in allen Kommunen Deutschlands besonders zahlreich waren, waren nicht nur eine Herausforderung der Staatsautorität, sie diskreditierten auch die sozial- demokratischen Stadtväter und waren daher mitverantwortlich dafür, daß wie in Berlin bei den Kommunalwahlen bürgerliche Mehrheiten den Sieg davontrugen, vor allem aber waren sie Wasser auf die Mühlen derer, die in einer Privatisierung der öffentlichen Betriebe einen Ausweg aus der Misere der öffentlichen Finanzen sahen. Sozialdemokraten wie ADGB klagten gleichermaßen, daß diese Streiks dem Sozialismus den Boden entzogen733. Reichsverkehrsminister Groener, der sich zunächst gegen die Stinnes-Pläne gestellt hatte, erwog nach dem Eisenbah- nerstreik eine Privatisierung der Reichsbahn734. Die industriellen Arbeitskämpfe waren zwar in den Inflationsjahren zahlreich, sie waren aber nur insofern ein Politikum, als sie dem Staat die Schlichterfunktion aufbürdeten. Eine wirtschaftliche Katastrophe wie in der unmittelbaren Nach- kriegszeit drohte durch diese Arbeitskämpfe nicht mehr, wenn auch die Zahl der Streiks, der Streikenden wie auch der verlorenen Arbeitstage von 1920 bis 1922 kontinuierlich anstieg735:

Tabelle 10: Wirtschaftliche Streiks der gewerblichen Arbeiter in Deutschland 1920-1922

1920 1921 1922

Streiks 3693 4093 4348 Höchstzahl der gleichzeitig Streikenden 1338410 1287523 1604250 verlorene Arbeitstage 15444265 22595969 23382593

Gegenüber der Vorkriegszeit war die Zahl der Streikenden in den Jahren 1921/22 in Deutschland durchschnittlich um das 6,5fache gestiegen, die Zahl der verloren- gegangenen Arbeitstage hatte sich nahezu verfünffacht, in Frankreich hatte sie

731 Vgl. Der Streik gegen die Berliner Bevölkerung, Montagspost vom 6.2. 1922; Der Streik gegen Berlin, Vorwärts vom 5. 2. 1922. 732 Vgl. Die Berliner Gasanstalten stillgelegt!, Die Freiheit vom 12.11. 1921; Die Stillegung der Gas- werke, Die Freiheit vom 13. 11. 1921. 733 Streiks in gemeinwirtschaftlichen Betrieben, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 8 vom 25. 2. 1922, S. 97-99; Friedrich Stampfer, Streik und Sozialismus, Vorwärts vom 5. 2. 1922. So führte bei- spielsweise ein Streik der Straßenbahner in Leipzig in der Ortsgruppe Leipzig des VSI zu der For- derung nach einer „Entkommunalisierung" der Straßenbahnen. Vgl. StAL, Kammgarnspinnerei Stöhr & Co. Nr. 1863, Niederschrift über die Vorstandssitzung der Ortsgruppe Leipzig des VSI am 7.2. 1922; zu den Privatisierungsforderungen vgl. auch SAA, 4 Lf 555, Exposé der DDP (Reichsgeschäftsstelle) zu der Stadtverordnetenwahl am 16.10. 1921. ™ Vgl. ACDP, 1-220-005/1, Osius an Stinnes, 24. 2. 1922; ferner Feldman, Great Disorder, S. 422. 735 Die folgende Tabelle basiert auf den Angaben des Reichsarbeitsministeriums über Streiks und Aussperrungen in den Jahren 1920, 1921 und 1922, RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1922, Nr. 9. S. 283-293; RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1923, Nr. 4, S. 78-87, ebenda, Nr. 11, S. 238-248. 528 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen sich im selben Zeitraum nur verdoppelt, die Zunahme der Streikenden belief sich sogar nur auf das l,6fache736. Die Schwerindustrie, die 1919 mit nahezu 40 Pro- zent der Streikenden an der Spitze der Streikstatistik gestanden hatte, war mit Ausnahme eines Streiks im Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenrevier im Dezember 1920737 und des bereits erwähnten Streiks vom Mai 1922 im Ruhrbergbau wegen der Maßregelung von Betriebsratsmitgliedern, die am 1. Mai zur Arbeitsruhe auf- gerufen hatten, dank staatlicher Intervention kein Schauplatz größerer Arbeits- kämpfe mehr. Die hohe Zahl streikender Bergarbeiter 1921 ging allein auf das Konto der schnell zusammengebrochenen Märzaktion der KPD. Im Sommer 1922 wäre es allerdings trotz der Vermittlungsbemühungen Brauns' fast zu einem großen Bergarbeiterstreik gekommen. Nachdem alle Bergarbeiterverbände im Mai einen im Auftrag des Reichsarbeitsministeriums gefällten Schiedsspruch ab- gelehnt hatten, knüpften das Reichsarbeits-, Reichswirtschafts- und Reichsfi- nanzministerium im Juni in Übereinstimmung mit den Arbeitgebern, allen voran Stinnes, im Bergbau Lohnerhöhungen an das Verfahren von Überschichten, was den Alten Verband Mitte Juli zu einem Aufruf zur Massenkündigung der Tarif- verträge provozierte, der aber bei den Bergarbeitern nur auf geringe Resonanz stieß. Das Verfahren von Überschichten war bei den Bergarbeitern längst kein Tabu mehr, wenn die Lohnzugeständnisse so ausfielen, daß die materielle Not spürbar gelindert wurde. So widersetzten sich die Bergarbeiter schließlich nicht dem am 24. August vereinbarten Überschichtenabkommen, da die kräftige Lohn- erhöhung und der Überstundenzuschlag von 50 Prozent die soziale Misere etwas zu verbessern versprach738. In der Metallindustrie und im Maschinenbau griffen die Arbeiter weitaus am häufigsten zur Streikwaffe. Die Zahl der Streikenden im Bau- und Holzgewerbe war relativ hoch, einen Spitzenrang unter den Streikenden wie in der Vorkriegs- zeit erreichten die Bauarbeiter aber nicht mehr. Für die hohe Zahl der Streikenden im Verkehrsgewerbe waren neben den Eisenbahnbeamten auch die Straßenbahner verantwortlich. Genaue Zahlen über die Streikhäufigkeit in einzelnen Wirt- schaftszweigen in den Jahren 1920-1922 sowie über die verlorenen Arbeitstage je Streikenden können der folgenden Tabelle 11 entnommen werden739. Auffällig ist, daß trotz der inflationären Entwicklung die Streikdauer in der Me- tallindustrie wie auch in der Holzindustrie der der langandauernden, mit großer Unnachgiebigkeit geführten Arbeitskämpfe der Vorkriegszeit entsprach740. Selbst 1922, als die Tarifverhandlungen schon im Zweiwochen-Turnus stattfanden, lag die Streikdauer noch häufig über zehn Tage, wobei allerdings die extrem hohe

736 Errechnet aufgrund der in Anm. 735 angegebenen Statistiken; Boll, Arbeitskämpfe und Gewerk- schaften, S. 94 und Statistique des grèves für die Jahre 1921 und 1922. Berücksichtigt wurden die letzten neun Jahre der Vorkriegszeit. 737 Vgl. BAB, R 134, Fiche 2, Lagebericht des RKO vom 14.12. 1920. Am 8. 12. streikten ungefähr 35000 Bergarbeiter. 738 Vgl. Das Ruhrgebiet vor schweren Entscheidungen, Bergarbeiter-Zeitung vom 15. 7. 1922; Sieg des Verbandes über die Gegner der Bergarbeiter, Bergarbeiter-Zeitung vom 22. 7. 1922; ACDP, I- 220-026/3, Stinnes an Severing, 3. 7.1922; Feldman, Arbeitskonflikte im Ruhrbergbau, S. 217-220; Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 159-161. 739 Errechnet aufgrund der in Anm. 735 angegebenen Statistiken. 740 In den Jahren 1899-1914 lag die Dauer der Ausfalltage pro Beteiligten bei 25,5 Tagen. Vgl. Boll, Arbeitskämpfe und Gewerkschaften, S. 91. IV. Inflation und Deflation 529

Tabelle 11: Wirtschaftliche Streiks in Deutschland 1920-1922, aufgeteilt nach Branchen

Beschäftigung Jahr Streiks Höchstzahl in v. Hundert verlorene der gleichzeitig der Streiken- Arbeitstage Streikenden den pro Streikendem

Bergbau, Hütten- 1920 295 345948 25,8 5,1 wesen etc. 1921 191 221343 17,2 7,8 1922 219 165875 10,3 5,5 Metallverarbeitung/ 1920 505 185497 13,9 21,9 Maschinenbau 1921 651 313618 24,3 24,7 1922 797 460084 28,6 25,9 Verkehrsgewerbe 1920 387 172180 12,9 10,7 1921 276 108714 8,4 14,3 1922 316 237575 14,8 5,5 Baugewerbe 1920 614 165205 12,3 14,9 1921 631 130549 10,1 20,0 1922 604 146135 9,1 13,9 Holzindustrie 1920 426 48548 3,6 25,6 1921 563 72286 5,6 27,3 1922 581 80428 5,0 15,1 Textilindustrie 1920 127 58998 4,4 8,3 1921 259 102358 7,9 15,0 1922 182 152722 9,5 11,4

Streikdauer in der Metallindustrie auf den Arbeitszeitkonflikt in der süddeut- schen Metallindustrie zurückzuführen ist. Die lange Streikdauer spiegelt jedoch auch den Widerstand der Firmeninhaber in der Klein- und Mittelindustrie, die bis zum Ausbruch der Hyperinflation von den Streikbewegungen am meisten betrof- fen war. Die Arbeitskämpfe in der Klein- und Mittelindustrie wurden auch als „Verzweiflungskämpfe auf Seiten der Arbeitgeber" bezeichnet, weil die Kapital- not in diesen Betrieben so groß war, daß deren Inhaber tatsächlich außerstande waren, die geforderten höheren Löhne zu zahlen741. So rangierte in den Jahren 1920/21 das mittelständisch geprägte Sachsen - gemessen an der Zahl der Strei- kenden - an zweiter Stelle in der Streikstatistik. Die Zahl der Streiks, die für die Arbeitnehmer in einem Mißerfolg endeten, lag bei immerhin fast 20 Prozent, war damit allerdings nur halb so hoch wie in der Vorkriegszeit742. Außer einem von den Kommunisten vom Zaun gebrochenen Generalstreik in der Solinger Metallindustrie, der in einem Desaster für die Solinger Metallarbeiter, die sogar längere Arbeitszeiten in Kauf nehmen mußten, endete743, war der im De- zember 1920 ausgebrochene Ausstand der Leipziger Metallarbeiter mit über 16000 Streikenden die umfassendste Streikbewegung der Metallarbeiter in der

«1 Vgl. Conrad, Streiks und Aussperrungen im Jahre 1920, RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1922, Nr. 12, S. 365-368, hier S. 368. 742 Vgl. Schneider, Aussperrung, S. 32. 745 Zum Generalstreik in Solingen vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1920, S. 93-97. 530 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen zweiten Hälfte des Jahres 1920. Der am 6. Dezember wegen Lohndifferenzen aus- gebrochene Streik schien zunächst ein schnelles Ende zu finden, nachdem am 3. Dezember ein Schiedsspruch des Schlichtungsausschusses von den Arbeitneh- mern angenommen und elf Tage später trotz der Ablehnung der Arbeitgeber für verbindlich erklärt worden war. Da die Arbeitgeber sich weigerten, alle Streiken- den wieder aufzunehmen, lehnte ein Teil der Metallarbeiter die vorgesehene Ar- beitsaufnahme ab und verharrte weiter im Streik, woraufhin die Arbeitgeber mit Aussperrung drohten. Die Gewerkschaften waren bereits so weit in die Defensive gedrängt, daß sie trotz minimaler Zugeständnisse den Streik abbrachen, der sieben Wochen gedauert hatte744. Mit der anziehenden Konjunktur und Teuerung kam es im Sommer und Herbst 1921 in fast allen Gegenden Deutschlands zu Metallarbei- terstreiks, die zum Teil einen beträchtlichen Umfang erreichten745. Nach Ablehnung eines Schiedsspruches des Schlichtungsausschusses traten in Dresden die Metallarbeiter einiger Großbetriebe in den Ausstand, den die Arbeit- geber mit einer Aussperrung von über 15000 Metallarbeitnehmern beantworte- ten. Die über dreiwöchige Aussperrung endete mit einem Kompromiß746. Wäh- rend die Arbeitskämpfe in Sachsen ohne größere Zwischenfälle abliefen, schreck- ten streikende Metallarbeiter im Westen der Republik nicht vor Gewaltmaßnah- men zurück. Im September 1921 legten 15000 Metallarbeiter des Siegener Landes trotz ausdrücklicher Warnungen der Gewerkschaften die Arbeit nieder. Um der Streikbewegung Herr zu werden, setzten sich die christlichen Gewerkschaften wie auch der DMV an die Spitze der Bewegung und vereinbarten mit den Arbeit- gebern die Einsetzung eines Schiedsgerichts, dessen beide Schiedssprüche jedoch von den Streikenden zurückgewiesen wurden. Während der letzten Urabstim- mung hatten radikalisierte Arbeiter das Elektrizitätswerk in Siegen stillzulegen versucht. Plünderungen und der Einbruch in Waffenhandlungen führten schließ- lich zum Eingreifen der Polizei, die von der Schußwaffe Gebrauch machen mußte. Ein Toter und 18 Schwerverwundete waren zu beklagen747. Auch 1921 gab im Rheinland noch ein Teil der Arbeiter der syndikalistischen direkten Aktion den Vorzug gegenüber der gewerkschaftlichen Verhandlungstak- tik, die angesichts der inflationären Preisentwicklung sich wie der Wettlauf des Hasen mit dem Igel ausnahm. Zwei Beispiele sollen es illustrieren. In der Düssel- dorfer Metallindustrie wurde im November 1921 ein Schiedsspruch des Sozialde- mokraten Mehlich, der wie bereits erwähnt zu einer sehr restriktiven Lohnpolitik neigte, mit großer Mehrheit abgelehnt. Obwohl der DMV befürchtete, daß die

744 Vgl. ebenda, S. 98f.; Streik in der Metallindustrie Leipzigs, Leipziger Volkszeitung vom 6. 12. 1920; Schiedsspruch in der Leipziger Metallindustrie, Leipziger Volkszeitung vom 16.12. 1920; Die Leipziger Metallindustriellen provozieren, Leipziger Volkszeitung vom 19. 12.1920; Gewerk- schaftsgenossen, Leipziger Volkszeitung vom 21. 12. 1920; Aussperrung in der Leipziger Metall- industrie, Leipziger Volkszeitung vom 13.1. 1921; Ein Nachwort zur Metallarbeiterbewegung, Leipziger Volkszeitung vom 15. 2. 1921. 745 Einen groben Überblick über die Streikbewegungen gibt Wentzel, Inflation und Arbeitslosigkeit, S. 122-128. 746 Vgl. Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1921, Bd. 2, S. 3.239; BAB R 134, Fiche 14, Lagebericht vom 6. 9. 1921. 747 Vgl. GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 204, Der Oberpräsident Münster an den Staatskommissar für öffentliche Ordnung, 4. 9. 1921; ebenda, Der Oberpräsident Münster an den preußischen Mi- nister für Handel und Gewerbe, 8. 10. 1921. IV. Inflation und Deflation 531

Arbeiter ihm außer Kontrolle geraten könnten, votierte er im Gegensatz zu den christlichen Gewerkschaften für Streik, dem sich 40000 bis 50000 Metallarbeiter anschlossen. Die Düsseldorfer Metallarbeitgeber lehnten Verhandlungen ab und beschlossen die Aussperrung der 60000 Beschäftigten. Während der vom Reichs- arbeitsministerium eingesetzte Schlichter auf einen Kompromiß drängte, folgte ein Teil der Arbeiter syndikalistischen Parolen und drang in den Sitzungssaal des Düsseldorfer Regierungsgebäudes ein, um Druck auf die Verhandlungen auszu- üben, so daß die Verhandlungen in Köln weitergeführt werden mußten. Nach An- nahme des Schiedsspruches durch die christlichen Gewerkschaften rief schließlich auch der DMV zur Arbeitsaufnahme auf, obwohl 83 Prozent seiner Mitglieder den gefällten Schiedsspruch abgelehnt hatten. Der Druck der Straße hatte in die- sem Fall das Verhandlungsergebnis nicht beeinflussen können748. Die Arbeiter der Kruppschen Gußstahlfabrik setzten etwa zur gleichen Zeit hingegen durchaus mit Erfolg ihre Forderungen ohne Einschaltung der Gewerkschaften durch. Sie stell- ten der Firmendirektion ein Ultimatum, in dem die Gewährung einer Teuerungs- beihilfe verlangt wurde, und versammelten sich, um ihrer Streikdrohung Nach- druck zu verleihen, vor dem Verwaltungsgebäude. Die geforderten Teuerungsbei- hilfen wurden noch am gleichen Tag gewährt749. Die wenigen hier genannten Beispiele zeigen, daß die Gewerkschaften nicht nur durch die Aussperrungsbe- schlüsse oder -drohungen der Unternehmer in die Defensive gerieten, sondern wie schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit in der Eisen- und Stahlindustrie des rheinisch-westfälischen Industriegebietes auch durch die Uberzeugung zahl- reicher Arbeiter, daß angesichts der immer schneller steigenden Preise die Durch- setzung von Lohnforderungen nicht mehr der gewerkschaftlichen Verhandlungs- taktik und langandauernden Schiedsverfahren überlassen werden dürfe, sondern durch direkte Aktionen erzwungen werden müsse. In Berlin hatte der fehlgeschlagene Metallarbeiterstreik vom November 1919 die Streikneigung der Berliner Metallarbeiter stark geschwächt. Größere Metall- arbeiterstreiks gab es in der deutschen Hauptstadt bis 1923 nicht mehr. An vor- derster Streikfront standen dort die Bekleidungsarbeiter(innen), die Holzarbeiter und die Bauarbeiter750. Die Scheinkonjunktur reizte in Berlin wie auch in anderen Gegenden Deutschlands die Bauarbeiter dazu, durch Arbeitsniederlegungen die Bezahlung von Konjunkturlöhnen zu erzwingen751. Obwohl die Berliner Arbeit- geber zurückhaltender als in anderen Gegenden bei dem Griff nach der Aussper- rungswaffe waren, schritten auch sie im November 1921 zu einer Massenaussper- rung im Baugewerbe, nachdem die Gewerkschaften einen Schiedsspruch des Be- zirkslohnamtes abgelehnt hatten752. Großes Aufsehen erregte ein im Oktober

™ Vgl. NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 15369, Lagemeldung vom 10. 11. 1921, vom 14. 11. 1921, vom 25. 11. 1921 und 1. 12. 1921. 749 Vgl. ebenda, Lagemeldung vom 13. 11. 1921. 750 Vgl. ADGB, Gewerkschaftskommission Berlin und Umgegend, Jahres- und Kassenberichte Nr. 31-33 für die Jahre 1920-1922. 751 Zu zahlreichen erfolgreich geführten Bauarbeiterstreiks kam es u.a. im Chemnitzer Gebiet, vgl. SHStAD, Nr. 11080, Polizeipräsidium Chemnitz, Bauarbeiterbewegung in Chemnitz, 9.4. 1921; im Juli 1921 streikten 17000 Bauarbeiter im Rheinland; vgl. BAB, R 134, Fiche 12, Lagebericht des RKO vom 12. 7.1921. 752 Vgl. Massenaussperrung im Berliner Baugewerbe, Berliner Tageblatt vom 11. 12. 1921. 532 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

1921 in Berlin ausbrechender und bis November andauernder Arbeitskampf von nahezu 40000 Gaststättenangestellten, die um den Erhalt ihres festen Gehalts kämpften, während die Wirte diese durch Festsetzung eines zehnprozentigen Zu- schlags auf Speisen und Getränke wieder auf Trinkgeldbasis anstellen wollten753. Von noch größerer politischer Brisanz war ein mehrere Wochen dauernder Streik der Kellner und Kellnerinnen in Leipzig, der die Abhaltung der Leipziger Herbst- messe zu gefährden drohte. Da die Kellner vor Gewaltanwendung nicht zurück- schreckten, erklärten sich die Arbeitgeber des Gastwirtsgewerbes nur dann bereit, ihre Lokale während der Messe zu öffnen, wenn ihnen von der Regierung ausrei- chender Schutz gewährt werde. Arbeitnehmergruppen, die vor dem Krieg nie zur Streikwaffe gegriffen hatten, wurden in der angeheizten Atmosphäre der Inflation so plötzlich zu einer Herausforderung für den Staat754. Die Arbeitskämpfe in der Textilindustrie fanden in der Öffentlichkeit und in den Medien wenig Beachtung, wurden aber insbesondere in Thüringen und Sach- sen, wo in der mittelständischen Textilindustrie der Kapitalbedarf nicht gedeckt werden konnte, mit großer Härte geführt. Nachdem bereits die wegen Lohndiffe- renzen in Ausstand getretenen Weber in Greiz ausgesperrt worden waren, drohte den streikenden Beschäftigten in den sächsisch-thüringischen Färbereien und We- bereien im Oktober 1921 eine Gesamtaussperrung, die nur deshalb im letzten Moment abgewandt werden konnte, weil die Gewerkschaften sich kompromiß- bereit zeigten. Einen Monat später kam es in Ostsachsen zu der gefürchteten Ge- samtaussperrung, von der nach Gewerkschaftsangaben 40000 Textilarbeiter, offi- ziellen Angaben zufolge rund 24 000 betroffen waren. Die Unternehmer in Ost- sachsen waren aus dem in Chemnitz ansässigen Arbeitgeberverband ausgetreten, weil ihnen dessen Tarifabschlüsse zu hoch waren. Das starke Lohngefälle gegen- über Westsachsen provozierte in einigen Fabriken Teilstreiks. Auf Teilstreiks mit einer Aussperrung zu reagieren, war schon im Kaiserreich eine gängige Strategie der Textilarbeitgeber gewesen und wurde auch jetzt wieder angewandt. Dank des Eingreifens des sächsischen Arbeitsministeriums, das eine Erhöhung der Grund- löhne um 40-50 Prozent für angemessen hielt, konnte die Aussperrung in weni- gen Tagen beendet werden755. Sächsische Unternehmer nahmen in der Statistik der Aussperrungen, die in den Jahren 1921/22 an Umfang stark zunahmen, eine Spitzenposition ein. Insgesamt stieg die Zahl der ausgesperrten gewerblichen Arbeiter von 90706 im Jahre 1920 auf 201931 1921 und 219671 1922, die verlorenen Arbeitstage pro Ausgesperrten von 14,6 auf 16,3 und 19,8. War im Jahre 1920 die Aussperrung vor allem eine

753 Vgl. Der Kampf im Gastwirtsgewerbe. Was wollen die Streikenden, Vorwärts vom 9.10. 1921; Streik beendet, Vorwärts vom 8. 11. 1921. 754 Vgl. SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11080, Bericht über das Eingreifen der Landespolizei beim Kellnerstreik in der Zeit vom 15. bis 31. 7. 1922; ebenda, Schreiben des Sächsischen Wirt- schaftsministeriums an den Minister des Innern vom 14. 8. 1922. 755 Vgl. Die Aussperrung in Sachsen-Thüringen abgewehrt, Der Textil-Arbeiter vom 7. 10. 1921; Der Lohnkampf in Ostsachsen, Der Textil-Arbeiter vom25. 11. 1921;Der Lohnkampf in Ostsachsen, Der Textil-Arbeiter vom 16. 12. 1921; AdsD, ITBLAV, Bericht über die Lage der Textilindustrie und der Textilarbeiter in Deutschland seit Mitte Dezember 1921; Jahresberichte der Gewerbe- Aufsichtsbeamten und der Bergbehörden für das Jahr 1921, Bd. 2, S. 3.160; laut dem Statistischen Jahrbuch für den Freistaat Sachsen 1921/23, S. 240, waren 1921 in der Textilindustrie nur 23 862 Arbeitnehmer ausgesperrt worden. IV. Inflation und Deflation 533

Maßnahme gegen „wilde Streiks", so sollten in den beiden folgenden Jahren die Gewerkschaften mittels der Aussperrungswaffe auf die Knie gezwungen werden. Die Metallindustrie, gefolgt von dem Textil-, Bau- und Holzgewerbe, waren am häufigsten Schauplatz von Aussperrungen.

Tabelle 12: Aussperrungen in Deutschland in den Jahren 1921/22, aufgeteilt nach Branchen

Beschäftigung Jahr Aus- Höchstzahl der verlorene sperrungen gleichzeitig Arbeitstage pro Ausgesperrten Ausgesperrtem

Metallverarbeitung/ 1921 110 88651 17,6 Maschinenbau 1922 73 96044 23,6 Textilindustrie 1921 30 46110 12,1 1922 9 17310 34,8 Baugewerbe 1921 76 28534 20,1 1922 97 44161 11,1 Holzgewerbe 1921 62 7140 17,3 1922 190 44110 10,1

Nicht nur die hohe Zahl der Aussperrungen im Bau- und Holzgewerbe, sondern auch der Befund, daß Sachsen 1921 38,4 Prozent aller Ausgesperrten zu verzeich- nen hatte, verweist abermals darauf, daß in der mittelständischen Industrie die Arbeitskämpfe am härtesten ausgefochten wurden. 1922 nahm allerdings Sachsen in der Arbeitskampfstatistik nur noch einen Platz im Mittelfeld ein756. Bereits im Frühjahr 1922 zeichnete sich eine Trendwende in der Entwicklung der Arbeits- kämpfe ab. Im Arbeitskampf in der süddeutschen Metallindustrie, an dem laut amtlicher Statistik nicht einmal 100000, nach der gewerkschaftlichen Statistik aber über 200 000 Beschäftigte beteiligt gewesen waren757, ging es nicht mehr um einen lokal begrenzten Konflikt, sondern um eine nationale Machtprobe zwischen dem Arbeitgeberlager und den Gewerkschaften, wobei allerdings die Arbeitgeber sich vorerst noch gezwungen sahen, eine gewisse Rücksicht auf die Errungen- schaften der Revolution zu nehmen. In richtiger Einschätzung der Machtverhältnisse starteten die deutschen Ar- beitgeber einstweilen keinen Frontalangriff auf den Achtstundentag oder die Reichsregierung. Auch eine schleichende Aushöhlung des Achtstundentages wie in Frankreich durch eine Unzahl von Ausnahmeregelungen war in Deutschland aufgrund der Stärke der Gewerkschaften und der Betriebsräte nicht möglich, so daß Deutschlands Arbeitgeber zunächst die Strategie verfolgten, die verbindlich festgelegte Maximalarbeitszeit voll auszuschöpfen. Schon bei der Diskussion des Arbeitszeitgesetzentwurfes im Reichswirtschaftsrat hatten sie sich vorerst nur

756 Errechnet auf der Grundlage der Statistiken des Reichsarbeitsministeriums, vgl. Streiks und Aus- sperrungen im Jahre 1921 und Streiks und Aussperrungen im Jahre 1922, in: RABI. (Nichtamt- licher Teil), 1923, Nr. 4, S. 83 und Nr. 11, S. 243. Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1922, S. 74. 534 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen zum Ziel gesetzt, den schematischen Achtstundentag zu durchbrechen und eine Einigung über die Einführung der 48-Stundenwoche und über die Möglichkeit einer Vereinbarung einer längeren als achtstündigen Arbeitszeit durch die Tarif- parteien zu erreichen758. Das Auslaufen des Heidelberger Abkommens vom April 1919, in dem für die Metallindustrie in süddeutschen Gebieten die 46-Stundenwo- che vereinbart worden war, Ende 1921, bot den Arbeitgebern die Chance, einen Präzedenzfall für die volle Ausschöpfung des Achtstundentages durch eine tarif- vertragliche Festlegung der 48-Stundenwoche zu schaffen759. Die Metallarbeiter lehnten indes den Arbeitgebervorschlag, der die Einführung der 48-Stundenwoche mit einer großzügigen Urlaubs- und Überstundenregelung versüßte, in einer Urabstimmung am 13. Februar 1922 ab, die in Württemberg und Bayern am 24. Februar und am 4. März gefällten Schiedssprüche deckten sich jedoch mit der Zielsetzung der Arbeitgeber. Obwohl die christlichen Gewerk- schaften wie auch der Hirsch-Dunckersche Gewerkverein die Schiedssprüche ak- zeptierten, rief der DMV, der wie auch die ADGB-Spitze der Meinung war, daß die Interessen der deutschen Arbeiter auf dem Spiele stünden760, zu Schwerpunkt- streiks auf, die die Mitgliederversammlung der süddeutschen Gruppe des Gesamt- verbandes Deutscher Metallindustrieller Mitte März mit einer Massenaussper- rung in Süddeutschland beantwortete, die über Württemberg und Bayern hinaus auch auf badische und hessen-nassauische Gebiete ausgedehnt wurde. Das Kalkül der Metallindustriellen brachte Paul Reusch mit der ihm eigenen Kompromißlo- sigkeit zum Ausdruck, als er in einem Brief an den Direktor der MAN, Richard Buz, bemerkte, „daß mit Rücksicht auf die nicht sehr vollen Kassen der Gewerk- schaften der Streik in Bayern in kurzer Frist unter Annahme der Bedingungen der Arbeitgeber [...] beendet sein" werde761. Obwohl die Inflation die Kassen der Ge- werkschaften noch nicht völlig aufgezehrt hatte, wie Reusch hoffte, endete der in einigen Gebieten über zwölf Wochen dauernde Arbeitskampf tatsächlich in einer Niederlage der Gewerkschaften, die vom DMV nur mühsam kaschiert werden konnte. Nachdem die Arbeitgeber einen Einigungsvorschlag des Reichsarbeitsmi- nisters, der eine wöchentliche Arbeitszeit von 47 Stunden einschließlich der Mög- lichkeit, im Bedarfsfalle eine Überstunde anzuordnen, strikt abgelehnt hatten, mußte sich der DMV nolens volens auf den Kompromiß des bayerischen Regie- rungsvertreters vom 19. Mai 1922 - der auch zum Modell für die übrigen Tarifge- biete wurde - einlassen, der zwar formal die 46-Stundenwoche bestehen ließ, aber den Arbeitgebern das Recht einräumte, jederzeit nach vorheriger Unterrichtung des Betriebsrates eine Arbeitszeit von 48 Stunden anzuordnen. So konnte der

758 Vgl. VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1921, S.32f.; VDA, Geschäftsbericht über das Jahr 1922, S. 23-25; Die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter, in: RABl. (Nichtamtlicher Teil), 1921, Nr. 22, S. 885-889. 759 Der Arbeitskampf in der Metallindustrie in Süddeutschland ist bereits gut erforscht, so daß er hier nur kurz skizziert zu werden braucht. Die beste Darstellung stammt aus der Feder von Feldman/ Steinisch, Die Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschaftsstaat, S. 364-380; vgl. auch Wentzel, Inflation und Arbeitslosigkeit, S. 129-147. 760 Vgl. Sitzung des Bundesausschusses am 2./3. 5. 1922, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 522. 761 RWWA, 130-300193010/4, Schreiben vom 25.3. 1922; seit Anfang 1921 kontrollierte die Gute- hoffnungshütte 36 Prozent des Kapitals der MAN. Vgl. James, Familienunternehmen in Europa, S. 207 f. IV. Inflation und Deflation 535

DMV zwar das Gesicht wahren762, aber de facto war den Betriebsräten ein Mit- spracherecht bei der Anordnung von Uberstunden genommen worden. Die Freien Gewerkschaften hatten nicht nur wegen ihrer dahinschwindenden finanziellen Polster, sondern auch aufgrund der öffentlichen Meinung im In- und Ausland, die sich dem Standpunkt der Arbeitgeber anschloß, daß nur eine erhöhte Produktivität einen Ausweg aus dem Chaos der Inflation versprach, von vornher- ein auf verlorenem Posten gestanden. Angesichts der Inflation und des vom Aus- land wegen der Reparationsverpflichtungen ausgeübten Drucks wurde dem Pro- duktionsimperativ in Deutschland größere Priorität als in anderen Ländern einge- räumt763, wenngleich auch in anderen europäischen Staaten und nicht zuletzt in Frankreich der Achtstundentag von Seiten der Arbeitgeber für die gegenüber der Vorkriegszeit reduzierte Produktionsleistung verantwortlich gemacht wurde764. Daß der Produktionsrückgang in der Nachkriegszeit eine Folge des Achtstunden- tages war, ließ sich durch wissenschaftliche Untersuchungen zwar nicht bele- gen765, war aber ein Argument, das in breiten Kreisen der Öffentlichkeit Überzeu- gungskraft besaß, obwohl beispielsweise die Überschichtenabkommen im Berg- bau nicht den erwarteten Produktionserfolg erbrachten, da sie zu einem Sinken der stündlichen Förderleistung führten. Der Produktionsrückgang war im Berg- bau vor allem der gegenüber der Vorkriegszeit geringeren Qualifikation der Hauer und der mangelhaften Ernährungslage der Bergarbeiter geschuldet766. Die schlechte Qualifikation und Überbesetzung der Belegschaft, die zum Teil eine Folge der Demobilmachungsverordnung war, wirkte sich auch in der Stahlindu- strie nachteilig aus767. Folgt man den zahllosen Berichten der Gewerbeaufsichts- behörden, so hatte sich die Einführung des Achtstundentages in den einzelnen Be- trieben sehr unterschiedlich ausgewirkt. Die Unkosten für unproduktive Arbeit durch eine wachsende Zahl nur mittelbar an der Produktion Beteiligter scheinen allerdings in der Nachkriegszeit, u.a. auch durch die Einführung des Achtstun- dentages, tatsächlich gestiegen zu sein768.

762 In der Metallarbeiter-Zeitung vom 3. 6. 1922 wurde versucht, den Arbeitskampf als Gewinn zu interpretieren, der in der „Dämpfung des Herrendünkels" bestehe. 765 Vgl. hierzu die Debatte im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, Bd. 2, S. 2428-2441. 764 Zur Rückführung der sinkenden Produktions- und Arbeitsleistung auf den Achtstundentag durch die VDA vgl. u.a. deren Denkschrift: Die Arbeitszeitfrage in Deutschland, S. 101-103. 765 Der aufgrund eines Gesetzes vom 15. 4. 1926 eingesetzte Enquete-Ausschuß für Arbeitsleistung des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirt- schaft kam zu dem Ergebnis, daß zahlreiche Faktoren, u.a. auch der schlechte Zustand von Pro- duktionsanlagen, für die verminderte Arbeitsleistung verantwortlich waren. Vgl. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für die Arbeitsleistung, IV. Unterausschuß, Bd. 1-7; für die Eisen und Stahlindustrie vgl. auch Kleinschmidt, Rationalisierung als Unternehmensstrategie, S. 172-176. 766 Vgl Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für Arbeitsleistung, IV. Unterausschuß, Bd. 2: Die Arbeitsverhältnisse im Steinkohlenbergbau in den Jahren 1912 bis 1926, S. 283,299 und passim. 767 Vgl. Verhandlungen und Berichte des Unterausschusses für die Arbeitsleitung, IV. Unterausschuß, Bd. 7, Die Arbeitsleistung in Stahl- und Walzwerken und ihre Abhängigkeit von Arbeitszeit, Ar- beitslohn und anderen Faktoren, S. 282. 768 Vgl. z.B. SAA, 11 Lf 304, Erster Vierteljahresbericht an den Betriebsrat vom 17. 8. 1920. Danach waren die Lohnkosten für unproduktive Arbeit im Siemens-Wernerwerk um mehr als 50 Prozent gestiegen; zu ähnlichen Ergebnissen kam man auch bei Borsig, vgl. Litz, Wie können wir die Wirt- schaftskrisis überwinden, in: Borsig-Zeitung 1924, Nr. 8/9, S. 67-70. 536 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Die deutschen Unternehmer teilten jedenfalls ebensowenig wie die französi- schen patrons die Hoffnung der Gewerkschaften, daß durch weitere Rationalisie- rungen der eingetretene Produktionsrückgang wettgemacht werden könne. Sie sa- hen in dem Ausgang des Arbeitskampfes in Süddeutschland nur den Auftakt für weitere Vorstöße, die bis zum Ausbruch der Hyperinflation jedoch auf ein Errei- chen der 48-Stundenwoche beschränkt blieben. So wurde in einem Rundschrei- ben des Arbeitgeberverbandes der Deutschen Textilindustrie vom 3. Juni 1922 die Einrichtung eines „Kampffonds zur Durchführung der 48-Stunden-Woche" vor- geschlagen. Der Geschäftsführer des Textilarbeitgeberverbandes Hermann Klaue gab sich mehr als zuversichtlich, daß der Arbeitgeberverband die Machtprobe mit den Gewerkschaften gewinnen werde: „Bei einer Beteiligung von rund 200000 Arbeitern an dem Kampf und einer wöchentlichen Streikunterstützung von durchschnittlich 200 Mark würde der Kampf die Gewerkschaften an Streikunter- stützungen pro Woche 40 Millionen Mark kosten. Es liegt auf der Hand, daß die Gewerkschaften den Kampf unter diesen Umständen auch bei weitgehender Un- terstützung der streikenden Arbeitnehmer durch Aufbringung von Sonderbeiträ- gen durch die übrigen Textilarbeiter und Überweisung von Streikunterstützungen seitens der Arbeitnehmer anderer Industrien nur für kurze Zeit finanzieren kön- nen."769 Der angekündigte Großkampf blieb aus - vermutlich nicht zuletzt des- halb, weil das Reichsarbeitsministerium anders als in der Metallindustrie die Pläne der Textilarbeitgeber für eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 48 Stunden nicht unterstützte770. In der Berliner Metallindustrie brauchte der dortige Arbeitgeberverband erst gar nicht zum Kampf zu rüsten. Der DMV lehnte zwar den am 28. August 1922 gefällten Schiedsspruch eines vom Reichsarbeitsministerium eingesetzten Schlich- tungsausschusses, der die wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden festsetzte, ab, aber die unter den Mitgliedern durchgeführte Urabstimmung zeigte, daß die Ber- liner Metallarbeiter vor einem großen Arbeitskampf zurückschreckten771. Der verlorene Arbeitskampf in Süddeutschland dürfte den Berliner Metallarbeitern eine Lektion gewesen sein, die wahrscheinlich auch die zusätzliche Verdienstmög- lichkeit nicht verlieren wollten. Die deutschen Arbeiter stellten sich zwar nicht frontal gegen die Gewerkschaften, wenn es um die Verteidigung der erreichten Arbeitszeitverkürzung ging, wie die Lohnabhängigen in Frankreich, aber das Sinken der Reallöhne hatte zermürbend gewirkt, so daß nicht wenige Arbeiter in Überstunden oder einer Arbeitszeitverlängerung einen willkommenen Zuver- dienst sahen772. Die deutschen Arbeitgeber hatten ihr Ziel, die seit der Revolution bestehenden Machtverhältnisse umzukehren, auch dank der staatlichen Interven- tion nicht vollständig erreicht. Die sozialstaatliche Entwicklung in der Weimarer

769 Das Rundschreiben ist abgedr. in: Vorwärts vom 9. 6. 1922 und in: Der Textil-Arbeiter vom 16. 6. 1922. 770 Vgl. Der Schlichtungsausschuß für die 46-Stunden-Woche, Der Textil-Arbeiter vom 11.8. 1922; Wiegmann, Textilindustrie, S. 180. 77> Vgl. Hartwich, Arbeitsmarkt, S. 99. 772 Vgl. Arbeitsverhältnisse in den der Gewerbeaufsicht unterstellten Betrieben nach den Jahresbe- richten der preußischen Gewerbeaufsichtsbeamten für das Jahr 1921, in: RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1922, Nr. 10, S. 323. IV. Inflation und Deflation 537

Republik verhinderte einseitige Unternehmerdiktate wie in Frankreich, wo stabile Machthierarchien die Konflikt- und Kampfbereitschaft minderten.

2. Zwischen Deflation und Inflation: Arbeitslosigkeit, Löhne und Lohnkonflikte in Frankreich (Mitte 1920 bis Ende 1923)

Auch Frankreich blieb von den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise nicht ver- schont. Geschäftsdepressionen, Preisstürze und Arbeitslosigkeit signalisierten im Herbst 1920 einen Konjunkturumsturz und prägten 1921 den Wirtschaftsalltag. Wie in Deutschland wurde auch in Frankreich der Kaufkraftverlust der Masse der Bevölkerung, verursacht durch die starken Preissteigerungen, für die Absatzkrise verantwortlich gemacht773. Depression und Deflation erreichten indes in Frank- reich nicht dramatische Ausmaße wie in vielen Ländern des westlichen Auslands und können daher in keinem Fall für die Behauptung ins Feld geführt werden, daß nur die Inflation Deutschland von schweren Unruhen verschont habe. Die wirt- schaftliche und soziale Entwicklung in Frankreich beweist eher das Gegenteil. Auch im Krisenjahr 1921 sank in Frankreich das Bruttoinlandsprodukt nur um 4,4 Prozent und stieg im darauffolgenden Jahr bereits wieder um 20,3 Prozent774. Die industrielle Produktion verringerte sich um 12 Prozent, lag aber 1922 um 41 Prozent höher als 1921775. Die Kohlenförderung erhöhte sich in den Jahren 1920- 1923 kontinuierlich und erreichte 1923 schon fast wieder den Stand der Vorkriegs- zeit776. Auch die Zahlen der Rohstahlproduktion ergeben eine aufsteigende Kurve, verdecken allerdings, daß aufgrund der Absatzkrise, aber auch des Koh- lenmangels Hochöfen stillgelegt werden mußten777. Der Kohlenmangel wurde auf französischer Seite einseitig auf das Ausbleiben deutscher Reparationskohle zu- rückgeführt, während unerwähnt blieb, daß ein nicht unerheblicher Teil der fran- zösischen Kohle ins Ausland exportiert wurde778. Von der Krise am stärksten be- troffen waren die Schuh- und die Textilindustrie, in denen der Preissturz am größ- ten war, sowie die Flugzeug- und Automobilindustrie. Marius Berliet drohte 1921 sogar der Zusammenbruch. Er mußte sich damit abfinden, daß Vertreter des Cré- dit lyonnais Schlüsselpositionen in der Konzernspitze einnahmen, denen schließ- lich die finanzielle Sanierung des krisengeschüttelten Automobilwerkes gelang779. Die genannten Gewerbezweige waren auch die Sektoren, in denen die Arbeits- losigkeit grassierte. Die Arbeitslosigkeit wurde in Frankreich nur selten als Problem wahrgenom- men oder gar zu einem Politikum gemacht. Arbeitsminister Daniel-Vincent stellte

773 Vgl On a poursuivi le débat sur la situation économique, La Journée Industrielle vom 21.12.1920; CGPF, Compte-rendu de l'assemblée générale du 11 mars 1921, S. 5; La crise commerciale et indu- strielle, Le Temps vom 9. 12. 1920. 774 Vgl. Villa, Une explication des enchaînements macro-économiques, S. 222; Chadeau, L'économie nationale, S. 86. 775 Vgl. Blaich, Der Schwarze Freitag, S. 164 f. 776 Vgl. Escudier, L'industrie française du charbon, S. 343. 777 Vgl. Mitchell, International Historical Statistics, S. 467 f.; Brelet, Crise de la métallurgie, S. 65 und 135; Jeanneney, François de Wendel, S. 130. 778 Zur Kohlenausfuhr in Frankreich vgl. Die Kohlenwirtschaft Frankreichs im Jahr 1921, in: Wirt- schaft und Statistik 2, 1922, S. 359. 779 Vgl. Loubet, Le crédit lyonnais et l'automobile, 1905-1971, S. 410. 538 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen im Juli 1921 in der Kammer mit Genugtuung fest, daß das Haushaltsbudget Frankreichs durch die Arbeitslosen weit weniger belastet werde als das Deutsch- lands oder Englands780. Daniel-Vincent verschwieg freilich, daß auch in Frank- reich eine große Kluft zwischen der Zahl der unterstützten und der der tatsächlich Arbeitslosen klaffte. Die Zahl der unterstützten Arbeitslosen erreichte im März 1921 mit 89961 ihren Höchststand781. Tatsächlich waren jedoch 1921 314454 Männer und 208 463 Frauen arbeitslos und damit mehr als eine halbe Million der Beschäftigten782. Wenn auch die Arbeitslosenzahl in Frankreich nur etwa halb so hoch wie zur selben Zeit in Deutschland war und nur ungefähr ein Viertel der eng- lischen Arbeitslosenzahlen betrug, so darf doch nicht außer acht gelassen werden, daß in Frankreich nicht einmal acht Millionen Beschäftigte in Industrie und Handwerk tätig waren, während in Deutschland dort über 13 Millionen Men- schen Arbeit und Brot fanden. Wie in Deutschland war auch in Frankreich vor al- lem die Hauptstadt von einer großen Arbeitslosigkeit betroffen. Im Departement Seine hatten 202265 Männer und Frauen keine Arbeit, im Departement Nord 43306 und im Departement Rhône 29177783. Allein die dem Pariser Metallarbeit- geberverband angeschlossenen Unternehmen hatten im September 1920 27 Pro- zent ihrer Beschäftigten entlassen. Im Flugzeugsektor lag die Arbeitslosenquote in Paris bei ungefähr 90 Prozent, in der Automobilindustrie bei 40-50 Prozent, in Lyon bei 50-60 Prozent784. Anders als in Deutschland wurden die Arbeitslosen jedoch nicht zu einem Unruheherd. Sie wurden auch kaum registriert, was nicht zuletzt daran gelegen haben dürfte, daß die vielen Saisonarbeiter in der Auto- und Flugzeugindustrie in ihre ländliche Heimat zurückkehrten und sich mit ihrem landwirtschaftlichen Besitz über Wasser hielten. Darauf deutet auch hin, daß nicht einmal ein Viertel aller Arbeitslosen in Paris Erwerbslosenunterstützung er- hielt785. Verwirrung rief hervor, daß trotz Arbeitslosigkeit die Immigration ausländi- scher Arbeiter nicht gestoppt wurde. Die Zahl der gemeldeten ausländischen lohnabhängig Beschäftigten stieg bis 1921 auf über 600000 an786. In der wirt- schaftspolitischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris mutmaßte man deswegen schon, daß die Arbeitslosigkeit in einer um sich greifenden Arbeitsun- lust wurzele und somit einen „streikartigen Charakter" trage787. Die CGT dage- gen äußerte den Verdacht, daß die Arbeitgeber die Einwanderung förderten, um die französischen Arbeiter und insbesondere Gewerkschafter von ihren Arbeits- plätzen zu verdrängen. Im übrigen vertrat die französische Gewerkschaftsspitze

780 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 2 juillet 1921, S. 3109. 781 Vgl. Héreil, Le chômage en France, S. 29. 782 Vgl. Schor, L'opinion française et les étrangers, S. 47. Die Zahl der Ausländer, die in Frankreich einer beruflichen Beschäftigung nachgingen, betrug 910000. 783 Vgl. Héreil, Le chômage en France, S. 50. 784 Vgl. CAC, 39 AS 850, GIM, Conseil d'administration, Séance du 15 janvier 1921; ferner Nakajimi, Crise et croissance de l'industrie mécanique de la région parisienne, S. 762; Le chômage dans la région lyonnaise, L'Usine vom 13. 11. 1920. 785 Im Februar/März 1921 erhielten in Paris nur 45504 Männer und Frauen Erwerbslosenunterstüt- zung, vgl. Bulletin du Ministère du Travail 28,1921, S. 78. 78' Vgl. Bulletin du Ministère du Travail 34, 1927, S. 79. 787 Vgl ΡΑ/ΛΑ, R 71034, Bericht der wirtschaftspolitischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Frankreich vom 26. 10. 1920. IV. Inflation und Deflation 539 die Ansicht, daß die Arbeitslosigkeit bewußt herbeigeführt worden sei, um die Löhne zu senken, wobei insbesondere der Bergbau als Beispiel angeführt wurde, denn noch immer wurde in Frankreich über einen auch die Industrieproduktion lähmenden Kohlenmangel geklagt788. Die noch immer unzureichende Kohlenpro- duktion in Frankreich dürfte allerdings vor allem auf die Konkurrenz der engli- schen Kohle und das Angebot billiger deutscher Reparationskohle zurückzufüh- ren sein789. In der Regel war die Anwerbung ausländischer Arbeiter kein machia- vellistisches Manöver gegen die französische Arbeiterschaft. In einigen Sektoren und Regionen herrschte weiterhin Facharbeitermangel, der nur durch ausländi- sche Arbeitskräfte gedeckt werden konnte. Unter der Kurzarbeit dürften die französischen Textilarbeiter(innen) noch mehr als die deutschen gelitten haben. In der Textilregion Lille-Roubaix-Tour- coing lag, gemessen am Arbeitsausfall durch Kurzarbeit, die Arbeitslosigkeit seit Ende 1920 bei 30 Prozent. Die Arbeitszeit betrug meistens nur noch 30^0 Wo- chenstunden790. In der Seidenindustrie in Lyon wie auch in den dortigen Färbe- reien waren die Arbeiter sogar nur drei Tage die Woche beschäftigt791. In der Spit- zenklöppelei in Calais befanden sich im April 1921 rund 10000 Beschäftigte ohne Arbeit792. Die in der Textilindustrie Beschäftigten verfügten auch nur selten über Landbesitz, mit dem sie die Zeit der Arbeitslosigkeit überbrücken konnten. So erstaunt es nicht, daß die nordfranzösische Textilindustrie im Jahre 1921 zu einem Epizentrum der Streikbewegung wurde. Die französischen Arbeitgeber, die ein antiinflationistischer Konsens einte, ver- steiften sich darauf, daß außer der Reduzierung der Kohlenpreise, staatlicher Ex- portförderung und der Gewährung von Vorschüssen und Krediten allein eine Lohnsenkung einen Ausweg aus der Krise und der Arbeitslosigkeit versprach793. Wenngleich die Arbeitgeber sich mit ihren Lohndiktaten durchsetzten und die Löhne um durchschnittlich 10-11 Prozent, bei den Frauen sogar um 14 Prozent fielen794, litten die französischen Arbeiter in den Jahren 1921/22 nicht wie ihre deutschen Kollegen unter Reallohnverlusten. Die Löhne Vollbeschäftigter lagen in diesem Zeitraum im Durchschnitt um 19 Prozent höher als in der Vorkriegs- zeit795, wobei allerdings der Lebenshaltungsindex in Frankreich nicht weniger umstritten als in Deutschland war. Die CGT hielt die von den Commissions d'étude

788 Vgl.u.a. Les manœuvres patronales et la crise de chômage, Le Peuple vom 27.1. 1921;Les mineurs en ont assez!, Le Peuple vom 10. 3. 1921; Rapport de l'U.D. du Nord, La Voix du Peuple vom Dezember 1920, S. 757f. 789 Vgl. BAB, R 601, Nr. 732, Reichswirtschaftsministerium, Bericht über die Wirtschaftslage im Mai 1922, S. 12. 7.0 Vgl. La situation de l'industrie textile à Lille-Roubaix-Tourcoing, La Journée Industrielle vom 1. 12.1920; La situation dans le Nord, Le Peuple vom 11.4. 1921. 7.1 Vgl. L'enquête de la C.G.T sur le chômage, La Voix du Peuple vom April 1921, S. 215-226, hier S. 221. 7.2 Vgl. Carón, Les Calaisiens et la dentelle, S. 45. 793 Vgl. La situtation de l'industrie textile à Lille-Roubaix-Tourcoing, La Journée Industrielle vom 1. 12. 1920. 7,4 Vgl. Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 360; Louis, Histoire de la classe ouvrière en France, S. 352. 795 Vgl. H. Richardson, Die Reallöhne im heutigen Europa verglichen mit den Löhnen von 1914, in: Manchester Guardian Commercial. Wiederaufbau in Europa vom 26.10. 1922, S. 587; Fontaine, L'industrie française, S. 130 f., der allerdings entgegen Richardson und anderen Quellen schon für 1921 bei den Bergarbeitern höhere Reallöhne als in der Vorkriegszeit konstatiert. 540 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen du coût de la vie ermittelten Ziffern für zu niedrig. Unbestreitbar ist jedoch, daß selbst die Bergarbeiter, die wie in Deutschland zu den Lohnverlierern zählten, ihre Situation verbessern konnten. Sie erreichten 1922 wieder das Reallohnniveau der Vorkriegszeit und konnten es 1923 leicht überschreiten796. Während die ungelern- ten Arbeiter in Deutschland von der Inflation profitierten, hatten sie in Frank- reich während der Deflation das Nachsehen. Die Unternehmer nützten die Gele- genheit, um die während des Kriegs auch in Frankreich eingebrochenen Lohn- hierarchien wiederherzustellen. Um dieses Vorhaben auch in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, kamen beispielsweise in La Journée Industrielle junge Facharbei- ter zu Wort, die eine Bezahlung entsprechend ihrer Ausbildung einforderten und in der Nivellierung der Löhne eine Gefahr für eine solide Berufsausbildung sa- hen797. Sie hatten schon bald keinen Grund mehr für ihre ihnen in den Mund ge- legten Klagen. Während ein ungelernter Pariser Metallarbeiter 1921 Lohnreduzie- rungen von etwa 20 Prozent hinnehmen mußte, war die Lohntüte eines Fach- arbeiters nur um etwa neun Prozent geringer gefüllt als Mitte 1920798. Im Februar 1922 lag der Nominallohn eines Facharbeiters nur noch zwei bis drei Prozent unter dem von 1920, der des ungelernten Arbeiters noch immer elf Prozent. Bei den Frauenlöhnen betrug der Unterschied sogar 14-17 Prozent799. Ein Pariser Facharbeiter verdiente 1922 62 Prozent mehr als ein ungelernter Arbeiter800. So lag - wie bereits erwähnt - der Lohn eines französischen Facharbeiters zwar über dem eines deutschen, der eines ungelernten Arbeiters aber noch immer deutlich unter dem seines rechtsrheinischen Kollegen. Wie in Deutschland mußten auch in Frankreich die höheren Beamten die größten Reallohnverluste hinnehmen. Wenngleich die Löhne der Arbeiter in Frankreich weiterhin am Existenzmini- mum ausgerichtet waren, so mußte dort kein Arbeiter - falls er nicht von Kurzar- beit betroffen war - hungern, wie der Sozialist Pierre Renaudel im Hinblick auf die Hungerexistenz deutscher Arbeiter betonte801. Lebensmittel fehlten im Hexa- gon nicht, die Fleischpreise waren allerdings selbst während der Deflationszeit relativ hoch, so daß der Fleischverzehr offensichtlich eingeschränkt werden mußte802. Die Reallohnsteigerungen - so geringfügig sie zum Teil auch waren - mögen neben dem schwachen gewerkschaftlichen Organisationsgrad und der Machtüberlegenheit der Arbeitgeber der Hauptgrund dafür gewesen sein, daß es trotz der Lohnsenkungskampagne der Arbeitgeber, die die CGT als „Verbrechen" anprangerte803, außer in der von Kurzarbeit betroffenen Textilindustrie nur selten zu größeren Streikbewegungen kam. In der Mehrzahl der Fälle akzeptierten die Arbeitnehmer die Lohnreduzierung und verzichteten auf eine Arbeitsniederle-

7.6 Errechnet nach dem Tableau France - Ensemble des mines de charbon, in: Borgeaud, Le salaire des ouvriers des mines de charbon, ο. P. 7.7 Vgl. z.B. Hector Chilini, Ce que pensent les jeunes ouvriers et employés, La Journée Industrielle vom 8. 9. 1923. 798 Vgl Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 508. 7" Vgl. La France économique en 1922, S. 135; Wirtschaft und Statistik 3,1923, S. 111. 800 Vgl. Omnès, Qualifications et classifications professionnelles, S. 315f. 801 Vgl. Pierre Renaudel, Die Lage der Lohnempfänger in Frankreich, Essener Arbeiter-Zeitung vom 10. 1. 1924. 802 Vgl. hierzu Valdour, Ouvriers parisiens d'après-guerre, S. 39, 54. 803 Vgl. Diminuer les salaires, c'est un crime, Le Peuple vom 17. 8. 1921. IV. Inflation und Deflation 541

gung804.1922 stabilisierten sich Löhne und Preise. Das Konfliktpotential blieb da- her gering. Die folgende Tabelle zeigt zum einen, daß die Zahl der Streiks und der Streikenden in den Jahren 1921-1923 gegenüber der unmittelbaren Nachkriegs- zeit stark zurückgegangen war, zum anderen den hohen Anteil der gescheiterten Streiks bzw. der erfolglos Streikenden805:

Tabelle 13: Streiks in Frankreich 1921-1923

1921 1922 1923

Streiks 570 694 1114 Höchstzahl der gleichzeitig Streikenden 451854 300583 365868 verlorene Arbeitstage 8047742 3197619 7027070 Streiks ohne Erfolg 49,8% 48,7% 50,7% Erfolglos Streikende 45,5% 74,5 % 38,1%

Somit lag in den Jahren 1921 bis 1923 die Zahl der gescheiterten Streiks höher als in der Vorkriegszeit. Das rührte vor allem daher, daß es sich bei zahlreichen Streiks um Abwehrkämpfe handelte. 1921 brachen 255 Konflikte wegen Lohnsen- kungen aus, 1922 waren es noch 98. Daß in den Jahren 1921 und 1923 der Prozent- satz der gescheiterten Streiks den für die erfolglos Streikenden ermittelten über- traf, weist darauf hin, daß insbesondere die zahllosen Streiks in Einzelbetrieben in einem Desaster endeten. Die hohe Zahl der Arbeitnehmer, die 1922 als Geschla- gene in ihre Betriebe zurückkehrten, geht vor allem auf das Konto des Metall- arbeiterstreiks in Le Havre. Verglichen mit der Zahl der Streikenden und der ver- lorengegangenen Arbeitstage in Deutschland blieb man in Frankreich 1921 um 65 Prozent hinter den deutschen Zahlen zurück. 1922 legten in Deutschland sogar mehr als fünfmal so viel Beschäftigte die Arbeit nieder als in Frankreich. Die Streikhäufigkeit in den einzelnen Wirtschaftszweigen kann der folgenden Tabelle 14 entnommen werden806 (Tabelle nächste Seite) 1921 standen die Textilindustrie und der Bergbau an der Spitze der Streikstati- stik, wobei die hohe Zahl der streikenden Bergarbeiter allein einem eintägigen Proteststreik im Dezember des Jahres geschuldet ist. Auch die Metallindustrie war 1922 nicht so streikfreudig, wie es auf den ersten Blick scheint, denn ohne den von den Kommunisten initiierten eintägigen Generalstreik, der die Solidarität mit den von Regierungstruppen angegriffenen streikenden Metallarbeitern in Le Havre demonstrieren sollte, wäre die Zahl der Streikenden um rund 100000 gerin- ger gewesen. Zu einer Machtprobe wurde hingegen der im August 1921 ausbre-

804 Vgl. Bulletin du Ministère du Travail 28, 1921, S. 283; PA/AA, R 71032, Bericht der Wirtschafts- politischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris vom 10.9. 1921; CGPF, Compte-rendu de l'assemblée generale du 11 mars 1921, S. 5. 805 Errechnet auf der Grundlage der Statistique des grèves für die Jahre 1921, 1922, 1923. Bei der Be- rechnung der gescheiterten Streiks bzw. der erfolglos Streikenden wurden die ehemals deutschen Gebiete nicht miteinbezogen. 806 Errechnet auf der Grundlage der Statistique des grèves für die Jahre 1921,1922,1923. Die ehemals deutschen Gebiete sind in die Berechnung nicht mit einbezogen. 542 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Tabelle 14: Arbeitskämpfe in Frankreich 1921-1923, aufgeteilt nach Branchen

Beschäftigung Jahr Streiks Streikende i. v. Hundert der Streikenden

Bergbau 1921 7 130526 32,4 1922 17 4474 1,5 1923 25 97852 29,5

Metallindustrie 1921 84 17877 4,4 1922 143 193209 66,5 1923 253 57015 17,2 Textilindustrie 1921 94 179419 44,5 1922 148 30625 10,5 1923 129 56537 17,1 Transport 1921 30 10652 2,6 1922 75 43 854 15,1 1923 121 38667 11,6 Bauindustrie 1921 75 17076 4,2 1922 73 10047 3,5 1923 132 20105 6,1

chende Textilarbeiterstreik in der Region Roubaix-Tourcoing, der 76 Tage dauern sollte, weil das Arbeitgeberlager nicht nur Front gegen die Gewerkschaften machte, sondern sich auch den Vermittlungsversuchen des Staates widersetzte. Schon Mitte Februar 1921 wäre es fast zum Ausbruch eines Generalstreiks in der nordfranzösischen Textilindustrie gekommen, denn das dortige Consortium de l'industrie textile hatte eine Lohnsenkung um 30 Centimes pro Stunde ange- kündigt, die sich in zwei Etappen vollziehen sollte: die erste sollte im Februar, die zweite im April erfolgen. Die Arbeiter votierten für Streik, der von den Gewerk- schaften, die zu Recht eine Niederlage fürchteten, nur mit großer Mühe noch ein- mal abgewandt werden konnte807. Das Consortium de l'industrie textile erklärte sich bereit, die Lohnreduzierung auf den 13. März zu verschieben. Uber dieses Zurückweichen des sonst so kompromißlosen nordfranzösischen Textilarbeitge- berverbandes war wiederum die UIMM ungehalten, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Stundenlöhne grundsätzlich um 30 Centimes zu kürzen, und für dieses Vorhaben möglichst viele Bündnispartner gewinnen wollte. Die UIMM drängte den Generalverwalter des Consortiums Ley zur Durchführung des Lohnabbaues und wollte von diesem auch über die Reaktion der Arbeiter auf diesen Arbeitge- bervorstoß unterrichtet werden808. Warum sollte die Machtprobe ausgerechnet in der nordfranzösischen Textilin- dustrie stattfinden? Die Textilarbeitergewerkschaften Nordfrankreichs waren die

8« Vgl. ADN, M 619/64, Rapport du Commissariat Spécial de Lille au Préfet, 15.2., 17. 2., 19. 2. und 23. 2. 1921; Victor Vandeputte, L'offensive patronale pour la baisse des salaires; La riposte ou- vrière, Le Peuple vom 18. 2.1921, Les ouvriers de Roubaix obtiennent satisfaction, Le Peuple vom 20.2. 1921. «os Vgl. CAMT 1996110 0611, UIMM, Siméon, an Ley, 11. 2. 1921; ebenda, UIMM, Siméon, an Ley, 23. 2. 1921; ebenda, UIMM, Siméon, an Ley, 24. 3. 1921. IV. Inflation und Deflation 543 einzigen Gewerkschaften in Frankreich, die 1921 noch immer über eine relativ große Organisationsstärke verfügten. Allein in Roubaix und Tourcoing hielten weiterhin ungefähr 30 000 Textilarbeiter der CGT die Treue. Eine Hinnahme der Lohnsenkung mußte die Gewerkschaften ebenso nachhaltig schwächen wie ein Streik, der aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen verlorengehen mußte. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Gewerkschaften in einen Streik getrieben wurden, war zudem groß, denn die schon von Kurzarbeit gebeutelten Textilarbeiterin- nen), die ihr Existenzminimum mit den ihnen gezahlten Löhnen kaum mehr dek- ken konnten, neigten rasch zum Gebrauch der Streikwaffe. So legten im Juli 1921 nahezu 6000 Baumwollspinner in Lille die Arbeit nieder, konnten jedoch die von den Unternehmern beabsichtigte Reduzierung des Tagesverdienstes um vier Francs nur bei den unteren Lohngruppen abwehren809. In Troyes traten fast 10000 Beschäftigte der Strickwarenindustrie in einen Arbeitskampf, um eine Erhöhung des Tageslohnes um fünf Francs durchzusetzen, die nach ihren Berechnungen der Steigerung der Lebenshaltungskosten entsprach. Die Löhne wurden schließlich nur um einige Centimes erhöht810. Ein Konflikt in den Liller Webereien endete im Herbst 1921 zwar mit einer Lohnsenkung, die Gewerkschaften konnten aber den Abschluß eines Tarifvertrags durchsetzen und verbuchten ihre Anerkennung als einen Erfolg, während der Generalverwalter des Consortium de l'industrie textile, Ley, über die Liller Industriellen maßlos erzürnt war811. Der Auftakt zu dem Großkampf in der Region Roubaix-Tourcoing war die Ankündigung des Consortium de l'industrie textile die bereits um 30 Centimes ge- senkten Stundenlöhne ab 1. August noch einmal um 20 Centimes kürzen zu wol- len, wodurch der durchschnittliche Wochenlohn eines Textilarbeiters, der häufig nur drei bis vier Tage in der Woche arbeitete, auf 60 Francs zusammenge- schrumpft wäre812. Das bedeutete nicht nur eine Brüskierung der Arbeiter und Gewerkschaften, sondern auch einen Bruch der durch Schiedsspruch des Arbeits- ministers im März 1920 zustande gekommenen Tarifvereinbarungen, nach denen Lohnsenkungen nur möglich waren, wenn die eingesetzte Commission d'étude du coût de la vie zuvor ein Fallen der Lebenshaltungskosten feststellte. Ley war sich indes mit den Vertretern der UIMM einig, daß ein striktes Ausrichten der Löhne nach den Lebenshaltungsindizes nicht in Frage komme813. Das war ein deutliches Abrücken von dem Prinzip der gleitenden Lohnskala, das im Frühjahr 1920 in Frankreich auch von den Arbeitgebern noch akzeptiert worden war. Während der reformorientierte Flügel innerhalb der CGT vergeblich einen mit Sicherheit in einer Niederlage endenden Streik zu vermeiden hoffte, machte der zur radikalen Gewerkschaftsminorität zählende Lauridan Propaganda für eine Besetzung der Präfektur und des Hauptgebäudes des Consortium de l'industrie textile sowie - je nach Entwicklung des Arbeitskampfes - auch der Werkstätten,

809 Vgl. La défense des salaires dans le textile, Le Peuple vom 7. 7. 1921; Le mouvement de grève dans le textile du Nord, Le Peuple vom 10. 7. 1921. 810 Vgl. Les conflits de l'industrie textile dans l'Aube, La Journée Industrielle vom 18./19.9. 1921. 8" Vgl. Derville, Les débuts de la C.F.T.C., Bd. 1, S. 80f.; AdsD, ITBLAV, Internationale Vereinigung der Textilarbeiter. Berichte für Dezember 1921; CAMT 1996110 0611, Ley an UIMM, Simeon, 7. 1. 1922. 812 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 28 octobre 1921, S. 3791. 8'3 Vgl. CAMT, 1996110 0611, UIMM, Siméon, an Ley, 6. 6. 1921. 544 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen für die er bei den Textilarbeiter(innen) Nordfrankreichs, die syndikalistische Ak- tionen immer abgelehnt hatten, keine Mehrheit fand814. Obwohl schon am 16. August, dem Tag des Streikbeginns, über 55000 Textilarbeiter(innen) die Ar- beit niederlegten815 und sich der Arbeitskampf in Roubaix und Tourcoing Mitte September zu einem Generalstreik aller Gewerbe ausdehnte, an dem sich über 73 000 Arbeitnehmer beteiligten, und zudem noch die Textilarbeiter in den Voge- sen in einen Solidaritätsstreik traten, stand die Machtüberlegenheit der im Consor- tium de l'industrie textile zusammengeschlossenen Arbeitgeber von vornherein fest, die einen Streik ohne größere Verluste für längere Zeit aushalten konnten, da sie über große Lagerbestände verfügten. Die finanziellen Ressourcen der Gewerk- schaften waren indes verschwindend gering und konnten nur mühsam aufgebes- sert werden. Die CGT verlangte von ihren Mitgliedern einen Solidaritätsbeitrag, die Gewerkschaftspresse rief zu Sammlungen auf816, die Einzelhändler, die selbst unter dem Streik litten, unterstützten die in der Öffentlichkeit auf große Sympa- thie stoßenden streikenden Arbeiter so gut sie konnten, die kommunale Fürsorge verteilte Lebensmittel, was den Protest der Unternehmer hervorrief, die in der Unterstützung eine Verletzung der Neutralitätspflicht erblickten817. Die von der SFIO beantragte Unterstützung der Streikenden durch staatliche Mittel fand im Finanzausschuß der Kammer keine Mehrheit818. Von der Kammer des Bloc natio- nal ging kein Druck aus, der die Arbeitgeberseite zum Einlenken hätte zwingen können. Erst die Regierung des Cartel des Gauches sollte sich - wie der deutsche Reichstag im Ruhreisenstreit - auf die Seite der kämpfenden Arbeiter stellen. Auch die Arbeitgeber versuchten mittels Presse die Öffentlichkeit zu beeinflus- sen, wobei die UIMM und das Consortium de l'industrie textile Hand in Hand arbeiteten819. Seit die Bürgermeister von Roubaix und Tourcoing sich um die Ein- setzung eines Schlichters bemühten - zunächst in Form eines Friedensrichters nach dem Gesetz vom 27. Dezember 1892, dann durch die an den Arbeitsminister herangetragene Bitte, zu vermitteln - und eine Delegation des zentralen Streik- komitees von Ministerpräsident Briand und Arbeitsminister Daniel-Vincent emp- fangen worden war820, ließen die Arbeitgeber keine Gelegenheit aus, um ihren Standpunkt kundzutun, daß sie sich weder einem Schiedsspruch unterwerfen noch sich mit den Arbeitervertretern an einen Tisch setzen würden. Die Kom- promißlosigkeit wurde als eine „gebieterische ökonomische Notwendigkeit" ge- rechtfertigt821. Um dem Vorwurf der Ausbeutung zu entgehen, wurde unterstri-

814 Vgl. Henri Lauridan, Leçons d'une grande bataille, La Vie ouvrière vom 11. 11. 1921. Vgl. ADN, M 619/65 Rapport du Commissariat Spécial de Lille au Préfet, 16. 8. 1921. 816 Vgl. Le Peuple vom 21. 8. 1921-1. 11. 1921; zu der Erhebung eines Solidaritätsbeitrages vgl. Le Peuple vom 23. 9. 1921. 817 Vgl. La neutralité des pouvoirs publics dans les grèves, La Journée Industrielle vom 9./10.10.1921. 8,8 La commission des finances de la chambre réclame un arbitrage, Le Peuple vom 30.9. 1921; Les grévistes du Nord percevront-ils bientôt les secours demandés par la commission des finances?, Le Peuple vom 1. 10. 1921. 8" Vgl. CAMT, 1996110 0611, UIMM [Unterschrift unleserlich] an Ley, 12. 10. 1921. 820 Vgl. Les grèves du Nord, Le Peuple vom 11.9. 1921; Le conseil des ministres examine ce matin les moyens de mettre fin aux grèves du Nord, Le Peuple vom 16. 9. 1921. 821 Vgl. Les conflits de l'industrie textile dans Le Nord, La Journée industrielle vom 18./19.9. 1921; La grève dans le Nord, Le Temps vom 18. 9. 1921; Le gouvernement se heurtera à l'intransigeance des réacteurs du Consortium, Le Peuple vom 19. 9. 1921. IV. Inflation und Deflation 545 chen, daß die in Roubaix und Tourcoing gezahlten Löhne höher als die auf der Grundlage des Lebenshaltungsindexes ermittelten lägen822. Anders als in Deutschland, wo der Reichsarbeitsminister aufgrund der Verordnungen über die wirtschaftliche Demobilmachung durch die Verbindlichkeitserklärung von Schiedssprüchen ein Zwangsmittel gegen widerstrebende Unternehmer wie auch Gewerkschaften in der Hand hatte, konnte der Arbeitsminister in Frankreich nur seine Ohnmacht bekunden. Obwohl Ley noch kurz vor Streikende den Präfekten wie auch den Arbeitsminister wissen ließ, daß er Gespräche mit dem Streikkomi- tee ablehne823, erklärte er sich am 5. Oktober, nachdem Daniel-Vincent Delegierte des Consortiums und des zentralen Streikkomitees erneut zu Verhandlungen nach Paris eingeladen hatte, bereit, die Stundenlöhne nur um zehn Centimes zu verrin- gern824. Diese Nachgiebigkeit war vermutlich eine Reaktion auf die bröckelnde Front der Unternehmer in Roubaix und Tourcoing. Die dortigen Metallarbeitge- ber wären sogar bereit gewesen, es bei einer Lohnkürzung um fünf Centimes zu belassen, wie die christlichen Gewerkschaften vorgeschlagen hatten. Es wurde ih- nen aber von der rue de Madrid, der offensichtlich schon die Kompromißbereit- schaft des Consortiums zu weit ging, ein weiteres Entgegenkommen untersagt825. Während die christlichen Gewerkschaften das Angebot der Arbeitgeber akzeptie- ren wollten, beharrte die CGT auf ihrem Standpunkt, daß die Lohnfestsetzung erst nach der Zusammenkunft einer paritätisch zusammengesetzten Kommission, die die Lebenshaltungskosten ermittelte und die ökonomische Situation eruierte, erfolgen könne. Der Arbeitskampf nahm einen Verlauf, wie er für größere Streiks in Frankreich auch in der Zwischenkriegszeit noch typisch war. Der Hunger quälte die Streiken- den immer stärker, die Kinder wurden, um ihre Gesundheit nicht noch mehr zu gefährden, von Familien in Paris und im Süden des Landes aufgenommen, die er- sten Arbeiter kehrten schließlich in die Fabriken zurück, die Ende Oktober schon fast wieder mit der ganzen Belegschaft arbeiteten. Die CGT ordnete für den 2. November die Wiederaufnahme der Arbeit an. Gewerkschaften und SFIO sprachen von einem „conflit affameur"826. Das Consortium de l'industrie textile hatte gleich zwei Ziele erreicht: Der Textilarbeiterverband in Roubaix und Tour- coing verlor einen Großteil seiner Mitglieder und die noch geltenden tarifvertrag- lichen Vereinbarungen konnten aufgekündigt werden. Am 5. November eröffnete Ley sowohl den Gewerkschaften als auch dem Arbeitsminister, daß sich die dem Consortium de l'industrie textile angehörenden Unternehmen nicht mehr an die bestehenden Verträge und Vereinbarungen gebunden betrachteten. Knapp drei Wochen später beschloß die Direktion des Consortium de l'industrie textile, auch in Zukunft keine weiteren Tarifvereinbarungen mehr abzuschließen827.

822 Vgl. La grève du textile dans le Nord, La Journée Industrielle vom 28./29. 8. 1921. 82' Vgl. CAMT 1996110 0038, Ley au Préfet du Nord, 27. 10. 1921; ebenda, Ley au Ministre du travail, 27. 10. 1921. 824 Vgl. L'intransigeance criminelle du patronat textile s'affirme une de plus, Le Peuple vom 7.10. 1921; Le consortium, en rompant les pourparlers, s'est cloué au pilori de l'opinion publique, Le Peuple vom 8. 10. 1921. «s Vgl. CAMT 1996110 0611, UIMM [Unterschrift unleserlich] an Ley, 12. 10. 1921. 826 Vgl. J.O., Chambres des députés, Débats parlementaires, Séance du 28 octobre 1921, S. 3786. 827 Vgl. CAMT 1996110 0038, Réunion de comité de direction de la Commission intersyndicale de 546 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Obwohl während des Streiks ein Pressekrieg getobt hatte und das Verhalten der Arbeitgeber einer Brüskierung der um Vermittlung bemühten Regierung und des Arbeitsministers gleichkam, wurde der Arbeitskampf nicht zu einem größeren Politikum. Während einer Interpellation des Bürgermeisters von Roubaix, Jean Lebas, und des späteren Bürgermeisters von Tourcoing, Albert Inghels, in der die beiden sozialistischen Abgeordneten dem Arbeitsminister den Vorwurf machten, nichts unternommen zu haben, um die Arbeitgeberseite zu Verhandlungen zu zwingen, und mehr Macht für die Commissions d'étude du coût de la vie einfor- derten, waren in der Kammer nur ungefähr 70 Abgeordnete anwesend. Daniel- Vincent verteidigte sein Vorgehen und kündigte die baldige Vorlage eines Entwur- fes über die Streikschlichtung an, der dann - wie bereits erwähnt - in den Aus- schüssen der Kammer hängen blieb. Die Kammer, in der nur die Kommunisten und die SFIO Partei für die streikenden Arbeiter und die CGT ergriffen hatten, billigte mit großer Mehrheit die Erklärungen der Regierung und ging zur Tages- ordnung über828. Der Arbeitskampf gefährdete den republikanischen Konsens nicht, da die Dritte französische Republik schon immer durch den Widerspruch zwischen politischer Demokratie und autoritären industriellen Beziehungen ge- prägt war. In der konservativen Presse wurde die unmittelbare Nachkriegszeit bis zum Mai 1920 geradezu zu einem Schreckgespenst aufgebauscht, um der Regie- rung vor Augen zu führen, daß sie nicht auf Seite der streikenden Arbeiter in den Arbeitskampf eingreifen dürfe, denn deren Sieg würde nicht nur die Politik des Preisabbaues gefährden, sondern auch die gerade erst wiederhergestellten Autori- tätsverhältnisse in der Industrie unterminieren829. Sowohl der ADGB als auch die wirtschaftspolitische Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris gingen - irregeleitet von deutschen Erfahrungen - davon aus, daß die französische Arbeiterschaft nach der Niederlage erneut den Kampf mit den Unternehmern aufnehmen werde830. Der ADGB übersah freilich nicht, daß die CGT für diese Aufgabe schlecht gerüstet war, ließ sich aber dennoch von der Hoffnung leiten, daß die Offensive der Unternehmer die zerstrittenen Gewerk- schaftsflügel wieder zusammenschweißen könne. Das Gegenteil war bekanntlich der Fall831. Der Bruderzwist zunächst innerhalb der CGT, dann zwischen CGT und CGTU verhinderte gemeinsame Maßnahmen gegen den Lohnabbau. Wäh- rend in der CGTU die innerverbandlichen Machtkämpfe fast alle Kraft absorbier- ten und Lohnstreitigkeiten gegenüber revolutionären Zielsetzungen ohnehin nur eine sekundäre Bedeutung eingeräumt wurde, rief die CGT zwar zum Widerstand gegen die Lohnsenkungspläne der Arbeitgeber auf, konnte aber andererseits nicht

l'industrie textile Roubaix-Tourcoing am 24. 11. 1921; Derville, Les débuts de la C.F.T.C., Bd. 1, S. 74 f. 828 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 28 octobre 1921, S, 3782-3796; Inghels et Lebas interpellent sur les grèves du textile, Le Peuple vom 29.10. 1921. 829 Vgl. La grève dans le Nord, Le Temps vom 30. 10. 1921. 830 Vgl. PA/AA, R 71032, Bericht der wirtschaftspolitischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris vom 10. 9. 1921; Josef Steiner-Jullien, Lohnherabsetzung und Lohnkämpfe in Frankreich, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 42 vom 15. 10. 1921, S. 598 f. 831 Zum Versuch des radikalen minoritären Gewerkschaftsflügels, die Streikniederlage den „Refor- mern". in die Schuhe zu schieben, vgl. Henri Lauridan, Leçons d'une grande bataille, La Vie ou- vrière vom 11. 11. 1921 und 25. 11. 1921, ausführlich hierzu auch Demouveau, La scission de la CGT, S. 482—484. IV. Inflation und Deflation 547 umhin, ihre Ohnmacht einzuräumen und eine Strategie der Streikvermeidung einzuschlagen. Das galt insbesondere für die Metallindustrie, wo der Mitglieder- schwund dramatische Ausmaße angenommen hatte832. Die UIMM konnte 1921 ihr Vorhaben, die Löhne um 30 Centimes zu senken, selbst in Paris durchsetzen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Dort, wo die Löhne besonders niedrig waren, wie in der Eisen- und Stahlindustrie Ostfrankreichs, wurde nicht einmal Protest laut. In den nordfranzösischen Zentren der Metallindustrie gab es zwar innerhalb der Arbeiterschaft eine starke Streikneigung, die aber von den dortigen noch relativ mitgliederstarken Metallarbeiterverbänden gedämpft und zum Teil geradezu unterdrückt wurde. So rieten sie im Mai/Juni 1921, die von den Unternehmern geplante Lohnreduzierung, die z.B. in Lille 25 Centimes betragen sollte, zu akzeptieren833. Erst als im Mai 1922 die Liller Metallarbeitgeber trotz der inzwischen eingetre- tenen Erhöhung der Lebenshaltungskosten durch einen Anschlagzettel eine er- neute Lohnsenkung um 25 Centimes bekanntgaben, konnte der dortige Metallar- beiterverband die Basis nicht mehr von einem Arbeitskampf abhalten. Der Gene- ralausstand der Metallarbeiter in Lille dauerte vom 15. Mai bis zum 21. Juli 1922 und endete unerwartet mit einem Erfolg für die 8000 Ausständigen, der freilich nicht auf der eigenen Stärke beruhte, sondern auf der Schwäche des Gegners. Die Organisationsbereitschaft war in Frankreich bei der Klein- und Mittelindustrie auch in der Nachkriegszeit noch nicht sehr ausgeprägt und der Zwang zur Einhal- tung der Verbandsdisziplin war bei weitem nicht so groß wie in Deutschland. So scherten - wie dies auch in einigen anderen Arbeitskämpfen der Fall war834 - zahl- reiche Industrielle aus der Kampffront aus und unterzeichneten auch angesichts der Feststellung, daß zahlreiche ausständige Metallarbeiter in der Bauindustrie ei- nen neuen Brotgeber gefunden hatten, Anfang Juli mit dem Metallarbeiterverband einen Tarifvertrag. Das Bröckeln der Arbeitgeberfront zwang die Vertreter des Liller Metallarbeitgeberverbandes schließlich, einen Schiedsspruch des Gewer- beinspektors zu akzeptieren: Die Löhne blieben unverändert, eine paritätisch zu- sammengesetzte Kommission sollte bis November prüfen, ob aufgrund der Ent- wicklung des Lebenshaltungsindexes eine Lohnsenkung gerechtfertigt war835. Daß der Metallarbeiterstreik in Le Havre zum spektakulärsten Streik des Jahres 1922 wurde, lag weniger an seiner langen Dauer von 110 Tagen als an dem an die Repressionspolitik Clemenceaus erinnernden brutalen Durchgreifen des Staates, welches der Präsident des Comité des forges François de Wendel zur Aufrechter- haltung der Ordnung und Arbeitsfreiheit vom Innenministerium eingefordert

832 Vgl. Fédération des ouvriers en métaux et similaires de France, 5e Congrès 1921, S. 23, 29f., 225. 833 Vgl. ADN, M 595/39, Commissariat Central de Police de Lille au Préfet, 23.5. 1921; ebenda, Commissariat Spécial de Police de Valenciennes au Préfet, 24. 5. 1921; ebenda, Commissariat de Police de Jeumont au Préfet, 1.6. 1921. 834 Vgl. z.B. La grève des typographes parisiens, Le Peuple vom 20.1. 1923. 835 Zu dem Arbeitskampf vgl. La grève des métallurgistes lillois, Le Peuple vom 22.5. 1922; La grève des métallurgistes de Lille, Le Peuple vom 23. 5.1922; La grève des métallurgistes de Lille, Le Peu- ple vom 20. 6.1922; La grève des métallurgistes lillois, Le Peuple vom 4. 7.1922; Les métallurgistes de Lille ont obtenu satisfaction après 10 semaine de grève, Le Peuple vom 20. 7. 1922; ferner von der Perspektive der christlichen Gewerkschaften Derville, Les débuts de la C.F.T.C., Bd. 1, S. 81- 84; aus der Perspektive der UIMM, La fin de la grève du Nord, L'Usine vom 22. 7. 1922. 548 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen hatte836. Berittene Truppen griffen am 26. August 1922 in Le Havre ebenso schnell zu Schußwaffen wie die Schutzpolizei in Deutschland bei sozialen Auseinander- setzungen. Vier Tote waren - wie bereits erwähnt - zu beklagen. Von der CGTU erging ein Aufruf zu einem landesweiten Generalstreik in der Metallindustrie am 29. August, dem jedoch nur ungefähr 100000 Beschäftigte folgten. Die CGT, die das Vorgehen der Regierung scharf kritisierte und die streikenden Arbeiter unter- stützte, hatte ein gemeinsames Vorgehen mit der CGTU abgelehnt837. In Nord- frankreich hatten die Gewerkschaftsverbände der CGT in Flugblättern zur Soli- darität mit den Arbeitern in Le Havre aufgerufen, aber bedauert, daß die Arbeiter den Streikparolen der CGTU gefolgt waren838. Auch im Departement Nord legte indes nur eine Minderheit, nämlich etwa 70000 von 400000 Beschäftigten am 29. August die Arbeit nieder, in Paris waren es ungefähr zehn Prozent, in Arbei- tervororten wie Saint Denis und Boulogne 25-50 Prozent839. Die Verantwortung für den Metallarbeiterstreik in Le Havre wie auch für den gescheiterten Generalstreik wollte niemand tragen - auch die CGTU nicht, die von den Arbeitgebern und der konservativen Presse als Drahtzieherin des Streiks ausgemacht worden war840. Trotzki wie auch die Komintern lasen der CGTU wie auch dem PCF die Leviten, weil sie sich völlig unvorbereitet in einen Streik hatten hineintreiben lassen, der nach kommunistischer Lesart von den Anarchisten ange- zettelt worden und von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Dem PCF wurde zudem seine Passivität vorgeworfen841. Ganz falsch war diese Behauptung nicht842. Die CGTU hatte den Streik, der von einigen radikalen militants in den Betrieben ausging, die die von dem Metallarbeitgeberverband in Le Havre ange- ordnete Lohnsenkung um zehn Prozent abwehren wollten, zunächst nicht unter- stützt und der PCF hatte später die völlig konzeptionslose CGTU allein agieren lassen. Auch der Vorsitzende des der CGTU angehörenden Metallarbeiterverban- des in Le Havre, Henri Quesnel, hatte sich nur zögernd bereit erklärt, die Füh- rung des Streiks, an dem sich 12000 Metallarbeiter beteiligten, zu übernehmen. Obwohl er den Anarcho-Syndikalisten zugerechnet wurde, setzte er auf die Mitt- lerdienste des radikalsozialistischen Bürgermeisters, Léon Meyer, der sich ebenso wie der Friedensrichter um einen Kompromiß bemühte, aber an der Intransigenz einiger großen Konzerne wie Schneider scheiterte, die mit Unterstützung der UIMM, die den Bürgermeister von Le Havre wegen seines Bemühens um eine Streikschlichtung attackierte und für den dortigen Aufruhr verantwortlich

836 Vgl. Le Patronat est énervé, L'Humanité vom 3. 8. 1922; Barzman, Dockers, métallos, ménagères, S. 325 f. 837 Vgl. Le véritable caractère du mouvement gréviste du Havre, Le Peuple vom 25. 8. 1922; Patronat du guerre civile, Le Peuple vom 28. 8. 1922; Eugène Morel, Les ouvriers métallurgistes du Havre reprennent le travail ce matin, Le Peuple vom 9. 10. 1922. 838 Die Flugblätter befinden sich in: ADN, M 595/39. 839 Errechnet auf der Grundlage der Berichte der Polizei der einzelnen Kommunen und des Präfekten vom 29. 8. 1922, in: ADN, M 619/66; für Paris L'avortement de la grève générale à Paris, L'Usine vom 2. 9. 1922. 840 Vgl. Les grèves du Havre, Le Temps vom 26. 8. 1922. 841 Vgl. Résolution sur la question française, adopté au 4e Congrès de l'Internationale Communiste (novembre-décembre 1922), in: Archives de Jules Humbert-Droz, Bd. 1, S. 610-612; Badie, Stra- tégie de la grève, S. 34 f. 8,2 Die hier skizzenhaft wiedergegebene Entwicklung des Streiks in Le Havre folgt der Darstellung von Barzman, Dockers, métallos, ménagères, S. 317-338. IV. Inflation und Deflation 549 machte, rechnen konnten.843 Die UIMM hatte auch ein Einstellungsverbot für alle streikenden Arbeiter in Le Havre erlassen844. Die Arbeitgeberseite wies den von Quesnel dem Friedensrichter unterbreiteten Vorschlag, dem Vorbild der Schlich- tung des Metallarbeiterstreiks in Lille zu folgen, zurück. Obwohl sich vom Ge- werbeinspektor bis zum Bürgermeister, vom Präsidenten der Handelskammer bis zum Unterpräfekten, vom Präfekten bis zum Arbeitsminister alle möglichen Ver- mittlungsinstanzen in den Arbeitskampf einschalteten, konnte die Unnachgiebig- keit der Unternehmer, die es sich verbaten, daß der Staat - in ihren Augen allein der Wählergunst wegen - wie ein „deus ex machina" in den Konflikt eingriff, nicht gebrochen werden845. Der Streik endete am 9. Oktober 1922 für die Beschäf- tigten in Le Havre in einer totalen Niederlage. Die CGTU zog daraus die Lehre, daß die Zeit der partiellen Streiks vorbei sei, ohne sich einzugestehen, daß die Zeit für einen Generalstreik in weiter Ferne lag846. Waren die Metallarbeiter Frankreichs aufgrund der Ohnmacht des Staates und der Gewerkschaften der Willkür ihrer Arbeitgeber völlig ausgesetzt? Dies zu be- jahen, wäre nur die halbe Wahrheit, denn trotz der Ablehnung von Indexlöhnen durch die UIMM und den GIM wurden bei Lohnvereinbarungen und Lohnfest- setzungen die Lebenshaltungskosten fast immer berücksichtigt. Die Krise wurde nicht dazu genutzt, um die Löhne unter das Reallohnniveau der Vorkriegszeit zu drücken. Der Direktor des GIM, Etienne Villey, konstatierte, daß die Arbeitgeber eine Chance vertan hatten, als sie Anfang 1921, als die Arbeitslosigkeit „beunru- higende Proportionen" annahm, keine höheren Lohnschnitte vornahmen, ob- wohl sie keinerlei Widerstand zu fürchten gehabt hätten847. Die Reallöhne waren - wie bereits ausgeführt - gestiegen. Anders als in der Metallindustrie hatte im französischen Bergbau die staatliche Intervention Tradition, wobei jedoch seit 1920 die staatlichen Instanzen in dem Bemühen, eine inflationäre Entwicklung in Frankreich zu verhindern und die Produktion zu erhöhen, mehr die Interessen der Zechengesellschaften als die der gueules noires verteidigt hatten. So fand der Bergarbeiterverband im Oktober 1920 auch nicht die Unterstützung des Arbeitsministers und des Ministers für Öffentliche Arbeiten für seine Forderung nach einer Erhöhung der Löhne um das Fünffache des Vorkriegsniveaus, einer Verringerung der Lohndifferenzen zwi- schen Über- und Untertagearbeitern und einer Neueinteilung der Lohngruppen nach einem landeseinheitlichen Maßstab. Angesichts der Generalstreikdrohung ließen die beiden Minister zwar nichts unversucht, um die Vertreter des Comité Central des Houillères, die sich von einem System der Leistungszulagen eine Er- höhung der Produktion versprachen und keinerlei Konzessionen an die Berg- arbeiter machen wollten, mit denen des Bergarbeiterverbandes an einen Tisch zu bringen, verhehlten aber nicht, daß sie die Lohnoffensive der Gewerkschaften, durch die der Schichtlohn eines Hauers um über zehn Francs gestiegen wäre, für

843 Vgl. La situation au Havre, L'Usine vom 16. 9. 1922. 844 Vgl. Le véritable caractère du mouvement gréviste du Havre, Le Peuple vom 25. 8. 1922. 845 Vgl. Chambre syndicale des constructeurs-mécaniciens au Préfet, 15. 8. 1922, abgedr. in: L'Usine vom 19. 8. 1922; La grève du Havre, L'Usine vom 2. 9. 1922. 846 Vgl. Gaston Monmousseau, Quatrième mois de grève, La Vie ouvrière vom 22. 9. 1922. 847 Vgl. Villey, L'organisation professionnelle, S. 254. 550 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen völlig überzogen hielten. Der Bergarbeiterverband war schließlich gezwungen, den angekündigten Generalstreik abzublasen und in regionale Verhandlungen einzutreten, bei denen oft nur eine Erhöhung der Familienzulagen gewährt wurde848. Zwischen der Drohung mit dem Generalstreik und der Hoffnung der Bergar- beiterverbände der CGT auf staatliche Vermittlung spielten sich die Lohnver- handlungen im französischen Bergbau ab. Wenn auch in Frankreich den zuständi- gen Ministern nicht das Mittel der Zwangsschlichtung zur Verfügung stand, gegen die das Comité Central des Houillères wie auch der zentrale Bergarbeiterverband der CGT Front machten, so gab es doch auch in Frankreich keinen größeren Lohnkonflikt im Bergbau, in dem sie nicht mit einigem Erfolg ihre Mittlerdienste angeboten hätten. Der Arbeitsminister hatte schon im Sommer 1921 die Präfekten angewiesen, sich im Falle eines Konflikts wegen einer Lohnreduzierung mit den Kontrahenten in Verbindung zu setzen, um auch ohne die Möglichkeit einer Zwangsschlichtung einen Kompromiß über die Lohnsenkungen zu erreichen849. Daß der Konflikt über die Ende 1921 von den nordfranzösischen Zechengesell- schaften anvisierte Lohnsenkung friedlich beigelegt werden konnte, war vor allem das Verdienst des Ministers für Öffentliche Arbeiten, Yves Le Trocquer. Der Streit über die Lohnreduzierung drohte zu eskalieren, nachdem der zentrale Bergarbei- terverband, der weitere Lohnsenkungen auch in den Revieren, die bereits Lohn- einbußen hatten hinnehmen müssen, fürchtete, für den 12. Dezember zu einem landesweiten Proteststreik aufgerufen hatte, der zu einer imposanten Demonstra- tion wurde, an der sich mehr als die Hälfte aller Bergarbeiter beteiligte. Die Ver- treter der Zechengesellschaften blieben jedoch unbeeindruckt. Erst durch das Ein- greifen des Ministers für Öffentliche Arbeiten konnten ihnen weitgehende Kon- zessionen und den Gewerkschaften eine Zustimmung zu einer Lohnminderung abgerungen werden. Der nordfranzösische Zechenverband reduzierte im Januar 1922 die von ihm beabsichtigte Lohnsenkung um fünf Francs pro Schicht, die ei- nen Reallohnverlust für die Bergarbeiter bedeutet hätte, auf 3,25 Francs - ein An- gebot, mit dem sich die dortigen Bergarbeiterverbände einverstanden erklärten und für das sie auch die gueules noires gewinnen konnten, die bereits kurzarbeite- ten und bei einem Streik eine Zunahme der Arbeitslosigkeit befürchteten850. In Kenntnis der eigenen Schwäche plädierte der zentrale französische Bergarbeiter- verband für internationale Aktionen, gegen die sich insbesondere der Alte Ver- band in Deutschland sträubte, der erkannte, daß die Problemlagen in den ein- zelnen Ländern zu unterschiedlich und die Information und Kommunikation zu gering für ein gemeinsames Vorgehen waren851.

848 Zu diesem Konflikt vgl. u.a. Le conflit minier, L'Usine vom 13. 11. 1920; Les revendications des travailleurs du Sous-Sol, Le Peuple vom 10.11. 1920; Les mineurs décident de suspendre la grève, Le Peuple vom 14. 11. 1920; Condevaux, Le mineur du Nord et du Pas-de-Calais, S. 87. 849 Vgl. Circulaire du Ministre du travail du 7 juillet 1921 relative aux réductions de salaire dans les mi- nes (adressée aux préfets), abgedr. in: Bulletin du Ministère du Travail 28, 1921, S. 87"'-89':'. 850 Vgl. u.a. PA/AA, R 71034, Bericht der wirtschaftspolitischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris vom 17. 1. 1922; Pourquoi les mineurs chôment aujourd'hui, Le Peuple vom 12.12. 1921; Georges Dumoulin, Les salaires des mineurs en péril, Le Peuple vom 6.1.1922; François Lefebvre, Mineurs en garde, Le Peuple vom 7. 1. 1922; Raymond Figeac, La convention minière de Douai, Le Peuple vom 15. 1. 1922; Les grèves et la baisse des salaires, L'Usine vom 28. 1. 1922. 851 Vgl. Herrmann, Geschichte des Internationalen Bergarbeiterverbandes, S. 225 und 232. IV. Inflation und Deflation 551

Ende 1922 zogen die Preise wieder an und somit war für den Bergarbeiterver- band eine Revision der Lohnsenkung das Gebot der Stunde. Abermals sollte nach dem Willen der Bergarbeitervertreter der Arbeitsminister die Rolle des Mediators und Moderators übernehmen, der sich allerdings zunächst von dem Präsidenten des Comité Central des Houillères, Darcy, eine Absage einholte, der es jeder Berg- werksgesellschaft anheimstellen wollte, ob sie den Forderungskatalogen ihrer Be- schäftigten Rechnung tragen wollte852. Der Bergarbeiterverband setzte weiter auf Verhandlungen „unter der Ägide der Regierung". Der Arbeitsminister wies aber- mals die Präfekten an, sich um eine friedliche Schlichtung des Konflikts zu bemü- hen, die dieser Aufgabe auch nachkamen. Die Verhandlungen in Douai am 17. Fe- bruar 1923 zwischen den nordfranzösischen Bergarbeiterverbänden und den dor- tigen Zechenverbänden führten schließlich zum Durchbruch: Die Lohnsenkung wurde zurückgenommen, die Nominallöhne erreichten wieder das Niveau des Jahres 1921 und die Reallöhne lagen über denen der Vorkriegszeit853. Daß streikende Arbeiter vor dem Sitzungssaal in Douai demonstrierten, hatte den schnellen Verhandlungserfolg kaum beeinflußt. Auch der von den Kommuni- sten ausgerufene Generalstreik hatte entgegen deren Behauptungen keinen Ein- fluß auf den Gang der Verhandlungen854. Der vom Bergarbeiterverband der CGTU am 16. Februar entfachte Generalstreik endete in einem Fiasko und mußte nach vier Tagen abgebrochen werden. Im Pas-de-Calais hatten sich nur 3-4 Pro- zent der gueules noires an dem Generalstreik beteiligt, die dafür mit ihrer Entlas- sung und zum Teil auch Verurteilung bezahlten, in der Region Valenciennes waren etwa 19 und in der Region Douai 61 Prozent der Bergarbeiter den Streikparolen der CGTU gefolgt. Auch im Bergbaugebiet der Loire, einer Hochburg der CGTU, hatte die Streikbeteiligung unter 50 Prozent gelegen. Nur im Departe- ment Sarre-et-Moselle, wo die christlichen Gewerkschaften unter der Führung Henri Mecks mit den Kommunisten eine Einheitsfront bildeten, hatten bereits am 8. Februar nahezu 22000 Bergarbeiter die Einfahrt verweigert, wobei für die Ar- beitsniederlegung die Ruhrbesetzung eine entscheidende Rolle gespielt zu haben scheint. Die Gewerkschaften wiesen indes den Vorwurf des Antipatriotismus zu- rück und machten für die inkriminierten ausländischen Einflüsse die Anwerbung der Bergarbeiter aus dem Saarland verantwortlich855. Der Streik dauerte zwei Mo- nate und wurde schließlich „von einer regelrechten,weißen Schreckensherrschaft' niedergeschlagen"856. Während des Streiks waren zahlreiche Arbeiter aus Deutschland angeworben worden. Nach dem Streik wurden mehr als 1000 Berg- arbeiter entlassen.

852 Vgl. La hausse des salaires dans les mines, L'Usine vom 30. 12. 1922. 853 Vgl. La question des salaires et celle des retraites devant le conseil national des mineurs, Le Peuple vom 14. 2. 1923; La victoire des mineurs, Le Peuple vom 18. 2. 1923; Marcel Laurent, Agents du patronat, Le Peuple vom 18. 2. 1923. 854 Vgl. Sous la pression de la grève les Compagnies du Nord et du Pas-de-Calais lâchent 3,25 fr., celles de la Loire 3 francs, L'Humanité vom 18. 2. 1923; Sous la pression des événements, L'Humanité vom 19.2. 1923. 855 Die Zahlen über die Streikbeteiligung sind dem Dossier AN F 7/13903, und ADN, 619/68, ent- nommen. Die in La Journée Industrielle vom 17. 2.1923 (L'ordre de grève de la Fédération unitaire du sous-sol n'a généralement pas été suivi), genannten Zahlen liegen etwas höher. Zu den Streiks im Departement Sarre-et Moselle vgl. Mourer, Mineurs de charbon lorrain, S. 277-281. 856 So Michel, Die industriellen Beziehungen im französischen Bergbau, S. 237. 552 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Der von der CGTU proklamierte Bergarbeiterstreik war kein reiner Lohnstreik gewesen, wenn auch die Kommunisten nicht müde wurden, dies zu behaupten857. Ohne eine Weisung Moskaus hätte die CGTU wohl kaum zum Kampf geblasen. War ihre finanzielle Situation doch so marode, daß das Politbüro der KPD schon kurz nach Ausbruch des Streiks 25000 Francs an die streikenden französischen Bergarbeiter überweisen ließ858. Die RGI wie auch die Kommunistische Interna- tionale hofften, ja forderten sogar, daß die Ruhrbergleute in einen Solidaritäts- streik mit den französischen Kumpeln traten, was offensichtlich ein erster Auftakt zur Revolution hätte sein sollen, denn die RGI hielt die Lage in Deutschland für „akut revolutionär"859. RGI-Chef Losowski war mehr als ungehalten darüber, daß die deutschen Kommunisten es verabsäumt hatten, einen Solidaritätsstreik zu organisieren, die jedoch die Situation weitaus realistischer als die RGI und die CGTU einschätzten. Gustav Sobottka, Vorsitzender der Gruppe Bergbau der Hand- und Kopfarbeiter, führte Losowski vor Augen, daß die deutschen Bergar- beiter nicht für einen Kampf zu gewinnen waren, in dem es nicht um die Durch- setzung eigener (materieller) Forderungen ging860. Aufgrund ihrer fehlenden ge- werkschaftlichen Erfahrung folgte die CGTU wie auch der PCF den Parolen Moskaus noch widerstandsloser als die deutschen Kommunisten. Die Streikaktio- nen der CGTU gerieten zum Triumph der Arbeitgeber und brachten den Berg- arbeitern nur Nachteile. In den wenigen Bergbaurevieren, in denen die CGTU die Oberhand hatte, gab es keine tarifvertraglichen Vereinbarungen und die Löhne lagen dort niedriger als im Norden des Landes. Das Lohngefälle in den einzelnen Regionen war der Hauptgrund dafür, warum die CGTU am 15. November 1923 schon wieder zum Generalstreik der Bergar- beiter blies. Die kommunistische Bergarbeitergewerkschaft forderte ein einheit- liches Lohnsystem in ganz Frankreich, das von Seiten der Arbeitgeber seit jeher abgelehnt wurde, und eine Erhöhung der Schichtlöhne um fünf Francs. An den Bergarbeiterverband der CGT erging die Aufforderung, am 19. November den Generalstreik zu proklamieren, was nur ein plumpes Manöver war, um nachher die „Reformisten" des Verrats bezichtigen zu können861. Der Streikaufruf der CGTU fand noch weniger Resonanz als der im Februar. Nicht einmal zehn Pro- zent aller Bergarbeiter folgten ihm, so daß auch dieser Streik nach nicht einmal ei- ner Woche abgebrochen werden mußte. Nur in einigen wenigen kleinen Bergbau- gebieten wurden geringfügige Lohnerhöhungen gewährt, das Lohngefälle blieb bestehen. In zahlreichen Regionen war es schon vor Ausbruch des von den Kom- munisten initiierten Bergarbeiterstreiks zu Tarifabschlüssen gekommen, die sich für erwachsene Untertagearbeiter in Nordfrankreich in Lohnerhöhungen von 2,75-3 Francs auszahlten. Auch diesmal hatte sich der französische Bergarbeiter- verband mit seinen Forderungen nicht nur an den Präsidenten des Comité Central

857 Vgl. Pourquoi les „gueules noires" entrent en bataille, L'Humanité vom 8. 2. 1923. «ss Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/1/2/3/3, Sitzung des Politbüros vom 20.2. 1923. »59 Vgl. SAPMO-BArch, RY 5/1/6/10/53, Kommunistische Internationale an KPD, 21.2. 1923; ebenda, RY 1/1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 2. 3. 1923. «ω Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 5. 3. 1923. 861 Vgl. La décision du Conseil Unitaire, L'Humanité vom 19. 11. 1923; Par suite de la carence des réformistes le conseil unitaire décide la reprise du travail pour ce matin, L'Humanité vom 20. 11. 1923. IV. Inflation und Deflation 553 des Houillères Darcy gewandt, sondern auch an den Arbeitsminister, an den die Bitte herangetragen wurde, daß die Verhandlungen in den verschiedenen Revieren „unter den Auspizien" eines Regierungsvertreters geführt werden sollten862. Tat- sächlich fand, nachdem erste Gespräche zwischen den Bergarbeiterdelegierten und den Vertretern der Zechenleitungen gescheitert waren, vor den entscheiden- den Verhandlungen in Douai ein Vorgespräch in Paris statt, an dem auch der Arbeitsminister wie der Minister für Öffentliche Arbeiten teilnahmen, die beide Seiten zu Konzessionen drängten. Durch beiderseitiges Entgegenkommen konnte ein Kompromiß auf mittlerer Ebene gefunden werden863. Die vom Staat mit- durchgesetzte Lohnsteigerung wurde durch eine Erhöhung der Knappschafts- renten flankiert, die an Weihnachten 1923 in Kraft trat864. Es entsprach dem Wunschdenken und der Ideologie der Wortführer des Co- mité Central des Houillères, wenn sie behaupteten, „allein mit ihren Arbeitern" die „Probleme gelöst" zu haben, ohne daß andere als die Betroffenen sich einge- mischt hätten865. In Wirklichkeit war auch in Frankreich eine friedliche Beilegung von Lohnkonflikten im Bergbau nur durch die vom Bergarbeiterverband der CGT gewünschte und angestoßene Intervention des Arbeitsministers bzw. des Ministers für Öffentliche Arbeiten möglich. Während in Frankreich die zuständi- gen Minister vor allem die Aufgabe hatten, die Kontrahenten an den Verhand- lungstisch zu bringen, griff in Deutschland Reichsarbeitsminister Brauns auch zu Zwangsmitteln wie der Verbindlichkeitserklärung oder zur Einrichtung von Schiedsgerichten, über deren personelle Zusammensetzung er bestimmte, um sei- nen lohnpolitischen Kurs durchzusetzen, der freilich zumindest im Bergbau auch in Frankreich von der Regierung mitbestimmt wurde866. Während in Frankreich die Kommunisten mit ihrem Verlangen nach zentralen Lohnverhandlungen schei- terten und es rechtlich gesehen Tarifverträge nur in den Revieren Nord/Pas-de- Calais gab, erfolgte der Durchbruch zu einer zentralen Behandlung der Lohnfrage in Deutschland während der Inflationsphase. In Deutschland konnte auch die In- tervention des Arbeitsministers die Bergarbeiter nicht vor Reallohnverlusten schützen, während in Frankreich die Bergarbeiter dank der Deflation ihre Real- löhne leicht verbessern konnten. Wie in allen anderen Industriesektoren Frank- reichs war auch im Bergbau der Lebenshaltungsindex die entscheidende Variable für die Lohnfestsetzung, wenn auch die Zechenherren selbst die Konjunktur zum Kriterium für die Lohnfestsetzung erklärten und die Regierungsvertreter eine an- tiinflationäre Lohnpolitik verfolgten867. Die Regierung, die einen antiinflationären Kurs eingeschlagen hatte, hätte die Forderungen der Bergarbeiter wohl kaum unterstützt, wenn nicht die Commis- sion d'étude du coût de la vie in Nordfrankreich eine erhebliche Steigerung der

862 Beide Schreiben sind unter der Uberschrift „L'action de la Fédération des mineurs pour le relève- ment des salaires" abgedr. in: Le Peuple vom 8. 10. 1923. 863 Vgl. Dans les houillères du Nord et du Pas-de-Calais, La Journée Industrielle vom 4./5. 11. 1923; La question des salaires dans les houillères du Nord et du Pas-de-Calais, La Journée Industrielle vom 10. 11. 1923. 8" Gesetz vom 24. 12. 1923, abgedr. in: Bulletin du Ministère du Travail 32, 1925, S. 365. «« Vgl. CAMT 40 AS 2, Rapport à l'assemblée générale [1922]. 866 Vgl. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 163. 867 Vgl. Michel, Die industriellen Beziehungen im französischen Bergbau, S. 238. 554 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Lebenshaltungskosten festgestellt hätte. Die Wortführer der Arbeitgeberverbände Frankreichs, die schon seit Anbruch der Deflation den Kommissionen zur Er- mittlung der Lebenshaltungskosten mit wachsendem Mißtrauen begegnet waren, liefen nun geradezu Sturm gegen diese Einrichtung, denn die Erhöhung der Berg- arbeiterlöhne drohte in ihren Augen das Signal zu einer allgemeinen Lohnerhö- hung zu geben, die die Inflationsgefahr vergrößern mußte, zumal wenn die Regie- rung zu einer Erhöhung der Beamtengehälter schreiten sollte, die weitere Löcher in den Haushalt riß. Die CGPF intervenierte sowohl beim Ministerpräsidenten als auch beim Arbeitsminister, um eine andere personelle Besetzung der Kommissio- nen zu erreichen. Nicht mehr Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertreter sollten sich in den Kommissionen paritätisch und streitend gegenübersitzen, sondern Ex- perten sollten den Lebenshaltungsindex ermitteln868. In der Tat hatte es den Kom- missionen bisher an Expertenwissen gefehlt869, den Vertretern der Arbeitgeber- verbände ging es indes auch darum, die Gewerkschaften auszuschalten, denn die paritätische Beteiligung der Gewerkschaften an der Arbeit der Kommissionen ermöglichte ihnen trotz ihrer Ohnmacht ein gewisses Maß an Einflußnahme auf die Lohnpolitik. Einige Arbeitgeberverbände wie das Consortium de l'industrie textile hatten schon 1923 die Kommissionen durch Nichtteilnahme boykottiert. Im Sommer 1923 hatte es den Entschluß gefaßt, durch die Einrichtung eines Co- mité de surveillance des prix eine eigene Lebenshaltungsstatistik zu erstellen, da man die Indexziffern der offiziellen Kommission für völlig überhöht hielt und sich ein Alleinentscheidungsrecht bei der Lohnfestsetzung vorbehalten wollte870. Die Erstellung eigener Lebenshaltungsstatistiken durch Arbeitgeberverbände oder Betriebe war indes kein französisches Unikum, denn auch in Deutschland wurde die offizielle Lebenshaltungsstatistik von den Arbeitgebern nicht akzep- tiert. So ließ beispielweise auch Krupp eigene Statistiken erstellen, um für Tarif- verhandlungen besser gerüstet zu sein871. In Frankreich standen freilich die Lebenshaltungsstatistiken weitaus mehr im Zentrum der Kontroverse als in Deutschland. Die Spitzen der Arbeitgeberver- bände reagierten daher auch mehr als gereizt, wenn in Unternehmerkreisen Stim- men laut wurden, die in den Commissions d'etude du coût de la vie eine Möglich- keit zur Verbesserung und Stabilisierung der industriellen Beziehungen sahen wie z. B. der Vizepräsident der Fédération des Industries métallurgiques von Marseille. Die Belehrung folgte auf den Fuß und glich nunmehr der Argumentation deut- scher Arbeitgeberverbände. Die Lohnhöhe habe sich nach der individuellen Lei- stung des Arbeitnehmers und nach der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung zu richten. Nur durch eine beträchtliche Leistungssteigerung könne die Lohn-

868 Vgl. CGPF, Compte rendu de l'assemblée générale du 18 mars 1924, S. 9. Die Kommission hatte einen Index ermittelt, der um 4,45 Prozent über dem der Vorkriegszeit lag. Auch das Consortium de l'industrie textile wünschte eine Besetzung der Kommissionen durch Experten. Vgl. La que- stion des salaires dans le Nord, La Journée Industrielle vom 6.11. 1923. 869 Vgl. Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 321; Savoye, Les enquêtes sur les budgets familiaux, S. 67. Vgl. ADN, 79 J 574, Note confidentielle (Ley) Nr. 91 vom 10. 8. 1923; La question des salaires dans le Nord, La Journée Industrielle vom 6. 11. 1923; Delvoye, Meneurs, S. 53-60. 871 Vgl. Tenfelde, Krupp in Krieg und Krisen, S. 142. IV. Inflation und Deflation 555 höhe gehalten werden872. Je mehr die Inflation in Deutschland dramatische Aus- maße erreichte und auch in Frankreich erste Anzeichen einer Geldentwertung sichtbar wurden, hatten Frankreichs Arbeitgeberverbände ein zusätzliches Argu- ment, um gegen Indexlöhne zu opponieren. Die gleitende Lohnskala, so ließen sie verlauten, müsse die Inflation geradezu anheizen und wurde deshalb als „unheil- voll" bezeichnet873. Das starre Ablehnen von Lohnerhöhungen war durchaus ei- ner tiefsitzenden, durch die Entwicklung in Deutschland verschärften Inflations- angst geschuldet. Anfang 1924 waren die französischen Unternehmer sogar bereit, den sogenannten double décime - eine 20prozentige Steigerung der wichtigsten Steuern - zu akzeptieren, gegen den sie ein Jahr zuvor noch heftig protestiert hat- ten. Diese finanzpolitische Maßnahme der Regierung Poincaré hielten auch sie nunmehr für ein geeignetes Instrument, um die Haushaltskonsolidierung zu mei- stern. Um die Inflationsgefahr zu bannen und dem Projekt Poincarés eine Chance zu geben, wollten sie sogar darauf verzichten, die Steigerung der Steuern durch eine Erhöhung der Preise auszugleichen874. Privatisierung der Monopole und eine Senkung der Preise durch den Verzicht auf Lohnerhöhungen und ein allgemeines Gürtel-enger-Schnallen war das Rezept, das die französischen Unternehmer einstweilen als Ausweg aus der sich abzeichnenden Inflationskrise empfahlen875. Für die Gewerkschaften waren die Vorschläge der Arbeitgeberverbände, mit denen sie einzig die Klage über die hohen Handelspreise teilten, unannehmbar. Die CGT versuchte im Frühjahr 1923 eine Lohnoffensive zu starten, wobei sie aber ausdrücklich betonte, daß es ihr nicht um eine Lohnerhöhung, sondern um eine Angleichung der Löhne an die gestiegenen Lebenshaltungskosten ging876. Ihre Position war durch die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung und den Ader- laß an Mitgliedern so geschwächt, daß sie ihre Forderung auf die Durchsetzung von Indexlöhnen reduzieren mußte877. Die CGT selbst hätte ein System nach dem Vorbild der Whitley Councils bevorzugt, das ihr die Möglichkeit zur Erkämpfung der Tarifautonomie gegeben und den Arbeitern einen Mindestlohn gesichert hätte878. Die französischen Kommunisten lehnten die Einführung einer gleitenden Lohnskala ab, allerdings keineswegs grundsätzlich und für alle Zeit wie die deut- schen, die in ihr eine Verewigung der unter dem Existenzminimum liegenden „Hungerlöhne" sahen879. Sie kritisierten in erster Linie, daß dem Lebenshaltungs- index das Haushaltsbudget einer Arbeiterfamilie aus dem Jahre 1914 zugrunde ge- legt werde, das schon damals deren Lebensbedürfnisse nur unzureichend gedeckt

872 Vgl. Bulletin Quotidien vom 20. 2.1923; Autour de l'échelle mobile des salaires, La Journée Indu- strielle vom 28./29. 9. 1924; Le problème des salaires, L'Usine vom 29. 4. 1929. 873 Vgl. Bulletin Quotidien vom 20. 2. 1923; Dans l'industrie textile du Nord, La Journée Industrielle vom 25. 1. 1924; Le coût de la vie et les salaires, La Journée Industrielle vom 21.2. 1923. 874 Vgl. Les faits. Les chances de M. Poincaré, La Journée Industrielle vom 20.2. 1924. 875 Vgl. Les faits. La vie chère, La Journée Industrielle vom 19.10. 1923; La Confédération Générale de la Production Française a tenu hier son assemblée générale, La Journée Industrielle vom 14.3. 1923; La vie chère, Le Temps vom 26. 10.1923. 876 Vgl. La deuxième journée du Comité Confédéral National. La résolution sur la vie chère et le relèvement des salaires, Le Peuple vom 21. 3. 1923. 877 Vgl. Le rapport de la C.G.T., Le Peuple vom 2. 1. 1923. 878 Vgl. Le problème de la vie chère, La Voix du Peuple vom August 1922, S. 456-462. 879 Vgl. Gegen die gleitende Lohnskala, Die Rote Fahne vom 21.2.1922; Zum Streit über die gleitende Lohnsklala, in: Inprekorr vom März 1922, S. 223 f. 556 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen habe880. Das Argument war nicht von der Hand zu weisen, doch eine realistische Alternative konnten weder die CGT noch die CGTU vorschlagen, denn die Macht, die Lohnpolitik maßgeblich zu beeinflussen, fehlte beiden. Sie befanden sich nicht nur während der Deflation in der Defensive. Sie konn- ten auch die einsetzende Inflationskonjunktur nicht für eine Lohnoffensive nut- zen. So mußte beispielsweise der Textilarbeiterverband der CGT offen eingeste- hen, daß bei der Lohnbewegung im Frühjahr 1923 „sehr wenig Erfolg zu ver- zeichnen" gewesen sei881. Die Arbeiter standen der Lohnoffensive des Textilarbei- terverbandes häufig gleichgültig gegenüber882. Dort, wo es zu größeren Arbeits- kämpfen kam, wie in der nordfranzösischen Textilindustrie oder in der Textil- region um Elbeuf im April/Mai 1923, denen sich mehrere tausend Arbeiter anschlossen, endeten sie in einer Niederlage883. Auch die während des Kriegs so erfolgreich kämpfenden Pariser midinettes konnten in ihrem fünf Wochen dau- ernden Arbeitskampf trotz der Intervention des Arbeitsministers nicht mehr als bezahlte Ferien und eine Erhöhung der Uberstundenzuschläge erstreiten. Den einzelnen Unternehmen stand frei, Lohnerhöhungen zu gewähren, ohne daß ein Tarif ausgehandelt worden wäre. Ein Teil der Arbeitgeber hatte auf die Arbeitsnie- derlegung mit einer Aussperrung geantwortet884. Einen von der CGTU geführten Streik der Pariser Gasarbeiter nutzten die Direktoren der Gaswerke zu umfang- reichen Entlassungen, obwohl die CGTU entgegen ihrer revolutionären Rhetorik den Minister des Innern um Vermittlung gebeten hatte885. Die Ohnmacht der Ge- werkschaften zeigte sich insbesondere in der Metallindustrie, wo fast 60 Prozent aller Arbeitskämpfe verlorengingen886. In der Pariser Automobil- und Flugzeug- industrie reihte sich eine Niederlage an die andere, da die partiellen Streiks von der CGTU nicht koordiniert wurden und nach wenigen Tagen zusammenbrachen. Der Pariser Metallarbeitgeberverband stellte im Frühjahr 1924 befriedigt fest, daß fast nur Teilstreiks stattgefunden hatten, durch die man nicht in Zugzwang ge- bracht worden sei887. Die UIMM wie auch der GIM verpflichteten ihre Mitglieder auf die Strategie, keine kollektiven Lohnerhöhungen zu gewähren, sondern durch

880 Vgl. Le magnifique exemple des ouvriers du Nord, L'Humanité vom 2. 9. 1921; vgl. auch La grève générale du textile de Roubaix, Tourcoing et environs, La Vie ouvrière vom 2. 9. 1920. 881 Vgl. AdsD, ITBLAV, Bericht über die Lage der Textilindustrie und der Textilarbeiter in Frank- reich, Juni 1923. 882 Vgl. AdsD, ITBLAV, Bericht über die Lage der Textilindustrie und der Textilarbeiter in Frank- reich, August 1923. 883 Vgl. hierzu ausführlich Les mouvements ouvriers dans le Nord, La Journée Industrielle vom 8./9. 4.1923; La grève du textile lillois prend de l'extension, Le Peuple vom 19.4.1923; La grève du textile de Lille, Le Peuple vom 18. 5. 1923. 884 Vgl. Les midinettes en grève, Le Peuple vom 12.4. 1923; La grève des midinettes, Le Peuple vom 17. 4.1923; C'est le lock-out dans la couture!, Le Peuple vom 24.3.1923; Le lock-out a échoué, Le Peuple vom 25. 4. 1923; Un mouvement qui n'a pas été inutile, Le Peuple vom 7. 5. 1923; La Ba- taille des salaires, L'Humanité vom 7. 5. 1923. In der offiziellen Streikstatistik ist dieser Arbeits- kampf nicht verzeichnet. 885 Vgl. La grève du gaz, Le Peuple vom 2. 9. 1923; La grève du gaz a rebondi hier, Le Peuple vom 15. 9. 1923; La grève générale du gaz parisien, La Vie ouvrière vom 31. 8. 1923; Sirot, La grève en France, S. 194. 886 Errechnet auf der Grundlage der Statistique de la grève 1923, S. 66-97. 887 La situation sociale dans les industries du métaux, La Journée Industrielle vom 23.2. 1924; zu die- sen Teilstreiks vgl. auch De nouveaux conflits surgissent à Paris, Le Peuple vom 20. 2. 1924. IV. Inflation und Deflation 557

individuelle Leistungsprämien und Familienzulagen einen Teuerungsausgleich zu schaffen888. Die Unnachgiebigkeit, mit der die französischen Arbeitgeber den Lohnforde- rungen der gespaltenen Gewerkschaftsbewegung entgegentraten, darf nicht zu dem Schluß führen, die Löhne seien 1923 mit einsetzender Inflation hinter den im Vergleich zu Deutschland moderat steigenden Lebenshaltungskosten zurückge- blieben. Der Lohn eines Facharbeiters in der Pariser Metallindustrie beispiels- weise erhöhte sich vom 1. Quartal 1923 bis zum 1. Quartal 1924 von 3,49 Francs auf 3,73 Francs889. Einer Enquete der UIMM zufolge waren die Löhne 1923 durchschnittlich um zehn Prozent gestiegen890. Die französischen Arbeitgeber konnten kein Interesse daran haben, die Löhne ihrer Arbeiter unter das Existenz- minimum fallen zu lassen, und der wachsende Arbeitskräftemangel setzte einer restriktiven Lohnpolitik ohnehin Grenzen. Sie erhöhten aber die Löhne nach ihrem Gutdünken und nicht aufgrund der Forderungen der Gewerkschaften oder der präsentierten Indexziffern der Commissions d'étude du coût de la vie, wobei trotz der Verdammung dieser Einrichtung durch die Wortführer der großen Ar- beitgeberverbände deren Indexziffern bei zahlreichen Lohnfestsetzungen maß- geblich waren. Der GIM beispielsweise sprach sich seit Mitte der zwanziger Jahre für eine kontinuierliche Anpassung der Löhne unter Berücksichtung der gestiege- nen Lebenshaltungskosten aus, um „einer radikalen Aktion" das Wasser abzugra- ben891. Die französischen Arbeiter wurden 1923 nicht dem Hunger ausgesetzt und so blieben größere Konflikte aus, zumal man in Kreisen der Arbeiterbewegung und der Arbeiter die Hoffnung auf die Wahlen im Frühjahr 1924 setzte892. Die Fi- nanzpolitik der Dritten Republik war zwar bereits unter Poincaré in eine Krise geraten, deren ganze Tragweite sollte sich aber erst während der Regierung des Cartel des Gauches zeigen. In Frankreich rief die Finanzkrise nicht wie in Deutschland eine Krise der industriellen Beziehungen und überbordende soziale Auseinandersetzungen und Aufruhr hervor. Nur Deutschland stand durch die in- flationäre Entwicklung am Rande des gesellschaftlichen und politischen Ab- grunds, erlebte ein „großes Chaos", von dem Frankreich bis und auch nach 1923 verschont bleiben sollte.

888 Vgl. L'Union des Industries Métallurgiques et Minières a tenu hier son assemblée générale, La Journée Industrielle vom 20. 2. 1924; CAC, AS 39, 865, GIM, Assemblée générale extraordinaire, Séance du 22 mars 1923; ebenda, GIM, Assemblée générale extraordinaire, Séance du 7 mai 1923. 889 Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 508. 890 Vgl. L'Union des Industries Métallurgiques et Minières a tenu hier son assemblée générale, La Journée Industrielle vom 20. 2. 1924. 891 Vgl. CAC, 39 AS 1002, Note sur les industries mécaniques de la région parisienne, 1er fevrier 1930. Es gab auch immer wieder Beispiele, daß Arbeitgeberverbände die gleitende Lohnskala ausdrück- lich akzeptierten. Neben den Metallarbeitgebern in Marseille befürworteten auch Arbeitgeber in der Leinenweberei in Lille und in der Tüllindustrie in Calais Indexlöhne. Vgl. Le patronat lillois serait partisan de la revision du coefficient, Le Peuple vom 1.9. 1921; Leprince, Mémoires, S. 89 f. 892 Vgl. Pierre Renaudel, Die Lage der Lohnempfänger in Frankreich, Essener Arbeiter-Zeitung vom 10. 1. 1924. 558 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

V. Unvergleichbare Zeiten: Hyperinflation und Währungs- stabilisierung, soziale Explosion und Machtrevirements in Deutschland (1922-1924)

1. Arbeitgebervorstöße, rasende Teuerung und wachsende Radikalisierung

Die durch die Hyperinflation ausgelöste Krise war für die Entwicklung des poli- tischen und gesellschaftlichen Systems Deutschlands noch eine größere Gefahr und Hypothek als der revolutionäre Umbruch der Jahre 1918/19. Sie führte zu sozialer Spaltung und Radikalisierung, zu einer häufig mit Gewalt verbundenen Eskalation industrieller Konflikte und dem Zerbrechen des noch vorhandenen Minimalkonsenses zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Sie drohte die Fundamente der Zivilgesellschaft zu untergraben, ließ insbesondere bei Konservativen und in Unternehmerkreisen den Ruf nach einer den überkomme- nen Parlamentarismus ablösenden Diktatur laut werden, während in Moskau Morgenluft für eine Revolution des Proletariats gewittert wurde. Im rechts- wie im linksradikalen Spektrum wurde das jeweilige Losschlagen des „Feindes" gera- dezu erwartet, um die eigene Aktion und den eigenen Herrschaftsanspruch legiti- mieren zu können. So hatte insbesondere der linke Flügel der KPD gehofft, daß die Ermordung Walther Rathenaus durch die Organisation Consul am 24. Juni 1922 der Auftakt zu einem „Rechtsputsch" sei, den man wie beim Kapp-Lütt- witz-Putsch zu einer revolutionären Mobilisierung der Arbeiterschaft benutzen könne893. Während Maslow, der Exponent des linken Flügels der KPD und Leiter der Berliner Parteiorganisation, einer Zusammenarbeit mit dem ADGB äußerst kritisch gegenüberstand, weil er nicht zu Unrecht davon ausging, daß die Freien Gewerkschaften die durch den Rathenau-Mord ausgelöste Bewegung innerhalb der Arbeiterschaft zu kanalisieren versuchten894, sah Wilhelm Pieck, damals Ab- geordneter des preußischen Landtags, in gemeinsamen Demonstrationen die will- kommene Gelegenheit, die Einheitsfrontpropaganda in die Tat umzusetzen. Am 1. Juli schrieb er an Clara Zetkin: „Was alle unsere Propaganda und alle Not und Bedrückung nicht vermocht hat, hat wieder einmal die Konterrevolution fertigge- bracht. Das deutsche Proletariat ist durch den Schuß auf Rathenau aufgescheucht und hat sich zu einer Einheitsfront gegen die Konterrevolution vereint."895 Die Aktionsgemeinschaft war indes nicht von langer Dauer. Zwar hatten die drei Arbeiterparteien, SPD, USPD und KPD sowie der ADGB einen gemeinsa- men Aufruf unterzeichnet, am Tag der Beisetzung Rathenaus, dem 27. Juni, nach- mittags die Arbeit niederzulegen, aber ein zweiter Aufruf, auch am 4. Juli zu de- monstrieren, um Druck auf die Verabschiedung eines Republikschutzgesetzes im Parlament auszuüben, kam nicht mehr zustande, da die KPD sich weigerte, einen gemeinsamen Appell, der zu ,,ernste[m] und würdige[m] Auftreten" aufrief, zu

8» Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/208, Maslow an Radek, 5. 7. 1922. 894 Graßmann hatte gegenüber der Reichsregierung erklärt, daß es das Bestreben des ADGB sei, „die Bewegung in der Hand zu behalten, nicht ein Pflasterstein solle verrückt werden". Besprechung mit Vertretern der Parteien und Gewerkschaften vom 1.7. 1922, in: AdR, Die Kabinette Wirth, Bd. 2, S. 828. β» SAPMO-BArch, NY 4005/103, Wilhelm Pieck an Clara Zetkin, 1. 7. 1922. V. Unvergleichbare Zeiten 559 unterzeichnen, und weitergehende Forderungen stellte896. Der Wunsch der Arbei- terschaft, mit der „Reaktion" aufzuräumen, die ihre Rechte und Errungenschaften bedrohte, hatte sich nicht nur in eindrucksvollen Demonstrationen manifestiert, sondern gelegentlich auch in Ausschreitungen, die sich vor allem in Sachsen auch gegen die Unternehmer richteten, die 47 sogenannte Terrorakte auflisteten897. Manche Unternehmer wurden gezwungen, die rote Fahne zu tragen, andere wur- den mit einer schwarz-weiß-roten Fahne der johlenden Menge zur Schau gestellt, um sie als Republikgegner und Arbeiterfeinde zu demütigen. Zu wirklich schwe- ren Zwischenfällen kam es indes nur in Zwickau, wo die herbeigerufene Landes- polizei entwaffnet, mehrere Geschäftsleute und Fabrikanten in Geiselhaft genom- men, Gewerkschaftsfunktionäre und ein Abgeordneter der DNVP mißhandelt, das Rathaus gestürmt und Privathäuser geplündert wurden. Bei Zusammenstößen mit der Polizei wurden zwei Menschen getötet und mehrere verletzt898. Die KPD war keineswegs die Drahtzieherin dieser Übergriffe. Sie versuchte nach den Vor- fällen, in dem in Zwickau gebildeten Aktionsausschuß zusammen mit den ande- ren Arbeiterparteien und den Gewerkschaften für die Aufrechterhaltung der Ordnung und der Disziplin zu sorgen899. Angriffe auf Unternehmer ereigneten sich dort, wo die gewerkschaftliche Organisation schwach und vor dem Krieg das Koalitionsrecht mißachtet worden war. Durch ihre Weigerung, die durch die De- monstration ausgefallene Arbeitszeit zu bezahlen, und ihren Protest gegen die „Verquickung wirtschaftlicher Kampfmittel mit politischen Forderungen"900 gaben Sachsens Industrielle zu verstehen, daß für sie - wie auch für einen Teil der Industriellen in anderen Regionen - die Ermordung ihres Unternehmerkollegen Rathenau kein Anlaß war, einen nationalen Trauertag zu begehen901. Sachsens Un- ternehmer nutzten die Zwischenfälle, um gegen die sächsische Koalitionsregie- rung aus SPD und USPD Front zu machen902. Hatten die beiden sozialdemokratischen Parteien und die Freien Gewerkschaf- ten durch die Demonstrationen vor allem ihren Ruf nach einem Republikschutz- gesetz unterstreichen wollen, so waren sich KPD- und Unternehmerpresse in ihrer Ablehnung eines Gesetzes, das links- wie rechtsradikale Aktionen unter- drücken sollte, einig. Die KPD sah in dem Republikschutzgesetz ein „Ausnahme- gesetz gegen das Proletariat"903. Sie hatte für die zweite Demonstration gegen den

896 Vgl. Arbeiter, seid einig! Bleibt hart, aber hütet Euch vor Provokateuren, in: Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 28 vom 15. 7. 1922, S. 381-383. 897 Vgl. VSI, Demonstrations-Terror gegen Sachsens industrielle Produktion. 898 Vgl. BAB, R 1501 alt, Nr. 10/159, Bericht des Regierungskommissars Krippner über die Vorgänge am 4. 7. 1922 in Zwickau. 899 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113402, Denkschrift des Aktionsausschusses der Gewerkschaften (ADGB, AfA) und der drei sozialistischen Parteien Zwickaus zu den Vorgängen am 4. und 5. Juli 1922 zu Zwickau; Der Gegenstoß der Reaktion, Die Rote Fahne vom 6. 7. 1922; Das Arbeiterblut darf nicht umsonst geflossen sein! Der Kämpfer vom 6. 7. 1922. 900 SHStAD, Sächsische Staatskanzlei Nr. 127, VDA, Landesstelle Sachsen, an das Gesamtministe- rium des Freistaates Sachsen, 7. 7. 1922. 901 Auch Rudolf Blohm weigerte sich beispielsweise, den nationalen Trauertag für den ermordeten Rathenau zu begehen. Vgl. Ferguson, Paper and Iron, S. 352. 902 Vgl VSI, Demonstrations-Terror gegen Sachsens industrielle Produktion, S. 54. Der VSI drohte mit einem Eingreifen der Reichsgewalt und einem Investitionsboykott. 903 Vgl. Die Zerstörer der proletarischen Kampffront, Die Rote Fahne vom 8. 8. 1922; Volkspartei- liche Regierungsgelüste, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 16. 7. 1922. 560 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Rathenau-Mord bezeichnenderweise die Parole ausgegeben: „Noch einmal Streik? Noch einmal Demonstration? Und was dann!"904 Ihrem Ziel, die beste- hende Regierung zu stürzen und durch einen Generalstreik die Bildung einer Ar- beiterregierung zu erzwingen, war sie keinen Schritt nähergekommen. So schlug sie erneut einen Konfrontationskurs gegenüber der SPD ein. Angesichts der sich durch den Rathenau-Mord verschärfenden Inflation, die die gewerkschaftlichen Tarifverhandlungen immer mehr ad absurdum führte, wähnte sich die KPD in der Hoffnung, den Kampf gegen die „Stinnessozialdemo- kratie" und die Gewerkschaftsbürokratie forcieren zu können, wobei sie aller- dings den Appellen der Syndikalisten, aus den Gewerkschaften auszutreten, ener- gisch entgegentrat. Im Juli und August rief sie die Arbeiter auf, gegen Teuerung und Verelendung zur „Selbsthilfe" zu greifen: „Die Belegschaften in den Betrie- ben haben die [...] Möglichkeit, durch eigenes Vorgehen, aus eigener Kraft unmit- telbare Erfolge gegenüber den Unternehmern herauszuschlagen."905 In zahl- reichen Großbetrieben wurden Betriebsversammlungen einberufen, die den Ar- beiterrat beauftragten, mit gleichlautenden Resolutionen bei der Firmendirektion vorstellig zu werden. Auf dem Programm standen die Bildung einer Arbeiterre- gierung, die Erfassung der Sachwerte, die Beschaffung von Lebensmitteln und die Kontrolle der Fabriken und Gruben durch die Betriebsräte906. Die eingeleitete Bewegung war so unkoordiniert, daß das Politbüro der KPD die Einberufung einer Vollversammlung der Großberliner Betriebsräte beschloß, die am 30. August in Berlin tagte und einen Fünfzehnerausschuß ins Leben rief, der einen landesweiten Betriebsrätekongreß organisieren sollte. Angesichts des „vollständigen Versagens der gewerkschaftliche[n] Instanzen" rief die Betriebsrä- teversammlung zum Kampf um die Erhöhung der Löhne, um die Regulierung der Preise und eine Kontrolle der Verteilung der Lebensmittel durch die Arbeiter- schaft, zur Steuerung der Wohnungsnot, vor allem aber zur Bildung von Kon- trollausschüssen auf, die die Preise festsetzen, die Betriebe und die Wirtschaft des Reiches überwachen sollten907. Der Fünfzehnerausschuß forderte in einem Brief an den preußischen Minister des Innern vom 1. September u.a. die „Beschlag- nahme von Lebensmitteln und lebenswichtigen Bedarfsgegenständen, die zu Wu- cherpreisen feilgeboten wurden"908. Das Bestreben der KPD, im Kampf gegen die Gewerkschaften die Betriebsräte zum Sprachrohr der Arbeitermassen zu machen, hatte anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht den von den Kommu- nisten erwünschten Erfolg. Die Bildung der Kontrollausschüsse ging nur schlep- pend voran und die Mehrzahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter ließ sich von den Sirenenklängen der kommunistischen Betriebsrätebewegung nicht betören. Die Resonanz vor allem in den mittleren und kleineren Betrieben auf die Veranstaltung eines Reichsbetriebsrätekongresses war so gering, daß seine Einbe- rufung vom 22. Oktober auf den 23.-25. November vertagt werden mußte909. Von

904 Vgl. Eisner, Das Verhältnis der KPD zu den Gewerkschaften, S. 141. 905 Die Stimme der Betriebe, Der Kämpfer vom 26. 8. 1922; vgl. auch Das Pögewerk läuft Sturm, Der Kämpfer vom 29. 8. 1922; Gegen Teuerung und Verelendung, Der Kämpfer vom 21. 8. 1922. 906 Vgl. Kampf der Teuerung, Die Rote Fahne vom 17. 8. 1922. 907 Vgl. Der Kampf entbrennt, Der Kämpfer vom 21. 8. 1922. 908 Vgl. Kampf für die Forderungen der Betriebsräte!, Die Rote Fahne vom 3. 9. 1922. 909 Vgl. Der Reichsbetriebsrätekongreß verschoben! Der Kämpfer vom 18. 10. 1922. V. Unvergleichbare Zeiten 561

657 Delegierten gehörten mehr als vier Fünftel der KPD an, 38 sollen Mitglieder der SPD gewesen sein. Die ADGB-Führung hatte eine Beteiligung an dem Be- triebsrätekongreß strikt abgelehnt und war auch nicht Dißmanns Vorschlag ge- folgt, einen eigenen Betriebsrätekongreß einzuberufen, um die Kommunisten „matt" zu setzen910. Offensichtlich hatte man durchaus zutreffend erkannt, daß die Mobilisierungs- chancen für einen solchen Kongreß denkbar gering waren, denn trotz Teuerung, zunehmender Verelendung und kommunistischer Agitation hatten sich im Spät- sommer und Herbst 1922 Streiks und Unruhen sehr in Grenzen gehalten. So stellte Mitte September 1922 der Reichskommissar für die Öffentliche Ordnung fest: „Daß es unter den gegebenen Verhältnissen nur ganz vereinzelt zu Teue- rungskrawallen gekommen ist, die stets nur lokale Bedeutung hatten, ist ein Be- weis dafür, daß die Massen nicht so leicht erregbar sind wie in den vergangenen Jahren."911 Anfang September brachen außer in Berlin-Neukölln und Ebers- walde, wo die Schutzpolizei bei Lebensmittelunruhen zwei Menschen er- schoß912, vor allem im westlichen Ruhrgebiet „wilde" Streiks aus. Lebensmittel- preise wurden nicht selten zwangsweise herabgesetzt. Ausgangspunkt der Bewe- gung war wieder einmal Hamborn, wo die Bergarbeiter der August-Thyssen- Hütte am 1. September die Arbeit niederlegten, weil wegen Papiermangels ihr Lohnvorschuß von 1000 auf 300 Mark gekürzt worden war. Kurze Zeit später gärte die Stimmung auch in Duisburg, weil die Zechenverwaltungen wegen Pa- piermangels nicht den gesamten Lohn auszahlen konnten. Auch hier verlor bei Zusammenstößen mit der Schutzpolizei, die wie immer mit blanker Waffe vor- ging, ein Mensch sein Leben. Die Streiks wie auch die in einigen anderen Städten wie Bochum, Oberhausen und Sterkrade ausbrechenden Lebensmittelunruhen konnten teilweise dadurch kanalisiert werden, daß die Lebensmittelhändler sich bereit erklärten, vorübergehend auf Gewinne zu verzichten und ihre Waren zum Einkaufspreis abzugeben. Außerdem willigten sie ein, mit den sich konstituie- renden Kontrollausschüssen zu verhandeln und Einsicht in ihre Geschäftsbücher zu gewähren913. Das setzte die Kaufleute freilich außerstande, neue Waren einzu- kaufen, so daß sich die Lebensmittelnot noch vergrößerte914. Die Preisbindung der Lebensmittelhändler wurde daher sehr schnell wieder aufgehoben, ohne daß es zu Protesten der Arbeiterschaft kam. Erst im November nach einem starken Ansteigen des Brotpreises brachen wieder in einigen Städten Lebensmittelunru- hen aus, die aber keine Initialzündung zu dem befürchteten großen Aufruhr wa-

910 Vgl. Sitzung des Bundesausschusses vom 28. 9.-1. 10. 1922, in: Quellen zur Geschichte der deut- schen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 638 und 661 f. Vgl. BAB, R 134, Fiche 18, Lagebericht vom 16. 9. 1922. 912 Vgl. BLHA, Reg. Postdam, Rep. 2 AI Pol. Nr. 1025, Bericht des Schutzpolizeikommandos Ebers- walde über die Unruhen in Eberswalde vom 5. 9. 1922; Die Vorgänge in Eberswalde, Vorwärts vom 2. 9. 1922. 913 Vgl. NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16895, Der Preußische Minister für Handel und Ge- werbe an Regierungspräsident Grützner, 7. 9. 1922; ebenda, Der Oberbürgermeister von Ham- born an Regierungspräsident Grützner, 1., 2. und 5. 9. 1922; ebenda, Bericht des Oberbürgermei- sters und der Polizeiverwaltung von Sterkrade an Regierungspräsident Grützner, 9. 9. 1922, Peter- son, German Commmunism, S. 140f. Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt, S. 232-237. 9,4 Vgl. An die Bergarbeiter des Ruhrreviers, Essener Arbeiter-Zeitung vom 9. 9. 1922. 562 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen ren915. Die KPD, die die Lebensmittelkrawalle nicht unterstützte, da in ihren Augen die „habsüchtige Bourgeoisie" nur darauf wartete, „jedes Aufflackern des Kampfes in einem Blutbad zu ersticken", mußte konstatieren, daß ihre eigenen Kampagnen und Demonstrationen gegen die Teuerung nicht auf die gewünschte Resonanz gestoßen waren916. Obwohl viele Kumpels nur noch Margarinebrot zur Arbeit mitbrachten917 und es den Zechen nicht immer möglich war, ausreichend Fettwaren zu beschaffen, blieben im Ruhrbergbau bis Ende 1922 größere Arbeitsstörungen und Proteste aus. Im Zwickauer Revier, wo auch das Uberschichtenabkommen auf Ablehnung gestoßen war, traten hingegen am 10. November die Bergarbeiter in den Aus- stand. Sie forderten höhere Abschlagszahlungen, die ihnen von den meisten Ze- chendirektionen des Erzgebirgischen Steinkohle-Aktienvereins, dessen Aktien- mehrheit im Besitz der Stadt Zwickau war, auch in Aussicht gestellt wurden. Nur in einem Schacht, wo es eine starke syndikalistische Bewegung gab, wurden die Abschlagszahlungen durch die Geiselnahme des Betriebsleiters von der Zechendi- rektion, die die Forderungen der Bergarbeiter abgelehnt hatte, erpreßt. Der Gene- raldirektor und anwesende Beamte wurden zudem körperlich mißhandelt918. Auch zu dem großen Streik, der zur gleichen Zeit in Düsseldorf ausbrach, hat- ten nicht die Kommunisten, sondern die Syndikalisten das Startzeichen gegeben. Der Arbeitskampf brach im Mannesmann-Konzern aus, wo Unionisten und Syn- dikalisten die Oberhand gewinnen konnten. Der Abzug eines Lohnvorschusses von dem regulär ausgezahlten Wochenlohn reichte angesichts der explosiven Stimmung in der Arbeiterschaft als Zündstoff für eine Streikbewegung, die sich bald auf ganz Düsseldorf ausdehnte und ungefähr 45 000 Streikende umfaßte. Eine weitere Ausdehnung des Streiks glückte jedoch nicht. Nur in einigen kleineren niederrheinischen Orten legten die Textilarbeiter die Arbeit nieder919. Die KPD schloß sich zunächst der von den Syndikalisten ausgegebenen Generalstreikparole an, rückte aber wieder von ihr ab, als sie deren Scheitern sah, und rügte nun das Vorgehen der Syndikalisten als „Phantastereien einiger Wirrköpfe"920. Im Grunde hatten die Düsseldorfer Kommunisten, die von Anfang an die Parole der Syndi- kalisten „Heraus aus den Gewerkschaften" als „nicht wieder gutzumachende Dummheit" kritisierten, auf eine Übernahme des Kampfes durch die Gewerk- schaften gehofft, die am 14. November auch erfolgte, nachdem durch das brutale Vorgehen der Schutzpolizei Tote und Schwerverletzte zu beklagen waren921. Das

9,5 Einen Aufruhr in dreißig oder fünfzig großen Städten hatte im Dezember 1922 der katatonische Journalist Eugeni Xammar vorausgesagt. Vgl. Xammar, Das Schlangenei, S. 36. 916 Vgl. Verschärfter Kampf, Die Rote Fahne vom 6.11. 1922; vgl. auch Hungerkrawalle, ihre Ursa- chen und ihre Verhinderung, Der Kämpfer vom 20. 11. 1922; SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/2, Sit- zung des Politbüros am 3. 10. 1922. •>" Vgl. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 2, S. 328 f. "» Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113403, Abschrift: Zwickau-Bürgeschacht, 10.11. 1922; ebenda, Bericht Regierungskommissar Krippners an das Polizeipräsidium in Dresden vom 11.12. 1922; Anfrage Nr. 1920, Verhandlungen des Deutschen Reichstages, Bd. 375, Drucksache Nr. 5298, S. 5710. 919 Vgl. Peterson, German Communism, S. 146-149. 920 Vgl Syndikalistische Generalstreikparolen, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 2. 12. 1922. 921 Vgl. Das Düsseldorfer Proletariat im Abwehrkampf und die Antwort auf das Blutbad, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 13. 11. 1922 und 14. 111922. V. Unvergleichbare Zeiten 563 von den Gewerkschaften erzielte Verhandlungsergebnis, das nicht mehr als eine Anerkennung der bestehenden tariflichen Vereinbarungen beinhaltete, nutzten die Kommunisten dann freilich sofort, um die Gewerkschaften der Schwäche und des Versagens zu zeihen922. Tatsächlich konnten die Gewerkschaften die Behauptung der Kommunisten kaum abstreiten, daß unter den Bedingungen rasant steigender Preise Tarifver- handlungen und Schlichtung der wachsenden Misere nicht Einhalt gebieten konn- ten. Der DMV gab ganz offen zu, daß er nicht mehr das „Loch zu verstopfen" ver- mochte, das die „Preissteigerung in die Arbeitertasche" riß923. Selbst dort, wo die Gewerkschaften das Vertrauen ihrer Mitglieder genossen hatten und der Syndika- lismus auf keinerlei Sympathie gestoßen war wie ζ. B. in der Dresdner Metallindu- strie, versuchten nun die Metallarbeiter Druck auf die Tarifverhandlungen auszu- üben, indem sie die Verhandlungssäle oder die Büros des Verbandes der Metall- arbeitgeber stürmten und den Arbeitgebervertretern ihre Meinung „drastisch vor Augen" führten924. Vielerorts wurden jedoch Streiks als aussichtslos betrachtet. Obwohl ein Schiedsspruch für die Metallindustrie des nordwestlichen Bezirks der Eisen- und Stahlindustrie den dortigen Metallarbeitern nur völlig unzureichende Lohnverbesserungen bescherte, lehnte die große Mehrheit der in den Freien Ge- werkschaften organisierten Arbeiter einen Arbeitskampf ab, nachdem die christ- lichen Gewerkschaften von vornherein eine Arbeitsniederlegung ausgeschlossen hatten. An der Urabstimmung hatten sich nur 61 Prozent der Arbeiter beteiligt925. Die Apathie der Arbeiter in der Eisen- und Stahlindustrie des Ruhrgebietes, die vor dem Krieg so gut wie nicht organisiert waren, war schon so weit fortgeschrit- ten, daß der DMV in Stahlorten wie Essen, Dortmund, Düsseldorf und Duisburg bereits 1922 beträchtliche Mitgliederverluste zu verzeichnen hatte926. Auch andere Verbände wie z.B. der Textilarbeiterverband beklagten die „starke seelische De- pression" der Arbeiterschaft927. Anders als in Frankreich erwuchs die Apathie der Arbeiter in Deutschland einer tiefen Enttäuschung über die Ergebnisse der Revo- lution. Sie konnte in Verbindung mit der durch die Inflation hervorgerufenen fortschreitenden Verzweiflung sehr schnell in Radikalität umschlagen, zumal die Ungewißheit über den Ausgang der permanenten Lohnverhandlungen zu einer starken Erregung unter der Arbeiterschaft führte. Einstweilen kam der Arbeitgeberseite die Passivität der Arbeiterschaft sehr zu- paß. Hans Humann, Verlagsdirektor der Stinnes-eigenen Deutschen Allgemeinen Zeitung, teilte seinem „Prinzipal" im November vertraulich mit: „Der Druck des wirtschaftlichen Elends scheint [...] stark genug, um die bisherige Bereitwilligkeit der Arbeiterschaft zu Vorstößen zu schwächen." Daß die Arbeiter am 9. Novem- ber, dem Jahrestag der Revolution, keine Arbeitsruhe verlangten, war für Hu-

922 Vgl. Nach dem Kampfe, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 18.11. 1922. 923 Abwehr der Verelendung, Metallarbeiter-Zeitung vom 23. 9. 1922. 924 Vgl. SHStAD, Sächsisches Ministerium des Innern Nr. 11080, Bericht: Demonstration in der Ammonstraße vom 19. 9. 1922. 9" Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1922, S. 66. 92' Vgl. ebenda, S. 68. 927 Vgl. AdsD, ITBLAV, Bericht über die Lage der Textilindustrie und der Textilarbeiter in Deutsch- land vom November 1922. 564 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen mann der Beweis, daß die Arbeiter nicht mehr zur Streikwaffe griffen928. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, daß Stinnes ausgerechnet am 9. November im Vorläufi- gen Reichswirtschaftsrat seine berüchtigte, hohe Wellen schlagende Rede hielt, in der er bekanntlich dafür plädierte, daß die Arbeiter für 10-15 Jahre zwei Stunden mehr arbeiten sollten, ohne dafür irgendwelche Überstundenzuschläge zu be- kommen. Das bedeutete de facto die Wiedereinführung des Zehnstundentages. In volkswirtschaftlich wichtigen Betrieben sollten darüber hinaus für fünf Jahre Streiks verboten und unter Strafe gestellt werden929. Stinnes' Rede war eine Pro- vokation der Arbeiterschaft, ohne daß der führende deutsche Industrielle, der wie schon in der Vorkriegszeit den vermeintlich guten Willen der Arbeiter gegen die Agitation der Gewerkschaften ins Feld führte, sich dessen bewußt war. Er scheint davon überzeugt gewesen zu sein, für sein Wirtschaftsprogramm die Zustimmung der Öffentlichkeit und auch der Arbeiterschaft zu finden, denn sonst hätte er nicht eine Volksabstimmung darüber gewünscht. Auch ließ er seine Rede, ergänzt durch erklärende Anmerkungen für den unbedarften Leser, in Billigbroschüren verbreiten930. „Was man will, muß das simpelste Gemüt verstehen", hatte er an den Rand eines von Hermann Bücher im Oktober 1922 vorgelegten politischen Programms geschrieben, in dem die Außenpolitik zum zentralen Problem erho- ben worden war, was Stinnes wie auch Silverberg sofort zu einschneidender Kritik veranlaßte931. Hatte Bücher noch etwas sibyllinisch „Mehrleistungen auf allen Gebieten" ge- fordert, so führten die deutschen Industriellen ihren Kampf gegen den Achtstun- dentag im Herbst 1922 offen und ohne jede Zurückhaltung. August Thyssen hatte bereits in einem Brief vom 14. Oktober Reichskanzler Wirth aufgefordert, sich an die Spitze der Bewegung für eine verlängerte Arbeitszeit zu stellen, „damit wir unser Volk und Vaterland vor dem Untergang bewahren". Zur großen Empörung der Gewerkschaften hatte er hinzugefügt: „Das Unglücklichste, was uns die Re- volution bringen konnte, war der Achtstundentag."932 Der RDI hatte Stinnes seine Unterstützung zugesagt und sich dessen Programm weitgehend zu eigen gemacht. Bücher wie auch der Geschäftsführer der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Fritz Tänzler, sprangen Stinnes in der Sitzung des Zentral- vorstandes der ZAG am 10./11. November zur Seite. Paul Silverberg, der zu jener

«8 ACDP, 1-220-045/1, Hans Humann, Vertraulicher Bericht vom 11. 11. 1922. Der vollständige Wortlaut der Rede ist überliefert in: DEU-ADS 177/10. (Vorläufiger Reichswirt- schaftsrat); eine ausführliche Wiedergabe der Rede findet man bei Feldman, Great Disorder, S. 486—488; Feldman, Hugo Stinnes, S. 793-795. Stinnes hatte sein am 9. November 1922 vorgetra- genes Wirtschaftsprogramm bereits in einer Denkschrift, die er u.a. am 14. 10. 1922 an den ame- rikanischen Botschafter Houghton sandte, entwickelt. Die Denkschrift befindet sich in: ACDP, 1-220-026/3. Vgl. Feldman, Hugo Stinnes, S. 796. 931 Das politische Programm Büchers mit den Randbemerkungen Stinnes' vom 13/14.10. 1922 befin- det sich in der Anlage des Briefes von Hugo Stinnes an Edmund Stinnes vom 1.11.1922 in: ACDP, 1-220-038/4. Hermann Bücher hatte bereits am 27./28. 6. 1922 einen Entwurf eines Wirtschafts- programms vorgelegt, der in einem eigens eingesetzten Ausschuß für die programmatischen Fra- gen des Wirtschaftslebens unter der Leitung von Paul Silverberg beraten wurde. Der Entwurf Büchers ist abgedr. in: Feldman/Homburg, Industrie und Inflation, S. 328-332; vgl. auch ebenda, S. 126 f.; zur Kritik Silverbergs vgl. Gehlen, Paul Silverberg, S. 237. 932 Das Schreiben befindet sich in: Β AB, R 43 I, Nr. 1132; es ist auch abgedr. in: Bischoff, Arbeitszeit- recht in der Weimarer Republik, S. 177-179. V. Unvergleichbare Zeiten 565

Zeit in Stinnes seinen geistigen Mentor sah, entwickelte Ende 1922 ein Programm zum „Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft", das noch weit mehr als der „Stin- nes-Plan" die Rückkehr zu den Verhältnissen der Vorkriegszeit anstrebte. Der Kölner Braunkohlenindustrielle sprach sich für einen ,,grundsätzliche[n] Verzicht auf Eingreifen aller öffentlichen Gewalt und Verwaltung in Güter-Erzeugung und Verteilung aus" und wollte alle „Überbleibsel der Kriegswirtschaft" wie z.B. die Schlichtungsausschüsse abschaffen. Silverbergs Angriffe richteten sich nicht nur gegen den Achtstundentag und das Streikrecht, sondern auch gegen die Gewerk- schaften als Tarifpartner und deren Einflußnahme auf die innerbetriebliche Mit- bestimmung. Tarifverträge sollten nach Möglichkeit durch „freie Vereinbarungen über Lohn- und Arbeitszeit zwischen Unternehmern und Angestellten und Ar- beitern" ersetzt werden933. Während Reusch aus außenpolitischen Gründen das Silverbergsche Wirtschaftsprogramm für undurchführbar hielt, selbst aber die Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmerorganisationen ebenfalls aufkündigen wollte934, äußerte Carl Dulsberg grundsätzliche Kritik. Er konstatierte, daß eine Abkehr von den Mitbestimmungsrechten der Arbeiter sowie vom Weimarer Sozialstaat eine „Rückkehr zum Manchestertum" des 19. Jahrhunderts bedeute, während gerade in Krisenzeiten die staatliche Intervention auch in die Tarifpolitik unverzichtbar sei. Seiner Meinung nach hatten sich die Schlichtungsausschüsse „fraglos bewährt"935. Einseitige Unternehmerdiktate hielt er für unzeitgemäß. Eine einfache Rückkehr zu den Vorkriegsverhältnissen war in Deutschland nicht denkbar, und selbst Silverberg fragte, ob sie wirklich möglich sei936. In Frankreich, wo 1918/19 keine Revolution stattgefunden und nicht einmal eine re- volutionäre Stimmung unter der Arbeiterschaft geherrscht hatte, wo die Arbeiter- schaft zudem nicht hinter den immer ohnmächtiger agierenden Gewerkschaften stand, war es für die Industriellen ein leichtes gewesen, das ohnehin nicht weit vorwärts bewegte Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen, ohne eine soziale Protestbewegung auszulösen. Der Achtstundentag war dort nur auf dem Papier verbrieft, was deutschen Unternehmern immer wieder als Argument diente, um den Abbau des Achtstundentags in Deutschland zu rechtfertigen, wie umgekehrt mit gleicher Zielsetzung auch die französischen Unternehmer geradezu tatsachen- widrig erklärten, der Achtstundentag sei in Deutschland nur eine „Fassade"937. Wenn Stinnes behauptete, der Achtstundentag werde „im Ausland als Beweis für Deutschlands Wohlstand oder für Deutschlands schlechten Willen" gewertet938,

933 Ein Exemplar von Silverbergs Programm „Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft" befindet sich in: BÄK, NL Silverberg Nr. 313; es ist auch abgedr. in: Feldman/Homburg, Industrie und Infla- tion, S. 324-327; zu dem Programm vgl. Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP, S. 30 f.; Gehlen, Paul Silverberg, S. 239-243. "« Vgl. RWWA, 130-400101290/35a, Reusch an Silverberg, 2.1. 1923. 935 BÄK, NL Silverberg Nr. 412, Dulsberg an Silverberg, 12.1. 1922; vgl. auch Rupieper, The Cuno Government, S. 41. 936 Vgl. Niederschrift über die zweite Sitzung des beim RDI eingesetzten Sonderausschusses für ein Wirtschaftsprogramm am 9. 8. 1922, in: Feldman/Homburg, Industrie und Inflation, S. 332 f. 937 Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 1132, August Thyssen an Wirth, 14. 10. 1922; Geheimrat Klöckner zur Lage der Kohlen- und Eisenindustrie, Rheinisch-Westfälische Wirtschaftszeitung vom 13. 10. 1922; Comment la loi de huit heures est appliquée en Allemagne, L'Usine vom 8. 4.1922; vgl. auch unten S. 655. »8 Vgl. ACDP, 1-220-039/2, Aktennotiz: Besprechung mit H.St. am 24. 8. 1922. 566 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen so dürfte dies in Frankreich nur für die Meinung konservativer Politiker zutref- fend gewesen sein. In Deutschland wären die Freien Gewerkschaften von den Kommunisten als „Stinnes-Knechte" denunziert worden und hätten jeden Kredit bei der Arbeiter- schaft verloren, hätten sie sich - wie von Hugo Stinnes offensichtlich erwartet - für dessen Programm vereinnahmen lassen. In der einen Tag nach der Stinnes- Rede stattfindenden Sitzung des Zentralvorstandes der ZAG plädierte zwar auch Peter Graßmann für eine Steigerung der Produktionsleistungen, aber nur wenn der Achtstundentag gewahrt bleibe. Gegen die einvernehmliche Anordnung von Überstunden hatte er hingegen keine prinzipiellen Einwände. Stinnes' vermeint- lich großzügiges Angebot, die Löhne zu steigern, mit dem er in Arbeitgeberkrei- sen weitgehend allein stand, war für die Freien Gewerkschaften nur wenig verlok- kend. Der stellvertretende Vorsitzende des ADGB ließ Stinnes wissen: „Unser In- teresse an Lohnsteigerungen ist viel geringer, als an einer endlichen Annäherung der Löhne an das Lebensnotwendige durch einen entscheidenden Preisabbau."939 Stinnes hatte hingegen in seiner Rede vom 9. November eine Stabilisierung der Währung „um jeden Preis" abgelehnt und wie auch die RDI-Führung die Vor- schläge der von der Regierung eingesetzten Kommission für Wirtschafts- und Finanzfragen zur Währungsstabilisierung zurückgewiesen, was für den Vorwärts Beweis für den Wunsch der Industrie war, „noch rechtlang Nutznießerin der das Massenelend hervorrufenden Inflation zu sein"940. Der anfängliche Dialog zwi- schen ADGB, SPD auf der einen und den Vertretern der Industrie auf der anderen Seite wich zunehmender Feindseligkeit. Die ZAG, in der nach dem Willen von Stinnes und Silverberg den Gewerk- schaften nur noch ein untergeordneter Rang als Ordnung stiftende Kraft zukom- men sollte, konnte nur noch mühsam aufrechterhalten werden, denn den Ge- werkschaften konnte nicht daran gelegen sein, deren unpopuläre Programme und Maßnahmen gegenüber der eigenen Klientel zu verteidigen. Ebensowenig konnte die SPD es hinnehmen, in der von Reichskanzler Wirth anvisierten Großen Koali- tion die Rolle des Juniorpartners zu übernehmen, der den außenpolitischen Kurs absichert und in der Wirtschafts- und Finanzpolitik sich den Wirtschaftsführern beugt. Genau diese Rolle hatte aber die Schwerindustrie und Stinnes wie auch die bürgerlichen Parteien der SPD zugedacht. Schon bevor er einen offenen Konfron- tationskurs gegen die Große Koalition fuhr und eine Politik der Annäherung an die DNVP betrieb, hatte Deutschlands mächtigster Industrieller gegenüber Reichskanzler Wirth klargestellt, daß der Sozialdemokrat Robert Schmidt als Wirtschaftsminister in einer zukünftigen Regierung untragbar sei941. Für das Scheitern der Großen Koalition am 14. November 1922 trug weit weniger die Rücksichtnahme der SPD auf die gerade erst in die Mutterpartei zurückgekehrte USPD die Verantwortung942 als der immer schärfer werdende Konfrontations-

»« ACDP, 1-200-007/2, Niederschrift über die Sitzung des Zentralvorstandes der ZAG am 10.11. 1922. 940 Hugo Stinnes sagt Kampf an, Vorwärts vom 10. 11. 1922. «ι Vgl. ACDP, 1-220-039/2, Besprechung mit Herrn Hugo Stinnes am 30. August 1922. M2 Das ist jedoch die Auffassung von Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 500, der glaubt, die SPD-Führung habe die Vereinigung der beiden sozialistischen Parteien nicht aufs Spiel setzen wollen. V. Unvergleichbare Zeiten 567 kurs der Schwerindustrie, dem sich die DVP nicht mehr zu entziehen vermochte. Zu den entscheidenden Unterredungen mit der SPD am 14. November hatte die DVP mit dem von Stinnes als Wirtschaftsminister gehandelten Vorstandsmitglied der Rheinischen Stahlwerke Duisburg, Johannes Becker, und dem Exponenten des rechten Flügels der Fraktion, Albert Zapf, zwei Männer ins Rennen geschickt, die ohne Wenn und Aber die Stinnessche Position vertraten943. Das Sprachrohr der Schwerindustrie, die Rheinisch-Westfälische Zeitung, die mit dem Argument, „daß Deutschland als einziger großer Staat einen starken sozialistischen Einfluß aufweis[e]", Front gegen eine Große Koalition gemacht hatte944, schrieb noch am Abend des 14. November unter der Überschrift „Die totgeborene Koalition" über die Koalitionsverhandlungen mit der SPD: „Diese zum Teil in der großen Stinnes-Rede zusammengefaßten programmatischen Forderungen sind auf so ra- dikalen Widerstand gestoßen, daß sich die Unmöglichkeit einer Zusammenarbeit mit den Gegnern dieser Vorschläge klar ergab." Nachdem der Vorwärts die Stin- nes-Rede als Kampfansage gewertet hatte945, konnte die SPD in keine Regierung eintreten, in der der „Stinnes-Politik erhöhter Einfluß gewährt" wurde, zumal die Lebensmittelkrawalle in zahlreichen Städten und der bereits erwähnte, in Düssel- dorf ausgebrochene Streik der Metallarbeiter eine Verschärfung der sozialen Aus- einandersetzung signalisierten946. In der Ende Oktober gebildeten Kommission für Wirtschafts- und Finanzfragen hatte der Sprecher der SPD, Rudolf Hilferding, gegenüber dem kooperationswilligen , Mitglied der DVP und Geschäftsführer des Zentralverbandes der Deutschen Elektrotechnischen Indu- strie, in der umstrittenen Arbeitszeitfrage ganz in Übereinstimmung mit den Freien Gewerkschaften „begrenzte Ausnahmen" vom Achtstundentag „auf tarif- lichem oder behördlichem Weg" konzediert947. Dadurch konnte die am 14. No- vember in Paris überreichte Reparationsnote, der die Beschlüsse der Kommission zugrunde lagen, einstimmig vom Kabinett verabschiedet werden. Die verhärtete Haltung der DVP schloß jedoch das zunächst nicht aussichtslose Einvernehmen in der Koalitionsfrage aus. Der kaum mehr überbrückbare Bruch des ohnehin immer schon brüchigen Kompromisses zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ließ angesichts der starken Verquickung von Interessenverbänden und politischen Parteien in Deutschland auch eine Konsenssuche auf politischer Ebene zu einem äußerst schwierigen Unterfangen werden. Obwohl das Kabinett Cuno, das in der For- schung häufig als erstes Präsidialkabinett der Weimarer Republik bezeichnet wird948, eine Flucht aus dem Parteienstaat signalisierte, konnte auch der Direktor der HAPAG, der geradezu ein Exponent des politischen Führungsanspruchs der

943 Zu der von der DVP vorgenommenen Auswechslung der Unterhändler für die Koalitionsgesprä- che vgl. Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 161 f.; Mühlhausen, Friedrich Ebert, S. 564 f. 944 Vgl. Koalition ohne Sozialdemokratie? Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 26.10. 1922. 945 Vgl. Hugo Stinnes sagt Kampf an, Vorwärts vom 10. 11. 1922. 946 Vgl. Regierungsbildung und Stinnesprogramm, Vorwärts vom 11.11.1922; Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 155; Mühlhausen, Friedrich Ebert, S. 565. 947 Vgl. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 499; Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 160. 948 So z.B. von Hoppe, Von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialstaat, S. 98. 568 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Industriellen zu sein schien und zunächst auch deren Vertrauen genoß - wenn- gleich kein führender Industrieller sich ihm als Minister zur Verfügung stellte -, nicht ohne die Parteien regieren und war selbst auf die Loyalität der SPD angewie- sen. Denn zumindest in der Außenpolitik war die DNVP kein verläßlicher Part- ner, so daß Cuno seine Außenpolitik nur mit Hilfe der SPD absichern konnte. Die SPD wiederum hatte Cuno wissen lassen, daß er ihrer Zustimmung nur sicher sein konnte, solange er nicht am Achtstundentag rüttelte949. Cuno, der ungeachtet der conditio sine qua non der SPD den Plänen Silverbergs und Stinnes' kritisch gegen- überstand950, hatte ein schweres Amt angetreten. Als am 11. Januar 1923 französi- sche und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten, bekam er gewissermaßen eine Schonfrist, denn wie schon während des Kriegs fühlten sich zunächst die maßgeblichen Parteien und Interessengruppen auf die Einhaltung des Burgfrie- dens verpflichtet.

2. Ruhreinmarsch, gescheiterte gewerkschaftliche Lohnpolitik und soziale Revolten Der ADGB reihte sich nach dem Ruhreinmarsch in die nationale Front ein. Ein internationaler Proteststreik gegen die Ruhrbesetzung und für eine Schlichtung des Streitfalles durch den Völkerbundsrat, wie ihn der IGB und vor allem Jouhaux vorgeschlagen hatten, schien der ADGB-Führung angesichts der in England durch die Arbeitslosigkeit, in Frankreich durch die Spaltung und in Italien durch den Faschismus geschwächten oder zerriebenen Gewerkschaftsbewegung unrea- listisch, zumal er auch nicht bereit war, die ihm zugedachte Vorreiterrolle zu über- nehmen und mit dem Streik zu beginnen951. Daß die Stimmung für einen General- streik in der Bevölkerung ungünstig war, konnte selbst die KPD nicht leugnen, wenngleich sie zum Generalstreik gegen die Cuno-Regierung aufrief, um wieder einmal SPD und ADGB zu desavouieren, nachdem sie zuvor noch Monmousseau versichert hatte, daß selbst die Arbeiter im Rheinland und Westfalen nicht für ei- nen Generalstreik gegen den Ruhreinmarsch zu gewinnen seien952. Die von der linken Opposition propagierte Besetzung und Kontrolle der Betriebe durch die Arbeiter im Ruhrgebiet wurde indes selbst von der KPD-Führung als unsinnig abgelehnt, da sie zum „Verbluten einer isolierten Vorhut" führen müsse953. Die Freien Gewerkschaften erklärten den Ruhrkampf zu einer Entscheidungs- schlacht um den deutschen Sozialstaat gegen den „französischen Imperialis- mus"954. Es fiel nicht schwer, den deutschen Arbeitern die industriellen Beziehun-

Vgl. ACDP, 1-220-045/1, Vertraulicher Bericht Hans Humanns vom 24.11. 1922. 950 Vgl. hierzu Feldman, Great Disorder, S. 479. 951 Vgl. Der IGB und die Lage in Deutschland, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 8 vom 24. 2.1923, S. 83-85; Rundschreiben des IGB an die angeschlossenen Landeszentralen zur Besetzung des Ruhrgebietes vom 18. 1. 1923 und Sitzung des Bundesausschusses am 24.1. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 742-763. 9« Vgl. RGASPI, F 495, op. 293, d. 33, KPD, Meyer, an EKKI, 11.1. 1923. Vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/94, Vorschlag der Bezirksleitung Berlin-Brandenburg zur Ruhr- besetzung; zur Kritik vgl. ebenda, RY 5 1/6/3/119, Materialien zum Parteikonflikt in der KPD (Ausführungen Hoernles). 954 Vgl. An der Ruhr wird der Kampf um den Achtstundentag entschieden, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 4 vom 27. 1. 1923, S. 43 f.; zur Haltung der Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf, die V. Unvergleichbare Zeiten 569 gen in Frankreich als Schreckbild vor Augen zu führen. So belehrten beispiels- weise die Bergarbeiterführer des Alten Verbandes und des Gewerkvereins christ- licher Bergarbeiter Deutschlands, Friedrich Husemann und Heinrich Imbusch, die Kumpel im Ruhrgebiet, daß die Bergarbeiter in Frankreich machtlos wie in keinem anderen Lande seien und dort die Gewerkschaften von den Arbeitgebern nicht als gleichwertige Partner betrachtet würden955 - eine Einschätzung, die zwar nicht für den Bergbau, aber für viele andere Industriesektoren durchaus zutraf. Trotz kommunistischer Gegenpropaganda war zunächst das Einvernehmen in den Betrieben zwischen Arbeitern und Arbeitgebern groß. Nach der Verhaftung einiger Ruhrindustrieller - unter ihnen Fritz Thyssen - organisierten die Arbeiter Protestkundgebungen und drohten mit Streik956. Innerhalb der ADGB-Führung hoffte man, der schon fast toten ZAG wieder Leben einhauchen zu können. So regte beispielsweise Leipart einen gemeinsamen Aufruf zur Selbstbeschränkung der Unternehmer bei der Steigerung der Preise und der Arbeitnehmer bei Lohn- forderungen an957. Die Arbeitsgemeinschaftspolitik ließ sich indes nicht wiederbeleben, und der ADGB kam durch seine Unterstützung des „passiven Widerstandes" in eine Ab- hängigkeit von der Regierung, die ihn zwang, eine Politik mitzutragen, die für die Arbeiterschaft verheerende Folgen hatte und die eigene Organisation in den Ruin treiben sollte. Der Versuch der ADGB-Führung im März/April 1923, durch ein gemeinsames Vorgehen aller Spitzengewerkschaften den „passiven Widerstand" zu beenden und den Weg zu einer Großen Koalition zu ebnen, blieb - auch weil die SPD am „passiven Widerstand" festhielt - ebenso erfolglos wie deren Drän- gen, die Reichsregierung möge ein Reparationsangebot vorlegen958. Als die Regie- rung schließlich am 2. Mai ein in den Augen des ADGB völlig unzureichendes Angebot unterbreitete, war die RDI-Führung nur dann bereit, die von den Alli- ierten gewünschten Garantieleistungen zu erbringen, wenn der Staat sich grund- sätzlich von der „privaten Gütererzeugung und -Verteilung fernhielt, die Kriegs- und Zwangswirtschaft sowie alle Demobilmachungsvorschriften aufgehoben, tarifvertragliche Ausnahmen vom Achtstundentag zugelassen und die Wirtschaft von „unproduktiven Löhnen" entlastet hätte959. Die Freien Gewerkschaften wie auch die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine erkannten in den vom RDI ge- stellten Bedingungen einen erneuten Versuch, die Vorkriegsverhältnisse wieder- herzustellen. In einem Brief an Cuno, der sich von diesem Unternehmerdiktat nicht distanzierte und es auch kaum konnte, wenn er nicht die Alliierten vor den Kopf stoßen wollte, protestierten sie auf das entschiedenste gegen die Kampf-

hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden kann, ist noch immer die Schrift Lothar Erdmanns, Die Gewerkschaften im Ruhrkampf, sehr instruktiv; vgl. auch Ruck, Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf. 955 Vgl. Die Antwort der Ruhrbergleute an den französischen General, Kölnische Zeitung vom 18.1. 1923; vgl. auch Fischer, The Ruhr Crisis, S. 64 und 74; Xammar, Das Schlangenei, S. 88. 956 Vgl. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 105; Eglau, Fritz Thyssen, S. 15-17; Brandler meldete dem EKKI, daß „Streiks zur Unterstützung der verhafteten Grubendirektoren" durch die KPD gebrochen worden seien. Vgl. RGASPI, F 495, op. 293. d. 33, Brandler an EKKI, 9.2. 1923. Belege hierfür konnten allerdings nicht gefunden werden. 957 Vgl. Ruck, Die Freien Gewerkschaften im Ruhrkampf, S. 137f. «s Ausführlich dazu ebenda, S. 299-322. ™ Vgl. RDI an Reichskanzler, 25. 5. 1923, in: AdR, Das Kabinett Cuno, S. 508-513. 570 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen ansage der Arbeitgeber: „Die Forderung der grundsätzlichen Fernhaltung des Staates von der privaten Gütererzeugung und -Verteilung würde Zustände wie- derbringen, wie sie vor 80 Jahren in der Wirtschaft herrschten. Das heißt, es würde lediglich Profitstreben der Antriebsmotor der Wirtschaft sein und gemeinwirt- schaftliches Denken vollständig ertötet werden."960 Der von den Freien Gewerkschaften nur noch aus Furcht vor einer neuen „Dolchstoßlegende" mitgetragene „passive Widerstand" führte dazu, daß die Geldentwertung astronomische Ausmaße annahm. Die von Reichsbankpräsident Havenstein eingeleitete Markstützungsaktion mußte Mitte April nicht zuletzt deshalb aufgegeben werden, weil die Unternehmer die Dollaranleihe zwar - mit Ausnahme von Stinnes - nicht völlig torpediert, aber doch in einem viel geringen Maß, als von Havenstein erwartet, gezeichnet hatten, obwohl der Wirtschaft kon- zediert worden war, die gezeichneten Anteile zu 90 Prozent auf Kredit zu kaufen. Die Reichsbank hatte einen Großteil ihrer Goldreserven verbraucht, und die Schwerindustrie hatte noch vor Abbruch der Aktion wieder Devisen gekauft961. Daß der Kurs der Mark jetzt ins Bodenlose fiel, lag nicht zuletzt an dem Lohn- sicherungsabkommen, das den Unternehmern in den besetzten Gebieten die Lohnfortzahlung aus Reichsmitteln auch für unproduktive Arbeiten ermöglichte. Es riß riesige Löcher in den Reichshaushalt und trieb so die Inflation ins Uner- meßliche. Lag der Außenwert der deutschen Währung im Verhältnis zum Dollar im Januar 1923 noch bei 17972 Mark, so betrug er im August über vier Millio- nen962. Beliefen sich die Kosten für den wöchentlichen Ernährungsbedarf einer Berliner Familie mit zwei Kindern im Januar 1923 noch auf 11242 Mark, so schnellten sie bis August auf 4794939 Mark hoch963. Ein Pfund Brot kostete im August 1923 74000, ein Pfund Fleisch 1,6 Millionen, ein Glas Bier 300000 Mark.964 Die großen Unternehmen mußten Billionen von Mark ankarren, um die Wochenlöhne auszahlen zu können. Viele von ihnen schafften sich eigene Noten- pressen an965. Angesichts dieser wahnwitzigen Preisentwicklung war jede Lohn- politik der Gewerkschaften von vornherein zum Scheitern verurteilt. Zunächst sah es so aus, als ob Arbeitgeberverbände und Reichsregierung eine gemeinsame Front gegen die Gewerkschaften aufbauten. Nachdem die VDA be- reits am 24. Februar 1923 ihre Mitglieder angewiesen hatte, für die Lohnrunde im März keinerlei Lohnerhöhungen zu gewähren, legte die Reichsregierung, die ihre Markstützungsaktion nicht gefährden wollte, am 6. März in einer Verlautbarung den Tarifkontrahenten nahe, die „Preiswelle nicht durch Lohnerhöhungen von neuem in Bewegung" zu setzen, und rechtfertigte dies mit der Binsenwahrheit, „daß höhere Papierlöhne nicht ohne weiteres eine Verbesserung der Lebenshal-

960 ADGB, AfA, ADB und Gewerkschaftsring deutscher Arbeiter-, Angestellten- und Beamten-Ver- bände an Reichskanzler Cuno, 1. 6. 1923, in: ebenda, S. 537-539. 961 Vgl, Feldman, Great Disorder, S. 652-654; vgl. auch Die weitere Kritik des Markstützungs-Ver- suchs, Die Westindustrie. Beilage zur Rheinisch-Westfälischen Zeitung vom 6. 6. 1923. 962 Vgl. Feldman, Great Disorder, S. 5. 963 Vgl. Statistisches Taschenbuch der Stadt Berlin 1924, S. 31. 964 Vg], Feldkamp (Hrsg.), Als Arbeiter Millionäre waren, S. 32. 965 So betrug beispielsweise der Bargeldbedarf der Hauptkasse der Gutehoffnungshütte pro Woche im August 1923 3,5 Billionen Mark. Vgl. Dickau, Die Gutehoffnungshütte, S. 92; zu der Anschaf- fung eigener Notenpressen vgl. Lesczenski, August Thyssen, S. 330. V. Unvergleichbare Zeiten 571 tung zur Folge haben"966. Die Spitzengewerkschaften protestierten zwar gegen die Lohnpolitik der Regierung, im Bundesvorstand des ADGB konstatierte man jedoch resigniert, daß die Gewerkschaften weder gegen die Regierung noch gegen die Arbeitgeber ein „Gegengewicht in die Schale" werfen konnten967. Die VDA, die die Ablehnung von Lohnerhöhungen auch für den April zur „vaterländischen Pflicht" erhoben hatte968, nutzte in den Monaten März/April die Unterstützung der Regierung, die ganz offensichtlich die Schlichtungsbehörden aufgefordert hatte, Lohnerhöhungen zu vermeiden, um den Gewerkschaften anhaltenden Wi- derstand zu bieten969. Einige Arbeitgeberverbände wie z.B. der Leipziger Metall- arbeitgeberverband und der Bauarbeitgeberverband in Chemnitz witterten ange- sichts der Lähmung der Gewerkschaften die Chance, um von den Gewerkschaf- ten erstrittene Sondertarife wieder zu revidieren, wobei sie auch mit der Aussper- rungswaffe drohten bzw. von ihr Gebrauch machten970. Nach dem schnellen Scheitern der Markstützungsaktion wurde der Ruf nach wertbeständigen Löhnen zu einem Politikum. Am 5. Juni brachte die SPD-Frak- tion - einem Vorschlag der Af A folgend - eine Interpellation im Reichstag ein, die die Einführung einer gleitenden Lohnskala verlangte. Anders als in Frankreich stand jedoch der deutsche Reichsarbeitsminister einer „automatischen Lohnrege- lung" immer noch skeptisch gegenüber und glaubte, daß erst nach einer Umge- staltung des Reichsindexes dieser eine Grundlage für die Lohnverhandlungen geben könnte971. Der Tarifausschuß der VDA beharrte weiterhin darauf, „daß jeder automatisch sich regelnde Indexlohn die Teuerung weiter vorwärts treibt und den Währungszerfall beschleunigt"972. Und selbst innerhalb der ADGB-Füh- rung wurden Anfang Juli noch Stimmen laut, die der gleitenden Lohnskala sehr reserviert gegenüberstanden, weil sie die „Kampfkraft der Gewerkschaften aus-

Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 1152, Rundschreiben der VDA vom 24. 2. 1923; Erklärung der Reichsregie- rung über den Preisabbau vom 6. 3. 1923, in: AdR, Das Kabinett Cuno, S. 295 f.; Sitzung des Bun- desausschusses am 17./18. 4.1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewe- gung, Bd. 2, S. 828. 967 Vgl. die Ausführungen Tarnows in der Bundesausschußsitzung am 17./18. 4. 1923, in: ebenda, Bd. 2, S. 832. Vgl. SAA, 4 Lf 718, Rundschreiben Nr. 77 der VDA vom 7. 4. 1923. 969 Vgl. Bundesausschußsitzung am 17./18.4. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Ge- werkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 835; zur Lohnpolitik der Unternehmer, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 15 vom 14. 4. 1923, S. 169-171. 970 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 144, Rundschreiben des Verbandes der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig vom 10. 4. 1923; Lohnabbau oder Aussperrung in der Leipziger Metallindustrie, Leipziger Volkszeitung vom 29. 3. 1923; Aussperrung in der Metallindustrie, Leipziger Volkszei- tung vom 5. 4. 1923; Zum Kampf in der Metallindustrie, Leipziger Volkszeitung vom 12. 4. 1923; SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11080, Berichte des Polizeipräsidiums Chemnitz von der Bauarbeiterbewegung in Chemnitz vom 14. 4. 1923, 24. 4. 1923, 8. 5. 1923, 9. 5. 1923, 15. 5. 1923 und 31. 5. 1923. 971 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 378, Drs. 5888; Verhandlungen des Reichstages, Steno- graphische Berichte, Bd. 360, S. 12217. 972 Die Entschließung des Tarifausschusses vom 26. Juni 1923 ist abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 120 f.; vgl. auch Hermann Meißinger, Der wertbeständige Lohn, in: Der Arbeit- geber vom 15. 7.1923, S. 209-212. Als Beleg für seine Behauptung, daß die Inflation eine Folge des Indexlohnes sei, diente Meißinger Österreich. Im gleichen Tenor ist der Artikel Ernst von Borsigs, Arbeitgeberschaft und Lohnforderungen in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 3. 6. 1923 verfaßt. 572 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen schalte"973. Die Mehrheit der ADGB-Führung sprang indes angesichts der fort- schreitenden Verelendung der Arbeiterschaft über ihren Schatten und plädierte in einer am 5. Juli im Bundesausschuß verabschiedeten Resolution dafür, die Tarif- verträge mit einer Klausel zu versehen, „die den vereinbarten Löhnen innerhalb jeder tariflichen Lohnperiode die Erhaltung ihrer Kaufkraft sichert". Als Berech- nungsgrundlage für die automatische Lohnanpassung sollte eine wöchentlich fest- zustellende amtliche Meßziffer eingeführt werden, „die die wirkliche Steigerung der Lebenshaltungskosten voll zum Ausdruck bringt"974. Anlaß für die Resolution waren die gescheiterten Lohnverhandlungen in der Berliner Metallindustrie, in der einen Tag später in 50 Betrieben ein tags zuvor mit großer Stimmenmehrheit beschlossener Streik ausbrach, in dem die Berliner Me- tallarbeiter ausdrücklich für die Durchsetzung wertbeständiger Löhne fochten. Rund 100 000 Berliner Metallarbeiter befanden sich im Ausstand975. Vier Tage spä- ter kam durch die Vermittlung des Reichsarbeitsministers bereits eine Einigung zustande, die vom ADGB als „Sieg" in der Auseinandersetzung um die „Aner- kennung des Prinzip[s] der Kaufwerterhaltung der vereinbarten Löhne" gefeiert wurde, mit dem die „erste Bresche in die Abwehr des goldgerüsteten Kapitals" ge- schlagen worden sei976. Die Mehrzahl der Berliner Metallarbeiter hatte indes für eine Weiterführung des Arbeitskampfes gestimmt. Tatsächlich hatten viel eher die Arbeitgeber Anlaß zum Triumphieren, denn sie hatten in zunächst geheim gehal- tenen Richtlinien durchgesetzt, daß die Wertbeständigkeit nur für den Monat Juli galt, der durch eine paritätisch zusammengesetzte Preisfeststellungskommission ermittelte Index nur als Grundlage für die Lohnverhandlungen diente, jedoch keine automatische Lohnanpassung zur Folge hatte, und daß der Index nicht ver- öffentlicht wurde, um eine Preisfestsetzung nach dem Index auszuschließen977. Die VDA wies dann auch in einem Rundschreiben ihre Mitglieder darauf hin, daß die „neuen Vorschläge im Kern keine grundsätzliche Änderung unserer bisherigen Lohnpolitik und Lohnfestsetzung" bedeuteten978. Daß von Gewerkschaftsseite einer solchen Regelung zugestimmt wurde, beweist, daß man innerhalb des ADGB noch immer nicht von den Vorzügen einer gleitenden Lohnskala über- zeugt war und sie nur unter den Bedingungen eines lohnpolitischen Ausnahmezu- standes akzeptierte. Den Arbeitgebern wie auch dem ADGB ging es darum, kein Präjudiz für die Zukunft zu schaffen. In der Praxis ließ sich angesichts der rasenden Preisentwick- lung, die wöchentliche und schließlich ab Oktober sogar tägliche Lohnfestsetzun- gen notwendig machte, eine Anpassung der Lohnhöhe an die Teuerungsraten gar nicht mehr umgehen. Nachdem die SPD-Fraktion am 5. Juli im Reichstag einen Antrag auf sofortige Einführung einer gleitenden Lohnskala für die Gehälter der

973 So Umbreit in der Bundesausschußsitzung am 4./5. 7. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deut- schen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 874. 974 Die Resolution ist abgedr. in: ebenda, S. 885. 975 Zu dem Streik vgl. Metallarbeiterstreik in Berlin, Metallarbeiter-Zeitung vom 21. 7. 1923; DMV, Jahr- und Handbuch 1923, Bezirk Berlin, S. 7-10. 976 Der wertbeständige Lohn, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 29 vom 21. 7. 1923, S. 329 f. 977 Die Richtlinien sind abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 123. 978 Das Rundschreiben der VDA ist unter dem Titel „Der ADGB sanktioniert den Lohnbetrug" ab- gedr. in: Die Rote Fahne vom 4. 8. 1923. V. Unvergleichbare Zeiten 573

öffentlich Bediensteten, für Renten und Unterstützungsleistungen gestellt hatte979, waren die Reichsregierung und Arbeitsminister Brauns in Zugzwang ge- raten. Für Beamte und Staatsangestellte galten ab 19. Juli Indexlöhne und noch am gleichen Tag erließ Brauns „Richtlinien über die Möglichkeit der Erhaltung der Kaufkraft der Arbeitnehmereinkommen", nach denen die Tarifparteien nur noch in monatlichen Abständen verhandeln sollten, während in der Zwischenzeit die vereinbarten Tariflöhne nach einem wöchentlich zu erhebenden Index steigen sollten. Gehälter waren halbmonatlich, Wochenlöhne schon vor dem Zahltag aus- zuhändigen980. Entsprechende Instruktionen wurden auch den Schlichtungsbe- hörden erteilt. Wenngleich die Arbeitgeber in einem Abkommen für den Bergbau vom 8. Au- gust der Einführung von Indexlöhnen zustimmten981, dauerte es noch bis zum 1. September 1923, bis in der ZAG eine Einigung über eine automatische Lohn- anpassung erzielt werden konnte. Einem Vorschlag des Generaldirektors der Sie- mens-Schuckert-Werke Röttgen folgend, wurde vereinbart, daß für einen Zeit- raum von vier bis acht Wochen die Tarifparteien einen Grundlohn „unter Berück- sichtigung der wirtschaftlichen Notwendigkeiten" festlegen. Um der Steigerung der Lebenshaltungskosten Rechnung zu tragen, sollte ein „Multiplikator" - eine „aus der Erfassung der Lebenshaltungskosten gefundene Meßzahl" - eingeführt werden, der für die Erhöhungen der jeweiligen Wochenlöhne maßgeblich war. Streitpunkt zwischen den Tarifkontrahenten blieb, ob der Grundlohn die Höhe des Friedensreallohnes erreichen könne, was von Röttgen von vornherein ausge- schlossen wurde982. Im Arbeitgeberlager stieß die Vereinbarung auf Ablehnung. Die VDA teilte am 15. September der ZAG mit, daß sie keine Möglichkeit sehe, die Richtlinien in die Praxis umzusetzen: „Die Entwicklung der letzten Tage hat unsere Befürchtung bestätigt, daß wir auch hier trotz besten beiderseitigen Wil- lens eine Sisyphusarbeit geleistet haben. Wir können beim besten Willen keinen Weg sehen, wie es bei weiterer Zersetzung der Währung und fortschreitender Pro- duktionskrisis möglich sein soll, den Reallohn auch nur einigermaßen auf der jet- zigen Höhe zu halten."983 Die Empörung der Gewerkschaften über die VDA war groß. Tatsächlich konnte die gleitende Lohnskala, als sie nach zähem Widerstand beider Tarifpartner auch in Deutschland endlich eingeführt worden war, weder zu einer Stabilisierung der Lohnverhandlungen beitragen noch wie in Frankreich die Reallöhne der Arbeiter auch nur einigermaßen sichern. Das Mißverhältnis zwi- schen der Steigerung der Lebenshaltungskosten und der Löhne blieb, da selbst

979 Vgl. Verhandlungen des Reichstages, Bd. 378, Drs. 6068; der sozialdemokratische Antrag ist auch abgedr. in: Vorwärts vom 6. 7. 1923; vgl. auch Kabinettssitzung vom 6. 7. 1923, in: AdR, Das Ka- binett Cuno, S. 625 f. Die Richtlinien sind abgedr. in: RABl. 1923, Bd. 1, Nr. 15, S. 492^194; vgl. auch Bahr, Staatliche Schlichtung, S. 66; zu der Einführung von Indexlöhnen im Staatsdienst vgl. Kunz, Civil Servants, S. 363. 9»i Das Abkommen ist abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 125f. 982 Vgl. Β AB, R 8104, Nr. 74/1, Aktennotiz über die Sitzung der paritätischen Lohnkommission am 1. 9. 1923; ebenda, Carl Köttgen, Vorschlag zur Anpassung der Löhne und Gehälter an die Teue- rung vom 21. 8.1923; die Richtlinien sind auch abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 131 f.; vgl. ferner Feldman, Great Disorder, S. 738 f. 9«> BAB, R 8104, Nr. 74/1, VDA an ZAG, 15. 9. 1923; vgl. auch Aktennotiz über die Sitzung der paritätischen Lohnkommission am 10. 9. 1923, ebenda. 574 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen zwei- oder dreimalige Abschlagszahlungen in der Woche die täglich steigenden Warenpreise nicht ausgleichen konnten. Franz Kafka, der im Herbst 1923 nach Berlin übersiedelte, berichtete, daß die Berliner auf die Frage „Wie gehts?" ant- worteten: „Mies mal Index!"984 Die KPD sah ihre Prophezeiungen über die Gefahren einer gleitenden Lohn- skala vollauf bestätigt und schlachtete dies auch propagandistisch aus. Unter der Überschrift „Am Grabe der reformistischen Lohnpolitik" stellte der Kommuni- stische Gewerkschafter fest: „Die [...] angekündigte Wertbeständigkeit der Löhne hat sich als ein Schwindel, im besten Falle als eine Illusion erwiesen. Die Wertbe- ständigmachung bedeutet nichts weiter als eine Stabilisierung des Elends der Ar- beiterklasse."985 Während die linke Berliner Bezirksleitung der KPD nicht nur die Forderung nach Einführung einer gleitenden Lohnskala, sondern auch die nach Goldlöhnen als „Spintisierereien" abtat986, machte die KPD-Zentrale Propaganda für Friedensreallöhne und folgte damit einer Weisung Karl Radeks, der in deutli- cher Frontstellung gegen die linke Opposition und in dem ihm eigenen Zynismus die KPD-Zentrale belehrt hatte: „Ihr werdet eines Tages sterben, an dem, daß Ihr zu gebildet seid. Wenn man Goldlöhne fordert, so versteht es jeder Ochse und das ganze Abrakadabra von Euren gelehrten Juden versteht kein Vieh, geschweige denn ein Mensch, der hungrig ist."987 Innerhalb des ADGB hatte Fritz Tarnow mit seinem Verlangen nach Einfüh- rung von Goldlöhnen lange Zeit fast allein gestanden, denn allgemein hatte die Auffassung vorgeherrscht, daß Goldlöhne nur nach einer Währungsreform zu er- reichen seien. Obwohl die Regierung am 25. Oktober eine Erklärung veröffent- licht hatte, daß innerhalb kürzester Zeit wertbeständige Zahlungsmittel veraus- gabt würden, lehnte die Arbeitgeberseite zwei Tage später in einer Sitzung der pa- ritätischen Lohnkommission der ZAG die sofortige Einführung von Goldlöhnen ab, worauf Tarnow, der in der Sitzung des Bundesausschusses am 2. Oktober noch zum Kampf hatte aufrufen wollen988, nur resigniert antwortete: „Noch nie habe er eine so große Enttäuschung erlebt wie in der heutigen Sitzung. Die Haltung der Arbeitgeber könne nur darauf zurückzuführen sein, daß die gegenwärtige be- drohliche Situation völlig verkannt werde."989 Drei Tage vor der Sitzung waren im Ruhrgebiet Unruhen ausgebrochen, die fast schon den Charakter einer Volkser- hebung hatten. Siemens glaubte zwar, daß die Massen „mürbe" seien und keinen Aufstand wollten, fürchtete aber auch Revolten, wenn den Arbeitern keinerlei Aussicht auf Verbesserung ihrer Lage gegeben werde, denn es war ihm nicht ent- gangen, daß die Arbeiter nicht einmal das Geld hatten, um „das notwendige tägli- che Brot zu kaufen". Im Gegensatz zur VDA und dem Generaldirektor der Sie-

984 Franz Kafka an Valli Pollack, November 1923, in: Kafka, Briefe, S. 462 f. 985 Der Kommunistische Gewerkschafter, Beilage zur Roten Fahne vom 10. 9. 1923; vgl. auch Warum bedeuten die Indexlöhne eine ständige Herabdrückung des Reallohnes ? Die Rote Fahne vom 24.6. 1923. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/1-2/16, Resolution der Bezirksleitung Berlin vom 22. Juni, vorgelegt dem Bezirksausschuß am 4. Juli 1923. w SAPMO-BArch, RY 5 1/6/10/53, Karl Radek an die Zentrale der KPD, 12. 7. 1923. 988 Vgl. Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 940. 989 BAB, R 8104, Nr. 74/1, Aktennotiz über die Sitzung der paritätischen Lohnkommission vom 27. 10. 1923. V. Unvergleichbare Zeiten 575 mens-Schuckert-Werke Röttgen plädierte der „Chef des Hauses" Siemens, der ausdrücklich betonte, die Gewerkschaften stützen zu wollen, in der Lohnkom- mission für eine schnelle Einführung von Goldlöhnen, allerdings sollten diese ein „Köder" für eine Zustimmung zu einer Verlängerung der Arbeitszeit sein990. An dem ceterum censeo der Arbeitgeber, Goldlohn nur für „Goldleistung"991, hielt auch Siemens fest und war somit für die vor einem Trümmerhaufen stehenden Ge- werkschaften keine Stütze. Die Gewerkschaften hatten der wachsenden Verelendung der Arbeiterschaft nichts entgegensetzen können und somit, wie selbst Siemens sah, der KPD ausrei- chend Stoff für ihre antigewerkschaftliche Agitation geboten. Die Streikwaffe war stumpf geworden, die Schlichtungsbehörden arbeiteten zu langsam992, die Index- löhne konnten die Kaufkraft der Arbeiterschaft nicht sichern, über deren Lebens- situation keine Reallohnstatistik mehr Aufschluß geben konnte, die weder der herrschenden Lebensmittelnot noch den zunächst wöchentlichen und später täg- lichen Preisschwankungen und der Unruhe und Furcht, die jede Lohnfestsetzung bei der Arbeiterschaft hervorrief, Rechnung trug993. Auch die Arbeitskampfstati- stiken sind irreführend, denn danach wären im Jahr 1923 nur 2097922 Arbeitneh- mer an Arbeitskämpfen (Streiks und Aussperrungen) beteiligt gewesen, während es 1922 noch 2321597 waren994. Die unzähligen, oft nur wenige Stunden dauern- den spontanen Arbeitsniederlegungen, die häufig mit Gewaltmaßnahmen oder Erpressungen gegen Arbeitgeber einhergingen, fanden keinen Eingang in die Sta- tistik, waren aber geradezu typisch für das Jahr 1923, in dem die Unruhen ein Ausmaß wie 1918/19 erreichten, allerdings nicht mehr mit der Hoffnung auf den Einsturz bestehender Hierarchien verbunden waren, sondern Verzweiflungsakten glichen. Die KPD versuchte die Revolten für ihre politischen Zwecke zu instrumentali- sieren, war aber relativ selten deren Auslöser, obwohl die Wut und Verzweiflung der Massen der KPD einen beträchtlichen Zulauf bescherten. Die Zahl der KPD- Mitglieder stieg von 194272 im Januar 1923 auf 294230 im September 1923995. Am erfolgreichsten war die KPD im Bezirk Erzgebirge-Vogtland, wo die Mitglieder- zahl von 19432 im Jahr 1922 auf 30594 im dritten Quartal 1923 anwuchs996. Es handelte sich hier bezeichnenderweise um eine Region, in der vor dem Krieg we- der die SPD noch die Gewerkschaften hatten Fuß fassen können und wo selbst in Normalzeiten die Armut der Bevölkerung groß war. In Berlin hingegen konnte die KPD nur 5000 neue Mitglieder gewinnen, obwohl dort 40000 Sozialdemokra-

990 Vgl. SAA, 11 Lf 397, Carl Friedrich von Siemens an Ernst von Borsig, 27.10.1923; Teilabdruck des Briefes in: Feldman/Steinisch, Industrie und Gewerkschaften, S. 189 f. 9,1 Diese Bedingung hatte bereits im Mai 1923 der Leiter der lohnpolitischen Abteilung der VDA, Hermann Meißinger, gestellt. Vgl. Hermann Meißinger, Gesunde Lohnpolitik, in: Der Arbeit- geber vom 1.5. 1923, S. 129-132, hier S. 131. 992 Der preußische Handelsminister hatte bereits im Mai eine Beschleunigung des Schlichtungsverfah- rens angemahnt. Vgl. GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 87, Rundschreiben des Ministers für Han- del und Gewerbe vom 16. 5. 1923. 993 Vgl. hierzu Tenfelde, La riscoperta della „autodifesa collettiva", S. 380 und 383. 994 Vgl. Streiks und Aussperrungen im Jahre 1923, RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1924, Nr. 15, S. 365*. 995 Vgl. Sozialgeschichte der KPD 1918-33. Statistiken. 996 Vgl. Georg Schumann, Die KPD als kommmunistische Massenpartei, in: Inprekorr 1924, Nr. 68, S. 841. 576 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen ten die Partei verlassen hatten, was ein allgemeines Mißtrauen gegen Parteien und Organisationen signalisierte997. Innerhalb des ADGB war insbesondere der DMV den kommunistischen Eroberungsversuchen ausgesetzt. Bei den Verbandswahlen zum Verbandstag des DMV im Juli 1923 konnten die Kommunisten die Mehrheit der Stimmen und ein Drittel der Mandate gewinnen. Die KPD konnte bei den Wahlen im Ruhrgebiet, im Bergischen Land, in Thüringen und Südsachsen und nicht zuletzt in Berlin, wo die KPD-Kandidaten 54113 Stimmen, die der SPD jedoch nur 22263 für sich verbuchen konnten, Erfolge erringen. Nur noch rund zehn Prozent der Berliner Metallarbeiter standen hinter dem reformorientierten Gewerkschaftsflügel. Die Wahlbeteiligung lag allerdings nur bei 50 Prozent. Am Ende des Jahres hatte der DMV in Berlin aufgrund innerverbandlicher Richtungs- kämpfe und wachsender Apathie 45,8 Prozent seiner Mitglieder verloren998. Selbst im Deutschen Textilarbeiterverband, wo der Einfluß der Kommunisten bisher gering war, entfielen bei den im August stattfindenden Delegiertenwahlen 35,8 Prozent der Mandate auf die „Moskauer Richtung". Bei den Wahlen in Sach- sen lagen SPD und KPD fast gleichauf, allerdings hatte sich nur ein Drittel der Mitglieder des Textilarbeiterverbandes an den Wahlen beteiligt999. Daß ausgerech- net in der Textilindustrie die Kommunisten relativ großen Zuspruch erhielten, dürfte u. a. auch daran gelegen haben, daß die Frauen, die im Textilarbeiterverband die Mehrheit stellten, wenn sie eine Familie zu versorgen hatten, von den Kauf- kraftverlusten und der Lebensmittelnot am meisten betroffen waren. Obwohl der vom FAV abgespaltene kommunistische Industrieverband Chemie nicht mehr als 3000 Mitglieder gewinnen konnte, vermochte er bei den Betriebsrätewahlen glän- zende Siege einzufahren1000. Auch die AAU und die übrigen syndikalistischen Verbände im Bergbau profitierten eindeutig von der Misere. Hatten die Unioni- sten und Syndikalisten bereits 1922/23 32,9 Prozent der Betriebsräte gestellt, so überflügelten sie mit 42,7 Prozent bei den Betriebsrätewahlen im Frühjahr 1924 eindeutig den Alten Verband1001. Die KPD wie auch die Union der Hand- und Kopfarbeiter hatten die ihr zu- strömenden Massen, die nicht auf Befehle von oben warteten, sondern autonom reagierten, keineswegs im Griff. Von der ersten großen Streikbewegung im Berg- bau im Frühjahr 1923 wurden beide völlig überrascht. Anstoß zu der bald in blu- tige Unruhen ausartenden Streikbewegung gab ein Schiedsspruch, der von einem Teil der Bergarbeiter als „Verhöhnung des Bergproletariats" bezeichnet wurde1002.

Vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/120, Clara Zetkin an Ernst [Schneller?], 15.11. 1923. 9,8 Die KPD lag u.a. in Köln, Düsseldorf, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, Solingen, Remscheid, Velbert, Halle, Stuttgart und Plauen vorn. Vgl. Die Wahlen zum Verbandstag der Metallarbeiter, Der Kämpfer vom 24. 7. 1923; Eine gewerkschaftliche Niederlage, Vorwärts vom 24. 7. 1923; Heer-Kleinert, Gewerkschaftspolitik der KPD, S. 221; DMV, Jahr- und Handbuch 1923, S. 33. 999 Vgl. Die Wahlen der Metall- und Textilarbeiter in Sachsen, Der Kämpfer vom 30. 8. 1923; Heer- Kleinert, Gewerkschaftspolitik der KPD, S. 221. 1000 Vgl. Schiffmann, Von der Revolution zum Neunstundentag, S. 340; bei den Betriebsrätewahlen in den Leverkusener Farbenwerken im April 1924 erhielt der kommunistische Industrieverband 70,7 Prozent der abgegebenen Arbeiterstimmen. Vgl. Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung, S. 192. 1001 Vgl. Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt, S. 263. 1002 So in einem Beschluß der Belegschaftsversammlung der Zechen Kaiserstuhl, Scharnhorst und Minister Stein am 18. 5. 1923, vgl. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 167; Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 175. V. Unvergleichbare Zeiten 577

Der Ausbruch der Streikkämpfe erfolgte diesmal nicht in den Hochburgen des Syndikalismus, sondern auf den in Dortmund gelegenen Zechen Kaiserstuhl, Scharnhorst und Minister Stein. Am 17. Mai, einen Tag nach dem Ausbruch des Streiks, wurden unter Gewaltanwendung auch die Hüttenbetriebe Hoesch und Union stillgelegt. Die KPD-Zentrale drängte auf eine rasche Beilegung des Kon- flikts, wurde aber übergangen1003. Am 20. Mai drohte eine „wilde" Betriebsräte- konferenz den Generalstreik an, falls die Gewerkschaften es ablehnten, sich die Forderungen der Konferenz zu eigen zu machen. Sie lauteten: „1. sofortige Aus- zahlung von 150000 Mark für Ledige und 200000 Mark für Verheiratete; 2. eine 50prozentige Lohnerhöhung für die Zeit vom 1. bis 15. Mai; ab 16. Mai weitere 50 Prozent."1004 Es bildeten sich lokale Streikleitungen, deren Zusammensetzung je nach Ort verschieden war. Zum Teil dominierten „unkontrollierbare Elemente", wie selbst die KPD-Führung beklagte, die die örtlichen Funktionäre nicht immer zu disziplinieren vermochten1005. Die KPD tat sich schwer, der Streikbewegung Herr zu werden, da insbesondere im Ruhrgebiet, wo der linke Flügel noch immer Propaganda für Betriebsbesetzungen und lokale Machtergreifungen machte, die innerparteilichen Differenzen groß waren1006. Die Maikämpfe im Ruhrgebiet sind ein erschreckendes Beispiel für die mit der Verzweiflung fortschreitende Verrohung der Arbeitermassen in Deutschland wie auch für eine rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch machende Polizei. Am Ende der Kämpfe waren 40 Tote und 300 Verwundete zu beklagen1007. Die bluti- gen Unruhen begannen mit gewaltsamen Betriebsstillegungen und Straßenkämp- fen mit der Polizei in Dortmund und eskalierten in Gelsenkirchen, wo das Poli- zeipräsidium gestürmt, Akten aus dem Fenster geworfen, Lebensmittelläden ge- plündert, Händler zu Preisherabsetzungen gezwungen und einem Lebensmittel- händler die Kehle durchschnitten wurden. In Bochum verwüsteten die Streiken- den die Redaktionsräume bürgerlicher Zeitungen, um die bürgerliche Presse mundtot zu machen, nahmen einen Lebensmittelhändler als Geisel und beschos- sen die Feuerwehrpatrouillen und töteten dabei einen Stadtsekretär1008. Auf der Zeche Preußen wurde ein Bergassessor als Geisel genommen, ein Markenmeister auf der Zeche Shamrock wurde zu Tode geprügelt1009. In Dortmund wurde bei Demonstrationen das Lied „Blut muß fließen" gesungen1010, in Hamborn wurde

1003 Vgl. SAMPO-BArch, RY 1 1/2/3/203, Brandler an die deutsche Delegation in Moskau, Hoernle und Enderle, 4. 6. 1923, ferner Peterson, German Communism, S. 182. 1004 Der Aufruf der Betriebsrätekonferenz ist abgedr. in: Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 168. '»os Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 1. 6. 1923. 1006 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/203, Brandler an die deutsche Delegation in Moskau, Hoernle und Enderle, 4. 6. 1923; Kühr, Parteien und Wahlen im Stadt- und Landkreis Essen, S. 124. 1007 Vgl. Wir klagen an! Wir warnen!, Bergarbeiter-Zeitung vom 9. 6. 1923. loos Vgl. BAB, R 3901, Nr. 34054, Lageberichte bzw. Ausschnitte aus den Lageberichten des preußi- schen Staatskommissars für die Öffentliche Ordnung vom 22. 5.-2. 6. 1923; GStA, I HÀ, Rep. 84a, Nr. 51466, Anklageschrift des Oberstaatsanwaltes von Bochum vom 2. 9. 1924 gegen den Arbeiter Wilhelm K.; Die Unruhen im Ruhrgebiet, Vorwärts vom 24. 5.1923; Die rote Herrschaft in Gelsenkirchen, Vossische Zeitung vom 24. 5. 1923; Der Kommunisten-Terror im Ruhrgebiet, Vossische Zeitung vom 26. 5. 1923; Die Streikflut im Ruhrgebiet, Vossische Zeitung vom 27. 5. 1923. •oof Vgl. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 175. loio Vgl. BAB, R 3901, Nr. 34054, Lagebericht des preußischen Staatskommissars für die Öffentliche Ordnung vom 22. 5. 1923. 578 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen dazu aufgerufen, „alle Dickbäuche aufzuhängen"1011, und auf der Zeche Minister Stein wurden am 26. Mai in einer Belegschaftsversammlung die Namen der Arbei- ter verlesen, die Notstandsarbeiten verrichteten und danach gedroht: „Genossen, diese Schufte, deren Namen ihr eben gehört habt, haben keinen Sarg verdient! So Genossen, jetzt wißt ihr, was Ihr zu tun habt!"1012 Allgemein kamen Angriffe auf Vorgesetzte indes weitaus seltener als ein gegenseitiges Schädeleinschlagen unter den Arbeitern vor. Die Welt war in Deutschland 1923 so verkehrt, daß ausgerechnet die für eine revolutionäre Umwälzung kämpfende KPD, die die „Knüppeltaktik" ausdrücklich verwarf1013, die Rolle einer Ordnungsmacht übernehmen mußte. Die Rote Fahne erklärte es zur Pflicht der Kommunisten, „in die Massenbewegung hineinzuge- hen, die Arbeiter zu überreden, jedem bewaffneten Zusammenstoß in dem gege- benen Moment auszuweichen und geschlossen nur die Waffe des Streiks und der politischen Demonstration zu gebrauchen"1014. Die kommunistischen Hundert- schaften, die der preußische Innenminister Severing am 12. Mai wegen ihrer An- maßung staatlicher Hoheitsbefugnisse verboten hatte, bestanden fort und stemm- ten sich „gegen Plünderungen und sonstige Dummheiten". Sie wie auch neuge- schaffene kommunistische Polizeiexekutiven schlossen zudem Schnapsbuden und nahmen Betrunkene in „Schutzhaft"1015. An einigen Orten bildeten auch Mitglie- der aller Gewerkschaften einen Sicherheitsschutz. Die Polizei selbst war viel zu schwach, um aus eigener Kraft die Ordnung wiederherzustellen, und die Franzo- sen weigerten sich, die Schutzpolizei in das besetzte Gebiet zurückkehren zu las- sen. In einigen Fällen boten sich Rechtsradikale der Polizei als Helfer an, was die Gewaltspirale nur weiter antreiben konnte1016. Wenngleich sich die kommunisti- schen Hundertschaften im Ruhrgebiet wie auch in Sachsen auch Ubergriffe zu- schulden kommen ließen, die insbesondere sächsischen Unternehmern immer wieder Anlaß zu Klagen und Beschwerden boten, so mußte selbst der gewiß nicht kommunismusfreundliche Reichskommissar für die Öffentliche Ordnung kon- statieren, daß die Hundertschaften zur Wahrung der Ordnung beitrugen1017. Im Falle der Mai-Unruhen ließen sie nichts unversucht, um den Streik in das Fahrwasser einer Lohnbewegung zu leiten und ihn zu einem schnellen Abbruch zu bringen. Die Union der Hand- und Kopfarbeiter, die am 26. Mai die Zentral- streikleitung übernahm, nachdem die KPD-Zentrale sie „geradezu zur Führung der Kämpfe gezwungen" hatte1018, rief die Gewerkschaften dazu auf, den „Streik als berechtigten Lohnkampf anzuerkennen" und mit „allen gewerkschaftlichen io" Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/18-19/60, Peter Maslowski, Streikbericht Nr. 2 vom 27. 5. 1923. 10·2 Zit. nach Kramm (Bearb.), Minister Stein, Fürst Hardenberg, S. 14. ίου Vgl. BAB, R 134, Fiche 21, Referat Stöckers auf der erweiterten Bezirksausschußsitzung des Be- zirks Ruhrgebiet der KPD am 30. 5. 1923. ion Die Provokateure an der Macht, Die Rote Fahne vom 25. 5. 1923. 'fis Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/18-19/60, Peter Maslowski, Streikbericht Nr. 2 vom 27. 5. 1923; Die kommunistische Polizeiexekutive, Vossische Zeitung vom 26. 5. 1923. ioti Vgl. BAB, R 3901, Nr. 34054, Ausschnitte aus den Lageberichten des preußischen Staatskommis- sars für die Öffentliche Ordnung vom 22. 5., 23. 5.und 25. 5. 1923. 1017 Vgl. BAB, R 134, Fiche 21, Lagebericht vom 15. 6. 1923; vgl. auch Feldman, Labor Unrest and Strikes in Saxony, S. 320. ιοί« Vgl. SAPMO-BArch RY 1/1/2/708/88, Zentrale der KPD, Abt. Gewerkschaften an die Genossen Rubinstein, Kauter und Hammer, 9. 4. 1924. V. Unvergleichbare Zeiten 579

Mitteln" zu führen1019. Eine Ausdehnung der Streikbewegung zum Generalstreik, den die KPD von vornherein zu vermeiden versucht hatte, war ohnehin nicht zu erreichen. Mehr als ein Viertel der Bergarbeiter und ein Fünftel aller Arbeiter im Ruhrgebiet hatten sich zu keiner Zeit an dem Ausstand beteiligt, obwohl auch die Textil- und Metallarbeiter die gefällten Schiedssprüche abgelehnt hatten, so daß der Regierungspräsident in Düsseldorf schon am 12. Mai den Ausbruch eines Ar- beitskampfes in diesen Gewerben fürchtete1020. Bezirkskonferenzen der Betriebs- räte und Funktionäre der Berg- wie auch der Metallarbeiter in Essen erteilten am 25. Mai den Generalstreikbefürwortern und „Putschisten" dann auch eine eindeu- tige Absage1021. Die KPD konnte darüber hinaus auch nicht darüber hinwegsehen, daß die Kassen der Union nur noch 50 Mio. Mark enthielten, was nur noch für einige Glas Bier reichte1022. Der Alte Verband, der die zögerliche Haltung der Reichsregierung und das fehlende Entgegenkommen der Unternehmer für die Unruhen verantwortlich machte, wirkte schließlich mit Erfolg auf das Reichs- arbeitsministerium ein, das den Zechenverband dazu bewegen konnte, eine Lohn- erhöhung um 53,2 Prozent zu konzedieren1023. Die KPD rief daraufhin zum Ab- bruch des Streiks auf, was in einigen Zechen auf großen Unmut stieß1024. Sobald die KPD, die schwere Kämpfe bis zur Herstellung der Einheitsfront als ersten Auftakt zur revolutionären Erhebung zu vermeiden suchte1025, als Ordnungsfak- tor auftrat und Kämpfe in gewerkschaftliche Bahnen leitete, drohte auch sie sich von dem Teil der Arbeiter, der revoltierte, aber keine Revolution machen wollte, zu isolieren. Auch zu dem am 25. Juli im Zwickauer und Lugau-Oelsnitzer Steinkohlen- revier ausbrechenden Bergarbeiterstreik hatte die KPD-Zentrale nicht das Signal gegeben, wenngleich hier die Unionisten rühriger waren als im Ruhrgebiet. Be- reits im Juni hatten die Kumpel gegen den Willen der Gewerkschaften wegen nicht erfüllter Lohnforderungen im Zwickauer Revier passive Resistenz geübt, die nur deshalb von dem Bergbaulichen Verein nicht mit einer Aussperrung beant- wortet wurde, weil die sächsische Regierung nicht gewillt und auch nicht in der Lage war, für den notwendigen Polizeischutz zu sorgen, und die Reichsregierung den Einmarsch der nach Sachsen einstweilen noch ablehnte1026. Als am 25. Juli der Streik begann, liefen noch Verhandlungen in Berlin über die For- derungen der Bergarbeiter, die sich die Gewerkschaften zu eigen gemacht hatten. Obwohl der Forderungskatalog - Einführung der 14tägigen reinen Lohnzahlung, Vordatierung der ab 20. Juli bewilligten Lohnzulage auf den 10. Juli und Vordatie- rung der ab dem 2. August neu zu bewilligenden Lohnzulage auf den 28. Juli -

1019 Der Aufruf ist abgedr. in: Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 178 f. 1020 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/203, Brandler an die deutsche Delegation in Moskau, Hoernle und Enderle, 4. 6. 1923; GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 208, Regierungspräsident Grützner an Preußisches Ministerium des Innnern, 12. 5. 1923. 1021 Vgl, Gegen die Putschisten!, Essener Arbeiter-Zeitung vom 26. 5. 1923. io" Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/18-19/60, Peter Maslowski, Streikbericht Nr. 2 vom 27. 5. 1923. 1023 Vgl. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 176; Wir klagen an! Wir warnen! Bergarbeiter-Zei- tung vom 9. 6. 1923. io« Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 1. 6. 1923. io« Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 /I/2/3/203, Brandler an die deutsche Delegation in Moskau, Hoernle und Enderle, 4. 6. 1923. 1026 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113214, Reichsministerium des Innern, Vermerk Erbes vom 15. 6. 1923. 580 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen anerkannt wurden, blieben die Belegschaften insbesondere auf Drängen der Streikleitung im Lugau-Oelsnitzer Revier weiterhin im Ausstand. Auf einer am 3. August in Hohenstein-Ernstthal stattfindenden „wilden" Bergarbeiterkonfe- renz, die unter dem Druck radikalisierter Bergarbeiter einberufen wurde, wurde nun eine Wirtschaftsbeihilfe von fünf Millionen verlangt. Zwar lehnte der Alte Verband diesen Streik ab, aber anders als im Ruhrrevier setzten sich die Streiklei- tungen aus sozialdemokratischen und kommunistischen Betriebsräten sowie Ver- tretern der Union der Hand- und Kopfarbeiter zusammen, was von KPD-Seite als ein Erfolg der Einheitsfronttaktik ausgegeben werden konnte1027. Die Teilnahme der SPD an der Streikleitung und die von der Zeigner-Regierung angeordnete Zu- rückhaltung der Polizei dürfte mit dazu beigetragen haben, daß in Sachsen kein Blut flöß, obwohl auch die 28000 streikenden sächsischen Bergarbeiter nicht von gewalttätigen Ausschreitungen abgehalten werden konnten und zum Teil auch Gewerkschaftsfunktionäre verprügelten, falls diese nicht schon zuvor aus ihren Büros geflohen waren. Darüber hinaus wurden Felder und Läden geplündert, In- dustrielle und Gastwirte wurden Opfer von Gelderpressungen1028. Anders hätten die Bergarbeiter auch kaum einen Streik durchstehen können, der von den Ge- werkschaften nicht unterstützt wurde. Auch der Solidaritätsstreik der Bergarbei- ter im Bornaer Braunkohlengebiet, bei dem die Unionisten die treibende Kraft gewesen waren, brachte keine Hilfe gegen die akute Not. Als der Bergbauliche Verein am 10. August, einen Tag, bevor die KPD in ganz Deutschland zum Gene- ralstreik blies, die Forderungen der Arbeiter erfüllte - worauf die sächsische Re- gierung schon lange gedrungen hatte -, waren sie zur Makulatur geworden. Mit einer Wirtschaftsbeihilfe von fünf Millionen Mark konnte man gerade noch fünf Pfund Margarine kaufen1029. Der Streik im sächsischen Steinkohlenrevier war ein Paradebeispiel dafür, daß Arbeitskämpfe in Zeiten der Hyperinflation sinnlos waren. Immer mehr Arbeiter und Belegschaften gingen daher zu der von der KPD schon im Herbst 1922 emp- fohlenen Strategie der „kollektiven Selbstverteidigung" über1030. Im Erzgebirge und Vogtland herrschte bereits im Juli 1923 eine „Verwilderung der gewerkschaft- lichen Kämpfe" und eine völlige „Tarif-Anarchie"1031. Die Gewerkschaften spiel- ten dort bei den Lohnverhandlungen keine Rolle mehr. Die Arbeiter, allen voran die Bauarbeiter, schritten zur direkten Aktion. Sie stürmten Verhandlungslokale oder schlossen die Unternehmer dort ein, um ihre Lohnforderungen durchzuset- zen, was im übrigen eine Taktik war, die auch von den revolutionären Syndikali- sten in Frankreich im 19. Jahrhundert angewandt worden war. Häufig wurden Be- triebsinhaber auch gewaltsam aus ihren Betrieben oder auch aus dem Bett geholt

1027 Vgl. Der Streik im Zwickauer und Lugau-Oelsnitzer Steinkohlenrevier, Bergarbeiter-Zeitung vom 5. 9. 1923; aus kommunistischer Sicht, aber sehr quellennah Krusch, Um die Einheitsfront und eine Arbeiterregierung, S. 237-287 und 337-351. 1028 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113216, Bergbaulicher Verein Zwickau an den Reichspräsidenten, 9. 8. 1923; StAC, AH Zwickau, Nr. 1558, AH Zwickau an Ministerium des Innern Dresden, 3. 9.1923. 1029 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113214, Aktennotiz des Bergbaulichen Vereins zu Zwickau betr. die Be- gründung des Verhaltens von Arbeitgebern im letzten Streik vom 13. 8. 1923; Krusch, Um die Einheitsfront und eine Arbeiterregierung, S. 287. 1030 Vgl. hierzu den Aufsatz von Tenfelde, La riscoperta della „autodifesa collettiva". •ωι Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113217, Liebmann an Reichsminister des Innern am 29.10. 1923. V. Unvergleichbare Zeiten 581 und zu öffentlichen Verhandlungsplätzen gebracht, wo sie unter Demütigungen und Bedrohungen schließlich den Forderungen nachgaben. Auch verbitterte Ar- beitslose gingen mit Gewalt gegen ihre ehemaligen Arbeitgeber und Vorgesetzte vor. Der Haß der Arbeiter gegen die Unternehmer war inzwischen so groß ge- worden, daß diese mancherorts gezwungen wurden, sich an den Arbeiterdemon- strationen zu beteiligen, eine rote Fahne zu tragen oder Schilder, die die Aufschrift trugen: „Ich bin ein Arbeiterschinder", „Ich bin ein Lump", „Ich bin ein Blutsau- ger"1032. Derartige Aktionen erinnern an frühere Rügegebräuche1033, brachten aber vor allem zum Ausdruck, daß in den Augen der Arbeiter die Unternehmer als die einzig Schuldigen an der durch die Hyperinflation hervorgerufenen Misere angesehen wurden. Nicht selten waren es sogar Frauen, die bei der Mißhandlung von Unternehmern eine treibende Rolle spielten und von ihren Männern oft zu- rückgehalten werden mußten1034. Solche Demütigungen erzielten vor allem in Kleinstädten, wie sie für die Landschaft des Erzgebirges und Vogtlands typisch waren, eine gewisse Wirkung, weil die Unternehmer dort noch als Honoratioren anerkannt waren und um ihren guten Ruf in der Stadt fürchteten. Viele Inhaber der Klein- und Mittelindustrie waren indes keine „kapitalisti- schen Blutsauger", sondern verfügten aufgrund fehlender Kredite tatsächlich nicht über ausreichend Kapital und die notwendigen Zahlungsmittel, um den Lohnforderungen nachzukommen. Wenn ein Teil der sächsischen Unternehmer die Schließung der Betriebe androhte, so mußte dies keineswegs ein Affront gegen die Arbeiter sein, wenngleich es von diesen so interpretiert wurde. So blieb in Chemnitz 67 von 124 Metallbetrieben nichts anderes übrig, als zu schließen, weil die vorhandenen Zahlungsmittel für die Löhne nicht mehr ausreichten1035. Die sächsischen Unternehmer beklagten sich, „vogelfrei" zu sein, und machten dafür die von den Kommunisten tolerierte Zeigner-Regierung verantwortlich, die ihnen keinen ausreichenden Schutz biete1036. Daß sich proletarische Hundertschaften und Regierungskommissare in die Lohnverhandlungen einmischten und die Un- ternehmer zu einem großen Entgegenkommen drängten, um Gewaltausbrüche zu vermeiden, war für Sachsens Unternehmer der Beweis dafür, daß sie als Bürger zweiter Klasse behandelt wurden1037. Nur durch den von der Reichsregierung ein- geforderten Sturz der Zeigner-Regierung schien in ihren Augen die Wiederher- stellung der staatlichen Autorität im Freistaat Sachsen möglich. Dabei übersahen sie zum einen, daß in den sächsischen Städten, in denen es eine starke, in der Tra- dition der Vorkriegszeit wurzelnde Gewerkschaftsbewegung gab wie in Leipzig oder Dresden, mit Gewalt durchgesetzte Lohnforderungen eher die Ausnahme blieben, und zum anderen, daß auch in anderen Regionen Deutschlands wie in der

1052 Vgl. VSI, Sachsens industrielle Produktion unter sozialistisch-kommunistischem Terror; zahlrei- che Belege für die beschriebenen Aktionen sind auch enthalten in: BAB, R 1501, Nr. 113214 und 113216, und R 43 I , Nr. 2308; vgl. auch Feldman, Bayern und Sachsen in der Hyperinflation, S. 602 f.; Lapp, Industrie und Staat in Sachsen in der Hyperinflation, S. 160 f. 1033 Vgl, Schumann, Politische Gewalt in der Weimarer Republik, S. 170. Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113214, Handelskammer Plauen an Streseman, 21. 8. 1923. io" Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113216, Polizeipräsidium Dresden an RKO, 22. 8.1923. 1036 Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 2308, VSI an Reichsjustizminister Heinze, 24. 7. 1923. 1037 Vgl. VSI, Sachsens industrielle Produktion unter sozialistisch-kommunistischem Terror. Die Tätigkeit der Regierungskommissare, S. 90. Lapp, Revolution from the Right, S. 90. 582 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Provinz Sachsen oder im Ruhrgebiet die staatliche Autorität untergraben war und höhere Löhne gewaltsam erpreßt wurden. „Putsche in den Betrieben seien fast an der Tagesordnung", stellte Anfang Au- gust der Essener Bezirksleiter des DMV fest1038. Tatsächlich wurden dort, wo die linkskommunistische Propaganda noch immer auf Resonanz stieß, auch einige Betriebe besetzt, häufiger waren jedoch gewaltsame Aktionen zur Durchsetzung von Lohnforderungen. So waren bereits Ende Juli die Belegschaften der Gute- hoffnungshütte in den Hof des Verwaltungshauptgebäudes eingedrungen, trafen dort aber keine Beamte an, die auf Weisung der Direktion, die die Stimmung in der Arbeiterschaft kannte, erst gar nicht zum Dienst erschienen waren. Als sie ihre Forderungen - Wirtschaftsbeihilfe, Lohnauszahlung jeden Freitag, Auflösung der Werkspolizei, humanere Behandlung von Seiten der Beamten - schließlich einem der Betriebsdirektoren vortragen konnten, lehnte dieser strikt ab. Daß vor allem der Hunger das Motiv des Vorstoßes der Belegschaften gewesen war, demon- strierte allein schon die Tatsache, daß während der Verhandlungen heimlich aus Reuschs Garten Blumenkohl und Kohlrabi gestohlen wurden. Die Betriebslei- tung der Gutehoffnungshütte reagierte hart und entließ 150 Arbeiter, was zu einer Eskalation des Konflikts führte. Obwohl laut eines Polizeiberichts die Gewerk- schafter und der frühere Arbeiterrat von einem Streik oder einer Demonstration abrieten, stellte ein dem Syndikalismus nahestehender Teil der Belegschaft ein Ul- timatum, nach dessen Verstreichen es zu einer großen Demonstration kommen sollte, an der teilzunehmen alle erreichbaren Beamten gezwungen werden sollten. Nachdem die Demonstranten dem Aufruf der Polizei, die Straße zu räumen, nicht nachgekommen waren, schoß sie in den Demonstrationszug. Drei Tote waren zu beklagen1039. Auch 150 Arbeiter der Kruppschen Friedrich-Alfred-Hütte in Rheinhausen waren bereits im Juli vor das Verwaltungsgebäude gezogen, um einen höheren Vorschuß zu erzwingen. 500 weitere Arbeiter, die wegen einer Verkehrssperre ihre Arbeit nicht hatten verrichten können, drohten ebenfalls unter Gewaltanwen- dung die Lohnzahlung für die ausgefallenen Arbeitstage zu erpressen. Da die Stadt Duisburg sich auf die Seite der Arbeiter stellte, gab die Kruppsche Werkslei- tung schließlich nach1040. Anfang August setzte zunächst in der Schwerindustrie des Ruhrgebietes eine Bewegung der passiven Resistenz ein, der sich nach Anga- ben der KPD, die die wohl eher spontan entstandene Bewegung unterstützte, 80000 bis 100000 Beschäftigte angeschlossen hatten1041. In einigen Hüttenbetrie- ben und Zechen kam es auch zu Teilstreiks. Auf den Zechen wurden häufig Gal- gen errichtet, die den Zechenherren verdeutlichen sollten, daß die Kumpels es mit

ιο3β Besprechung zur Ruhrfrage im Bundesbüro des ADGB, 7. 8. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 900. '<»' Vgl. RWWA, 130-300143/3, Bericht Dr. Woltmanns vom 30. 7.1923, Szymanski an Woltmann am 1. 8. 1923 und Meldung aus Oberhausen vom 1. 8. 1923, auch abgedr. in: Langer, Kampf um Ge- rechtigkeit, S. 315-318; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 17093, Polizeipräsident Oberhau- sen an Regierungspräsident Grützner, 1. 8. 1923. io« Vgl. NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16232, Polizeiverwaltung Rheinhausen, an Regie- rungspräsident Grützner, 25. 7. 1923. κ*» Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/1-2/104, Bericht über die Generalstreikbewegung im August 1923. I. Bezirk Berlin-Brandenburg. V. Unvergleichbare Zeiten 583 ihren Lohnforderungen bitter ernst meinten. An den flugs errichteten Galgen baumelten Strohpuppen von verhaßten Industriellen wie Stinnes, der geradezu als Alleinschuldiger für die Inflation und die Misere ausgemacht wurde, aber auch von Friedrich Ebert. Obwohl keiner der Zechenherren am Galgen endete, schätz- ten einige Betriebsleitungen die Situation für so bedrohlich ein, daß sie flohen. In einigen Fällen wurden auch Vertreter der Zechenleitungen von radikalisierten jugendlichen Arbeitern mißhandelt1042. Noch bevor der Fünfzehnerausschuß der Betriebsräte von Groß-Berlin am 10. August die Parole ausgab „Für einen Drecklohn - eine Dreckarbeit"1043, gab es fast keine Region in Deutschland mehr, in der die Produktion nicht durch passive Resistenz, Demonstrationen und Teilstreiks gelähmt war. In Leuna zogen - um hier nur einige wenige Beispiele zu erwähnen - die Arbeiter vor das Direktionsge- bäude und verlangten ultimativ einen Vorschuß von zehn Millionen Mark. Die Werften in Norddeutschland lagen still, die Arbeiter in der Leipziger und Berliner Metallindustrie übten seit dem 8. August passive Resistenz, in Chemnitz demon- strierten sie während der Arbeitszeit1044. Die Arbeiter in den Berliner Betrieben hatten oft bis tief in die Nacht hinein auf ihren Lohn warten müssen, weil den Be- triebsleitungen wie fast überall in Deutschland die Zahlungsmittel fehlten1045. Die Resistenz in den Berliner Elektrizitätswerken führte zu Strommangel und dem Ausfall der Straßenbahnen1046. Am 10. August streikten auch die Hoch- und Un- tergrundbahnen. Ein eintägiger Streik in der Reichsdruckerei am gleichen Tag trug zu einer weiteren Verschärfung der Zahlungsmittelknappheit bei, die große Un- ruhe und Erregung hervorgerufen hatte1047. Der herrschende Mangel an Kartof- feln und Fett brachte die Stimmung zur Siedehitze. In vielen Städten brachen Le- bensmittelunruhen aus, die vielleicht noch größere Dimensionen erreicht hätten, wenn nicht schon zahlreiche Kinder, deren Gesundheit durch die schlechte Milch- versorgung gefährdet war, auf dem Land Unterschlupf gefunden hätten1048. „Die erste Hälfte des Monats August war eine der kritischsten und gefährlichsten Peri- oden, die Deutschland seit Beendigung des Kriegs durchzumachen hatte", konsta- tierte rückblickend der Reichskommissar für die Öffentliche Ordnung. In allen Teilen des Reichs sei es zu Streiks und Unruhen gekommen1049. Die Einschätzung

10« Vgl. Spethmann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 4, S. 189-194; Wisotzky, Die Jahre der Gewalt, S. 388; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16345, Bericht über die Lage im Einbruchsgebiet vom 11.8. 1923; Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung, S. 331 f. 1043 Die Resolution des Fünfzehnerausschusses der Betriebsräte von Groß-Berlin ist abgedr. in: Die Rote Fahne vom 10. 8. 1923. '«• Vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/120, Chronologischer Verlauf des letzten Generalstreiks in Deutschland. Vgl. RGASPI, F 495, op. 293, d. 33, Eberlein an EKKI, 15. 8. 1923. 1046 Vgl. Die Wirtschaft im Fieberzustand, Frankfurter Zeitung vom 12. 8. 1923. 1047 2u der Zahlungsmittelknappheit vgl. Ministerrat beim Reichspräsidenten, 10.8. 1923, in: AdR, Das Kabinett Cuno, S. 727, Anm. 2. Es ist fraglich, ob die Arbeitsniederlegung in der Reichsdruk- kerei das Werk der KPD war, wie in der Forschung (Angres, Kampfzeit, S. 404 f.; Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 599); behauptet wird, denn über das Scheitern des von den Kommunisten initiierten Generalstreiks soll in der Reichsdruckerei „Schadenfreude" geherrscht haben. Dies deutet darauf hin, daß der Einfluß der Kommunisten in der Reichsdruckerei eher ge- ring war. Vgl. BAB, R 1501, Nr. 67138, Streiks und Aussperrungen, Bericht vom 31. 8. 1923. 1048 Vgl. hierzu Fischer, The Ruhr Crisis, S. 121-123; Dickau, Die Gutehoffnungshütte, S. 91. Vgl. BAB, R 134, Fiche 21, Lagebericht vom 25. 8. 1923. 584 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen des Reichskommissars deckte sich mit der der KPD1050. In der Politbüro-Sitzung am 10. August drängte vor allem Ruth Fischer, die alle Streikbrandherde in Berlin erwartungsfroh aufzählte, darauf, am nächsten Tag zu einem dreitägigen General- streik aufzurufen, dessen Ziel der Rücktritt der Regierung Cuno, die Bildung einer Arbeiterregierung und die Erkämpfung eines Mindestlohnes von 60 Gold- pfennigen pro Stunde sein sollte. Brandler widersprach nicht, denn auch er wußte zu berichten, daß in Chemnitz, im Erzgebirge und im Vogtland „heller Aufruhr" herrsche. Unter dem Druck der Bewegung sei die „SPD vollkommen ratlos". An einen revolutionären Sieg glaubte Brandler freilich nicht, sondern kalkulierte be- reits eine Niederlage ein1051. Noch bevor im Politbüro der KPD der einmütige Beschluß fiel, der für den 11. August vom Fünfzehnerausschuß einberufenen Vollversammlung der Berliner Betriebsräte die Ausrufung des Generalstreiks vorzuschlagen, hatte bekanntlich die am 10. August tagende gemeinsame Konferenz der Berliner Gewerkschafts- kommission und der drei Arbeiterparteien die Generalstreiklosung abgelehnt und statt dessen den Ausschuß der Berliner Gewerkschaftskommission und das Orts- kartell des AfA-Bundes beauftragt, bei der Regierung vorstellig zu werden, um eine sofortige Bereitstellung ausreichender Zahlungs- und Lebensmittel zu errei- chen. Außerdem wurde der Regierung Cuno das Mißtrauen ausgesprochen1052. Der von der Betriebsrätevollversammlung am 11. August, dem deutschen Verfas- sungstag, ausgerufene Generalstreik1053, den Fischer und Maslow von Anfang an auch ohne die Unterstützung der Gewerkschaften hatten durchführen wollen1054, endete in einem Fiasko. Am 14. August, als innerhalb des PCF und der CGTU, die am Abend des 13. August die Bildung von Aktionskomitees zur Verteidigung der deutschen Arbeiterbewegung beschlossen hatten, noch die für die französi- sche Arbeiterbewegung so typische Generalstreikeuphorie und Revolutionser-

1050 So schrieb Hugo Eberlein am 15. 8. 1923 an das EKKI: „Die Stimmung unter der Arbeiterschaft war aufs äußerste erregt. Seit 1918 erlebten wir in Berlin wie auch in Teilen des Reichs nicht so erregte Diskussionen." RGASPI, F 495, op. 293, d. 33; auch abgedr. in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923, S. 105-110, hier S. 106. •os· SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 10. 8.1923. Die Behauptung Ersils, Ak- tionseinheit stürzt Cuno, S. 247, daß Brandler gegen den Generalstreik gewesen sei, trifft nicht zu. Auch Hugo Eberlein berichtete dem EKKI, daß die KPD-Zentrale einmütig hinter dem Vor- schlag des Fünfzehnerausschusses gestanden habe, es lediglich wegen des Beginns des General- streiks einige Meinungsverschiedenheiten gegeben habe. Vgl. RGASPI, F 495, op. 293, d. 33, Eberlein an EKKI, 15. 8.1923, auch abgedr. in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Oktober, S. 106; vgl. auch SAMPO-BArch, RY 1 1/2/3/208, Brandler an Radek, 10. 8. 1923. 1052 Einen ausführlichen Bericht über den Verlauf des Kongresses und den im Anschluß an die Kon- ferenz verfaßten Beschluß der Berliner Gewerkschaftskommission findet man in: Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter, Filiale Berlin, Bericht über das Geschäftsjahr 1923, S. 63-66. '053 Die dort gestellten Forderungen lauteten: „1. sofortiger Rücktritt Cunos, 2. Beschlagnahme der Lebensmittel zur Sicherung der Ernährung, 3. sofortige Anerkennung der proletarischen Kon- trollausschüsse, 4. sofortige Aufhebung des Verbots der proletarischen Hundertschaften, 5. so- fortige Festsetzung des Mindestlohnes von 60 Friedenspfennigen für alle Arbeiter und Angestell- ten, 6. Wiedereinstellung aller Arbeitslosen und Beschäftigung der Kriegsrentner zum vollen Lohn, 7. Aufhebung des Demonstrationsverbots und der Ausnahmeverordnung, 8. sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen." Vgl. Ersil, Aktionseinheit stürzt Cuno, S. 246. tosi Vgl. Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter, Filiale Berlin, Bericht über das Geschäftsjahr 1923, S. 64. V. Unvergleichbare Zeiten 585

Wartung herrschte1055, blies das Politbüro der KPD zum Rückzug. Brandler faßte das Desaster zusammen: „Die Bewegung war lediglich eine kraftlose, spontane Rebellion, ausgelöst durch die allgemeine Teuerung, verschärft durch die Zah- lungsmittelknappheit. Wir müssen offiziell sagen, daß der Sturz Cunos eine Folge dieser Berliner Bewegung war, obwohl es nicht stimmt. Daß die Berliner Arbeiter nicht zu halten waren, [...] ist nicht ein Zeichen der Kraft, sondern der Schwäche. Die Bewegung ist als Generalstreikbewegung verkracht in ihrem politischen Aus- gangspunkt und ihrer technischen Durchführung."1056 Der alte Gewerkschafter Brandler traf den Nagel auf den Kopf. Die „Cuno- Streiks" hatten den Charakter lokaler Revolten, aber nicht einer Generalstreikbe- wegung. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet war von dem am 11. August tagenden Kongreß der rheinisch-westfälischen Betriebsräte und den verantwort- lichen Bezirksfunktionären der KPD erst gar keine Generalstreikbewegung ein- geleitet, sondern in zutreffender Einschätzung der Situation die Fortsetzung der passiven Resistenz propagiert worden, die jedoch beendet werden mußte, weil die Unternehmer am 22. August zu einer flächendeckenden Aussperrung übergin- gen1057. In anderen Regionen wurde zum Generalstreik erst aufgerufen, als in Berlin schon dessen Scheitern festgestellt wurde, und selbst in Städten, wo die Kommunisten eine starke Bastion hatten wie in Chemnitz, stimmte die Betriebs- rätevollversammlung gegen den Generalstreik1058. In Berlin wäre der Streik wahr- scheinlich in eine gewaltsame Auseinandersetzung unter den Arbeitern umge- schlagen, wenn die KPD ihn nicht abgebrochen hätte1059. Die Unruhe und Erregung innerhalb der Arbeiterschaft hatte ihren Höhepunkt überschritten, als die KPD die Generalstreiklosung ausgab. Die Regierung be- mühte sich inzwischen um Lebensmittelimporte in Höhe von 50 Millionen Gold- mark, und der Reichstag hatte, um das weitere Fallen der Mark zu vermeiden, die Auflegung einer durch Sachwerte gedeckten Goldanleihe und Steuergesetze, die den Besitz belasteten, beschlossen. Der Pressechef der Regierung hatte zudem am 11. August der Berliner Bevölkerung versprochen, daß 500000 Pfund Fett auf den Markt kämen und daß Transporte von Kartoffeln und Frischgemüse im Anrollen seien, und tatsächlich waren erstmals wieder Butter und Margarine zu kaufen1060. Nachdem Aussicht bestand, den schlimmsten Hunger stillen zu können, war ein wichtiges Streikmovens fortgefallen. Hinzu kam, daß die Streikwaffe stumpf ge- worden war. Großunternehmer wie Siemens hatten am 11. August ihre Betriebe

1055 Vgl. La lutte héroïque du prolétariat allemand. La grève générale gagne en ampleur et en puis- sance, L'Humanité vom 14. 8. 1923; Perspectives révolutionnaires, L'Humanité vom 22. 8. 1923. >o» Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 14. 8. 1923. 1057 Vgl. Zum Kampf entschlossen, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 13. 8. 1923 (hier auch der Abdruck der Forderungen des Kongresses, der einer sofortigen Wirtschaftshilfe von 50 Millionen Mark Priorität eingeräumt hatte); Vor neuen Massenkämpfen im Ruhrgebiet, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 22. 8.1923; SAPMO-BArch, RY 1 1/3/18- 19/11, Bericht der Bezirksleitung der KPD Ruhrgebiet, Ewert, an das Politbüro der KPD vom 14. 8. 1923 und vom 16. 8. 1923; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16573, Polizeipräsident Essen an Regierungspräsident Grützner, 23. 8. 1923. 1058 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/9/73, Bezirk Erzgebirge Vogtland der KPD, Bericht über die Generalstreikbewegung vom 12.-19. August. ι»« Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 14. 8. 1923. loto Vgl. Ministerrat beim Reichspräsidenten, 10. 8. 1923, in: AdR, Das Kabinett Cuno, S. 727-732, besonders Anm. 7. 586 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen geschlossen und die Arbeiter ausgesperrt1061. Auch in anderen Regionen standen die Arbeiter bereits vor den verschlossenen Türen ihrer Betriebe, als der General- streikbeschluß fiel1062. Insofern spielte die Berliner KPD den Unternehmern ge- radezu in die Hände, die den Streik auch für umfassende Entlassungsaktionen nutzten. Ein anderer, nicht unbeträchtlicher Teil der Unternehmer kam den Lohnforderungen der Arbeiter entgegen und dämpfte so die ohnehin nur aus der Verzweiflung geborene Streikneigung ihrer Beschäftigten. Reichskanzler Cuno hatte am 12. August seinen Rücktritt erklärt, nicht weil er, wie die KPD wider besseres Wissen behauptete, von der Streikbewegung hinweg- gefegt worden war1063, und auch keineswegs allein wegen der kommunistischen und sozialdemokratischen Mißtrauensanträge, sondern weil ihm auch die bürger- lichen Parteien nach und nach das Vertrauen entzogen hatten1064. Zu diesem Glaubwürdigkeits- und Vertrauensverlust hatten freilich die vorangehenden so- zialen Konflikte und Unruhen entscheidend mitbeigetragen. Eine Regierung, die das staatliche Monopol legitimer Gewaltsamkeit nicht mehr verteidigen und Rechtssicherheit nicht mehr garantieren konnte, die sich als unfähig erwies, wirt- schaftliche und soziale Verhältnisse herzustellen, die der Masse der Bevölkerung zumindest das Existenzminimum sicherte, die auf Hungerdemonstrationen und Lebensmittelkrawalle mit dem Einsatz von Polizei antwortete, verlor jedes Ver- trauen und raubte dem Staat die Autorität und der Demokratie die Legitimität. Mehr noch als die ständigen (gewaltsamen) Konflikte in den Betrieben, die das in- nerbetriebliche Vertrauensverhältnis vollends zerstörten, waren die vielen zumeist blutig endenden Lebensmittelunruhen, die in jener Zeit von den Streikbewegun- gen kaum zu trennen waren, ein Nährboden für die wachsende Republikfeind- schaft nicht nur der Arbeiter, sondern auch der Lebensmittelhändler und Land- wirte. In einer Zeit, in der Lebensmittelkrawalle und Plünderungen fast schon an der Tagesordnung waren, war der Staat von der Aufgabe, Händler und Bauern vor Übergriffen zu schützen, überfordert. Vielerorts fungierten kommunistische Kontrollausschüsse als Preisfestsetzungsinstanzen, was in der Regel hieß, daß sie die Händler zu Preisherabsetzungen zwangen. In Sachsen reichte an einigen Or- ten schon das Auftreten der proletarischen Hundertschaften, damit die Bauern Brot, Butter, Eier und andere landwirtschaftliche Produkte heranschleppten. Dennoch kam es nicht selten vor, daß die Landwirte die Hundertschaften riefen, damit sie gewaltsame und unkontrollierte Plünderungen verhinderten. Zuweilen wurden die kommunistischen Hundertschaften sogar als Feldschutz einge- setzt1065. Allerdings geriet nach und nach auch der von den Kommunisten organi-

1061 Vgl. Die Wirtschaft im Fieberzustand, Frankfurter Zeitung vom 12. 8. 1923. 1062 So z.B. die Werftarbeiter bei Blohm & Voss, vgl. Mertelsmann, Zwischen Krieg, Revolution und Inflation, S. 218 f.; zu weiteren Aussperrungen vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/10, Chronologi- scher Verlauf des letzten Generalstreiks in Deutschland. 1063 Vgl. An die werktätige Bevölkerung Deutschlands! Die Rote Fahne vom 15. 8. 1923. 1064 Vgl. Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 230—232. 1065 Vgl. SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11119, Polizeipräsidium Leipzig an Ministerium des Innern 21. 8. 1923; BAB, R 1501, Nr. 13393, Reichs-Landbund, Auszug aus den Berichten der örtlichen Landbünde über die jüngsten Unruhen und Gewalttätigkeiten auf dem Lande, 29. 8. 1923. V. Unvergleichbare Zeiten 587 sierte sogenannte proletarische Selbstschutz in Mißkredit. War bei vielen Arbei- tern und noch mehr bei der wachsenden Zahl von Erwerbslosen die Polizei gera- dezu ein Objekt des Hasses, so büßte zumindest bei den Erwerbslosen auch der gewerkschaftliche oder kommunistische Ordnungsdienst jeden Respekt ein. Die demonstrierenden Erwerbslosen ließen sich auch von den „proletarischen" Ord- nungshütern nicht mehr zur Raison rufen, sondern skandierten: „Wir sind keine KPD und keine VSPD, wir machen unsere Aktion und brauchen Euch nicht."1066 Während von Seiten der Sozialdemokraten häufig die Kommunisten als Anstif- ter bezeichnet wurden, warnten die Kommunisten geradezu gebetsmühlenhaft vor Hungerkrawallen und Lebensmittelunruhen, als deren Drahtzieher sie bür- gerliche Provokateure und Faschisten sehen wollten1067. Diese Schuldzuweisung war freilich wenig überzeugend, wenngleich bei Lebensmitteldemonstrationen in Chemnitz und Dresden im Februar und Mai 1923 antisemitische Äußerungen ge- fallen waren1068. Einen eindeutigen antisemitischen Hintergrund hatten jedoch erst die Plünderungen im Berliner Scheunenviertel im November 1923, die den Charakter eines Judenpogroms trugen. Vom 3. bis 7. November waren dort 55 In- haber von Kleider- und Schuhgeschäften und 152 Lebensmittelhändler ausgeraubt worden. Unter den Geschädigten befanden sich 61 jüdische Besitzer. Es waren keineswegs nur völkische und nationalsozialistische Gruppierungen, die sich an diesen Ausschreitungen beteiligten, sondern auch Menschen, die der SPD nahe- standen1069. Hunger und Elend hatten den Menschen das Gefühl für Recht und Unrecht genommen und den Boden für Ressentiments aller Art bereitet. Der Zusammenbruch der staatlichen Autorität manifestierte sich am sichtbar- sten, wenn Erwerbslose, Frauen und Jugendliche vor Rathäusern demonstrierten oder gewaltsam in sie einzudringen versuchten, wenn Polizeiwachen gestürmt und Leiter von Arbeitsämtern mit dem Tode bedroht wurden oder wenn ausge- sperrte Bergarbeiter von den Bürgermeistern die Auszahlung eines mehrfachen Betrags der Erwerbslosenunterstützung erpreßten1070. Daß es bei solchen De- monstrationen oder Lebensmittelunruhen häufig zu Zusammenstößen mit der Polizei und Blutvergießen kam, mußte den Haß auf den Staat, der auf Hungernde schoß, schüren. Noch vor den bereits geschilderten Maiunruhen waren Mitte April zahlreiche Städte des Ruhrgebietes Schauplätze von Lebensmittelunruhen Erwerbsloser, die bei einigen Kommunisten schon die Furcht vor einer „neuen Märzaktion" hervorriefen1071. In Mülheim, wo am 19. April Erwerbslose und

1066 So in Leipzig bei einem Teuerungsprotest am 6. Juni, der mit gewalttätigen Ausschreitungen ver- bunden war. SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11109a, Bericht vom 10. August 1923 über die Unruhen in Leipzig, 4.-6. Juni 1923; vgl. auch die Leipziger Zusammenstöße, Vorwärts vom 7. 6. 1923; laut Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen, S. 341, war dieser Slogan auch im Ruhrrevier gängig. i»? Vgl. ζ. B. Sechs Tote in Leipzig. Neue Faschistenprovokation, Die Rote Fahne vom 7.6.1923; Ge- gen Teuerung und faschistische Reaktion, Der Kämpfer vom 20. 6. 1923; Die faschistische Blut- arbeit in Mülheim, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 23. 4. 1923. 1068 Vgl. SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11097, Polizeipräsidium Chemnitz an das Ministe- rium des Innern, 5. 2. 1923. 1069 Vgl. Walter, Antisemitische Kriminalität, S. 151-155; Die Plünderungen und Überfälle, Vorwärts vom 6. 11. 1923. 1070 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113214, Polizeipräsident Dresden an RKO, 18. 8. 1923; SAPMO-BArch, RY 1 1/18-19/12, Bericht Ruhrgebiet, eingegangen bei der KPD-Zentrale am 17.12. 1923. 10" Vgl. SAPMO-BArch, RY 1/1/2/3/203, Koenen an Hoernle, 28. 4. 1923. 588 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Notstandsarbeiter in das Rathaus einzudringen versuchten, nachdem man zuvor vergeblich versucht hatte, sie mittels Wasserspritzen zu vertreiben, wurde zu- nächst ein Arbeiter erschossen, und nachdem sich die Demonstrationen, bei de- nen Syndikalisten eine dominante Rolle spielten, an den folgenden Tagen wieder- holten, waren schließlich fünf, anderen Quellen zufolge sogar zehn Tote zu bekla- gen1072. Die blutige Bilanz der Unruhen im Sommer und Herbst 1923, für die al- lein der Hunger verantwortlich war, war erschreckend. Mindestens zehn bis fünf- zehn Menschen, wahrscheinlich sogar weitaus mehr, starben in Aachen bei dem Versuch, das Polizeigefängnis zu stürmen, um die nach Lebensmittelplünderun- gen Verhafteten zu befreien. Zehn Menschen kamen in Zeitz zu Tode, vier in Kre- feld, einer in Gelsenkirchen und einer in Neuruppin1073. In Essen wurden im Ok- tober bei Zusammenstößen mit der Polizei drei Arbeiter des Krupp-Werks getö- tet1074. Einen Monat später riskierten die Arbeiter Essens bei Barrikadenkämpfen ihr Leben, es herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände1075. Schon diese keines- wegs vollständige Liste der Kämpfe mit Todesopfern ist ein entsetzliches Zeugnis der sich unaufhaltsam drehenden Gewaltspirale. Hätten deutliche Anweisungen an die Polizei, von der Schußwaffe nur im äußersten Notfall Gebrauch zu ma- chen, verhindern können, daß Menschen mit ihrem Leben dafür bezahlten, daß sie, um zu überleben, zur Selbsthilfe griffen? Hatte die kurzfristig in den besetzten Gebieten aufgestellte „Blaue Polizei", in deren Reihen sich zahlreiche Freiwillige befanden, die während des Kriegs militärisch ausgebildet worden waren, sich durch brutales Durchgreifen hervorgetan?1076. Das Beispiel Sachsen zeigt, daß dem nicht so war. Dort hatte der sozialdemo- kratische Innenminister Hermann Liebmann erklärt, gegen jeden Polizeibefehls- haber einzuschreiten, der gegen demonstrierende Erwerbslose mit brutaler Ge- walt vorgehe1077. Und auch Zeigner hatte es abgelehnt, Hungernde mit Polizei-

1072 Vgl, Das neue Blutbad an der Ruhr, Die Rote Fahne vom 20. 4. 1923; „Syndikalistenputsch" in Mülheim, Der Syndikalist Nr. 17, 1923. Die faschistische Blutarbeit in Mülheim, Freiheit. Nie- derrheinische Tageszeitung der KPD vom 23. 4. 1923. Danach gab es 10 Tote. Kämpfe in Mül- heim, Vorwärts vom 20. 4. 1923. Danach gab es fünf Tote, ii" Vgl. BAB, R 43 I, Nr. 1263, Oberbürgermeister von Aachen an Reichskanzler, 15. 8. 1923. Nach dem Telegramm des Aachener Oberbürgermeisters hatte es über hundert Tote und Verwundete gegeben. Feldman, Great Disorder, S. 705 f., spricht von zehn Toten; Arbeitermorde in Aachen, Die Rote Fahne vom 15. 8.1923. Dort war von 28 Toten die Rede. BAB, R 1501, Nr. 13393, Ober- präsident Hörsing an Reichsministerium des Innern, 21. 8. 1923; ebenda, Oberbürgermeister von Krefeld an Regierungspräsident Grützner, 3. 9.1923; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 17093, Abschrift von zwei Briefen des Oberbürgermeisters von Duisburg, am 19. 8. 1923 vom Düssel- dorfer Regierungspräsidenten an den Innenminister in Berlin übersandt; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16345, Bericht über die Lage im Einbruchsgebiet vom 15. 8. 1923. Arbeitermord in Krefeld, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 11.8. 1923; Unruhen am Unterrhein, Frankfurter Zeitung vom 14. 8. 1923; BLHA, Rep. 2 A I Pol. Nr. 1027, Bericht des Ersten Bürgermeisters von Neuruppin über die am 27. und 28. Juli 1923 stattgefundenen Lebens- mittelunruhen. Blutige Zusammenstöße in Neu-Ruppin, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 30. 7. 1923. Hier ist sogar von zwei Toten die Rede. 1074 Vgl. NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16573, Der Polizeipräsident von Essen an Regierungs- präsident Grützner, 28. 10. 1923. 10« So Wisotzky, Die Jahre der Gewalt, S. 390. Zu der Aufstellung der Blauen Polizei vgl. Fischer, The Ruhr Crisis, S. 204 f. 1077 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113214, Reichsministerium des Innern, Vermerk Erbes vom 4. 5. 1923 (vertraulich); Verhandlungen des Sächsischen Landtags, 2. Wahlperiode, 42. Sitzung am 12. 6. 1923, S. 1087 f.; Lapp, Revolution from the Right, S. 84. V. Unvergleichbare Zeiten 589 methoden zu bekämpfen1078. Die Zeigner-Regierung hatte auch darauf gedrungen, daß der Landtag im Juli 1923 ein Amnestiegesetz für Not- und Abtreibungsde- likte verabschiedete, nach dem die Strafe für Taten erlassen wurde, die aus einer ,,ernste[n], wirtschaftlichefn] Bedrängnis, von der der Täter selbst oder seine An- gehörigen betroffen waren", begangen worden waren1079. Die guten Vorsätze der Zeigner-Regierung scheiterten an der harten Realität. Auch in Sachsen war der dort von der Landesregierung ausdrücklich befürwortete „proletarische Selbst- schutz" überfordert, so daß die Polizei eingreifen mußte. Drei Verwundete bei einer Erwerbslosendemonstration in Dresden im Mai 1923, zwei Tote und fünf Schwerverletzte bei einer Hungerdemonstration in Bautzen Anfang Juni1080, sechs Tote und 22 Verwundete in Leipzig bei einem Teuerungsprotest am 6. Juni, bei dem auch KPD-Funktionäre von erwerbslosen Demonstranten mit Steinen be- worfen wurden1081, dreizehn Schwerverletzte bei Lebensmittelunruhen in Dres- den Mitte September1082 verbuchten die Kommunisten auf das Konto der Zeigner- Regierung, die sie tolerierten. Die Schüsse auf Hungernde waren ein Motor der Radikalisierung, delegitimier- ten den Staat und nährten bei den Kommunisten die große Hoffnung, daß die So- zialdemokratie dadurch für immer bei der Arbeiterschaft diskreditiert sei. Wenn es nach dem Willen Moskaus gegangen wäre, hätte die KPD schon am 6. Juni, als in Leipzig unter dem sozialdemokratischen Leipziger Polizeipräsidenten Fleißner sechs Menschen von Polizeikugeln tödlich getroffen wurden, mit der Zeigner-Re- gierung brechen müssen, denn in Moskau war man nach diesem Vorfall zum einen davon überzeugt, daß Sachsen keinen Schutzwall mehr gegen den Faschismus dar- stelle, zum anderen glaubte man, daß die Arbeiter nun scharenweise zur KPD überlaufen mußten, so daß der Tag der Revolution unmittelbar bevorstehe1083. Brandler schätzte die Situation realistischer ein und belehrte das EKKI: „Wenn Ihr glaubt, daß die sechs Arbeiterleichen in Leipzig ein günstiger Augenblick ge- wesen wären, einen klaffenden Riß zwischen die Massen und die Linken und die Zeigner-Regierung zu schaffen [sie], so halten wir das auf Grund unserer Erfah- rung in Deutschland für vollständig falsch. Ihr scheint völlig vergessen zu haben, daß die Ermordung Rosas und Karls sowie der vielen anderen Arbeiter es uns nicht ermöglichte, die sozialdemokratischen Arbeitermassen von ihrer Führung zu isolieren. Erst als wir den Verrat ihrer ökonomischen Interessen gegen die Füh- rung ausnutzen konnten, gelang uns diese Isolierung."1084 Mitte September hatte

1078 Vgl. Blutbad in Dresden, Der Kämpfer vom 12. 9. 1923. low Vgl. Geyer, Teuerungsprotest und Teuerungsunruhen, S. 336. 1080 Vgl. Hungerdemonstrationen in Bautzen, Der Kämpfer vom 2.6.1923; BAB, R 1501, Nr. 113214, Telefonische Mitteilung des Polizeipräsidiums Dresden vom 1.6. 1923. 1081 Vgl. SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11109a, Bericht vom 10. 8. 1923 über die Unruhen in Leipzig, 4.-6. Juni 1923; Die Leipziger Zusammenstöße, Vorwärts vom 7. 6. 1923; Blaue Bohnen statt Brot! Der Kämpfer vom 7. 6. 1923. iosa Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113214, RKO an Reichsministerium des Innern, 19.9. 1923; Blutbad in Dresden, Der Kämpfer vom 12.9. 1923; SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11109a, Erwerbs- losenunruhen am 11. 9. 1923. Vgl. SAPMO-BArch, RY 51/6/10/53, Radek an Brandler, 15. 7.1923; vgl. auch das Schreiben Hoern- les an Brandler vom 2. 7. 1923, in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923, S. 89-92. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/208, Brandler an EKKI, 23. 7. 1923; drei Tage später schrieb er noch- mals an das EKKI und verteidigte die Zeigner-Regierung: „Ich habe den Eindruck, daß Ihr doch wesentlich unterschätzt, welch Hemmnis auch die völlig unzulängliche sächsische und Thürin- 590 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen die Moskauer Revolutionseuphorie Brandler schon angesteckt, schien doch die soziale Entwicklung in Deutschland die Marxsche Theorie von der Verelendung des Proletariats zu bestätigen. Am 18. September schrieb er an Clara Zetkin: „Die ganze Situation ist mit Explosivstoffen geladen; die Hungerkrawalle, Plünderun- gen nehmen zu und führen zum Eingreifen der bewaffneten Macht, gegen die selbst die Sozialdemokraten als die Verantwortlichen für diese Maßnahmen sich wenden müssen. Ihr altes Mittel, diese Krawalle als die Folge der Kommunisten- hetze hinzustellen, zieht nicht mehr. [...] Wir haben eine Situation, wie sie im Ok- tober 1918 in Deutschland war."1085 Witterten die Kommunisten die Chance, die drohende soziale Explosion für ihre revolutionären Ziele ausnutzen zu können, so hielt man auch auf Seiten der Rechten und nicht zuletzt in weiten Kreisen der Un- ternehmer das demokratische Experiment für gescheitert und hoffte auf die Eta- blierung eines autoritären oder diktatorischen Regimes, das Ruhe und Ordnung wiederherstellte. Zwischen der nicht ganz so gefährlichen Skylla einer kommuni- stischen Diktatur und der weitaus bedrohlicheren Charybdis einer Rechtsdiktatur mußte die Große Koalition das Staatsschiff Deutschland durchsteuern, wenn es nicht in den Strudel des Abgrunds gerissen werden sollte.

3. Am Abgrund: Drohende Diktatur und Ausnahmezustand Auf einer neun Tage nach Bildung der Großen Koalition stattfindenden Partei- führerbesprechung am 22. August 1923 waren sich Reichskanzler und Sozialde- mokraten darüber einig, daß das Kabinett Stresemann das „letzte nur mögliche verfassungsmäßige Kabinett sei". Eine Diktatur von rechts und links war gleicher- maßen zu befürchten, und Otto Wels ließ keinen Zweifel, daß die SPD nicht davor zurückscheute, „unter Umständen mit Waffengewalt gegen bolschewistische Ar- beiterunruhen die Republik zu verteidigen"1086. Wels hätte den sozialdemokrati- schen Verteidigungswillen wahrscheinlich noch schärfer betont, wenn er gewußt hätte, daß in Moskau die Planungen für einen „deutschen Oktober" bereits auf Volltouren liefen. Für den Fall eines siegreichen kommunistischen Aufstandes in Deutschland wurden dort bereits militärische Vorbereitungen getroffen, um die für wahrscheinlich gehaltene militärische Intervention Polens und Frankreichs in Deutschland und konterrevolutionäre Angriffe zu verhindern 1087. Am 4. Okto- ber segnete das Politbüro der russischen kommunistischen Partei den unter Si- nowjews Leitung von der Kommission für internationale Angelegenheiten festge- legten Termin für den deutschen Aufstand ab: es sollte der 9. November sein1088. Am 10. Oktober traten die sächsischen Kommunisten auf Geheiß Moskaus in die

ger-Regierung für die Durchführung der Pläne der Schwerindustrie trotz aller Unzulänglichkeit bedeutet." SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/119. '»s Der Brief befindet sich in: SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/203. 1086 Parteiführerbesprechung am 22. 8. 1923, in: AdR, Die Kabinette Stresemann I und II, Bd. 1, S. 58 f. Ό«7 Vgl. Stone, The Prospect of War?, S. 799-817; Wenzel, 1923. Die gescheiterte deutsche Oktober- revolution, S. 217. lose Vgl. Beschluß des Politbüros der RKP(b) zur Festsetzung des Revolutionstermins und Instruk- tion an die Delegation nach Deutschland, 4.10. 1923, in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Okto- ber 1923, S. 194-197. V. Unvergleichbare Zeiten 591

Regierung Zeigner ein, die offensichtlich den kommunistischen Parolen über die Bildung einer Arbeiterregierung aufgesessen war, denn anders als Mitte der drei- ßiger Jahre in Frankreich hatte Moskau keinerlei Interesse an dem Zustandekom- men einer auf dem Boden der Republik stehenden Volksfrontregierung, in der Sozialisten und Kommunisten gemeinsam die Abwehr des Faschismus zu ihrer Aufgabe machten. Die „Zersetzung" und Spaltung der SPD und der Kampf gegen das Bürgertum bis zur revolutionären Umwälzung waren das erklärte Ziel der Kommunisten1089. Die Moskauer Revolutionsplanungen waren indes für die deutsche Demokratie weitaus weniger gefährlich, als die Lektüre der Pläne glauben macht. Die Verhält- nisse in Deutschland waren nicht revolutionär, wie die Sowjetführung annahm und insbesondere der PCF hoffte1090, der nur durch eine Revolution in Deutsch- land seine eigene Isolierung in dem konservativ stabilen Frankreich, wo jede revo- lutionäre Phrase wie Hohn klang, hätte überwinden können. Die Stimmung in- nerhalb der Arbeiterschaft sei „passiv", konstatierte noch Anfang Oktober das Politbüro der KPD1091. Wenn Brandler tatsächlich davon überzeugt gewesen sein sollte, daß die Bürgerkriegsvorbereitungen in Deutschland nicht mehr länger auf „taube Ohren" stießen1092, so wurde er bekanntlich am 21. Oktober eines Besse- ren belehrt. Angesichts der drohenden Reichsexekution gegen Sachsen und der Unterstellung der sächsischen Polizei unter die Reichswehr durch den Militärbe- fehlshaber in Sachsen, Generalleutnant Müller, hatte Brandler auf einer für diesen Tag einberufenen Konferenz der Vertreter der proletarischen Kontrollausschüsse, der Betriebsräte, Konsumgenossenschaften, Erwerbslosen und Gewerkschaften zum Generalstreik aufgerufen, um die Reichsexekution gegen Sachsen abzuweh- ren und gegen Bayern, wo Gustav von Kahr, der Vertrauensmann der Vaterländi- schen Verbände, zum Generalstaatskommissar ernannt worden war, durchzuset- zen. Brandler wünschte einen einstimmigen Streikbeschluß, denn er war Realist genug, um zu erkennen, daß ohne Unterstützung des ADGB und der SPD der Streik scheitern mußte1093. Die Ablehnung des Generalstreikbeschlusses durch die Mehrheit der Delegierten, die nach Brandlers eigener Einschätzung zu „90% lau- ter gute Proleten" waren, führte dazu, daß der deutsche Oktober in einem „Be- gräbnis dritter Klasse" endete1094. Nur in Hamburg, wo Hermann Remmele, Mit- glied der KPD-Zentrale, irrtümlicherweise zum sofortigen Losschlagen geblasen hatte, kam es bekanntlich zu einem bewaffneten Aufstand, an dem sich jedoch

10" Vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/67, Konferenz des Präsidiums des E.K. der Kommunistischen Internationale mit der Delegation der Kommunistischen Partei Deutschlands über die innere Lage der deutschen Partei. 4 Sitzungen vom 27. 4.1923-4. 5. 1923; Richtlinien über die Taktik der Einheitsfront, verabschiedet vom IV. Weltkongreß (5. 11.-5.12. 1922), in: Weber (Hrsg.), Kom- munistische Internationale, S. 101-103. io» Vgl. La Révolution allemande écrasera le fascisme, L'Humanité vom 16. 10.1923; La guerre civile en Allemagne, L'Humanité vom 12. 11. 1923. Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/3, Sitzung des Politbüros am 2. 10. 1923. Ό« Vgl. Brandler an EKKI, 28. 8. 1923, in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923, S. 134- 138. 10» Ausführlich hierzu Becker, Heinrich Brandler, S. 233-235. Ό" Vgl. SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/120, Brandler an Zetkin, 13. 11. 1923; Thalheimer, 1923. Eine verpaßte Revolution?, S. 26. 592 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen nicht mehr als 200-300 Menschen beteiligt haben sollen1095. Desillusioniert kon- statierte Brandler: „Sie [die Massen] wollen nicht revolutionär für den Kommu- nismus kämpfen, sondern sie sind bereit, auch mit der Waffe in der Hand, für Reformen, die ihnen die Existenzmöglichkeit unter dem kapitalistischen Regime ermöglichen, zu kämpfen."1096 Das sang- und klanglose Scheitern des „deutschen Oktobers" bereitete nicht nur den Kommunisten eine verheerende Niederlage, sondern auch dem mächtig- sten deutschen Industriellen eine große Enttäuschung. Hugo Stinnes hatte fest da- mit gerechnet, daß angesichts der in Deutschland herrschenden Not die Kommu- nisten einen Umsturzversuch wagen würden, der Ebert dazu zwingen würde, ent- weder eine Einzelpersönlichkeit - Stinnes dachte wohl eher an Gustav von Kahr denn an Ludendorff - oder ein Triumvirat mit diktatorischen Vollmachten auszu- statten, das die Kommunisten ebenso wie den Parlamentarismus hinwegfege und den Sozialismus als „eine politische Daseinsform in Deutschland für immer besei- tigt"1097. Seit der Mohr SPD seine Schuldigkeit getan und den Abbruch des „pas- siven Widerstandes" mitverantwortet hatte, arbeitete der schwerindustrielle Flü- gel, allen voran Stinnes, innerhalb der DVP auf einen Bruch mit der SPD hin, der den Weg für die Etablierung eines wie auch immer gearteten rechtsautoritären Re- gimes freimachen sollte, das der Durchsetzung des eigenen wirtschaftspolitischen Programms keine Hindernisse mehr bereitete. Um die Koalition zum Zerplatzen zu bringen, wurde Ende September 1923 nicht nur eine Pressekampagne gegen die Sozialdemokratie entfacht, sondern auch die altbekannten Forderungen nach Aufhebung des Achtstundentages und der Demobilmachungsvorschriften erneut erhoben1098. Stinnes war allerdings der einzige, der Stresemann in der DVP-Frak- tion nicht das Vertrauen aussprach, als dessen erstes Kabinett am 3. Oktober ge- scheitert war1099. Zuvor schon hatte er versucht, den Hamburger DVP-Abgeord- neten Walter Dauch, der bei einem Weiterbestehen der Koalitionsregierung die wirtschaftspolitische Stellungnahme der DVP im Reichstag hätte vortragen sollen, auf sein wirtschaftspolitisches Programm zu verpflichten, das neben seinen seit dem 9. November 1922 ständig wiederholten Forderungen nach Wiederherstel- lung der Vorkriegsarbeitszeit, einer Privatisierung der öffentlichen Betriebe, ei- nem Verbot von Streiks in lebenswichtigen Betrieben und einer Reform des Steu- errechts auch die Zwangsarbeit für Arbeitslose vorsah, die für Löhne, die 20 Pro- zent unter dem Normaltarif lagen, arbeiten sollten, und als stärksten Affront die vorübergehende Beseitigung „zentraler Tarifverträge oder Syndikate, soweit sie die Wirkung haben, die Produktion zu verteuern, die Ausfuhr zu hemmen." Stin- nes ließ keinen Zweifel daran, daß er dem parlamentarischen System eine solche

1095 Vgl. Grigorij Sklovskij: Anschreiben zum Bericht an Grigorij Zinov'ev über den Hamburger Aufstand, 27. 10. 1923, in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923, S. 264-273; vgl. auch Jentsch, Die KPD und der „Deutsche Oktober" 1923, S. 237-245, der allerdings davon ausgeht, daß Thälmann Anweisungen der Zentrale bewußt ignoriert habe. >0<" SAPMO-BArch, RY 5 1/6/3/120, Brandler an Zetkin, 10. 12. 1923. 1097 Vgl. Botschafter Alanson B. Houghton an Secretary of State Charles E. Hughes, 23.9. 1921, ab- gedr. in: Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie, S. 65 f.; Die Datierung bei Hallgarten, 21. September, ist falsch; vgl. auch Feldman, Hugo Stinnes, S. 888 f. '»'8 Vgl. Richter, Deutsche Volkspartei, S. 281 f. 1099 Vgl. Wright, , S. 227. V. Unvergleichbare Zeiten 593 wirtschafts- und sozialpolitische Umkehr nicht zutraute. Der Brief endete mit den Worten: „Wer, selbst mit diktatorischer Gewalt versehen, Alles das, was in den letzten neun Jahren schlecht gemacht worden ist, wieder gut machen will und au- ßerdem einen wesentlichen Fortschritt gegen die Vorkriegszeit herbeiführen will, der wird sicher 2 bis 3 Jahre unermüdlicher Arbeit darauf verwenden müssen."1100 Nach der von Seiten der Schwerindustrie nicht erwarteten Bildung des zweiten Kabinetts Stresemann am 6. Oktober, dem die Sozialdemokraten nach mühsamer Kompromißsuche abermals angehörten, veröffentlichte Stinnes seinen Brief an Dauch und verband ihn mit einer Fehde gegen Stresemann, der die Pläne der Schwerindustrie zunächst einmal zerstört hatte1101. Einen Tag zuvor hatte auch der Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller dem Parlamentarismus Versa- gen vorgeworfen und eine Verfassungsänderung in Erwägung gezogen, da dem Parlament der „Wille" zu der „erforderlichen Kursänderung" fehle, solange der Einfluß der „marxistisch-sozialdemokratischen Ideen" nicht ausgeschaltet sei1102. Die Gedankenspiele der Schwerindustrie über eine Diktatur oder ein Direktori- umskabinett waren variantenreich. Die meistgenannte Variante war ein Triumvi- rat, dessen drei starke Männer General von Seeckt, der frühere Krupp-Direktor und jetzige Botschafter in den USA, Otto von Wiedfeldt, sowie der Generaldirek- tor der Berliner Stinnes-Niederlassung, Friedrich Minoux, sein sollten, der aller- dings am 7. Oktober von Stinnes vor die Tür gesetzt worden war, weil er der Ver- öffentlichung des Briefes an Dauch widerraten hatte1103. Die entscheidende Figur auf dem politischen Schachbrett der Schwerindustrie war ohne Zweifel Seeckt, der seinen Machtanspruch sowohl gegen Stresemann als auch gegenüber Ebert geltend machte. Seeckts Regierungsprogramm vom Sep- tember 1923 trug zumindest im wirtschafts- und sozialpolitischen Teil eindeutig die Handschrift Minoux' und damit auch die von Stinnes1104. Dessen sattsam be- kannte Forderungen tauchten dort wieder auf, einschließlich dessen erst neuer- dings geäußertem Verlangen nach Aufhebung der Tarifverträge und einem Verbot der Syndikate wie Kartelle. Einzig der Ersatz der Gewerkschaften durch Berufs- kammern hatte nicht in Stinnes' Programmkatalog gestanden1105. Stresemann, den Seeckt am 24. Oktober ganz offen aufgefordert hatte, die Macht an ihn abzutre- ten1106, durchkreuzte zusammen mit Ebert Seeckts Diktaturpläne und damit auch die der deutschen Schwerindustrie. Nach der Verhängung des Ausnahmezustan- des am 26. September wurde nicht Seeckt, sondern Reichswehrminister Geßler

11°° ACDP, 1-220-046/3, Stinnes an Dauch, 29. 9. 1923. noi Vgl. Minoux' Ausscheiden bei Stinnes, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 10. 10. 1923. Unter der Uberschrift „Hochverräter Stinnes" druckte auch Die Rote Fahne vom 10. 10. 1923 den Brief ab. •ι® Vgl. BADH, R 13 I, Nr. 98, VDESI, Aufzeichnung über die am 5.10.1923 im Gasthof Esplanade zu Berlin abgehaltene Sitzung des Hauptvorstandes und des Fachgruppenausschusses; vgl. auch Weisbrod, Schwerindustrie, S. 151. 1103 Vgl. Feldman, Hugo Stinnes, S. 892. ι·04 Zu dem Einfluß Minoux' auf Seeckt vgl. Meier-Welcker, Seeckt, S. 390. nos Vgl. „Ein Regierungsprogramm" des General von Seeckt [September 1923], in: AdR, Die Kabi- nette Stresemann I und II, Bd. 2, S. 1203-1206, hier S. 1205. 1106 Vgl. Materialsammlung des Generalleutnants z.V. Lieber über die Beziehungen der Heeresleitung zum Kabinett Stresemann und ihre Einstellung zur deutschen Innenpolitik vom September bis November 1923, in: ebenda, S. 1190; vgl. auch Meier-Welcker, Seeckt, S. 394. 594 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen die vollziehende Gewalt übertragen. Auch die Reichsexekution in Sachsen, zu der Stresemann sowohl vom Verband Sächsischer Industrieller wegen der vermeint- lich unhaltbaren Zustände in „Sowjetsachsen" wie auch von Stinnes und dem Syn- dikus der Essener Handelskammer, Reinhold Quaatz, wegen ihrer allgemeinen politischen Ziele gedrängt wurde1107, ließ sich nicht mehr zum Auftakt für eine Revision der politischen Verfassung benutzen, da sich der Reichskanzler die Ver- antwortung für die Absetzung der sächsischen Regierung vorbehielt und es ab- lehnte, einen Reichskommissar mit der Verwaltung Sachsens zu betrauen1108. Nachdem die SPD am 2. November wegen der Reichsexekution gegen Sachsen aus dem Kabinett Stresemann ausgetreten war, widersetzte sich der Reichspräsi- dent allerdings nicht mehr den Direktoriumsplänen Seeckts, sondern stellte Seeckt frei, Wiedfeldt das Kanzleramt in einem vom Parlament unabhängigen Direkto- rium anzutragen. Der deutsche Botschafter in Washington war jedoch nicht ge- willt, in eine Regierung einzutreten, der jeglicher Rückhalt in der Landwirtschaft und „großenteils" auch in der Arbeiterschaft fehlte1109. Daß Ebert sich einer sol- chen Lösung, durch die ohne Zweifel die Rechte der Gewerkschaften und der Ar- beiterschaft bedroht worden wären, nicht in den Weg stellte, führt zum einen vor Augen, an welchem politischen Abgrund Deutschland stand, zum anderen wird aber auch wiederum deutlich, in welchem Maße der Reichspräsident bereits den für Deutschland so typischen Führungsanspruch des Militärs und der Wirtschaft als legitim erachtete. Die Freien Gewerkschaften hatten zwar einen gemeinsamen Aktionsausschuß zur Abwehr des ,,politische[n], wirtschaftlichefn] und sozialefn] Generalangriffs gegen die Arbeiterschaft" gebildet, mußten jedoch einräumen, daß sie zu großen Kampfaktionen nicht mehr in der Lage seien1110. Mit Wiedfeldts Absage hatten die Direktoriumspläne Seeckts und damit auch der Schwerindustrie indes einen entscheidenden Rückschlag erlitten. Da Seeckt das Verlassen der legalen Bahnen scheute1111, geriet noch vor Wiedfeldts Nein zu- nehmend Gustav von Kahr als Hoffnungsträger ins Blickfeld der Schwerindustrie, der es in einem Akt der Rebellion zum offenen Bruch mit dem Reich hatte kom- men lassen und keine Skrupel gehabt hätte, von München aus den Marsch nach Berlin anzutreten, um dort eine nationale Diktatur zu errichten. Oswald Spengler, der in der Diktatur eines neuen Cäsaren die Vollendung des Abendlandes er- blickte1112, spielte den Mittler zwischen Kahr und Vertretern der Schwerindustrie wie Quaatz, der in der DVP zusammen mit Stinnes die Fronde gegen Stresemann

1107 Zu den unzähligen Eingaben des VSI und sächsischer Industrieller wegen eines Reichswehrein- marsches, die hier nicht alle einzeln aufgezählt werden können, vgl. das Dossier, BAB, R 1501, Nr. 113214; zur Aufforderung von Stinnes und Quaatz vgl. PA/AA, NL Stresemann 087, Frak- tionssitzung der DVP vom 12. 9. 1923. nos Vgl. Hürten, Reichswehr und Ausnahmezustand, S. 45 f.; Zusammenfassung der vom Truppen- amt vorgetragenen Beurteilung der inneren Lage vom 7.12. 1923, in: Hürten, Das Krisenjahr 1923, S. 191-196. ut" Seeckt an Wiedfeldt, 4. 11. 1923, Wiedfeldt an Seeckt, 24. 11.1923, in: AdR, Die Kabinette Strese- mann I und II, Bd. 2, S. 1215-1217. Zur Haltung Eberts vgl. Mühlhausen, Friedrich Ebert, S. 684 f. mo Vgl. Sitzung des Bundesausschusses am 16. 10. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 955-967. im Vgl. Seeckt an Kahr, 2. 11.1923, in: AdR, Die Kabinette Stresemann I und II, Bd. 2, S. 1211-1215; Meier-Welcker, Seeckt, S. 395 f. 11,2 Zu Spengler vgl. Feiken, Oswald Spengler. V. Unvergleichbare Zeiten 595 angeführt hatte, und Reusch, der aus Protest gegen den Abbruch des „passiven Widerstandes" aus der DVP ausgetreten war und schon 1922 eine „starke Regie- rung, die den Mut hat, energisch und rücksichtslos durchzugreifen", gefordert hatte1113. Stinnes hatte vermutlich schon im September in von Kahr den geeigneten Diktator gesehen1114. Mit dem Hitler-Ludendorff-Putsch am 9. November, den der bayerische Generalstaatskommissar nicht unterstützte, wie es viele Zeitgenos- sen erwartet hatten1115, zerplatzte jedoch erst einmal für längere Zeit der Wunsch- traum der deutschen Schwerindustrie durch Ausschaltung des Parlamentarismus das Rad der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung wieder weit in die Vor- kriegszeit zurückdrehen zu können. Stinnes wie vermutlich auch die große Mehrheit der (Schwer)industriellen hiel- ten Hitler selbst für einen „Phantasten"1116. Fritz Thyssen hatte zwar Ludendorff im September eine größere Geldspende zukommen lassen und sich kurz vor dem Putsch-Versuch mit Hitler getroffen. Daß er in die Putschpläne eingeweiht war, läßt sich jedoch nicht nachweisen1117. Borsig, damals noch Mitglied der DNVP, versuchte bereits 1922 zusammen mit Karl Burhenne, dem Leiter der sozialpoliti- schen Abteilung bei Siemens, Gelder zu sammeln, um Hitler in seinem Bestreben zu unterstützen, eine NSDAP-Geschäftsstelle in Berlin zu eröffnen. Hitler stand bei den Berliner Unternehmern jedoch in einem so schlechten Ansehen, daß Bor- sig seine Sammelaktion bald wieder abbrach und sich auch selbst von Hitler ab- wendete1118. In Sachsen zeigten sich die Industriellen des Vogtlandes anfällig für völkische Parolen und einige Fabrikanten und Fabrikantensöhne absolvierten Wehrübungen in den bayerischen rechtsradikalen Wehrverbänden1119. Die große Mehrheit der sächsischen Industriellen stand jedoch hinter Stresemann - zumin- dest seit er ihren unzähligen Aufforderungen, die Reichswehr in Sachsen einmar- schieren zu lassen, nachgekommen war1120. Auch nach dem Scheitern der Diktaturpläne wurde in den Presseorganen der Schwerindustrie die Ausschaltung des Parlaments zum Gebot der Stunde erho- ben. So stand in der Deutschen Bergwerks-Zeitung vom 2. Dezember 1923 zu le- sen: „Man muß jetzt, da wir schon verzweifelt um unser nacktes Dasein kämpfen, einen Schritt weitergehen, mit dem parlamentarischen Geschwätz und Getue eine Zeitlang ganz aufhören und einen bevollmächtigten Mann allein und nach bestem

I"3 Vgl. u.a. Spengler an Reinhold Quaatz, 30.10. 1923; Reinhold Quaatz an Spengler, 31. 10. 1923; Spengler an Paul Reusch, 31. 10. 1923, Spengler an Nikolaus Cossmann, 1.12. 1923, in: Spengler, Briefe, S. 282-285, 289-292; zu Reuschs Forderung nach einer starken Regierung vgl. auch RWWA, 130-30019320/2, Reusch an Silverberg, 30. 8. 1922. 1114 Vgl. Botschafter Alanson B. Houghton an Secretary of State Charles E. Hughes, 23.9. 1923, ab- gedr. in: Hallgarten, Hitler, Reichswehr und Industrie, S. 65 f. 1115 Zum Hitlerputsch und der Rolle Kahrs vgl. Dornberg, Der Hitlerputsch. 9. November 1923. 1116 Vgl. Feldman, Hugo Stinnes, S. 889. 1117 Vgl. Eglau, Fritz Thyssen, S. 87 f. nie Vgl. Brief Fritz Deterts an den Sohn von Ernst von Borsig vom 23.10. 1937, Teilabdr. in: Radant, Kriegsverbrecherkonzern Mansfeld, S. 12-15; vgl. auch Turner, Großunternehmer, S. 70 f. 1119 Vgl. SWA, NL Niethammer Nr. 497/4, Staatsminister Kaiser an Niethammer, 9.5. 1924; SHStAD, Ministerium des Innern, Nr. 11113, Dem Ministerium des Innern zur Kenntnis. Ab- schrift eines Briefes eines mittleren Justizbeamtem, der sich einige Wochen im Vogtland im Ur- laub befunden hat (18. 9. 1923). 1120 Vgl. Die Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes und die sächsische Industrie, Sächsi- sche Industrie, (Nichtamtlicher Teil) vom 8. 3. 1924, S. 93. 596 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Wissen und Gewissen handeln lassen." Geradezu freudig wurden Gerüchte über Diktaturforderungen in Frankreich aufgegriffen, um zu demonstrieren, daß auch beim linksrheinischen Nachbarn der Parlamentarismus in der Agonie lag, obwohl dort trotz der harschen Parlamentarismuskritik der französischen Industriellen und dem Diktaturgeschrei einiger nicht ernst zu nehmender Journalisten niemand an einem Sturz des parlamentarischen Systems arbeitete1121. In Deutschland blieb hingegen die parlamentarische Demokratie weiterhin durch Ermächtigungsge- setze und den am 26. September verhängten Ausnahmezustand bedroht, der dem Ruf der Industriellen nach Ruhe und Ordnung ebenso wie ihrem Bestreben nach einer zumindest partiellen Ausschaltung der Arbeiterbewegung entgegenkam. Die nationale Entrüstung über die Aufhebung des „passiven Widerstandes", die Bayern zum Vorwand für die Verhängung des Ausnahmezustandes und die Ein- setzung Gustav von Kahrs zum Generalstaatskommissar nahm, und die weitver- breiteten Putschgerüchte hatten Stresemann bekanntlich veranlaßt, beim Reichs- präsidenten die reichsweite Verhängung des militärischen Ausnahmezustandes auf der Grundlage von Artikel 48,2 der Weimarer Verfassung zu erwirken. Das von Stresemann anvisierte politische Hauptziel dieser Maßnahme konnte jedoch nicht erreicht werden: Bayern hob seinen eigenen Ausnahmezustand nicht auf, so daß in Deutschland zwei Ausnahmezustände nebeneinander existierten. Zielstre- big verfolgte die Reichswehr hingegen ihre andere Aufgabe: die „Sicherstellung der ordnungsgemäßen Fortführung der Produktion und des Verkehrswesens"1122. Eingriffe in das Wirtschaftsleben waren an der Tagesordnung und der Aufbau ei- nes besonderen Vertrauensverhältnisses zu Wirtschaftskreisen fiel nicht schwer. Die Militärbefehlshaber machten sich die Maxime der Industriellen zu eigen: „Wir müssen weiter arbeiten auf dem Wege, der zur Erhöhung der Produktion durch Mehrarbeit und Bezahlung nur der Leistung führt."1123 Zu den Scharfmachern un- ter den Militärbefehlshabern zählte der Militärbefehlshaber in Sachsen, General- leutnant Müller, der schon einen Tag nach Verhängung des Ausnahmezustandes ein Streikverbot für alle lebenswichtigen Betriebe erließ, wobei er unter lebens- wichtigen Betrieben auch Bergwerke und öffentliche Verkehrsmittel verstand1124. Nicht nur in Sachsen, auch in Berlin wurden Gewerkschaftsführer, die sich bei Streiks um eine Verständigung bemühten, „vom Verhandlungstisch weg ins Ge- fängnis geführt"1125. Von Versammlungs- und Zeitungsverboten waren nicht nur Kommunisten, sondern auch Sozialdemokraten und Gewerkschafter betrof-

1121 Exemplarisch hierfür: Der Parlamentarismus am Ende. Diktaturforderung in Frankreich? Rhei- nisch-Westfälische Zeitung vom 12. 2.1924; zu den wenigen Rufen einiger Journalisten nach einer Art Diktatur in Frankreich im Februar 1924 vgl. Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentaris- mus, S. 402, Anm. 282. 1122 Befehl des Reichswehrministers Geßler vom 27. 9.1923, in: Hürten (Hrsg.), Das Krisenjahr 1923, S. 71. 1125 Zusammenfassung der vom Truppenamt vorgetragenen Beurteilung der inneren Lage vom 7.12. 1923, in: ebenda, S. 191-197, hier S. 195. 1124 Die Verordnung Generalleutnant Müllers vom 27. 9. 1923 befindet sich in: BAB, R 1507, Nr. 67146. 1125 So Otto Wels in den Verhandlungen des Deutschen Reichstages am 20.11. 1923. Stenographische Berichte, Bd. 361, S. 12162; vgl. auch Protest der Berliner Gewerkschaften, Vorwärts vom 15. 11. 1923. V. Unvergleichbare Zeiten 597 fen1126. Teilweise wurden auch Gewerkschaftsbüros von der Reichswehr durch- sucht1127. Die sozialdemokratische Führung, die zunächst den Ausnahmezustand mitgetragen hatte, forderte bereits am 22. Oktober - noch vor der Reichsexeku- tion gegen Sachsen - die Aufhebung des Ausnahmezustandes, was Reichsinnen- minister Sollmann mit der „Gärung", die das Vorgehen der Militärbefehlshaber innerhalb der Arbeiterschaft hervorgerufen hatte, begründete1128. Weder Reichspräsident noch Reichskanzler gingen auf dieses Verlangen ein. Statt dessen entschloß sich Stresemann mit Rückendeckung Eberts am 28. Okto- ber, die Weigerung Zeigners, vom Amt des Ministerpräsidenten zurückzutreten, zum Vorwand zu nehmen, um die sächsische Regierung abzusetzen und seinen Parteifreund , der kurz vor der Revolution als königlich-sächsi- scher Ministerpräsident fungiert hatte, zum Reichskommissar zu bestellen. Strese- mann hatte sich zu diesem Schritt, der schon von zeitgenössischen Staatsrechtlern als verfassungswidrig angesehen wurde1129, nicht nur wegen des Drängens aus In- dustriellenkreisen durchgerungen, sondern auch weil er einen Rechtsputsch fürchtete, wenn die Kommunisten in Sachsen weiterhin mit am Regierungstisch saßen1130. Vermutlich konnte er auch dem Druck der Reichswehr nicht mehr standhalten, die ja ohnehin schon dabei war, Reichswehrtruppen nach Sachsen zu schicken. Die SPD wäre indes als Arbeiterpartei unglaubwürdig geworden, wenn sie Mitverantwortung für das Vorgehen der Reichsregierung gegen Sachsen über- nommen hätte. Sie stellte ein Ultimatum, in dem sie die Aufhebung des Ausnah- mezustandes, eine Erklärung, daß das Verhalten Bayerns einen offenen Verfas- sungsbruch bedeute, und die Beschränkung des Aufgabenkreises der Reichswehr auf Hilfsfunktionen im Dienste der zivilen Behörden forderte1131. Stresemann und die Mehrheit der Minister der bürgerlichen Parteien gingen bekanntlich nicht auf dieses Ultimatum ein, was am 2. November zum Austritt der SPD aus der Regie- rung führte. Obwohl ihr Ausscheiden aus der Großen Koalition die Diktaturgefahr vergrö- ßerte, konnte die SPD nicht in der Regierung verbleiben, denn die Industrie sah in der Reichsexekution eine gegen die SPD gerichtete Machtprobe, die sie ihren wirtschaftlichen und politischen Zielen näherbringen sollte1132. Die Ungleichbe- handlung Sachsens und Bayerns war darüber hinaus eine „schwere Niederlage der demokratischen Republik"1133 und der „krasseste Militarismus", der bei der

»2« Vgl. z.B. BAB, R 601, Nr. 442, Sollmann an Reichswehrminister Geßler, 14. 12. 1923. 1,27 So wurden z.B. die sozialdemokratische Dresdner Volkszeitung wie auch das Sächsische Volks- blatt verboten, weil sie den Generalstreikaufruf der Freien Gewerkschaften, der SPD und der KPD gegen die Reichsexekution gegen Sachsen abgedruckt hatten. Vgl. Sächsische Staatszeitung vom 6. 11. 1923. Π28 Vgl. Der Reichsinnenminister an Staatssekretär Kempkes, das Büro des Reichspräsidenten und die Reichsminister, 22. 10. 1923, in: AdR, Die Kabinette Stresemann I und II, Bd. 2, S. 696 f.; Der Vorwärts war schon am 15. 10. 1923 mit der Uberschrift erschienen: „Der Belagerungszustand unhaltbar". 1129 So z.B. von Hugo Preuß, vgl. Weiler, Die Reichsexekution gegen den Freistaat Sachsen, S. 164- 166; vgl. auch Die Folgen von Dresden, Vossische Zeitung vom 31. 10. 1923. ino Vgl. Parteiführerbesprechung am 29. 10.1923, in: AdR, Die Kabinette Stresemann I und II, Bd. 2, S. 870-874; vgl. auch Wright, Gustav Stresemann, S. 243. im Vgl. Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 661 f. Vgl. PA/AA, NL Stresemann 087, Fraktionssitzung am 12. 9. 1923. 1,33 So Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 264. 598 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Reichsexekution exerziert wurde1134, war eine Provokation der Arbeiterbewe- gung, von der sich eine Arbeiterpartei eindeutig distanzieren mußte, wenn sie nicht jeden Rückhalt in der Arbeiterschaft verlieren wollte. Schlimmer als die Tat- sache, daß die Absetzung der sächsischen Minister unter dem klingenden Spiel der Reichswehr erfolgte, war das Blutbad, das die Reichswehr anrichtete. Bei dem Reichswehreinmarsch in Sachsen, der bereits am 20. Oktober mit dem Einmarsch von ungefähr 60000 Soldaten begonnen hatte, kamen mindestens 39 Menschen zu Tode und Hunderte wurden verletzt1135. Allein in Freiberg starben am 27. Okto- ber 1923 29 Menschen unter dem Kugelhagel von Maschinengewehren1136. Sozial- demokratische Zeitungen, die über dieses und andere blutige Ereignisse berichte- ten, wurden verboten1137. Wie viele Quellen belegen, übertrieb Walter Fabian nicht, als er den Reichswehreinmarsch wie folgt schilderte: „Kavallerie-Attacken auf Neunjährige, mitten durch Scharen spielender Kinder. Verhaftungen über Ver- haftungen, auf jede Denunziation hin. Faustschläge ins Gesicht wehrlos Gefan- gener, Prügel mit Reitpeitschen und Koppeln. Beförderung der Verhafteten zwi- schen Pferden der Kavallerie, Verhöre mit dem Gesicht an die Wand. Hunderte von Verhafteten warten viele Tage lang, ehe sie ihrem Richter vorgeführt werden; jede Möglichkeit, einen Verteidiger zu nehmen, fehlt ihnen."1138 Insgesamt wur- den in Deutschland während des Ausnahmezustandes 3500 Menschen in „Schutz- haft" genommen, die häufig von ihren Arbeitgebern, die in Sachsen zum Teil der Reichswehr „schwarze Listen" zusteckten, denunziert worden waren1139. Die Unternehmer versuchten mit Hilfe der Reichswehr nicht nur die Kommu- nisten mundtot zu machen und aus ihren Betrieben zu entfernen, sondern jeden Widerstand in der Arbeiterschaft zu brechen. Auf einen von den sächsischen Freien Gewerkschaften, der SPD und KPD beschlossenen dreitägigen Protest- streik gegen die Reichsexekution antworteten die sächsischen Unternehmer mit

M34 So Sollmann in einer Ministerbesprechung am 29. Oktober 1923, in: AdR, Kabinette Stresemann I und II, Bd. 2, S. 880. 1135 So die Feststellungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses des sächsischen Land- tages, dem allerdings kein vollständiges Material zur Verfügung stand. Vgl. Wenzel, 1923. Die gescheiterte Oktoberrevolution, S. 259. usi Laut KPD-Angaben, denen eine Durchsicht der Tagespresse zugrunde lag, kamen während des militärischen Ausnahmezustandes in ganz Deutschland rund 200 Menschen bei Zusammenstößen mit dem Militär oder der Polizei ums Leben. Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/705/5, Militärdikta- tur in Deutschland vom 26.9. 1923-1.3. 1924. Zu den Vorgängen in Freiberg vgl. Schlüter/ Wächtler, Der Freiberger Blutsonnabend; BAB, 601, Nr. 619, Telegraphischer Bericht aus Dres- den an das Reichsministerium des Innern, eingegangen am 30. 10. 1923 im Büro des Reichspräsi- denten. Dort wurde die Zahl von 50 Toten genannt, die aber zu hoch gegriffen ist. 1137 So z.B. die Dresdner Volkszeitung, die am 17. 11. 1923 mit der Uberschrift erschienen war: „Im besetzten Sachsen! Wie die Reichswehr Ordnung schafft - Bisherige Ergebnisse: 34 Tote, 110-130 Verwundete. Vgl. auch SHStAD, Sächsische Staatskanzlei Nr. 128, Bericht des Polizeipräsidiums Dresden vom 22. 11. 1923. Π38 Fabian, Klassenkampf um Sachsen, S. 171; zu den unrechtmäßigen und brutalen Übergriffen der Reichswehr vgl. die zahlreichen Dokumente in SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11115 und Nr. 11116, sowie die Ausführungen von in der Reichstagssitzung am 22.11.1923, Stenographische Berichte, Bd. 361, S. 12219-12221; Stellungnahme der sächsischen Regierung zu den Gewalttätigkeiten der Reichswehr vom 10.12.1923 und Kriegstagebuch des II. Bataillons des 4. Infanterieregiments für die Zeit vom 20.10. bis 30.11. 1923, S. 570-574 und 576-581. 113« Vgl. Hürten, Reichswehr und Ausnahmezustand, S. 41; SAPMO-BArch, RY 1 1/3/9/73, Bericht über das Verhalten der Reichswehr im Bezirk Erzgebirge-Vogtland vom 11. 11. 1923; Lipinski, Der Kampf um die politische Macht in Sachsen, S. 75. V. Unvergleichbare Zeiten 599 einer Massenaussperrung, so daß der Streik, der wahrscheinlich auch wegen der erschwerten Verteilung der Flugblätter nur punktuellen Widerhall gefunden hatte1140, nach einem Tag abgebrochen wurde, was offiziell mit der Wahl der sozi- aldemokratischen Minderheitsregierung Fellisch, durch die Sachsen wieder eine verfassungsmäßige Regierung hatte, begründet wurde1141. Zahlreiche Arbeiter wurden nicht wieder eingestellt, allein in Chemnitz 2500. Die Sächsische Indu- strie, die Zeitung des VSI, pries die Leistungen der Reichswehr in geradezu provo- kanter Weise: „Wenn in den Verhältnissen jetzt seit längerer Zeit ein grundlegen- der Wandel eingetreten ist, wenn wir heute sehen, wie die Fabriken, die zum gro- ßen Teil mit Rücksicht auf die Unruhen zum Erliegen gekommen waren, wieder voll arbeiten und wenn in vielen Betrieben im Einverständnis mit der Arbeiter- schaft sogar wieder täglich 9-10 Stunden gearbeitet wird, so ist dies ein Wechsel der Dinge, der [...] allein dem energischen Eingreifen der Regierung Stresemann und dem Wirken der Reichswehr zu verdanken ist." Von der Reichswehr „unbe- rechtigterweise ausgeteilte Knuffe" wögen „federleicht gegenüber Mißhandlun- gen, die von kommunistischen Hundertschaften gegen friedliche Bürger verübt" worden seien1142. Ähnlich äußerte sich auch der Bergbauliche Verein zu Zwickau, der dem Reichsinnenminister vor Augen führte, daß das von den Gewerkschaften abgeschlossene Mehrarbeitsabkommen nur deshalb durchgeführt werde, weil die Führer der Kommunisten in „Schutzhaft" säßen1143. Der Dank der sächsischen Unternehmer an die Reichswehr war so groß, daß sie diese mit großzügigen Geld- spenden und Geschenken bedachten1144. Das Zusammenspiel zwischen Indu- striellen und Reichswehr, um den Widerstand der Arbeiterbewegung zu brechen, war kein sächsisches Unikum, aber hier ausgeprägter als anderswo. Das Hauptziel der Reichswehr wie auch der sächsischen Unternehmer war die Wiederherstellung eines Repressionsapparates, der bei Streiks für „Ruhe und Ordnung" sorgte und den Schutz der Arbeitswilligen sicherstellte. Der Verband Sächsischer Industrieller widersetzte sich vehement einer Aufhebung des Ausnah- mezustandes, bevor nicht der sächsische Polizeiapparat gemäß den Vorschlägen des Wehrkreiskommandos IV umgestaltet und der personelle „Säuberungspro- zeß" abgeschlossen war. Des weiteren bestand er darauf, daß der Sozialdemokrat Bernhard Menke nicht wieder Polizeipräsident von Dresden werden durfte. Re- gierungskommissare, die bei Streiks eine Schlichterrolle übernommen und das Eingreifen der bewaffneten Macht zu vermeiden versucht hatten, sollten vom Dienst enthoben bleiben, zumindest aber auf keinen Fall mehr Einfluß auf die Po- lizei nehmen dürfen. Die sächsische Polizei sollte darüber hinaus nicht mehr dem Innenminister unterstehen, sondern einem „bürgerlichen Kommissar"1145. Im

1140 So hatte die Leipziger Volkszeitung nur durch das Leipziger Tageblatt Kenntnis von dem Streik bekommen. Vgl. Dreitägiger Generalstreik, Leipziger Volkszeitung vom 30. 10. 1923. i»' Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/9/73, KPD, Bezirk Erzgebirge/Vogtland an Zentrale, 1.11. 1923; SHStAD, Sächsische Staatskanzlei Nr. 311, Besprechung in der Staatskanzlei unter Vorsitz von Ministerpräsident Fellisch am 5.11. 1923. 1142 Die Hetze gegen die Reichswehr, Sächsische Industrie Nr. 64 vom 22. 12. 1923, S. 736. 1143 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113448, Bergbaulicher Verein zu Zwickau an Reichsministerium des Innern, 16. 2. 1924. π« Vgl. PA/AA, NL Stresemann Nr. 088, DVP, Leipzig, Frank, an Stresemann, 3. 12. 1923. »« Vgl. Β AB, R 1501, Nr. 113448, VSI an Jarres, 21. 2.1924. Vgl. auch VSI, Sachsens industrielle Pro- duktion unter sozialistisch-kommunistischem Terror. Die Tätigkeit der Regierungskommissare; 600 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen letzteren Punkt konnte sich der VSI nicht durchsetzen, während ansonsten die Reichswehr ganz im Sinne der sächsischen Industriellen ohne Rücksicht auf rechtsstaatliche Schranken die in Sachsen betriebene personelle Erneuerung des Polizeiapparates wieder rückgängig gemacht hatte. Offiziell ließ das Wehrkreis- kommando verlauten, daß die Polizei auf eine „überparteiliche Grundlage" ge- stellt worden sei1146. Wenn die Reichswehr betonte, daß ein Verzicht auf den mili- tärischen Ausnahmezustand erst dann in Frage komme, wenn die Staatsautorität gefestigt sei, so war damit vor allem der Aufbau eines Polizeiapparates in Sachsen, der bei Streiks keine Skrupel kannte, gegen Arbeitnehmer auch mit Gewalt vorzu- gehen, gemeint1147. Die Aufrufe und Eingaben der Gewerkschaftsverbände, der SPD und später auch der DDP, den die rechtsstaatliche Demokratie gefährdenden Ausnahmezu- stand aufzuheben, waren Legion. Sie fanden zunächst weder Gehör bei Ebert noch bei dem seit dem 30. November amtierenden bürgerlichen Minderheitskabi- nett unter dem Zentrumspolitiker , der selbst auf eine Reichstags- auflösung und ein Regieren mit Artikel 48 spekulierte1148. Erst am 13. Februar 1924 entschied Seeckt, Anfang März den militärischen Ausnahmezustand aufzu- heben1149. Der politisch am rechten Rand der DVP stehende Reichsinnenminister Karl Jarres, der mit dem Ubergang vom militärischen zum zivilen Ausnahmezu- stand am 1. März mit besonderen Vollmachten für die Abwehr eines politischen Umsturzes ausgestattet wurde, die ihm die Einschränkung der persönlichen Grundrechte und die Verhängung von „Schutzhaft" ermöglichten, stand indes der Reichswehr in dem Bestreben, Kommunisten zu bekämpfen und Streiks zu unter- drücken, um nichts nach. In der Zeit, als die großen Arbeitskämpfe um den Acht- stundentag tobten, rief Jarres eine sogenannte Zentralkommission ins Leben, de- ren Aufgabe es war, durch die „Bildung antikommunistischer Betriebszellen" Streiks niederzuschlagen. Die Leitung und Organisation dieser Kommission oblag Friedrich Kienzl, der im Ruhrgebiet schon an der Organisation des aktiven Widerstandes gegen die Besatzungsmacht beteiligt gewesen war. Bei dem großen Streik gegen die Einführung des Neunstundentages bei der BASF in Ludwigsha- fen im Frühjahr 1924 wandte Kienzl, der der Vertrauensmann General von Loß- bergs, des Militärbefehlshabers des Wehrkreises VI, gewesen war, erstmals seine Taktik an1150. Bis Anfang 1925 erhielt er finanzielle Unterstützung von führenden Industriellen, die sich dann aber langsam von ihm abwandten, denn zum einen war die kommunistische Betriebszellenbewegung weitaus weniger gefährlich als

Die Aufhebung des militärischen Ausnahmezustandes und die sächsische Industrie, Sächsische Industrie Nr. 10 vom 8. 3. 1924, S. 91-93. 1146 BAB R 601, Nr. 442, Wehrkreiskommando IV, Generalleutnant Müller, an die Regierung des Freistaates Sachsen, 14. 11. 1923 (Abschrift); Wehrkreiskommando IV, Generalleutnant Müller, an die sächsische Staatspolizeiverwaltung, 20.11. 1923, in: Hürten, Das Krisenjahr 1923, S. 155 f. 1147 Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113450, Notiz des Reichsministeriums des Innern betr. Aufhebung des mi- litärischen Ausnahmezustandes vom 18. 2. 1924; ebenda, Wehrkreiskommando IV, Generalleut- nant Müller, an Geßler, 4. 2. 1924. ine Vgl. Zusammenfassung der vom Truppenamt vorgetragenen Beurteilung der inneren Lage, in: Hürten (Hrsg.), Das Krisenjahr 1923, S. 191-197, hier S. 196. 1149 Vgl. Seeckt an Ebert, 13. 2. 1923, abgedr. in: Vossische Zeitung vom 14. 2. 1924. »so Vgl. RWWA, 130-4001012024/2, Blank an Reusch, 14. 5. 1925; zur Tätigkeit Kienzls im aktiven Widerstand vgl. Krüger, „Ein Fanal des Widerstandes im Ruhrgebiet", S. 101. V. Unvergleichbare Zeiten 601 gedacht, zum anderen schlossen sich nur wenige Arbeiter den antikommunisti- schen Betriebszellen, die bald schon dazu übergingen, auch die Gewerkschaften zu bekämpfen, an, und zum dritten waren ihre Erfolge bei der Streikunterdrük- kung, die selbst der Reichswehr nicht gelungen war, in den meisten Gegenden bescheiden1151. Die Reichswehr hatte zwar als politischer und wirtschaftlicher Krisenmanager eng mit den Industriellen zusammengearbeitet und deren Pläne für eine Kehrt- wende in den industriellen Beziehungen unterstützt, das Ausbrechen großer Ar- beitskämpfe und Lebensmittelunruhen hatte sie aber trotz aller Streik- und Demonstrationsverbote nicht verhindern können, so daß Seeckt Anfang 1924 die Militärbefehlshaber anwies, dafür zu sorgen, daß die Arbeitgeberseite den „Bo- gen" nicht „überspannt"1152. Seeckt war offensichtlich nicht entgangen, daß die Verzweiflung bei den Menschen so groß war, daß zumindest ein Teil der Arbeiter auch den Einsatz der Reichswehr nicht mehr fürchtete. Es waren nicht wenige Menschen, bei denen die Einstellung vorherrschte: „Wir haben nichts mehr zu verlieren, als nur noch unser hungerndes Dasein; wenn man gegen demonstrie- rende Hungernde rohe Gewalt einsetzen will, dann soll man es tun und auch die Verantwortung dafür übernehmen."1153 Diese und ähnliche Äußerungen spiegeln nicht nur die Verzweiflung von Menschen, bei denen tatsächlich nur die nackte Existenz auf dem Spiele stand, sondern auch den vollkommenen Vertrauensver- lust in den demokratischen Staat, der wie schon 1919 mit dem Ausnahmezustand und Ermächtigungsgesetzen regierte, denen selbst die Arbeiterpartei SPD zu- stimmte, um die „Diktatur des Säbels" und ein einseitiges Diktat der Unterneh- mer zu verhindern1154.

4. Der Staat als Rettungsanker? Abwehrkämpfe gegen Unternehmerdiktate und Staatsintervention In allen Ländern, einschließlich Frankreichs, war den Unternehmern der Acht- stundentag ein Dorn im Auge, aber nur in Deutschland avancierte der Streit um den Achtstundentag zu einem Politikum ersten Ranges, denn nur hier verbanden die Unternehmer einseitige Arbeitszeitdiktate mit Erpressungsversuchen gegen- über dem Staat. Nur hier wurde die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitrege- lung zur Koalitions- und politischen Machtfrage hochgespielt. Es muß hier nicht länger ausgeführt werden, daß der Streit um die Arbeitszeitfrage am 3. Oktober 1923 zum Scheitern des ersten Kabinetts Stresemann führte. Die SPD-Minister waren zwar dem Drängen der Unternehmer und der DVP nach Mehrarbeit im

Vgl. RWWA, 130-4001012024/2, Niederschrift über eine Besprechung betreffend die Organisa- tion Kienzl am 13. 5.1925; vgl. auch die zahlreichen Schreiben in: BÄK, NL Jarres Nr. 74 und 75. Jarres bemühte sich noch 1926 um eine Unterbringung Kienzls in der Gelsenkirchener Berg- werksgesellschaft. 1152 Befehl des Chefs der Heeresleitung, Seeckt, vom 9.1. 1924, in: Hürten (Hrsg.), Das Krisenjahr 1923, S. 237f.; vgl. auch Denkschrift des Reichswehrministeriums über den Ausnahmezustand, in: ebenda, S. 334-362, hier S. 360. "53 Vgl. SHStAD, Sächsische Staatskanzlei Nr. 128, Bericht der KH Bautzen vom 16.10. 1923. ι·54 So Breitscheid in der Reichstagssitzung am 8.10.1923, Verhandlungen des Reichstages, Stenogra- phische Berichte, Bd. 361, S. 11954 f. 602 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Bergbau weit entgegengekommen, aber die SPD-Fraktion hatte, als ob sie Stinnes' Forderung nach einer Rückkehr zur Vorkriegsarbeitszeit per Verordnung vorge- ahnt hätte, es abgelehnt, einem Ermächtigungsgesetz zuzustimmen, das auch eine Neuregelung sozialpolitischer Bereiche und damit der Arbeitszeitfrage auf dem Verordnungsweg zuließ1155. Nachdem die führenden Köpfe der Koalitionspar- teien sich geeinigt hatten, die Arbeitszeitfrage und die Leistungen der Sozialversi- cherung aus dem Ermächtigungsgesetz auszuklammern, und einmütig der Ein- führung der Achtstundenschicht im Bergbau und der Möglichkeit der gesetz- lichen oder tariflichen Überschreitung des Achtstundentages, der weiterhin als Normalarbeitstag gelten sollte, in anderen Industriesektoren zugestimmt hatten, stand bereits am 6. Oktober der Bildung eines neuen Kabinetts Stresemann nichts mehr im Wege. Die SPD-Fraktion hatte dieser Regelung freilich nur zugestimmt, weil sie fürchtete, daß ohne diese „legale Diktatur" die offene Gewalt ausbräche, und weil die Unnaer Beschlüsse der Zechengewaltigen ihr vor Augen geführt hatten, daß die Unternehmer sich stark genug fühlten, auch ohne gesetzliche Regelung den Achtstundentag einseitig aufzuheben1156. Auf einer Versammlung von Bergwerks- direktoren in Unna-Königsborn am 30. September war bekanntlich nicht nur ein Schiedsspruch, der eine Lohnerhöhung von 75 Prozent vorsah, abgelehnt worden, sondern auch durch ein einseitiges Diktat festgelegt worden, daß ab dem 8. Okto- ber wie in der Vorkriegszeit eine achteinhalbstündige Schicht zu verfahren war1157. Das war ein Bruch der geltenden Tarife und Gesetze, den sich die Zechengesell- schaften in Frankreich, die - ohne Erfolg - auf gesetzlichem Weg eine Erhöhung der Arbeitszeit, die im Bergbau dort acht Stunden, einschließlich Ein- und Aus- fahrt, betrug, erstrebten, angesichts der zu erwartenden staatlichen Reaktionen nicht erlaubt hätten. Auch die französischen Arbeitgeber in anderen Industriesek- toren, wo es keine tarifvertraglichen Regelungen gab und der Staat untätig blieb, starteten keinen Frontalangriff gegen den Achtstundentag, sondern versuchten durch eine einseitige Auslegung der unzähligen Ausnahmeregelungen ihr Ziel, eine Arbeitszeitverlängerung zu erreichen, dem sich dort auch keine starken Ge- werkschaften oder eine kompetente Gewerbeaufsicht entgegenstellten1158. In Deutschland sah es zunächst so aus, als ob die stark geschwächten Gewerk- schaften mit Unterstützung der Regierung in der Lage seien, die Offensive der Ze- chenbarone abzuwehren. Der Alte Verband hatte die Arbeiter aufgefordert, nach sieben Stunden auszufahren, und Stresemann hatte auf Stinnes' ultimativ vorge- brachte Anfrage, ob die Reichsregierung die MICUM-Verhandlungen durch ihre Zustimmung zu einer Arbeitszeitverlängerung auf achteinhalb Stunden im besetz- ten und unbesetzten Gebiet und durch eine sofortige Beseitigung der Demobil- machungsverordnungen unterstütze, geantwortet, daß bis zur Verabschiedung des geplanten Arbeitszeitgesetzes die gesetzliche Arbeitszeitregelung in Geltung

Π55 Vgl Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 631 f. 1156 So der SPD-Fraktionsvorsitzende Hermann Müller, vgl. Aufzeichnung der Besprechung der Führer der Koalitionsparteien beim Reichskanzler, in: AdR, Die Kabinette Stresemann I und II, S. 485, Anm. 3. 1157 Der Beschluß der Versammlung der Bergwerksdirektoren vom 30. 9. 1923 ist abgedr. in: Speth- mann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 3, S. 378 f. Iis« Vgl. Viertes Kapital, VI, 3. V. Unvergleichbare Zeiten 603

bleibe1159. Stinnes mußte die Schlacht zunächst einmal verloren geben, denn ange- sichts des Widerstandes von Gewerkschaften und Regierung waren viele Berg- werksdirektoren nicht bereit, das Diktat, dem ohnehin nicht alle vorbehaltlos zu- gestimmt hatten, in die Praxis umzusetzen1160. Die Taktik der Betriebsstillegungen, die die Arbeiter dem Hunger aussetzte und dadurch mürbe machte, war effizienter. Am 24. Oktober kündigte der Zechenver- band durch Anschlag die Stillegung der Zechen noch in derselben Woche an, ob- wohl dies gegen die Verordnung über die Neuregelung der Bestimmungen über Stillegung und Arbeitsstreckung vom 15. Oktober 1923 verstieß, die groß ange- legte Stillegungsaktionen der Unternehmer hatte verhindern sollen. General Dé- goutté verbot zwar die geplante Massenentlassung, war aber machtlos gegen die „wilden" Betriebsstillegungen, durch die insbesondere im Raum Duisburg, Ham- born und Dortmund die Arbeiter auf die Straße geworfen worden waren1161. In der Eisen- und Metallindustrie hatte die Regierung bereits am 23. Oktober einer Petition von Arbeitnordwest Rechnung getragen, unproduktive Werke schließen zu können. Am 7. November beschloß der Vorstand von Arbeitnordwest, daß die Betriebe nur wiedereröffnet werden dürften, wenn ein zehnstündiger Arbeitstag akzeptiert werde. Auch Kurzarbeit war zugelassen, nicht jedoch ein Arbeitstag von acht Stunden1162. Am 17. November, dem Tag, an dem die Demobilma- chungsverordnung außer Kraft gesetzt wurde, beschloß Arbeitnordwest, alle Ar- beiter solange auszusperren, bis sie ihre Bereitschaft, zehn Stunden täglich zu ar- beiten, erklärten1163. Drei Wochen später bedrohte der Verband jedes Mitglied, das ein Dreischichtensystem einführte, mit Strafe1164. Das war eine Reaktion auf ein Sonderabkommen, das die Gruppe Otto Wolf mit ihren Beschäftigten geschlossen hatte, die weiterhin in den Vorteil der Achtstundenschicht kommen sollten. Nach Außerkraftsetzung der Demobilmachungsverordnung gingen die Zechenbarone erneut zum Angriff über. Die Bergarbeiter konnten am Aushang lesen, daß die Ze- chen ab 30. November geschlossen bleiben: „Sobald sich die Möglichkeit bietet, den Betrieb wieder zu eröffnen, werden Einstellungen entsprechend dem Absatz erfolgen."1165 Die Zechengesellschaften der Braunkohlenindustrie folgten dem Beispiel der Ruhrkohlenbarone. Sie kündigten den gesamten Belegschaften zum Jahresabschluß, nachdem ihr Versuch, durch betriebliche Vereinbarungen das Zweischichtensystem wieder einzuführen, nicht den gewünschten Erfolg ge- bracht hatte1166.

1159 Der Briefwechsel zwischen Stinnes und Stresemann vom 7. bzw. 12. 10.1923 ist abgedr. in: Speth- mann, Zwölf Jahre Ruhrbergbau, Bd. 3, S. 171-174. neo Vgl. Fischer, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, S. 102-104. '"> Vgl. Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt, S. 279-291; SAPMO-BArch, 1 /I/3/18-19/11, Bezirksleitung der KPD Ruhrgebiet, Bericht vom 24.10.1923. M62 Vgl. Bericht des GHH-Direktors Crull über die Arbeno-Vorstandssitzung in Essen am 7. 11. 1923, in: Feldman/Homburg, Industrie und Inflation, S. 362-365. »« Vgl. RWWA, 130-3001100/18, Sitzung der Lohnkommission der Arbeno am 17.11. 1923. 1164 Vgl. Aufzeichnung des GHH-Direktors Crull über die erweiterte Vorstandssitzung der Arbeno in Essen am 7. 12. 1923, abgedr. in: Feldman/Homburg, Industrie und Inflation, S. 366-368. 1165 Zit. nach Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 209. 1166 Vgl. BAB, R 3901, Nr. 32918, Bericht des Deutschen Braunkohlenindustrievereins über das Ge- schäftsjahr 1. April 1923 bis 31. März 1924, S. 48; im Bornaer Revier waren bereits Mitte Dezem- ber alle Bergarbeiter entlassen worden, die nur acht Stunden arbeiteten. Vgl. StAL, AH Borna Nr. 2875, Bericht des Amtshauptmannes von Borna vom 22. 12. 1923; StAL, BKW Borna 604 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Stinnes hatte bereits am 14. November in einem Brief an Reichsfinanzminister Luther gedroht: „Es gibt große Werke, die entschlossen sind, im Selbsterhaltungs- trieb und im Interesse der Angestellten und Arbeiter den Betrieb überhaupt nicht wieder anders zu eröffnen, als wenn die Vorkriegsarbeitszeit wiedereingeführt wird." Er forderte die Reichsregierung auf, mittels des Ermächtigungsgesetzes eine Verordnung zu erlassen, die diesem Verlangen Rechnung trug1167. Daß Stin- nes' Drohung keine leere war, stellten einige Zechen und Betriebe auch sogleich unter Beweis. Auf den Thyssen-Zechen, auf denen bereits seit dem 12. November keine Schichten mehr verfahren wurden, mußten die 75 Prozent der Bergarbeiter, die eine Einladung zur Wiederaufnahme der Arbeit erhalten hatten, ein Revers unterschreiben, in dem sie sich mit der Arbeitszeitverlängerung und einem Lohn- abbau auf zwei Drittel des Friedenslohnes einverstanden erklärten. 5200 Bergleute hatten ihr Einverständnis gegeben, von denen ein Teil die Arbeit wieder nieder- legte, als der Alte Verband sein Veto einlegte1168. Bei den Kumpels machte sich Haß, Verbitterung und Verzweiflung breit. Alexander Stenbock-Fermor, der „rote Graf", der damals auf einer Thyssen-Zeche arbeitete, faßte die Stimmung in die Worte: „Kein Zechenbesitzer hätte sich blicken lassen können, er wäre ge- lyncht worden."1169 Die Direktion der Gutehoffnungshütte schickte Ende No- vember die Meister in die Wohnungen der Arbeiter, um ihnen eine Unterschrift abzunötigen, mit der sie einwilligten, die Vorkriegsarbeitszeit anzuerkennen1170. Zunächst schien die Rechnung der Arbeitgeber aufzugehen: Die Zahl der Hütten- arbeiter, die das Zweischichtensystem akzeptierte, wuchs. Daß die Gewerkschaften keinen Widerstand mehr gegen eine solche Form eines einseitigen Unternehmerdiktats leisteten, verweist darauf, daß sie sich mittler- weile in einer Ohnmachtssituation befanden, die der der französischen Gewerk- schaften nicht unähnlich war. Dißmann wollte zwar Mitte Oktober vor der An- wendung äußerster Kampfmittel nicht zurückschrecken, mußte aber doch einräu- men, daß die 350000 Mitglieder des DMV im besetzten Gebiet fast alle arbeitslos waren1171. Somit war an einen Generalstreik überhaupt nicht zu denken. Selbst die KPD-Zentrale hatte den Vorsitzenden der Gruppe Bergbau der Union der Hand- und Kopfarbeiter zurückgepfiffen, als er nach dem Bekanntwerden des Unnaer Diktats zum Generalstreik hatte blasen wollen1172. Auch die Kampfwaffe der Fa- brikbesetzungen, die die Kommunisten im besetzten Gebiet einsetzen wollten, schien der KPD-Führung wie auch Radek als zu gefährlich, denn die Zerschla- gung der kommunistischen Bewegung wäre die wahrscheinliche Folge gewe- sen1173. Der Vorsitzende des Bauarbeiterverbandes des ADGB Paeplow brachte

Nr. 165, Rundschreiben des Arbeitgeber-Verbandes der Bornaer Braunkohlenwerke und des Arbeitgeber-Verbandes der Grimmaer Braunkohlenwerke vom 10.12. 1923. "" ACDP, 1-220-046/3, Stinnes an Luther, 14. 11. 1923; vgl. auch Ludwig Grauert, Eine Forderung der Stunde, Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 14.12. 1923. 1168 Vgl. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 214 f. 1169 Stenbock-Fermor, Der rote Graf, S. 189. 1170 Vgl. Oberhausener Zeitung vom 30.11.1923, abgedr. in: Langer, Kampf um Gerechtigkeit, S. 320. 1171 Vgl. Sitzung des Bundesausschusses am 16. 10. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 960-962. ii« Vgl. GStA, I HA, Rep. 77, Tit. 4043, Nr. 271, Nachrichtenblatt Nr. 104 vom 15. 2. 1924. 1173 Vgl. Radek an Sinowjew und die Mitglieder des Politbüros der KPdSU, 23.11.1923, in: Bayerlein u.a. (Hrsg.), Deutscher Oktober 1923, S. 384-386. In Gelsenkirchen kam es allerdings trotz der V. Unvergleichbare Zeiten 605 die Situation der Arbeiterbewegung auf den Punkt: „Es ist unser Verhängnis, daß wir heute, wo wir die schärfsten Mittel anwenden müßten, zu schwach dazu sind."1174 Die Schwäche der Gewerkschaften war nicht nur eine Folge der Aufzehrung des finanziellen Vermögens durch die Inflation. Vor allem die hohe Zahl der Kurzarbeiter und Vollerwerbslosen, die durch die Betriebsstillegungen stark er- höht wurde, machte die Gewerkschaften kampfunfähig. Die Zahl der kurzarbei- tenden Gewerkschaftsmitglieder lag im Oktober 1923 bei 47,3 Prozent, die der erwerbslosen stieg von 19,1 Prozent im Oktober auf 28,2 Prozent im Dezem- ber1175. Die Zahl der bei den Arbeitsnachweisen gemeldeten Arbeitslosen schnellte im gleichen Zeitraum von 1,3 Millionen auf über zwei Millionen hoch. Mit über 60 Prozent Arbeitslosen nahmen Hamburg und Sachsen eine Spitzen- position ein1176. Streiks gab es angesichts dieses Arbeitslosenheeres nur noch sel- ten. Hungerproteste und Lebensmittelunruhen, die ab Mitte Oktober insbeson- dere im besetzten Gebiet, wo die Anpassung der Lohnsicherung an die niedrigen Unterstützungssätze der allgemeinen Erwerbslosenfürsorge für großen Unmut gesorgt hatte, den „Charakter von Volksaufständen" trugen1177, waren hingegen an der Tagesordnung1178. Die sozialen Konflikte drohten zu explodieren und erforderten ein schnelles Handeln der Regierung, die nicht allein der Pressionen der Industriellen wegen ei- nen sozialpolitischen Kurs einschlug, der die Lasten der Stabilisierung nicht nur, aber doch vor allem den Arbeitnehmern aufbürdete. „Bayern, Belagerungszu- stand, Ermächtigungsgesetz, Arbeitszeitgesetz, alles gehört logisch zusammen", „planmäßig" sei das „Vorgehen der Gegner", klagte Robert Dißmann in der Bun- desausschußsitzung des ADGB am 17. Oktober und unterstellte eine Interessen- identität von Unternehmern und Regierung1179. Tatsächlich war während der Zeit des Verordnungsregimes der Einfluß der Gewerkschaften auf die Regierungspoli- tik nur gering, und eine Übereinstimmung zwischen Regierung, einschließlich dem Reichsarbeitsminister, und der Arbeitgeberseite in wirtschaftlichen und so- zialen Fragen nicht zu übersehen. Das Plädoyer für einen sanitären Maximalar- beitstag, der Arbeitszeitverlängerungen nur bei schwerer oder gesundheitsgefähr- dender Arbeit ausschloß, das Eintreten für die Achtstundenschicht im Bergbau, für Lohnabbau und eine stärkere Lohndifferenzierung1180, die Einführung der Pflichtarbeit für Erwerbslose1181, die Streichung von Erwerbslosenunterstützung

anders lautenden Weisungen der KPD-Zentrale zu Zechenbesetzungen. Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/18-19/12, Bericht Ruhrgebiet, eingegangen in der KPD-Zentrale am 17.12. 1923. 1174 Sitzung des Bundesauschusses am 16.10. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Ge- werkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 966. >'« Vgl. Jahrbuch des ADGB 1923, S. 47. 1176 Vgl. Feldman, Great Disorder, S. 766. 1177 So Hartewig, Das unberechenbare Jahrzehnt, S. 239. i'7» Vgl. GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 208, Rundschreiben des Preußischen Ministeriums des Innern vom 29. 10. 1923; vgl. auch Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und der Berg- behörden für das Jahr 1923 und 1924, Bd. 1, S. 1.546. 1179 Sitzung des Bundesausschusses am 17.10. 1923, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Ge- werkschaftsbewegung, Bd. 2, S. 977. neo Vgl. Ministerratssitzung am 1.10. 1923, in: AdR, Die Kabinette Stresemann I und II, Bd. 1, S. 428 f. "»ι Vgl. Führer, Arbeitslosigkeit, S. 379. 606 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen für Arbeitnehmer, die sich weigerten, Mehrarbeit zu leisten1182, kam den Arbeit- geberwünschen weit entgegen. Und nicht zuletzt exerzierte der Staat als Arbeit- geber vor, wie die von den Unternehmern schon seit langem erstrebte Entlassung unproduktiver Kräfte ohne menschliche Rücksichtnahme durchgeführt werden konnte. Die Personalabbauverordnung vom 27. Oktober 1923 führte zu einer für die Arbeitgeberseite geradezu beispielgebenden Reduzierung der Staatsbedienste- ten. 16,3 Prozent der Beamten, 49,7 der Angestellten und 32,9 der Arbeiter wur- den aus dem Reichsdienst entlassen1183. Auch die Kommunen versuchten ihren städtischen Haushalt zu konsolidieren. Allein in Berlin fielen 25 Prozent der Be- schäftigten dem verordneten Personalabbau zum Opfer1184. Auch der Staat warf vorrangig Beschäftigte auf die Straße, die sich durch ihr gewerkschaftliches Enga- gement mißliebig gemacht hatten1185. Zugleich wurde die Wochenarbeitszeit im öffentlichen Dienst von 48 auf 54 Stunden erhöht und die Löhne blieben weit unter dem Reallohnniveau der Vorkriegszeit1186. Dennoch war die Stunde der Exekutive keine Stunde der Reaktion. Denn an- ders als in Frankreich konnte die Exekutive in Deutschland einen Rückfall der industriellen Beziehungen in die in der Vorkriegszeit vielfach üblichen Unter- nehmerdiktate verhindern. Allem Protest der Freien Gewerkschaften zum Trotz sicherten die Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 und die Arbeits- zeitverordnung vom 21. Dezember 1923 das Tarifvertragsprinzip und die Aner- kennung der Gewerkschaften als Tarifpartner. Die Arbeitszeitverordnung sank- tionierte nicht, wie von der Schwerindustrie gewollt, die zehnstündige Arbeits- zeit, sondern hielt am Prinzip des Achtstundentages fest, ließ aber für erwach- sene Arbeitnehmer die tarifvertragliche Vereinbarung von Mehrarbeit bis zu zwei Stunden zu, sofern „regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereit- schaft" vorlag, und erleichterte den Übergang zum Zehnstundentag durch die Möglichkeit einer Kündigung der Tarifverträge innerhalb einer Frist von drei Tagen. Im Bergbau sowie bei Beschäftigten, „die unter besonderen Gefahren für Leben oder Gesundheit arbeiteten", durfte die achtstündige Normalarbeitszeit nicht überschritten werden1187. Nur an 30 Tagen im Jahr konnte die Betriebslei- tung lediglich nach Anhörung der gesetzlichen Betriebsvertretung Überstunden anordnen. Wenn auch SPD und Freie Gewerkschaften die Aufhebung der Ar- beitszeitverordnung verlangten, so verteufelte die Führungsspitze des ADGB sie keineswegs völlig in Grund und Boden. Schon der laute Einspruch der Arbeitge- berseite, die über Betriebsverträge den Zehnstundentag hatte durchsetzen wol- len, ließ Leipart erkennen, daß durch die Verordnung der Tarifvertragsgedanke

u«2 Vgl. Feldman/Steinisch, Die Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschaftsstaat, S. 408. i'83 Vgl. Sühl, SPD und öffentlicher Dienst, S. 100. Vgl. Engeli, Gustav Böß, S. 70. lies Vgl. Sühl, SPD und öffentlicher Dienst, S. 98, und Verband der Gemeinde- und Staatsarbeiter, Filiale Berlin, Bericht über das Geschäftsjahr 1923, S. 25. '"» Vgl. Kabinettssitzung am 14.12. 1923 und 10. 1. 1924, in: AdR, Die Kabinette Marx I und II, Bd. 1, S. 105 und S. 219. 1,87 RGBl. 1923 I, S. 1249-1251; die Verordnung ist auch abgedr. in: Bischoff, Arbeitszeitrecht in der Weimarer Republik, S. 198-202. V. Unvergleichbare Zeiten 607 gefestigt wurde1188. Der ADGB gab dann auch die Devise aus: „Keine Mehrar- beit ohne Tarifvertrag"1189. Obwohl die Gewerkschaften und noch vehementer die Arbeitgeber die Tarif- autonomie verteidigten, wäre in Deutschland Ende 1923/Anfang 1924 kaum mehr ein Tarifvertrag zustande gekommen, hätte es nicht die Schlichtungsverordnung vom 30. Oktober 1923 gegeben, die in Paragraph 6 auch die Möglichkeit der Ver- bindlichkeitserklärung eines Schiedsspruches vorsah, „wenn die in ihm getroffene Regelung bei gerechter Abwägung der Interessen beider Teile der Billigkeit ent- spricht und ihre Durchführung aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen erfor- derlich ist"1190. Diese Form der autoritären Konfliktlösung wurde von Ernst Fraenkel, vor 1933 Syndikus des Deutschen Metallarbeiterverbandes, als eine „Art Vorbote der Notverordnungspraxis" der Endphase der Weimarer Republik inter- pretiert. Ein „letzte[s] Aushilfsmittel zwecks Meisterung schier auswegsloser Kri- sensituationen" sei zu einer „regelmäßigen und regulären Methode der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt" geworden1191. Die Schlichtungsverordnung mochte obrigkeitsstaatlichen Traditionen Vorschub leisten, in der Krisensituation des Jah- res 1923 sicherte sie das kollektive Arbeitsrecht, die Anerkennung der Gewerk- schaften und ihre Mitbestimmung bei der Regelung wirtschaftlicher und sozialer Fragen. In einer Zeit, in der die deutschen Arbeitgeber für die Wiedereinführung von Betriebsvereinbarungen kämpften und deswegen auch wiederholt bei Ar- beitsminister Brauns vorstellig wurden1192, in einer Zeit, in der die VDA vor einer „Uberspannung des Tarifvertragswesens" warnte und Ernst von Borsig den Tarif- vertrag als ein „Stück Sozialismus" bezeichnete,1193 hätten sich die industriellen Beziehungen in Deutschland kaum mehr von denen in Frankreich unterschieden, hätte nicht die staatliche Exekutive das Tarifvertragsprinzip und die gewerkschaft- liche Mitbestimmung gerettet. Die Rückdrängung des Staates auf „reine Hoheits- funktionen", wie Stinnes und andere Schwerindustrielle sie angestrebt hatten1194, war mißlungen. So erstaunt es nicht, daß die Arbeitgeberverbände Sturm gegen die Zwangs- schlichtung liefen, die Borsig, der im März 1924 zum Vorsitzenden der VDA ge- kürt wurde, ein „Ausnahmegesetz gegen die Arbeitgeber" nannte1195. Bereits am 13. Dezember 1923 hatte die VDA Brauns gedroht: „Werden die Bestimmungen über den Tarifzwang in der Verordnung über das Schlichtungswesen nicht aufge- ii8g Vgl. Sitzung des Bundesausschusses am 15./16.1.1924, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 123. n89 Arbeitnehmer! Wehrt Euch gegen die Arbeitszeitverlängerung, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 3 vom 19. 1. 1924, S. 13. '"o RGBl. I 1923, S. 1045, vgl. auch Bähr, Staatliche Schlichtung, S. 81. 1191 Fraenkel, Der Ruhreisenstreit, S. 153; vgl. auch Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung, S. 688. »« Vgl. SAA, 4 Lf 718, VDA, Meißinger, an Carl Friedrich von Siemens, 28. 1. 1924; ebenda, Sozial- politische Abteilung an Carl Friedrich von Siemens, 19.2.1924; Betriebsräte und Betriebsverein- barungen, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 8 vom 23. 2. 1924, S. 51 f. 11,3 Zur Frage der Werksverträge und der Werksgemeinschaft vgl. VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 14. Zur vermeintlichen „Uberspannung des Tarifvertragswesens" vgl. Schreiben der VDA an Brauns vom 13. 12. 1923, abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 302; von Borsig, Industrie und Sozialpolitik, S. 13. "*> Vgl. ACDP, 1-220-046/3, Stinnes an Luther, 14. 11. 1923. 1195 Vgl. von Borsig, Industrie und Sozialpolitik, S. 25. 608 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen hoben, so wird ein ferneres Festhalten am Tarifvertrag für die deutschen Arbeit- geberverbände in Frage gestellt und ein weiteres Mitarbeiten in den staatlichen Schlichtungsstellen unmöglich gemacht."1196 In einem Rundschreiben vom 19. Ja- nuar 1924 rief die VDA schließlich die Mitglieder zum offenen Kampf gegen die Zwangsschlichtung auf: „Schiedssprüche, die auf Antrag der Arbeitnehmer oder von Amts wegen verbindlich erklärt sind und von den Arbeitgebern als wirt- schaftlich nicht tragbar abgelehnt werden müssen, werden nicht durchgeführt, wobei auch vor der Stillegung der Betriebe als Kampfmaßnahme und letztes Mit- tel zur Beseitigung des Tarifzwangs nicht haltgemacht werden soll."1197 Auch An- fang 1924 diente die Betriebsstillegung noch als ein Mittel zur Erpressung von Staat und Gewerkschaften. Aufrufe der Arbeitgeberverbände, die Schlichtungs- verhandlungen zu boykottieren, waren Anfang 1924 Legion1198. Auch die ADGB-Führung stand der Schlichtungsverordnung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob die gemein- same Abwehr staatlicher Intervention Gewerkschaften und Arbeitgeber noch ein- mal zu einer Zentralarbeitsgemeinschaft zusammenschweißen könne. Am 10. Ja- nuar setzte der geschäftsführende Vorstand der ZAG eine Kommission ein, die den Entwurf eines Abkommens über die Schaffung tariflicher Schiedsstellen und die Einschränkung des staatlichen Tarifzwanges ausarbeiten sollte. Zwei Tage spä- ter lag auch schon ein erster Entwurf vor, in dem postuliert wurde, „daß behörd- liche Zwangsentscheidungen abgelöst werden müssen durch tarifvertragliche Schiedsverfahren" und „daß die Möglichkeit staatlicher Verbindlichkeitserklä- rung nur als die äußerste Maßnahme für besonders wichtige Fälle und bei beson- ders wichtigen Gründen infrage kommt". Der endgültige Entwurf vom Februar deckte sich fast nahtlos mit dem ersten1199. Angesichts der „so katastrophalen Ta- rifpolitik, wie sie das Arbeitgebertum in seinem Kampf für verlängerte Arbeitszeit und Lohnabbau heraufbeschwor"1200, sah jedoch die ADGB-Spitze - wie auch die beiden anderen Spitzengewerkschaften - keine Möglichkeit mehr, zu einer auto- nomen Kompromißlösung zu kommen. Das Verhältnis des ADGB zur Zwangs- schlichtung blieb ambivalent. Zum einem konnte man nicht umhin, zuzugeben, daß schwächere Organisationen von der Zwangsschlichtung profitierten, zum an- deren führte jedoch die gängige Praxis zu dem Verdikt, daß die Zwangsschieds- sprüche dazu geeignet seien, „die wirtschaftliche Katastrophe zur politischen zu erweitern und zu verschärfen"1201. Beklagt wurde, daß der „Unternehmergeist im

"w Die Eingabe an Brauns ist abgedr. in: VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 301 f. 1197 St AL, Meier & Weichelt Nr. 146, Rundschreiben der VDA betr. Durchführung des Kampfes ge- gen den Tarifzwang. 1198 Vgl. VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 304; Wissell, Bilanz des Schlichtungswesens, S. 752 f.; Bähr, Staatliche Schlichtung, S. 95. Vgl. BAB, R 8104, Nr. 75, Zusammenfassung der Verhandlungen zwischen der VDA und den ge- werkschaftlichen Spitzenverbänden in der Kommissionssitzung am Sonnabend, den 12.1. 1924; VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 305-307. 1200 Gewerkschaftskrisis oder Krisis im Arbeitgeberlager? Gewerkschafts-Zeitung Nr. 21 vom 24. 5. 1924, S. 164. "οι Ebenda; vgl. auch Lohnpolitik und Verbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen, Gewerk- schafts-Zeitung Nr. 4 vom 26. 1. 1924, S. 23. V. Unvergleichbare Zeiten 609

Reichsarbeitsministerium mehr und mehr Eingang" finde1202, was sowohl für die Arbeitszeit- als auch die Lohnpolitik durchaus zutraf. Der Leiter der für Arbeits- recht, Arbeitsschutz und Lohnpolitik zuständigen Abteilung III des Reichsar- beitsministeriums, Friedrich Sitzler, gab auf einer Schlichterbesprechung Anfang Januar 1924 die Weisung aus, daß als Maßstab für die Höhe der Löhne die der Reichs- und Staatsarbeiter zu gelten habe, wie es auch das Reichsfinanzministe- rium unter dem Beifall der Presse der Schwerindustrie gefordert hatte1203. Die Löhne der Reichs- und Staatsarbeiter hatten starke Einbußen erlitten. Der Real- lohn eines gelernten Reichsarbeiters war im Januar 1924 auf 64,3 Prozent, der ei- nes ungelernten auf 73,2 Prozent des Vorkriegslohnes herabgedrückt worden1204. Was die Arbeitszeit anbetraf, räumte Sitzler zwar ein, daß nicht unter allen Um- ständen die Vorkriegsarbeitszeit eingeführt werden müsse, jedoch die Produk- tionsleistung der Zeit vor 1914 auf jeden Fall erreicht werden müsse. Dies war in vielen Betrieben aber nur bei einer umfassenden Rationalisierung möglich. Die Gewerkschaften standen vor dem Dilemma, daß sie sich Zwangsschieds- sprüchen beugen mußten, die ihre Klientel nur enttäuschen konnte, weil sie zu schwach waren, durch große Streikbewegungen ihre Forderungen durchzusetzen. Ohnehin versuchte ein Teil der Arbeitgeber durch Lohn- und/oder Arbeitszeit- diktate die Gewerkschaften zu Streiks zu provozieren, die diese noch weiter schwächen mußten. Obwohl die Gewerkschaften finanziell ausgeblutet waren, wurde Deutschland in der Zeit von Ende 1923 bis Frühjahr 1924 von einer Welle mit großer Härte ausgetragener Arbeitskämpfe überrollt, wie sie das Reich bisher noch nicht erlebt hatte. Am meisten Schlagzeilen machten die Kämpfe in der Schwerindustrie, wenngleich es wohl keinen Industriesektor gab, in dem nicht Machtproben ausgefochten wurden. Noch vor Verabschiedung der Arbeitszeitverordnung wurde das rheinisch- westfälische Industriegebiet zum Schauplatz eines Abwehrkampfes der Hütten- arbeiter gegen das Zweischichtensystem, für dessen Wiedereinführung bei Verhand- lungen am 13./14. Dezember sich sowohl Reichsarbeitsminister Brauns als auch der sozialdemokratische Reichs- und Staatskommissar Ernst Mehlich einsetzten, dessen Ausschluß aus der SPD daraufhin von mehreren sozialdemokratischen Ar- beitern gefordert wurde1205. Das in Berlin geschlossene Abkommen, das unter Wegfall der Wechselschicht von 24 Stunden und einer Begrenzung der Arbeitszeit auf 54 Stunden für die Hüttenarbeiter die Wiedereinführung des Zweischichten-

1202 So Fritz Tarnow in der Sitzung des Bundesausschusses am 15./16.1. 1924, in: Quellen zur Ge- schichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 126. noi Vgl. SHStAD, Schlichter für Mitteldeutschland und Sachsen Nr. 4, Besprechung der Schlichter im Reichsarbeitsministerium am 5. 1. 1924; zur Forderung des Reichsfinanzministeriums, die Löhne der Privatwirtschaft an die des Reiches anzupassen, vgl. dessen Schreiben vom 14.1. 1923 an den Reichsarbeitsminister, der in seinem Antwortschreiben vom 21.1.1924 das Verlangen des Reichs- finanzministeriums ablehnte, obwohl er zuvor genau diesen Grundsatz zur verbindlichen Richt- linie erklärt hatte. Beide Briefe sind abgedr. in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerk- schaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 136-138. Zu der Reaktion der Schwerindustrie vgl. Die Arbeitgeber über die staatliche Lohnpolitik, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 24. 1. 1924. 1204 Vgl. Die Tariflöhne im Januar und die Arbeitszeitabkommen, in: Wirtschaft und Statistik 4,1924, S. 118. 1205 Vgl. Protokoll der Verhandlungen im Reichsministerium über die Arbeitszeit in der Schwer- industrie am 13. 12. 1923, in: Feldman/Homburg, Industrie und Inflation, S. 372-374; SAPMO- BArch, RY 1 1/3/20/17, Kurt an das Direktorium Berlin, 15.1. 1924. 610 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen systems dort, wo es schon vor dem Krieg bestanden hatte, vorsah, trug nicht nur die Unterschrift der Funktionäre der christlichen Gewerkschaften und der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, sondern auch des Leiters des DMV für den Bezirk Essen, Karl Wolf, der offensichtlich am Kampfeswillen der Hütten- arbeiter gezweifelt hatte, nachdem zahlreiche Arbeiter Reverse unterschrieben hatten, daß sie das Zweischichtensystem akzeptierten1206. Auch dürfte Wolf klar gewesen sein, daß die Hüttenbarone mit ihrer Drohung Ernst machten, auch ohne Abkommen das Zweischichtensystem durchzusetzen. Die Mitglieder des DMV lehnten jedoch in einer Urabstimmung am 19. Dezember nahezu einstimmig die Vereinbarung ab1207, so daß der DMV zur Unterstützung eines Streiks gezwungen war, den ein Teil der Industriellen durch betriebsweise Abstimmung über die ver- längerte Arbeitszeit zu konterkarieren versuchte. Hatte sich doch nur ein Viertel aller Beschäftigten an der Urabstimmung beteiligt1208. Über den Ausgang des Streiks machte sich der DMV, dem die Hüttenarbeiter schon scharenweise den Rücken gekehrt hatten, keine Illusionen. Der Vorstand des DMV lehnte dann auch am 3. Januar die Ausdehnung des Arbeitskampfes zu einem Generalstreik ab, weil er damit nur den Arbeitgebern in die Hände gearbeitet hätte, die nach einem Entlassungsgrund für Gewerkschaftsfunktionäre suchten. Auch ein Kon- greß der Ortsausschüsse und Bezirksleiter des ADGB in Elberfeld am 11. Januar und der Bundesausschuß des ADGB am 15./16. Januar riefen zwar zum Kampf auf, wollten aber das Wagnis eines Generalstreiks auf keinen Fall eingehen1209. Auf einer Bezirkskonferenz des DMV in Essen am 8. Januar war indes ein Ge- neralstreikbeschluß gefaßt worden, der laut Wolf keineswegs allein von den Kom- munisten ausgegangen war1210, die auf mehreren Kongressen der rheinisch-west- fälischen Betriebs- und Erwerbslosenräte ebenfalls zum Generalstreik aufgerufen und die Parole ausgegeben hatten, daß die Arbeiterschaft selbst die Betriebe öff- nen müsse, wo die Arbeitgeber weiterhin die Arbeiter durch Aussperrung auf die Knie zu zwingen versuchten1211. Über den Ausgang des Generalstreiks machten sich indes auch die Kommunisten „keinerlei Illusionen"1212. Sie erkannten insge- heim, daß die Arbeiter den Arbeitgebern ausgeliefert waren und daß der Streik der Unternehmerseite sehr zupaß kam1213. Eines ihrer wichtigsten Ziele war, die SPD

1206 Der Wortlaut des Protokolls ist abgedr. in: DMV, Jahr- und Handbuch 1923, Bezirk Essen, S. 76. Zur Unterzeichnung der Reverse durch eine nicht unbeträchtliche Zahl von Hüttenarbeitern vgl. ebenda, S. 74 f.

1207 pür d;e Annahme des Abkommens wurden 560 Stimmen abgegeben, dagegen 42580. Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1923, Bezirk Essen, S. 77. noe Vgl. Moritz Klönne, Zum Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit, Rheinisch-Westfälische Zei- tung vom 1.1. 1924; SAPMO-BArch, RY 1 1/3/29/40, Situationsbericht des Bezirks Rheinland- Süd. 1209 Vgl. Sitzung des Bundesausschusses am 15./16.1. 1924, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 118 f. und 124; Kampf um den Achtstundentag in Rheinland und Westfalen, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 3 vom 19. 1. 1924, S. 16 f. 1210 Vgl. Aufmarsch zum Generalstreik! Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 9. 1. 1924; Ausführungen Wolfs in der Bundesausschußsitzung am 15./16. 1.1924, in: Quellen zur Ge- schichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 118. 1211 Vgl. Die Massen drängen zum schärfsten Kampf, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 5. 1. 1924; Generalstreik, Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD am 14. 1. 1924. Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/20/17, Kurt an das Direktorium Berlin, 15.1. 1924. '213 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/2/54, Achtstundentag und Löhne [o.D.]. V. Unvergleichbare Zeiten 611 im rheinisch-westfälischen Industriegebiet zur Bedeutungslosigkeit zu verurtei- len1214. Von Seiten des DMV wurde der Streik im Bezirk Essen am 29. Januar ab- geblasen, dem Tag, an dem die Unternehmer die Aussperrung angeordnet hatten, in Düsseldorf am 6. Februar. Im Raum Gevelsberg, Hagen und Schwelm hatten die Metallindustriellen schon am 5. Januar ausgesperrt und einige Hüttenbetriebe wie z.B. die Kruppsche Friedrich-Alfred-Hütte hatten ihre Werke schon Mitte Dezember stillgelegt, nachdem die Belegschaft vor Schichtende die Arbeitsstätte verlassen hatte1215. Im Regierungsbezirk Düsseldorf wurden nach Streikende zu- nächst nur 40-60 Prozent der früheren Belegschaften wiedereingestellt1216. Die Kommunisten brachen den proklamierten Generalstreik erst am 25. Februar ab, als die Streikfront völlig zusammengebrochen war. Wenn auch Arbeiter großer Werke wie ζ. B. die der Kruppschen Gußstahlfabrik in Essen dem Streikaufruf nicht folgten, so brachen doch allerorts und in fast allen Branchen Streiks aus, freilich unabhängig voneinander und zeitlich verschoben. Sowohl im Braunkohlenbergbau des Kölner Raums, wo ein Schiedsspruch ergan- gen war, der eine Arbeitszeitverlängerung noch über die Vorkriegsarbeitszeit hin- aus dekretierte, vor allem aber in der Textilindustrie des Niederrheins wie auch des Bergischen Landes tobten ausgedehnte, lang andauernde Arbeitskämpfe. Die Arbeitsniederlegungen in der Textilindustrie erfolgten keineswegs nur aufgrund der Gewaltanwendung der Kommunisten, wie der Textilarbeiterverband behaup- tete, der die Streiks nicht unterstützte, weil er nicht zu Unrecht fürchtete, daß die Arbeitgeber die Gunst des Augenblicks nutzten, um die Organisation „schach- matt zu setzen"1217. Wenn auch Syndikalisten und Kommunisten in der Krefelder Seidenindustrie die Arbeiter(innen) mit Knüppeln auf die Straße trieben1218, so war doch häufig die Verbitterung und der Haß der in der Textilindustrie Beschäf- tigten insbesondere über die einseitigen Lohndiktate, durch die die Reallöhne weit unter Vorkriegsniveau sanken, so groß, daß sie zur Kampfaufnahme nicht ge- zwungen werden mußten. Das zeigt sich schon daran, daß häufig die Frauen zum Durchhalten aufriefen, die im übrigen auch in der Eisen- und Stahlindustrie ihre Männer ermuntert hatten, den Kampf nicht aufzugeben1219. Frauen, die eine Fa- milie zu versorgen hatten, litten unter den weit unter dem Existenzminimum liegenden Löhnen am meisten. Im Bergischen Land entschieden sich die Metall- arbeiter und Textilarbeiter(innen) noch am 4. Februar entgegen den Erwartungen der Gewerkschaften mit überwältigender Mehrheit für die Fortführung des

•2» Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/705/19, Bericht Nr. 11 vom 8. 2. 1924. 1215 Vgl. GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 204, Regierungspräsident Arnsberg an Preußischen Mini- ster des Innern, 10. 1. 1924; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf Nr. 16232, Bekanntmachung der Direktion der Friedrich-Alfred-Hütte vom 20.12. 1923; Der erste Kampftag der Metallarbeiter! Freiheit. Niederrheinische Tageszeitung der KPD vom 3.1. 1924. 1216 Vgl. Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und der Bergbehörden für das Jahr 1923 und 1924, Bd. 1,S. 1.544. 1217 An die deutsche Textilarbeiterschaft, Der Textil-Arbeiter vom 18. 1. 1924. 1218 Vgl. AdsD, ITBLAV, Bericht über die Lage der Textilindustrie und der Textilarbeiter in Deutsch- land, März 1924. 1219 Vgl. Heinrich Kassner, Die Streikbewegung in der Krefelder Textilindustrie, Der Textil-Arbeiter vom 11.4. 1924; NRWHStADü, Reg. Düsseldorf, Nr. 16232, Polizei-Oberkommissar von Rheinhausen an Regierungspräsident Grützner in Düsseldorf, 22.12.1923; vgl. auch Buhl, Sozia- listische Gewerkschaftsarbeit, S. 105. 612 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Kampfes. Die Gewerkschaften hatten die Leitung des Arbeitskampfes völlig aus den Händen verloren1220. Die Streiks in der Textilindustrie, in der die Arbeitgeber keine Scheu hatten, den Schlichter anzurufen und eine Verbindlichkeitserklärung zu beantragen, endeten mit verbindlichen Schiedssprüchen, die zum Teil eine Ar- beitszeitverlängerung bis zu 55 Stunden in der Woche vorsahen, obwohl die Ar- beitgeberseite vor Ausbruch des Streiks noch gar keine Arbeitszeitverlängerung gefordert hatte1221. Grund zur Verbitterung gab es auch bei den Bergarbeitern. Unter der Drohung von Zechenstillegungen hatten die vier Bergarbeiterverbände am 28./29. Novem- ber 1923 einem Abkommen zugestimmt, das die Untertagearbeiter im Ruhrgebiet zu einer einstündigen und die Übertagearbeiter zu einer zweistündigen Mehrar- beit verpflichtete. Angesichts des Bestrebens der Zechenherren, zu den Vorkriegs- verhältnissen zurückzukehren, wertete der BAV das Abkommen als einen Erfolg, denn den Unternehmern war das Recht genommen worden, vertragliche Arbeits- bedingungen einseitig zu ändern, die Mehrarbeit war zeitlich befristet worden - das Abkommen galt nur bis zum Mai 1924 - und die tarifliche Entlohnung konnte gesichert werden1222. Mehlich sollte allerdings einen von den Zechengesellschaften am 10. Dezember einseitig verfügten Abbau der Schichtlöhne durch Schieds- spruch sanktionieren1223. Die Bergarbeiter selbst votierten dann auch nur mit knapper Mehrheit für die Annahme des Abkommens. An einigen wenigen Orten stürmten Bergarbeiter die Rathäuser und erpreßten Erwerbslosenunterstützun- gen, die auf Weisung Brauns für alle gestrichen worden waren, die Mehrarbeit ver- weigerten. Das kommunistische Gewerkschaftskartell beschloß für den 1. De- zember Zechenbesetzungen. Die kommunistischen Streikparolen fanden jedoch keinen Widerhall, die Hoffnung der Kommunisten, daß es zu einer Flucht aus dem Alten Verband kommen werde1224, trog aber nicht. Der ADGB mußte konstatieren, daß angesichts der zahlreichen Tarifvertragsverletzungen und der Sabotage der Tätigkeit der Betriebsräte bei den Bergarbeitern eine „unglaubliche Verbitterung" entstanden sei, so daß diese vielfach äußerten: „Lieber verrecken, als so weiterleben."1225 Selbst die Deutsche Bergwerks-Zeitung gab offen zu, daß die Bergarbeiterlöhne unter dem Existenzminimum lagen, fügte diesem Einge- ständnis jedoch nur den sattsam bekannten Appell hinzu, die Vorkriegsarbeitszeit wiederherzustellen1226. Der Alte Verband wie auch die drei anderen Bergarbeiterverbände hätten jeden Kredit bei den Bergarbeitern verspielt, wenn sie einem am 28. April 1924 von

1220 Vgl. GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 208, Regierungspräsident Grützner an den Preußischen Minister für Handel und Gewerbe, 5. 2. 1924; BAB, R 3901, Nr. 33867, Frowein an den Preußi- schen Minister des Innern, 5. 2. 1924. 1221 Vgl. BAB, R 3901, Nr. 33867, Verbindlichkeitserklärung des Schiedsspruches vom 23.1. 1924 für die Textilindustrie des Wupppertals vom 21. 2. 1924; Heinrich Kassner, Die Streikbewegung in der Krefelder Textilindustrie, Der Textil-Arbeiter vom 11.4. 1924. •222 Vgl. Das Uberstundenabkommen für den Ruhrbergbau, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 50 vom 15. 12. 1923, S. 478^480; Feldman/Steinisch, Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirt- schaftsstaat, S. 406-408. 1223 Vgl. Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 220. 1224 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/18-19/12, Bericht Ruhrgebiet vom 17.12. 1923. 1225 Vgl. Der Riesenkampf im Ruhrgebiet, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 152 vom 17. 5. 1924, S. 152. 1226 Vgl. Mehrarbeit oder Inflation, Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 15.5. 1924. V. Unvergleichbare Zeiten 613

Mehlich gefällten Schiedsspruch zugestimmt hätten, der die bisherige Mehrarbeit als Normalarbeitszeit deklarierte. Selbst das Entgegenkommen Mehlichs in der Lohnfrage - in einem Schiedsspruch vom 23. April hatte er den Bergarbeitern rückwirkend zum 15. April eine Lohnerhöhung von 15 Prozent konzediert - minderte nicht den vehementen Widerstand der Bergarbeiter gegen die Arbeits- zeitregelung, die auch von der Arbeitgeberseite abgelehnt wurde, die zu der Acht- einhalbstundenschicht der Vorkriegszeit zurückkehren wollte. Der Schiedsspruch wurde am 3. Mai von Brauns für verbindlich erklärt, allerdings in abgeänderter Form. Die Lohnerhöhung sollte erst am 1. Mai erfolgen und viele Ubertagearbei- ter hätten länger arbeiten müssen, als es in dem Schiedsspruch vom 28. April vor- gesehen war. Brauns hatte sich abermals auf die Seite der Arbeitgeber gestellt. Auf Revierkonferenzen des Alten Verbandes wie auch des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter am 6. Mai stieß der Schiedsspruch Brauns' auf eisige Ablehnung, so daß die Bergarbeiterverbände ihren Aufruf von Anfang Mai, nur die Siebenstun- denschicht zu verfahren, wiederholten. Damit begingen sie keinen offenen Rechtsbruch, denn ein abgeänderter Schiedsspruch war nur dann rechtsverbind- lich, wenn die Zustimmung beider Parteien vorlag. Die Zechenbarone, die durch Aussperrungen die Konfrontation verstärkt hatten, gingen nun zur Gesamtaus- sperrung über. Ab 6. Mai waren mehr als 380000 Bergarbeiter ohne Arbeit und Brot1227. Anders als das für die Kommunisten so erfolgreiche Wahlergebnis am 4. Mai erwarten ließ, verfing die kommunistische Propaganda jedoch nicht. Es gab keine Ausschreitungen und auch Zechenbesetzungen fanden nicht statt1228. Der volkswirtschaftliche Schaden, den der bis Ende Mai dauernde Arbeits- kampf verursachte, war indes immens. Der Kreditmangel der ohnehin schon mit Unterbilanz arbeitenden Ruhrzechen verschärfte sich, die weiterverarbeitende In- dustrie, vor allen die Hüttenbetriebe, mußten aufgrund Kohlenmangels ihre Be- triebe schließen und die Kommunen trieben aufgrund der Unterstützungszahlun- gen an Streikende und Arbeitslose dem finanziellen Ruin zu1229. Der am 27. Mai gefällte Schiedsspruch, der zwei Tage später für verbindlich erklärt wurde, brachte den Bergarbeitern einen kleinen Teilerfolg, den die „Kumpel" wohl allein dem Tatbestand zu verdanken hatten, daß die deutsche Wirtschaft bei einer Weiterfüh- rung des Arbeitskampfes zusammengebrochen wäre. Ein Schiedsspruch vom 16. Mai hatte noch eindeutig den Forderungen der Arbeitgeber Rechung getragen, so daß diese auf die Verbindlichkeit des Schiedsspruches gedrängt hatten. Die Schichtzeit betrug nach dem neuen Schiedsspruch zwar weiterhin acht Stunden, es wurde jetzt aber zwischen Normal- und Mehrarbeitszeit eindeutig getrennt und für letztere ein Lohnzuschlag von fünf Prozent gewährt. Im Durchschnitt erhiel- ten die Bergarbeiter eine Lohnerhöhung von 20 Prozent, so daß das in vielen fran- zösischen Industriesektoren übliche und auch von den deutschen Zechenherren verfolgte Bestreben, durch Lohndruck eine Arbeitszeitverlängerung zu erzwin- gen, nur begrenzten Erfolg hatte. Das Rad der Sozialpolitik konnte nicht in die

1227 Ausführlich hierzu Feldman/Steinisch, Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschafts- staat, S. 412-421. 1228 Vgl. SAPMO-BArch, 4005/93, Pieck an Zetkin, 24. 5. 1924. i22' Vgl. Kabinettssitzung vom 8. 5.1924, in: AdR, Die Kabinette Marx I und II, Bd. 1, S. 627; BAB, R 43 I, Nr. 2122, Vermerk betr. Ruhrstreik vom 26. Mai 1924. 614 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Vorkriegszeit zurückgedreht werden1230. Die desolate Situation der Bergarbeiter verbesserte sich durch den Schiedsspruch freilich nur geringfügig, so daß inner- halb des Alten Verbandes eine Mehrheit für Weiterstreiken gestimmt hatte. Viele Betriebsräte blieben auf der Strecke und selbst die wiedereingestellten durften erst nach zähen Verhandlungen ihr Amt fortführen.1231 Weitaus länger als der Arbeitskampf an der Ruhr dauerte der im Zwickauer und Lugau-Oelsnitzer Revier. Dort war am 13. Dezember 1923 ein Mehrarbeitsab- kommen geschlossen worden, das dem Muster des Abkommens an der Ruhr folgte. Ein am 24. April gefällter und vom Reichsarbeitsministerium für verbind- lich erklärter Schiedsspruch, der nicht nur die Fortführung der Mehrarbeit bis zum 31. August vorsah, sondern auch Lohnerhöhungen als für die Werke nicht tragbar ausschloß, obwohl die Zechenleitungen immerhin zu einer Erhöhung der Leistungslöhne bereit gewesen wären, führte dazu, daß der Bergarbeiterverband vor einem offenen Rechtsbruch nicht zurückschreckte und wie an der Ruhr die Bergarbeiter aufforderte, nach sieben Stunden auszufahren. Die sächsischen Ze- chengesellschaften - aber auch der sächsische Staat, der Hauptaktionär eines Großteils der Zechen war - reagierten wie die Zechenleitungen an der Ruhr: Sie sperrten am 6. Mai 36 000 Bergarbeiter aus, die die Leistung von Mehrarbeit ver- weigerten. Der sieben Wochen dauernde Arbeitskampf, der auch den Zechen große Verluste zufügte, die noch bis Ende des Jahres Kredite aufnehmen mußten, um die Löhne auszahlen zu können, endete in Sachsen mit einer eindeutigen Nie- derlage der Bergarbeiter. Ein vom Reichsarbeitsministerium am 20. Juni für ver- bindlich erklärter Schiedsspruch brachte keinerlei Verbesserung gegenüber dem Schiedsspruch vom 24. April. Obendrein wurden die ausgefallenen Arbeitstage noch auf den Urlaub angerechnet1232. Auch in Sachsen lehnte die Mehrheit der im Bergarbeiterverband organisierten Arbeiter den Schiedsspruch ab. Da jedoch die für die Fortführung des Kampfes erforderliche Zweidrittel-Mehrheit nicht erzielt werden konnte, fuhren die Bergarbeiter am 24. Juni wieder in die Schächte ein. In den Augen der Bergarbeiter waren die Schiedssprüche eine Sanktionierung der Ausbeutung durch die Zechenbarone. Sie konnten daher nur das Vertrauen der Bergarbeiter in den Staat und die Gewerkschaften untergraben, was wiederum ganz im Interesse der Zechendirektionen lag, die die Werksgemeinschaft als „Weg zum sozialen Frieden" postulierten1233. Die Unternehmeroffensive und die Bekämpfung der Gewerkschaften be- schränkte sich keineswegs nur auf die Schwerindustrie, wie gleich zwei Arbeits- kämpfe in der Leipziger Metall- und Maschinenbauindustrie zeigen, bei denen an- ders als bei den Streiks in der rheinisch-westfälischen Hüttenindustrie die Kommu-

1230 Vgl. Feldman/Steinisch, Weimarer Republik zwischen Sozial- und Wirtschaftstaat, S. 431^35, Tschirbs, Tarifpolitik im Ruhrbergbau, S. 231 f. 1231 Vgl Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung, S. 337 f. 1232 Vgl. SHStAD, Ministerium des Innern Nr. 11132, Die Aussperrung im Sächsischen Steinkohlen- bergbau vom 6. Mai bis 23. Juni 1924. Bericht der Staatspolizeiverwaltung/Landesinformations- amt vom 30. 6. 1924; Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und der Bergbehörden für das Jahr 1923 und 1924, Bd. 2, S. 3.236-238; Verhandlungen des Sächsischen Landtages, 2. Wahl- periode, Bd. 3, Sitzung am 30. 5. 1924, S. 2901-2903. 1233 Vgl. Die Werksgemeinschaft, ein Weg zum sozialen Frieden, Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 1.4. 1924. V. Unvergleichbare Zeiten 615 nisten keine Rolle spielten1234. Der erste Kampf war durch ein Unternehmerdiktat provoziert worden. Per Anschlag wurde den Leipziger Metallarbeitern mitgeteilt, daß der Stundenlohn eines erwachsenen Facharbeiters ab dem 19. November nur noch 35 Goldpfennige betragen sollte. Die Bekanntmachung von Löhnen durch Anschlag war in der französischen Metallindustrie Usus, in der deutschen bedeu- tete sie eine Brüskierung der Arbeiter, zumal wenn die Stundenlöhne so niedrig waren, daß kein Arbeiter davon leben, geschweige denn eine Familie ernähren konnte. Löhne unter dem Existenzminimum zu halten, schien ganz offensichtlich mittlerweile auch Leipziger Metallindustriellen eine geeignete Strategie, um die Arbeiter zu Mehrarbeit zu zwingen. Nachdem die Arbeitgeber ihr Angebot nur um fünf Pfennige erhöhten, lehnten die Funktionäre des Leipziger Metallarbeiter- verbandes das Verhandlungsergebnis ab, woraufhin der Verband der Leipziger Metallindustriellen die Aussperrung anordnete1235. Durch das Eingreifen des Wehrkreiskommandos, das von beiden Parteien zur Schlichtung angerufen wor- den war, nachdem die Leipziger Metallindustriellen zuvor einen Schiedsspruch, der die Löhne auf 50 Pfennige festsetzte, abgelehnt hatten, fand die Aussperrung, von der über 25000 Arbeiter betroffen waren, nach zwölf Tagen ein Ende. Bis zum 15. Januar 1924 sollte der Stundenlohn 48 Goldpfennige betragen. Die ver- langte Mehrarbeit hielt sich in Grenzen. Die wöchentliche Arbeitszeit von 46 Stunden wurde beibehalten, den Arbeitgebern jedoch eingeräumt, zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche anzuordnen1236. Ein am 24. Januar gefällter Schiedsspruch war hingegen ein Zeugnis der restrikti- ven Lohn- und extensiven Arbeitszeitpolitik des Reichsarbeitsministeriums. Der Lohn wurde auf 45 Pfennige herabgesetzt. Die Arbeitszeit konnte von 48 auf 54 Stunden ausgedehnt werden. Die Leipziger Metallindustriellen, die wie die sächsi- schen Industriellen überhaupt die Zwangsschlichtung nicht wie die VDA grundsätz- lich ablehnten1237, beantragten die Verbindlichkeitserklärung1238, während 82 Pro- zent der Leipziger Metallarbeiter in einer Urabstimmung den Streik beschlossen, dem sich am 31. Januar über 22000 Arbeiter anschlossen1239. Die als Scharfmacher bekannten Leipziger Industriellen, die sich als Vorkämpfer für ganz Sachsen ver- standen, lehnten Verhandlungen mit den Gewerkschaften grundsätzlich ab1240.

Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/18-19/12, Gewerkschaftsabteilung der KPD an die Union der Hand- und Kopfarbeiter, 6. 12. 1923. 1235 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 144, Bekanntmachung des Verbandes der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig vom 16. 11. 1923 und vom 22.11. 1923. Vgl. auch Das Diktat der Leipziger Me- tallindustriellen, und Metallarbeiter-Aussperrung in Leipzig, Leipziger Volkszeitung vom 19. 11. 1923 und 22. 11. 1923. 1236 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 144, Rundschreiben des Verbandes der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig vom 5. 12. 1923. 1237 Auch der Verband der Metallindustriellen im Bezirk Dresden hatte im Februar 1924 die Verbind- lichkeitserklärung eines Schiedsspruches beantragt. Vgl. BAB, R 3901, Nr. 33812, Verband der Metallindustriellen im Bezirk Dresden an Reichsarbeitsminister, 1. 3. 1924. 1238 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 146, Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig, Kretschmar, an die Herren Vorstandsmitglieder, 29. 1. 1924; Meier & Weichelt Nr. 145, Rund- schreiben des Verbandes der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig vom 24.1. 1924. 1239 Vgl. Kampfbeginn in der Leipziger Metallindustrie, Leipziger Volkszeitung vom 31.1. 1924; DMV, Jahr- und Handbuch 1924, S. 49. 1240 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 147, Niederschrift über die gemeinsame Sitzung des Vorstandes und der Lohnkommission des Verbandes der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig am 22.2. 1924. 616 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Nach 53 Kampftagen glaubten sie zumindest einen Etappensieg erreicht zu haben. Die Beschäftigten in der Metallindustrie nahmen die Arbeit wieder auf, obwohl sie den Schiedsspruch, der die Arbeitszeit auf 53 Stunden in der Woche und den Spitzenlohn auf 48 Pfennige festsetzte, ablehnten. Damit lag der Spitzenlohn nied- riger als in allen anderen sächsischen Großstädten, obwohl auch dort die Schlich- ter weisungsgemäß Lohnsenkungen durchgesetzt hatten1241. Die Gewerkschaften drängten auf einen neuen Schiedsspruch, der am 14. April von dem zuständigen Schlichter auch gefällt und auf Antrag des Metallarbeiterverbandes für verbindlich erklärt wurde. Mit 53 Pfennigen pro Stunde sollten die Leipziger Metallarbeiter ungefähr so viel wie ihre Kollegen in anderen sächsischen Großstädten verdienen. Die Leipziger Metallindustriellen waren empört und drohten dem Reichsarbeits- minister wieder einmal mit Betriebsstillegungen1242. Daß sie nicht zur Tat schritten, dürfte auch daran gelegen haben, daß der Hard- linerkurs der Verbandsführung nicht mehr von allen Mitgliedern unterstützt wurde, denn das Bestreben, die Gewerkschaften zu vernichten, das die Kampfhal- tung der Verbandsführung leitete, hielten offensichtlich gleich mehrere Verbands- mitglieder für einen Fehler, wie ein langes, äußerst kritisches Schreiben eines Mit- gliedes an den Verband belegt: „Während der Kämpfe der letzten Zeit (Aussper- rung und Streik) wurde im Vorstand des Verbandes die Ansicht von verschiedenen Seiten vertreten, daß man wohl bei dieser Gelegenheit eine Auflösung des Metall- arbeiterverbandes herbeiführen könnte. Ich halte diese Ansicht mit für den Grund, daß oft verhältnismäßig nichtige Unterschiede zu langwierigen Stillegun- gen führten, deren Schaden in gar keinem Verhältnis stand zu dem letzten Endes erzielten Ergebnis. Solange die Gewerkschaften rechtlich durch Gesetzesbestim- mungen anerkannt sind, halte ich diesen Wunsch, ohne sie auszukommen, zum mindesten für verfrüht, auf jeden Fall aber für außerordentlich gefährlich im Hin- blick auf die bei wirtschaftlichen Differenzen zu fassenden Entschlüsse. [...] Es ist unbedingt nötig, in diese Fragen eine prinzipielle Klärung zu bringen, da ein gro- ßer Teil der Firmen sonst, als Mitglied des Verbandes von einem Lohnkampf in einen anderen getrieben, aus gesundem Egoismus in ihrer Verbandstreue wankend werden können."1243 Zerstörung der Gewerkschaften oder Verständigung mit den Gewerkschaften - diese Frage war nicht nur im Leipziger Verband der Metallindustriellen umstrit- ten. Auch im Verband der Berliner Metallindustriellen scheint es darüber zu Kon- troversen gekommen zu sein, die sich allerdings dort quellenmäßig nicht so ein- deutig festmachen lassen wie beim Verband der Leipziger Metallindustriellen. Der Vorsitzende des VBMI, Ernst von Borsig, gehörte jedenfalls eindeutig ins Lager der Gewerkschaftsgegner, der mit ihnen nur noch verhandeln wollte, wenn eine Verständigung „auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse und mit dem Ziel na-

1241 Vgl. BAB, R 3901, Nr. 33812, Der Vorsitzende des Schlichtungsausschusses Leipzig an den Schlichter für den Schlichterbezirk Sachsen, Brand, 3.6. 1924. '242 Vgl. StAL, Meier & Weichelt Nr. 146, Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig, Kretschmar, an die Herren Vorstandsmitglieder, 6. 5. 1924; BAB, R 3901, Nr. 33812, Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig an den Reichsarbeitsminister, 6. 5. 1924. 1243 StAL, Meier & Weichelt Nr. 146, Karl Krause an den Verband der Metallindustriellen im Bezirk Leipzig, 2. 5. 1924. V. Unvergleichbare Zeiten 617 tionaler Wirtschaftsfreiheit und nationalen Wirtschaftsaufstiegs" möglich war1244. Borsig dürfte es auch gewesen sein, der den VBMI drängte, wie die Leipziger Me- tallindustriellen durch ein Diktat die Arbeiter und die Gewerkschaften gleicher- maßen vor den Kopf zu stoßen. Auch die Berliner Metallarbeiter erfuhren durch Anschlag, daß ihr bisheriger Spitzenlohn von 50 Pfennigen ab 1. Januar 1924 auf 43 Pfennige herabgesetzt werde. Einige Arbeiter, wie beispielsweise die von Sie- mensstadt, beugten sich dem Diktat, der Großteil der Arbeiter übte jedoch, nach- dem eine Versammlung der Betriebs- und Arbeiterräte am 29. Dezember das An- gebot zurückgewiesen hatte, passive Resistenz, die der VBMI mit der Aussper- rung von 140000 Metallarbeitern beantwortete1245. Obwohl sich die Berliner Me- tallindustriellen weigerten, vor dem Schlichtungsausschuß zu erscheinen, und den Vorsitzenden des Schlichtungsausschusses Wisseil wegen seiner vorherigen Tätig- keit als Sekretär des ADGB als befangen ablehnten1246, konnte anders als in Leip- zig schon nach zwei Tagen eine Einigung erzielt werden, weil Vertreter der Berli- ner Metallindustriellen sich bereit erklärten, mit den Gewerkschaften zu verhan- deln, wobei jetzt auch die Arbeitszeit zu einem Verhandlungsgegenstand werden sollte. Die Verhandlungen, an denen sich Borsig bezeichnenderweise nicht betei- ligte, mündeten in einen Kompromiß, der dem Leistungslohnprinzip Rechnung trug. Es sollten keine Höchst-, sondern Mindestlöhne gezahlt werden, die für den in der höchsten Kategorie eingestuften Facharbeiter 48 Pfennige pro Stunde be- trugen. Der Vorwärts pries das erzielte Ergebnis als einen Erfolg, dessen Bedeu- tung vor allem darin liege, „daß die von den Unternehmern versuchte Ausschal- tung der Gewerkschaften bei Bestimmung der Lohn- und Arbeitsbedingungen zurückgewiesen worden" sei1247. Dies war jedoch nur die halbe Wahrheit, denn über die Arbeitszeitverlängerung war es zu keiner Verständigung gekommen. Sie sollte auf dem Wege von Betriebsvereinbarungen erfolgen, was freilich mit der Ar- beitszeitverordnung nicht vereinbar war und deshalb auch zu Konflikten mit dem Arbeitsministerium führte, das anders als die Berliner Arbeiter in dem Tarifver- tragsprinzip ein Tabu sah1248. Obwohl der Anstoß für die Konflikte in Leipzig und in Berlin von einem Un- ternehmerdiktat ausging, war deren Verlauf sowie die Einstellung der Kampfpar- teien doch grundverschieden. In Berlin waren es nicht nur einige führende Köpfe des VBMI wie Borsig, sondern auch die Arbeiter, die dem Tarifvertragsprinzip skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Nachdem der gewerkschaftliche Or- ganisationsgrad in der Berliner Metallindustrie drastisch auf 20 Prozent herabge- sunken war und die Mehrzahl der Berliner Arbeiter den Gewerkschaften mit Mißtrauen begegnete, begrüßte sowohl der Berliner Metallarbeiterverband als

1244 DMV (Hrsg.), Wirtschaftliche Einsicht. Ein offenes Wort an die Deutschen Gewerkschaften von Dr. Ernst von Borsig, S. 3-9, hier S. 8. 1245 Vgl. Angriff der Unternehmer, Vorwärts vom 3.1. 1924; Der Kampf in der Metallindustrie, Vor- wärts vom 4. 1. 1924. 1246 Vgl. BAB, R 3901, Nr. 34154, Verband Berliner Metall-Industrieller an Reichsarbeitsminister, 3. 1. 1924. 1247 Verständigung in der Metallindustrie, Vorwärts vom 6. 1. 1924; vgl. auch Berliner Metallarbeiter- kampf, Metallarbeiter-Zeitung vom 19.1. 1924. 1248 Vgl. SAA, 4 Lf 718, Sozialpolitische Abteilung an Carl Friedrich von Siemens, 19.2. 1924. 618 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen auch die Arbeiterschaft den ab dem 24. März eintretenden tariflosen Zustand1249. Insbesondere die Facharbeiter glaubten, von einem tariflosen Zustand zu profitie- ren, denn einerseits hatte für die Mehrheit der Akkordarbeiter der Tarif ohnehin nur nachrangige Bedeutung, falls die Akkorde - wie dies häufig der Fall war - frei zwi- schen Werksleitung und Arbeitnehmern vereinbart wurden, und zum anderen ver- sprach die von den Berliner Metallindustriellen angestrebte Wiedereinführung eines ausgeprägten Leistungslohnsystems hohe Zulagen, die durch den Abschluß eines Tarifs nicht zu erreichen gewesen wären. Was die Arbeiter erhofften, führte bei eini- gen Industriellen zu der Befürchtung, daß die Lohnkämpfe in die einzelnen Firmen verlegt und die Lohnschraube unbegrenzt nach oben gedreht würde1250. Die Ge- werkschaftsfeindschaft der Berliner Metallarbeiter und ihre Hinwendung zu den Kommunisten im Sommer 1923 mag dazu beigetragen haben, daß offensichtlich einflußreiche Berliner Industrielle die Gewerkschaften lieber stützen als zerstören wollten. Zu ihnen gehörte auch Carl Friedrich von Siemens, der seinen Kollegen vor Augen führte, daß ein Sinken der Löhne und Gehälter unter das Existenzminimum die immer wieder verlangte Intensivierung der Arbeitsleistung ausschloß1251. Auch in den Landbetrieben der Hamburger Metallindustrie herrschte 1924 ein tarifloser Zustand, weil die Tarifparteien zu keiner Einigung gelangten und die Hamburger Metallarbeiter wie die Berliner auf die Konjunktur und die Vorzüge des Leistungslohnprinzips vertrauten. Allerdings hatten die Hamburger Arbeit- geber durch eine einwöchige Aussperrung die Wiedereinführung einer Wochenar- beitszeit von 54 Stunden erreicht1252. Die 57000 Werftarbeiter an der Nord- und Ostseeküste verharrten hingegen drei Monate im Ausstand, um die Arbeitszeit- verlängerung abzuwehren. Es hätte dort wahrscheinlich nicht der allseits ausge- stoßenen Drohung einer Betriebsstillegung bedurft, um Reichsarbeitsminister Brauns dazu zu bewegen, einen am 18. Februar gefällten Schiedsspruch, der die Einführung der 54-Stunden-Woche vorsah, einen Tag später für verbindlich zu er- klären. Da der DMV ein Mitwirken am Schiedsgericht verweigert hatte, nachdem der Vorsitzende des Schlichtungsausschusses seine Absicht kundgetan hatte, den Arbeitgeberforderungen entgegenzukommen, erkannte er die Rechtsverbindlich- keit des Schiedsspruches nicht an, der in einer Urabstimmung mit großer Mehr- heit abgelehnt wurde. Die Reaktion der Unternehmer war die damals in Arbeitge- berkreisen übliche: Aussperrung1253. Rudolf Blohm, Vorsitzender der Norddeut- schen Gruppe des GDM und einer der führenden Köpfe der VDA, drängte den Reichsarbeitsminister zu Unnachgiebigkeit, da das „Streikfieber durch Kompro- misse nur gefördert" werde1254. Angesichts der Interessenidentität von Reichs- arbeitsministerium und Werftindustriellen in der Arbeitszeitfrage standen die

Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1923, Bezirk Berlin, S. 3. 1250 So z.B. bei der Direktion der Osram GmbH, vgl. LAB, A Rep. 231, Nr. 653, Bd. 2, Osram GmbH, Kurze Niederschrift über die Besprechung des Ausschusses für Arbeitnehmer-Angele- genheiten am 18. 1. 1924; Lohnregelung ab 24. März 1924 - tarifloser Zustand, in: Mitteilungen für die Mitglieder des VBMI vom 1.4. 1924, S. 61. 1251 Vgl. SAA, 4 Lf 555, Stichwörter aus der Rede des Herrn Dr. Carl Friedrich von Siemens vom 8. 2. 1924; SAA, 11 Lf 397, Siemens an Borsig, 27.10. 1923. 1252 Vgl. Könke, Arbeitsbeziehungen, S. 193 f. 1253 Vgl ebenda, S. 150-152, DMV, Jahr- und Handbuch 1924, S. 139f. 1254 BAB, R 3901, Nr. 2595, Blohm an Reichsarbeitsminister, 27. 3. 1924. V. Unvergleichbare Zeiten 619

Werftarbeiter von vornherein auf verlorenem Posten. In einer Vereinbarung mit den Arbeitgebern vom 16. Mai stimmte der DMV gegen geringe Zugeständnisse in der Lohnfrage der Arbeitszeitverlängerung, die zunächst bis zum 31. Januar 1925 gelten sollte, zu. Von Seiten der Arbeiter, von denen sich nicht einmal mehr 60 Prozent an der Urabstimmung über das Verhandlungsergebnis beteiligten, wurden die Gewerkschaften für das Desaster verantwortlich gemacht, die wie auch in Berlin starke Mitgliedereinbußen zu verzeichnen hatten1255. Die wenigen, aber typischen Beispiele, die hier nur geschildert werden konnten, verdeutlichen, daß trotz des Aufschreies der Arbeitgeberseite gegen die Zwangs- schlichtung es nicht selten die Arbeitgebervertreter waren, die die Verbindlich- keitserklärung der Schiedssprüche beantragten, da das Reichsarbeitsministerium sich in den ersten Monaten des Jahres 1924 dem Standpunkt der Industriellen so- wohl in der Arbeitszeit- als auch in der Lohnfrage anschloß. In Arbeiter- und Ge- werkschaftskreisen wurde hingegen allenthalben der Ruf laut, die sozialdemokra- tischen Schlichter, die den Weisungen des Reichsarbeitsministers folgten, aus der Partei auszuschließen1256. Die vom Reichsarbeitsministerium intendierte Erhal- tung des Tarifvertragsprinzips wurde zumindest von einem Teil der Arbeiter- schaft nicht mehr als Errungenschaft betrachtet. Die Facharbeiter des Metallarbei- terverbandes vertrauten an einigen Orten auf ihre eigene Verhandlungsmacht. In Berlin, in Hamburg wie auch in Stuttgart billigten die Ortsverwaltungen des DMV, in denen die gelernten Arbeiter schon immer eine dominante Stellung be- sessen hatten, einen tariflosen Zustand, da sie fürchteten, daß bei Tarifverhandlun- gen ein Lohnabbau nicht abgewendet werden könne1257. Auch war die Zahl der Arbeiter nicht gering, die wegen der Verdienststeigerung freiwillig eine Arbeits- zeitverlängerung in Kauf nahm1258. Wie brüchig der Gedanke der Tarifpartnerschaft geworden war, läßt sich auch daran ablesen, daß die Zahl der Lohnbewegungen ohne Arbeitseinstellung im Me- tallsektor 1924 auf nur 77,2 Prozent sank, während sie in den vorangegangenen Jahren immer bei 90 Prozent gelegen hatte1259. Mit fast 36 Millionen verlorenen Arbeitstagen stand das Jahr 1924 an der Spitze der Arbeitskampfstatistik, wobei die übergroße Mehrheit der Arbeitskämpfe in die erste Hälfte des Jahres 1924 fiel. Erstmals überragte die Zahl der ausgesperrten Arbeiter, die geradezu als Barome- ter für den Machtkampf der Unternehmer gelten kann, bei weitem die der Strei- kenden. Die Summe der durch Aussperrung entfallenen Arbeitstage lag über 70 Prozent höher als die der durch Streiks eingebüßten. Pro Streik gingen 8500 Arbeitstage verloren, pro Aussperrung 58000. Mit einer solch langen Dauer der Streiks, vor allem aber der Aussperrungen dürften die Arbeitgeber nicht gerechnet haben, denn angesichts der leeren Kassen der Gewerkschaften, die trotz Beitragserhö-

1255 Vgl. Wentzel, Inflation und Arbeitslosigkeit, S. 170-172. 1256 Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/20/17, Kurt an das Direktorium Berlin, 15. 1. 1924; SAPMO- BArch, RY 1 1/3/8/50, Kommissarbericht vom 6. 2. 1924. 1257 Für Stuttgart vgl. Stolle, Arbeiterpolitik im Betrieb, S. 189. 1258 Vgl. Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für das Jahr 1923 und 1924, S. 3.70. 1259 Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1924, S. 52. 620 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Tabelle 15: Streiks und Aussperrungen in Deutschland 1924n60

Zahl der Höchstzahl der verlorene verlorene Arbeits- an Arbeitskämpfen Arbeitstage Arbeitstage kämpfe Beteiligten pro Streikendem

Streiks 1581 651075 13198470 20,2 Aussperrungen 392 976936 22770592 23,3

hungen sich nur langsam wieder füllten, hätte der Kampfwille der Beschäftigten schnell erlahmen müssen. Ohne Zweifel glich die finanzielle Situation der deut- schen Gewerkschaften in den ersten Monaten 1924 der der französischen. ADGB und AfA riefen zu Spendensammlungen auf, um den kommunistischen Sammel- aktionen etwas entgegensetzen zu können, sozialdemokratische Zeitungen druck- ten Spendenaufrufe der Gewerkschaftskartelle und appellierten während der Bergarbeiterstreiks, die Kinder der streikenden Kumpel bei sich aufzunehmen1261. Entscheidend für die Durchhaltekraft der Arbeiter war indes nicht anders als in Frankreich die Unterstützung durch die Kommunen. Durch die Verordnung über die Erwerbslosenfürsorge vom 16. Februar 1924 war zwar die Zahlung von Er- werbslosenfürsorge an Ausgesperrte untersagt1262, viele Kommunen wandten aber die Grundsätze des Armenrechts an, obwohl auch deren rechtliche Zulässigkeit umstritten war, denn grundsätzlich durften öffentliche Mittel nicht zur Unterstüt- zung einer Partei in einem Arbeitskampf verwandt werden. Insbesondere dort, wo es eine linke Stadtverordnetenmehrheit gab, wurden jedoch zumeist mit Billi- gung des Regierungspräsidenten, in Sachsen auch der Amtshauptmannschaft, an die Ausgesperrten und ihre Familien entweder geringe Wohlfahrtsunterstützun- gen gezahlt, unentgeltlich Brot ausgegeben oder Massenspeisungen organisiert1263. Während des Ruhrbergarbeiterstreiks wurden die Kommunen durch Mittel des preußischen Staatshaushaltes unterstützt, damit sie zumindest den mittelbar von dem Arbeitskampf Betroffenen unter die Arme greifen konnten1264. So konnten zumindest Hungerrevolten und Straßenkämpfe verhindert werden, auf die die KPD ganz offensichtlich spekuliert hatte1265. Die deutschen Unternehmer reagier-

1260 Errechnet nach Streiks und Aussperrungen im Jahre 1924, in: RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1926, Nr. 14, S. 227»-231*. 12« So vor allem die Leipziger Volkszeitung vom 4. 12. 1923, 13. 2. 1924, 6. 3. 1924, 20. 5. 1924 und 17.6.1924; zu dem Spendenaufruf von ADGB und AfA während des Bergarbeiterstreiks vgl. Ge- werkschafts-Zeitung Nr. 20 vom 17. 5. 1924, S. 151. 1262 Vgl. § 3 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über Erwerbslosenunterstützung vom 16. 2. 1924, RGBl. 1924, I, S. 127; vgl. auch Ministerbesprechung vom 19. 5. 1924, in: AdR, Die Kabinette Marx I und II, S. 647, Anm. 2. 12« Vgl. Herlemann, Kommunalpolitik der KPD, S. 42^15; GStA, I HA, Rep. 120, BBVI Nr. 208, Re- gierungspräsident Grützner an Preußischen Minister für Handel und Gewerbe, 5.2. 1924; Venus, Amtshauptmann in Sachsen, S. 66 f.; Verhandlungen des Sächsischen Landtages, 2. Wahlperiode, Bd. 3, Sitzung am 30. 5. 1924, S. 2905. 1264 Vgl. BAB, R 3901, Nr. 33257, Reichsarbeitsministerium, Vermerk des Referenten betr. Unterstüt- zung der Personen, die durch Arbeitskämpfe im Kohlenbergbau arbeitslos geworden sind, vom 27. 5. 1924. 12« Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/3/18-19/11, Berichte aus dem Bezirk 18 [Ruhrgebiet] vom 23.5. 1924. V. Unvergleichbare Zeiten 621 ten auf die staatlichen und kommunalen Unterstützungsmaßnahmen genauso wie die französischen patrons. Sie protestierten und versuchten immer wieder von neuem deren rechtmäßige Unzulässigkeit zu beweisen, denn ohne die Nahrungs- mittelhilfen der Kommunen wären die Arbeitskämpfe schnell zusammengebro- chen1266. Die Kommunen befanden sich in Ubereinstimmung mit der öffentlichen Meinung. Große Teile der Bevölkerung sympathisierten insbesondere mit den ausgesperrten Bergarbeitern. Die Deutsche Bergwerks-Zeitung stellte grimmig fest: „Selbst die Obst-, Gemüse- und Kartoffelhändler haben plötzlich ihr mit- fühlendes Herz entdeckt."1267 Die Arbeitskämpfe im Bergbau hatten 1924 ohne Zweifel das meiste Aufsehen erregt, aber die Schwerindustrie war - wie aus der folgenden nach Branchen ge- gliederten Tabelle über Streiks und Aussperrungen im Jahre 1924 noch einmal ersichtlich wird1268 - keineswegs der einzige Schauplatz harter sozialer Auseinan- dersetzungen.

Tabelle 16: Arbeitskämpfe in Deutschland 1924, aufgeteilt nach Branchen

Streiks Branchen Zahl der Höchstzahl der verlorene i. v. H. aller Streiks gleichzeitig Arbeitstage verlorener Streikenden Arbeitstage

Bergbau, Hütten- 37 108035 3221876 24,4 wesen etc. Metallindustrie 350 171712 4465628 33,8 (ohne Hüttenwesen) Baugewerbe 314 80830 1376602 10,4 Textilindustrie 109 69820 1327321 10,0

Aussperrungen Zahl der Höchstzahl der verlorene i. v. H. aller Aussperrungen gleichzeitig Arbeitstage verlorener Ausgesperrten Arbeitstage

Bergbau, Hütten- 19 459782 9862058 43,3 wesen etc. Metallindustrie 138 303479 7883282 34,6 (ohne Hüttenwesen) Baugewerbe 82 97458 2068205 9,1 Holzgewerbe 49 30666 1107391 4,8

1266 Zahlreiche Schreiben von Arbeitgeberverbänden, insbesondere des Deutschen Industrieschutz- verbandes, in: BAB, R 3901, Nr. 33527. Vgl. auch Herlemann, Kommunalpolitik der KPD, S. 45; Gemeinden und Bergleute, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 22. 5. 1924. 1267 Zum Streik, Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 31. 5. 1924; vgl. auch May, Nach dem Bergarbei- terstreik in Sachsen, Sächsische Industrie vom 19. 7. 1924, S. 452. 1268 Errechnet auf der Grundlage Streiks und Aussperrungen im Jahre 1924, RABI. (Nichtamtlicher Teil), 1926, Nr. 14, S. 227*-232*. 622 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Man kann der Tabelle entnehmen, daß die eisenverarbeitende Industrie und der Maschinenbau dem Spitzenreiter Schwerindustrie in der Arbeitskampfstatistik dicht folgte. Nicht einmal die Hälfte aller ausgesperrten Arbeitnehmer hatte die Schwerindustrie, die freilich innerhalb der Gesamtindustrie noch immer tonange- bend war, zu verantworten. Die hohe Zahl der Aussperrungen im Bau- und Holz- gewerbe entspricht einer Tradition, die in die Vorkriegszeit zurückreicht. Die Kampfziele, die die Schwerindustrie diktiert und zahlreiche andere Bran- chen übernommen hatten, konnten im Frühjahr 1924 dank der oben geschilderten Unterstützung des Reichsarbeitsministeriums erfolgreich durchgesetzt werden. Nach einer repräsentativen Erhebung des ADGB arbeiteten Mitte Mai 1924 54,7 Prozent aller Beschäftigten länger als 48 Stunden die Woche, wobei die Mehrar- beit im Bergbau in diesen Zahlen keine Berücksichtigung fand. Im Gebiet Rhein- land-Westfalen, Lippe und Birkenfeld waren sogar 81,2 Prozent der Arbeitneh- mer von einer Arbeitszeitverlängerung betroffen, in Bayern 68 und in Sachsen 58,4 Prozent. Im rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgebiet hatten 47,7 Prozent der Beschäftigten eine Wochenarbeitszeit, die über 54 Stunden hinausging. Mit 82,4 und 63,5 Prozent gehörten die Textil- und die Metallindustrie zu den Indu- striezweigen, in denen am rigorosesten die Möglichkeit einer Arbeitszeitverlänge- rung ausgeschöpft wurde, während im Bau- und Holzgewerbe für die große Mehrheit der Beschäftigten noch der Achtstundentag die Norm war1269. Ende 1924 überstieg nur noch bei 45,4 Prozent der Beschäftigten die Wochenarbeitszeit 48 Stunden, in der Metallindustrie waren es immerhin noch 53,1 Prozent der Be- schäftigten, die freiwillig oder unfreiwillig Mehrarbeit leisteten1270. Nach der Machtprobe im Frühjahr und dem langsamen Erstarken der Gewerkschaften kehrte offensichtlich bei einem Teil der Betriebsleitungen Pragmatismus ein. Ar- beitszeitverlängerungen wurden nur noch dann angeordnet, wenn sie aus kon- junkturellen und betriebstechnischen Gründen auch erkennbare Vorteile verspra- chen. Auch die Realwochenlöhne, die selbst bei verlängerter Arbeitszeit im März 1924 bei gelernten Facharbeitern durchschnittlich 21,3 Prozent unter den Vor- kriegslöhnen lagen1271, näherten sich bis Ende 1924 fast dem Vorkriegsniveau an, bei ungelernten Arbeitern lagen sie sogar leicht darüber, obwohl die Lohnspannen zwischen gelernten und ungelernten Arbeitern deutlich wuchsen: Lag die Diffe- renz zwischen den tarifmäßigen Wochenlöhnen von gelernten und ungelernten Arbeitern im Januar 1924, als die Lohnnivellierung schon deutlich revidiert wor- den war, bei 20,7 Prozent1272, so erhöhte sie sich bis Dezember 1924 noch auf 31,9 Prozent1273. Eine Abkehr von den Nivellierungstendenzen zeichnete sich auch bei

"" Vgl. Jahrbuch des ADGB 1924, S. 116. "Ό Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1924, S. 23. "" Vgl. Die Tariflöhne im März 1924, in: Wirtschaft und Statistik 4,1924, S. 244. 1272 In der Eisen- und Stahlindustrie des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, in der dem Lei- stungslohnprinzip eine zentrale Bedeutung beigemessen wurde, war die Lohnspanne bereits im Januar 1924 von acht auf 25 Prozent heraufgesetzt worden. Vgl. Bruckner, Lohn- und Tarifpoli- tik, S. 170. 1273 Vgl. Wirtschaft und Statistik 5, 1925, S. 60; bei den Metallarbeitern erhöhte sich die Spanne im gleichen Zeitraum von 21,2 auf 31,5 Prozent; errechnet auf der Grundlage des Statistischen Jahr- buchs für das Deutsche Reich 1924/25, S. 279. In Berlin wuchs die Differenz von 18,5 auf 32,2 Prozent. Vgl. Statistisches Taschenbuch der Stadt Berlin 1926, S. 88. V. Unvergleichbare Zeiten 623 den Frauenlöhnen ab. So verdiente bereits im Januar 1924 eine gelernte Textilar- beiterin 23,3 Prozent weniger als ihr männlicher Kollege, eine ungelernte sogar 30,1 Prozent1274. Die schwere Krise schien überwunden, die Inflation und die Machtprobe der Unternehmer, die Anfang 1924 mit Unterstützung des Reichs- arbeitsministeriums durchgeführte Arbeitszeitverlängerung und der Lohnabbau hatten die Gewerkschaften nicht vernichten können, sie blieben nicht ohnmächtig wie die französischen Gewerkschaften nach dem gescheiterten Generalstreik vom Mai 1920, aber eine Rückkehr zur Normalität bedeutete das Jahr 1924 nicht. Die Verwerfungen und Brüche, die die Inflation hinterlassen hatte, waren hierfür zu groß.

5. „ Hitlerreif" durch Inflation

„Nichts hat das deutsche Volk so erbittert, so haßwütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation", schrieb Stefan Zweig in seinen Erinnerungen1275. Nicht anders sah es Sebastian Haffner, der konstatierte: „Kein Volk der Welt hat etwas erlebt, was dem deutschen ,1923'-Erlebnis entspricht. Den Weltkrieg haben alle erlebt, die meisten auch Revolutionen, soziale Krisen, Streiks, Vermögensumschichtungen, Geldentwertungen. Aber keins die phantastische groteske Ubersteigerung von al- ledem auf einmal, die 1923 in Deutschland stattfand."1276 Hatte Deutschland 1923 kurz vor der Katastrophe gestanden, so gehörte Frankreich zu den Staaten, die von diesen Krisenphänomenen am wenigsten erschüttert wurden. Es durchlebte 1918/19 keine Revolution, die wenigen großen Streiks der Nachkriegszeit endeten schnell in einer Niederlage der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften, die durch Spaltung gelähmt waren. Die im Zuge der Währungsstabilisierung durch Poincaré stattfindende Vermögensumschichtung blieb moderat, so hart sie auch die Ren- tiers getroffen haben mag, und die Geldentwertung schlug - wie wir im folgenden Kapitel noch sehen werden - nicht um in eine Hyperinflation, die wie in Deutsch- land der Industrie große Substanzverluste zufügte, die Masse der Bevölkerung in materielle und physische Verelendung stürzte, ein Heer von Arbeitslosen schuf, soziale Auseinandersetzungen provozierte, bei denen die ausgezehrten Gewerk- schaften ihre Machtlosigkeit eingestehen mußten, und die politischen Grundfe- sten der Republik so erschütterte, daß der Ruf nach einer Diktatur laut wurde. Daß das Rad der Geschichte nicht in die Vorkriegszeit, die angesichts der Schrecken der Inflation von seiten der Schwerindustrie zur Arbeiteridylle verklärt werden konnte1277, zurückzudrehen war, führte insbesondere, aber keineswegs nur in Kreisen der Schwerindustrie zu einer radikalen Kritik an den deutschen Gewerkschaften, vor allem aber an der deutschen parlamentarischen Demokratie, die im Gegensatz zu anderen westlichen Staaten auf sozialstaatlichen Prinzipien aufbaute. Die industriellen Beziehungen und die Zurückhaltung des Staates bei

1274 Errechnet auf der Gundlage des Statistischen Jahrbuchs für das Deutsche Reich 1924/25, S. 280f. 1275 Zweig, Die Welt von gestern, S. 350. 1276 Haffner, Geschichte eines Deutschen, S. 54. 1277 So stand in der Deutschen Bergwerks-Zeitung vom 9. 2. 1924 zu lesen: „Man befrage die Massen der Arbeiter, ob sie es gerne wieder so gut haben möchten wie vor 1914. Nur ein Narr könnte diese Frage verneinen." 624 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Eingriffen in die Wirtschaft in den USA und europäischen Ländern wie Frank- reich wurden von Arbeitgebervertretern wie beispielsweise der grauen Eminenz im VDA, Hermann Meißinger, zum Vorbild stilisiert: „Die englischen Gewerk- schaften sind wirtschaftlich, nicht politisch tätig. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben eine gewaltige Unternehmergruppe, die heute noch jedes Verhandeln mit den Gewerkschaften ablehnt, Frankreichs Gewerkschaften sind bedeutungslos trotz Herriot. Wir in Deutschland können auf die Dauer keine auf Organisationsvorherrschaft aufgebaute, d. h. sozialistische Wirtschaftspolitik trei- ben, ohne im Weltmarkt durch eine individualistisch, d. h. auf starker Unterneh- merpersönlichkeit aufgebaute und deshalb beweglichere, weil freiere Konkurrenz Schaden zu nehmen."1278 Meißinger gehörte indes nicht zu den Arbeitgebervertretern, die die Gewerk- schaften zerstören wollten und/oder die Zentralarbeitsgemeinschaft „in ihrer jet- zigen marxistisch verseuchten Gestalt" für tot erklärten1279. Er plädierte für deren Fortbestand und wollte sie durch eine enge Bindung an das Tarifsystem retten1280. Die lebhafte Verteidigung der ZAG, deren Grundlage durch die Unternehmer- offensive während der Währungsstabilisierung unterminiert worden war, ent- sprang dem Bestreben, das Autonomieprinzip zu wahren und jede staatliche Ein- mischung auszuschalten. Während einige Arbeitgebervertreter wie z.B. der Ge- schäftsführer der VDA Tänzler durch ihr Verlangen nach freier Hand für die Un- ternehmer in der Tarif- und Arbeitszeitpolitik und die Anerkennung von Werk- vereinen die Gewerkschaften provozierten1281, lehnte die Mehrheit der deutschen Industriellen gleich den französischen patrons den sozialen Interventionsstaat ab, zog es jedoch anders als diese vor, mit den Gewerkschaften zu kooperieren, die sich allerdings nicht auf den Standpunkt des Klassenkampfes stellen durften, son- dern - wie Borsig es formulierte - auf den „Standpunkt des Wohles von Staat, Volk und Wirtschaft", was nur heißen konnte, daß die geschwächten Gewerk- schaften sich dem Willen und Wollen der Arbeitgeberseite unterordnen sollten1282. Der Werkvereinsgedanke war hingegen auch innerhalb des Arbeitgeberlagers sehr umstritten. So warnte beispielsweise Josef Winschuh, damals Sozialsekretär eines Düsseldorfer Stahlunternehmens, später wirtschaftspolitischer Redakteur der in- dustrienahen Kölnischen Zeitung und Experte für betriebliche Sozialpolitik, vor dessen Förderung, da er dem Betriebssyndikalismus und der kommunistischen Betriebszellenbewegung Vorschub leiste1283. Außerdem erkannte er, daß aufgrund der zahlreichen gewalttätigen innerbetrieblichen Konflikte während der Inflati- onszeit der Boden für das Werkvereinsprinzip zu verhärtet sei. In der ADGB-Bundesausschußsitzung am 15./16. Januar 1924, wo einige Mit- glieder wie Spliedt und Tarnow vor einem Ausscheiden aus der Zentralarbeitsge- meinschaft zurückschreckten, weil sie eine „hemmungslose Züchtung der gelben

1278 Meißinger, Die Betriebsgemeinschaft, S. 248. 1279 So August Heinrichsbauer, Vom Ende der Arbeitsgemeinschaft? Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 4. 12. 1923. neo Vgl. Feldman, Industrie und Gewerkschaften, S. 125 f. nei Vgl. Anlage zum VDA-Rundschreiben Nr. 19 vom 12. 1. 1924. Ausführungen von Dr. Tänzler zur Neugestaltung der ZAG, in: ebenda, S. 201 f. 1282 Vgl. von Borsig, Industrie und Sozialpolitik, S. 10. 1283 So Winschuh, Psychologische Grundlagen der Werksgemeinschaft, S. 260-278. V. Unvergleichbare Zeiten 625

Werkvereine" fürchteten, wurde eine Resolution verabschiedet, die den Bundes- vorstand zum Austritt aus der ZAG aufforderte, da diese nicht habe „verhindern können, daß weite Kreise der Unternehmer wirtschaftlich und sozial eine Haltung einnehmen, die unvereinbar mit dem Geist und den Vereinbarungen der Arbeits- gemeinschaft ist"1284. Obwohl die christlichen Gewerkschaften und die Hirsch- Dunckerschen Gewerkvereine noch an der ZAG festhielten, war sie de facto ge- scheitert. Die offizielle Aufkündigung der ZAG bildete nur noch den Schlußstein in einem langen Prozeß der Aushöhlung eines Basiskompromisses, der 1918 zu den Grundfesten der Republik gezählt hatte. Nach dem irreparablen Schaden, den das Autonomieprinzip erlitten hatte, rüsteten die Gewerkschaften zur Wiederge- winnung ihres Einflusses innerhalb des Staates, den sie während der Inflationszeit fast vollständig verloren hatten1285. Als Folge drohte in Deutschland bereits Mitte der zwanziger Jahre eine Verstaatlichung der industriellen Beziehungen, durch die jeder soziale zu einem parlamentarischen Konflikt werden konnte, der das Funk- tionieren des parlamentarischen Systems zu untergraben drohte. Daß die SPD-Fraktion sich im März in einer Interpellation im Reichstag For- derungen der Gewerkschaften zu eigen machte, die Regierung aufforderte, das Washingtoner Abkommen über den Achtstundentag zu unterzeichnen, für eine Aufbesserung der Löhne einzutreten und eine Beseitigung des Tarifzwanges zu verhindern, wurde in den Zeitungen der Schwerindustrie als Beweis dafür gewer- tet, daß die Gewerkschaften eine „reinpolitische Einstellung" angenommen und damit ihre Raison d'être verloren hätten1286. Die Gefahr einer Koalitionsregierung mit der SPD schien angesichts der Politisierung der industriellen Beziehungen in Industriekreisen größer als je zuvor. Die SPD aus der Regierung zu verbannen, ge- hörte bereits im Frühjahr 1924 zum erklärten Ziel vor allem, aber nicht nur der deutschen Schwerindustriellen1287. Stinnes hatte es bereits im Februar 1924 abge- lehnt, ein Mandat in der DVP-Fraktion anzunehmen, wenn dort der Architekt der Großen Koalition Gustav Stresemann maßgeblichen Einfluß behielt1288. Wäre Stinnes nicht erkrankt und bald darauf gestorben, wäre er wahrscheinlich der füh- rende Kopf der am 12. März gegründeten Nationalliberalen Vereinigung der Deutschen Volkspartei geworden, die für eine straff nationale und antisozialisti- sche Ausrichtung der DVP sorgen wollte. Die große Mehrheit der Gründungs- mitglieder hatte eine leitende Stellung in der Montanindustrie im Rheinland und Westfalen inne, fünf der Gründungsväter hatten einen leitenden Posten beim Stin- nes-Konzern1289. Nachdem der Vorstand der DVP mit den Dissidenten brach, wechselte ein Teil der schwerindustriellen Wortführer wie Moritz Klönne, Quaatz

1284 Sitzung des Bundesauschusses am 15./lé. 1. 1924, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Ge- werkschaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 111 und 135. 1285 Vgl. ebenda, S. 134. 1286 Vg[_ Interpellation der Abgeordneten Müller (Franken) und Gen. betr. Schutz der Arbeitskraft, Verhandlungen des Reichstages, Anlagen Bd. 380, Drs. 6486. Der Zwiespalt zwischen Arbeitge- bern und Gewerkschaften, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 8. 3. 1924. 1287 So hatte beispielsweise August Thyssen am 13. Februar 1924 an Heinrich Thyssen-Bornemisza geschrieben, daß er erst dann wieder „hoffnungsvoll in die Zukunft" blicke, wenn es gelänge, „die Sozialisten und Kommunisten aus der Deutschen Regierung [zu] verdrängen". Zit. nach Lesczenski, August Thyssen, S. 314. "»« Vgl. ACDP, 1-220-002/7, Stinnes an Morath, 12.2. 1924. 1289 Vg] Richter, Deutsche Volkspartei, S. 312; Jones, German Liberalism, S. 214f. 626 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen und später auch Vogler zur DNVP und stärkte in hohem Maße auch finanziell eine Partei, die nicht auf dem Boden der Republik stand. Ein ähnlicher Prozeß spielte sich innerhalb der DDP ab, wo Siemens, trotz seiner Warnung, das politi- sche Pendel nicht zu weit nach rechts ausschlagen zu lassen1290, zum Mitbegrün- der einer Liberalen Vereinigung wurde, die eine Einigung der liberalen Parteien anstrebte und eine Koalitionsregierung mit der DNVP nicht ausschloß1291. Nicht, daß die deutsche Industrie finanziellen Druck auf die liberalen Parteien ausübte, war das Skandalöse - das taten auch die französischen Industriellen und die ande- rer europäischer Länder -, sondern, daß sie den Ruin der Finanzen der liberalen Parteien durch die Inflation auszunutzen versuchten, um die Parteienlandschaft völlig umzupflügen, und in dem damit verbundenen Bestreben, den Sozialstaats- kompromiß aufzukündigen, auch vor einer Erosion des bürgerlich-liberalen Wählerreservoirs nicht zurückschreckten. Daß diese Offensive nicht den erwarte- ten Erfolg hatte, sollte nur die Verdikte gegen den Parlamentarismus stärken, wenn auch vorerst keine Diktaturpläne mehr geschmiedet wurden - nicht zuletzt auch deshalb, weil keine geeigneten Persönlichkeiten zur Verfügung standen. Die Gewerkschaften, der feste Pfeiler der Republik, glichen einem „Trümmer- haufen"1292. „Das Jahr 1923 wird als eins der schwärzesten Jahre im Buche deut- scher Geschichte verzeichnet werden", stellte die Gewerkschafts-Zeitung am 5. Januar 1924 fest1293. Weitaus schlimmer als die finanzielle Auszehrung der Ge- werkschaften war die scharenweise Flucht der Mitglieder aus den Gewerkschaf- ten, die während der Inflation die Lohnabhängigen nicht vor Verelendung hatten schützen können und in den darauffolgenden großen Arbeitskämpfen ihre Macht nicht mehr in die Wagschale werfen konnten. Die Zahl der Mitglieder im AD GB sank von 1922 7895065 auf 4618353 im Jahr 1924, der Organisationsgrad von 54,7 auf 32,0 Prozenti294. Im Vergleich zur CGT und CGTU war der ADGB noch immer eine Massengewerkschaft, der beträchtlich mehr Mitglieder als in der Vor- kriegszeit hatte. In Berlin, Braunschweig wie auch in Chemnitz - um hier nur ei- nige wenige Beispiele zu nennen - sank die Mitgliederzahl allerdings unter das Ni- veau der Vorkriegszeit1295. Bei einigen großen Verbänden wie dem Metall-, Textil-, Fabrik- und Bergarbeiterverband lagen die Verluste bei 40 und mehr Prozent. Im Bezirk Essen waren die Mitgliederverluste des DMV dramatisch: Die Zahl der Mitglieder sank dort auf 29865, während sie 1923 noch 108969 betragen hatte. In Berlin bot sich ein ähnliches Bild: 153053 Mitglieder 1922, 54028 1924. Auch in Chemnitz und Zwickau verlor der DMV sechzig bis siebzig Prozent seiner Mit-

1290 Vgl. SAA, 4 Lf 555, Stichwörter aus der Rede des Herrn Dr. Carl Friedrich von Siemens am 8. 2. 1924. 12.1 Die Gründungserklärung der Liberalen Vereinigung vom 28. 10. 1924 befindet sich in: SAA, 4 Lf 697. Von den Industriellen Schloß sich außer Siemens auch der stellvertretende Vorsitzende des RDI, Hans Krämer, der Liberalen Vereinigung an; vgl. auch Jones, Carl Friedrich von Siemens, S. 241 f. 12.2 So der Verband der Bergarbeiter Deutschlands, Jahrbuch 1923, S. 77. 12.3 Ein schwarzes Jahr, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 1 vom 5. 1. 1924, S. 1. 1294 Vgl. Potthoff, Freie Gewerkschaften, S. 348. 1295 Vgl. Schaller, „Einmal kommt die Zeit", S. 311; Rother, Die Sozialdemokratie im Lande Braun- schweig, S. 283; ADGB, Gewerkschaftskommission Berlin, 34. Geschäftsbericht für das Jahr 1925, S. 15. V. Unvergleichbare Zeiten 627 glieder1296. Überproportionale Verluste entstanden überall dort, wo die Kommu- nisten eine starke Bastion hatten und der Mitgliederzuwachs nach 1918 sehr groß war. In der Hüttenindustrie des Rheinlands und Westfalens spielte darüber hinaus die gewerkschaftliche Abstinenz der Hüttenarbeiter in der Vorkriegszeit eine große Rolle. Ohne das Eingreifen des Staates wären die Hüttenarbeiter des Ruhr- gebietes der uneingeschränkten Herrschaft der Eisen- und Stahlbarone ebenso ausgeliefert gewesen wie die Ostfrankreichs. Die Führung der Freien Gewerkschaften machte die Kommunisten für die Zer- störung der Gewerkschaften verantwortlich, was gewiß nicht völlig falsch war, mußte doch selbst Pieck insgeheim zugeben, daß die Sympathien der Arbeiter sich auf Hoffnungen und Versprechen gestützt hatten, die auch die KPD nicht erfüllen konnte, „solange nicht eine wirklich revolutionäre Bewegung vorhanden" war1297. Bittere Enttäuschung war die Folge, was zur Flucht aus den Gewerkschaften, aber auch aus der KPD führte. Die Kommunisten verloren zwischen September 1923 und April 1924 zwei Drittel ihrer Mitglieder1298. Ohne den Vertrauensverlust der in der Hyperinflation hilflos agierenden Gewerkschaftsvorstände wären indes die revolutionären Parolen der Kommunisten innerhalb der Arbeiterschaft 1923 auf keine große Resonanz gestoßen. Wie in Frankreich machte sich auch in Deutschland Apathie und Resignation breit. Der innerbetrieblichen Mitbestimmung, die ohnehin die Erwartungen der Arbeiter nicht erfüllt hatte, wurde kein großes Interesse mehr entgegengebracht, nachdem die Unternehmer rücksichtslos ihre Betriebe „gesäubert" hatten. Über den Betriebsräten selbst hatte das Damoklesschwert der Entlassung gehangen, so daß in nicht wenigen Betrieben sich niemand mehr zum Betriebsrat wählen lassen wollte. In manchen Betrieben konnten keine Wahllisten mehr aufgestellt werden. In der Textilindustrie weigerten sich insbesondere die Frauen, für das Amt einer Betriebsrätin zu kandidieren1299. Wo noch kommunistische Betriebsräte domi- nierten wie in der Chemieindustrie, in der die Kommunisten die Betriebsrätewah- len 1924 haushoch gewonnen hatten, verweigerten die Betriebsleitungen die Ko- operation1300. Die Massenentlassungen hatten andererseits auch das Ende der gewaltsamen innerbetrieblichen Konfrontation zur Folge. Von der Kampfwaffe der direkten Aktion wurde kein Gebrauch mehr gemacht. Im Erzgebirge-Vogt- land, wo die Löhne extrem niedrig waren, kam es allerdings zu von Verbitterung und Haß geschürten Sprengstoffattentaten auf die Villen von Fabrikbesitzern1301.

1296 Vgl. DMV, Jahr- und Handbuch 1924, S. 29 und S. 64; Homburg, Rationalisierung und Industrie- arbeit, S. 704. '2" SAPMO-BArch, NY 4005/93, Pieck an Zetkin, 8.2. 1924. '«8 Vgl. Sozialgeschichte der KPD 1918-1933, Statistiken. Danach hatte die KPD im September 1923 294230, im April 1924 nur noch 99217 Mitglieder. 1299 Vgl. z.B. Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für die Jahre 1923 und 1924, Bd. 1, S. 1.540 f.; Jahresberichte der Gewerbe-Aufsichtsbeamten und Bergbehörden für die Jahre 1923 und 1924, Bd. 2, S. 3.28-3.32; zur geringen Wertschätzung des Betriebsrätegesetzes in der Textilindustrie vgl. auch Deutscher Textilarbeiter-Verband, Jahrbuch 1923/1924, S. 137— 139. 1300 Vgl. Plumpe, Betriebliche Mitbestimmung, S. 428. 1501 Vgl. z.B. StAC, AH Schwarzenberg Nr. 1909, Auszug aus dem Roten Drachen vom März 1924; AH Glauchau 263, Krim.-Posten, Winkler, an Amtshauptmannschaft in Glauchau, 14. 2. 1924; SAPMO-BArch, RY 1 1/3/8/50, Kommissarbericht vom 10. 3. 1924. 628 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Die Inflation hatte wahrscheinlich noch mehr als die enttäuschten Revolutions- erwartungen zu einem Bruch im „Seelenleben" der Arbeiter und der Arbeiterbe- wegung geführt1302. Der Glaube an die Kraft und den Sieg der Arbeiterbewegung war abhanden gekommen. Bei der Masse der Arbeiter steigerte sich die Enttäu- schung über den Ausgang der Revolution zur Verzweiflung über die ungebrem- ste, die eigene Existenz gefährdende inflationäre Entwicklung, die zunächst in Radikalität, dann in Apathie umschlug, die aber anders als in Frankreich wieder in radikalen Protest mündete, sobald die Arbeiterschaft zu den Wahlurnen ging. Die Reichstagswahl vom Mai 1924 wurde zu einem Debakel für die SPD, die nur noch einen Stimmenanteil von 20,5 Prozent verbuchen konnte, während die KPD, ob- wohl sie selbst nach Brandlers Einschätzung den Einfluß auf die Massen verloren hatte1303, mit 12,6 Prozent der Stimmen, aber auch die republikfeindliche DNVP mit 19,5 Prozent der Stimmen zu den Wahlgewinnern zählten, wobei zumindest in den evangelischen Gebieten Ostelbiens auch Arbeiter die DNVP gewählt zu haben scheinen. Insgesamt unterstützten im Mai 1924 weniger Wähler die Arbei- terparteien SPD und KPD als in der Vorkriegszeit die SPD1304. In den traditionel- len Arbeiterregionen, in Düsseldorf Ost und West, in Westfalen Süd und Köln- Aachen, wo Anfang 1924 die großen Arbeitskämpfe getobt hatten, hatte die KPD die SPD überrunden können. In Berlin war sie dicht an das Wahlergebnis der SPD herangekommen1305. Hätten die Wahlen im Januar 1924 stattgefunden, wäre das Wahlergebnis für die SPD wahrscheinlich noch verheerender ausgefallen, wie die Gemeindewahlen in Sachsen zeigten, wo selbst in einer SPD-Hochburg mit langer gewerkschaftlicher Tradition wie in Leipzig die Sozialdemokraten über 50000 Stimmen verloren, während die KPD über 37000 Stimmen gewann - ein Ergebnis, das sie in der Reichstagswahl nicht wieder reproduzieren konnte1306. Die Wahler- gebnisse führten schlagend vor Augen, daß die durch die Inflation verursachten großen sozialen Auseinandersetzungen in politischen Protest umschlugen, der die Grundlagen der Republik gefährden mußte und Deutschland reif für totalitäre Versuchungen machte. Mit Recht hat Gerald D. Feldman betont, „daß das Jahr 1923 als das eigentliche Vorspiel zu 1930/33 zu verstehen ist"1307. In Frankreich hingegen zeugte der Wahlsieg des Cartel des Gauches in den fast zur gleichen Zeit stattfindenden Wahlen von der dort noch ungebrochenen Hoffnung auf den sozi- alpolitischen Erfolg einer linksrepublikanischen Regierung.

1302 Vgl. die Ausführungen Tarnows auf dem Breslauer Kongreß, Protokoll der Verhandlungen des zwölften Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands 1925, S. 231. "03 Vgl. SAPMO-BArch, NY 4005/103, Brandler an Zetkin, 14.2. 1924. 1304 Vgl. Winkler, Die soziale Basis der sozialdemokratischen Parteien, S. 149. nos Vgl. Falter, Wahlen und Abstimmungen, S. 69; Winkler, Der Schein der Normalität, S. 177-188. 1306 Vgl. Die Gemeindewahlen in Sachsen, Leipziger Volkszeitung vom 14. 1. 1924; Falter, Wahlen und Abstimmungen, S. 69. 1307 Feldman, Der 30. Januar 1933 und die politische Kultur von Weimar, S. 267. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 629

VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich?

1. Antiinflationärer Konsens und Streit über die Krisenbewältigung Der 11. Mai 1924 war für alle Reformbefürworter in Frankreich und nicht zuletzt für die CGT ein Tag der Hoffnung. Mit dem Sieg des Linkskartells schien die Rea- lisierung der Gewerkschaftsforderungen in unmittelbare Nähe zu rücken. Hatten doch auf der Wahlplattform des Cartels des Gauches fast alle Programmpunkte der CGT - wie Verabschiedung des geplanten Sozialversicherungsgesetzes, Ver- teidigung des Achtstundentages, Koalitionsrecht für Beamte, Kampf gegen die vom Bloc national in Angriff genommene Privatisierungspolitik von Monopolen und die Einrichtung neuer Monopole, Amnestie der entlassenen Eisenbahner - gestanden. Der neu gewählte Regierungschef Herriot hatte in seiner Regierungs- erklärung am 17. Juni noch einmal die von der CGT gewünschten sozialen Maß- nahmen zu einem Ziel der Regierung erklärt1308, und Arbeitsminister Justin Go- dart präsentierte sich am 17. Dezember in der Kammer als ein eloquenter Verfech- ter der Arbeitnehmerinteressen, so daß die Unternehmerpresse die Rede nach- druckte, um ihre Leser vor dem Kommenden zu warnen1309. In der Deutschen Botschaft in Paris sah man hingegen die Reformeuphorie mit Skepsis. Hatte doch die deutsche Entwicklung gezeigt, wie verheerend sich die Inflation für die sozial- politischen Einrichtungen ausgewirkt hatte. Der „Idealismus" werde sich an der „rauhen Wirklichkeit" stoßen, prophezeite die wirtschaftspolitische Abteilung der Botschaft, die glaubte, daß die anvisierten sozialen Verbesserungen angesichts des Haushaltsdefizits zum Scheitern verurteilt seien1310. Die deutsche Kassandra sollte recht behalten. Spätestens seit Anfang 1925 stand die Reformpolitik ganz im Schatten der Inflation, wenngleich diese in Frankreich nicht galoppierte und auch nicht in eine Hyperinflation umschlug. Im Vergleich zur deutschen Entwicklung war die Geldentwertung in Frankreich wenig drama- tisch. Im Mai 1924, als die Entwertung des Franc vorerst gestoppt werden konnte, erhielt man für einen Dollar 17,35 Francs, im September 1925 21,22 Francs, im Juli 1926 mußte man dann schon 40,95 Francs für einen Dollar auf den Tisch legen1311. Die Lebensmittelpreise stiegen empfindlich, aber keineswegs ins Astronomische. Ein Kilo Beefsteak verteuerte sich von 14,80 Francs im Jahr 1923 auf 20,90 Francs 1926, ein Kilo Butter von 15,62 auf 22,50 Francs, ein Liter Milch von 0,93 auf 1,34 Francs und ein Kilo Brot von 1,15 auf 2,24 Francs1312. Daß die Inflation trotz die- ser im Vergleich zu Deutschland eher schleichenden Entwicklung zu einem zen- tralen Thema der Politik und der öffentlichen Meinung geriet, dürfte zum einen auf das Erschrecken über die Hyperinflation in Deutschland, zum anderen auf die noe Vgl. Ce que veut la classe ouvrière, Le Peuple vom 14. 5. 1924; Le Programme du Cabinet Her- riot, Le Peuple vom 18.5. 1924; zum Regierungsprogramm Herriots vgl. auch Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 442 f. 1309 Zu den Redebeiträgen Godarts vgl. J.O., Chambre des Députés, Débats parlementaires, Séance du 17 décembre 1924, S. 4603-4605; zum Nachdruck der Rede in der Unternehmerpresse vgl. Le budget de travail devant la Chambre, La Journée Industrielle vom 21./22.12. 1924. "•o Vgl. BAB, R 1501, Nr. 113356, Bericht der wirtschaftspolitischen Abteilung der Deutschen Bot- schaft in Paris vom 6.11. 1924. nil Vgl. Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 445. 1312 Vgl. Documents pour l'élaboration d'indices du coût de la vie, S. 29, 62, 72 und 86. 630 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Mentalität der Franzosen, die noch immer durch die Gesinnung der Rentiers und Sparer geprägt war, zurückzuführen sein. Dem antiinflationären Konsens jeden- falls widersprach niemand - auch nicht die Unternehmer, obwohl während der Inflationsjahre 1924-1926 die Produktion erstmals in der Nachkriegszeit das Vor- kriegsniveau überschritt und auch der Export Jahr für Jahr anstieg1313. Im Bergbau kam es allerdings zu einer Absatzkrise und auch in einigen Zweigen der Textilin- dustrie stockte der Absatz. Inflationsbekämpfung und Bekämpfung des Linkskartells gingen in Frankreich Hand in Hand, denn die Regierungszeit des Cartel des Gauches fiel mit der infla- tionären Entwicklung zusammen, für die das Kartell von Seiten der Konservativen und Unternehmer dann auch ungeachtet der Erblasten der Vorgängerregierung verantwortlich gemacht wurde. In einem Land, in dem ein ausgeglichener Haus- halt zum obersten Ziel der finanzpolitischen Orthodoxie gehörte, mußte vor al- lem das Haushaltsdefizit, das sich 1924 auf 353 Millionen Francs belief und 1925 auf 1,5 Milliarden anwuchs, größte Besorgnis erregen1314. Der Grund für das Mi- nus im Budget war vor allem die während des Kriegs betriebene Anleihepolitik, die nach dem Krieg fortgesetzt wurde. Angesichts des Schuldenbergs hatte bereits Poincaré in seiner Amtszeit als Ministerpräsident das vereinbarte Limit der Vor- schüsse (avances) der Banque de France an die Staatskasse nicht eingehalten. Dies wiederum hatte zu einer über den gesetzlich festgelegten plafonds hinausgehenden Erhöhung des Notenumlaufs geführt. Der Verstoß wurde durch gefälschte Bilan- zen der Banque de France verschleiert, denn ein offenes Eingeständnis, daß das Limit des Notenumlaufs nicht hatte eingehalten werden können, hätte die Inflati- onsangst geschürt, die Industrie, die auf eine strikte Einhaltung des plafonds drängte, gegen die Regierung aufgebracht1315 und auch in der breiten Öffentlich- keit die Regierung diskreditiert, die mit großer Zustimmung offiziell einen Kurs der Deflation verfocht1316. Daß die Regierung Herriot sich nicht öffentlich von den Finanzierungsprakti- ken ihrer Vorgängerin distanzierte, erleichterte es der Banque de France und allen voran François de Wendel, der ihrem Conseil de Régence angehörte, die Regie- rung Herriot unter Druck zu setzen, sie mit der Drohung, die Bilanzfälschung offenzulegen, zu erpressen1317. „Herriot étranglé", Herriot im Würgegriff, über- schrieb Jean-Noël Jeanneney das Kapitel, das vom ungleichen Machtkampf zwi- schen der Regierung Herriot auf der einen und den Vertretern der Banque de France auf der anderen Seite handelt1318. Wendel war indes kein Stinnes, der die Regierung zur Übernahme seines wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepts zwingen wollte und zu dessen Durchsetzung auch eine Diktatur in Kauf genom- men hätte. Wendel sah die von ihm vertretene finanzpolitische Orthodoxie in Ge- fahr und war der festen Überzeugung, daß „Herriot und seine Spießgesellen" Frankreich in den Abgrund trieben1319. Deshalb arbeitete er auf den Sturz Her-

1313 Vgl. Chadeau, Economie nationale, S. 86. 1314 Vgl. Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 513. ms Vgl. CGPF, Compte rendu de l'assemblée générale du 13 mars 1923, S. 5. 1316 Vgl. Jeanneney, François de Wendel, S. 200-214. 13" Vgl. Neri-Ultsch, Sozialisten und Radicaux, S. 162 f. ms Vgl. Jeanneney, François de Wendel, S. 215-238. 1319 Vgl. ebenda, S. 229. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 631

riots hin, den er allerdings ohne die Hilfe des Senats und die finanzpolitische Un- erfahrenheit des Regierungschefs und seiner Minister niemals erreicht hätte. Die finanzielle Situation Frankreichs hatte sich seit Amtsantritt Herriots vor allem durch das Anwachsen der schwebenden Schuld zusehends verschlechtert. Die kurzfristigen Anleihen hatten sich als Zeitbombe erwiesen, weil viele Anleger aus Furcht vor Währungsverlusten die Anleihen nicht mehr verlängerten, sondern deren Rückzahlung verlangten, was eine finanzielle Belastung in Milliardenhöhe verursachte1320. Die durch den Vertrauensschwund in den Francs wie auch in die Regierung verursachte Kapitalflucht vergrößerte die Gefahr eines finanziellen De- sasters. Zur Inflationsbekämpfung vertraute Herriot auf das gleiche Mittel wie die SFIO und die CGT: durch eine Kapital- oder Vermögensabgabe sollten Währung und Finanzen saniert werden. Dieser Lösungsweg ließ indes nicht nur bei der Finanz und Industrie die Alarmglocken schrillen, er war auch innerhalb Herriots eigener Partei umstritten. Daß Herriot am 10. April 1925 seine Demission einrei- chen mußte, lag keineswegs allein an der Preisgabe der Bilanzfälschungen, die als illegales Vorantreiben der Inflation interpretiert wurden, sondern an dem Miß- trauensvotum, das Herriot im Senat einstecken mußte. Dort war nicht nur das von seinem Finanzminister Anatole de Monzie ausgearbeitete Finanzkonzept, das eine einmalige Kapitalabgabe in Form einer zehnprozentigen Kapitalsteuer und eine Erhöhung des Notenumlaufs um vier Mrd. Francs vorsah, sondern auch sein allgemeines politisches Programm auf Ablehnung gestoßen1321. Herriot scheiterte weniger an der mur d'argent, sondern an einem Senat, in dem Herriots eigene Par- teikollegen ihm das Vertrauen entzogen hatten. Die Industrie hatte freilich im Senat immer ein offenes Ohr gefunden, wenn es darum ging, die bestehenden Ver- hältnisse zu konservieren, und sie setzte auch jetzt wieder darauf, daß der Senat ihr nicht genehme Finanzgesetze verhindere und so das nach ihrem Dafürhalten zerbrochene Vertrauen wiederherstelle1322. Die Empörung der CGT über den Senat hingegen war laut, aber folgenlos. Sie kritisierte, daß der Senat zur der verhängnisvollen Anleihepolitik des Bloc natio- nal zurückkehren wolle, die die Inflation anheizen müsse, die in anderen Ländern - gemeint waren Osterreich und vor allem Deutschland - zu einer „Erschwerung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse" geführt habe. Dem folgte der Appell: „Die Confédération Générale du Travail ruft alle hiermit gewarnten Organisatio- nen dazu auf, von nun an Protest zu erheben und sich für den Kampf, der mit der notwendigen Energie geführt werden muß, vorzubereiten."1323 Dies war eine leere Drohung, denn anders als in Deutschland hatte in Frankreich die Inflation keine sozialen Auseinandersetzungen zur Folge. Die CGT mochte den Schrecken der Inflation an die Wand malen, die französischen Arbeitnehmer nahmen sie nur in Form begrenzter Reallohnverluste wahr und konnten nicht für den Kampf um ein

1320 Vgl_ Frayssinet, La politique monétaire, S. 82 f. und passim. Laut Statistischem Reichsamt mußte Frankreich in der Zeit vom 31. 7. 1924 bis zum 15. 10. 1925 rund sieben Mrd. Francs auf die vor- gelegte schwebende Schuld auszahlen. Vgl. Statistisches Reichsamt/Institut für Konjunkturfor- schung, Weltwirtschaftslage, S. 84. 1321 Vgl. Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 454 f. 1322 Vgl. A la Confédération Générale de la Production Française, L'Infomation sociale vom 23. 4. 1925; L'action des organisations patronales, ebenda. ι«' Une déclaration de la C.G.T., Le Peuple vom 12. 4. 1925. 632 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen finanzielles Stabilisierungskonzept gewonnen werden, dessen soziale und politi- sche Tragweite die meisten von ihnen nicht erfassen konnten. Die Inflation führte in Frankreich zu keiner schweren sozialen Krise, aber zu einem Katarakt von Regierungsstürzen. Vom 17. April 1925 bis zum 21. Juli 1926 folgten sechs Kabinette aufeinander, mehrere Finanzminister wurden verschlis- sen. Die links stehenden politischen Kräfte verloren innerhalb der Kabinette an Boden. Der neue von Regierungschef Painlevé im April 1925 ins Kabinett geholte Finanzminister Joseph Caillaux war ein Mann der finanzpolitischen Orthodoxie, der eine Kapitalabgabe strikt ablehnte und sich François de Wendeis Sanierungs- pläne zu eigen machte. Kernpunkt des Finanzplans Caillaux' war eine wertbestän- dige Anleihe, deren Zinssatz vier Prozent betragen und vor allem den Inhabern der Nationalverteidigungsbonds angeboten werden sollte. Die Verzinsung wurde in eine feste Relation zum Pfundkurs gebracht. Wie den Nationalverteidigungs- bonds wurde auch dieser Anleihe Steuerfreiheit gewährt1324. Caillaux' Finanzvor- lage fand am 26./27. Juni 1925 nicht die Zustimmung der SFIO, die in einer eige- nen, von der Kammer abgelehnten Vorlage eine Kapitalabgabe in Form eines ein- maligen Beitrags gefordert hatte. Die Kartellmehrheit, die von der Finanz und In- dustrie als Bedrohung angesehen worden war, zerfiel zusehends. Die Haushalts- vorlage am 12. Juli 1925 wurde mit den Stimmen der Union républicaine démocra- tique und gegen die Stimmen der SFIO und des linken Flügels der Radicaux ver- abschiedet1325. Die Industrie warb - mit einigen Ausnahmen wie Camille Caval- lier, der dem Cartel des Gauches jeden Erfolg streitig machen wollte1326 - massiv für die Zeichnung der Anleihe, in der sie einen entscheidenden Schritt zur Schul- dentilgung und Währungsstabilisierung sah1327. Daß ein Teil der Bankiers just zum Zeitpunkt des Anlaufens der Zeichnungsfrist einen Streik der Bankangestell- ten provozierte, scheint zumindest von den führenden Köpfen der Arbeitgeber- verbände ungern gesehen worden zu sein1328. Der Streik - auf den wir im nächsten Kapitel noch ausführlich eingehen werden - war allerdings nicht verantwortlich für das Scheitern des Anleiheprojekts, denn trotz Verlängerung der Zeichnungs- frist wurden nur Anleihen in Höhe von 5,93 Milliarden gezeichnet, während Cail- laux mit einer Höhe von 20-30 Milliarden gerechnet hatte. Nur zehn Prozent der Inhaber der Nationalverteidigungsbonds, deren Umlaufhöhe rund 51 Milliarden betrug, nahmen das Angebot zum Umtausch der Bonds in die wertbeständige An- leihe an. Die kleinen Anleger, nicht die Großindustrie, hatten das Projekt torpe- diert1329.

1324 Vgl. Blancheton, Le Pape et l'empereur, S. 309-311. 1325 Vgl. Jeanneney, François de Wendel, S. 257-259; Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentari- mus, S. 459 f. 1326 Vgl, Jeanneney, Leçon d'histoire pour une gauche au pouvoir, S. 121. 132? Vgl. Souscrivons, La Journée Industrielle vom 2. 8.1925, Bulletin de la Chambre de Commerce de Paris 1925, S. 1183-1191; Dubos, André Lebon, S. 340 f. 1328 In der Sitzung des Zentralrats der CGPF am 14.12. 1925 lehnte der Präsident eine Diskussion über den Vortrag Lewandowskis von der Diskontobank über den Bankenstreik ab, in dem dieser seiner Hoffnung Ausdruck verliehen hatte, daß die CGPF den Streik mit Sympathie verfolgt habe. Vgl. CAMT 72 AS, CGPF, Conseil Central, Séance du 14 décembre 1925. Auffällig ist auch, daß über den Streik in La Journée Industrielle kaum berichtet wurde. 1329 Vgl. Blancheton, Le Pape et l'empereur, S. 309 f.; Jeannenay, Leçon d'histoire pour une gauche au pouvoir, S. 121. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 633

Alle weiteren Sanierungspläne der Regierung verfielen der Kritik der Indu- strie. Zwar wurde Caillaux' Vorhaben, eine Amortisationskasse zur Tilgung der schwebenden Schuld zu schaffen, begrüßt1330, aber als Painlevé Mitte November 1925 vorschlug, daß die Amortisationskasse ihre Mittel aus einer Sondersteuer von 15 Prozent auf bewegliche und unbewegliche Vermögen schöpfen solle, und darüber hinaus noch eine Zwangskonsolidierung der kurzfristigen Anleihen an- ordnen wollte1331, schrie die Industrie auf und sprach von einer „Expropriation". Das Programm heize die Inflation an und erzeuge darüber hinaus Arbeitslosig- keit, lauteten die weiteren Kritikpunkte1332. Die rigorosen, von der Kammer am 3./4. Dezember 1925 verabschiedeten Steuerpläne Loucheurs, die u.a. eine durchschnittliche Erhöhung direkter Steuern um 50 Prozent vorsahen1333, riefen bei einigen kleineren Arbeitgeberverbänden eine derartige Empörung hervor, daß sie zum Steuerstreik aufriefen1334, der jedoch von der Großindustrie, die fürchtete, daß dadurch soziale Unruhen provoziert werden könnten, ausdrück- lich abgelehnt wurde1335. Auch die teilweise von dem kommunistischen Comité de défense unterstützten Geschäftsschließungen des Einzelhandels im März 1926, die in die Aufforderung zum Steuerstreik und zur Auflösung des Parla- ments mündeten1336, wurden nicht nur von der CGT, die den für die französi- sche Arbeiterbewegung typischen Ressentiments gegen den wucherischen Ein- zelhandel freien Lauf ließ und die streikenden Geschäftsleute als von Billiet angestiftete „gréviculteurs capitalistes" denunzierte, sondern auch von der Groß- industrie verurteilt, die trotz Finanzierung der Ligen die Grundfesten der Repu- blik nicht gefährden wollte1337. Anders als die Wortführer der deutschen Industrie entwickelten die französi- schen Unternehmer und Arbeitgeberverbände kein kohärentes Wirtschafts- und Sozialprogramm, sondern beschränkten sich weitgehend auf die Vorlage eines Fi- nanzprogramms. Im Dezember 1925 trat die CGPF zusammen mit der Assoria- tion nationale d'expansion économique mit einem in 200 000 Broschüren verbrei- teten Finanzplan an die Öffentlichkeit, in dem zwar unter Verweis auf das Vorbild der deutschen Bergarbeiter Mehrarbeit und zudem eine höhere Sparquote gefor- dert, ansonsten aber vor allem Tugenden wie Arbeit, Sparsamkeit und Disziplin gepriesen wurden. Im Mittelpunkt stand der Vorschlag, eine autonome Kasse für die Tilgung der schwebenden Schuld ins Leben zu rufen, die nicht dem parlamen- tarischen Einfluß unterliegen sollte. Haushaltsausgleich durch Einsparungen, hö- here Verbrauchssteuern und eine Privatisierung staatlicher Monopole gehörten zu

13» Vgl. CAMT 72 AS, CGPF, Conseil Central, Séance du 3 novembre 1925. 1331 Vgl. Blancheton, Le Pape et l'empereur, S. 326. 1332 Vgl. Voilà où nous conduit le plan financier présenté aujourd'hui aux Chambres, La Journée In- dustrielle vom 17. 11. 1925; Elle s'exerce de façon décisive sur les projets financiers actuels, La Journée Industrielle vom 19. 11. 1925. 1333 Zu dem Steuerprogramm Loucheurs vgl. Douglas, Louis Loucheur, S. 259-261. 1334 Vgl. Neré, Le problème du mur d'argent, S. 86 f. >335 Vgl. Claude-Joseph Gignoux, De la négation à la révolte, La Journée Industrielle vom 17.2. 1926; ders., La courbe du mécontement, La Journée Industrielle vom 3.3. 1926; ders., Une manifesta- tion significative, La Journée Industrielle vom 25. 2. 1926. 1336 Vgl. Wirsching, Kleinbürger für den Klassenkampf?, S. 108. 1337 Vgl. Quelques conséquences de la grève des commerçants parisiens, Le Peuple vom 5.3. 1926; Grèves de commerçants, Le Peuple vom 9. 3. 1926. 634 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen den sattsam bekannten Standardforderungen der französischen Industriellen1338. Die CGT erblickte in dem Programm den Versuch einer „politischen und ökono- mischen Reaktion" und malte die Gefahr einer Diktatur an die Wand1339, obwohl weder die CGPF noch sonst ein einflußreicher Industrieller die Errichtung einer Diktatur gefordert hatten. Vermutlich hatte der Blick nach Deutschland die Dik- taturfurcht genährt, zumal sich die französischen Industriellen mit ihrer Forde- rung nach Mehrarbeit als mustergültige Schüler der deutschen Schwerindustrie präsentierten. Ein eigenwilliger Vorschlag zur finanziellen Stabilisierung kam von Eugène Mathon. Obwohl er als Mitglied der Action Française ein entschiedener Gegner der Republik war, wollte er der Regierung durch die Befürwortung einer amerika- nischen Anleihe in Höhe von sechs Milliarden Francs, für die die Industrie die Ga- rantie übernehmen sollte, entgegenkommen. In Industriekreisen stieß Mathon mit diesem Antrag nur auf Widerspruch. Die meisten Industriellen fürchteten, daß ein solches Angebot der Industrie die Regierung zu einer Zwangsanleihe veranlassen könne1340. Im übrigen dürfte auch der in französischen Industriekreisen herr- schende Antiamerikanismus eine Rolle gespielt haben. Als eine im Mai eingesetzte Expertenkommission ebenfalls eine Anleihe in den USA vorschlug und der wieder zum Finanzminister avancierte Caillaux sich diesen Plan zu eigen machte, fiel er bei einem Teil der Industrie, allen voran François de Wendel, in Ungnade, für den allein schon das Beharren der USA auf Rückzahlung der französischen Kriegs- schulden eine unabdingbar daran geknüpfte Anleihe in Amerika ausschloß1341. Von der Industrie wie auch von konservativen Kreisen wurde weniger ein kon- kretes Wirtschafts- und Finanzprogramm als die Wiederherstellung des Vertrau- ens als Königsweg für die Überwindung der Inflationskrise gepriesen. So machte sich die UIMM die Parole des Ministerpräsidenten zu eigen: „Das Heilmittel in der aktuellen Situation ist das Vertrauen, es gibt kein anderes."1342 Hinter der Zau- berformel von der Wiederherstellung des Vertrauens, das freilich durch die politi- sche Instabilität tatsächlich verlorenging, verbargen sich die Hoffnung und das Bestreben, das Zustandekommen einer Mitte-rechts-Regierung auf breiter Basis forcieren zu können, von der man erwartete, daß sie „das Kapital anziehfe], an- statt es abzuschrecken", und von der man wünschte, daß sie eine „Politik der Ar- beit, Sparsamkeit und Disziplin" betreibe1343. Die politischen Pläne der Industrie

1338 Vgl. Les conditions du salut financier, in: CGPF, Compte rendu de l'assemblée générale du 19 mars 1926, S. 31—43; La Confédération Générale de la Production Française et l'Association nationale d'expansion économique précisent les conditions de notre salut financier, La Journée Industrielle vom 23. 12. 1925. 1339 Vgl. Les résponsabilités d'hier et celles de demain, Le Peuple vom 30.12. 1925. is« Vgl. CAMT, 72 AS, CGPF, Conseil Central, Séance du 18 décembre 1925; vgl auch Dubly, Vers un ordre économique et social, S. 284-286; ferner Isaac, Journal d'un notable lyonnais, S. 414f. (Eintrag vom 22. 12. 1925) 1341 Vgl. Claude-Joseph Gignoux, Ni vouloir, ni pouvoir, La Journée Industrielle vom 9. 7.1926;Jean- neney, François de Wendel, S. 317. 1342 La situation politique et financière du pays et l'industrie française, L'Usine vom 27. 2. 1926, vgl. auch La Confédération Générale de la Production Française et l'Association nationale d'expan- sion économique précisent les conditions de notre salut financier, La Journée industrielle vom 23. 12. 1925. 1343 Une grande manifestation de la Confédération Générale de la Production Française, La Journée Industrielle vom 25. 2. 1926. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 635 waren realistischer als die der Führung der CGT, die schon im November 1925 ein gouvernement du salut public gefordert hatte, das, ausgestattet mit Vollmachten, mit energischen Mitteln die Finanzkrise beenden sollte. Wenn Jouhaux, der offen- sichtlich einen Militärputsch fürchtete, postulierte, daß eine solche Regierung sich stark auf die Arbeiterklasse stützen müsse, so setzte er selbst ein dickes Fragezei- chen hinter sein Vorhaben, denn die Arbeiterschaft stellte in Frankreich nicht die Mehrheit der Bevölkerung und die Mehrheit der Arbeiterschaft stand nicht hinter der CGT, die selbst keineswegs einhellig für eine Regierungsbeteiligung vo- tierte1344. So blieb auch der Aufruf von Abgeordneten des Linkskartells vom 23. Juni 1926, ein Comité de salut public zu bilden, ohne Widerhall1345. Je mehr die SFIO in die Rolle der Opposition geriet und die Radicaux über den einzuschla- genden politischen Kurs gespalten waren, um so unwahrscheinlicher wurde die Möglichkeit eines linken Regierungsbündnisses. Auch die Gespräche Jouhaux' mit der SFIO über die Bildung eines gouvernement du salut public endeten schnell im Dissens1346. Herriots Versuch, im Juli 1926 die SFIO wie auch Jouhaux in die Regierung einzubinden, kann nur als illusionär bezeichnet werden. Daß Raymond Poincaré noch am Abend des 21. Juli mit der Regierungsbildung beauftragt wurde, war gewiß nicht nur das „Meisterwerk" François de Wen- deis1347, wenngleich der französische Stahlbaron wie auch die große Mehrheit der übrigen Industriellen ihren Einfluß geltend gemacht hatten, um ihrem Ziel einer Union nationale näherzukommen, als deren Regierungschef sich der Retter im Verdun financier des Jahres 1924 geradezu anbot. Innerhalb der Kammer hatte sich bereits ein Intergroupe du salut public aus 230 Abgeordneten des Mitte- rechts-Spektrums gebildet, die sich um das Zustandekommen einer Regierung der nationalen Union bemühten und noch am Abend des 21. Juli vom Staatspräsiden- ten die Einsetzung eines gouvernement du salut public gefordert hatten1348. Poin- carés Pläne zur Sanierung der Finanzkrise wurden von der Industrie unterstützt, obwohl sie Maßnahmen enthielten, die sich mit den Forderungen der SFIO und des linken Flügel der Radicaux deckten. Um die Staatseinnahmen zu erhöhen, wurde u. a. eine direkte Steuer auf alle beweglichen Einkünfte und eine siebenpro- zentige Abgabe auf Einkünfte aus dem erstmaligen Verkauf einer Immobilie erho- ben, was de facto fast einer Kapitalabgabe gleichkam. Die Einkommensteuer wurde allerdings gesenkt. Außerdem wurde eine Amortisationskasse zur Tilgung der Schatzgutscheine geschaffen, zu deren Finanzierung u. a. die Erträge aus dem Tabakmonopol herangezogen werden sollten1349. Mit dem Vertrauen in die Regierung Poincaré kam auch das Vertrauen in den Franc, dessen Fall sofort gestoppt werden konnte. Poincarés Finanzreform ent-

1344 Vgl. CGT, Commission administrative, Séance du 24 novembre 1925, La Voix du Peuple vom Dezember 1925, S. 457. 1'« Vgl. Neri-Ultsch, Sozialisten und Radicaux, S. 208. 1346 Vgl. Le comité national de la C.G.T approuve unaniment l'action entreprise en faveur de la stabi- lisation du franc et réclame d'urgence la réalisation des réformes ouvrières, Le Peuple vom 14.4. 1926. 1347 So im Anschluß an Alfred Fabre-Luce Jeanneney, François de Wendel, S. 614. 1348 Vgl. 230 députés réclament un gouvernement de salut public, La Journée Industrielle vom 22.7. 1926; vgl. auch Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus, S. 500 f. 1349 Vgl. Asselain, Histoire économique, Bd. 2, S. 22; Sauvy, Histoire économique, Bd. 1, S. 85f. 636 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen hielt eine starke psychologische Komponente, die auf ein Land zugeschnitten war, das noch immer durch die Mentalität der Sparer und Rentiers geprägt wurde, die sich selbst in den Verlautbarungen der Arbeitgeberverbände niederschlug1350. An- ders als in Deutschland rief die Währungsstabilisierung in Frankreich keinerlei so- ziale Konflikte hervor. Die Deutsche Bergwerks-Zeitung lobte Poincarés Werk, der es „klug vermieden" habe, „Land und Volk durch die Abgründe einer Infla- tion, bis der Goldfranken eine Billion Papierfranken ,wert' war, zu treiben, alles ersparte Vermögen total zu vernichten, alle seine Rentiers zu Bettlern zu ma- chen"1351. Die Deutsche Bergwerks-Zeitung hatte durchaus recht, wenn sie den Wirtschaftsboom in Frankreich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre der dortigen schnellen Uberwindung des Währungszerfalls zuschrieb. Sie erwähnte freilich nicht, daß die Inflation Deutschland nicht zuletzt auch deshalb an den Rand der Katastrophe brachte, weil Deutschlands Unternehmer sie zugleich zu einem Schlachtfeld sozialpolitischer Auseinandersetzungen machten. In Frank- reich diente zwar die Inflation als willkommener Vorwand, um beabsichtigte Re- formen zu blockieren, aber Zusammenstöße zwischen Kapital und Arbeit blieben Einzelerscheinungen, weil die Gewerkschaften zu schwach waren und die Arbei- ter nicht durch eine ständig wachsende Verelendung zu Unruhen provoziert wur- den.

2. Gescheiterte Reformen, stabile Autoritätsverhältnisse: Eine Inflation ohne sozialen Konfliktstoff Als am l.Mai 1926, zweieinhalb Monate vor dem endgültigen Scheitern des Linkskartells, die CGT ihren Forderungskatalog präsentierte, sah er dem vom 1. Mai 1924 fast zum Verwechseln ähnlich. Noch immer wurde der Respekt vor dem Achtstundentag gefordert, auf die schnelle Verabschiedung der Sozialversi- cherungsgesetze gedrungen, eine Verbesserung des Arbeitsschutzgesetzes aus dem Jahre 1898 anvisiert, die Arbeiterkontrolle in Form von Sicherheitsdelegier- ten propagiert und einer gerechteren Finanzordnung das Wort geredet1352. Neu hinzugekommen war der Wunsch nach bezahlten Ferien, dem die Regierung im Juli 1925 auch durch die Vorlage eines entsprechenden Gesetzentwurfes Rech- nung getragen hatte, nachdem sie zuvor in einer Enquete festgestellt hatte, daß be- zahlte Ferien - mit Ausnahme des Elsaß und Lothringens - nur von einer winzi- gen Minorität der Unternehmer gewährt wurden1353. Erst sechs Jahre später wurde der Gesetzentwurf in der Kammer verabschiedet. Vom Senat, der sich wie so oft den Standpunkt der Unternehmer zu eigen machte, die in bezahlten Ferien nur einen Unkostenfaktor sahen und eine Erhöhung der ohnehin schon hohen

1350 Vgl. L'esprit conservateur du patronat, L'Information sociale vom 23. 4. 1925. 1351 Die Woche, Deutsche Bergwerks-Zeitung vom 30.12. 1928. "" Vgl. Manifeste de la C.G.T., Le Peuple vom 1. 5. 1926. »S3 Vgl. Enquête sur les congés payés aux ouvriers, in: Bulletin du Ministère du Travail 32, 1925, S. 399—405. Zu dem Gesetzentwurf vom 11. 7. 1925 vgl. J.O., Chambre des députés, Documents parlementaires, Annexes Nr. 1943, S. 1559-1561; ferner Hordern, Genèse et vote de la loi du 20 juin 1936, S. 23 f.; Le Goff, Silence, S. 188f. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 637

Fluktuation befürchteten, wurde er torpediert1354. Der Sozialversicherungsgesetz- entwurf wurde hinter den Türen der Ausschüsse der Kammer und des Senats wei- ter umgearbeitet, damit er sich mit den Interessen der Landwirtschaft und der Industrie vereinbaren ließ. Die Bilanz der durchgesetzten Reformen nahm sich mager aus und schien das Wort zu bestätigen, daß die französische Republik „we- niger regiert als konserviert" werde1355. Ein Conseil national économique mit zunächst nur geringen beratenden Befugnissen wurde eingesetzt, trotz erheblichen Widerstandes der Industrie wurde ein Amnestiegesetz verabschiedet, das jedoch nicht allen Eisenbahnern die Wiedereinstellung sicherte, den Beamten wurde das Koalitionsrecht zugesprochen, aber wie auch in Deutschland das Streikrecht ver- weigert1356. Die Unternehmer wurden darüber hinaus verpflichtet, eine Ausbil- dungsabgabe zu zahlen1357, die jedoch nicht den von der CGT gewünschten Ein- stieg in die duale Berufsausbildung brachte. Die CGT appellierte im Frühjahr 1926 wiederholt und vergeblich, die Finanz- probleme nicht zum Vorwand für eine Verschiebung der Reformen zu neh- men1358. Den Unternehmern gab die Inflationskrise ein willkommenes Argument für ihren Widerstand gegen die Reformpläne, der aber angesichts der Haltung des Senats wahrscheinlich auch dann erfolgreich gewesen wäre, wenn die finanzielle Entwicklung normal verlaufen wäre. Frankreichs patrons verteidigten mit Zähnen und Klauen die Autonomie ihrer eigenen Organisationen und wollten weiterhin keine staatlichen Eingriffe in die Arbeitsbeziehungen dulden. Als der Conseil supérieur du travail im Frühjahr 1924 in einer Enquete Gewerkschaften und Ar- beitgeberverbände fragte, ob sie Schlichtung und Zwangsschiedssprüche als eine geeignete Methode zur Verhinderung von Arbeitskämpfen betrachteten, war die Antwort der Arbeitgeberverbände wie auch der Handelskammern ein eindeutiges Nein1359. Als Begründung führten sie an, daß sich das Konfliktpotential erhöhen werde, allein schon deshalb, weil die vorgesehenen Arbeiterdelegierten für Un- ruhe sorgen würden. Einer Strafverfolgung bei einem Verstoß gegen das Gesetz seien nur die Unternehmer ausgesetzt, während die Arbeiter strafrechtlich nicht belangt werden könnten. Wie schon zu Beginn der zwanziger Jahre nahm die Ar- beitgeberseite auch jetzt wieder die Diskussion um eine obligatorische Streik- schlichtung zum Anlaß, um ein Verbot der Streiks im öffentlichen Dienst zu for- dern. Im Grunde wiederholte sie nur die Kritik, die sie schon gegen das Millerand- sche Projekt der Streikschlichtung vorgebracht hatte. Wie schon damals wurde auch jetzt wieder das Schreckgespenst des Ruins der Industrie an die Wand ge- malt.

1354 Vgl, Le projet de loi instituant un congé annuel pour les travailleurs, La Journée Industrielle vom 11./12. 7. 1926. So Azéma/Winock, La IIIe République, S. 198. 1356 Vgl. Siwek-Pouydesseau, Les syndicats des fonctions publiques, S. 68-71. Vgl. Bulletin du Ministère du Travail 32, 1925, S. 300 f. 1358 Vgl. z.B. Résolution du Comité Confédéral National du 13avril 1926, Le Peuple vom 14.4.1926; Une circulaire de la Fédération du Textile, Le Peuple vom 7. 4. 1926. 1359 Vgl. BAB, R 3901, Nr. 34089, La conciliation et l'arbitrage en France, Une enquête du Conseil supérieur du travail; Le règlement des conflits collectifs du travail, La Journée Industrielle vom 18./19. 5. 1924; Le règlement des conflits collectifs du travail, La Journée industrielle vom 1./2.6. 1924. 638 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Die CGT indes rückte allmählich von ihrem Nein ab. Im Conseil supérieur du travail erklärte sie sich mit einem obligatorischen Schlichtungsverfahren einver- standen, wenn die Gewerkschaften als gesetzliche Verhandlungspartner aner- kannt würden und keine gesonderten Wahlen von Arbeiterdelegierten stattfän- den. Diesem von Arbeitgeberseite strikt abgelehnten Wunsch der Gewerkschafts- vertreter wurde in einer abschließenden Stellungnahme des Conseils supérieur du travail auch Rechnung getragen, der im übrigen nur den Versuch einer Streik- schlichtung auf dem Wege der Einigung für obligatorisch erklärte, aber Zwangs- schiedssprüche, wie sie die Schlichtungsverordnung in Deutschland vorsah, aus- schloß. Die Möglichkeit der Schlichtung durch ein Schiedsgericht sollte fakultativ bleiben1360. In der Ablehnung von Zwangsschiedssprüchen waren sich die Arbeit- geberseite und die CGT, die fürchtete, daß man einer konservativen Regierung da- mit eine Rute in die Hand gebe, mit der sie die Gewerkschaften züchtigen könne, einig. Und es wurden selbst Zweifel laut, ob die Regierung des vom Zerfall be- drohten Cartel des Gauches nicht dem Druck der Finanz und Industrie unterliege und einen restriktiven lohnpolitischen Kurs dekretiere1361. Die Diskussion wie- derholte sich im Herbst 1925, nachdem Arbeitsminister Antoine Durafour einen Gesetzentwurf zur „friedlichen Regelung von kollektiven Arbeitskonflikten in Industrie, Handel und Gewerbe" in der Kammer eingebracht hatte, der sich in- haltlich fast völlig mit dem Vorschlag des Conseil supérieur du travail deckte1362. Die Arbeitgeberverbände starteten mit den sattsam bekannten Argumenten einen Propagandafeldzug gegen den Gesetzentwurf und wurden dabei sekundiert von den Kommunisten, die auf die autonome Kraft der Arbeiterbewegung vertrauen wollten, obwohl auch sie sich bei jedem größeren Arbeitskampf an die Vertreter des Staates wandten1363. Der Entwurf, der hitziger als alle anderen Reformprojekte debattiert worden war, versandete im Arbeitsausschuß der Kammer. Die Ohnmacht der Regierung in Frankreich auf dem Felde der Arbeitsbeziehungen blieb bestehen, obwohl 1925 bei einem Viertel und 1926 bei einem Drittel aller Streiks staatliche und kommu- nale Instanzen oder die Friedensrichter intervenierten1364. Durafour, der für die Gewerkschaften und Arbeiter Partei ergriff, bedauerte, daß er keine legale Mög- lichkeit habe, um die Arbeitgeber zu Verhandlungen zu zwingen1365. Wurde in Deutschland der Staat durch seine Mittleraufgabe auf dem Gebiet der Arbeitsbe- ziehungen in den Strudel der sozialen Konflikte gerissen, so erlitt er in Frankreich

'»o Vgl. BAB, R 3901, Nr. 34089, France, Session du Conseil supérieur du travail, 17.-20.11. 1924; Conciliation et arbitrage obligatoire, L'Usine vom 7. 3. 1925; Un discours de M. Godart sur le règlement des conflits du travail, Le Peuple vom 18.11.1924; Le règlement des conflits du travail, Le Peuple vom 21.11. 1924. nói Vgl. Pierre Leonie, L'arbitrage obligatoire, Le Peuple vom 22. 9. 1925; ders., Réflexions sur une grève, Le Peuple vom 24. 9. 1925. 1362 J.O., Chambres des députés, Documents parlementaires, Annexe Nr. 2040, S. 164f. 1363 Vgl. z.B. La grève des banques et l'arbitrage obligatoire, La Journée Industrielle vom 15.9. 1925; La tentative obligatoire de conciliation dans les conflits du travail, L'Usine vom 3. 10. 1925; CGPF, Compte rendu de l'assemblée générale du 19 mars 1926, S. 7; Le grève des banques et l'ar- bitrage obligatoire, L'Humanité vom 26. 9. 1925; Sur l'arbitrage obligatoire, L'Humanité vom 28. 3. 1926. "M Vgl. Statistique des grèves 1925, S. XI und 1926, S. X. 1365 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 2 juin 1926, S. 2339. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 639 durch seine Handlungsunfähigkeit einen Verlust an Autorität. Ohne staatliche Intervention in die Arbeitskonflikte konnten die französischen Unternehmer je- derzeit ihre Machtüberlegenheit ausspielen. Dies mag in der Tat dazu beigetragen haben, daß größere Arbeitskämpfe in Frankreich in den zwanziger Jahren selten waren, denn von der Streikwaffe macht nur der Gebrauch, der sich eine Chance ausrechnen kann, sich zumindest teilweise mit seinen Forderungen durchzuset- zen. Der ausbleibende Arbeiterprotest schien wiederum ein Schlichtungsgesetz obsolet zu machen. Selbst die Zeit der Inflation, die mit einem konjunkturellen Aufschwung ein- herging, führte in Frankreich zu keiner umfangreichen Streikbewegung. In den Jahren 1924/25 streikten in Frankreich weniger Beschäftigte als während der De- flationsperiode. Erst 1926, als auch in Frankreich die Inflation zu galoppieren drohte, stieg die Zahl der Streikenden an, blieb aber weit hinter der der Jahre 1919/20 zurück. Während in Deutschland von 1922-1924 jährlich über 1,5 Millio- nen Beschäftigte an Arbeitskämpfen beteiligt waren, griffen in Frankreich trotz Geldentwertung und sinkender Reallöhne nicht einmal 400000 Lohnabhängige zur Streikwaffe. Auch die Streikdauer und die Zahl der verlorenen Arbeitstage pro Streikendem waren weitaus geringer als in Deutschland.

Tabelle 17: Streiks in Frankreich 1924-19261366

Streiks Streikende verlorene verlorene Arbeitstage Arbeitstage pro Streikendem

1924 1083 274865 3 863182 14,0 1925 931 249198 2046563 8,2 1926 1660 349309 4072163 11,6

Die Quote des Mißerfolgs lag 1924/25 bei über 40 Prozent, 1926, als die rasche Geldentwertung Lohnerhöhungen unumgänglich machte, verringerte sie sich auf 35,1 Prozent. Paris bestritt als Schauplatz von Streiks eindeutig den ersten Rang. 1924 legten dort 88006 Beschäftigte die Arbeit nieder, 1925 59184, 1926 83612. Rechnet man die Aussperrungen bei Citroën, Talbot und Farman hinzu, so dürfte die Zahl der in Paris an Arbeitskämpfen Beteiligten 1926 bei weit über Hundert- tausend gelegen haben1367. Paris nahm auch insofern eine Ausnahmestellung ein, als hier anders als in fast allen Departements während der Inflationsjahre die Streikbewegungen zunahmen. Nicht nur in Paris, sondern in ganz Frankreich wa- ren - wie die folgende Tabelle zeigt - die Metallarbeiter am streikfreudigsten.

1366 D¡e Zahlen basieren auf der Statistique des grèves für die Jahre 1924,1925 und 1926. 1367 Vgl. ebenda. Nach Schweitzer, Regards sur le bolchevisation, S. 91, wurden im Januar 1926 12000 Beschäftigte bei Citroën ausgesperrt. Zu den Aussperrungen bei Farman und Talbot vgl. Malgré les manoeuvres patronales, les lock-outés affirment leur volonté de lutter jusqu'à la complète sa- tisfaction, L'Humanité 21. 3. 1926. Diese Aussperrungen wurden in der offiziellen Streikstatistik nicht erwähnt. Sirot, Conditions de travail, S. 203, nennt weitaus höhere Zahlen: Danach streikten 1924 in Paris 102440 Beschäftigte, 1925 102440 und 1926 312586. Vermutlich basieren diese Streikzahlen auf Angaben der Humanité, die jedoch meistens zu hoch gegriffen sind. 640 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Tabelle 18: Streiks in Frankreich 1924-1926, aufgeteilt nach Branchen1368

Beschäftigung Jahr Streiks Streikende v. H. aller Streikenden

Bergbau 1924 23 15263 6,2 1925 31 11842 4,7 1926 34 60562 17,3 Metallindustrie'"'' 1924 232 67180 24,4 1925 173 31169 12,5 1926 378 92708 26,5 Transport""' 1924 135 39548 14,3 1925 145 51648 20,7 1926 160 23188 6,6 Textilindustrie 1924 95 45712 16,6 1925 80 14365 5,8 1926 149 16836 4,8 Baugewerbe 1924 152 34846 12,6 1925 124 16075 6,4 1926 235 42418 12,1

* einschließlich Hüttenindustrie; ""* einschließlich Warenbeförderung (manutention)

Im Gegensatz zu Deutschland spielte die Schwerindustrie in Frankreich bei den Arbeitskämpfen nur eine untergeordnete Rolle. Die Zahl der streikenden Berg- arbeiter wäre auch 1926 verschwindend gering gewesen, wenn nicht in den von der CGTU dominierten Revieren die Kumpel in einen eintägigen Solidaritäts- streik mit den englischen Bergarbeitern, die sich in einem mehrere Monate dau- ernden, erbittert geführten Generalstreik befanden, getreten wären. Die Metall- industrie nahm zwar wie in Deutschland eine Spitzenposition in der Streikstati- stik ein. Hält man sich aber vor Augen, daß es in der französischen Metallindustrie 1926 weit über eine Million lohnabhängig Beschäftigte gab, so wird deutlich, daß auch dort die Streikmotivation äußerst gering war. Nicht einmal zehn Prozent der Beschäftigten hatten Hoffnung, durch eine Arbeitsniederlegung ihre Forderungen durchsetzen zu können. Größere Streikbewegungen im Baugewerbe mit rund 2500 bis 3000 Beteiligten gab es 1926 nur in Lyon, Lille, Roubaix und Tourcoing, die in den drei letztgenannten Städten von der CGT geführt wurden, während in Lyon der Aufruf zur Streikniederlegung vom autonomen Bauarbeiterverband ausgegangen war. Lohnerhöhungen waren der Streitgegenstand1369. Wenn 1925 der Sektor Transport und Warenbeförderung (manutention) sich am streikfreu- digsten präsentierte, so war dafür eine Arbeitsniederlegung der Bankangestellten verantwortlich, die - wie bereits erwähnt - just zu dem Zeitpunkt erfolgte, als die Regierung eine mit großen Hoffnungen verbundene Anleihe auflegte. Die Ge-

'368 Quelle wie Anm. 1366. 1369 Vgl. La grève du bâtiment à Lille, Le Peuple vom 7.4.1926; La grève du bâtiment de Lille, Le Peu- ple vom 10. 4.1926; La grève du bâtiment serait terminée, Le Peuple vom 31. 5.1926; La grève des maçons de Lyon, Le Peuple vom 6. 5. 1925. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 641 rächte, daß der Streik von den Finanzbaronen provoziert worden sei, um die An- leihe und damit auch die Regierung zu Fall zu bringen, wollten nicht verstum- men1370, dürften aber in dieser Pauschalität nicht zutreffend sein. Wie den Indu- striellen ging es auch den Bankiers um die Wahrung ihrer Autorität1371, für die sie allerdings bereit waren, ein eventuelles Scheitern der Anleihe in Kauf zu nehmen, was erneut demonstriert, welch hoher Stellenwert dem Autoritätsprinzip von Frankreichs Arbeitgebern eingeräumt wurde. Der Streik der Bankangestellten, der als einziger Streik im Jahre 1925 großes Aufsehen erregte und einen für französische Arbeitskämpfe typischen Verlauf nahm, kam nicht unvorhergesehen. Bereits im Februar 1925 hatten sich die Fédé- ration confédérée de la finance und die christliche Gewerkschaft der Bankange- stellten zu einem Cartel interfédéral zusammengeschlossen und einen Forde- rungskatalog ausgearbeitet, der folgende Punkte enthielt: jährlicher Mindestlohn von 6000 Francs, Teuerungszulage, basierend auf dem regionalen Lebenshaltungs- index, Ortszuschlag in gleicher Höhe wie der der Beamten, entsprechende Steige- rung der Gehälter, eine jährliche Gratifikation in Höhe eines Monatsgehalts, Re- vision und Verbesserung des Rentenstatuts1372. Die Gehälter der Bankangestellten lagen unter denen der Arbeiter und deckten nicht einmal mehr das Existenzmini- mum. Selbst ein gut bezahlter Bankangestellter verdiente nur 600 bis 700 Francs im Monat und kam damit auf einen Stundenlohn von rund 3,50 Francs. Zudem herrschte eine vollkommene Lohnwillkür. Angestellte im gleichen Alter wurden für die gleiche Arbeit in der gleichen Bank unterschiedlich bezahlt1373. Da sich Roger Lehideux, der Präsident der Union syndicale des banquiers, intransigent zeigte, übermittelte das Kartell im Mai 1925 seinen Forderungskatalog Arbeitsmi- nister Durafour, der auch nichts unversucht ließ, um auf die Bankiers einzuwir- ken, und sie wiederholt vor einer sozialen Explosion warnte1374, die dann am 21. Juli in Marseille auch ausbrach und Anfang August das ganze Land erfaßte. Zu diesem Zeitpunkt wurden 20000 streikende Bankangestellte gezählt1375. Aller- dings waren keineswegs alle Banken von dem Streik betroffen und auch in den Banken, in denen ein Streikaufruf ergangen war, folgten ihm nur etwa 40-50 Pro- zent der Angestellten1376. In einigen Banken wie z.B. der Banque de Paris et de Pays Bas, wo Horace Finaly, einer der wenigen Bankiers, die das Linkskartell un- terstützten, die Angestellten relativ gut bezahlte, herrschte normaler Betrieb1377.

Vgl. z.B. AN, F7/13878, Commissariat Spécial de Lille au Préfet du Nord, 24. 8. 1925. 1371 So führte Lewandowski in der Sitzung des Zentralrats der CGPF am 14.12. 1925 aus: „Wir ver- teidigten ein Autoritätsprinzip, das auch ein wenig das Ihre war." Protokoll der Sitzung in CAMT 72 AS 5. 1372 Vgl. AN, F7/13878, Rapport de police du 31 juillet 1925 (A.S. du mouvement des employés de banque). 1373 Vgl, Lg personnel de la Banque Nationale du Commerce extérieur et celui du Crédit de France se joignent au mouvement, Le Peuple vom 1.8.1925; Les motifs et l'origine du mouvement, Le Peu- ple vom 5. 8. 1925. 1374 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 24 décembre 1925, S. 4686. 1375 Nach der offiziellen Statistique des grèves für das Jahr 1925, S. 114f., streikten 19366 Bankange- stellte. Nach Angaben der CGT hatten allein in Paris 20000 Bankangestellte die Arbeit niederge- legt. Insgesamt zählte die CGT 40000 Streikende, vgl. La grève des employés de banque s'étend à Paris et en province, Le Peuple vom 2. 8.1925; Le conflit des banques, Le Peuple vom 27. 8.1925. ™ Vgl. AN, F7/13878, Situation dans les établissements de banque, 6. 8. 1925. 1377 Vgl. Bussière, Horace Finaly, S. 248. 642 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Die Bankiers waren unter sich uneins, ihr Zusammenschluß zu einer festen Orga- nisation hatte sich ähnlich wie in Deutschland erst nach dem Krieg zu entwickeln begonnen1378. Roger Lehideux zählte zu den Hardlinern und geriet für die strei- kenden Bankangestellten zu einem Haßobjekt. In einem Streiklied wurde er als „alter Halunke" bezeichnet1379. Anfang August bildete sich ein landesweites Streikkomitee, dem zwei Vertreter der CGT, zwei Vertreter der christlichen Angestelltengewerkschaft, zwei Vertre- ter der unabhängigen Gewerkschaft der Bankangestellten, zwei Vertreter der CGTU und jeweils ein Vertreter des Pariser und der Streikkomitees in der Pro- vinz angehörten1380. Die CGTU spielte in dem Streik nur eine untergeordnete Rolle. Sie richtete am 30. August an die CGT die Aufforderung, gemeinsam zu einem 24stündigen Generalstreik aufzurufen, was freilich kaum mehr als ein durchsichtiges Manöver war, um die CGT wieder einmal des Verrats an den Arbeiterinteressen zeihen zu können1381. Nur die Beschäftigten bei der Post wa- ren in einigen Städten in einen Solidaritätsstreik getreten. Ihnen wurden jedoch von Seiten der Regierung Disziplinarmaßnahmen angedroht1382. Die christlichen Gewerkschaften hingegen hatten eine für französische Verhältnisse starke Stel- lung unter den Bankangestellten und unterstützten den Streik aktiv1383. Da sich die Bankiers weigerten, mit den Gewerkschaften oder dem Streikko- mitee zu verhandeln, übermittelte das Streikkomitee am 4. August Antoine Du- rafour einen 13 Punkte umfassenden Forderungskatalog, der zugleich ein Spie- gelbild der sozialen und innerbetrieblichen Situation der Bankangestellten war. Neben der Einführung altersgestaffelter Mindestlöhne, einer gleitenden Lohn- skala, Gratifikationen für langjährige Betriebszugehörigkeit und Uberstunden- zuschlägen wurde u. a. auch eine Erhöhung der Familienzulagen, die Lohnfort- zahlung im Krankheitsfalle, eine Erhöhung der Renten und ein Renteneintritts- alter von 55 Jahren, die offizielle Anerkennung der Gewerkschaften, bezahlter Urlaub und die Einrichtung eines „conseil de disicipline", dessen Zustimmung bei Disziplinarmaßnahmen gegen Bankangestellte von der Direktion eingeholt werden mußte, verlangt1384. Das Cartel intersyndical in Lille erweiterte den Kata- log noch um fünf weitere Punkte, in denen der Wunsch nach einer besseren Be- rufsausbildung und nach einem „seriösen Examen" als Voraussetzung für die Be- rufszulassung geäußert wurde1385. Dieses Anliegen des Liller Kartells macht deutlich, daß die Bankangestellten nicht nur schlecht bezahlt, sondern auch

1378 Vgl. die Ausführungen Lewandowskis in der Sitzung des Zentralrates der CGPF am 14.12.1925, CAMT, 72 AS 5. i"' AN, F7/13878, Sérénade à Lehideux. 1380 Vgl Comité national de grève, L'Information sociale vom 20. 8. 1925. 1381 Vgl. CGTU, Congrès national ordinaire 1925, S. 404 f.; La grève des employés de banque et les unitaires, L'Humanité vom 7. 9. 1925; Les leçons de la grève des banques, La Vie ouvrière vom 18.9. 1923. 1382 Vgl. Une périlleuse victoire, L'Information sociale vom 17. 9.1925; Les excès du syndicalisme, Le Temps vom 23. 8. 1925. 1383 Vgl. Launay, C.F.T.C., S. 235 f. Derville, Les débuts de la C.F.T.C. dans l'arrondissement de Lille, S. 617f. 1384 Vgl. Le cahier des revendications, L'Information sociale vom 30. 7. 1925; auch abgedr. in: Le Peu- ple vom 5. 8. 1925. 1385 Vgl. AN, F7/13879, Cartel intersyndical des employés de banque de Lille, Desiderata profession- nels des employés de banque. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 643 schlecht ausgebildet waren. So bestand noch 1931 die Ausbildung im Pariser Haus der Rothschilds darin, „Zinssätze in Brüchen statt in Dezimalzahlen aus- wendig zu lernen"1386. Die Rationalisierung hatte in den Bankhäusern noch kei- nen Einzug erhalten. Ihre Einrichtungen waren veraltet und ineffizient. Zudem waren die meisten Banken wie auch in Deutschland personell überbesetzt1387. Und wie in Deutschland gehörten auch in Frankreich die Bankiers zu denjenigen Arbeitgebern, die gegenüber ihren Beschäftigten und den Gewerkschaften sich am intransigentesten verhielten, wobei sie in Deutschland freilich die Gewerk- schaften anerkennen mußten, von deren organisatorischer Zersplitterung im Bankenbereich sie jedoch profitierten1388. In einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung die Bankiers als „Pluto- kraten" betrachtete und die „égalité" als Lebensnerv der Republik galt, war den streikenden Bankangestellten die Sympathie der Öffentlichkeit sicher, zumal die Lohnforderungen allgemein als gerechtfertigt anerkannt wurden und der Streik als eine „grève de la misère" galt1389. Die Kommunen unterstützten die Streiken- den und forderten die Regierung zur Intervention auf1390. Deutsche Bankange- stellte schickten großzügige Spenden an ihre streikenden Kollegen in Frankreich und versicherten ihre Solidarität1391. Auch über die Presse konnten sich die Strei- kenden nicht beklagen. Ein Skandalon in den Augen zahlreicher Unternehmer und Arbeitgebervertreter war es, daß auch Vertreter der katholischen Kirche wie der Bischof von Marseille und der Erzbischof von Paris Partei für die Streikenden ergriffen1392. Die sich überschlagende Empörung über die Haltung der Kirchen- männer und die Unterstützung des Streiks durch die christlichen Gewerkschaften in Unternehmerkreisen macht noch einmal deutlich, welch ernorme ideologische Bedeutung der Katholizismus für das Sozialkonzept der französischen patrons hatte. Auguste Isaac wollte den Klerus zu strikter Neutralität verpflichten und rä- sonierte in seinem Tagebuch darüber, ob der „Geist des Evangeliums" nicht mit „Demut" beginne. Schließlich sei Christus in einem Stall geboren worden1393. Die christlichen Gewerkschaften hielt er für diskreditiert und stimmte ganz offen- sichtlich in den Chor derer ein, die die christlichen Gewerkschaften für schlimmer als die roten hielten1394. Für den Generalverwalter des Consortium de l'industrie textile, Désiré Ley, war das Paktieren der christlichen Gewerkschaften mit den „Truppen der Revolution" eine willkommene Rechtfertigung für sein Abbrechen

1386 Vgl. Ferguson, Die Geschichte der Rothschilds, Bd. 2, S. 543. 1387 Vgl. Omnès, La mise en œuvre de la rationalisation au Crédit lyonnais, S. 211-244. us» Zu den Gegensätzen zwischen Allgemeinem Verband der Deutschen Bankbeamten und dem kon- servativ ausgerichteten Deutschen Bankbeamten-Verein vgl. BAB, R 3901, Nr. 33683, Bankbeam- ten-Zeitung vom 21. 5. 1920; Thamm, Der Anspruch auf das Glück der Tüchtigen, S. 70-80. 1389 Vgl. La grève des banques, L'Information sociale vom 30. 7. 1925. 13,0 Insbesondere die Bürgermeister von Bordeaux, Marseille, Lyon und Lille setzten sich aktiv für die Streikenden ein. Vgl. AN, F7/13879, Commissariat Spécial de Lille au Préfet du Nord, 27. 8.1925 und 29. 8. 1925. 1391 Vgl. AN, F7/13878, Ministère des Affaires étrangères au Ministre de l'Intérieur, 8. 9. 1925. 13,2 Vgl. AN, F7/13878, Rapport du Commissariat Spécial de Marseille vom 13.8.1925; ebenda, Rap- port du police, 22. 8. 1925; Une lettre de l'archevêque de Paris, abgdr. in: Le Peuple vom 20. 8. 1925; ADN, 79 J 574, Note confidentielle (Ley) Nr. 147 vom 28. 8. 1925. 1393 Isaac, Journal d'un notable lyonnais, S. 402f. (Eintrag vom 2.8. und 24. 8. 1925). '39< Vgl. ebenda, S. 406 (Eintrag vom 17. 9. 1925). 644 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen der Beziehungen zu der CFTC1395. Mathon und Ley verbündeten sich ganz offen mit den Bankiers. Sie ließen Flugblätter und Presseartikel, in denen zum Abbruch des Streiks aufgerufen wurde, verteilen und gaben Listen von Stellenbewerbern an die Bankdirektionen weiter, damit diese Streikbrecher einstellen konnten1396. Die Mehrheit der Unternehmer und Arbeitgeberverbände scheint indes - wie bereits erwähnt - eher Distanz gegenüber den Bankiers gewahrt zu haben, die durch ihre sture Haltung den Streik provoziert und damit die Zeichnung der Anleihe gefähr- det hatten, für die die streikenden Bankangestellten auf ihren Plakaten warben, um jeden Verdacht auszuschließen, daß es sich um einen politischen Streik han- deln könne1397. La Journée Industrielle, die Zeitung der Großindustrie, berichtete äußerst selten über den Streik und dann sehr sachlich und neutral1398. Einige Ar- beitgebervertreter, wie der Präsident des Verwaltungsrates der Zeche in Lens, äußerten ganz offen Unverständnis über die Weigerung der Bankiers, mit den Ge- werkschaften zu verhandeln1399. Alle Versuche von Regierungsvertretern auf zentraler und regionaler Ebene, die Bankiers mit den Streikkomitees an einen Tisch zu bringen, scheiterten1400. Die Begründung, die die Banque Générale du Nord für ihren ablehnenden Stand- punkt gab, war typisch: „Wir können den im übrigen völlig wahnsinnigen Forde- rungskatalog, aufgestellt durch eine Gewerkschaft, die vor dem Streik nicht mehr als zehn Angestellte unseres Etablissements zählte, nicht als Ausfluß des Denkens unserer Angestellten betrachten." Bei dem Streik handele es sich um eine künst- lich erzeugte Bewegung1401. Die Bankdirektionen versuchten, die jüngeren Bank- angestellten unter Druck zu setzen, indem sie von den Eltern eine Entschuldigung in Form eines ärztlichen Attests für die Abwesenheit ihrer Kinder verlangten1402. Die CGT, die von Anfang auf eine staatliche Intervention gedrängt hatte, warnte wiederholt vor einer Kapitulation der Regierung vor der Finanzmacht, für die sie vor allem Caillaux verantwortlich machte1403. Die SFIO wünschte die Einberu- fung der in Urlaub gegangenen Kammer, und Pierre Renaudel forderte ein Gesetz, das Verstöße gegen das Koalitionsrecht mit Sanktionen ahnde und zur Anerken- nung der Gewerkschaften als Verhandlungspartner zwinge1404. Daß dieser Vor- stoß erfolglos blieb, deutet darauf hin, daß von der großen Mehrheit der Abgeord- neten dem Streik trotz seines die Finanzpolitik der Regierung gefährdenden Cha- li» Vgl. CAMT 1996110 0089, Ley an Mathon, 4. 9. 1925; ADN, 79 J 574, Note confidentielle (Ley) Nr. 146 vom 21. 8. 1925.

»» Vgl. AN, F7/13879, Commissariat Spécial de Lille au Prefet du Nord, 24. 8.1925; ADN, 79 J 574, Note confidentielle (Ley) Nr. 146 vom 21. 8. 1925. Vgl. AN, F7/13878, Le Préfet du Rhône au Ministre de l'Intérieur, 3. 8. 1925. 1398 Vgl. Le conflit des banques, La Journée Industrielle vom 2. 8. 1925; La grève des banques est terminée, La Journée Industrielle vom 12. 9. 1925. "» Vgl. AN, F7/13878, Le Préfet du Rhône au Ministre de l'Intérieur, 6. 8. 1925. 1400 Auch die Präfekten drangen auf die Bankiers ein, um sie für Verhandlungen zu gewinnen. Vgl. ADN, 619/71, Préfet du Nord au Ministre du Travail, 22. 8. 1925. '«1 Vgl. ADN, 619/71, Banque Générale du Nord au Préfet, 19. 9. 1925. ι™ Vgl. ADN, 619/71, Préfet du Nord au Ministre de l'Intérieur, 11. 8. 1925. 1403 Vgl. AN F7/13878, Renseignements, 23. 8. 1925; Léon Jouhaux, Le gouvernement veut-il substi- tuer sa responsabilité à celles des banques?, Le Peuple vom 20. 8. 1925; Léon Jouhaux, Les em- ployés de banque reclament modestement leur droit à l'existence, Le Peuple vom 11.8. 1925. '«« Vgl. AN, F7/13878, Rapport du police, 19. 8. 1925; Le conflit des banques, Le Peuple vom 22. 8. 1925. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 645 rakters keine große politische Bedeutung beigemessen wurde. Zumindest sahen sie keine Chance, die Banker zum Einlenken bringen zu können. Die geringen Zugeständnisse, die die Bankiers bereits Anfang August machten und am Ende des Monats noch einmal wiederholten, hielt die Mehrheit der Bank- angestellten wie auch das Streikkomitee für unannehmbar. In einem Protokoll vom 31. August wurden den über 23jährigen Bankangestellten eine Erhöhung der Mindestlöhne und allen die Wiedereinstellung in Aussicht gestellt, falls ihnen nicht ein Dienstvergehen vorzuwerfen war. Einige Bankhäuser wollten darüber hinaus noch Heizungszulagen oder ähnliches gewähren1405. Daß eine Lohnerhö- hung notwendig war, wurde von den Vertretern der Banken durchaus aner- kannt1406, sie wollten sie aber nach eigenem Gutdünken konzedieren und nicht unter dem Druck eines Streiks und einer Gewerkschaft. Das Streikkomitee wollte Auskunft über die genaue Höhe des von den einzelnen Bankhäusern zukünftig gezahlten Mindestlohnes und darüber, ob die Lohnerhöhung unabhängig von den in Aussicht gestellten Zulagen gezahlt werde. Außerdem wünschte es zu wissen, was unter einem Dienstvergehen zu verstehen sei1407. Zur endgültigen Beilegung des mittlerweile schon fünf Wochen dauernden Konflikts befürwortete es die Ein- setzung eines staatlichen Schiedsgerichts, dem sich beide Parteien unterwerfen sollten. Die Regierung hatte bereits in einem Schreiben vom 9. September an beide Parteien die Einsetzung eines staatlichen Schiedsgerichts vorgeschlagen, stieß damit aber bei den Bankleitungen auf ausnahmslose Ablehnung1408. Mittlerweile hatte sich die Zahl der Streikenden stark verringert, so daß das Streikkomitee zur Wiederaufnahme der Arbeit am 12. September aufrief. Die Rechnung der Ban- kiers war aufgegangen. Durch ihre Weigerung, mit den Gewerkschaften zu ver- handeln und sich einem staatlichen Schiedsgericht zu unterwerfen, hatten sie die Bankangestellten auf die Knie gezwungen. Désiré Ley lobte in einem seiner gehei- men Rundschreiben die Haltung der Bankiers als vorbildlich1409. Nach dem glei- chen Handlungsmuster ging auch er in den großen Textilarbeiterstreiks im Nor- den Frankreichs vor. Alles, was die Regierung und Präfekten noch tun konnten, war, darauf zu dringen, daß die Zahl der Entlassungen gering gehalten wurde. Von ihr sollen dann auch nicht mehr als 90-100 Bankangestellte betroffen gewesen sein1410. Auch in Frankreich war eine autonome Konfliktregelung ausgeschlossen. Die Regierung wurde zum Eingreifen gezwungen, mußte aber ihre Ohnmacht einge- stehen, was zu einem enormen Ansehensverlust führte, der auch dadurch nicht wettzumachen war, daß Durafour in aller Eile ein Gesetz zur Streikschlichtung in der Kammer einbrachte, das - wie bereits berichtet - ebenfalls am Widerstand des

HOS Vgl. Les grévistes des établissements de crédit décident la reprise du travail, Le Peuple vom 12.9. 1925. 1406 Vgl. d¡e Ausführungen Lewandowskis in der Sitzung des Zentralrats der CGPF, Séance du 4 dé- cembre 1925, CAMT 72 AS 5. 1407 Vgl. Le conflit des banques, Le Peuple vom 11.9. 1925. HOS Vgl. ADN, 619/71, Lettre adressée par M. le garde des Sceaux, Ministre de Justice, Vice-Président du Conseil des Ministres, 9. 9. 1925; ebenda, Schreiben Durafours an die Präfekten vom 11. 9. 1925; ebenda, Société Générale, Agence de Lille, au Préfet du Nord, 10. 9.1925. '«« Vgl. ADN, 79 J 574, Note confidentielle (Ley) Nr. 149 vom 18. 9. 1925. πιο Vgl. Pour la réintégration des révoqués, Le Peuple vom 19. 9. 1925; J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 24 décembre 1925, S. 4723. 646 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Arbeitgeberlagers scheiterte. Der Verlauf des Bankangestelltenstreiks trug mit zur Demontage des Linkskartells bei und zeugte zugleich von der Reformunfähigkeit des Systems, die allerdings nicht - wie von Zeitgenossen prophezeit - zu einer Ra- dikalisierung der französischen Arbeiterbewegung und Arbeiterschaft führte1411. Die Kommunisten triumphierten zwar, weil sie ihre Ideologie, daß die Bankiers stärker als der Staat seien, bestätigt sahen1412, sie zogen aber keinen Profit aus den Lähmungserscheinungen des Linkskartells. Klagen, daß sich die materielle Situation der Arbeiterschaft seit den mit so viel Hoffnungen verbundenen Wahlen im Mai 1924 nicht verbessert, sondern ver- schlechtert habe, wurden allenthalben laut, aber eine Kampfstimmung bestand nicht1413. In der großen Industrieregion Nordfrankreichs blieb es weitgehend ru- hig, obwohl die Bergarbeiter allen Grund gehabt hätten, zu der Waffe des Arbeits- kampfes zu greifen. Sie erlitten von 1923-1926 empfindliche Reallohnverluste. Während die Lebenshaltungskosten von 1923-1926 um rund 63 Prozent hoch- schnellten, stiegen die Gedingelöhne nur um etwa 43 Prozent. Verglichen mit dem Jahr 1913 lagen die Reallohnverluste 1926 bei sieben Prozent1414. Die Regierung, namentlich der Minister für Öffentliche Arbeiten, Pierre Laval, hatte in seiner kurzen Amtszeit, in die der große Lohnstreit im Bergbau im Sommer 1925 fiel, den Argumenten des Comité Central des Houillères und der Zechendirektionen viel mehr Beachtung geschenkt als denen der Bergarbeiterverbände. Trotz steigen- der Lebenshaltungskosten gaben die Zechenverbände für die Reviere Nord und Pas-de-Calais am 23. Mai 1925 bekannt, daß sie die seit 25. Februar 1925 geltende 40prozentige Erhöhung der Lohnzulage wieder streichen wollten. Als Grund für diesen Schritt wurde von ihnen wie auch von Zechenvertretern anderer Reviere sowie vom Comité Central des Houillères die Absatzkrise der französischen Kohle genannt, die mit der deutschen und englischen Kohle nicht mehr konkur- rieren könne1415. Wie bei allen Lohnstreitigkeiten im Bergbau wurde vom Bergar- beiterverband der Minister für Öffentliche Arbeiten eingeschaltet, der den Stand- punkt der nordfranzösischen Zechenherren anerkannte, sie allerdings dazu bewe- gen konnte, die Erhöhung der Lohnzulage nur zur Hälfte und nicht ganz zu kür- zen, was von den nordfranzösischen Bergarbeitervertretern auch akzeptiert wurde. Dieser Kompromiß sollte allerdings nur bis Ende Juni gelten. Dann sollten erneut die Absatzchancen für die französische Kohle überprüft werden1416. Im übrigen hieben die französischen Zechenverbände in die gleiche Kerbe wie die deutschen: Anstatt höherer Löhne wurde Mehrarbeit zum Gebot der Stunde er- klärt, wobei aber in Frankreich die gesetzlich verankerte Achtstundenschicht trotz aller Kritik von Arbeitgeberseite erhalten blieb1417.

1411 Vgl. z.B. Une périlleuse victoire, L'Information sociale vom 17. 9. 1925. 1412 Vgl. Un conflit qui n'est pas terminé, L'Humanité vom 12. 9. 1925. 1413 Vgl. Des murmures qu'il faut entendre, L'Information sociale vom 1.10. 1925. 1414 Errechnet auf der Grundlage der von Borgeaud, Les salaires des ouvriers des mines de charbon, S. 86 f. genannten Zahlen über die Gedingelöhne und die Lebenshaltungskosten. 1415 Vgl. Les Compagnies veulent réduire les salaires des mineurs, Le Peuple vom 28. 5. 1925; Les sa- laires des mineurs, Le Peuple vom 6. 6. 1925. Von der Absatzkrise waren indes Deutschland und Großbritannien sowie andere europäische Länder stärker betroffen als Frankreich. Vgl. L'Echo des Mines et de la Métallurgie vom 1. 6. 1925. 1416 Vgl. Les grands conflits dans les mines, L'Information sociale vom 11.6. 1925. 1417 Vgl. Camille Didier, Les salaires des mineurs et le prix des charbons, L'Usine vom 6. 6. 1925. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 647

Auf dem Kongreß des nationalen Bergarbeiterverbandes Ende Juni 1925 in Carmaux fand die Streikvermeidungsstrategie der Vertreter der nordfranzösi- schen Bergarbeiter keine Zustimmung. Der Kongreß beschloß einen zunächst auf 24 Stunden limitierten Generalstreik, falls bis zum 27. Juli die Lohnkürzungen, die in manchen Revieren vollständig und kompromißlos durchgeführt worden waren, nicht wieder rückgängig gemacht sein sollten. Die Streikdrohung war - wie bei Lohnstreitigkeiten im Bergbau in Frankreich fast immer - an die Adresse der Regierung gerichtet, der man nahelegte, den Zechengesellschaften mit der Na- tionalisierung zu drohen1418. Laval speiste indes den Bergarbeiterverband mit dem bloßen Versprechen ab, daß ab 15. September die Zulagen wieder in voller Höhe gezahlt würden, wenn bis dahin seine Maßnahmen zur Ankurbelung des Absatzes gegriffen hätten1419. Zum Streik kam es trotzdem nicht. Der Bergarbeiterverband der CGT war erfahren und vernünftig genug, während einer Absatzkrise keinen Streik vom Zaune zu brechen. Der Bergarbeiterverband der CGTU, der sowohl für den 27. Juli als auch den 15. September 1925 zum Generalstreik geblasen hatte, hatte aus dem Desaster des Jahres 1923 eine Lehre gezogen und wollte auf keinen Fall mehr allein in den Streikkampf ziehen1420. So endete der Lohnstreit trotz der Einbußen, die den Bergarbeitern zugemutet wurden, einvernehmlich. Nach noch- maliger Intervention Lavais erklärten sich die Vertreter der nordfranzösischen Zechen am 28. September 1925 bereit, die Zulagen wieder in voller Höhe zu zah- len1421. Dieses Zugeständnis war freilich mager und angesichts der immer steiler ansteigenden Lebenshaltungskosten kamen selbst die nordfranzösischen Zechen- herren nicht umhin, am 16. Januar 1926 eine Lohnerhöhung zu gewähren, die für den bestbezahlten Gedingearbeiter 1,80 Francs pro Tag betragen sollte. Sie deckte den Anstieg der Lebenshaltungskosten nicht1422. Erst im Mai und dann im August und September, als schon Poincaré auf dem Ministerpräsidentensessel saß, wur- den die Löhne um 15 Prozent erhöht und dem Sinken der Reallöhne ein Ende ge- setzt. Wieder einmal hatte sich gezeigt, daß die Durchsetzungsfähigkeit des fran- zösischen Bergarbeiterverbandes maßgeblich von der Unterstützung durch das Ministerium für Öffentliche Arbeiten abhing, das aber trotz des regierenden Linkskartells und trotz Inflation keinen Druck auf die Zechengesellschaften aus- übte und so bei den Bergarbeitern die Enttäuschung über das Linkskartell wach- sen ließ. In der Kammer und selbst im Senat waren die Bergarbeitervertreter aller- dings erfolgreiche Lobbyisten: Nachdem bereits durch ein Gesetz vom 11. Juli 1925 die Knappschaftsrenten erhöht worden waren, stimmte die Kammer am ms Vgl. Pierre Vigne, Les mineurs s'opposeront par tous les moyens aux prétentions des Compagnies minières, Le Peuple vom 22. 7. 1925; Fédération des Mineurs, La Voix du Peuple vom August 1925, S. 395-403. 1419 Vgl. Un manifeste aux travailleurs de la mine, Le Peuple vom 25. 7. 1925. 1420 Vgl. Le Comité des Houillères maintient des diminutions, L'Humanité vom 26. 7. 1925; Le Con- grès décide la préparation de la grève générale des mineurs pour le 15 septembre, L'Humanité vom 4. 9. 1925. 1421 Vgl. L'accord s'est réalisé entre les représentants des compagnies minières et les délégués ouvriers, Le Peuple vom 29. 9. 1925; Eugène Morel, L'action méthodique de la Fédération du Sous-Sol a triomphé de la politique de réduction des salaires que les compagnies houillères entendaient pra- tiquer, Le Peuple vom 30. 9. 1925. 1422 Vgl. Le conseil national du sous-sol décide que les mineurs devront avoir obtenu satisfaction avant le 31 janvier, Le Peuple vom 20. 1. 1926. 648 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

4. Juni und die Haute Assemblée am 6. August 1926 einer weiteren 20prozentigen Rentenerhöhung zu1423. Uber die Reallöhne der nordfranzösischen Textilarbeiter lassen sich nur schwer Aussagen treffen. Delvoye gibt an, daß der Stundenlohn eines Wollspinners von 2,25 Francs im Jahre 1919 auf 4,64 Francs 1926 gestiegen sei. Legt man jedoch die von ihm genannten Zahlen über Lohnerhöhungen und -herabsetzungen seit 1919 zugrunde, so kommt man nur auf einen Lohnanstieg von 1,25 Francs. Vermutlich sind in dem von Delvoye genannten Stundenlohn von 4,64 Francs alle gewährten Zulagen mit Inbegriffen, während der Basislohn nur bei 3,50 Francs gelegen haben dürfte1424. Sollte ein Wollspinner 1926 tatsächlich insgesamt 4,64 Francs Stunden- lohn erhalten haben, so hätte er, selbst wenn man nur die Lebensmittelpreise für die Lebenshaltungskosten heranzieht, keinen oder nur einen ganz geringfügigen Reallohnverlust erlitten. Ein ausgeklügeltes Zulagensystem, das auch in der Me- tallindustrie angewandt wurde, erwies sich als ein geeigneter Weg, um die Ge- werkschaften auszuschalten, mit denen zu verhandeln Mathon und der General- verwalter des Consortium de l'industrie textile Ley weiterhin ablehnten, die über den zu gewährenden Inflationsausgleich selbst bestimmen wollten. Leys Taktik, die er allen im Consortium de l'industrie textile zusammengeschlossenen nord- französischen Textilindustriellen vorschrieb, lautete: „Wir hören nicht auf, es zu wiederholen. Es sind die wohlverstandenen sozialen Leistungen, es ist die in den Fabriken angewandte Gerechtigkeit, es sind die wirklich einträglichen und in da- für opportunen Zeiten immer angepaßten Löhne, durch die nach und nach die un- heilvolle Aktion der Hetzer (meneurs) zerstört wird, durch die ihre Rolle unnütz wird, durch die sich die Arbeiter ihren Arbeitgebern unter Ausschluß jeden Mitt- lers nähern werden."1425 Ende 1925 hatte Ley in einem seiner berüchtigten Rund- schreiben die Textilindustriellen gemahnt, angesichts der gestiegenen Lebenshal- tungskosten die Löhne zu erhöhen, damit die Arbeiter sähen, daß die Arbeitgeber sich unabhängig von gewerkschaftlicher Beeinflussung um ihre materiellen Le- bensbedingungen kümmerten1426. Neben dem Wunsch, sich als patron zu präsen- tieren, dürfte auch die Kommunismusfurcht dazu beigetragen haben, daß Ley sich so beredt für Lohnerhöhungen einsetzte. Diese war zumindest bei Eugène Ma- thon so ausgeprägt, daß er sich als einziger im Zentralrat der CGPF für die Ein- führung von Goldlöhnen aussprach, die die CGTU auf ihrem Kongreß im August 1925 zum Programm erhoben hatte. Neben René Laederich, einem der größten Textilunternehmer in den Vogesen, widersprachen vor allem die Metallindustriel- len dem Vorhaben Mathons. Ihre Argumentation glich der der deutschen Indu- striellen. Goldlöhne und die damit verbundene Einführung einer gleitenden Lohnskala fördere die inflationäre Entwicklung1427. Die Gefahr kommunistischer Arbeiterunruhen, die Mathon wahrscheinlich aufgrund der Entwicklung in

"«' Vgl. Bulletin du Ministère du Travail 33,1926, S. 323 f. 1424 Vgl. Delvoye, Meneurs, S. 46. '«s ADN, 79 J 575, Note confidentielle (Ley) Nr. 158 vom 14. 5. 1926. 1426 Vgl. ebenda, Circulaire Nr. 238 vom 28. 12. 1925 und Note confidentielle Nr. 154 vom 20. 11. 1925. 1427 Vgl. CAMT, 72 AS 5, CGPF, Conseil Central, Séance du 16 octobre 1925; vgl. auch La campagne syndicaliste en faveur du salaire-or, L'Usine vom 11. 7. 1925. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 649

Deutschland als groß ansah, war für die führenden Industriellen Frankreichs kein Thema, über das man sich den Kopf zerbrach. Größere Arbeitskämpfe waren in Frankreich schon deshalb nicht zu fürchten, weil mit Ausnahme des Bergbaues trotz Inflation die Reallöhne kaum zurückgin- gen, wobei freilich immer wieder betont werden muß, daß die Vorkriegslöhne in Frankreich kaum das Existenzminimum deckten. Nach Berechnungen des Inter- nationalen Arbeitsamtes lagen die Löhne in Frankreich im Jahr 1926 nur fünf Prozent unter dem Vorkriegsniveau und 1925 sogar nur ein Prozent1428. Auch die Daten für die Pariser Metallindustrie zeigen, daß die Inflation sich kaum auf das Reallohnniveau auswirkte. Geht man von einem Index 1920=100 aus, so lag er im Februar 1926 bei den Stundenlöhnen sowohl für einen ungelernten Arbeiter als auch für einen gelernten Monteur bei 127, bei den Lebenshaltungskosten bei 1321429 Da d|e meisten Beschäftigten in der Metallindustrie im Akkord arbeiteten und Leistungszulagen bekamen, dürften für sie die Inflations]ahre kaum mit spür- baren Lohneinbußen verbunden gewesen sein. Dies förderte nicht das Bestreben, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren, zumal diese nicht nur durch ein kom- pliziertes Zulagensystem von den Unternehmern an einer erfolgreichen Arbeit gehindert wurden, sondern zumindest, was die CGT betraf, sich auch selbst aus- schalteten, weil sie sich als unfähig erwiesen, ein eigenes Lohnkonzept zu entwik- keln. Die CGT gab ganz offen zu, daß sie angesichts der Geldentwertung die Kontrolle über die Lohnforderungen der Arbeiter verloren habe, denn das Wech- selkurssystem verstünde nur jemand, der in die „Mysterien der Finanzwissen- schaft" eingeweiht sei1430. Auf ihrem Kongreß im August 1925 sprach sie sich dafür aus, daß der Conseil économique du travail auf nationaler wie regionaler Ebene mit der prinzipiellen Lohnpolitik betraut werde und setzte damit auf das Wissen der Experten, da es vielen französischen Gewerkschaftern weiterhin an ökonomischen Kenntnissen fehlte. Trotz aller Vorbehalte vertraute sie weiterhin auf eine Art Indexsystem und verlangte im übrigen nur, daß auch die schlecht qua- lifizierten Arbeiter so viel verdienen müßten, daß sie ihren Lebensunterhalt fristen könnten1431. Die UIMM stellte mit großer Befriedigung fest, daß die Lohnfrage auf dem CGT-Kongreß kaum eine Rolle gespielt habe1432. Die UIMM wie auch der GIM verteufelten selbst während der Inflation die gleitende Lohnskala als eine „ökonomische Häresie" und lehnten es ab, Verhandlungen über die Anpassung der Löhne an die Lebenshaltungskosten zu führen. Deutschland, wo die hohen Löhne angeblich zu Arbeitslosigkeit geführt hatten, wurde als Schreckbild an die Wand gemalt1433. Beide Organisationen gaben auch jetzt wieder die Order aus,

1428 Vgl. Die Bewegungen der Löhne und ihre Entwicklung in verschiedenen Ländern, in: Internatio- nale Rundschau der Arbeit 6, 1928, S. 620-638, hier S. 626. 1429 Vgl. Les salaires dans les industries des métaux de la région parisienne, in: Bulletin du Ministère du Travail 33, 1926, S. 303. '«o Vgl. Le Salaire, La Voix du Peuple, September 1925, S. 518-524, hier S. 520. 1431 Vgl. Dix-huitième congrès confédéral, Paris (26-29 août 1925), in: La Confédération Générale du Travail et le mouvement syndical, S. 269. Der Metallarbeiterverband forderte allerdings zur glei- chen Zeit, daß die Produktionskraft das zentrale Element bei der Lohnfestsetzung sein müsse. Vgl. Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 6e Congrès 1925, S. 288. 1432 Vgl. Le congrès de la C.G.T. Buts et tendances actuels, L'Usine vom 5. 9. 1925. 1433 Vgl. Camille Didier, L'augmentation des salaires et les communistes, L'Usine vom 16. 1. 1926; ders., A propos des demandes de relèvement des salaires, L'Usine vom 20.2. 1926. 650 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen keine generellen Lohnerhöhungen zu gewähren, sondern durch individuelle Zula- gen einen Inflationsausgleich herzustellen, wobei neben den Familien- die Lei- stungszulagen eine wichtige Rolle spielten1434. Deren Berechnung war häufig so kompliziert und undurchsichtig, daß weder die Arbeiter noch die CGT-Funktio- näre sie verstanden1435. Die CGTU, die Anfang 1925 noch eine Kampagne für einen sehr moderaten Mindestlohn von 20 Francs pro Tag betrieben und damit vor allem die ungelern- ten Arbeiter in der Provinz anzusprechen versucht hatte1436, plädierte auf ihrem Kongreß im August 1925 unter Hinweis auf die verheerenden Auswirkungen der Inflation in Deutschland für die Einführung von Goldlöhnen und einer gleitenden Lohnskala, wobei die Lebenshaltungskosten auf der Grundlage des Goldfrancs von den Gewerkschaften und den Comités d'Usine berechnet werden sollten1437. Die Forderung nach Einführung von Goldlöhnen trat aber schon Ende des Jahres in den Hintergrund. Höhere Löhne und ihre automatische Anpassung an die Le- benshaltungskosten, für die die CGTU 1926 stritt, waren zwar eine gegen die bisherige revolutionäre Ideologie und Propaganda verstoßende Parole, die aber Zugkraft bei Arbeitern versprach, die weder für revolutionäre Erhebungen noch für größere Streikbewegungen zu gewinnen waren. Nachdem die CGTU im Frühjahr 1924 vergeblich versucht hatte, einen Gene- ralstreik in der Metallindustrie zu initiieren und schließlich in dem einzigen gro- ßen Metallarbeiterstreik in Saint-Etienne eine bittere Niederlage kassiert hatte1438, die ihre dortige Organisation völlig ruinierte, startete die CGTU erst Ende 1925/ 26 wieder eine Lohnoffensive. Durch sie sollte ein Aufflammen zahlreicher spon- taner Teilstreiks, die ihrer Kontrolle zu entgleiten drohten, verhindert werden, denn die Vergangenheit hatte - wie der Metallarbeiterverband der CGTU fest- stellte - gezeigt, daß diese Streiks einem „Krieg der Heckenschützen gegen die ka- pitalistische Armee" glichen1439. Wie immer konzentrierten sich die Kommuni- sten auf die Metallindustrie und auf Paris, die einzige Bastion, die ihnen verblie- ben war. Dort wurden Ende 1925/Anfang 1926 die Arbeiter dazu aufgerufen, bei den Betriebsleitungen mit einem Forderungskatalog vorstellig zu werden, der ganz auf die unmittelbaren materiellen Bedürfnisse der Arbeiter zugeschnitten war. Lohnerhöhungen und die Einführung einer gleitenden Lohnskala, die in Un- ternehmerkreisen mittlerweile ein rotes Tuch war, wurden verlangt. Als Datum für das Erreichen dieses Ziels wurde der 15. Februar 1926 genannt, wobei aller- dings von vornherein die Ausrufung eines Generalstreiks im Falle eines Scheiterns

1434 Vgl. CAC, 39 AS 804, Note sur l'évolution des salaires dans les industries des métaux de la région parisienne, 1er mars 1926; L'extension de la propagande communiste, L'Usine vom 17. 1. 1925. '«s Vgl. Le Salaire, La Voix du Peuple, September 1925, S. 518-524, hier S. 519; zu der Kritik des Me- tallarbeiterverbandes an dem in der Metallindustrie angewandten System der Lohnzulagen vgl. Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 6e Congrès 1925, S. 11 f. 1436 Vgl. Pour les huit heures et les salaires, La Vie syndicale, März/April 1925. S. 373-376. Vgl. CGTU, Congrès national 1925, S. 330f. 1438 Vgl. Fédération unitaire des ouvriers et ouvrières sur métaux, 3e Congrès national fédéral 1925, S. 8f.; zu dem Metallarbeiterstreik in Saint-Etienne vgl. Héritier u.a., 150 ans de luttes, S. 157- 161. 1439 Vgl. Fédération unitaire des ouvriers et ouvrières sur métaux, 3e Congrès national fédéral 1925, S. 30; zur Ablehnung spontaner Teilstreiks vgl. Pour une stratégie des grèves, La Vie ouvrière vom 4. 1. 1924. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 651 des lohnpolitischen Vorstoßes ausgeschlossen wurde1440. Die Funktionäre des Pariser Metallarbeiterverbandes wußten nur zu gut, daß die Arbeiter hierfür nicht mobilisiert werden konnten1441. Am 1. April organisierten die Kommunisten in Paris eine Demonstration der Metallarbeiter für eine allgemeine Erhöhung der Löhne, die Anwendung einer gleitenden Lohnskala und die Respektierung des Achtstundentages, der sich aber wohl kaum mehr als 100000 Demonstranten angeschlossen hatten, wie L'Huma- nité behauptete1442, denn sonst hätte am 1. Mai nicht Friedhofsruhe geherrscht. Sowohl die CGT als auch die CGTU verzichteten an diesem Tag auf Umzüge und Demonstrationen. Die Streiks nahmen zwar ab März zu, wurden aber in der Au- tomobilindustrie, die den Weisungen des GIM folgte, mit Aussperrung beantwor- tet, gegen deren Anwendung in französischen Unternehmerkreisen anders als noch in der Vorkriegszeit keinerlei Skrupel mehr bestanden1443. Die Führung des PCF und der CGTU drängte trotzdem auf eine Generalstreikbewegung in der Pariser Metallindustrie, wurde jedoch von den Funktionären an der Basis eines Besseren belehrt, die resigniert feststellten, daß man mit der Einleitung einer Streikbewegung warten müsse, „bis die Arbeiter vor Hunger sterben"1444. Die Reaktion an der Gewerkschaftsbasis konnte von der CGTU-Führung nicht ignoriert werden. Am 13. Mai nahm sie Abstand von der Einleitung einer Gene- ralstreikbewegung in der Metallindustrie und wollte sich damit begnügen, einen Streik bei Renault zu provozieren1445. Dort war es in einer Werkstatt wegen einer Lohnherabsetzung infolge von Rationalisierungsmaßnahmen zu einer Arbeitsnie- derlegung gekommen, die von kommunistischer Seite zunächst zum Anlaß für Demonstrationen genommen wurde, bei denen Streikende und Polizei zusam- menstießen und sich Scharmützel lieferten1446. Am 18. Mai beschloß die Exekutiv- kommission des Pariser Metallarbeiterverbandes der CGTU den Generalstreik, den Louis Renault drei Tage später mit der Generalaussperrung beantwortete, von der kommunistischen Angaben zufolge 30000 Beschäftigte betroffen waren1447. Einen Tag zuvor hatte der Präsident des GIM, Richemond, schon die Pariser Me- tallindustriellen zur Solidarität mit Renault aufgefordert, was vor allem hieß, daß keine ausgesperrten Arbeiter in einem anderen Pariser Betrieb Unterschlupf fin- den sollten1448. Daß das System der „schwarzen Listen" auch nach Beendigung des

1440 Vgl. L'agitation pour les salaires dans la métallurgie, L'Humanité vom 24. 12. 1925; Gaston Mon- mousseau, Que se passera-t-il le 15 février?, L'Humanité vom 26.1.1926; Appel de la CGTU, La Vie ouvrière vom 8.1.1926. 1441 Vgl. Wolikow, Parti Communiste Français et l'Internationale Communiste, S. 532. 1442 Vg]. p]Us de 100000 métallurgistes ont chômé hier, L'Humanité vom 2. 4. 1926. 1443 Zu den Aussperrungen in der Pariser Automobilindustrie vgl. 20000 ouvriers sur le pavé, L'Hu- manité vom 11. 1. 1926; Le lock-out des usines Talbot à Suresnes, L'Humanité vom 21. 3. 1926; Malgré toutes les manœuvres les lock-outés tiendront, L'Humanité vom 7. 5. 1926; Le lock-out arme patronale, L'Humanité vom 13. 5. 1926; La propagande communiste, L'Usine vom 6. 11. 1926. >444 Vgl. RGASPI, F 495, op. 2, d. 96, Lettre du Bureau politique au présidium de l'I.C. [o.D. März/ April 1927], •«5 Vgl. AN, F7/13932, Rapport de la Direction de la Sûreté Générale vom 21. 5. 1926. 1446 Vgl. Le lock-out chez Renault, L'Humanité vom 14. 5. 1926; Au ordre du profiteur Renault la police charge et assomme, L'Humanité vom 18. 5. 1926. 1447 Vgl. Renault lock-outé 30000 ouvriers, Boulogne-Billancourt est en état de siège, L'Humanité vom 21. 5. 1926. 1448 Vgl. GIM, Dossier Grève 1926, Rundschreiben Richemonds vom 20.5. 1926; dieses Rundschrei- 652 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Arbeitskampfes, der mit der Entlassung von rund 1000 Arbeitern endete, noch fortgeführt wurde, gab Anlaß zu einer Interpellation der Kommunisten in der Kammer, in der Arbeitsminister Durafour zur großen Empörung des GIM die „schwarzen Listen" verurteilte und bedauerte, nicht als Schlichter eingreifen zu können1449. Richemond sah sich genötigt, das Vorgehen des GIM öffentlich zu rechtfertigen und drückte zugleich seine Verwunderung darüber aus, daß Dura- four den kommunistischen Parolen Glauben schenkte und sich den „Berufsagita- teuren" sogar als Mittler habe anbieten wollen und darüber hinaus auch noch beklagt habe, die Arbeitgeber nicht zum Verhandeln zwingen zu können1450. Die französischen Arbeitgeber sahen wie immer in der staatlichen Intervention eine weitaus größere Gefahr als in der Streikbewegung, während die französischen Kommunisten anders als ihre deutschen „Genossen" wieder einmal den in der Theorie verpönten repressiven Staatsapparat einschalten wollten, der in diesem Fall auch Partei für die Kommunisten ergriffen hatte, was in Deutschland nicht denkbar gewesen wäre. Die Parteinahme des Radikalsozialisten Durafour für die Kommunisten zeugt von der in Frankreich auch innerhalb des linksliberalen Spektrums bestehenden Aversion gegen die Unternehmermacht, die den republi- kanischen Konsens, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verletzen schien. Auch der Ende 1924 ausgebrochene Streik der Fischkonservenarbeiter in Douar- nenez hatte nur unter dem Druck der Regierung, die der Hafenstadt finanzielle Hilfe zur Unterstützung der Streikenden gewährte, mit einem Sieg für die Kom- munisten geendet, die die Arbeitsminister Godart und Durafour ganz offensicht- lich in den Staat zu integrieren versuchten1451, während die Regierung des Bloc national noch Härte demonstriert und jede Hilfe verweigert hatte. Obwohl der Arbeitskampf bei Renault aufgrund der zahlreichen bei der Be- triebsdirektion eingegangenen Bitten um Wiedereinstellung nur bis 28. Mai dau- erte und in einer Niederlage für die Renault-Arbeiter endete, wurde er von den französischen Kommunisten als Sieg ausgegeben, denn Renault hatte am Tag, als er die Tore seines Automobilwerkes Schloß, die Einführung einer Leistungsprä- mie, die zugleich langjährige Betriebszugehörigkeit honorierte, bekanntgege- ben1452. Dieses Lohnzugeständnis, das die Stammarbeiterschaft binden sollte, war indes schon vor Ausbruch des Streiks von der Betriebsleitung beschlossen wor- den, war somit keine machiavellistische Strategie, um einen Keil in die streikenden Arbeiter zu treiben, von denen wohl nur ein Fünftel unter dem Einfluß der Kom- munisten stand1453. Die Feststellung der Direktion von Renault, daß vor allem

ben wurde auch von dem Kommunisten Jean Laporte in der Kammer verlesen. Vgl. J.O., Cham- bre des députés, Débats parlementaires, Séance du 2 juin 1926, S. 2340; zur Anwendung von „schwarzen Listen" bei dem GIM vgl. auch Fraboulet, Quand les patrons s'organisent, S. 255. 1449 J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 2 juin 1926, S. 2338f. 1450 Vgl. Groupe des Industries métallurgiques, mécaniques et connexes de la Région parisienne, Ri- chemond, au Ministre du Travail, vollständig abgedr. o.D. in: La Journée Industrielle vom 11.6. 1926. usi Vgl. La grève de Douarnenez, L'Information sociale vom 8.1.1925; A propos des grèves de Dou- arnenez, L'Usine vom 31. 10. 1925; Le grève de Douarnenez, La Vie syndicale, November 1924— Februar 1925, S. 302-309. 1452 Vgl. RGASPI, F 495, op. 2, d. 96, Lettre du Bureau politique au présidium de l'I.C. [o.D. März/ April 1927]; Le mouvement communiste dans la région parisienne, L'Usine vom 22. 5. 1926. •«3 Vgl. AN, F7/13932, Rapport du Police vom 28. 5. 1926. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 653

Ausländer als militants fungierten1454, war durchaus zutreffend1455 und bewies wieder einmal, daß die französischen Arbeiter für die kommunistische Agitation nicht empfänglich waren, die nach dem Streik bei Renault noch schwieriger wurde als zuvor, denn die kommunistische Betriebszelle war aufgrund der Entlassungs- aktion völlig zerstört worden1456. Das EKKI zeigte völliges Unverständnis dafür, daß die französischen Kommu- nisten sich trotz Inflation als unfähig erwiesen, eine größere Streikbewegung ins Leben zu rufen, und zieh deshalb die PCF-Führung einer „renaissance de l'élec- toralisme"1457. In Moskau übersah man, daß in Frankreich die Inflation zu keiner Verelendung der Arbeiter geführt hatte und diese somit auch nicht wie in Deutschland aus Verzweiflung in die Revolte getrieben wurden. Die Machtüber- legenheit des Arbeitgeberlagers, das durch seine Lohnstrategien die Gewerkschaf- ten auszuschalten wußte, führte in Frankreich nicht zur einer Radikalisierung der lohnabhängig Beschäftigten, sondern zu Indifferenz und Resignation, die so groß war, daß dort kaum ein Arbeiter für die Erhaltung des Achtstundentages auf die Straße gegangen wäre.

3. Mehrarbeit - nicht nur von französischen Arbeitgebern gewünscht

In der Verteufelung des Achtstundentages standen die französischen patrons den deutschen Unternehmern um nichts nach. „Die größte Torheit des Jahrhunderts, nach dem allgemeinen Wahlrecht ohne Gegengewicht, ist das Gesetz über den Achtstundentag, verabschiedet im April 1919 aus Furcht vor dem 1. Mai", schrieb der Lyoner Seidenfabrikant und ehemalige Handelsminister Auguste Isaac noch 1926 voller Ingrimm in sein Tagebuch1458. Im Dezember 1921 hatte Isaac einen Gesetzentwurf in der Kammer eingebracht, der auf die Einführung des Neun- stundentages hinauslief, wobei der Berechnung der Stundenzahl die effektiv gelei- stete Arbeit zugrunde gelegt werden sollte und nicht die bloße Anwesenheit. Jules de Dion, Industrieller und Bonapartist, legte im Februar 1922 der Kammer einen Gesetzesvorschlag vor, der eine Suspendierung des Achtstundentages für fünf Jahre verlangte. Bereits im Sommer 1920 hatte Colonel Prosper Joseph Josse, Mit- glied der Fédération républicaine, der Kammer ein Gesetzesprojekt unterbreitet, das Überstunden ohne jegliche Begrenzung befürwortete, wenn die Betriebslei- tung und die Arbeiter gleichermaßen damit einverstanden waren1459. Die Ent- würfe verschwanden zwar in den Ausschüssen der Kammer, in der es am 30. Juni

1454 Vgl. Rundschreiben der Direktion von Renault an die Arbeiter des Werks vom 21. 5.1926, abgedr. in: L'Usine vom 22. 5. 1926. 1455 Vgl. Depretto/Schweitzer, Communisme à l'usine, S. 149 f. >«* Vgl. ebenda, S. 78. 1457 Vgl. Lettre du Presidium de l'I.C. au Comité Central du Parti Communiste Français, 2.4. 1927, in: Archives de Jules Humbert-Droz, Bd. 2, S. 472 f.; vgl. auch RGASPI, F 495, op. 2, d. 96, Lettre du Bureau politique au presidium de l'I.C. [o.D., März/April 1927]. 1458 Isaac, Journal d'un notable lyonnais, S. 432. 1459 Vgl. Gesetzentwurf vom 15. 6. 1920, J.O. Chambre des députés. Documents parlementaires, An- nexe Nr. 1076, S. 1736-1740; Gesetzentwurf vom 22.12.1921, J.O., Chambre des députés. Docu- ments parlementaires, Annexe Nr. 3587, S. 480f.; Gesetzentwurf vom 7. 2. 1922, J.O., Chambre des députés, Documents parlementaires, Annexe Nr. 3840, S. 116-118; zu diesen Gesetzentwür- fen vgl. auch La loi sur la journée de huit heures, Le Temps vom 2. 7. 1922. 654 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

1922 aufgrund einer Interpellation Josses noch einmal zu einer in der Öffentlich- keit und auch von den Fraktionen des linken politischen Spektrums kaum beach- teten Debatte über das Achtstundentagsgesetz kam1460, fanden aber die unein- geschränkte Zustimmung der französischen Arbeitgeber, die die Deflation zum Anlaß nahmen, um 1922 eine Offensive gegen die verpönte Reglementierung der Arbeitszeit zu starten, ohne jedoch noch einmal Arbeitskämpfe zu provozieren wie in den Jahren 1919/20. Bereits Ende 1921 hatte die CGPF sowohl die Regie- rung als auch das Parlament für ihren Vorschlag zu gewinnen versucht, das Gesetz über den Achtstundentag bis zur Herstellung normaler ökonomischer Verhält- nisse außer Kraft zu setzen. Im März 1922 wurde der Präsident der CGPF Darcy zusammen mit anderen führenden Industriellen bei Poincaré vorstellig, um ent- weder eine Suspendierung des Gesetzes oder eine beträchtliche Erhöhung der zu- lässigen Uberstundenzahl zu erreichen. Camille Cavallier erwies sich auch bei die- ser Begegnung als Hardliner und forderte die völlige Abschaffung des Gesetzes. Der Regent von Pont-à-Mousson, der nicht müde wurde, Arbeit, Ordnung, Spar- samkeit und Verzicht zu predigen, rechnete später aus, daß durch die Einführung des Achtstundentages ein Ertrag von 17 Milliarden Francs im Jahre verlorengehe. Poincaré lehnte jedoch das Ansinnen der Industriellen ab. Das Gesetz über den Achtstundentag sei ein „Geschenk" an die Arbeiter als Dank für die Union sacrée gewesen, das ihnen nicht einfach wieder genommen werden könne1461. Als Präsi- dent des Comité Central des Houillères lag Darcy zur gleichen Zeit auch dem Mi- nister für Öffentliche Arbeiten in den Ohren, denn das Gesetz über die Arbeits- zeit im Bergbau vom 24. Juni 1919 hatte in seinen Augen dazu geführt, daß sich die Produktion im Bergbau um 26 Prozent verringert habe, so daß die Versorgung des Landes mit Kohle in Gefahr sei. Eine Revision des Gesetzes sei deshalb unaus- weichlich1462. In dieselbe Kerbe hieben auch die Zechenbarone in den nordfranzö- sischen Revieren, während der französische Bergarbeiterverband gleich dem deut- schen auf die geringe Qualifikation der Bergarbeiter, die in Frankreich häufig aus dem Ausland kamen, und die schlechten Arbeitsbedingungen verwies1463. Auch die UIMM blieb nicht untätig. Ihr ging es darum, die Zahl der möglichen Uberstunden beträchtlich zu erhöhen und eine möglicherweise von der Regierung anvisierte Einschränkung der erlaubten Mehrarbeit von vornherein abzuwehren. Als die Regierung im Februar 1922 eine Enquete über die Auswirkungen der öko- nomischen Krise auf die geleistete Arbeitszeit startete, schrillten bei der UIMM die Alarmglocken, denn während der Deflation hatte die Industrie nicht einmal die erlaubte Überstundenzahl ausschöpfen können1464. Der Generalsekretär der UIMM Lambert-Ribot diktierte den Mitgliedern, was sie zu antworten hatten. Konnte von den Unternehmen die Zahl der erlaubten Überstunden wegen der Krise nicht in Anspruch genommen werden, so mußten sie dafür die „exzessiven Herstellungskosten" verantwortlich machen, die allein auf den Achtstundentag

1460 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 30 juin 1922, S. 2231-2236. 1461 Vgl. CGPF, Compte rendu de l'assemblée générale du 15 mars 1922, S. 5 und 21-23; zur Ableh- nung des Achtstundentages durch Cavallier vgl. Cavallier, Sagesse d'un chef, S. 164 und passim. 1462 Vgl. Darcy au Ministre des Travaux Publics, 18. 3. 1922, abgedr. in: Les documents politiques, di- plomatiques et financiers 11, 1930, S. 302 f. 1463 Vgl. Les conditions de travail dans les mines, La Voix du Peuple vom November 1922, S. 625-629. 1464 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débates parlementaires, Séance du 30 juin 1922, S. 2223. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 655 zurückgeführt werden sollten. Hatte aber ein Unternehmen die Überstundenzahl voll ausgeschöpft, so sollte es vorgeben, daß es wegen des eingeführten Achtstun- dentages Aufträge habe ablehnen müssen. Diese Richtlinien sollte sich nach Mög- lichkeit auch die Textilindustrie zu eigen machen. Lambert-Ribot hatte es auch nicht versäumt, dem Vorsitzenden des Arbeitsausschusses der Kammer ein Schreiben entsprechenden Inhalts zu senden1465. Im Mai preschte die UIMM dann mit einem eigenen Vorschlag vor. In den nächsten sieben Jahren sollte jährlich ein Uberstundenkontingent von 300 Stunden gewährt werden. Das mögliche tägliche Stundenlimit sollte von zehn auf zwölf heraufgesetzt werden1466. Das hätte de facto die Einführung des Neunstundentages bedeutet. Im Saisongewerbe sollte 160 Tage im Jahr zehn Stunden gearbeitet werden1467. Die Initiative der UIMM wurde propagandistisch durch François-Poncet, der 1920 durch Heirat in den Besitz ansehnlicher Teile der französischen Stahlindustrie gekommen war, und seinen Mitstreiter in der Société d'études et d'informations économiques Emile Mi- reaux unterstützt, die eine Broschüre „La France et les huit heures" auf den Markt brachten, in der Frankreich zur einzigen größeren Nation erklärt wurde, in der den Unternehmern durch ein Arbeitszeitgesetz die Hände gebunden seien1468. Deutschland wurde hingegen geradezu als Paradebeispiel eines Landes präsen- tiert, in dem nur der „demokratischen Fassade" wegen noch de jure der Achtstun- dentag gewahrt werde, während er de facto schon fast überall überschritten wor- den sei1469. Dieses germanophobe Argumentationsmuster wurde zu einem cete- rum censeo französischer Großindustrieller1470. So titelte La Journée Industrielle am 1. Januar 1923: „Die Fiktion des Achtstundentages in Deutschland."1471 Der ADGB ging schon im Frühjahr 1922 zu einem Gegenangriff über. Durch eine von ihm eigens durchgeführte Enquete konnte er vor Augen führen, daß die große Mehrheit der Arbeiter in Deutschland unter 48 Stunden arbeitete. Außerdem sei der Achtstundentag auch tarifvertraglich gesichert. „Die Ausnahmen für Über- arbeit seien scharf und eng umgrenzt und die Gewerkschaften achten streng auf die Innehaltung der Vertragsbestimmungen."1472 Der ADGB verkniff es sich, dar- auf hinzuweisen, daß in Frankreich das genaue Gegenteil der Fall war. Zu einem ähnlichen Ergebnis wie der ADGB kam auch eine in den Niederlanden durchge- führte Untersuchung über die Arbeitszeit in Deutschland1473. Die VDA ging - wie im übrigen auch das Sprachorgan der Schwerindustrie, die Rheinisch-Westfäli- schen Zeitung - noch 1924, als in Deutschland tatsächlich mehr als die Hälfte aller

»« Vgl. CAMT, 1996110 0611, Rundschreiben Lambert-Ribots vom 10.3. 1922; ebenda, Ley an Siméon, 21. 3. 1922. 1466 Vgl. L'application de la loi de huit heures, L'Usine vom 27. 5. 1922. 1467 Vgl, L'application de la loi de huit heures. La récupération des heures perdues, L'Usine vom 25. 3. 1922. 1468 Vgl. François-Poncet/Mireaux, La France et les huit heures, S. 163. '«« Vgl. ebenda, S. 124-132. Vgl. Lévy, La loi de huit heures, S. 605-632, hier S. 621 f.; Cavallier, Sagesse d'un chef, S. 179 (Brief vom 23.4. 1926). ,4''1 Vgl. auch Comment la loi de huit heures est appliquée en Allemagne, L'Usine vom 8. 4. 1922. 1472 Vgl. Zur Durchführung des Achtstundentages in Deutschland, Korrespondenzblatt des ADGB Nr. 5 vom 4.2. 1922, S. 64 f. 1473 Vgl. Victor Vandeputte, La politique de réaction de nos gouvernants et les 8 heures en Allemagne, Le Peuple vom 11. 1. 1923. 656 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen

Beschäftigten über acht Stunden täglich arbeitete, davon aus, daß Frankreich und nicht Deutschland das Eldorado der Mehrarbeit sei. Dort herrsche im Durch- schnitt der Neunstundentag1474. Die VDA dürfte recht gehabt haben. Die französischen Unternehmer mußten nicht wie deutschen in einem frontalen, mit allen Waffen geführten Angriff gegen die Gewerkschaften und zeitweise auch gegen die Regierung die Leistung von Mehrarbeit durchsetzen, da die zahlreichen Ausnahmeregelungen, die das Gesetz und von der Regierung auf Drängen der Industrie erlassene Verordnungen zulie- ßen, den französischen Unternehmern bei der Anordnung von Überstunden fast freie Hand ließen. Hundert bis über dreihundert zusätzliche Stunden pro Jahr konnte ein französischer Unternehmer je nach Gewerbe seinen Beschäftigten ab- verlangen, ohne daß er gegen Gesetz und Recht verstieß. Dort, wo die Gewerk- schaften und die Gewerbeaufsicht schwach waren, konnten die Überstunden nach Belieben ausgedehnt werden. Im Baugewerbe beispielsweise war eine jährliche Mehrarbeit pro Beschäftigten bis zu 250 Stunden zulässig. Es kam jedoch nicht selten vor, daß die Gewerbeaufsicht Anträge genehmigte, die auf 400 zusätzliche Stunden hinausliefen1475. Die 60-Stundenwoche war im französischen Bauge- werbe in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre weitverbreitet1476. Auch in der Metallindustrie war im August 1920 eine Verordnung erlassen worden, die weit- gehende Ausnahmen vom Achtstundentag zuließ. Für die Ausführung dringender Arbeiten war ein Kontingent von 100 Stunden vorgesehen. Wenn es das nationale Interesse erforderte, konnte der Arbeitsminister 50 weitere zusätzliche Stunden gewähren. Außerdem durften die Arbeitsstunden, die durch Fest- und Feiertage, Ferien oder Inventur ausgefallen waren, nach Genehmigung durch die Gewerbe- aufsicht nachgeholt werden. Auch betriebstechnische Arbeitsausfälle konnten zum Anlaß genommen werden, um zusätzliche Arbeitsstunden anzuordnen. Im Landmaschinenbau hatte der Unternehmer einen Anspruch auf zusätzliche wei- tere 100 Stunden, weil dort die „tote Saison" wieder aufgeholt werden mußte. In der Eisen- und Stahlindustrie herrschte zwar der Achtstundentag, aber die Hüt- tenarbeiter mußten sieben Tage die Woche durcharbeiten und kamen dadurch auf eine Wochenarbeitszeit von 56 Stunden1477, während in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie nach Wiedereinführung des Zweischichtensystems eine effektive Wochenarbeitszeit von 59 Stunden bestand. In den Jahren 1920-1924 hatte zudem der Arbeitsminister nicht nur 50, sondern 100 Überstunden im „nationalen Inter- esse" gebilligt, so daß die französischen Metallindustriellen 200 zusätzliche Ar- beitsstunden in Anspruch nehmen konnten. Die UIMM selbst rief zu einer exzes- siven Ausschöpfung der Ausnahmeregelungen auf. Nachdem sie mit ihrem Vor- schlag vom Mai 1922 nicht durchgedrungen war, reklamierte sie im Februar 1925

H74 Vgl. VDA, Geschäftsbericht 1923 und 1924, S. 273-275; Pariser Verhandlungen und Arbeitszeit, Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 8. 10. 1924. 1475 Vgl. Le Comité National de la Fédération du Bâtiment, Le Peuple vom 23.9. 1924. 1476 Vgl. Konrad/Köbele, Auf der Suche nach Solidarität, S. 98. 1477 Vgl. Décret du 9 août 1920 portant règlement d'administration publique pour l'application de la loi du 23 avril 1919 sur la journée de huit heures dans les industries de la métallurgie et du travail de métaux, in: Bulletin du Ministère du Travail 27,1920, S. 104*-111*. Vgl. auch AdsD, 1MB 2121 F, Bericht über die Arbeitsbedingungen in den Hochofenbetrieben in Frankreich [1924]. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 657

ein Recht auf 380 zusätzliche Stunden pro Jahr1478. Ähnliche Regelungen wie in der Metallindustrie gab es in zahlreichen Gewerben und Industriezweigen. Nur im Bergbau gelang es den Zechenvertretern nicht, das Gesetz vom 24. Juni 1919 zu durchlöchern. Vermutlich scheute der Minister für Öffentliche Arbeiten Yves Le Trocquer, der sich in der Kammer auf die Seite der Industriellen gestellt und eine vorübergehende Mehrarbeit im Bergbau befürwortet hatte 1479, das Risiko eines Streiks. Den Eisenbahngesellschaften gewährte er hingegen durch eine Ver- ordnung vom 14. September 1922 sehr großzügige Ausnahmeregelungen, indem er eine hohe Pauschale von jährlich 2504 Arbeitsstunden festlegte, so daß die Ei- senbahngesellschaften bei der Anordnung von zusätzlicher Arbeit noch freier wa- ren als die Metallindustriellen1480. Erst nach der Regierungsübernahme des Cartel des Gauches wurde das Uberstundenkontingent stark zusammengestrichen und der Grundsatz des Achtstundentages gewahrt1481. Durafour ging nicht nur als Mann der „douze décrets", der mehr als anderthalb Millionen Beschäftigte - vor allem der Nahrungsmittel- und Gaststättenbranche - in den Genuß des Achtstundentages kommen ließ, in die Geschichte ein1482, son- dern auch als ein Mann, der den Metallindustriellen die Stirn bot. Er trug den unzähligen an das Arbeitsministerium gerichteten Eingaben des Metallarbeiter- verbandes, die Zahl der Uberstunden zu begrenzen1483, Rechnung, wobei er zu- nächst hoffte, durch die Einrichtung einer paritätisch besetzten Kommission zu einer Einigung über die strittige Arbeitszeitfrage zu gelangen. Nachdem die Me- tallarbeitgeber, die weiterhin auf eine Ausdehnung der Zahl der Überstunden drängten1484, die Arbeit der Kommission zu obstruieren versuchten, verweigerte der Metallarbeiterverband eine weitere Mitarbeit1485. Da sich die Parteien nicht einigen konnten, sah sich Durafour zu einem Oktroi gezwungen. Am 2. April 1926 erließ er eine Verordnung, die das Kontingent der zusätzlichen Stunden auf 100 herabsetzte. Für Arbeitsstunden, die durch Fest- und Feiertage sowie durch Ferien und Inventur ausgefallen waren, konnten jetzt nur noch 40 Überstunden geltend gemacht werden. Eine Gewährung von Überstunden, die im „nationalen Interesse" lagen, war nicht mehr möglich1486. Der Protest der UIMM folgte post-

Vgl. Marseille (Hrsg.), UIMM, S. 65. 1479 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 30 juin 1922, S. 2214; L'inter- pellation sur la loi de huit heures à la Chambre, L'Usine vom 8. 7. 1922. 1480 Vgl. Décret du 14 septembre 1922 portant règlement d'administation publique pour l'application de la loi du 23 avril 1919 aux agents des grands réseaux d'intérêt général autres que les mécani- ciens, chauffeurs et agents des trains, J.O. vom 15. 9. 1922, S. 9362. 1481 Vgl. La Fédération des Cheminots a lutté sans arrêt pour obtenir la disparition du décret Le Troc- quer, Le Peuple vom 26.1. 1925. »82 Vgl. Chronique législative, in: Bulletin du Ministère du Travail 33,1926, S. 73. 1483 Vgl. Labe au Ministre du Travail, 4. 11. 1924, Blanchard, Chevalme, Labe au Ministre du Travail, 10. 2. 1925, La Commission exécutive de la Fédération des Métaux au Ministre du Travail, 18. 2. 1925, Blanchard, Chevalme, Labe au Ministre du Travail, 3. 4. 1925, alle Schreiben abgedr. in: Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 7e Congrès fédéral 1925, S. 41-54. 1484 Vgl. Les dérogations à la loi de 8 heures seront-elles modifiées?, L'Usine vom 12. 9. 1925. 1485 Vgl. Blanchard, Chevalme, Labe au Directeur du Travail, 6. 6. 1925, in: Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 7e Congrès fédéral 1925, S. 67 f. 1486 Vgl. Décret du 9 août 1920 modifié par les décrets des 8 décembre 1920 et 2 avril 1926, portant rè- glement d'administration publique pour l'application de la loi du 23 avril 1919 sur la journée de huit heures dans les industries de la métallurgie et du travail des métaux, in: Bulletin du Ministère du Travail 33, 1926, S. 34*-42*. 658 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen wendend. In einem Schreiben an Ministerpräsident Briand vom 20. April 1926 drückte Richemond sein Unverständnis darüber aus, daß in einer Zeit der Infla- tion, die Mehrarbeit erfordere, diese durch staatliche Reglementierung einge- schränkt werde1487. Er forderte eine sofortige Revision der Verordnung. Briand empfing schon einen Tag später eine Delegation der UIMM, die sich über das Vor- gehen des Arbeitsministers bitter beschwerte. Der Ministerpräsident zeigte sich zwar empfänglich für die Argumente der Vertreter der Metallindustrie1488, zwang aber Durafour nicht zu einer Zurücknahme der Verordnung, die allerdings keine Pilotfunktion für die übrigen Industriezweige haben sollte, wo weiterhin Mehr- arbeit in erheblichem Umfang möglich war. Die UIMM provozierte wegen des Arbeitszeitstreits keine große soziale Aus- einandersetzung wie die deutschen Industriellen, sondern verfolgte eine hinter- hältige, unauffällige Taktik. Sie ordnete an, daß statt acht Stunden an sechs Tagen, 96 Stunden an 14 Tagen zu arbeiten war. Die tägliche Arbeitszeit verlängerte sich, dafür bekamen die Beschäftigten entweder einen freien Sonnabend oder einen freien Montag. Das ermöglichte es den Metallindustriellen, einen weiteren Teil der durch Fest- und Feiertage ausgefallenen Arbeitszeit wieder zu kompensieren1489. Ein solches, vom Metallarbeiterverband der CGT scharf kritisiertes Vorgehen wäre freilich nicht möglich gewesen, wenn die französischen Arbeiter die 48- Stundenwoche und den Achtstundentag verteidigt hätten. Die französischen In- dustriellen hatten im Gegensatz zu den deutschen ein leichtes Spiel, weil sich die meisten Arbeiter aufgrund ihrer niederen Löhne darum rissen, Uberstunden ma- chen zu können. Die Bemühungen des Metallarbeiterverbandes, eine Reduzie- rung der Überstunden zu erreichen, hatte ein Teil der Metallarbeiter zu desavouie- ren versucht, indem sie eine Petition unterzeichneten, die gegen eine Einhaltung des Achtstundentages und eine Beschränkung der Uberstunden gerichtet war1490. Die französischen Gewerkschafter mußten immer wieder zur Kenntnis nehmen, daß sie sich durch ihre Verteidigung des Achtstundentages die Gegnerschaft der Masse der Arbeiter zuzogen, die den Achtstundentag nicht als soziale Errungen- schaft betrachteten, sondern vielmehr bestrebt waren, ihr karges Budget aufzu- bessern. In der Metallindustrie bettelten die Arbeiter geradezu darum, Uberstun- den machen zu dürfen1491. Die Strategie der Unternehmer, durch niedrige Löhne Mehrarbeit zu erzwingen, war dort wie auch in vielen anderen Industriezweigen vollkommen aufgegangen. Die offizielle Streikstatistik verzeichnet nach 1920 nur einen größeren Arbeits- kampf um den Achtstundentag. Uber 20000 Binnenschiffer (mariniers) in fast al- len Regionen Frankreichs ließen vom 16. September bis 8. November 1922 ihre

1487 £)er Brief ist abgedr. in: UIMM, Assemblée générale ordinaire du 15 février 1927, S. 12-14. '«β Vgl. ebenda, S. 14f. 1489 Vgl UIMM, Assemblée générale ordinaire du 19 février 1929, S. 3; Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 9e Congrès fédéral 1929, S. 18f. und 110 f. 1490 Vgl, Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 7e Congrès fédéral 1925, S. 223 f. 1491 Vgl. u.a. La C.G.T. agira pour le maintien des huit heures, La Bataille vom 15.1. 1920; AdsD, 1MB 1973, Reports of Secretary and of the National Organizations 1921-1924 to the Xth Interna- tional Metalworkers' Congress at Vienna, Bern 1924, S. 168; CGT, Congrès national 1925, S. 78 f.; Fédération des ouvriers des métaux et similaires de France, 8e Congrès fédéral 1927, S. 98; zu der Bereitschaft der Pariser Metallarbeiter, Überstunden zu machen, vgl. auch Valdour, Ouvriers pa- risiens, S. 112f. und 121; ders., Ateliers et taudis de la banlieue de Paris, S. 176f. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 659

Schiffe liegen, weil eine Verordnung vom 5. September 1922 das Gesetz über den Achtstundentag durchlöcherte. Da die Regierung nicht gewillt war, die Verord- nung zurückzunehmen, ging der Streik verloren1492. Außer bei den Binnenschif- fern war offensichtlich nur noch bei den Bergarbeitern die Bereitschaft vorhan- den, den Achtstundentag zu verteidigen. Auf ihrem Kongreß in Angers am 10. September 1922 faßten sie den Beschluß, daß sie an dem Tag, an dem das Par- lament an den Gründsätzen des Gesetzes vom 24. Juni 1919 rüttele, in sämtlichen Gruben die Arbeit niederlegen würden. Auf dem Kongreß in Lens am 15. Septem- ber 1926 wurde dieser Beschluß noch einmal bekräftigt1493. Dort, wo die Arbeiter auf eine lange gewerkschaftliche Schulung zurückblicken konnten und gewohnt waren, den gewerkschaftlichen Losungen oder zumindest denen der Sicherheitsde- legierten zu folgen wie im Bergbau, wurde auch in Frankreich der Achtstundentag verteidigt. In fast allen anderen Industriezweigen war dies jedoch nicht der Fall. Die unzähligen Resolutionen und Aufrufe der CGT, für die Erhaltung des Acht- stundentages zu kämpfen, stießen auf keine nennenswerte Resonanz. Es ist äu- ßerst fraglich, ob eine von der CGT im Frühjahr 1922 durchgeführte Unterschrif- tenaktion zur Verteidigung des Gesetzes über den Achtstundentag tatsächlich von zwei Millionen Beschäftigten unterzeichnet wurde, wie von CGT-Funktionären auf internationaler Ebene behauptet wurde1494. Als die CGT ihren Funktionären auf ihrem Kongreß in Paris im Januar 1923 riet, in allen Versammlungen die Ar- beiter dazu aufzurufen, im Falle einer übertriebenen Anordnung von Uberstun- den oder der Weigerung, mit den Gewerkschaften über deren Anwendung zu ver- handeln, nach acht Stunden die Betriebe zu verlassen, fand dieser Appell zur ac- tion directe keine Beachtung1495. Auch die CGTU konnte ihre Basis nicht mobili- sieren. Obwohl die Komintern den PCF und die CGTU schon im Sommer 1922 ermahnt hatte, einen „wirklichen Kampf gegen die Durchbrechung des Achtstun- dentages aufzunehmen"1496, wurden keine entsprechenden Aktionen gestartet. Auf ihrem Kongreß im August 1925 forderte die CGTU zwar die Arbeiter auf, im Falle eines Verstoßes gegen das Achtstundentagsgesetz die Betriebe nach acht Stunden zu verlassen oder passive Resistenz zu üben1497, hatte aber mit diesem Aufruf, der dem deutschen Vorbild geschuldet sein dürfte, ebensowenig Erfolg wie die CGT zwei Jahre zuvor. Der Widerstand der deutschen Arbeiter gegen eine Verlängerung der Arbeitszeit Ende 1923/Anfang 1924 wurde nicht nur von der CGTU, sondern auch von der CGT bewundert1498. Nach der Inflationskrise und

14,2 Vgl. Statistique des grèves 1922, S. 180 f. 1493 Vgl. Le congrès de la Fédération du sous-sol, Le Peuple vom 11. 9. 1922; vgl. auch PA/AA, R 71034, Bericht der wirtschaftspolitischen Abteilung der Deutschen Botschaft in Paris vom 14. 9. 1922; Sous-Sol, La Voix du Peuple vom Oktober 1926, S. 433 f.; zur Verteidigung der Achtstun- denschicht durch die Bergarbeiter vgl. auch Michel, Mineurs, tullistes, S. 32. iw Yg| La c.G.T. organise une petition nationale pour le maintien de la loi de huites heures, Le Peu- ple vom 13. 5. 1922; AdSD, ITBLAV, Bericht über die Lage in der Textilindustrie und der Textil- arbeiter im August 1922. 14,5 Der Kongreßbeschluß ist abgedr. in: La Confédération Générale du Travail et le mouvement syn- dical, S. 238 f. »» Vgl. SAPMO-BArch, RY 1 1/2/3/208, Abschrift eines Briefes eines deutschen Vertreters beim EKKI vom 27. 9. 1922. 1497 Vgl. CGTU, Congrès national ordinaire 1925, S. 445. 1498 Vgl. Les huit heures dans la Ruhr, Le Peuple vom 8. 1. 1924. 660 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen den Lohnreduzierungen im Zuge der Währungsstabilisierung erklärte sich aller- dings auch ein Teil der deutschen Arbeiter freiwillig und gern bereit, Mehrarbeit zu leisten1499. Auf parlamentarischer Ebene war zwar die Zahl der Verteidiger des Achtstun- dentages groß, aber das Thema stand nur selten auf der Agenda der Kammer. Das Arbeitsministerium hatte sich bereits Anfang der zwanziger Jahre durch eine En- quete über das Freizeitverhalten der Arbeiter bemüht, die Behauptung der Indu- striellen zu entkräften, das Mehr an Freizeit diene nur einem exzessiven Alkohol- genuß1500. Gesetzesinitiativen, um dem Überstundenmißbrauch einen Riegel vor- zuschieben, leitete es jedoch nicht ein. Der Arbeitsminister konnte auf dem Ver- ordnungswege Beschränkungen durchsetzen und tat dies auch, wie wir gesehen haben. Deren tatsächliche Einhaltung hing aber von der Stärke der Gewerkschaf- ten und der Gewerbeaufsicht ab. Beide waren in Frankreich schwach. Die Zahl der Gewerbeaufsichtsbeamten stieg lediglich von 142 im Jahr 1913 auf 174 1934 an, in Deutschland lag sie 1929 bei über 700 und wurde von allen gewerkschaft- lichen Spitzenverbänden als nicht ausreichend bezeichnet1501. Zudem hatte die Gewerbeaufsicht in Frankreich noch weniger Sanktionsmöglichkeiten als in Deutschland. Auch rekrutierte sich die Gewerbeaufsicht in ihrer großen Mehrheit aus Lehrern, die nicht immer eine geeignete Vorbildung besaßen1502. Die CGT klagte unaufhörlich darüber, daß die Gewerbeaufsicht ein Komplize der Unter- nehmer sei. Wie immer, wenn auf nationaler Ebene keine Fortschritte zu erzielen waren, hofften die CGT wie auch die Politiker des sozialistischen und links-liberalen Spektrums auf eine internationale Lösung. Durch die Ratifikation des Washing- toner Arbeitszeitabkommens glaubte man, auch eine Verbesserung in der nationa- len Arbeitszeitregelung erreichen zu können. Dabei trug man jedoch dem Tatbe- stand viel zu wenig Rechnung, daß die internationalen Vereinbarungen zu dem Washingtoner Abkommen stark auf der französischen Arbeitszeitgesetzgebung fußten1503. Als die Kammer am 8. Juli 1925 das Abkommen - unter dem Vorbe- halt, daß Deutschland den gleichen Schritt tue - ratifizierte, war der Aufschrei der französischen Unternehmer dann auch nicht sehr laut1504. Dies dürfte nicht nur der conditio sine qua non geschuldet gewesen sein, sondern auch der Erkenntnis,

149' Das stellt z.B. Plumpe für die Leverkusener Farbenfabriken fest. Vgl. Plumpe, Tarifsystem und Leistungslohn, S. 1-15. 1500 Vgl. Enquête sur l'utilisation des loisirs créés par la journée de huit heures, in: Bulletin du Mini- stère du Travail 29, 1922, S. 190-194, 408-413. 1501 Vgl Dhoquois, Idéologie conciliatrice et répression des récalcitrants dans l'inspection du travail, S. 62; Ludwig Preller, Arbeitnehmer in der Gewerbeaufsicht, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 22 vom 1.6. 1929, S. 338-342; Eingabe der gewerkschaftlichen Spitzenverbände an den Preußischen Landtag zum Ausbau der Gewerbe- und Handelsaufsicht vom 10.2. 1927, in: Quellen zur Ge- schichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 3/2, S. 844-847. 1502 Vgl. Reid, Les inspecteurs du travail, S. 114-127; Les pouvoirs théoretiques de l'inspection du travail, Le Peuple vom 15. 3. 1930. 1503 Eine ausführliche Schilderung des Verlaufs der internationalen Vereinbarungen, auf die hier nicht im einzelnen eingegangen werden kann, findet man bei Grabherr, Washingtoner Arbeitszeitüber- einkommen von 1919; Justin Godart hatte auf der Konferenz in Genf 1924 festgestellt, daß das „Washingtoner Abkommen nur die internationale Formulierung des französischen Gesetzes" sei. Vgl. Bulletin du Ministère du Travail 32, 1925, S. 296. 1504 Vgl. La loi de 8 heures, La Journée Industrielle vom 9. 7. 1925; zur Kammerdebatte vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 8 juillet 1925, S. 3229—3242. VI. Inflation als Hindernis für Reformen in Frankreich? 661 daß durch die Ratifikation die eigenen Hände nicht gebunden wurden, während die deutsche Schwerindustrie gezwungen gewesen wäre, wieder zum Achtstun- dentag zurückzukehren. Hatten die Arbeitsminister des Cartel des Gauches noch betont, daß durch die Unterzeichnung des Abkommens auch Änderungen in der französischen Arbeitszeitregelung vorgenommen werden müßten, so bestritt der neue Arbeitsminister, André Fallières, daß irgendwelche Änderungen der natio- nalen Arbeitszeitregelung nötig seien1505. Die CGT ebenso wie ihr Sprachrohr in der Kammer Jean Lebas irrten, wenn sie meinten, daß die deutschen Arbeiter die Unterzeichnung des Abkommens in Frankreich begrüßen würden, weil dadurch das Parlament in Deutschland in Zug- zwang gebracht werde1506. Der ADGB hatte tatsächlich im Sommer/Herbst 1924 die Durchführung eines Volksentscheides über die Ratifizierung des Washing- toner Abkommens erwogen, war aber von diesem Vorhaben schon bald wieder abgerückt, zum einen, weil er ein Scheitern des Volksentscheides fürchtete, zum anderen, weil seine Vorbehalte gegenüber dem Washingtoner Arbeitszeitabkom- men, in dem er nur eine „Mindestbedingung" für eine zukünftige Arbeitszeitrege- lung sehen wollte, wuchsen1507. Der ADGB erkannte, daß das Abkommen eine „Achillesferse" hatte. Es ermöglichte wie die französische Arbeitszeitgesetzge- bung eine Umwandlung des Acht- in einen Neunstundentag1508. Daß die Ratifika- tion des Abkommens in Deutschland unterblieb, wurde von den deutschen Ge- werkschaften nicht als Nachteil empfunden. Sie fühlten sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wieder stark genug, den Achtstundentag zurückzuerobern und konnten auf eine im Vergleich zu Frankreich fortschrittliche Sozialgesetzge- bung vertrauen, die freilich auch unzertrennlich mit der Anerkennung der Weima- rer Republik verbunden war, während in Frankreich soziale Rückschritte oder die Aushöhlung sozialer Errungenschaften die Grundfesten der Republik unerschüt- tert ließen. Der Streit um die Arbeitszeit war in Frankreich kein großes Politikum, da die Arbeiter in den Fabriken mit ihren patrons an einem Strang zogen. Die na- tionalen Sozialsysteme und die Arbeitszeitregelungen waren zu unterschiedlich, als daß sich die französischen und deutschen Gewerkschaften auf ein einheitliches Vorgehen hätten einigen können. Als Bindekraft blieb die gemeinsame Hoffnung auf die Rationalisierung.

1505 Vgl. Grabherr, Washingtoner Arbeitszeitübereinkommen von 1919, S. 383. 1506 Vgl. J.O., Chambre des députés, Débats parlementaires, Séance du 8 juillet 1925, S. 3236. 1507 Vgl. Sitzung des Bundesausschusses am 21./22. 7. 1924 und Sitzung des Bundesausschusses am 29. 5. 1925, in: Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, Bd. 3/1, S. 223- 226, 385-388. 1508 Vgl. Das Washingtoner Arbeitszeitabkommen und die Londoner Vereinbarungen, Teil I und II, Gewerkschafts-Zeitung Nr. 14 vom 3. 4. und Nr. 15 vom 10. 4. 1926, S. 185-188, und 202-204.