Dokumentation Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? Stasi-Analysen zum ökonomischen Niedergang der DDR Hans-Hermann Hertle, Potsdam I. fähigkeit und einer im Vergleich zum Westen erheb- lich niedrigeren Arbeitsproduktivität war.2 Seit 1978 Im Laufe des Jahres 1982 griff unter den führenden steckte die DDR in der Schuldenfalle: Fällige Kre- SED-Wirtschaftsfunktionären die Furcht vor dem dro- dite und Zinsen mussten durch die Aufnahme neuer henden wirtschaftlichen Zusammenbruch der DDR Kredite finanziert werden. Die Zahlungsfähigkeit der um sich. Zentrale Arbeitsgruppen des Politbüros und DDR hing von der Bereitschaft westlicher Banken ab, des Ministerrates unter dem Vorsitz von ZK-Wirt- der SED neue Kredite zu gewähren. Aus Furcht vor schaftssekretär Günter Mittag und Planungs-Chef Protesten und inneren Unruhen lehnte das Politbü- Gerhard Schürer standen im »täglichen Kampf um die ro 1979 zunächst durchgreifende Preiserhöhungen, Gewährleistung der Zahlungsfähigkeit« (Schürer). dann auch eine Umschichtung von Investitionen zu- Ohne Rücksicht auf die Wirtschaftlichkeit der Ge- gunsten des produktiven Bereiches ab. Rückläufige schäfte und überwiegend zu Lasten der inländischen Investitionsquoten, unterlassene wirtschaftliche An- Versorgung wurden zusätzlich Rohstoffe und Kon- passungsmaßnahmen, steigende Zinsen für die West- sumgüter wie Erdölprodukte und chemische Erzeug- Schulden, ein Kreditstopp des Westens, der auf die nisse, Stickstoff und Kali, Eier und Zement, Möbel, Zahlungsschwierigkeiten Rumäniens und Polens und Haushalts- und Industrienähmaschinen, Mähdrescher, die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. De- Gasherde und Fahrräder, Fleisch und Düngemittel, zember 1981 folgte, und die Kürzung sowjetischer Butter und Waffen gegen Devisen verkauft, um den Rohöllieferungen seit Anfang 1982 stürzten die DDR Ausfall von Waren- und Finanzkrediten zu kompen- in die bis dahin tiefste ökonomische Krise. sieren und auf diese Weise den Schuldendienst be- Anfang Juni 1983 begab sich Alexander Schalck- dienen zu können. Golodkowski – als Leiter des Günter Mittag unterstell- Der Konsumsozialismus unter SED-Generalsekre- ten Bereiches Kommerzielle Koordinierung (KoKo), tär Erich Honecker hatte die DDR an den Rand des persönlicher Beauftragter von Erich Honecker für Bankrotts geführt. Die Erhöhung des Lebensstandards die deutsch-deutschen Verhandlungen und zugleich und die Verbesserung der Sozialleistungen in den 1970er-Jahren hatten nicht auf eigener Wirtschafts- kraft beruht, sondern auf einem Rückgang der Investi- 1 Vgl. detailliert: Hans-Hermann Hertle/Stefan Wolle, Damals tionsquote und zunehmender Verschuldung vor allem in der DDR. Der Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat, Mün- im Westen.1 Gleichzeitig litt die Außenwirtschaft der chen 2004, S. 155 – 226; André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, München 2004, insb. DDR unter steigenden Rohstoffkosten und der man- S. 165 – 196. gelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte auf dem 2 Siehe Ralf Ahrens, Gegenseitige Wirtschaftshilfe. Die DDR Weltmarkt, die Ausdruck unzureichender Innovations- im RGW, Köln 2000, insb. S. 262 – 268. Deutschland Archiv 42 (2009) 3, S. 476 –495 Hertle: Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? 477 Oberst in Erich Mielkes Stasi-Ministerium Diener de 1985 wird als Gegenleistung für die Vergabe der dreier Herren – auf seine bis dahin vielleicht schwie- Milliardenkredite gesehen; allerdings war die DDR rigste Mission: Er übermittelte dem bayerischen Mi- dazu ohnehin durch eine UN-Konvention verpflichtet. nisterpräsidenten Franz Josef Strauß die massive War- Mit den Milliardenkrediten hatte sich ein Konkur- nung Honeckers, dass die »Schotten dichtgemacht« renzprojekt erledigt, das unter der Bezeichnung »Zür- würden, wenn der Handel der Bundesrepublik mit der cher Modell« der DDR für die Bereitstellung eines DDR »eingeschränkt oder nicht durchgeführt« werde. milliardenschweren Finanzkredits als Gegenleistung Die DDR werde in diesem Fall ihre »Aufgaben mit eine schriftliche Verpflichtung zur Herabsetzung des Hilfe des RGW lösen«.3 Wenn er der DDR jedoch Reisealters in die Bundesrepublik abverlangte – was helfen könne, die Zahlungsbilanzkrise zu überwinden, zum völligen Gesichtsverlust der SED-Führung ge- erinnerte sich Strauß später an die Botschaft Hone- genüber der sowjetischen Vormacht geführt hätte und ckers, wäre diesem »der Weg nach Westen« lieber.4 auch deshalb scheitern musste.7 Bekanntermaßen übernahm die konservativ-libe- Zusammenarbeit mit dem Westen oder totale Ab- rale Bundesregierung in den Jahren 1983 und 1984 schottung? Fielen Franz Josef Strauß und Bundes- die Garantie für zwei ungebundene Finanzkredite kanzler Helmut Kohl damals auf einen Trick der SED- von westdeutschen Landes- und Privatbanken über Führung herein? Blufften Honecker und Schalck-Go- eine Milliarde bzw. 950 Millionen DM an die DDR, lodkowski nur, als sie Strauß vor diese Alternative wobei sie ihr Risiko durch die Verpfändung der Tran- stellten, oder gab es in der SED-Spitze tatsächlich sitpauschale absicherte.5 Weitgehend geheim dagegen ernstzunehmende Bestrebungen, die »Schotten zum blieben weitere Unterstützungsleistungen in Höhe von Westen dichtzumachen«? Wie wurde die ökonomische einer Milliarde D-Mark: Im Zuge der Neufestsetzung Lage der DDR zu dieser Zeit intern eingeschätzt? der Postpauschale ließ die Bundesregierung der DDR Akten des Ministeriums für Staatssicherheit bele- am 15. November 1983 300 Millionen DM zukom- gen, dass der bayerische Ministerpräsident und die men.6 Und weitere 700 Mio. DM flossen der SED-Füh- CDU/FDP-Bundesregierung die Drohung möglicher- rung in den Jahren 1984 und 1985 für den Verkauf von weise zu Recht ernst nahmen. In einem Geheimpapier 4 905 politischen Häftlingen zum Kopf-Preis von rund (im Anschluss an diesen Beitrag in Auszügen doku- 95 000 DM und die Übersiedlung von mehr als 45 000 mentiert) kam die für die »Sicherung der Volkswirt- Ausreisewilligen in den Westen zu je 5 000 DM zu. schaft« zuständige Hauptabteilung XVIII des MfS Die DDR verbrauchte den überwiegenden Teil dieser am 25. Januar 1982 zu dem Ergebnis, dass die DDR drei Milliarden DM nicht, sondern legte sie als Gut- zu einer Lösung ihrer ökonomischen Probleme aus haben bei westlichen Banken an und erlangte dadurch eigener Kraft nicht mehr imstande sei. Als letzten ihre Bonität auf den internationalen Finanzmärkten Ausweg aus der Krise schlug sie vor, die Sowjetunion zurück. Der von den Wirtschaftsverantwortlichen in der SED-Spitze befürchtete ökonomische Zusammen- bruch der DDR – mit unabsehbaren sozialen und po- 3 So Alexander Schalck, Niederschrift über das geführte Ge- litischen Folgen – wurde maßgeblich durch die Hilfe spräch […] am 5.6.1983 in Spöck/Chiemsee, Berlin 6.6.1983, der Bundesregierung hinausgeschoben. S. 3, in: Deutscher Bundestag, Beschlussempfehlung und Bericht des 1. Untersuchungsausschusses […], BT-Drs. Ein förmliches Junktim zwischen der Kreditver- 12/7600, Bonn 1994, Anlagenbd. 3, Bl. 3395. – RGW: Rat gabe und der Gewährung »menschlicher Erleichte- für gegenseitige Wirtschaftshilfe. rungen« seitens der DDR gab es nicht, doch gestand 4 Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 473. die DDR neben der Ausweitung des Verkaufs von 5 Vgl. Manfred Kittel, Franz Josef Strauß und der Milliarden- Häftlingen und der weitreichenden Genehmigung kredit für die DDR 1983, in: DA 40 (2007) 4, S. 647 – 656. von Ausreiseanträgen in der Folgezeit erhebliche Er- 6 Vgl. die Aufstellung in HWWA, Gutachten »Die Bedeutung […]«, in: BT-Drs. 12/7600 (Anm. 3), Anhangbd., S. 124 f. leichterungen im Reise- und Besucherverkehr zu. 7 Vgl. Reinhard Buthmann, Megakrise und Megakredit. Das Auch der Abbau der Selbstschussanlagen und Split- Zürcher Modell im Spiegel der Stasi-Akten, in: DA 38 (2005) terminen an der Grenze zur Bundesrepublik bis En- 6, S. 991 – 1000. © W. Bertelsmann Verlag Bielefeld 2009 478 Dokumentation um die Übernahme des Großteils der DDR-Schulden lichen Plankommission und der Fachabteilungen des im Westen zu bitten und im Gegenzug die Handelsbe- ZK verträten »einhellig die Auffassung, dass sich ziehungen zum Westen weitgehend abzubrechen. Genosse E. Honecker in einem für die Volkswirt- schaft der DDR schwerwiegenden Irrtum« befän- II. de.11 Und unter Berufung auf leitende Wirtschafts- funktionäre warnte die Stasi 1979 eindringlich vor Die »Sicherung der Volkswirtschaft« gehörte vom Preiserhöhungen, »die politisch nicht zu vertreten Beginn bis zum Ende der DDR zu den wichtigsten sind und konterrevolutionäre Ausschreitungen her- Aufgaben der Staatssicherheit. »Die Wirtschaft«, so beiführen können«.12 Damit trug sie maßgeblich da- Stasi-Minister Erich Mielke 1982, sei »das entschei- zu bei, dass entsprechende Pläne im Politbüro fallen dende Kampffeld für das revolutionäre Handeln der gelassen wurden. Partei.«8 Die Partei- und Staatsführung über tatsäch- liche und drohende, aus der Sicht des MfS sicherheits- Immer häufiger beschäftigten sich Informationen und planerfüllungsrelevante Gefährdungspotentiale der HA XVIII aus den Jahren 1978 und 1979 mit umfassend zu informieren, genoss deshalb hohen der zunehmend prekärer werdenden Zahlungsbilanz Stellenwert.9 Die Voraussetzungen dafür waren ausge- – und deren Verschleierung durch die Parteiführung. zeichnet: Schon die Informations- und Entscheidungs- Sie gipfelten Anfang 1979 in der Wiedergabe einer kanäle, an die das Ministerium für Staatssicherheit Äußerung von Staatsbank-Präsident Horst Kaminsky offiziell angeschlossen war, gewährten ihm uneinge- gegenüber der ZK-Abteilung Planung
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