Dokumentation

Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR Hans-Hermann Hertle, Potsdam

I. fähigkeit und einer im Vergleich zum Westen erheb- lich niedrigeren Arbeitsproduktivität war.2 Seit 1978 Im Laufe des Jahres 1982 griff unter den führenden steckte die DDR in der Schuldenfalle: Fällige Kre- SED-Wirtschaftsfunktionären die Furcht vor dem dro- dite und Zinsen mussten durch die Aufnahme neuer henden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR Kredite finanziert werden. Die Zahlungsfähigkeit der um sich. Zentrale Arbeitsgruppen des Politbüros und DDR hing von der Bereitschaft westlicher Banken ab, des Ministerrates unter dem Vorsitz von ZK-Wirt- der SED neue Kredite zu gewähren. Aus Furcht vor schaftssekretär Günter Mittag und Planungs-Chef Protesten und inneren Unruhen lehnte das Politbü- Gerhard Schürer standen im »täglichen Kampf um die ro 1979 zunächst durchgreifende Preiserhöhungen, Gewährleistung der Zahlungsfähigkeit« (Schürer). dann auch eine Umschichtung von Investitionen zu- Ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit der Ge- gunsten des produktiven Bereiches ab. Rückläufige schäfte und überwiegend zu Lasten der inländischen Investitionsquoten, unterlassene wirtschaftliche An- Versorgung wurden zusätzlich Rohstoffe und Kon- passungsmaßnahmen, steigende Zinsen für die West- sumgüter wie Erdölprodukte und chemische Erzeug- Schulden, ein Kreditstopp des Westens, der auf die nisse, Stickstoff und Kali, Eier und Zement, Möbel, Zahlungsschwierigkeiten Rumäniens und Polens und Haushalts- und Industrienähmaschinen, Mähdrescher, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. De- Gasherde und Fahrräder, Fleisch und Düngemittel, zember 1981 folgte, und die Kürzung sowjetischer Butter und Waffen gegen Devisen verkauft, um den Rohöllieferungen seit Anfang 1982 stürzten die DDR Ausfall von Waren- und Finanzkrediten zu kompen- in die bis dahin tiefste ökonomische Krise. sieren und auf diese Weise den Schuldendienst be- Anfang Juni 1983 begab sich Alexander Schalck- dienen zu können. Golodkowski – als Leiter des Günter Mittag unterstell- Der Konsumsozialismus unter SED-Generalsekre- ten Bereiches Kommerzielle Koordinierung (KoKo), tär hatte die DDR an den Rand des persönlicher Beauftragter von Erich Honecker für Bankrotts geführt. Die Erhöhung des Lebensstandards die deutsch-deutschen Verhandlungen und zugleich und die Verbesserung der Sozialleistungen in den 1970er-Jahren hatten nicht auf eigener Wirtschafts- kraft beruht, sondern auf einem Rückgang der Investi- 1 Vgl. detailliert: Hans-Hermann Hertle/Stefan Wolle, Damals tionsquote und zunehmender Verschuldung vor allem in der DDR. Der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat, Mün- im Westen.1 Gleichzeitig litt die Außenwirtschaft der chen 2004, S. 155 – 226; André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, insb. DDR unter steigenden Rohstoffkosten und der man- S. 165 – 196. gelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte auf dem 2 Siehe Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die DDR Weltmarkt, die Ausdruck unzureichender Innovations- im RGW, Köln 2000, insb. S. 262 – 268. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 –495 Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 477

Oberst in Erich Mielkes Stasi-Ministerium Diener de 1985 wird als Gegenleistung für die Vergabe der dreier Herren – auf seine bis dahin vielleicht schwie- Milliardenkredite gesehen; allerdings war die DDR rigste Mission: Er übermittelte dem bayerischen Mi- dazu ohnehin durch eine UN-Konvention verpflichtet. nisterpräsidenten Franz Josef Strauß die massive War- Mit den Milliardenkrediten hatte sich ein Konkur- nung Honeckers, dass die »Schotten dichtgemacht« renzprojekt erledigt, das unter der Bezeichnung »Zür- würden, wenn der Handel der Bundesrepublik mit der cher Modell« der DDR für die Bereitstellung eines DDR »eingeschränkt oder nicht durchgeführt« werde. milliardenschweren Finanzkredits als Gegenleistung Die DDR werde in diesem Fall ihre »Aufgaben mit eine schriftliche Verpflichtung zur Herabsetzung des Hilfe des RGW lösen«.3 Wenn er der DDR jedoch Reisealters in die Bundesrepublik abverlangte – was helfen könne, die Zahlungsbilanzkrise zu überwinden, zum völligen Gesichtsverlust der SED-Führung ge- erinnerte sich Strauß später an die Botschaft Hone- genüber der sowjetischen Vormacht geführt hätte und ckers, wäre diesem »der Weg nach Westen« lieber.4 auch deshalb scheitern musste.7 Bekanntermaßen übernahm die konservativ-libe- Zusammenarbeit mit dem Westen oder totale Ab- rale Bundesregierung in den Jahren 1983 und 1984 schottung? Fielen Franz Josef Strauß und Bundes- die Garantie für zwei ungebundene Finanzkredite kanzler Helmut Kohl damals auf einen Trick der SED- von westdeutschen Landes- und Privatbanken über Führung herein? Blufften Honecker und Schalck-Go- eine Milliarde bzw. 950 Millionen DM an die DDR, lodkowski nur, als sie Strauß vor diese Alternative wobei sie ihr Risiko durch die Verpfändung der Tran- stellten, oder gab es in der SED-Spitze tatsächlich sitpauschale absicherte.5 Weitgehend geheim dagegen ernstzunehmende Bestrebungen, die »Schotten zum blieben weitere Unterstützungsleistungen in Höhe von Westen dichtzumachen«? Wie wurde die ökonomische einer Milliarde D-Mark: Im Zuge der Neufestsetzung Lage der DDR zu dieser Zeit intern eingeschätzt? der Postpauschale ließ die Bundesregierung der DDR Akten des Ministeriums für Staatssicherheit bele- am 15. November 1983 300 Millionen DM zukom- gen, dass der bayerische Ministerpräsident und die men.6 Und weitere 700 Mio. DM flossen der SED-Füh- CDU/FDP-Bundesregierung die Drohung möglicher- rung in den Jahren 1984 und 1985 für den Verkauf von weise zu Recht ernst nahmen. In einem Geheimpapier 4 905 politischen Häftlingen zum Kopf-Preis von rund (im Anschluss an diesen Beitrag in Auszügen doku- 95 000 DM und die Übersiedlung von mehr als 45 000 mentiert) kam die für die »Sicherung der Volkswirt- Ausreisewilligen in den Westen zu je 5 000 DM zu. schaft« zuständige Hauptabteilung XVIII des MfS Die DDR verbrauchte den überwiegenden Teil dieser am 25. Januar 1982 zu dem Ergebnis, dass die DDR drei Milliarden DM nicht, sondern legte sie als Gut- zu einer Lösung ihrer ökonomischen Probleme aus haben bei westlichen Banken an und erlangte dadurch eigener Kraft nicht mehr imstande sei. Als letzten ihre Bonität auf den internationalen Finanzmärkten Ausweg aus der Krise schlug sie vor, die Sowjetunion zurück. Der von den Wirtschaftsverantwortlichen in der SED-Spitze befürchtete ökonomische Zusammen- bruch der DDR – mit unabsehbaren sozialen und po- 3 So Alexander Schalck, Niederschrift über das geführte Ge- litischen Folgen – wurde maßgeblich durch die Hilfe spräch […] am 5.6.1983 in Spöck/Chiemsee, 6.6.1983, der Bundesregierung hinausgeschoben. S. 3, in: Deutscher Bundestag, Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses […], BT-Drs. Ein förmliches Junktim zwischen der Kreditver- 12/7600, Bonn 1994, Anlagenbd. 3, Bl. 3395. – RGW: Rat gabe und der Gewährung »menschlicher Erleichte- für gegenseitige Wirtschaftshilfe. rungen« seitens der DDR gab es nicht, doch gestand 4 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 473. die DDR neben der Ausweitung des Verkaufs von 5 Vgl. Manfred Kittel, Franz Josef Strauß und der Milliarden- Häftlingen und der weitreichenden Genehmigung kredit für die DDR 1983, in: DA 40 (2007) 4, S. 647 – 656. von Ausreiseanträgen in der Folgezeit erhebliche Er- 6 Vgl. die Aufstellung in HWWA, Gutachten »Die Bedeutung […]«, in: BT-Drs. 12/7600 (Anm. 3), Anhangbd., S. 124 f. leichterungen im Reise- und Besucherverkehr zu. 7 Vgl. Reinhard Buthmann, Megakrise und Megakredit. Das Auch der Abbau der Selbstschussanlagen und Split- Zürcher Modell im Spiegel der Stasi-Akten, in: DA 38 (2005) terminen an der Grenze zur Bundesrepublik bis En- 6, S. 991 – 1000. © W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 478 Dokumentation

um die Übernahme des Großteils der DDR-Schulden lichen Plankommission und der Fachabteilungen des im Westen zu bitten und im Gegenzug die Handelsbe- ZK verträten »einhellig die Auffassung, dass sich ziehungen zum Westen weitgehend abzubrechen. Genosse E. Honecker in einem für die Volkswirt- schaft der DDR schwerwiegenden Irrtum« befän- II. de.11 Und unter Berufung auf leitende Wirtschafts- funktionäre warnte die Stasi 1979 eindringlich vor Die »Sicherung der Volkswirtschaft« gehörte vom Preiserhöhungen, »die politisch nicht zu vertreten Beginn bis zum Ende der DDR zu den wichtigsten sind und konterrevolutionäre Ausschreitungen her- Aufgaben der Staatssicherheit. »Die Wirtschaft«, so beiführen können«.12 Damit trug sie maßgeblich da- Stasi-Minister Erich Mielke 1982, sei »das entschei- zu bei, dass entsprechende Pläne im Politbüro fallen dende Kampffeld für das revolutionäre Handeln der gelassen wurden. Partei.«8 Die Partei- und Staatsführung über tatsäch- liche und drohende, aus der Sicht des MfS sicherheits- Immer häufiger beschäftigten sich Informationen und planerfüllungsrelevante Gefährdungspotentiale der HA XVIII aus den Jahren 1978 und 1979 mit umfassend zu informieren, genoss deshalb hohen der zunehmend prekärer werdenden Zahlungsbilanz Stellenwert.9 Die Voraussetzungen dafür waren ausge- – und deren Verschleierung durch die Parteiführung. zeichnet: Schon die Informations- und Entscheidungs- Sie gipfelten Anfang 1979 in der Wiedergabe einer kanäle, an die das Ministerium für Staatssicherheit Äußerung von Staatsbank-Präsident Horst Kaminsky offiziell angeschlossen war, gewährten ihm uneinge- gegenüber der ZK-Abteilung Planung und Finanzen: schränkte Einsicht in die krisenhafte ökonomische »Wenn nichts geschieht, werden wir im Laufe des II. Entwicklung der DDR und ihre in der zweiten Hälf- Quartals zahlungsunfähig.«13 te der 1970er-Jahre einsetzenden Zahlungsbilanz- Zwar erfüllte sich diese Prognose nicht, doch ka- probleme. Einen noch tieferen Eindruck gewann das men zu den bereits vorhandenen Probleme neue hinzu MfS darüber hinaus durch seine vielfältigen Wege – beispielsweise, als die DDR in Verbindung mit dem der konspirativen Informationsbeschaffung auf allen NATO-Doppelbeschluss von der Sowjetunion auf eine Ebenen des Partei- und Staatsapparates, der Wirt- Ausweitung der Rüstungsproduktion und eine schär- schaft und der Gesellschaft. fere Abgrenzung zum Westen verpflichtet wurde. Zuständig für die »Sicherung der Volkswirtschaft« war im MfS die Hauptabteilung XVIII, die von 1974 III. bis 1989 von Alfred Kleine geleitet wurde.10 Die Aus- Die ökonomische Krise spitzte sich schon im Laufe arbeitung von Stellungnahmen zu Vorlagen des Po- des Jahres 1980 weiter zu. Honeckers Balanceakt, litbüros und Ministerrates, die makroökonomische Fragen betrafen, oblag in der HA XVIII federführend der für die Sicherung der zentralen wirtschaftslei- 8 Erich Mielke, Referat […], Potsdam-Eiche 11.10.1982, BStU, tenden Staatsorgane auf den Gebieten Planung, Fi- MfS, ZAIG Nr. 4810, Bl. 31. nanzen und Statistik sowie RGW verantwortlichen 9 Vgl. Dienstanweisung Nr. 1/82, Berlin 30.3.1982, BStU, MfS, Abteilung 4, geleitet von Horst Roigk. DS Nr. 102836. 10 Vgl. Maria Haendke-Hoppe-Arndt, Die Hauptabteilung XVIII: Die sich auf wirtschaftlichem Gebiet anbahnende Volkswirtschaft. Anatomie der Staatssicherheit III/10, Berlin Katastrophe der DDR wurde im MfS exakt und früh- 1997. zeitig registriert. Informationen der HA XVIII aus 11 HA XVIII, Kleine, Berlin, 18.11.1977, BStU, MfS, HA XVIII der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre disqualifizierten Nr. 12478, Bl. 2 f. Honeckers Grundauffassung, dass »auch heute noch 12 HA XVIII, Information über die Ausarbeitung von Vorschlä- nicht die Arbeiterklasse den Anteil aus dem produ- gen […], Berlin 7.8.1979, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 12480, Bl. 1 – 6, hier 6. zierten Nationaleinkommen erhält, der ihr als Produ- 13 HA XVIII, Information Nr. 28/79 zum Stand und zur Pro- zent aller Werte zustehe«, als »nicht den Tatsachen« blematik der Zahlungsbilanz der DDR […], 5.2.1979, BStU, entsprechend. Verantwortliche Funktionäre der Staat- MfS, HA XVIII Nr. 12478, Bl. 15.

Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 –495 Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 479 einerseits den sowjetischen Abgrenzungsforderungen der Stasi-Chef in seinem Ministerium zwischen 1980 zum Westen zu entsprechen, andererseits insbeson- und 1982 mehrere Geheimstudien zur ökonomischen dere die Handelsbeziehungen mit der Bundesrepub- Lage der DDR anfertigen. lik auszuweiten, rief im SED-Politbüro mächtige Gegner auf den Plan. Eine Gruppe moskau-orien- IV. tierter Politbüro-Mitglieder befürchtete einen »Ver- Am 14. Oktober 1980, sechs Monate vor dem X. rat der DDR gegenüber der Sowjetunion«. Zu dieser Parteitag der SED, erteilte Mielke dem Leiter der »Moskau-Gruppe« wurden Ministerrats-Vorsitzender HA XVIII den Auftrag, Vorschläge für die »Lösung Willi Stoph, die Politbüro-Mitglieder Werner Kro- volkswirtschaftlicher Schlüsselprobleme 1981 und likowski, Alfred Neumann, Kurt Hager und Vertei- im Zusammenhang mit der Ausarbeitung der Direk- digungsminister Heinz Hoffmann, vor allem aber tive des X. Parteitages« zu unterbreiten.18 Der dafür auch Stasi-Chef Erich Mielke gezählt.14 Dessen be- gebildeten und zu besonderem Stillschweigen ver- rufsbedingtes Misstrauen war im März 1980 durch pflichteten Arbeitsgruppe gehörte auch Horst Roigk einen Hinweis des Bruderorgans KGB geweckt wor- an, der Leiter der Abteilung XVIII/4. Roigk zufolge den, dass es »in der DDR Vertreter gäbe, die durch konnte sich die Ausarbeitung auf alle verfügbaren verstärkte Kreditnahme und Kooperationsgeschäfte Dokumente stützen19; daneben wurden schriftlich mit westlichen Konzernen bewusst oder unbewusst ausgearbeitete Problemstellungen mit Experten aus starke Abhängigkeiten von den imperialistischen der Staatlichen Plankommission, den Finanzorganen, Staaten« schüfen.15 dem Außenhandel und aus ausgewählten Kombinaten Schon im April 1980 begann die Moskau-Gruppe in in individuellen Aussprachen beraten. der SED-Spitze, Honecker und Mittag bei der Kreml- Die Brisanz der Studie, die das Datum des 24. No- Führung anzuschwärzen. Im Anschluss an eine Sit- vember 1980 trägt20, lag nicht darin, dass sie die zung des SED-Politbüros vom 22. April 1980, in der Grundprobleme der DDR-Ökonomie offen benann- Günter Mittag über einen Besuch bei Bundeskanzler Helmut Schmidt informierte, verfassten Stoph und Krolikowski ein Dossier, in dem sie den ZK-Wirt- schaftssekretär eines konspirativen »Kontaktes mit 14 Vgl. Hans-Hermann Hertle, Der Sturz Erich Honeckers. Zur Rekonstruktion eines innerparteilichen Machtkampfes, in: dem Feind« bezichtigten, »woraus Schlussfolgerungen Klaus-Dietmar Henke u. a. (Hg.), Widerstand und Opposi- für die Gewährleistung der Sicherheit in der DDR- tion in der DDR, Köln u. a. 1999, S. 327 – 346. Führung gezogen werden« müssten. In den Bezie- 15 [Operativgruppe Moskau,] Information, Moskau, 18.4.1980, hungen zur Bundesrepublik verträten Honecker und BStU, MfS, Sekr. Mittig Nr. 141, Bl. 511. Mittag nur »Teil- und Sonderinteressen entsprechend 16 Aufzeichnungen über einen Bericht von Günter Mittag […], dok.: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Von Hu- ihrer falschen politischen Konzeption«; sie führten bertusstock nach Bonn, Berlin 1995, S. 49. die DDR in neue politische und ökonomische Ab- 17 Notiz von Werner Krolikowski […], 13.11.1980, in: Peter Przy- 16 hängigkeiten von der Bundesrepublik. bylski, Tatort Politbüro. Die Akte Honecker, Berlin 1991, S. 345 – 348. »EH [Erich Honecker] verschaukelt uns und die 18 Vgl. HA XVIII/Leiter, Persönlich: Genossen Minister, Berlin, sowjetischen Freunde«, leitete Werner Krolikowski 18.10.1980, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4692, Bl. 9; u. ders., Mitte November 1980 die Einschätzung Erich Mielkes Konzeption und inhaltliche Orientierung für die Lösung über eine Begegnung von Erich Honecker und Günter volkswirtschaftlicher Schlüsselprobleme 1981 […], Berlin, 18.10.1980, ebd., Bl. 10 – 12. Gaus, dem Leiter der Ständigen Vertretung Bonns in 19 Dr. Horst R[oigk], ehem. Oberst des MfS, Hauptabteilung Ost-Berlin, nach Moskau weiter. Nach Mielkes Mei- XVIII, in: Gisela Karau, Stasiprotokolle. Gespräche mit ehe- nung spiele Honecker »nach beiden Seiten, einmal maligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit so, einmal so.« Man müsse damit rechnen, »dass EH der DDR, a. M. 1992, S. 27. weitere politische Geschäfte mit der BRD macht.«17 20 HA XVIII, [o. T.,] Berlin 24.11.1980, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4692, Bl. 13 – 41. – Bei dieser Stasi-Studie handelt es sich Offenbar um dies zu verhindern und um Material ge- mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die gen Honecker und Mittag in der Hand zu haben, ließ Analyse, über die Roigk berichtet. © W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 480 Dokumentation

te. Brisant waren vielmehr die strukturellen Kritik- Zu den langfristigen Maßnahmen gehört neben Vor- punkte am Leitungssystem der Wirtschaft: schlägen zur Reform des Planungssystems und zum - Mit der ZK-Wirtschaftskommission und der ZK-Ar- Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zu den beitsgruppe Zahlungsbilanz sei neben dem Ministerrat Entwicklungsländern an vorderster Stelle die Stär- ein »zweites Leitungssystem« in der Volkswirtschaft kung der wirtschaftsleitenden Instanzen des Staats- etabliert worden. Auch durch Fachabteilungen des apparates gegenüber der Partei: »Die Praktiken, die Zentralkomitees würden Aufgaben entschieden, wo- der vollen Durchsetzung der Verantwortlichkeit des durch »die verantwortlichen Funktionäre der Staats- Ministerrates und seiner Organe bei der einheitlichen und Wirtschaftsführung aus ihrer Verantwortung Leitung der Volkswirtschaft entgegenstehen, sind zu entlassen« würden. beseitigen.« - Die Orientierung auf eine wertmäßige Erhöhung der Die Studie lässt somit keinen Zweifel offen, wen Leistungen schaffe systematisch und gewollt Mög- sie als Hauptschuldige für die entstandenen ökono- lichkeiten der Planmanipulation mit der Folge, dass mischen Schwierigkeiten betrachtete, ohne sie na- der Plan scheinbar bilanziere, »aber die konkreten Er- mentlich zu benennen: Günter Mittag und Alexan- zeugnisse und Leistungen für die materiell-technische der Schalck-Golodkowski. Da beide Erich Honecker Sicherung der Produktion und der Investitionen, für persönlich unterstanden, stand auch der General- den Export und für die Versorgung der Bevölkerung sekretär zumindest indirekt in der Schusslinie der nicht zur Verfügung« stünden. Kritik des MfS. - Zur Erlangung westlicher Waren habe sich eine »so- genannte 2. Währung« herausgebildet, die nicht nur Welchen Weg die Studie schließlich nahm, ist un- zu Spekulationen führe, sondern auch negative Aus- bekannt. Wenn Kleine später meinte, dass sie »nach wirkungen wie »sinkende Arbeitsmoral und -diszi- unserer Kenntnis der Partei- und Staatsführung ver- plin, mangelnde Leistungsbereitschaft und steigende mittelt«21 worden sei, bedeutet das nicht, dass das Wirtschaftskriminalität« zeitige. Dokument verteilt worden wäre – schon gar nicht an Gremien wie Politbüro oder Ministerrat. Unter Weil »die Gesamtproblematik […] von so ernst- einer solchen »Vermittlung« wäre noch am ehesten hafter Natur« sei, empfahl die Studie als generelle eine mündliche Information Mielkes an Honecker, Lösung, »eine Bestandsaufnahme zum gegenwärtigen Stoph oder einen Vertrauten unter vier Augen zu Zustand in der Volkswirtschaft« anzufertigen. Da- verstehen. mit solle »eine kleine Zahl sachkundiger Genossen« beauftragt, die Ergebnisse dem Politbüro vorgelegt, Den Inhalt der Studie jedoch, wenn nicht das gan- die Kontinuität der Wirtschafts- und Sozialpolitik ze Papier, leitete Politbüro-Mitglied Krolikowski gewahrt und »ein Hineintragen der Probleme in die noch im Dezember 1980 nach Moskau weiter. Der Breite der Partei vermieden« werden. Im Ergebnis Planansatz für 1981 – 1985, so meldete er, sei »of- müsste der Verschuldungsprozess im Westen gestoppt fen […] wie eine Feldscheune« und die »schlimmste und dadurch neuer Handlungsspielraum geschaffen Ungereimtheit […], die bisher im Politbüro bestätigt werden. wurde«.22 Doch die sowjetische Führung war Ende 1980 wohl mehr mit anderen Problemen befasst. In Unter den kurzfristig empfohlenen Lösungen sprin- Polen stand nicht nur die Wirtschaft, sondern nach gen vor allem die Überprüfung sämtlicher Kompen- der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Soli- sationsvorhaben mit den westlichen Industrielän- darnoÊç das kommunistische Regime selbst vor dem dern, das Verbot von Importen aus dem »Nichtso- Zusammenbruch. zialistischen Wirtschaftsgebiet« (NSW), die nicht der Aufrechterhaltung der Produktion dienen, die Abschaffung des Delikat- und Exquisit-Angebotes, 21 HA XVIII/GO XVIII, Schreiben an Wolfgang Herger, Berlin, die Konzentration aller Valutaeinnahmen und -aus- 14.11.1989, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 6556, Bl. 2. gaben in einer Hand und die Einstellung der Sonder- 22 Notiz von Werner Krolikowski v. 16.12.1980, in: Przybylski geschäfte im Bereich des Außenhandels ins Auge. (Anm. 18), S. 341. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 –495 Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 481

Aus der vorgeschlagenen Bestandsaufnahme durch bestimmte Reserven«, so Russakow geheimnisvoll, eine »kleine Zahl sachkundiger Genossen« wurde »sind schon angegriffen.« Die Sowjetunion stehe nichts. Unwidersprochen konnte Erich Honecker im praktisch wieder vor »Brest-Litowsk« – mithin vor der April 1981 auf dem X. SED-Parteitag verkünden, dass Entscheidung, auf einen Teil des äußeren Einflussge- der Wirtschaftspolitik »ein ausgewogenes Verhältnis bietes zu verzichten, um das Kernland zu retten. von Leistung und Verbrauch, von Akkumulation und Konsumtion« zugrunde liege – und deshalb wurde V. ihre Fortsetzung einstimmig beschlossen.23 Im Hinblick auf »die zunehmend wachsende Gefahr Die dunklen Wolken, die sich im weiteren Verlauf einer Zahlungsunfähigkeit der DDR im Jahr 1982« des Jahres über der DDR zusammenziehen sollten, und in weiterer Durchführung des Auftrages vom Ok- konnte zumindest Honecker während seines Ge- tober 1980 übersandte der Leiter der Stasi-HA XVIII spräches mit Leonid Breshnew auf der Krim am 3. dem Minister Erich Mielke und dessen Stellvertre- August 1981 erahnen. Nach mehreren Missernten in ter Rudi Mittig am 2. Januar 1982 eine aktualisierte Folge und der daraus resultierenden Notwendigkeit, ökonomische Gesamteinschätzung. Die Ausarbeitung große Mengen an Getreide und Fleisch aus dem Wes- konzentrierte sich auf den Nachweis, dass die bereits ten importieren zu müssen, stand der Sowjetunion in 1980 herausgearbeiteten Grundfragen, »die die wei- wirtschaftlicher Hinsicht das Wasser bis zum Hals. tere planmäßige und proportionale Entwicklung der Der KPdSU-Chef teilte Honecker lapidar mit, dass Volkswirtschaft der DDR entscheidend beeinflussen, die DDR erstens in den kommenden vier Jahren mit sich unter den gegenwärtigen Bedingungen im Hin- keinerlei sowjetischen Krediten zur Bilanzierung des blick auf die entscheidende Frage, die Zahlungsfä- bilateralen Handels rechnen könne, dass zweitens higkeit der DDR zu garantieren, weiter verschärft« der vereinbarte Lieferumfang an Erdöl – des wich- hätten.27 Ihre Hauptaussage bestand darin, dass der tigsten Rohstoffes der DDR für ihre Westexporte Stand der Westverschuldung zum 1. Januar 1982 auf – in Zweifel stehe und dass drittens die Zunahme der ca. 30,5 Milliarden Valutamark (VM) angestiegen Westverschuldung der DDR in Moskau anhaltendes und die Beschaffung der erforderlichen Bargeld- und Unbehagen auslöse, weil dies ein »Hebel verschie- Warenkredite für 1982 nicht gesichert war.28 Aus- denartigster Druckausübung« des Westens sei und führlich wurden die Folgen der Verringerung von zu den »schwersten Folgen« führen könne, wie das Transportleistungen geschildert, die sich durch die polnische Beispiel »in dramatischer Weise« zeige. Einsparungen von Heizöl, Diesel- und Vergaserkraft- Abgrenzung insbesondere zur Bundesrepublik sei für die DDR weiterhin ein Gebot.24 Als Breshnew kurz nach dem Krim-Treffen an- 23 Protokoll des X. Parteitages der SED, 11. – 16. April 1981, Berlin 1981, S. 62. kündigte, die sowjetischen Plan-Rohöllieferungen 24 Niederschrift über das Treffen […] am 3. August 1981 auf der an die DDR ab 1982 zu verringern, glich dies einem Krim, dok.: Hans-Hermann Hertle/Konrad H. Jarausch (Hg.), Anschlag auf die DDR-Devisenbilanz. In seinem Ant- Risse im Bruderbund. Die Gespräche Honecker – Breshnew wortschreiben bezichtigte Honecker den KPdSU-Ge- 1974 bis 1982, Berlin 2006, S. 198 – 231, hier S. 203, 206. neralsekretär, die »Grundpfeiler der Existenz der 25 Vgl. dazu den Briefwechsel: BArch, DY 30/J IV 2/202/524. DDR« zu untergraben.25 Die Sowjetunion benötige 26 Niederschrift über das Gespräch des Generalsekretärs wegen der Missernten Devisen, erklärte Moskaus Ge- [… mit] Russakow, […] Berlin, 21.10.1981, BArch, DY 30/ J IV 2/2A/2431. Vgl. auch: Hans-Hermann Hertle, Der Fall sandter Konstantin V. Russakow gegenüber Honecker, der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED- weil sie sonst »ihre gegenwärtige Stellung in der Welt Staates, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 46 – 48. nicht halten« könne, und das habe »dann Folgen für 27 HA XVIII, [o. T.,] Berlin 2.1.1980, ebd., Bl. 6 f. die ganze sozialistische Gemeinschaft«. Russakow 28 Der sprunghafte Anstieg auf 30,5 Mrd. VM gegenüber dem bezeichnete die Serie der Missernten als »ein Un- Vorjahr (1980: 24,5 Mrd. VM) ergab sich aus der Erhöhung des Dollarkurses von 1,80 auf 2,40 VM, die zum 1.2.1982 glück von einem Ausmaß«, das »es seit der Existenz wirksam wurde. Nach dem alten Kurs entsprach der Ne- der Sowjetunion noch nicht gegeben hat«.26 »Ganz gativsaldo 25,6 Mrd. VM. © W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 482 Dokumentation

stoff im Inland ergeben hatten; Planmanipulationen DDR« geführt hätten. Der »Ernst der gegenwärtig ein- im Wohnungsbauprogramm und Untererfüllungen getretenen Lage« gebiete es, »eine wissenschaftlich des Volkswirtschaftsplanes 1981 wurden aufgedeckt, begründete, strategische, taktische und organisato- die durch »Planpräzisierungen« sogar noch als Über- rische Konzeption zu erarbeiten, die […] den gegen- erfüllungen abgerechnet werden konnten, und nicht wärtigen und zukünftigen Erfordernissen« entspreche. zuletzt wurde auf die ungenügende Erfüllung des Entsprechend besteht die Studie aus zwei Teilen: der NSW-Exportplanes und die unzureichende Devi- erste bietet eine Bestandsaufnahme der ökonomischen senrentabilität der Exportgüter hingewiesen – eine Lage und der sie bewirkenden inneren und äußeren unmittelbare Folge der im Vergleich zum Westen Faktoren, der zweite Teil enthält Vorschläge für kurz- weit zurückgebliebenen Arbeitsproduktivität. Doch fristige und längerfristige Lösungen. beschränkte sich das Papier ausschließlich auf eine Die Ausgangslage, heißt es, werde dadurch cha- Analyse; Lösungsvorschläge enthielt es nicht. rakterisiert, dass »die reale Gefahr des kurzfristigen Vielleicht gerade deshalb alarmierte es Mielke. Im Eintritts der Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem Zuge einer Besprechung zwischen Mielke, Mittig und NSW gegeben sei« und dadurch »eine Gefährdung Kleine am 11. Januar 1982 wurde der HA XVIII die der inneren Stabilität der DDR […] sowie eine Be- Aufgabe gestellt, dem Auftrag vom 18. Oktober 1980 einträchtigung der Versorgung der Bevölkerung ein- entsprechend eine neuerliche Analyse auszuarbeiten; treten« könne. Zugleich sei dann »die Bewältigung die damaligen kurz- und langfristigen Lösungsvor- möglicher Gefahrensituationen und Gefahrenzustän- schläge sollten geprüft und aktualisiert und das Papier de nicht mehr [zu] gewährleisten«. Der Volkswirt- am 25. Januar dem Minister vorgelegt werden.29 schaftsplan 1982 könne »materiell und finanziell nicht bilanziert« werden; entsprechend erfülle »der Auftragsgemäß ließ Kleine die Ausarbeitung am Fünfjahrplan 1981 – 1985 in seiner Gesamtheit seine 25. Januar Mielke und Mittig zustellen. Die Liste bilanzierende und steuernde Funktion für den Fünf- der hinzugezogenen 23 Experten liest sich wie ein jahrplanzeitraum nicht mehr«. »Who is Who« der DDR-Wirtschaftspolitik: Alex- ander Schalck-Golodkowski und Außenhandelsmi- Diese Lage sei durch »innere, objektive und sub- nister Gerhard Beil befinden sich ebenso darauf wie jektive Faktoren und äußere Einflüsse auf die Volks- Harry Möbis, Staatssekretär für Organisation und wirtschaft« entstanden, wobei die internen Faktoren Inspektion beim Ministerrat, Heinz Klopfer und Wolf- als die entscheidenden Ursachen betrachtet werden. gang Greß, beide Staatssekretäre in der Staatlichen Unter diesen sticht vor allem der Vorwurf der Des- Plankommission, , Chef der Staatlichen information der leitenden Parteiorgane über die reale Zentralverwaltung für Statistik, und Werner Polze, ökonomische Lage hervor – ein Vorwurf, der nicht Präsident der Deutschen Außenhandelsbank, dazu nur gegenüber Günter Mittag als ZK-Wirtschafts- weitere Minister und stellvertretende Minister sowie sekretär, sondern auch gegen Gerhard Schürer als Generaldirektoren.30 Vorsitzendem der Staatlichen Plankommission erho- ben wird. Erneut wird das »zweite Leitungssystem« Als zentrale Aussage des Papiers, die somit nicht in der Volkswirtschaft kritisiert, das Mittag mit der der Meinung einzelner »Experten« entsprechen muss- ZK-Wirtschaftskommission und der AG Zahlungs- te, hob Kleine in seinem Anschreiben hervor: »Allein bilanz errichtet habe. Und schließlich wird die Kritik die konsequente Hinwendung zur gemeinsamen Lö- an Kompensationsgeschäften mit dem Westen und sung mit der UdSSR schafft für die DDR Vorausset- dem außerplanmäßigen Handel des Bereiches KoKo zungen für eine weitere stabile innere Entwicklung und die notwendige Handlungsfähigkeit gegenüber dem NSW.«31 29 Vgl. handschr. Aufzeichnungen v. Alfred Kleine, Jan. 1982, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4693, Bl. 35 – 53. Ausgangspunkt der Analyse selbst ist die Feststel- 30 Vgl. Verzeichnis der Quellen, ebd., Bl. 33 f. lung, dass die Beschlüsse der Partei auf ökonomischem 31 HA XVIII/Leiter, Persönlich Genossen Minister, Berlin Jan. Gebiet »zu einer Gefährdung der inneren Stabilität der 1982, BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4693, Bl. 32. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 –495 Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 483 wiederholt; beides habe dazu beigetragen, »daß die fernden Waren sollten es der UdSSR ermöglichen, in Wirkungsmechanismen des kapitalistischen Marktes einem hohen Maße selbst NSW-Importe abzulösen.« Einfluss auf den volkswirtschaftlichen Reprodukti- Die aus der ökonomischen Abschottung der DDR ge- onsprozess gewannen, sich Abhängigkeiten herausbil- genüber dem Westen resultierenden Nachteile – wie deten, die zu ökonomischen Verlusten für die DDR« etwa den Verlust von Marktpositionen im Westen bzw. geführt hätten. Die sich verschlechternde moralische die Verärgerung westlicher Industrieländer über die Verfassung der Wirtschaftskader ist der Studie eine ei- Reduzierung der DDR-Importe – müssten vorüberge- gene Warnung wert, müsse doch »mit einem weiteren hend in Kauf genommen werden, heißt es lapidar. Vertrauensabfall, Gleichgültigkeit und Resignation Als Alternativen zu der vorgeschlagenen Übernah- bei diesen Kadern gerechnet werden«. Irrigerweise, me der Hauptschuldnerschaft durch die Sowjetunion heißt es, hingen Politbüro und Ministerrat immer und dem damit zwangsläufig verbundenen weitgehen- noch dem Glauben an die Lösung der Probleme aus den Abbruch der Handelsbeziehungen der DDR zum eigener Kraft an; die gegenteilige Annahme sei je- Westen zählte Kleine in seinem Begleitschreiben an doch realistisch. Mielke drei Varianten auf – und verwarf sie sofort Obwohl gerade noch die im Inneren wirkenden Fak- wieder, weil sie weder kurzfristige noch dauerhafte toren als entscheidende Krisenursachen benannt wor- Problemlösungen darstellten, sondern allesamt die den waren, konnte nach dieser Feststellung die Ret- Ungleichgewichte vertieften und die »materiell-tech- tung nur noch von außen kommen. Die Stasi suchte nische Basis des Sozialismus« weiter schwächten: und fand sie im ›Vaterland aller Werktätigen‹, der »- Es gelingt der DDR durch außergewöhnliche An- Sowjetunion. Hatte aber die Sowjetunion nicht ge- strengungen, die hohen NSW-Exportziele und die rade untätig zugeschaut, wie die Volksrepublik Po- Aufgaben zur NSW-Importablösung zu lösen und da- len sich gegenüber dem Westen für zahlungsunfähig bei das Risiko einer Verschlechterung der Versorgung erklärte? Hatte sie nicht wenige Wochen zuvor den der Bevölkerung sowie der materiellen Sicherstellung »Bruderländern« Rohöllieferungen gekürzt, um aus der Produktion in Kauf zu nehmen. dem Erlös im Westen Getreide kaufen und so den - Es wird von der Hoffnung ausgegangen, die in den Hunger vom eigenen Volk abwenden zu können, wie Volkswirtschaftsplänen vorgesehenen weiteren Kre- es in den Verhandlungen mit der DDR hieß? ditaufnahmen […] bei kapitalistischen Banken zu erhalten, um damit der drohenden Zahlungsunfä- Ausgerechnet diese Sowjetunion hatten sich die higkeit auszuweichen. deutschen Tschekisten auserkoren, die Hauptschuld- - Die Zahlungsunfähigkeit der DDR in Kauf zu neh- nerschaft für die DDR zu übernehmen. »Der Partei- men und die negativen Wirkungen einer solchen Si- und Staatsführung der UdSSR«, so ihr Kerngedanke, tuation zu minimieren.«32 »sollte im Interesse kurzfristiger Lösungen folgender Vorschlag unterbreitet werden: Die Partei- und Staats- Ob Mielke oder Mittig die ihnen von der HA XVIII führung der DDR bekräftigt ihre Entschlossenheit, ih- angesonnene kurzfristige Lösung, die Sowjetunion re Zahlungsbilanz gegenüber dem NSW auf maximal um die Übernahme der Schulden der DDR zu bitten, 12 Mrd. VM saldierte Verbindlichkeiten zu reduzieren. tatsächlich Honecker oder Stoph in irgendeiner Form Der zur Lösung dieser Aufgabe erforderliche Export­ nahezubringen versuchten, wie Kleine später meinte, überschuss im NSW wird für Warenlieferungen in ist bisher nicht belegt. Der Vorsitzende der Staatlichen die UdSSR eingesetzt. Dafür übernimmt die UdSSR Plankommission (SPK), Gerhard Schürer, erfuhr da- sofort Verbindlichkeiten der DDR bei kapitalistischen mals davon nichts; mehr als 20 Jahre später mit der Banken in Höhe von ca. 20 Mrd. VM […]. Auf der Studie vertraut gemacht, bezeichnete er ihren Vor- Grundlage real bilanzierter Pläne könnten die dafür schlag als »irrsinnig« und »absolute Idiotie«.33 Einer erforderlichen Waren aus dem geplanten Exportüber- schuss der DDR bis Ende 1987 geliefert werden und hätten einschließlich Zinsen einen Wertumfang von 32 Vgl. ebd. ca. 30 Mrd. VM. Struktur und Umfang der zu lie- 33 Gespräch d. Vf. m. Gerhard Schürer, 31.3.2004. © W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 484 Dokumentation

großen Phantasie bedarf es nicht, um die Reaktion die HA XVIII schien zu beherzigen, dass weder sie der sowjetischen Führung zu erraten, falls ihr diese noch das MfS als Ganzes »Plattform« für eine ande- Idee unterbreitet worden wäre. Nach ihrem militä- re Wirtschaftspolitik sein konnten. Aus dem Kampf rischen Einmarsch in Afghanistan, der Verhängung gegen Honecker und das »zweite Leitungssystem« des Kriegsrechts in Polen, dem verschärften Rüstungs- in der Wirtschaft, das Mittag und Schalck repräsen- wettlauf mit den USA, den anhaltenden Spannungen tierten, gingen Mielke und die HA XVIII als klare mit China sowie der Versorgungskrise im Inland war Verlierer hervor. Mittag blieb als ZK-Sekretär für die die Sowjetunion an die Grenzen ihrer Möglichkeiten Wirtschaft verantwortlich, der außerplanmäßige Han- geraten, ihr äußeres Imperium zu erhalten. del über den Bereich Kommerzielle Koordinierung expandierte. Schalck, dem die Konspiration Kleines Sollte sich Mielke hinsichtlich der Frage, wer gegen seinen Bereich nicht verborgen geblieben war, wessen Unterstützung bedurfte, dennoch irgend- erreichte zudem, dass die Sicherung von KoKo im welchen Illusionen hingegeben haben, was wenig MfS 1983 aus dem Verantwortungsbereich der HA wahrscheinlich ist, so wären sie spätestens nach dem XVIII/7 ausgegliedert und einer neu geschaffenen Krim-Treffen Breshnews und Honeckers im August »Arbeitsgruppe BKK« übertragen wurde.35 1982 zerstoben. Schon zu Beginn des Gesprächs tat Breshnew dem SED-Generalsekretär kund, »daß wir Die moskau-orientierte Politbüro-Gruppe hatte einen Beitrag Eurer Republik zur Verwirklichung der Sowjetunion bei ihren Vorstößen weder 1982/83 des Lebensmittelprogramms der UdSSR begrüßen noch in den Folgejahren akzeptable konzeptionelle würden«. Wie auch in den vorherigen Gesprächen und personelle Alternativen anzubieten. betonte er die Gefahr einer finanziellen Abhängig- keit vom Westen, die in der DDR nunmehr »besorg- VI. niserregenden Charakter« anzunehmen scheine. Als Im Herbst 1989 hatte offensichtlich auch die Stasi den ob dem Apparat der KPdSU die Stasi-Studie nicht Glauben an eine Rettung der DDR durch die sowje- gänzlich unbekannt wäre, bezog Breshnew in der Fra- tische Vormacht verloren. Im Oktober 1989 warfen ge der Handelsbeziehungen mit dem Westen jedoch Alexander Schalck-Golodkowski und Planungs-Chef eine eindeutige Position: »Selbstverständlich denkt Gerhard Schürer den Notanker in Richtung Bundesre- niemand daran, die ökonomischen Beziehungen zu publik aus.36 Unter der Überschrift »Plan und Ablauf« den kapitalistischen Ländern überhaupt einzustellen. entwarf der SPK-Vorsitzende im Vorfeld der Politbüro- Das wäre eine absurde Schlussfolgerung.«34 Sitzung vom 17. Oktober nicht nur ein Szenario für Durch die Erhöhung der Exporte in die kapitalis- die Ablösung Erich Honeckers, sondern auch für die tischen Länder in den Jahren 1982 – 1985 sowie die unmittelbare Zeit danach: »Schürer/Schalck legen PB Reduzierung westlicher Importe und dank der Verga- [Politbüro] ein Geheimkonzept für BRD vor«, notierte be der Milliardenkredite seitens der Bundesregierung Schürer. Für ein ökonomisches Entgegenkommen sowie mit Hilfe ihrer zusätzlichen Transferleistun- sollte Bonn als politisches Zugeständnis nunmehr in gen – also einer Kombination von Kleines Variante Aussicht gestellt werden, »daß die Mauer noch vor 1 und 2 –, gelang es der Führung unter Honecker und Beginn des Jahres 2000 überflüssig geworden ist.« Mittag noch einmal, den Eintritt der Zahlungsunfä- higkeit – mithin Variante 3 – zu vertagen. Für eine kurze Zeit konnte man mit dieser Politik das Über- 34 Niederschrift über das Treffen […] auf der Krim am 11. Au- leben sichern – auf mittlere Sicht jedoch musste sie gust 1982, dok.: Hertle/Jarausch (Anm. 24), S. 232 – 259, hier S. 235. in den Ruin führen. 35 Vgl. BT-Drs. 12/7600 (Anm. 3), S. 115 f. – Zur AG BKK vgl. Nach ihrer Analyse vom 25. Januar 1982 hielt sich Reinhard Buthmann, Die Arbeitsgruppe Bereich Kommer- zielle Koordinierung. Anatomie der Staatssicherheit III/11, die HA XVIII mit weiteren strategischen Vorstö- Berlin 2003. ßen dieser Art auffällig zurück. Alternativen oder 36 Vgl. Schreiben von Alexander Schalck an Egon Krenz, Ber- Lösungsvorschläge wurden nicht mehr präsentiert; lin 13.10.1989, dok.: Hertle, Fall (Anm. 26), S. 427 f.

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Freilich vergaß Schürer nicht hinzuzufügen, dass nomen nunmehr eine einschneidende Korrektur der dieser Geheimplan nach der Behandlung im SED- Wirtschafts- und Sozialpolitik, verbunden mit einer Politbüro mit Michail Gorbatschow abzustimmen Senkung des Lebensstandards um 25 – 30 Prozent, er- sei. Die neuen Perspektiven sollten auf drei Pfeilern forderlich machte, die jedoch aus Gründen des Macht- beruhen: 1. einer neuen Stufe der Kooperation mit erhalts für undurchführbar gehalten wurde. Der letzte Moskau, 2. einer neuen Politik und Wirtschaftspolitik Ausweg, den die Ökonomen am 31. Oktober 1989 im in der DDR und 3. einer neuen Form der Zusammen- Politbüro vorschlugen, lief entsprechend den ersten arbeit mit der Bundesrepublik.37 Überlegungen zum Geheimkonzept darauf hinaus, der Bundesregierung für neue Kredite und eine erweiterte Als Egon Krenz nach dem Sturz von Honecker und wirtschaftliche Kooperation die Durchlässigkeit der Mittag am 18. Oktober 1989 in seiner Antrittsrede Mauer als letztes Tauschmittel anzubieten. In der Be- als Generalsekretär vorsichtig die Bereitschaft zu gründung seiner Vorlage hob Planungschef Schürer einer erweiterten Zusammenarbeit mit der Bundes- diese Tauschüberlegungen im Politbüro ausdrücklich republik signalisiert hatte38, arbeitete Schürer seine hervor: »Auf der letzten Seite sind wir bis zur großen Vorstellungen weiter aus. Die Umrisse seines »Ge- Politik der Form der Staatsgrenze gegangen. Wir wol- heimkonzepts«, das nun die Überschrift »Vorschläge len deutlich machen, wie weit Überlegungen angestellt zur Ausarbeitung eines Programms der ökonomischen werden sollen. Diese Gedanken sollen aufmerksam Zusammenarbeit mit der BRD« trug, verbunden mit machen, daß wir jetzt vielleicht für solche Ideen noch einer Reihe von Fragen, die nochmals mit den üb- ökonomisches Entgegenkommen der BRD erreichen rigen Mitgliedern der Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz können.« Und warnend fuhr er fort: »Wenn die For- beraten werden müssten, landeten auf dem Tisch des derungen erst von der Straße oder gar aus Betrieben Leiters der Stasi-HA XVIII, der sie am 22. Oktober gestellt werden, wäre die Möglichkeit einer Initiative an Mielkes Stellvertreter Mittig weiterreichte. »Die von uns wieder aus der Hand genommen.«41 DDR ist daran interessiert, der BRD ein umfassendes Programm der ökonomischen Zusammenarbeit vorzu- Das quantitative Ausmaß der als erforderlich be- schlagen«, konnten die Generäle der Staatssicherheit trachteten Hilfe aus der Bundesrepublik war in der darin lesen. »Dabei wird davon ausgegangen, daß Politbüro-Vorlage so weit verschleiert, dass deren neue Bedingungen und neue Formen zur Stärkung Tragweite sich nichteingeweihten Politbüro-Mitglie- der Leistungskraft und der Exportfähigkeit der DDR dern nicht unbedingt erschloss. Hinter allgemeinen ausgenutzt werden können. Voraussetzung dafür ist Formulierungen zum Ausbau der ökonomischen Ko- die Bereitschaft der BRD zum Einsatz eines Finan- zierungsvolumens von mindestens 8 – 10 Mrd. VM zu Vorzugsbedingungen im Zusammenhang mit po- 37 Gerhard Schürer, Plan und Ablauf [handschr. Notizen, o. D.], litischen Entscheidungen. Dieses Finanzierungsvolu- BArch, DE-1/56321. 38 Vgl. Egon Krenz, Rede auf der 9. Tagung des ZK der SED, men muß der DDR für einen langfristigen Zeitraum 18.10.1989, in: Beginn der Wende und Erneuerung [Hg. ZK 39 von mindestens 7 – 8 Jahren zur Verfügung stehen.« der SED], Berlin 1989, S. 22. Das Geld solle ausschließlich für die Errichtung bzw. 39 [Gerhard Schürer,] Vorschläge zur Ausarbeitung eines Pro- Erweiterung konkreter Objekte, also für die produk- gramms der ökonomischen Zusammenarbeit mit der BRD tive Akkumulation, eingesetzt werden. (1), BStU, MfS, HA XVIII Nr. 7880, Bl. 5 – 10. Dass Schürer Autor dieses Papiers ist, ergibt sich aus der Auflistung von Am 31. Oktober legte Gerhard Schürer dem SED- Fragen, die noch mit den übrigen, namentlich erwähnten Mitgliedern der Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz zu beraten Politbüro zusammen mit Alexander Schalck, Außen- seien. Außerdem weist die Type eindeutig auf die Schreib- handelsminister Gerhard Beil, Arno Donda, dem Lei- maschine seines Sekretariats hin. ter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik, 40 Erstmals dok.: DA 25 (1992) 10, S. 1112 – 1120. Vgl. Maria sowie Finanzminister Ernst Höfner eine »Analyse der Haendcke-Hoppe-Arndt, Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: DA 28 (1995) 6, S. 594 f. ökonomischen Lage der DDR mit Schlußfolgerungen« 40 41 Gerhard Schürer, Begründung zur Vorlage »Analyse der vor. Die wirtschaftliche Lage der DDR hatte sich so Lage […]«, Rede-Ms., Berlin 31.10.1989, S. 9, Privatarchiv zugespitzt, dass sie nach Ansicht der führenden Öko- d. Vf. © W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 486 Dokumentation

operation auf verschiedenen Ebenen tauchte die avi- der Demonstrationen bestimmen. Die Zielrichtung sierte Höhe der zu vereinbarenden Investitionskredite freilich war entgegengesetzt: Ging es den Demons- (8 – 10 Milliarden VM) als Zahl nicht auf; zusätzlich tranten um die Beseitigung des SED-Staates und die dagegen waren nun auch noch Verhandlungen über Herstellung der deutschen Einheit unter demokra- Finanzkredite in Höhe von 2 – 3 Milliarden VM vor- tischen Vorzeichen, so beabsichtigten die SED-Füh- gesehen. rung und die Staatssicherheit, ihre Herrschaft mit Bonner Hilfe für einen absehbaren Zeitraum zu sta- In ihrer Stellungnahme zu dieser Vorlage für den bilisieren. Der Fall der Mauer machte diese Absichten Stasi-Minister berief sich die HA XVIII auf die An- zunichte. »Das Volk«, so der nüchterne Kommentar sicht von Experten: Derzufolge seien die Schlussfol- Schalcks zehn Jahre später, »ist praktisch der Füh- gerungen der Analyse »der einzig gangbare Weg, um rung zuvorgekommen.«43 die vorhandene äußerst komplizierte wirtschaftliche Lage positiv zu beeinflussen.« – »Richtig« sei es, die Charakteristisch für die Ära Honecker insgesamt Zusammenarbeit mit der Sowjetunion auf eine neue war, dass mehr verbraucht als produziert wurde. In Stufe zu heben, »problematisch« dagegen, von der den 1970er-Jahren wurde diese Überkonsumtion vor- Bundesrepublik einen neuen Finanzkredit in Höhe nehmlich mit Hilfe von Krediten finanziert; eine von 2 – 3 Milliarden VM zu erhalten, der vermut- steigende Verschuldung im Westen war die Folge. lich erstens an die ökonomischen Bedingungen der In den 1980er-Jahren ging der Konsumsozialismus Kapitalverwertung geknüpft »und sicher mit Forde- überwiegend zu Lasten der Investitionstätigkeit und rungen nach weitergehenden Reformen in der DDR führte zum Zerfall des Kapitalstocks.44 Gegenüber verbunden« sein werde.42 Indirekt wurde jedoch zu der Verrottung ganzer Industriezweige und der In- verstehen gegeben, dass dies der anderenfalls erfor- frastruktur, dem baulichen Verfall der Städte und derlichen Absenkung des Lebensstandards um 25 – 30 Dörfer und gigantischen ökologischen Schäden und Prozent vorzuziehen sei. Die gleiche HA XVIII, die Entsorgungsproblemen erwies sich nach dem Ende gut sieben Jahre zuvor die DDR ökonomisch an die der DDR die für die SED-Führung schier unlösbare Sowjetunion angliedern und die Handelsbeziehungen Frage der Westverschuldung noch als das geringste zum Westen einfrieren wollte, wusste keinen anderen aller Probleme im vereinten Deutschland. Die Über- Rat mehr, als zu empfehlen, der Vorlage zuzustimmen windung des verheerenden ökonomischen Erbes der – und die DDR, im Falle erfolgreicher Verhandlungen, SED-Diktatur, der Aufbau wettbewerbsfähiger indus- in der letzten Konsequenz in einem bis dahin nicht trieller Strukturen und damit auch die Angleichung vorstellbaren Ausmaß in ökonomische und politische der Lebensverhältnisse in den alten und neuen Bun- Abhängigkeit zur Bundesrepublik zu bringen. desländern ist dagegen auch nach 20 Jahren noch nicht abgeschlossen. VII. Ausgerechnet der DDR-Staatssicherheitsdienst Als in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 zeigte in dieser Frage schon im Oktober 1989 Weit- die Mauer fiel, sah sich Hans Modrow als frischge- sicht. Am 27. Oktober 1989, vier Tage vor der Be- wählter Vorsitzender des Ministerrates der wichtigs- handlung von Schürers Krisenpapier im Politbüro, ten Verhandlungsmasse für Milliardenbeträge zur trafen sich die Bilanz- und Planexperten der Stasi zu ökonomischen Stabilisierung der DDR beraubt; mit dem Mauerdurchbruch hatte das Volk der Partei- und Staatsführung das letzte Faustpfand für gleichberech- 42 [HA XVIII,] Stellungnahme zur Vorlage für das Politbüro tigte Verhandlungen aus der Hand geschlagen. »Analyse der ökonomischen Lage […]«, Berlin 30.10.1989, BStU, MfS, Sekr. Mittig Nr. 151, Bl. 72 f. Mit ihrer geheimen Orientierung auf die Bundesre- 43 Gespräch d. Vf. m. Alexander Schalck, 7.5.1999. publik waren SED-Spitze und Staatssicherheit ihrem 44 Vgl. Günter Kusch u. a., Schlussbilanz – DDR. Fazit einer Volk voraus; der Ruf »Deutschland einig Vaterland« verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991, S. sollte erst ab der zweiten Novemberhälfte das Bild 18 ff.

Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 –495 MfS-HA XVIII: Grundfragen … der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 487 einer Lagebesprechung.45 Alfred Kleine, dem Schü- der Höhe von zwei jährlichen Nationaleinkommen!! rers Papier bereits vorlag, beklagte die zu niedrige Jeder von uns hat so viel ökonomische Kenntnisse, Arbeitsproduktivität, den Rückgang der produktiven um einschätzen zu können, daß die Überwindung Akkumulation und die hohe Verschleißquote der Aus- dieses Zustandes nicht in einem, nicht in zwei und rüstungen in Industrie und Landwirtschaft, das ka- auch nicht in fünf Jahren erfolgen kann, sondern einen tastrophal hohe Kostenniveau der Mikroelektronik, langen Zeitraum einnehmen wird. Schnelle Erfolge die hohen Arbeitsausfallzeiten und die ungenügende sind deshalb nicht zu erwarten.«46 Durchsetzung des Leistungsprinzips.

Um die Industrie zu modernisieren, so Kleine, be- 45 Vgl. zum Folgenden: Referat […] Alfred Kleine auf der Li- stehe ein dringender Investitionsbedarf von nicht we- nienberatung der HA XVIII am 27.10.1989, BStU, MfS, HA niger als 500 Milliarden Mark, was der Höhe von zwei XVIII Nr. 563, Bl. 5, dok.: Uwe Bastian, Auf zum letzten Ge- fecht. Dokumentation über Vorbereitungen des MfS auf den jährlichen Nationaleinkommen der DDR entspräche: Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft, 2. Fassung, Berlin »Ich möchte noch einmal wiederholen, der Investitions­ 1994. bedarf für die produktiven Grundfonds entspricht 46 Ebd., Bl. 11.

Dokumentation MfS-HA XVIII [Sicherung der Volkswirtschaft] Grundfragen des Standes der Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR im Zusammenhang mit der Gewährleistung der inneren Stabilität und Sicherheit der DDR, 25. Januar 1982 [Auszüge]

[Hauptabteilung XVIII] Berlin, 25. Januar 1982 ßern und konstruktive Unterstützung für die Lösung der Probleme zu erhalten. Bei der Verwirklichung der Beschlüsse der Partei auf […] ökonomischem Gebiet entstanden erhebliche Dis- Die Grundfrage der gegenwärtigen volkswirtschaft- proportionen, die im Zusammenhang mit der Außer- lichen Praxis ist, daß im Interesse der Zahlungsbilanz achtlassung gesamtvolkswirtschaftlich bilanzierter immer wieder kurzzeitige Lösungen durch taktische Führungsgrößen (Hauptkennziffern) und unter den Schritte in der Außenwirtschaft praktiziert werden, Bedingungen einer sich zunehmend verschlechtern- die weitere Belastungen mit sich bringen und in ihrer den Zahlungsbilanz gegenüber dem NSW [Nichtso- Langzeitwirkung schwer überschaubar sind. zialistisches Wirtschaftsgebiet] zu einer Gefährdung Es werden Feststellungen getroffen, daß zentrale der inneren Stabilität der DDR führten. Entscheidungen unzureichend objektiven Verflech- Patrioten und Wirtschaftskader, die als zuverlässige tungs- und Kooperationsbeziehungen Rechnung tra- und standhafte Genossen bekannt sind, wenden sich gen bzw. nicht ausreichend ausgewogen, gründlich zunehmend mit Besorgnis über die Entwicklung und durchdacht und auf ihre Konsequenzen hin beurteilt, mit Hinblick auf die Realisierbarkeit gestellter zentraler vorbereitet und gefaßt werden. Teilweise werden sol- volkswirtschaftlicher Aufgaben an das Ministerium für che Entscheidungsprozesse als »Aktionen« aufgefaßt, Staatssicherheit. wo einheitliche Standpunkte »herbeigeführt« und der Dabei ist erkennbar, daß sie anderweitig keine Mög- Parteiführung »Zusicherungen« gegeben werden, hin- lichkeit sehen, Bedenken an zentral vorgegeben Lei- ter denen man bereits zum Zeitpunkt ihrer Abgabe stungszielen, die sie selbst für unreal halten, zu äu- nicht stehen könne.

© W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 488 Dokumentation

Die Reduzierung der Erdöllieferungen aus der UdSSR Auf der Grundlage der durch die Patrioten und Wirt- von 19 Mio. t auf 17,081 Mio. t jährlich ab 1982 wurde schaftskader gegeben Informationen, Einschätzungen durch Entscheidungen im Interesse der Zahlungsbilanz und vorhandener Dokumente wird zu folgenden Pro- der DDR mit dem NSW in voller Höhe auf das Inland blemen Stellung genommen: verlagert. Das hat entscheidende Maßnahmen, wie 1. Die gegenwärtige Lage in der Volkswirtschaft der Kürzungen, Einsparungen und Substitutionen in der DDR und der sie bewirkenden inneren und äuße- Versorgung der Volkswirtschaft, anderer gesellschaft- ren Faktoren licher Bereiche und der Bevölkerung zur Folge […]. 2. Vorschläge zu kurzfristigen und längerfristigen Lö- Bei zentralen und wirtschaftsleitenden Organen sungen häufen sich zunehmend Eingaben von staatlichen Leitungen der Betriebe, in denen eindringlich auf den [1. Die gegenwärtige Lage …] Ernst der Situation in ihren Verantwortungsbereichen aufmerksam gemacht und auf eine zunehmende Un- 1. Die Vielzahl der insbesondere im Dezember 1981 zufriedenheit der Werktätigen hingewiesen wird. und Januar 1982 gefaßten Beschlüsse und getroffe- Ohne Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge nen Entscheidungen hat dazu geführt, daß daraus über die Verteilung und den Einsatz der sowjetischen resultierende volkswirtschaftliche Konsequenzen in Erdöllieferungen an die DDR entwickeln sich unwider- ihrer gegenwärtigen Verflechtung nicht berechnet sind, sprochen Auffassungen, daß der UdSSR die Schuld unterschiedliche ökonomische und statistische Zah- für die entstandene Lage anzulasten ist. lenwerte Grundlage für Entscheidungsvorschläge in Die mit dem Volkswirtschaftsplan 1982 überaus stark den zweigspezifischen staats- und wirtschaftsleitenden zunehmenden Exporte von Erdölverarbeitungsproduk- Organen bilden und damit kein zentraler Überblick über ten in das NSW sind eine Fortsetzung der Praxis, das die reale volkswirtschaftliche Lage und über die zur in den letzten Jahren steigende Bargelddefizit der DDR Veränderung notwendigen Maßnahmen besteht. gegenüber dem NSW durch steigende Exporte solcher Diese Aussage wird dadurch unterlegt, daß auch Erzeugnisse auszugleichen, die gegen Bargeld oder die Kombinate für das Jahr 1982 ihrer Verantwortung kurzfristige Zahlungsziele absetzbar sind. im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß nicht Die bis Ende 1981 eingetretene Situation in den fi- nachkommen können, da sie, ohne konkrete Fondsvor- nanziellen Belastungen der DDR gegenüber dem NSW gaben (Material, Investitionen), sich ständig ändernde veranlaßte die Parteiführung dazu, am 19.1.1982 im Leistungskennziffern erhalten, die nahezu ausschließ- Politbüro weitere bedeutende Maßnahmen zur Stei- lich von Entscheidungen zur Gewährleistung der Zah- gerung der NSW-Exporte, zur noch höheren Senkung lungsfähigkeit gegenüber dem NSW bestimmt sind. von NSW-Importen zu Lasten der Inlandsversorgung Die gegenwärtige Lage wird dadurch charakteri- der Volkswirtschaft, der Bevölkerungsversorgung und siert, daß der Landesverteidigung (u. a. Auslagerung strategisch - für die DDR die reale Gefahr des kurzfristigen Ein- bedeutsamer Bestände aus der Staatsreserve) zu be- tritts der Zahlungsunfähigkeit gegenüber dem NSW schließen. Diese Maßnahmen sind darauf gerichtet, gegeben ist; die im I. Quartal 1982 mögliche Gefahr der Zahlungs- - eine Gefährdung der inneren Stabilität der DDR unfähigkeit der DDR abzuwenden. durch Produktionseinschränkungen, Stillegung von Entsprechend dem Ernst der gegenwärtig einge- Anlagen, Frei- und Umsetzung von Arbeitskräften tretenen Lage wird für notwendig gehalten, auf der sowie eine Beeinträchtigung der Versorgung der Grundlage einer exakten Lageeinschätzung und Be- Bevölkerung eintreten kann; standsaufnahme, eine wissenschaftlich begründete, - die materiellen und finanziellen Reserven des Staa- strategische, taktische und organisatorische Konzepti- tes die Bewältigung möglicher Gefahrensituationen on zu erarbeiten, die auf der Basis der ökonomischen und Gefahrenzustände nicht mehr gewährleisten; Gesetzmäßigkeiten des Sozialismus und unter Anwen- - der Volkswirtschaftsplan 1982 materiell und finan- dung sozialistischer Leitungsprinzipien den gegenwär- ziell nicht bilanziert; tigen und zukünftigen Erfordernissen entspricht.

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- der Fünfjahrplan 1981 – 1985 in seiner Gesamtheit In den zurückliegenden Jahren wurde die Nicht- seine bilanzierende und steuernde Funktion für den erfüllung des NSW-Exportes und dadurch zeitweilig Fünfjahrplanzeitraum nicht mehr erfüllen kann. auftretende Zahlungsschwierigkeiten gegenüber dem NSW durch die Aufnahme von Krediten bei kapitalisti- 1.1. Die Zahlungsbilanz der DDR weist mit Stand vom schen Banken ausgeglichen. 1.1.1982 gegenüber dem NSW einen Saldo aus Forde- Auf Grund der objektiv eingetretenen Zahlungsun- rungen und Verbindlichkeiten in Höhe von minus 30,5 fähigkeit der VR Polen und der SR Rumänien gegen- Mrd. VM [Valutamark] aus (Interne Berechnungen des über dem NSW und in Kenntnis der ökonomischen Ministeriums der Finanzen). und finanziellen Lage in der DDR ist seit Mitte 1981 Im I. Quartal 1982 resultiert daraus ein Schulden- festzustellen und seit November 1981 feststehend, daß dienst (Kredittilgungen und Zinszahlungen) in Höhe kapitalistische Banken die Ausreichung von Krediten von 5,3 Mrd. VM. an die DDR boykottieren bzw. verweigern. Der Volkswirtschaftsplan 1982 beinhaltet bei voller Im Ergebnis am 8. und 11.1.82 in der Wirtschafts- Erfüllung der Leistungsziele in den Außenwirtschafts- kommission beim Politbüro des ZK der SED an die beziehungen mit dem NSW ein ungelöstes Bargeld- Industrieminister erteilten Auflagen zur materiellen defizit von 1,5 Mrd. VM, davon im I. Quartal 1982 250 Untersetzung des NSW-Exportplanes sowie zur Re- Mio. VM. duzierung des NSW-Importes um 1,0 Mrd. VM (Be- Diese 250 Mio. VM wurden Anfang 1982 durch Son- schluß Politbüro vom 19.1.82) sind einschneidende dermaßnahmen gelöst. Maßnahmen in Industrie, Bauwesen und Landwirt- Aus der Nichterfüllung des NSW-Exportplanes 1981 schaft unausbleiblich. in Höhe von 2,1 Mrd. VM und dem schlechten NSW- Diese tiefgreifenden Folgen und die Differenzstand- Exportplananlauf zu Beginn des Jahres 1982 ergibt punkte der Minister zu den erteilten Auflagen sind in sich ein erneutes Bargelddefizit in Höhe von 700 Mio. den eingereichten Beschlußvorlagen vom 19.1.82 nicht VM für Ende Januar 1982. enthalten. Gemäß Beschluß des Politbüros vom 19.1.1982 soll Damit wird der Eindruck der Lösbarkeit der Proble- dieses Defizit durch außergewöhnliche Maßnahmen me aus eigener Kraft vermittelt. (Verkauf von strategischen Beständen der Staatsre- serve, zusätzlichen Warenexporten und dem Einsatz 1.2. Die Auswirkungen solcher Maßnahmen auf die von Depositen kapitalistischer Banken bei der Deut- Stabilität der Produktion, die Arbeitskräfte und die schen Außenhandelsbank) gelöst werden. Versorgung der Bevölkerung sind zum gegenwärtigen Am 6.1.1982 wies die Vorschau der Fachminister Zeitpunkt noch nicht voll überschaubar […]. gegenüber der Staatlichen Zentralverwaltung für - Vom Volkswirtschaftsplan 1982 ausgehend sind Statistik eine Nichterfüllung des NSW-Exportes per gegenwärtig 1,2 Mrd. M an Waren für die Bevölke- 28.2.1982 in Höhe von 723 Mio. VM aus. Dazu kommt, rungsversorgung noch nicht gesichert. daß die Vertragsbindung für das I. Quartal 1982 im Durch weitere Eingriffe in den Versorgungsfonds NSW-Export zu diesem Zeitpunkt 48 % betrug und zur kurzfristigen Mobilisierung von Waren für den für 442 Mio. VM noch keine exportfähige Ware in den NSW-Export erhöhen sich die Unsicherheiten im Plänen nachgewiesen war. Das entspricht einer feh- Warenfonds für die Bevölkerungsversorgung. lenden industriellen Warenproduktion von ca. 1.8 Mrd. Für das 1. Halbjahr 1982 betreffen diese zusätz- M[ark der DDR]. lichen Warenbereitstellungen für NSW-Exporte: Auch unter der Voraussetzung, daß diese Probleme 2 kt Waschmittel, 800 000 Stück Untertrikotagen, im I. Quartal 1982 gelöst werden, wird eine weitere 351 000 Stück Fahrradreifen, 68.500 Stück Kühl- Verschärfung der Lage eintreten, weil außer dem im schränke, 60 Mio. M Möbel, nahezu die gesamte Plan enthaltenen Bargelddefizit die Erfüllung des NSW- Produktion von Motorrädern, 10 000 Stück Fahrräder, Exportplanes 1982 materiell nicht gesichert ist. 500 000 Stück Arbeitsschutz- und Hygienebeklei- […] dung, 100 t Handstrickgarn u. a.

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Bei dem Eingriff in den Warenfonds für die Bevöl- tiefen diese im Fünfjahrplan 1981 – 1985 enthaltenen kerungsversorgung zugunsten des NSW-Exportes Disproportionen weiter. handelt es sich vorrangig um solche Erzeugnisse, Es war deshalb nicht möglich, den Kombinaten ei- bei denen bereits 1981 der Bevölkerungsbedarf in nen verbindlichen Fünfjahrplan 1981 – 1985 zu über- voller Höhe nicht abgedeckt werden konnte. geben. […] Für den Fünfjahrplan 1981 – 1985 wurde durch das Politbüro des ZK der SED im August 1981 die Auf- 1.3. Die Beherrschung möglicher Gefahrensituatio­ gabe gestellt, die Halbierung des Saldos aus Forde- nen und Gefährdungszustände besonders durch eine rungen und Verbindlichkeiten gegenüber dem NSW zuverlässige Verfügbarkeit bedeutender Fonds der zu erreichen. Das bedeutete zum Zeitpunkt der Be- Staatsreserve ist unter den gegenwärtigen Bedingun- schlußfassung eine Reduzierung auf 12,6 Mrd. VM gen nicht mehr gewährleistet. Die Staatsreserve B (Pro- im Jahre 1985. duktionsreserve) wurde im Jahre 1981 bei folgenden Auf persönliche Initiative des Generalsekretärs des ausgewählten Produkten aufgelöst: Kupfer, Blei, Zink, ZK der SED wurden für den Fünfjahrplanzeitraum um- Zinn, Antimon, Nickel, Silizium, Wofatoxkonzentrat, fangreiche finanzielle Mittel aus Sonderdeviseneinnah- Zucker, Naturkautschuk. men des Staates zur Beseitigung des ausgewiesenen Bei nachfolgenden Positionen war bereits zu Beginn Bargelddefizits bereitgestellt. des Planjahres 1981 kein Bestand mehr vorhanden: Bei konsequenter Verwirklichung der Grundlinie Baumwolle, Fleisch, Roggen, Ölfrüchte. zur Halbierung des Saldos aus Forderungen und Ver- Der Gesamtwert der 1981 aus der Staatsreserve B bindlichkeiten bis zum Jahre 1985 ist für den Zeitraum abverfügten Erzeugnisse, für die keine Wiedereinla- 1983 – 1985 eine ausgeglichene Bargeldbilanz vor- gerung vorgesehen ist, beträgt 161,6 Mio. M. gesehen. Die Staatsreserve A (Katastrophenfälle, Spannungs- Die Belastungen aus dem Schuldendienst, die im perioden, Verteidigungszustand) wurde 1981 im star- Jahre 1980 120 % der NSW-Exporteinnahmen betru- ken Maße für den NSW-Export beansprucht. Der Ge- gen, sollen bis 1985 auf 90 % reduziert werden. samtwert der Auslagerungen, für den keine Wiederein- Tatsächlich trat aber 1981 ein Schuldendienst in lagerung vorgesehen ist, beträgt 239 Mio. M. […] Höhe von 160 % der Einnahmen aus dem NSW-Ex- 1.4. Aus den Erfahrungen der Plandurchführung 1981, port ein. die u. a. gekennzeichnet war durch eine Unterfüllung Für die Beurteilung der inneren Lage ist bedeutsam, des NSW-Exportes um 2,1 Mrd. M und einer Redu- daß der politisch-moralische und administrative Druck zierung der ursprünglichen Staatlichen Planauflage auf wertvolle und bewährte Leitungskader der Partei, der industriellen Warenproduktion um 4,222 Mrd. M, des Staates und der Wirtschaft verschärft wird, so machen die Minister bei der Erarbeitung des Volks- daß mit einem weiteren Vertrauensabfall, Gleichgül- wirtschaftsplanes 1982 wiederholt auf außerordentlich tigkeit und Resignation bei diesen Kadern gerechnet große Differenzen in Bezug auf das mögliche Wirt- werden muß. schaftswachstum und der Konzeption der Staatlichen Immer mehr tritt an die Stelle konstruktiver gemein- Plankommission aufmerksam. samer komplexer Lösungen das Ressortdenken, wo- […] durch die ökonomische Lage weiter verschärft und Unmittelbar vor der Beschlußfassung über die Direk- noch mehr kompliziert wird. tive zum Fünfjahrplan 1981 – 1985 auf dem X. Parteitag Auf Grund der eigenen Erfahrungen und Erkenntnis- war nach Beratung mit den Industrieministern ein Ar- se der Arbeiterklasse im täglichen Produktionsprozeß beitsstand erreicht, der beim verteilbaren Endprodukt wird für sie die einseitige Darstellung von Erfolgen und ein Defizit von 30 Mrd. M enthielt. einer konfliktlosen Entwicklung unserer Volkswirtschaft […] in der Wirtschaftspropaganda zunehmend unglaub- Die Erfüllung des Volkswirtschaftsplanes 1981 und haft und führt zum Zweifel am Wahrheitsgehalt in der der nicht bilanzierte Volkswirtschaftsplan 1982 ver- Berichterstattung sowie an der realen Möglichkeit zur Lösung der Probleme.

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1.5. Die derzeitig eingetretene Lage in der Volkswirt- -- Am 20.8.1981 wurde der Generalsekretär des ZK schaft der DDR wurde durch innere, objektive und der SED durch den Sekretär für Wirtschaft des ZK subjektive Faktoren und äußere Einflüsse auf die Volks- [Günter Mittag] schriftlich informiert, daß sich die wirtschaft hervorgerufen. Industrieminister verpflichten, den NSW-Exportplan Die im Inneren wirkenden Faktoren werden als die 1981 bis auf eine Differenzsumme von 120 Mio. VM entscheidenden Ursachen eingeschätzt. zu erfüllen. Dabei ist der gegenwärtige Zustand der Zahlungs- Diese Zusicherung wurde gegeben, obwohl zum bilanz nur eine Wiederspiegelung der tatsächlichen gleichen Zeitpunkt der Stand der Planerfüllung im Lage in der Sphäre der materiellen Produktion. NSW-Export noch fehlende Verträge in Höhe von - Zur Umsetzung der Beschlüsse der Parteitage und 2,2 Mrd. VM auswies. des Programms der SED wurden seit 1971 Volkswirt- […] schaftspläne ausgearbeitet, die in ihrer Gesamtheit -- Mit der vom Vorsitzenden der Staatlichen Plan- nicht bilanzierten, und als Folge mehr Nationalein- kommission [Gerhard Schürer] in der Politbüro­ kommen verbraucht als selbst produziert wurde. sitzung am 3.11.1981 getroffenen Aussage: »der Allein aus dem NSW wurden im Zeitraum 1971 – 1980 Ausfall von sowjetischem Erdöl entspricht 5,5 Mrd. zu effektiven Preisen Waren im Werte von 25,1 Mrd. VM ohne Zinsen und 6 – 7 Mrd. VM mit Zinsen. Wie VM mehr importiert als in das NSW exportiert wur- bereits angesprochen, berührt das Grundpfeiler der den. Existenz der DDR«, wurde der Eindruck erweckt, Das sind Endprodukte im Werte von über 50 Mrd. M, daß die Reduzierung der Erdöllieferung der UdSSR die für die Akkumulation und Konsumtion zusätzlich auf 17 Mio. t jährlich die Hauptursache für die Lage zu dem durch die materielle Produktion geschaffe- in der Volkswirtschaft ist. nen Produkt zugeführt wurden. Tatsächlich erfordert die Eigenversorgung der Volks- Aus dem SW [Sozialistisches Wirtschaftsgebiet] wirtschaft der DDR eine Erdölmenge von 15 Mio. wurden 1971 – 1980 zu effektiven Preisen im Werte t/a[nnum]. von 3,9 Mrd. M VGW [Valutagegenwert] Waren mehr […] importiert, als durch Exporte abgedeckt wurden. Aus 2,0 Mio. t sowjetischem Erdöl werden in der DDR Während 1971 – 1975 noch ein Exportüberschuß im Erdölprodukte gewonnen, mit denen im NSW-Export SW im Werte von 3,3 Mrd. M VGW bestand, entwic- zu gegenwärtigen Preisen ein Valutaerlös von ca. kelte sich im Zeitraum von 1976 – 1980 ein Impor- 900 Mio. VM erzielt werden kann. Dem Politbüro tüberschuß von rd. 7,2 Mrd. M VGW. […] hätte also als Folge der Reduzierung der Erdöl- Diese Entwicklung konnte eintreten, weil die leitenden lieferung ein Ausfall von maximal 3,6 Mrd. VM im Parteiorgane bei der Vorlage von Beschlußentwürfen Fünfjahrplanzeitraum genannt werden dürfen. über einen langen Zeitraum hinsichtlich der realen Dabei wurde weiterhin nicht gesagt, daß die Welt- Lage in der Volkswirtschaft und ihres tatsächlichen marktpreise für Vergaserkraftstoff (VK), Dieselkraft- ökonomischen Leistungsvermögens desinformiert stoff (DK) und Heizöl derzeit eine sinkende Tendenz und die ökonomischen Auswirkungen und Konse- aufweisen, zunehmend Absatzschwierigkeiten im quenzen der zu fassenden Beschlüsse einschließlich NSW entstehen und mit erheblich niedrigeren Va- der wachsenden äußeren Verschuldung der DDR luta-Einnahmen gerechnet werden muß. nicht oder nur unzureichend dargestellt wurden. - Eine weitere Komplizierung der angespannten La- Die getroffenen Feststellungen sind durch eine Viel- ge trat ein, weil die Staatliche Plankommission ih- zahl von Dokumenten unterlegt. ren Berechnungen für den Fünfjahrplanzeitraum - Unter Berücksichtigung der besonders seit August 1981 – 85 Kreditgewährungen seitens der UdSSR 1981 eingetretenen Situation wird für erforderlich in Höhe von 1,5 Mrd. Mark VGW zugrundelegte, für gehalten, auf Desinformationen an die Parteiführung die es von sowjetischer Seite keine verbindlichen zu verweisen, die die reale Lage verschleierten und Zusagen gab. […] fiktive Lösungsvorschläge enthielten. - Informationen an die leitenden Parteiorgane über […] ökonomische Effekte auf den Gebieten der Anwen-

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dung der Robotertechnik entsprechen ebenfalls So wurde z. B. durch die zentral gefaßten Beschlüsse nicht den Tatsachen. […] zur besseren Leistungsbewertung das vergleichbare Produktionsvolumen des Fünfjahrplanes 1976 – 1980 1.6. Ein Grundproblem besteht nach wie vor darin, um rund 20 Mrd. M höher ausgewiesen. Damit wird daß zur zentralen Leitung der Volkswirtschaft neben in diesen fünf Jahren wertmäßig ein Produkt, das dem Ministerrat und seinen Organen in Form der Wirt- einem Jahresproduktionszuwachs der Volkswirt- schaftskommission und der Arbeitsgruppe Zahlungsbi- schaft entspricht, alleine über Preise geschaffen. lanz beim ZK ein zweites Leitungssystem existiert. Fra- Ein höheres Endprodukt stand damit zur Verteilung gen, die der Ministerrat zu entscheiden hat, werden auf nicht zur Verfügung. diese Art und Weise verbindlich »vorentschieden«. In der Planung und Abrechnung auf der Ebene der Dadurch ist der Ministerrat im Hinblick auf die Lei- Kombinate und Betriebe bestehen damit umfangreiche tung, Planung und Organisation der Volkswirtschaft Möglichkeiten zur Manipulation. nicht aktionsfähig. Die Überbetonung der wertmäßigen Planerfüllung Er vollzieht die in der Wirtschaftskommission und innerhalb der Leitung und Planung der Volkswirtschaft der Arbeitsgruppe Zahlungsbilanz getroffenen Fest- hemmt auch den auf die Entwicklung und Überfüh- legungen als juristischen Akt nach. rung neuer Erzeugnisse in die Produktion gerichteten Stärker als je zuvor sind Leitung, Planung und Or- wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Zugunsten ganisation der Volkswirtschaft von der unmittelbaren der sicheren Erfüllung des Planes der industriellen Einflußnahme des Sekretärs für Wirtschaft des ZK Warenproduktion mit eingespielten Kooperationsbe- abhängig. ziehungen verzichten viele Leiter auf die Einführung Die Planmäßigkeit der Lösung der Aufgaben in den neuer Erzeugnisse, Verfahren und Technologien. Das Außenwirtschaftsbeziehungen wurde nicht zuletzt unter damit verbundene Risiko, den Plan der industriellen den Bedingungen des aus der Zahlungsbilanz heraus Warenproduktion für einen bestimmten Zeitraum nicht entstandenen Zwangs zum Handeln untergraben. zu erfüllen, wird nicht eingegangen. Die Folge davon Bei nicht wenigen Wirtschaftsfunktionären verstärkt ist die Beibehaltung der Produktion von im In- und sich die Auffassung, daß nur mit Hilfe außerplanmä- Ausland schlecht absetzbaren Erzeugnissen. ßiger Produktions- und Absatzkonstruktionen den ge- stellten Anforderungen in der Erbringung ihres Anteiles 1.7. Die große Abhängigkeit der Volkswirtschaft der am volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß Rech- DDR von den Außenwirtschaftsbeziehungen mit dem nung getragen werden kann. NSW und der hohe Grad der Verschuldung bei kapita- Diese außerplanmäßigen Konstruktionen sind so- listischen Banken hatte zur Folge, daß die Aufwertung zusagen Hilfe in der letzten Not. Sie sind geradezu des US-Dollars und die Hochzinspolitik der USA, der objektive Größen geworden. sich die führenden kapitalistischen Länder anschlie- Es muß deshalb alles getan werden, um den sozia- ßen mußten, äußerst negative Auswirkungen für die listischen Planungsmechanismus zu erhalten. Volkswirtschaft der DDR hatten. - Ein weiteres Grundproblem der gegenwärtigen Lei- - Die Zahlungsbilanz der DDR, die am 1.1.1981 einen tung und Planung der Volkswirtschaft zeigt sich darin, Saldo aus Forderungen und Verbindlichkeiten von daß vorwiegend beginnend mit den zentralen Plan- 24,5 Mrd. VM auf der Grundlage des Dollarkurses vorgaben auf die wertmäßige Erhöhung der Leistun- 1 : 1,80 VM auswies, verschlechterte sich per 1.1.1982 gen orientiert wird und damit von vornherein unreale, auf einen Saldo aus Forderungen und Verbindlich- durch echten materiellen Leistungszuwachs nicht keiten in Höhe von 30,5 Mrd. VM, wovon allein 4,85 erfüllbare Planziele den Kombinaten und Betrieben Mrd. VM auf den veränderten Dollarkurs von 1 : 2,40 gestellt werden. Damit wird gewollt die Möglichkeit VM zurückzuführen sind. geschaffen, auf zentraler und betrieblicher Ebe- - Neben bedeutenden Importausfällen aus der VR Po- ne ein Leistungswachstum auszuweisen, welches len gewährte die DDR unentgeltliche Hilfe in Höhe durch verfügbares Endprodukt nicht belegt werden von 250 Mio. DM; lieferte Versorgungs- und Hilfs- kann. güter in Höhe von 550 Mio. M.

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- Die von der DDR zunehmend erweiterten Handels- Der Anteil des Exports von Rohstoffen und Halbfa- und Wirtschaftsbeziehungen mit kapitalistischen brikaten in das NSW nimmt zu. Industrieländern führten im zunehmenden Maße -- Während 1980 noch mehr als 40 % des NSW-Ex- dazu, daß die Wirtschaftsmechanismen des kapi- portes durch Erzeugnisse des Maschinenbaus und talistischen Marktes Einfluß auf den volkswirtschaft- industrielle Konsumgüter abgedeckt wurde, verrin- lichen Reproduktionsprozeß gewannen, sich Ab- gerte sich dieser Anteil 1981 auf 34 %. hängigkeiten herausbildeten, die zu ökonomischen Dem Fünfjahrplan 1981 – 1985 liegt ein jährlicher Verlusten für die DDR führten, die sich nicht zuletzt Rohstoffzuwachs von 0,5 % zugrunde. in dem erreichten hohen Grad der Verschuldung der Demgegenüber steigt der Export von Rohstoffen DDR gegenüber dem NSW ausdrücken. und Halbfabrikaten in das NSW weiter an. -- Zur Refinanzierung der 1976 bis 1980 realisierten Dabei ist weiter zu berücksichtigen, daß der Export Kompensationsvorhaben und der in dem im Novem- der DDR von Erzeugnissen des Maschinenbaus ber 1981 beschlossenen Fünfjahrplan enthaltenen bei kapitalistischen Industrieländern nur 9,4 % und weiteren Kompensationsvorhaben für 1981 – 1985 bei der BRD/WB 7,0 % des Gesamtexports in diese sind einschließlich Zinszahlungen bis zum Jahre Länder beträgt. 1985 rd. 10 Mrd. VM erforderlich. Das bedeutet, daß sich die DDR gegenwärtig in der […] Position eines Rohstofflieferanten für diese Länder - Die Linie der Kompensation soll trotzdem weiterge- befindet, während die chemische Industrie der DDR führt werden, wird aber im zunehmenden Maße als bei Zwischenprodukten und der Maschinenbau so- Sondergeschäfte im Zusammenhang mit dem Be- wie die Elektrotechnik/Elektronik bei Beistellungen reich Kommerzielle Koordinierung ausgewiesen. hochgradig von Importen aus diesen Ländern ab- -- So wurde am 6.1.1982 im Sekretariat des ZK und hängig sind. am 13.1.82 im Präsidium des Ministerrates beschlos- sen, als Sondergeschäfte für 115 Mio. VM Ausrüstun- [2. Vorschläge …] gen aus dem NSW über den Bereich Kommerzielle Koordinierung zur Entwicklung und Produktion von 2. In den dem Ministerium für Staatssicherheit über- Erzeugnissen der Audio- und Videotechnik zu im- mittelten Vorstellungen besteht völlige Übereinstim- portieren. mung darin, daß es unumgänglich geworden ist, die Dieser Verfahrensweg wurde gewählt, nachdem entstandene Lage und Wege zu ihrer Überwindung auf durch die Staatliche Plankommission erklärt worden höchster Ebene unverzüglich mit der UdSSR vorbehalt- war, daß ein Planimport für die Volkswirtschaft der los und offen zu beraten, eine gemeinsame qualitativ DDR ökonomisch nicht effektiv und in den Bilanzen völlig neue Außenwirtschaftspolitik zu vereinbaren nicht einordenbar ist. Ertragskennziffern zur Refi- und damit Voraussetzungen für eine stabile innere nanzierung waren nicht nachgewiesen. Entwicklung und die notwendige Handlungsfähigkeit Dieses und weitere sechs beabsichtigte Sonderge- gegenüber dem NSW zu schaffen. schäfte, die kurzfristig (Leipziger Frühjahrsmesse Unter Leitung des Generalsekretärs des ZK der SED 1982) abgeschlossen werden sollen, verschärfen sollte ein Kreis ausgewählter Genossen aus zentra- die Lage in der Zahlungsbilanz, da bereits 1982 be- len wirtschaftsleitenden Organen eine Aufnahme des ginnend Zahlungen in der Regel in Höhe von 15 % Standes der realen Lage der Volkswirtschaft der DDR des Anlagenwertes in bar (konvertierbare Devisen) vornehmen und entsprechende kurzfristige und länger- erforderlich werden. fristige Lösungswege erarbeiten, wobei die Zahlungs- - Die zeitweilige Zuführung von verteilbarem Produkt fähigkeit der DDR gegenüber dem NSW durchgängig (Akkumulation) für die Volkswirtschaft der DDR aus gewährleistet bleiben muß. Kompensation wird 1982 beendet, und ab 1983 tritt Es muß davon ausgegangen werden, daß die DDR durch die Refinanzierungsverpflichtungen ein be- aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage ist, mit öko- deutender Abzug vom Nationaleinkommen ein. nomischen Mitteln eine grundlegende Veränderung der eingetretenen Situation herbeizuführen und die

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Probleme der Zahlungsbilanz mit dem NSW dauer- - Zeitweilige Aussetzung einer Reihe von Investi­ haft zu lösen. tionsvorhaben und Export der dafür vorgesehenen Ausrüstungen bzw. Verzicht auf dafür vorgesehene 2.1. Der Partei- und Staatsführung der UdSSR sollte im Ausrüstungsimporte (mit Ausnahme der Rationali- Interesse kurzfristiger Lösungen folgender Vorschlag sierungsinvestitionen); unterbreitet werden: - Einstellung aller Verhandlungen zum Neuabschluß Die Partei- und Staatsführung der DDR bekräftigt von Kompensationsgeschäften und aller anderen ihre Entschlossenheit, ihre Zahlungsbilanz gegen- außerplanmäßigen Anlagen- und Ausrüstungsim- über dem NSW auf maximal 12 Mrd. VM saldierte porte; Verbindlichkeiten zu reduzieren. Der zur Lösung die- - Reduzierung des Berlin-Programms um die aus den ser Aufgabe erforderliche Exportüberschuß im NSW Bezirken zugeführten Kapazitäten; wird für Warenlieferungen in die UdSSR eingesetzt. - Reduzierung der Heizölablösung in der DDR auf das Dafür übernimmt die UdSSR sofort Verbindlichkeiten Maß, wie durch tiefere Spaltung des Erdöls weniger der DDR bei kapitalistischen Banken in Höhe von ca. Heizöl zur Verfügung steht. Die vorgesehenen NSW- 20 Mrd. VM (Dollarbasis 2,40 VM). Ausrüstungsimporte für die Umstellung in Höhe von Auf der Grundlage real bilanzierter Pläne könnten ca. 100 Mio. VM werden nicht durchgeführt; die dafür erforderlichen Waren aus dem geplanten - Der Volkswirtschaft wird Bitumen in dem Umfang Exportüberschuß der DDR bis Ende 1987 geliefert zur Verfügung gestellt, wie es die Instandhaltung werden und hätten einschließlich Zinsen einen Wert- der Straßen erfordert; umfang von ca. 30 Mrd. VM. - In gleicher Größe wie 1981 Vergaserkraftstoff-Bereit- Struktur und Umfang der zu liefernden Waren sollten stellung für die Bevölkerung der DDR mit dem Ziel es der UdSSR ermöglichen, in einem möglichst hohen der Freisetzung von Vergaserkraftstoff zum Einsatz Maße selbst NSW-Importe abzulösen (ökonomische in der Volkswirtschaft; Überlegungen dazu Anlage 1). - Reduzierung der Futtermittelimporte aus dem NSW 2.2. Um gegenüber der UdSSR die eigenen Anstren- und Reduzierung der Tierbestände auf das erfor- gungen zur Überwindung der derzeitigen Lage sichtbar derliche Maß; zu machen und ihr Interesse an der gemeinsamen Rea- - Wiederherstellung einer stabilen Staatsreserve; lisierung des prinzipiellen Vorschlages zu erreichen, - Gewährleistung der Versorgung der in der DDR sollten der Führung der UdSSR weitere Maßnahmen stationierten sowjetischen Streitkräfte, der bewaff- genannt werden, mit deren Verwirklichung die DDR neten Kräfte der DDR und des notwendigen Ver- kurzfristig eine entscheidende Veränderung der Si- teidigungsbeitrages der DDR im Rahmen der War- tuation herbeiführen will. schauer Vertragsstaaten; Solche Maßnahmen müßten sein: - konsequente Durchsetzung des sozialistischen - Einstellung des Systems der Leitung und Planung Sparsamkeitsprinzips in allen gesellschaftlichen der Volkswirtschaft der DDR auf die eingetretenen Bereichen und Ebenen. Einschränkung des mate- Veränderungen in der Lage der Volkswirtschaft; riellen und finanziellen Aufwandes für die gesell- - Konzentration aller Valutafonds des Staates unter schaftliche und staatliche Repräsentation; einer Verfügungsgewalt. NSW-Importe werden nur - die wirtschaftspolitische Propaganda der Partei muß noch zur materiellen Sicherung der Produktion und den realen ökonomischen Gegebenheiten und den der Befriedigung des Grundbedarfes der Bevölke- Erfahrungen und Erkenntnissen der Arbeiterklas- rung durchgeführt. Der Import von Erzeugnissen se im täglichen Arbeitsprozeß Rechnung tragen. für den Exquisit- und Delikathandel einschließlich Sie muß ausgerichtet sein auf die Erhöhung der hochwertiger industrieller Konsumgüter aus dem Leistungsbereitschaft der Werktätigen zur Lösung NSW ist zu überprüfen, mit dem Ziel unter Nutzung glaubhafter und realer ökonomischer Aufgaben und der Potenzen der eigenen Produktion bzw. der Ge- auf tatsächlich erreichten Ergebnissen aufbauen; stattungsproduktion ausreichend zu versorgen; Die Erhöhung der Arbeitsmoral, der Disziplinierung aller gesellschaftlichen Prozesse, besonders der

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Arbeitsprozesse, ist die wichtigste Voraussetzung -- Umfang, Intensität und Effektivität der Außenwirt- zur Lösung der oben gestellten Aufgaben. Dazu ist schaftsbeziehungen; Grad der Abhängigkeit der die umfassende Anwendung und Durchsetzung des Volkswirtschaft vom NSW; sozialistischen Arbeitsrechts unumgänglich. -- volkswirtschaftliche Disproportionen. Die vorgeschlagenen kurzfristigen Lösungen sind - Es ist eine strukturpolitische Konzeption für die Ent- nicht geeignet, die für die DDR objektiv eintretenden wicklung der Volkswirtschaft der DDR über den Zeit- Verluste und Schäden vollständig auszugleichen. raum von mehreren Fünfjahrplänen zu erarbeiten, Ökonomische Nachteile müssen vorübergehend in die die volle Einhaltung der gegenüber der UdSSR Kauf genommen werden wie der Verlust von Markt- eingegangenen Verpflichtungen und die weitere positionen im NSW; Probleme, die mit der Änderung Vertiefung der sozialistischen ökonomischen Inte- des Produktionsprofils, der Struktur und des Arbeits- gration garantiert. (Überlegungen zu einer struktur- kräfteeinsatzes zusammenhängen; Verringerung des politischen Konzeption: Anlage 2) Tempos des weiteren Aufbaus der Hauptstadt der DDR; - Die Durchsetzung der vollen Verantwortlichkeit und Versorgungseinschränkungen in ausgewählten Berei- Funktionsfähigkeit des Ministerrates und seiner Or- chen; zeitweiliges Ansteigen unvollendeter Investitio- gane bei der einheitlichen Leitung, Planung und nen; Einschränkungen bei der materiellen Unterlegung Organisation der Volkswirtschaft erfordert, das Lei- der Politik der friedlichen Koexistenz gegenüber kapi- tungs- und ökonomische Kennziffernsystem auf die talistischen Industrieländern infolge der Reduzierung Verwirklichung der strukturpolitischen Konzeption des Imports von Industrieanlagen. zu richten. (Überlegungen dazu Anlage 3) - Auf dem Gebiet der medizinischen Versorgung und 2.3. Die Realisierung der kurzfristigen Lösungsvor- Betreuung der Bevölkerung wird empfohlen, durch schläge soll die notwendigen Voraussetzungen und Stärkung der Leistungskraft der Arzneimittelindu- die Zeit bringen, um auf der Grundlage exakter Unter- strie, des medizinischen Gerätebaus und des dafür suchungen durch Expertengruppen die Realisierung erforderlichen Anteils des Bauwesens die beste- der nachfolgenden langfristigen Lösungsvorschläge henden Mängel in der materiellen Sicherstellung zur Stabilisierung der Volkswirtschaft der DDR vor- zu überwinden. zubereiten. Unter der Voraussetzung der Zustimmung obenge- nannter Lösungen sind die dem entgegenstehenden Anlage 1: Ökonomische Überlegungen zur qualitativen Beschlüsse zu überprüfen. Veränderung der außenwirtschaftlichen Beziehun- - Es ist als Voraussetzung für alle nachfolgenden Maß- gen mit der UdSSR [BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4693, nahmen eine weitergehende Bestandsaufnahme Bl. 91 f] des volkswirtschaftlichen Zustandes und der realen Anlage 2: Überlegungen für die Erarbeitung einer struk- volkswirtschaftlichen Potenzen und Möglichkeiten turpolitischen Konzeption [ebd., Bl. 93 – 95] durchzuführen. Diese Bestandsaufnahme muß min- destens umfassen: Anlage 3: Überlegungen zur weiteren Qualifizierung -- Umfang und Struktur der für die künftige Entwick- der Tätigkeit des Ministerrates und seiner Organe [ebd., lung der Volkswirtschaft real zur Verfügung stehen- Bl. 96 – 98] den Ressourcen. Gegenwärtige Nutzung des ge- sellschaftlichen Arbeitsvermögens; Quelle: BStU, MfS, HA XVIII Nr. 4693, Bl. 63 – 90 -- real erreichter Stand der Wirksamkeit der Wis- (Hervorhebungen im Original). senschaft und Technik;

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