IV. Inflation Und Deflation 501 Nen Französischen Stinnes Nicht Gebe584
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IV. Inflation und Deflation 501 nen französischen Stinnes nicht gebe584. François de Wendel, der oft in einem Atemzug mit Stinnes genannt wurde, wie auch andere Arbeitgebervertreter nah- men zwar Einfluß auf die Sozial-, Finanz- und Wirtschaftspolitik, aber den Kurs der Politik konnten und wollten sie nicht maßgeblich bestimmen. In Deutschland hingegen hatte der Korporatismus Tradition. Nach dem Krieg wurden sowohl die Gewerkschaften als auch die Unternehmer weitaus mehr als in Frankreich in die staatliche Politik eingebunden. Die Interdependenz zwischen Wirtschaft und Politik war in Deutschland weitaus größer als in Frankreich, wo die industriellen Interessenkonflikte viel seltener auf der politischen Bühne ausgefochten wurden. Daß die deutschen Unternehmer spätestens seit 1922 unverbrämt einen Füh- rungsanspruch nicht nur gegenüber den Gewerkschaften, sondern auch gegen- über der Politik verfochten, war freilich auch in Deutschland nur möglich, weil die katastrophale inflationäre Entwicklung allgemeine Ratlosigkeit hinterließ. Ge- rald D. Feldman hat die politischen Konsequenzen dieses Denkens pointiert zu- sammengefaßt: „Hatte die Politik der Interessengruppen lange Zeit eine heraus- ragende Rolle in der deutschen Gesellschaft und Politik gespielt, so war eine der hauptsächlichsten Konsequenzen der Inflation, ihre Überspitzung bis zur Karika- tur zu fördern, während die größeren bürgerlichen Parteien der Mitte untermi- niert wurden."585 Die Inflation brachte auch die Gewerkschaften an den Rand des Zusammenbruchs, weil sie ihren traditionellen tarifpolitischen Aufgaben nicht mehr gerecht werden konnten und bei ihren Mitgliedern einen bleibenden Legiti- mationsverlust erlitten, wenngleich sie durch die Inflation nicht so zerrieben wer- den konnten wie die deutschen liberalen Parteien. IV. Inflation und Deflation: Wirtschaftliche Entwicklung, Lohnbewegung, Lebenshaltung und industrielle Konflikte in Deutschland und Frankreich (1920-1922/23) 1. Scheinblüte und Verarmung: Die Inflation in Deutschland Substanzaufzehrung Auch in der neueren Literatur wird noch häufig die Auffassung vertreten, daß die deutsche Inflation nicht eine Belastung für die junge deutsche Demokratie gewe- sen sei, sondern ganz im Gegenteil ein Faktor der Stabilität. So schreibt Hans- Ulrich Wehler in seinem Standardwerk „Deutsche Gesellschaftsgeschichte" von 1914 bis 1949: „Die Inflation erleichterte die Demobilmachung, den Übergang zur Friedenswirtschaft und nach der Rezession die Ankurbelung der Konjunktur. Sie ermöglichte die Finanzierung der Kriegsrenten, vor allem aber einen Lohnanstieg, der bis Mitte 1922 auch die Reallöhne nachhaltig verbesserte. Sie versprach Voll- beschäftigung und Wachstumsimpulse und federte den Acht-Stunden-Tag ab. Sie förderte ein Klima der sozialen Entspannung und erhielt die sozialpolitische 584 Richard Lewinsohn, Frankreichs Wirtschafter, Vossische Zeitung vom 5. 2.1924. 585 Feldman, Great Disorder, S. 856. 502 Viertes Kapitel: Unternehmeroffensiven und Inflationskrisen Handlungsfähigkeit' der Republik."586 Nach dieser Interpretation wurde Deutschland dank der Inflation von einer quälenden Depression und Arbeitslo- sigkeit, wie sie die angelsächsischen Länder und in abgeschwächter Form auch Frankreich erlebten, verschont. Diese Sichtweise ist sehr stark von Hugo Stinnes beeinflußt, der in dem Anheizen der Notenpresse den Königsweg zur Uberwin- dung der wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten der Nachkriegszeit sah. Ohne „Rücksicht auf die entstehenden außerordentlichen Kapitalverluste" wollte er die „Waffe der Inflation" sowohl zu einer „Art Notwehr gegen die über- triebenen Forderungen des Versailler Vertrags" als auch für eine Eroberung der Exportmärkte, ohne die es zu einer Heerschar von für den „Bolschewismus anfäl- ligen Arbeitslosen" in Deutschland kommen müsse, benutzen. An eine Stabilisie- rung der Mark wollte Stinnes erst dann denken, „wenn eine günstige Weltkon- junktur entstände, die wir dann in der Lage sein müßten, voll ausnutzen zu kön- nen. Würde man heute [...] versuchen die Mark zu stabilisieren, so wären England und Amerika in zwei bis drei Jahren vollkommen in Ordnung, dagegen wir, Frankreich und Rußland wären vollkommen kaputt". Für Stinnes hing die Exi- stenz der deutschen Wirtschaft von einem ausreichenden Exportüberschuß ab. Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt verfocht einen gegenteiligen Stand- punkt. Er war geradezu erzürnt über die Anschauungen Stinnes', der selbst eine Besetzung des Ruhrgebietes in Kauf nehmen wollte, und hoffte, daß Stinnes hier nur sein „persönliches Interesse" zum Ausdruck gebracht habe587. Tatsächlich wurde Stinnes' Inflationsenthusiasmus in deutschen Industriekrei- sen nur selten geteilt. So erntete Hermann Bücher auf der Mitgliederversammlung des RDI im September 1921 in München keinen Widerspruch, als er vor Augen führte, daß der hohe Beschäftigungsgrad der deutschen Industrie „im Grunde nichts anderes als die Röte auf den Wangen eines Schwindsüchtigen" sei 588. Adolf Friebe-Batocki, damals in der Regierungskommission für den Wiederaufbau tätig, blieb im Bild und verglich die inflationären Entwicklungen „mit den Erscheinun- gen an einem schwerkranken Menschen, der durch Kampfer- oder Kokainsprit- zungen weiter am Leben erhalten wird. Er hat blanke Augen, hat leuchtende Bak- ken, ist lebhaft in seiner Konversation, läßt manchmal geistige Blitze von sich und schließlich geht er dann langsam, wenn keine Heilung eintritt und wenn die Ga- ben immer mehr gesteigert werden müssen und der Herzmuskel nicht mehr mit- tut, zugrunde."589 Die Inflation hatte die Rückgewinnung der Märkte erleichtert und bis 1921 die Industrieproduktion dank eines Anstiegs um 65 Prozent in den Jahren 1920/21 schneller wachsen lassen als in Frankreich, die dort aufgrund der Deflation 1921 um 12 Prozent sank, allerdings im nächsten Jahr gleich wieder um 41 Prozent in die Höhe schnellte590. In der Schwerindustrie konnte ein großer Teil 586 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4, S. 245. Zu einem ähnlichen Urteil kommt auch Buchheim, Vom alten Geld zu neuem Geld, S. 143 f. 587 Vgl. ACDP, 1-220-041/2, Aktennotiz über eine Besprechung am Freitag, den 23. Juni 1922 in Ber- lin; ACDP, 1-220-025/3, Auszug aus dem Protokoll der Sitzung des A.A. vom 27. 5. 1922; ACDP, 1-220-026/3, Stinnes an Severing, 3. 7. 1922; ferner Feldman, Hugo Stinnes, S. 758 f. 588 RDI, Die deutsche Industrie und die Wiedergutmachungsfrage; Bericht über die dritte Mitglieder- versammlung des Reichsverbandes der Deutschen Industrie am 27. bis 29.9. 1921, S. 24. s»' Ebenda, S. 57. 5,0 Vgl. Holtfrerich, Die deutsche Inflation, S. 200; Blaich, Der schwarze Freitag, S. 164 f. IV. Inflation und Deflation 503 der 1919 erlittenen Produktionsverluste wieder ausgeglichen werden591. Daß diese wirtschaftliche Entwicklung nur einer Scheinkonjunktur zu verdanken war, war spätestens seit Herbst 1921 den meisten Unternehmern bewußt. Kaum einer von ihnen hätte auf die Frage nach dem geschäftlichen Erfolg wie Stinnes geantwortet: „Hervorragend"592. Felix Deutsch hatte 152 Aktiengesellschaften untersuchen lassen und war zu dem Ergebnis gekommen, daß bereits im Geschäftsjahr 1919/20 die Dividenden- ausschüttung nur noch 11,6 Prozent des Gesamtkapitals dieser Gesellschaften be- trug593. Die Kapitalnot war bereits zu diesem Zeitpunkt so weit fortgeschritten, daß hinreichende Rückstellungen und Abschreibungen nicht mehr getätigt wer- den konnten. Die Dividendeneinkommen schrumpften weiter. Das Statistische Reichsamt stellte fest, daß sie in Gold im Jahr 1922 auf weniger als ein Fünfzigstel derjenigen der Vorkriegszeit zusammengeschmolzen waren594. Die Dividenden waren praktisch wertlos geworden. Carl Friedrich von Siemens erläuterte einem ausländischen Korrespondenten Anfang 1923, daß man die Dividenden aus der Portokasse zahlen könne595. Die Buchgewinne entpuppten sich häufig als Schein- gewinne596. In einer Überprüfung von 360 Aktiengesellschaften wurde festge- stellt, daß sich deren Kassenbestand von 1913 bis 1922 auf durchschnittlich den viertausendsten Teil verringert hatte597. Durch die Entwertung des Betriebskapitals litt die Industrie unter einer immer größer werdenden Kredit- und Kapitalnot, die die für Deutschland ohnehin typi- sche hohe Konzentration und Kartellierung weiter vorantrieb. Da die Banken die Zinssätze in die Höhe schraubten, zogen viele Unternehmen den Weg der Kapital- erhöhung durch die Ausgabe von Vorzugsaktien ohne Stimmrecht vor, was jedoch zu einer Verwässerung des Aktienkapitals führte598. Unter diesen Bedingungen konnte es in Deutschland keine Investitionskonjunktur während der Inflation ge- ben599. Investitionen in fast allen Industriesektoren - der Textil- wie der Maschi- nenbauindustrie, der Chemie- wie der Stahlindustrie, der Werft- wie der Automo- bilindustrie - wurden auf das Notwendigste begrenzt und blieben fast immer hin- ter denen der Vorkriegszeit zurück600. Nicht selten waren Investitionen zu Fehl- Vgl. Wiel, Wirtschaftsgeschichte des Ruhrgebietes, S. 127, 227 und 238. 5« ACDP, 1-220-043/7, Stinnes an Tirpitz, 16. 8. 1921. 5,3 Vgl. Kapital und Arbeit, Wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern vom 21.10. 1921. 594 Vgl. Statistisches Reichsamt (Hrsg.), Deutschlands Wirtschaftslage, S. 38. 5« Vgl. SAA, 4 Lf 533, Interview Carl Friedrich von Siemens' vom 17.2. 1923. 5" Vgl. Lindenlaub, Maschinenbauunternehmen, S. 65, 124; Ferguson, Paper and Iron, S. 412f. 5,7 Vgl. Henning, Deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichte, S. 294. 598 Vgl. u.a. AEG, Geschäftsbericht über das Geschäftsjahr