20 Jahre De De utsche Einheit

20 Jahre ­Deutsche Einheit

Inhalt

Grußwort der Bundeskanzlerin 06

Grußwort des Bundesinnenministers 07

„Wir sind das Volk!“ 08

1990 – das Jahr der Entscheidungen 21

Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land 29

Geschichte lässt sich nicht wegschließen 40

Aufbau Ost – viel zu tun 50

Auferstanden aus Ruinen ... 70

Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ 88

Eine gute Versorgung für alle 98

Eine Zwischenbilanz 104 Grußwort der Bundeskanzlerin

20 Jahre ist es bereits her, als für uns Deutsche ein Traum wahr wurde. Es waren wohl nur noch die Wenigsten, die in Zeiten des K alten Krieges die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit für möglich gehalten haben. Selbst als Michail Gor­ batschow in der Sowjetunion tief greifende Staatsreformen auf den Weg brachte, wollte oder konnte die DDR­Führung die Zeichen der Zeit nicht erkennen.

Und dennoch: Fehlende Meinungs­ und Reisefreiheit, politische Verfolgung, Misswirtschaft und zunehmende Versorgungseng­ pässe forderten ihren mehr als gerechtfertigten Tribut. Stück für Stück entglitt der Staatsmacht die Kontrolle über das öffentliche Leben. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger zeigten Zivilcourage und nahmen ihr Schicksal in die eigene Hand. Ihnen und ihrer f riedlichen Revolution haben wir es zu verdanken, dass schließlich die SED­Diktatur zusammenbrach und die Mauer fiel.

Das Ergebnis der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 war ein klares Votum für die Deutsche Einheit. Dieser Wunsch ging in Erfüllung, weil Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans­Dietrich Genscher mit großem Geschick den Weg bahnten, Michail Gorbatschow das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes achtete und sich insbesondere der amerikanische Präsident George Bush sen. für die Einheit aussprach.

Wir verschließen nicht die Augen vor den Herausforderungen, vor denen wir heute, nach 20 Jahren, stehen. Dies aber schmälert nicht das historische Glück der Deutschen Einheit. Wer sich die Geschichte unseres Landes vor Augen hält, weiß auch: Wir haben allen Anlass zur Freude darüber, in einem freien, demokratischen Deutschland mit einem festen Wertefundament leben zu können, das in freundschaftlichen Beziehungen zu allen Nachbarn steht.

Dr. Angela Merkel Bundeskanzlerin

6 Grußwort des Innenministers

20 Jahre sind seit der Wiedervereinigung vergangen – Jahre des Auf­ bruchs und des Aufbaus, Jahre großer Herausforderungen.

In diesen Jahren gehen die 1990­Geborenen ins Berufsleben. Sie sind die Ersten, die keine eigenen Erinnerungen an das haben, was damals passiert ist. Diese Generation ist erwachsen geworden und mit ihr auch die Deutsche Einheit.

Wir haben gelernt, dass manches länger dauerte als anfangs erhofft. Wir wissen, dass man 40 Jahre Diktatur nicht rückabwickeln kann. Wir sehen, dass die Errichtung einer selbsttragenden Wirtschafts­ struktur und die Bewältigung noch bestehender Probleme, wie das der hohen Arbeitslosigkeit in weiten Teilen Ostdeutschlands, weitere Anstrengungen erfordern. Vergleichen wir aber die Bilder der maro­ den DDR von 1989/90 mit denen von heute: sanierte Innenstädte, ein modernes Verkehrs­ und Kommunikationsnetz, ein Gesundheits­ system auf hohem Niveau, eine geschützte Umwelt, eine wachsende und zukunftsorientierte Wirtschaft und vieles Weitere mehr. Dann können wir sagen, wir Deutschen haben gemeinsam viel erreicht. Darauf kö nnen wir ruhig auch einmal stolz sein.

Was brauchen wir für die Zukunft? Wir brauchen kein Streben nach einer „Vollendung“ der inneren Einheit. Die gibt es nicht. Gesellschaft­ licher Zusammenhalt ist ein ständiger Prozess und nie vollendet. Und Einheit war und ist in Deutschland immer Einheit in der regionalen Vielfalt. Woran wir weiterhin arbeiten müssen, das sind gleichwertige Lebensverhältnisse.

Es gilt: Die innere Einheit Deutschlands beginnt im Innersten eines jeden von uns, in unseren Herzen. Was wir deshalb vor allem brauchen, sind Aufgeschlossenheit füreinander, Neugier und Verständnis für die Erfahrungen des anderen, ein Miteinander in Partnerschaft. Dann werden wir auch die vor uns liegenden Herausforderungen meistern.

Dr. Thomas de Maizière Bundesminister des Innern Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer

7 „Wir sind das Volk!“

8 — „Wir sind das Volk!“ 7. Mai 1989: Kommunalwahlen in der DDR. Als die staat­ lich gesteuerten Medien am Abend die Ergebnisse präsen­ tieren, ahnt niemand, dass dieser Tag ein entscheidender Meilenstein ist – ein Meilenstein auf dem Weg zur deut­ schen Einheit. Denn zum ersten Mal gelingt es Bürger­ rechtlern nachzuweisen, dass die SED Wahlen fälschen lässt. In der DDR beginnt eine Welle des Protests.

Nur ein Jahr später finden in der DDR freie Kommunal­ Volksaufstand am 17. Juni 1953 wahlen statt. Und bereits am 18. März 1990 ist mit der ­ersten freien Volkskammerwahl die Herrschaft der SED endgültig zu Ende.

Das geteilte Deutschland

Es lässt sich darüber streiten, wann das Ende der DDR begann. Mancher hat dem „Arbeiter-und-Bauernstaat“ schon bei der Gründung 1949 kaum Überlebenschancen eingeräumt. Beim Volksaufstand am 17. Juni 1953 sahen sich die Skeptiker bestätigt, und spätestens der Mauerbau am 13. August 1961 kam einer Bankrotterklärung des ­SED-Staates gleich. Denn wer hat es nötig, seine eigene Bevölkerung einzumauern? Und beim Versuch, aus dem Land zu fliehen, zu erschießen?

Dass ein gutes Vierteljahrhundert später die Mauer und die DDR verschwinden würden, war nicht vorhersehbar. Die SED-Herrschaft, gestützt auf die Existenzgarantie Am 13. August 1961 beginnt das DDR-Regime mit dem Bau der durch die Sowjetunion, schien zementiert. Mauer Nach Jahren der Konfrontation öffnete die „neue Ost­ politik“ Bonns ab Anfang der 1970er Jahre die Tür für ein Nebeneinander der beiden deutschen Staaten – ohne die DDR damit völkerrechtlich anzuerkennen. Binnen eines knappen Jahrzehnts nahm die DDR mit rund 200 Staaten diplomatische Beziehungen auf.

10 1 Ergebnis eines Forschungs­ projekts der Gedenkstätte Die Mauer und die innerdeutsche Grenze in Zahlen ­Berliner Mauer und des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam Todesopfer an der Berliner Mauer: mind.136 1 2 Offizielle Zahlen liegen nicht Todesopfer an der innerdeutschen Grenze insgesamt: rd. 1.000 2 vor; die Angaben reichen Gesamtlänge der innerdeutschen Grenze: 1.376 km bis zu 1.065 (Museum Haus am Checkpoint Charlie, , Gesamtlänge der Mauer zw. Ost- und West-Berlin: 43,1 km 13. August 2004) Gesamtlänge der Grenzanlagen um West-Berlin: 155 km Anzahl der Wachtürme: 302 Selbstschussanlagen (zwischen 1971 und 1984): 55.000 Verlegte Minen an der Grenze: rd.1,3– 1,4 Mio. Auf Menschen abgerichtete Hunde rd. 3.000 (bis in die 80er Jahre):

Die DDR schien ökonomisch zu erstarken. Selbst im ­Westen nahmen viele die gefälschten Wirtschaftssta­ tistiken für bare Münze, wonach die DDR eine der zehn wirtschaftsstärksten Industrienationen der Welt sei.

Die böse Überraschung sollte erst nach dem Ende der SED-Diktatur kommen. Denn die tatsächliche Situation der DDR-Wirtschaft war für die Mehrheit in Ost und West genauso unvorstellbar wie eine Vereinigung der so lange getrennten deutschen Staaten.

Auch wenn die bundesdeutschen Parteien immer wieder über das Ziel der deutschen Wiedervereinigung stritten: Auf der Tagesordnung stand die deutsche Einheit prak­ tisch nicht mehr. Im innerdeutschen Verhältnis ging es seit Anfang der 1970er Jahre vorrangig um menschliche Erleichterungen, also um mehr Begegnungs- und Reise­ möglichkeiten. Die DDR zeigte Entgegenkommen, weil sie Devisen brauchte. Die Zunahme im Reise- und Besu­ cherverkehr hatte für die Machthaber in Ost-Berlin einen unwillkommenen, von der Bundesregierung beabsich­ tigten Effekt: Sie förderte das Zusammengehörigkeitsge­ fühl der Deutschen. Das Interesse an der Bundesrepublik nahm in der DDR nicht ab, sondern zu. West-Fernsehen und -Rundfunk waren für die meisten DDR-Einwohner

— „Wir sind das Volk!“ die Hauptinformationsquelle. Die Zahl der Ausreise­ anträge stieg seit Mitte der 1970er Jahre permanent an.

Dem Ziel, die Folgen der Teilung erträglicher zu machen, dienten alle innerdeutschen Verträge und letztlich auch die Gegeneinladung Erich Honeckers nach Bonn – nach Helmut Schmidts Besuch am Werbellinsee und in Güst­ row 1981. Für den DDR-Staats- und Parteichef ging mit ­seinem Besuch ein Lebenstraum in Erfüllung, allerdings Bundeskanzler Helmut Kohl bei seiner Tischrede am musste er sich von Bundeskanzler Helmut Kohl beim 7. September 1987 in der ­offiziellen Abendessen sagen lassen, dass die Bundes­ Bad Godesberger Redoute republik am Ziel der deutschen Einheit festhalte, „weil sie dem Wunsch und Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in Deutschland entspricht“.

Wachsende Unzufriedenheit

In den 1980er Jahren nahm die Unzufriedenheit in der DDR-Bevölkerung dramatisch zu, vor allem unter den Jüngeren. Selbst bei offiziellen Demonstrationen wie der alljährlichen Kranzniederlegung am Grab von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichs­ felde, wurden plötzlich Plakate und Spruchbänder mit dem Luxemburg-Zitat „Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ hochgehalten. Mit brutaler Gewalt wurden sie von Volkspolizei und Angehörigen des Ministeriums für Staatssicherheit in Zivil wieder ­eingerollt. Für jeden DDR-Bürger war das im West-Fern­ sehen zu sehen.

Seit der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Bier­ mann und mehrerer namhafter Schriftsteller war lang­ sam, aber stetig eine Oppositionsbewegung gewachsen, wie Hunderttausende von Stasi-Berichten zeigen. In Wolf Biermann bei seinem Konzert in der Kölner Sporthalle ­vielen Städten bildeten sich – zum großen Teil unter am 13. November 1976. Drei Tage dem schützenden Dach der Kirchen – Jugendgruppen, später hört er im Radio, dass die DDR ihn ausgebürgert hat. die sich gegen die SED-Diktatur auflehnten.

12 Zuerst stand das Thema „Militarisierung der Gesellschaft“ und Feindbildpropaganda im Vordergrund; 1978 war an den Schulen „Wehrkundeunterricht“ eingeführt worden. Zunehmend wurde auch die allgegenwärtige Verschmut­ zung der Umwelt ein Anstoßpunkt des Protestes. Mit ­Verboten und Verhaftungen versuchte das Regime, diese Entwicklung einzudämmen. Letztlich erfolglos.

Neben der freien Meinungsäußerung ging es den Men­ schen in der DDR vor allem um mehr Reisefreiheit. Doch auch die hartnäckige Weigerung der SED-Führung, in der DDR einen ähnlichen Reformprozess zu vollziehen, wie ihn Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow in der Sowjetunion eingeleitet hatte, führte zu immer größerem Missmut – selbst in den SED-Parteiorganisationen, denen 2,3 Millionen Mitglieder angehörten. Vielen wurde klar: Ohne Perestroika und Glasnost ist der Niedergang des „real existierenden Sozialismus“ nicht mehr aufzuhalten.

Abstimmung mit den Füßen

Im Sommer 1989 begann der Ansturm auf die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Ost­Berlin und die bundesdeutschen Botschaften in den Nachbar­ ländern Tschechoslowakei, Polen und Ungarn. Auslöser war, dass Ungarn am 2. Mai begonnen hatte, den Eisernen V orhang zu öffnen. Allein auf das Prager Botschaftsge­ lände flüchteten sich rund 6.000 Menschen aus der DDR.

— „Wir sind das Volk!“ Am 30. September 1989 gelang es Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und Kanzleramtsminister Ru­dolf Seiters, für sie die freie Ausreise in den Westen auszuhan­ deln. Die Bilder von Genschers umjubelter Ankündigung auf dem Botschaftsbalkon sind unvergesslich.

Schon am 10. September hatte die ungarische Regierung die Grenze nach Österreich für DDR-Bürger geöffnet. Innerhalb von 72 Stunden nutzten dort 15.000 Ostdeut­ sche die Chance zur Flucht in den Westen. Die DDR DDR-Flüchtlinge klettern über den Zaun der bundesdeutschen schien auszubluten und erlebte mit dem Massenexodus Botschaft in Prag (Oktober 1989) einen Aderlass wie schon einmal kurz vor dem Mauerbau. Erich Honeckers herablassende Bemerkung, den Flücht­ lingen solle man keine Träne nachweinen, heizte die Stimmung zusätzlich an.

Im Herbst überschlugen sich die Ereignisse. Die Feier­ lichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 endeten mit Protestaktionen. In Ost-Berlin gab es die ers­ ten Verletzten, weil Volkspolizei und Stasi die Demonst­ ranten mit Gewalt zurückdrängten. Zuvor hatten die ­Ost-Berliner den sowjetischen Präsidenten Gorbatschow Michail Gorbatschow am begeistert gefeiert und mit „Gorbi, hilf uns!“-Rufen emp­ 7. ­Oktober 1989, dem 40. Jahres­ fangen. Seine mahnenden Worte an die reformunwillige tag der DDR-Gründung, in Ost-Berlin DDR-Führung – „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ – sind in die Geschichte eingegangen.

Montagsdemonstrationen

In hatten bereits am 4. September 1989 die mon­ täglichen Demonstrationen begonnen. Bald gingen auch in anderen Städten die Menschen auf die Straßen und riefen: „Wir sind das Volk!“ Am 9. Oktober versammelten sich in der Messestadt über 70.000 Teilnehmer zur größten Protestaktion seit dem 17. Juni 1953. Sie verlief friedlich, obwohl die Staatsmacht ein Großaufgebot an „Sicherheitsorganen“ organisiert hatte. Vor der Masse

14 der friedlichen Demonstranten musste sie jedoch kapitu­ lieren. Für die Bürgerrechtler war das ein Signal – und der entscheidende Wendepunkt. Dass die sowjetischen Panzer, anders als 1953, in den Kasernen blieben, zeigte, dass Moskau der SED-Führung nicht mehr zu Hilfe kom­ men wollte.

Schon eine Woche später, am 18. Oktober, trat Erich Hone­ cker als SED-Generalsekretär und von seinen weiteren Funktionen als Staatsratsvorsitzender und Chef des Ver­ teidigungsrates zurück. Sein Nachfolger wurde Egon Krenz. Er nahm gleich telefonischen Kontakt zu Bundes­ kanzler Helmut Kohl auf und suchte wenig später Michail Gorbatschow im Kreml auf, um Unterstützung für seinen halbherzigen Reformprozess zu erhalten. Krenz wollte die SED weiterhin als führende Kraft in der DDR erhalten. Er versuchte sogar, sich mit der SED an die Spitze der Reformbewegung zu setzen, um den DDR-Sozialismus zu retten. Doch eine freiheitliche Demokratie nach west­ lichem Vorbild gehörte nicht zu seinen Zielen, die deut­ sche Einheit schon gar nicht.

Die Montagsdemonstration am ­9. ­Oktober 1989 in Leipzig

— „Wir sind das Volk!“ Am 6. November fragte die neue DDR-Führung in Bonn nach der Möglichkeit, Kredite in ganz neuer Dimension zu bekommen. Bundeskanzler Helmut Kohl antwortete mit der Forderung nach durchgreifenden Reformen: ­Verzicht auf das Machtmonopol der SED, Zulassung demokratischer Parteien, freie Wahlen. Es waren diesel­ ben Forderungen, die auch die Demonstranten erhoben. Die DDR-Führung geriet unter Zangendruck.

Die Mauer fällt

Wie sehr der Partei- und Staatsführung das Heft bereits entglitten war, zeigte die gewaltige Massendemonstra­ tion am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexander­ platz, bei der Hunderttausende mehr Demokratie und Reformen einforderten und ihre Unzufriedenheit mit der neuen Führungsriege der SED zum Ausdruck brachten.

Unter dem Druck der Bevölkerung beschloss das Polit­ büro ein Reisegesetz, das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz am Spätnachmit­ tag des 9. November 1989 mit einem Nebensatz in Kraft

Berlin, Grenzübergang Bornholmer Straße, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989

16 setzte. Er löste damit noch am Abend einen wahren Ansturm auf die Berliner Grenzübergangsstellen aus, sodass den Grenzsoldaten nichts anderes übrig blieb, als den Schlagbaum zu öffnen. Nach rund 28 Jahren war die unnatürliche Teilung Deutschlands durch Mauer und Todesstreifen mit einem Schlag beendet.

Die Menschen feiern die Grenz- öffnung auf der Mauer vor dem „Wahnsinn!“ riefen die Ersten, die in dieser Nacht über Brandenburger Tor den Grenzübergang an der Bornholmer Straße von Ost- nach West-Berlin kamen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom Mauerfall rund um den Globus. Eine Weltsensation – ausgelöst durch friedliche Proteste gegen die ständige Bevormundung durch das SED- Regime, gegen Unfreiheit und die Verletzung elemen­ tarer Menschenrechte. Diese Art einer Revolution hatte es in der Geschichte noch nicht gegeben.

— „Wir sind das Volk!“ Das rasante Tempo, in dem die DDR zerfiel, überraschte nicht nur die SED-Führung, sondern auch die Bundes­ regierung und die Opposition in Bonn. Helmut Kohl befand sich am Tag der Maueröffnung auf einem Staats­ besuch in Polen und erfuhr telefonisch von dem histo­ rischen Ereignis. Er versuchte, so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurückzukehren, ohne die ­polnischen Gastgeber vor den Kopf zu stoßen. In Bonn unterbrach der Bundestag seine Haushaltsberatungen, in der Parlamentslobby verfolgten die Abgeordneten die Berliner Ereignisse am Fernsehschirm. Als Bundestags­ präsidentin Rita Süssmuth die Maueröffnung verkün­ dete, stimmten die Abgeordneten spontan die National­ hymne an.

Versuche, den DDR-Sozialismus zu retten

In der DDR trat am 7. November 1989 Willi Stoph als Ministerpräsident zurück. Nachfolger wurde der Dresd­ ner SED-Chef Hans Modrow, den zu dieser Zeit auch im Westen einige als Hoffnungsträger ansahen. Auch er lehnte eine Wiedervereinigung strikt ab. Stattdessen wollte er mit Reformen die DDR als sozialistischen Staat erneuern.

Der Zentrale „Runde Tisch“ im Ost-Berliner „Dietrich- Bonhoeffer-Haus“

18 Modrow sah sich gezwungen, Macht abzugeben: Im Dezember formierte sich der Zentrale „Runde Tisch“ mit Mitgliedern aller politischen Gruppen und Parteien. Den Vertretern der Parteien, die in der „Nationalen Front“ zusammengeschlossen waren, jetzt aber nach und nach aus dem Parteienblock ausbrachen, saßen die Abgesand­ ten der Neugründungen gegenüber – des Demokrati­ schen Aufbruchs, der Sozialdemokratischen Partei, von Demokratie Jetzt, vom Neuen Forum und der Grünen Liga. Die Moderation der Treffen lag in den Händen von drei Kirchenvertretern.

Kohls Zehn-Punkte-Programm

Ende November 1989 ging Helmut Kohl mit seinem ­Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands in die Offensive. Darin mahnte der Bundes­ kanzler, wie er es schon am 7. und 8. November getan hatte, die Aufhebung des Machtmonopols der SED an. Im Zentrum von Kohls Deutschlandplan stand der Vor­ schlag, in einem stufenweisen Vorgehen die Wiederver­ Bundeskanzler Kohl trägt im einigung Deutschlands anzustreben – mit der Zwischen­ Deutschen Bundestag sein etappe „konföderativer Strukturen“ und eingebettet in „Zehn-Punkte-Programm“ vor (28. November 1989) die gesamteuropäische Entwicklung. „Wie ein wieder­ vereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand“, sagte Kohl vor dem Bundestag. „Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“

Damals war Helmut Kohl noch davon überzeugt, dass die Einheit erst in drei oder vier Jahren kommen werde, „auf jeden Fall erst nach Vollendung des europäischen Binnenmarktes“, wie er später in seinen Memoiren schrieb. Die Dynamik des Vereinigungsprozesses sollte diese Erwartung schnell überholen. Entscheidend aber war: Das Ziel der deutschen Einheit stand nun auf der internationalen Tagesordnung.

— „Wir sind das Volk!“ „Wir sind ein Volk!“

In den Städten der DDR demonstrierten die Menschen indes weiter für demokratische Veränderungen. Aus dem Ruf, „Wir sind das Volk!“ wurde immer lauter „Wir sind ein Volk!“. Die Umfragen unter der DDR-Bevölkerung widersprachen sich. Während die Befragungen der Westmedien ergaben, dass die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen die Wiedervereinigung wolle, war das Ergebnis bei den DDR-Demoskopen genau entgegen­ gesetzt. Nach ihren Umfragen wollte die Mehrzahl der ostdeutschen Bevölkerung vor allem eine bessere DDR.

Die Bilder sprachen allerdings eine deutliche Sprache: Drei Wochen nach dem Zehn-Punkte-Programm begrüßten Hunderttausende Helmut Kohl begeistert vor der Dresdner Frauenkirche – mit Deutschlandfahnen und sogar mit Transparenten wie „Bundesland Sachsen grüßt den Bundeskanzler“. Endgültige Klarheit brachte dann die Volkskammerwahl vom 18. März 1990.

20 Silvesterparty 1989 am ­Brandenburger Tor 1990 – das Jahr der Entscheidungen

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen Das neue Jahr begann genauso turbulent, wie sich das alte verabschiedet hatte. Hunderttausende aus Ost und West versammelten sich bei eisiger Kälte am Branden­ burger Tor zu einer riesigen Silvesterparty – Bilder, die noch wenige Wochen zuvor unvorstellbar waren. Es ließ sich bereits ahnen, dass die Böllerschüsse der bevor­ stehenden Einheit galten. 1990 sollte für Deutschland ­tatsächlich zum geschichtsträchtigsten Jahr seit Ende des Zweiten Weltkriegs werden.

Nein zu Geldforderungen

Die Modrow­Regierung wollte vor allem den anhaltenden Massenexodus stoppen. „Kommt die D­Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“, war insbesondere für die junge ostdeutsche Generation zum geflügelten Wort geworden. Hans Modrow wollte die wirtschaftliche Lage mit Hilfen der Bundesrepublik stabilisieren, stieß aber mit seinen Finanzforderungen bei Helmut Kohl auf taube Ohren. Einen „Lastenausgleich“ von rund 15 Milliarden D­Mark lehnte die Bundesregierung strikt ab – auch beim Februar­Treffen in Bonn, als Modrow mit Vertretern aller 13 Parteien und Gruppierungen an den Rhein kam.

Für Helmut Kohl machte es keinen Sinn mehr, mit einem zweistelligen Milliardenbetrag die Lebenszeit der bank­ rotten DDR weiter zu verlängern. Stattdessen bot die Bundesregierung eine deutsche Wirtschafts­ und Wäh­ rungsunion an.

Der Bundeskanzler drängte darauf, möglichst bald über die Schritte zur Verwirklichung der Einheit zu sprechen. Dafür waren inzwischen auch in der DDR alle politischen Parteien und Gruppen mit Ausnahme der Grünen und der SED/PDS. Einen Beitritt nach Artikel 23 des Grund­ gesetzes lehnte die DDR­Seite zu diesem Zeitpunkt aber noch ab.

22 Kohl informierte unmittelbar nach dem Zusammentref­ fen mit Modrow den amerikanischen Präsidenten George Bush über den Verlauf des Gesprächs. In dem Telefonat bezeichnete er die Lage in der DDR als „unvermindert dramatisch“. In den ersten Wochen des neuen Jahres hät­ ten bereits 80.000 Bürger die DDR in Richtung Westen verlassen, bis Ende Februar dürften es über 100.000 sein, so Kohl.

Vorbehalte im Ausland zerstreuen

Der Bundeskanzler war insbesondere damit beschäftigt, den westlichen Verbündeten, aber auch dem Kreml, ­Vorbehalte gegen ein vereintes Deutschland zu nehmen. Unterstützung erhielt er dabei vor allem von der Bush- Administration.

Bundeskanzler Helmut Kohl und Die Würfel waren längst gefallen, auch wenn die Mod­ Frankreichs Staatspräsident row-Regierung das Tempo aus dem Wiedervereinigungs­ François Mitterand (28. April 1990) prozess herauszunehmen versuchte. Modrow verwies bei jeder Gelegenheit auf den europäischen Rahmen, der nicht gesprengt werden dürfe. Es gebe inzwischen auch in Ostdeutschland eine schweigende Mehrheit, die vor beschleunigten Schritten bei der Wiedervereinigung Furcht empfinde. Das betraf vor allem Eigentumsfragen und die künftige soziale Absicherung.

Noch im Februar traf sich, einer Forderung des Runden Tisches folgend, eine innerdeutsche Expertenkommis­ sion zu ihrer ersten Sitzung.

Die erste freie Volkskammerwahl

Zu dieser Zeit hatte der Wahlkampf längst begonnen. 24 Parteien wetteiferten um die Stimmen von 12,2 Millio­ nen Wählern. Im Einvernehmen mit dem Runden Tisch hatte die DDR­Regierung den Wahltermin vom Mai auf

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen den 18. März 1990 vorverlegt. Vertreter der Opposition wandten sich vergeblich gegen eine Beteiligung der ­Parteien aus dem Westen. Helmut Kohl sprach in Erfurt und auf Kundgebungen in fünf weiteren DDR-Städten. Auch Willy Brandt, Hans-Dietrich Genscher und andere bundesdeutsche Spitzenpolitiker absolvierten zahlreiche Wahlkampfauftritte. Willy Brandt kam zum Beispiel ebenfalls nach Erfurt und besuchte das Hotel „Erfurter Der ehemalige Bundeskanzler Hof“, wo er sich 1970 mit DDR-Ministerpräsident Willi Willy Brandt am 4. März 1990 Stoph getroffen hatte. Die Erfurter hatten den damaligen in Erfurt Bundeskanzler mit ihren Rufen „Willy Brandt ans Fens­ ter!“ begeistert empfangen.

Die Wahl am 18. März mit einer Beteiligung von 93,38 Prozent endete anders, als es die Demoskopen vorausge­ sagt hatten. Wahlsiegerin war die „Allianz für Deutsch­ land“, ein Wahlbündnis von CDU, DSU und DA. Es erhielt 48,1 Prozent aller Stimmen. Die SPD wurde mit einem Stimmenanteil von 21,9 Prozent zweitstärkste Partei. Die PDS belegte mit 16,4 Prozent den dritten Rang. Volkskammerwahl am 18. März 1990: Wahllokal im Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg Ergebnisse der DDR-Volkskammerwahl vom 18. März 1990

Partei (bzw. Liste) Prozent Mandate Allianz für Deutschland Christlich-Demokratische Union Deutschlands (CDU) 40,8 163 Deutsche Soziale Union (DSU) 6,3 25 Demokratischer Aufbruch (DA) 0,9 4 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 21,9 88 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) 16,4 66 Bund Freier Demokraten 5,3 21 Bündnis 90 2,9 12 Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) 2,2 9 Grüne Partei + Unabhängiger Frauenverband 2,0 8 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD) 0,4 2 Demokratischer Frauenbund Deutschlands (DFD) 0,3 1 Aktionsbündnis Vereinigte Linke 0,2 1 Quelle: Sonstige 0,3 0 ­Deutscher ­Bundestag

24 Votum für die Wiedervereinigung

Das Wahlergebnis bedeutete ein klares Votum für die deutsche Einheit. Jetzt ging es in Bonn und Ost-Berlin um den Fahrplan dorthin. Lothar de Maizière, Chef der ­Ost-CDU und damit der stärksten Partei in der Allianz, übernahm die Regierungsbildung. Er wollte angesichts der bevorstehenden Aufgaben eine möglichst breite Mehrheit in der Volkskammer. Deshalb bildete er eine Wilhelm Ebeling, Rainer Ortleb, Lothar de Maizière, Markus Große Koalition mit der SPD und dem „Bund Freier Meckel und Rainer Eppelmann ­Demokraten“. am 11. April 1990, einen Tag vor ihrer Vereidigung Die Regierungen in Ost und West einigten sich schnell auf den 1. Juli als Starttermin für die Wirtschafts- und Währungsunion, damit die Ostdeutschen rechtzeitig zu Urlaubsbeginn im Besitz der D-Mark waren. Mit der Ankündigung sollte gleichzeitig der Strom der Übersied­ ler eingedämmt werden. Streitpunkt blieb jedoch lange der Umtauschkurs. Die von der Bundesbank vertretene Absicht, einen Umtauschkurs von 2 : 1 festzulegen, sorgte nicht nur bei der ostdeutschen Bevölkerung für eine Welle des Protestes. Auch der neue Regierungschef Lothar de Maizière wehrte sich entschieden dagegen. Unterzeichnung des Vertrags über die Wirtschafts-, Währungs- Am Ende kamen beide Seiten überein, dass alle laufen­ und Sozialunion am 18. Mai 1990: DDR-Finanzminister Walter den Zahlungen – Löhne und Gehälter, Renten, Mieten Romberg, Ministerpräsident etc. – im Verhältnis 1 : 1 in D­Mark umgewandelt werden de Maizière, Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesfinanz- sollten. Jeder DDR­Bürger sollte von seinen Ersparnissen minister Theo Waigel 4.000 Mark, Rentner 6.000 und Kinder 2.000 Ostmark 1 : 1 umtauschen können. Die darüber hinausgehenden Beträge wurden im Verhältnis 2 : 1 getauscht. Im Gesamt­ durchschnitt ergab sich ein Verhältnis von 1,8 : 1. Am 18. Mai 1990 wurde im Bonner Palais Schaumburg der Staatsvertrag zur Währungs­, Wirtschafts­ und Sozial­ union unterzeichnet.

Die D-Mark ist da. Warten auf den Geldumtausch in Görlitz. — 1990 – Das Jahr der Entscheidungen „Die Volkskammer, auch wenn sie nur wenige Monate existierte, war ein wichtiger Bestandteil des Demokratisierungsprozesses in der DDR. Die Bürger konnten nicht nur erstmals frei wählen, ­sondern auch über den Weg entscheiden, den ihr Land künftig gehen soll. Mit ihrer Stimme für die Allianz für Deutschland wählten sie die Wiedervereinigung.“ Sabine Bergmann-Pohl, ­Präsidentin der ersten und Beseitigung internationaler Hindernisse einzigen frei gewählten ­Volkskammer der DDR Während zwischen den beiden deutschen Staaten die Verhandlungen zur Wiedervereinigung auf Hochtouren liefen – immer mehr befürworteten einen Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes –, mussten auch internatio­ nal die Hindernisse im Einheitsprozess aus dem Weg geräumt werden. Nach wie vor gab es bei Verbündeten – insbesondere der britischen Premierministerin Margaret Thatcher – Vorbehalte und Zurückhaltung gegenüber der deutschen Einheit.

Dass es letztlich gelang, sie zu überwinden, lag vor allem an der Unterstützung durch den amerikanischen Präsi­ denten George Bush sowie an der Änderung der Haltung Moskaus. Lange bestand der Kreml auf einem Austritt des vereinigten Deutschlands aus der Nato. Sonst gerate das Kräfteverhältnis in Europa aus dem Gleichgewicht, lau­ tete die Begründung. Gorbatschow brachte sogar eine doppelte Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und in der Nato ins Gespräch. Die geringe Neigung des Kremls zu einem Kompromiss überschattete die erste Runde der Zwei-plus-Vier-Gespräche im Mai in Bonn. Diese Ver­ handlungen zwischen den beiden deutschen Staaten und den vier ehemaligen Alliierten des Zweiten Weltkriegs sollten den außenpolitischen Rahmen für die Einheit schaffen.

Der Durchbruch gelang der deutschen Seite Mitte Juli bei einem Treffen Kohls mit Gorbatschow im Kaukasus. Dabei sicherte der sowjetische Präsident dem vereinigten

26 Helmut Kohl, Michail Gorbat­ schow und Hans-Dietrich Deutschland nicht nur die sofortige volle Souveränität Genscher am 16. Juli 1990 zu, sondern gab überraschend auch seine Einwände im Kaukasus gegen eine Nato-Mitgliedschaft auf. Allerdings dürften die Bündnisstrukturen nicht auf die ehemalige DDR ­ausgedehnt werden, solange dort sowjetische Truppen ­stationiert seien.

Für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ostdeutsch­ land versprach die Bundesregierung Unter­stützung beim Wohnungsbau und bei Umschulungs­programmen für Soldaten. Am Ende machte das einen zwei­stelligen Milli­ ardenbetrag aus.

Der Einigungsvertrag

Nach dem erfolgreichen deutsch-sowjetischen Gipfel im Kaukasus nahm der Vereinigungsprozess weiter an Fahrt auf. „So schnell wie möglich und so gut wie nötig“, war die Maxime von de Maizière. Unmittelbar nach Beginn der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion starteten die Verhandlungen über den Einigungsvertrag. ­Ostdeutscher Partner von Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble Der Einigungsvertrag war der spätere Bundesverkehrsminister Günther Krause. Nach nur vier Sitzungen stand das zweite große Vertrags­ werk der deutschen Einheit. Die DDR sollte gemäß Artikel 23 dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten.

Beide Seiten waren sich einig, dass dies der unkomplizier­ teste und zügigste Weg zur Einheit war – und dass man ihn beschreiten musste, solange die internationale Situa­ tion, vor allem in Moskau, günstig war.

— 1990 – Das Jahr der Entscheidungen Die Volkskammer machte in der Nacht zum 23. August nach einer turbulenten Sitzung mit der nötigen Zwei­ drittelmehrheit den Weg frei. Von den 363 anwesenden Abgeordneten stimmten 294 für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, 62 votierten dagegen, ­sieben enthielten sich. So konnte der Einigungsvertrag am 31. August unterzeichnet werden. Am 20. September haben der Deutsche Bundestag und die Volkskammer ihn ratifiziert.

Rund drei Wochen vor dem Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober wurden in Moskau die Zwei-plus-Vier- 23. August 1990, 3 Uhr morgens: Die DDR-Volkskammer hat den Gespräche abgeschlossen. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag Einigungsvertrag angenommen. machte den Weg frei für die deutsche Einheit und die volle Souveränität des wiedervereinigten Deutschlands. Noch ein Jahr zuvor hätte so gut wie niemand davon zu träumen gewagt.

Am 3. Oktober 1990 war der Kalte Krieg endgültig vorbei. Für Deutschland bedeutet das: Zum ersten Mal kann es zugleich in Freiheit, Einheit und in Frieden mit allen seinen Nachbarstaaten leben.

Unterzeichnung des Zwei-plus- Vier-Vertrages am 12. September 1990 in Moskau

28 Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land

Schon sehr bald nach der Wiedervereinigung wurde klar, welche Herkulesaufgabe Deutschland zu bewältigen hatte. Zwar sollte der Einigungsvertrag alle weiteren Schritte regeln. Doch die Probleme zeigten sich bei der Umsetzung der 1.000 Seiten.

Jetzt galt es, nach der staatlichen Einheit das Zusammen­ wachsen der Deutschen in Ost und West zu fördern. Deutschland sei nun zwar eins, aber noch nicht einig, wurde zum Lieblingssatz vieler Politiker. Auf westdeut­ scher Seite wurde die Frage des Parlaments- und Regie­ rungssitzes zum Gradmesser, wie ernst den alten Län­ dern die Wiedervereinigung war: Sollten Bundestag und Bundesregierung nach Berlin umziehen oder in Bonn bleiben? Am 20. Juni 1991 entschied sich die Mehrheit der Bundestagsabgeordneten für Berlin.

Auch andere Institutionen mussten umziehen. Die Kom­ mission von Bund und Ländern handelte eine faire Ver­ teilung von Bundeseinrichtungen aus. Beispielsweise wurde der Sitz des Umweltbundesamtes von Berlin nach Dessau verlegt. Leipzig erhielt das Bundesverwaltungs­ gericht und einen Teil des Bundesgerichtshofes, Erfurt das Bundesarbeitsgericht.

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land Die weitaus größeren Herausforderungen kamen auf die Menschen in den neuen Ländern zu. Nichts blieb, wie es gewesen war. Wie schnell und zukunftsorientiert die Menschen mit den vielen Veränderungen ihres Alltags zurechtkamen, wenn auch mit westdeutscher Unterstüt­ zung, das brachte ihnen eine Menge Respekt in den alten Ländern ein. Bundespräsident Horst Köhler, der während seiner Amtszeit wie seine Vorgänger schon oft die neuen Länder besucht hat, berichtet von Begegnungen mit Menschen, die „unglaublich viel Tatendrang und Schaf­ fenskraft“ hätten, „vor denen man nur den Hut ziehen kann“. Die Menschen hätten sich nicht unterkriegen las­ sen und den mit der Friedlichen Revolution verbundenen Umbruch gut gemeistert. Davon werde zu wenig im Wes­ ten erzählt, so Köhler.

Kommunale Selbstverwaltung

Manches Grundlegende wurde schon vor der Vereini­ gung in Angriff genommen. So hatte bereits die erste demokratisch gewählte DDR-Volkskammer im Mai 1990 mit Zweidrittelmehrheit eine Kommunalverfassung erlassen, mit der die Kreise und Gemeinden ihren Status der Selbstverwaltung zurückerhielten. Damit war die Dezentralisierung der Macht eingeleitet, und die gerade gewählten kommunalen Parlamente bekamen die nöti­ gen Rechte und Befugnisse, um das gesellschaftliche Leben in den Städten und Gemeinden zu gestalten. Auch die Bürgerbeteiligung erhielt erst durch die kommunale Selbstverwaltung einen neuen Stellenwert.

Unterstützung erhielten die ostdeutschen Städte und Gemeinden beim Aufbau ihrer neuen Verwaltungsorga­ nisation vor allem von westdeutschen Partnerkommu­ nen und Ländern. Schon bald bestand ein flächendecken­ des Netz von Beziehungen, das sich auch beim Aufbau der neuen Länderstruktur bewährte.

30 Verlagerung von Bundesinstitutionen in die neuen Länder

Mecklenburg- Brandenburg Sachsen Sachsen-Anhalt Thüringen Vorpommern • Bundesversiche- • Bundesversiche- • Bundesverwal- • Umweltbundes- • Bundesarbeits- rungsanstalt rungsanstalt tungsgericht; amt (Berlin, 837 gericht (Kassel, (BfA) (1.500 der (BfA) (2.000 der Oberbundesan- Stellen) 140 Stellen) neuen Stellen) neuen Stellen) walt; 5. (Berliner) Strafsenat des • Wasser- und • Bundesversiche- • Biologische • Landwirtschaft- BGH und neue Schifffahrts- rungsanstalt Bundesanstalt liche Berufs- BGH-Senate (Ber- direktion Ost (BfA) Abteilung für Land- und genossenschaft lin, 250 Stellen), (Berlin, 243 Stel- Rehabilitation Forstwirtschaft (Berlin, 326 Stel- neue Zivilsenate len) (Berlin, ca. 1.000 (Außenstelle len) gehen nach Stellen) Berlin, 114 Stel- Karlsruhe, dafür len) • Bundesamt für kommt jeweils • Bundesanstalt Seeschifffahrt ein bestehender für Wasserbau • Bundesrech- und Hydrogra- Strafsenat von (Berlin, 168 Stel- nungshof (Au- phie (Hamburg, Karlsruhe nach len) ßenstelle Berlin, ca. 150 Stellen Leipzig ca. 100 Stellen) und Präsident) • Zentrum für Tele- kommunikation (Berlin, ca. 1.087 Stellen)

• Eine Berufsge- nossenschaft (bis zu 500 Stellen)

• Archiv für die Deutsche Einheit (Außenstelle des Bundesarchivs)

In Klammern jeweils die früheren Orte und die Fünf neue Länder Zahl der Beschäftigten ­Quelle: ­BT-Drucksache 12/2853 (neu) 1952 hatte die DDR die Länder abgeschafft und in 14 Bezirke umgewandelt. Während der Debatte über die Länderneugliederung lagen der de Maizière-Regierung Vorschläge zur Errichtung von zwei bis elf Ländern für das Gebiet der ehemaligen DDR vor – etwa eines Landes Vorpommern oder auch eines separaten Landes Lausitz.

Einig waren sich die Volksvertreter hingegen, dass der föderale Aufbau nicht nur eine gute Voraussetzung für die Wiedervereinigung schafft, sondern auch die Demo­

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land Rostock

Mecklenburg- Vorpommern Schwerin Neubrandenburg

Brandenburg Berlin (Ost) Magdeburg / Berlin Oder Potsdam Sachsen- Anhalt Cottbus Halle Leipzig Erfurt Dresden Sachsen Thüringen Gera Karl-Marx- Suhl Stadt

Aus 14 Bezirken wurden fünf Länder, aus West- und Ost- kratie fördert und der kulturellen Vielfalt bessere Chan­ Berlin wieder eine Stadt cen als der Zentralismus bietet.

Im Juli 1990 verabschiedete die Volkskammer mit Zwei­ drittelmehrheit das Ländereinführungsgesetz, wonach zum 14. Oktober 1990 – zeitgleich mit Landtagswahlen – aus den Bezirken Rostock, Schwerin und Neubranden­ burg das Land Mecklenburg-Vorpommern sowie aus den Bezirken Potsdam, Cottbus und Frankfurt/Oder das Land Brandenburg wurde. Der Freistaat Sachsen setzt sich aus den Bezirken Dresden, Leipzig und Chemnitz (Karl-Marx- Stadt) zusammen. Der Freistaat Thüringen ist aus den Bezirken Erfurt, Gera und Suhl, Sachsen-Anhalt aus den Bezirken Halle und Magdeburg gebildet. Die Wahl der Landeshauptstädte sollte Sache der einzelnen Länder sein. Ost-Berlin wurde mit der Westhälfte ver­ einigt.

32 Während der Länderbildung erhielt der Osten tatkräftige Hilfen aus dem Westen. Ähnlich wie bei den Kommunen bildeten sich enge Partnerschaftsbeziehungen zwischen den alten und den neuen Ländern. Das sollte garantieren, dass die Strukturen nach den rechtsstaatlichen Maßstä­ ben der alten Bundesrepublik entstanden.

Beispielgebend war die Aufbauarbeit der damaligen Bundeshauptstadt Bonn in Potsdam. Die ehemalige ­Bundeshauptstadt kümmerte sich nicht nur um die ­Verwaltungsorganisation, sondern half auch mit ganz praktischen Dingen wie Rettungswagen für die Feuer­ wehr, Funktelefonen oder Kopiergeräten.

Eigentumsfragen

Als einer der schwierigsten Punkte sollten sich die Eigen­ tumsverhältnisse erweisen. Das wurde bereits am Run­ den Tisch deutlich. So ließ die Modrow-Regierung schon vor der Volkskammerwahl erklären, dass die Eigentums­ ordnung, wie sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs ent­ standen sei, nicht zur Disposition stehe. Diesen Stand­ punkt vertrat die Modrow-Delegation auch bei ihrem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn im Feb­ ruar 1990. Danach galt das Recht der DDR-Bauern auf ihr Bodenreformland auch nach der Wiedervereinigung als unantastbar. Ministerpräsident Lothar de Maizière blieb bei dieser Haltung und machte Wochen später in seiner Regierungserklärung deutlich, dass es bei einem Zurück vor die Bodenreform keinen Einigungsvertrag gebe.

Dabei konnte sich der CDU-Politiker sowohl der Mehrheit der DDR-Bevölkerung als auch der Unterstützung Mos­ kaus sicher sein. Gerade der Kreml legte Wert darauf, dass die Enteignungen vor der Gründung der DDR nicht rückgängig gemacht würden, was in Bonn nicht unum­ stritten war. Eine Reihe von Politikern machte sich dafür

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land stark, bei dem Prinzip Rückgabe vor Entschädigung den Zeitraum 1945 bis 1949 nicht auszuklammern. Bundes­ innenminister Schäuble wusste hingegen, dass dies nicht durchsetzbar war.

Für Enteignungen aus DDR-Zeit sollte die Rückgabe den Vorrang haben. Gleichwohl steckte auch hier der Teufel oft im Detail. Das Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“ führte im Alltag oft zu langen Verzögerungen bei der Sanierung innerstädtischer Gebäude, beispielsweise wenn sich Erbengemeinschaften nicht über Verkauf oder Nutzung ihrer Immobilien einigen konnten. Die Alter­ native – Entschädigung vor Rückgabe – wäre allerdings einer nachträglichen Zustimmung zur Enteignungs­ politik des SED-Regimes gleichgekommen.

Das Investitionsvorranggesetz von 1992 brachte eine gewisse Erleichterung für Investitionen und damit die Schaffung von Arbeitsplätzen. Die Regelung der offenen Vermögensfragen hat jedoch bis heute bei vielen Betrof­ fenen Wunden hinterlassen.

34 Unabhängige Justiz

1958 hatte der SED-Generalsekretär Walter Ulbricht die Devise ausgegeben: „Unsere Juristen müssen begreifen, dass der Staat und das von ihm geschaffene Recht dazu dienen, die Politik von Partei und Regierung durchzuset­ zen.“ Von einer unabhängigen Justiz konnte also in der DDR keine Rede sein.

Die SED nahm auf unterschiedliche Arten Einfluss auf die Rechtsprechung. Dies reichte von einer ideologisch moti­ vierten Personalpolitik über allgemeine ideologische „Anleitungen“ der Justizangehörigen bis hin zur Insze­ nierung einzelner Strafprozesse. Dann gab das Ministe­ rium für Staatssicherheit konkrete Urteile vor.

Nach der Wiedervereinigung gelang es sehr zügig, in allen neuen Ländern unabhängige Gerichte zu etablie­ ren und damit der Gewaltenteilung Geltung zu verschaf­ fen. Sichtbarster Ausdruck der neuen rechtsstaatlichen Ordnung war die Einführung von Verwaltungsgerichten. Zu DDR-Zeiten waren sie abgeschafft, sodass sich Bürge­ rinnen und Bürger nur mit „Eingaben“ an staatliche ­Stellen gegen falsches Verwaltungshandeln zur Wehr setzen konnten. Die Entscheidungen darüber waren nicht gerichtlich nachprüfbar, letztlich also willkürlich.

Damit war es nun, im wiedervereinigten Deutschland, vorbei. Auch wenn nicht alle Urteile auf Zustimmung ­stoßen: Die unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit ist einer der größten Gewinne, denn sie zwingt die öffent­ liche Verwaltung zu sorgfältigen und nachprüfbaren Entscheidungen in jedem Einzelfall.

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land Wie SED-Unrecht bestrafen?

Als massives Problem stellte sich die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen zu DDR-Zeiten heraus. Sie strafrechtlich zu ahnden gelang wegen des sogenannten Rückwirkungsverbots in den seltensten Fällen: Was in der DDR nicht strafbar war, ließ sich nicht im Nachhinein bestrafen. Selbst Stasi-Chef Erich Mielke musste nicht wegen der systematischen Verfolgung Andersdenkender ins Gefängnis, sondern wegen eines Doppelmordes, an dem er 1931 beteiligt war. Ex-Stasi-Chef Mielke vor dem Landgericht Berlin (1993) Die Bürgerrechtler verzweifelten geradezu daran, dass die Machthaber von einst ungeschoren davonkommen sollten. „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“, sagte die Malerin Bärbel Bohley, die seit Anfang der 1980er Jahre von der Stasi verfolgt worden war.

Das wiedervereinigte Deutschland konnte das Leid, das die Verfolgten erlitten hatten, zwar nicht ungeschehen machen, und die Täter ließen sich in den seltensten ­Fällen zur Rechenschaft ziehen. Aber mit den Unrechts­ bereinigungsgesetzen haben die SED-Opfer einen Anspruch auf straf-, verwaltungs- und berufsrechtliche Rehabilitierung und Wiedergutmachung erhalten.

Mit der Einführung der sogenannten SED-Opferpension im Sommer 2007 ist der Deutsche Bundestag einer ­jahrelangen Forderung der Opfer und ihrer Verbände nachgekommen. Jetzt erhalten bei mindestens sechs­ monatiger Inhaftierung bedürftige Haftopfer monatlich 250 Euro. Ende 2009 hatten bereits 48.000 von ihnen einen Anspruch auf die SED-Opferpension.

36 Die „Armee der Einheit“

Gravierend waren die Veränderungen für die Angehö­ rigen der Nationalen Volksarmee (NVA). Während die ­ostdeutsche Armee im Frühjahr 1990 noch eine Truppen­ stärke von rund 175.000 Mann hatte, waren es zum Zeit­ punkt der Wiedervereinigung nur noch 90.000. Sie wur­ den am 3. Ok­tober 1990 zunächst in die Bundeswehr eingegliedert. Später wurden rund 50.000 NVA-Ange­ hörige übernommen.

Sofort entließ die Bundeswehr jedoch Offiziere der ­Grenztruppen, Politoffiziere, Angehörige des Bereichs Aufklärung sowie Generäle und Admirale. Rund 11.700 ehemalige NVA-Angehörige bewarben sich für eine Offi­ zierslaufbahn in der Bundeswehr, 6.000 wurden ange­ nommen. Von den 12.300, die Unteroffizier werden woll­ ten, und 1.000, die sich für eine Mannschaftslaufbahn Vereint über den Wolken: eine von der NVA übernommene entschieden hatten, wurden 11.200 übernommen. Die MIG29 (o.) zusammen mit Alpha Übrigen verließen im Dezember 1990 die Bundeswehr. Jet, Tornado und Phantom (v. l.)

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land Zur Zusammenführung der beiden Streitkräfte gehört auch, dass das Bundesverteidigungsministerium insge­ samt 15 Einrichtungen von West nach Ost verlegte. So erhielt Berlin zum Beispiel die Bundeswehrverwaltungs­ schule und die Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Die Offiziersschule des Heeres und das Militärhistorische Museum fanden in Dresden eine neue Heimat, und Ros­ tock-Warnemünde wurde der neue Standort für das Fahrzeugkontrolle an der Bun- Marineamt. Insgesamt fanden so rund 8.000 Bundes­ deswehrkaserne „Albertstadt“ wehrangehörige in den neuen Ländern eine Beschäfti­ bei Dresden gung.

Die nüchternen Zahlen lassen allerdings kaum erahnen, welche Integrationsleistung die Bundeswehr nach der Wiedervereinigung erbracht hat: Immerhin waren die Soldaten in den beiden deutschen Staaten dazu ausgebil­ det, im Ernstfall aufeinander zu schießen. Es ist vor allem umsichtigen Kommandeuren der einzelnen Armee-­ Einheiten zu verdanken, dass es gelang, die Soldaten aus Bundeswehr und Nationaler Volksarmee ohne nennens­ werte Konflikte zusammenzuführen. Die „Armee der Einheit“ konnte als eine der ersten staatlichen Institu­ tionen im Einigungsprozess Vollzug melden.

Neue Medienlandschaft

Gewaltige Veränderungen vollzogen sich auch im Medi­ enbereich. Mit dem Beschluss der Volkskammer vom 5. Februar 1990, Pressefreiheit zu gewähren, änderte sich die Arbeit für Journalisten in der DDR grundlegend. Die Zeitungen der SED (17), der CDU (6), der LDPD (5), der NDPD (6) und der Massenorganisationen (3) sowie der einen Zeitung der Bauernpartei lösten sich aus der Kon­ trolle ihrer Herausgeber.

Zugleich mussten die 39 Tageszeitungen in der DDR durch den Wegfall der Subventionen ihre Preise erhö­

38 hen – bislang kosteten Tageszeitungen 0,15 DDR-Mark und ein Monatsabonnement höchstens 3,15 DDR-Mark. Und sie hatten sich gegenüber der Konkurrenz aus dem Westen zu behaupten. Vor allem in grenznahen Gebieten gaben westdeutsche Verlage lokale Nebenausgaben ­heraus. Versuche des Runden Tisches, einen „Medien­ kontrollrat“ zu schaffen, blieben erfolglos.

Stattdessen waren auflagenstarke SED-Bezirkszeitungen, die später von der Treuhand zum Verkauf ausgeschrie­ ben wurden, schon sehr früh begehrte Kooperations­ partner der großen Verlagshäuser aus den alten Ländern. Rund ein Jahr später gingen sie oft auch in deren Besitz über. Die Blätter haben bis heute einen Marktanteil von rund 90 Prozent. Elf von ihnen zählen zu den 25 aufla­ genstärksten Zeitungen Deutschlands. Neugründungen hatten keine Chance zu überleben.

Für Rundfunk und Fernsehen sah der Einigungsvertrag die Bildung öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten vor. So entstand in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thürin­ gen der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), Mecklenburg- Vorpommern schloss sich dem Norddeutschen Rundfunk (NDR) an, und für Brandenburg wurde zunächst der Ost­ deutsche Rundfunk Brandenburg (ORB) geschaffen, der 2004 mit dem Sender Freies Berlin (SFB) zum Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) fusionierte.

1997 ging in Erfurt der „Kinderkanal“ (KI.KA) auf Sen­ dung – ein Angebot von ARD und ZDF für junge Zuschauer, deren Eltern Wert auf ein werbe- und gewalt­ freies Programm legen.

— Neue Strukturen für das wiedervereinigte Land Geschichte Sturm auf die Stasi-Zentrale lässt sich am 15. Januar 1990 nicht w egschließen

40 — Geschichte lässt sich nicht wegschließen Am 15. Januar 1990 zogen tausende DDR-Bürger in die Berliner Normannenstraße, riefen „Stasi raus!“ und besetzten die Zentrale des einstigen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Der Sturm auf die Stasi-Zentrale in Ost-Berlin setzte den Schlusspunkt für den Spitzelapparat des SED-Regimes. Unzählige Akten konnten so vor dem Reißwolf gerettet werden.

Insgesamt 39 Millionen Karteikarten und 180 Kilometer Akten hat die Stasi über die Menschen in der DDR zusam­ mengetragen. Die Dokumente belegen, mit welchen Methoden die SED die Bevölkerung ausforschen und ­politisch Andersdenkende mundtot machen ließ. Selbst Übersiedler und Ausgewiesene konnten vor „Zerset­ zungsmaßnahmen“ nicht sicher sein: Die Stasi schreckte nicht davor zurück, sie bis nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik zu verfolgen.

Die Stasi-Akten bergen allerdings nicht nur Zeugnisse, die Täter überführen, sondern beweisen auch, wie viel Mut Menschen zeigten, die sich auf das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung beriefen. Sonst wäre der ­ungeheure Aufwand, den die Stasi betrieb, nicht not­ wendig ­gewesen. Zudem enthalten die Unterlagen viele Hinweise darauf, mit wie viel Fantasie sich DDR-Bürger Anwerbe­versuchen der Stasi entzogen haben, weil sie Verwandte, Freunde, Nachbarn und Kollegen nicht Joachim Gauck, der erste Beauf- ­bespitzeln wollten. tragte für die Stasi-Unterlagen

Was tun mit den Stasi-Akten?

Die Geschichte der DDR lässt sich nicht einfach so weg­ schließen. Das zeigt das große Interesse der Ostdeutschen an ihrer Vergangenheit: Immerhin haben seit Inkrafttre­ ten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes am 20. Dezember 1991 rund 2,5 Millionen Privatpersonen Anträge auf Auskunft, Einsicht und Herausgabe von Stasi-Unterlagen gestellt.

42 Die „Birthler-Behörde“ In Zahlen

Umfang aller Unterlagen rund 180 mit Schriftgut Kilometer

Antragszahlen seit 1991 insgesamt 6.453.400 Darunter 2005 2006 2007 2008 2009 Anträge von Bürgern auf Auskunft, 2.661.969 80.574 97.068 101.521 87.366 102.658 Einsicht und Herausgabe 1 Ersuchen zur Überprüfung von ­Mitarbeitern des öffentlichen 1.754.235 50.946 13.187 523 345 175 ­Dienstes Sonstige Überprüfungen 410.427 Anträge von Journalisten und 23.131 1.079 1.273 1.387 1.418 1.930 ­Wissenschaftlern Anträge zu Fragen der Rehabilitie- rung, Wiedergutmachung, 467.153 6.736 5.625 9.482 32.208 2 11.4193 ­Strafverfolgung Ersuchen zu Renten­ 1.136.343 angelegenheiten

1 Angabe umfasst Erst- und Wiederholungsanträge, Anträge auf Decknamen­ entschlüsselung und Heraus­ gabe von Kopien. 2 davon 26.152 Ersuchen zur Opferrente 3 davon 5.662 Ersuchen zur Opferrente

Bürgerrechtler nehmen Einsicht in ihre Stasi-Akten. Von links: Eva-Maria Hagen, Pamela Bier- mann, Katja Havemann, Jürgen Fuchs und Wolf Biermann.

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen Stasi-Akten Allein 2009 hat die Bundesbeauftragte für die Unter­ lagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, ­Marianne Birthler, 102.658 neue Anträge auf Einsicht in die DDR-Altlast registriert. Das waren über 15.000 mehr als 2008. Auch die Zahl der Anträge aus Wissenschaft und Medien ist gestiegen. Seit Bestehen der Behörde, die die Akten auf der Grundlage des Stasi-Unterlagen- Gesetzes erfasst, erschließt und verwaltet, sind über 23.000 Medien- und Forschungsanträge gestellt worden. Dass dabei Personen der Zeitgeschichte in der Öffentlich­ keit von besonderem Interesse sind, liegt auf der Hand. Ihre Akten können nach einer Novellierung des Gesetzes 2006 auch weiterhin eingesehen werden.

Insgesamt zieht die Beauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes eine positive Bilanz. Nach ihrer Einschätzung hat die Offenheit der Akteneinsicht zur Versöhnung beigetragen und nicht zur Spaltung, wie gerne behauptet wird.

Dass selbst nach 20 Jahren immer noch Stasi-Spitzel ent­ tarnt werden, hat sich erst vor Kurzem in Brandenburg gezeigt. Gleich mehrere Abgeordnete, so kam heraus, haben als Informelle Mitarbeiter (IM) für den Staatssi­ cherheitsdienst der DDR gespitzelt. Die Enthüllung hat bundesweit hohe Wellen geschlagen. Mit der früheren DDR-Bürgerrechtlerin Ulrike Poppe hat auch Branden­ burg – als letztes neues Bundesland – eine Landesbeauf­ tragte zur Aufarbeitung der Folgen der kommunisti­

44 schen Diktatur eingesetzt. Das, so Marianne Birthler, sei eine Genugtuung für all jene, denen die Aufarbeitung der Diktatur am Herzen liege. Es gebe aus Brandenburg in jüngster Zeit eine Zunahme von Anträgen auf Einsicht in die Stasi­Akten. Die Bürger des Landes wollten wissen, ob und warum sie bespitzelt wurden und wer dafür ver­ antwortlich war. Das ist heute noch genauso brisant wie nach der Erstürmung der Stasi­Zentrale vor 20 Jahren.

Erinnerung wachhalten

Wie wichtig es ist, die Erinnerung an die SED-Diktatur vor allem bei der Jugend wachzuhalten, machen Umfra­ gen an den Schulen deutlich. Wissenschaftler des For­ schungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin haben „Das DDR-Bild von Schülern“ untersucht und dazu 2.400 Schüler und Jugendliche der Bundeshauptstadt befragt. Das Ergebnis: Die Hälfte der Schüler gab an, dass die DDR zu wenig im Unterricht behandelt werde, und 20 Prozent erklärten, das Thema sei überhaupt noch nicht vorgekommen. Entsprechend ist der Wissensstand. Nur jeder zweite befragte Schüler in Berlin hält die DDR für eine Diktatur, und ein Drittel wusste nicht einmal, dass die DDR die Mauer gebaut hat.

Einen wichtigen Beitrag zur historischen Auseinander­ setzung mit der deutschen Teilung und deren Folgen ­leistet die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Dik­ tatur. Sie richtet sich vor allem an Jugendliche, die das DDR-Regime und die Mauer nicht mehr kennengelernt haben. Mehr als 1.700 Projekte hat die Stiftung in den ­vergangenen Jahren gefördert, die nicht nur für die ­Menschen in den neuen Ländern gedacht sind.

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen Gedenkstätten zur Erinnerung an Opposition, Widerstand und Verfolgung in der SBZ / DDR

Berlin • Dokumentationszentrum • Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Berliner Mauer • Informations- und Dokumentations- • Erinnerungsstätte Notaufnahme- zentrum der Bundesbeauftragten für lager Marienfelde die Unterlagen des Staatssicherheits- • Forschungs- und Gedenkstätte dienstes Normannenstraße • Museum Haus am Checkpoint Charlie Brandenburg • Bildungs- und Dokumentationsstätte • Gedenkstätte Speziallager Nr. 1 des „Lindenstraße 54“, Potsdam NKWD/MWD Mühlberg/Elbe • Gedenk- und Dokumentationsstätte • Gedenkstätte und Museum „Opfer politischer Gewaltherrschaft“ Sachsenhausen • Gedenkstätte Internierungslager • Internierungslager Jamlitz Ketschendorf • Zentralwaldfriedhof Halbe • Zuchthaus Brandenburg-Görden Mecklenburg- • Dokumentationszentrum für die Opfer • Untersuchungshaftanstalt des MfS, Vorpommern deutscher Diktaturen, Schwerin ­R o s t o c k Demmlerplatz Niedersachsen • Grenzdurchgangslager Friedland Sachsen • Stiftung Sächsische Gedenkstätten • Erinnerungs- und Begegnungsstätte im • Dokumentations- und Informations- ehemaligen Jugendwerkhof Torgau zentrum (DIZ) Torgau • Museum im Stasi-Bunker, Machern • Gedenkstätte Bautzen • Museum in der „Runden Ecke“ • Gedenkstätte Münchner Platz Dresden Sachsen-Anhalt • Gedenkstätte Deutsche Teilung • Gedenkstätte Moritzplatz Magdeburg Marienborn für die Opfer politischer Gewaltherr- • Gedenkstätte Roter Ochse Halle/Saale schaft Thüringen • Gedenkstätte Buchenwald

Grenzmuseen

• Grenzlandmuseum Bad Sachsa e. V. • Grenzhus, Schlagsdorf • Grenzlandmuseum Eichsfeld • Grenzlandmuseum Schnackenburg • Zonengrenz-Museum Helmstedt • Grenzlandmuseum „Swinmark“ Schnega • Grenzdenkmal Hötensleben • Thüringisch-Fränkische Begegnungs- • Gedenkstätte Deutsche Teilung stätte mit der Informationsstelle über Marienborn die Teilung Deutschlands, Neustadt bei • Deutsch-Deutsches Museum Coburg Mödlareuth • Wanfrieder Dokumentationszentrum zur • Grenzmuseum „Schifflersgrund“ deutschen Nachkriegsgeschichte

Museen zur oder mit einem Schwerpunkt DDR-Geschichte

• DDR-Museum, Berlin • „Gegen das Vergessen“ – Sammlung zur • Deutsches Historisches Museum, DDR-Geschichte, Pforzheim Berlin • Haus der Geschichte der Bundes- • Deutsch-Russisches Museum Berlin- republik Deutschland, Bonn Karlshorst • Museum für Junge Kunst, Frankfurt/ • Dokumentationszentrum Alltags- Oder kultur der DDR e. V., Eisenhüttenstadt • Wittenberger Haus der Geschichte • Filmmuseum Potsdam • Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

46 Das Grenzmuseum in Möd- lareuth. Zu DDR-Zeiten hieß der Die Erinnerung an die Geschichte der deutschen Teilung Ort „Klein-Berlin“, weil er durch die Grenze geteilt war. wachzuhalten und der Opfer von Mauerbau und Teilung zu gedenken, das ist die Aufgabe zahlreicher Stiftungen und Gedenkstätten. Sie sind nicht nur in Berlin und ent­ lang der ehemaligen innerdeutschen Grenze zu finden, sondern auch an vielen anderen Orten in Deutschland.

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen Zu den wichtigsten Erinnerungsorten für die Opfer kom­ munistischer Gewaltherrschaft gehört das ehemalige Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staats­ sicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Dort waren von 1951 bis 1989 vor allem politische Gefangene inhaftiert – ohne Gerichtsverfahren und unter menschenunwür­ digen Bedingungen. Auch in der Sonderhaftanstalt „Bautzen II“, die das Mielke-Ministerium in einen Hoch­ Das Stasi-Untersuchungsgefäng- sicherheitstrakt mit 200 Plätzen für Regimekritiker, nis in Berlin-Hohenschönhausen Gefangene aus Westdeutschland und Spione ausgebaut hatte, befindet sich eine Gedenkstätte, die der Bund ­fördert.

Über die Geschichte der Berliner Mauer und die Flucht­ bewegungen aus der DDR informieren die Gedenk­stätten Berliner Mauer in der Bernauer Straße und das Notauf­ nahmelager Marienfelde. Beide Orte spiegeln wichtige Aspekte der deutschen Teilung wider: Die Bernauer Straße wurde nach dem Mauerbau am 13. August 1961 durch dramatische Fluchtversuche zum Symbol der Tei­ lung Berlins, die Familien, Freunde und Nachbarn über Nacht gewaltsam auseinanderriss. Das Notaufnahme­ lager Marienfelde passierten bis zum Ende der DDR 1,35 Millionen Menschen. Hier wurden sie untergebracht und versorgt. Eine Ausstellung erinnert heute an Ursachen, Verlauf und Folgen der innerdeutschen Fluchtbewegung.

Dunkelzellentrakt im ehema- Wie die SED mit Jugendlichen umging, die sich der Erzie­ ligen Jugendwerkhof Torgau, hung zu „sozialistischen Persönlichkeiten“ widersetzten, heute eine Gedenkstätte lässt sich in Torgau nachempfinden. Dort befand sich von 1964 bis 1989 ein „Geschlossener Jugendwerkhof“, in den über 4.000 14­ bis 18­Jährige zur „Anbahnung eines Umer­ ziehungsprozesses“ eingewiesen wurden. Heute ist das Gebäude eine Gedenkstätte. Die Jugendlichen hatten keine Straftaten begangen, und es gab keine richterli­ chen Anordnungen für die Einweisung. Faktisch han­ delte es sich jedoch um ein Gefängnis, in dem ähnliche Regeln galten wie im Strafvollzug. Paramilitärischer

48 Die Berliner Mauer-Gedenk- stätte an der Bernauer Straße Drill, vielfach auch schlimme Misshandlungen sollten die Jugendlichen dazu bringen, sich den „sozialistischen Lebensformen“ unterzuordnen. Der Jugendwerkhof gehörte zur „Jugendhilfe“, die direkt DDR-Volksbildungs­ ministerin Margot Honecker unterstand.

„Besuch“ im Morgengrauen

Zu den düsteren Kapiteln des SED-Staates, die sich erst nach der Wiedervereinigung aufarbeiten ließen, gehör­ ten die Zwangsaussiedlungen. In zwei groß angelegten Nacht-und-Nebel-Aktionen hatte das Regime über 12.000 Menschen an der innerdeutschen Grenze zwangsumge­ siedelt. Über 3.000 konnten noch in den Westen flüchten. Manche der Dörfer in Grenznähe wurden dem Erdboden gleichgemacht. Eine gesetzliche Grundlage dafür gab es nicht.

— Geschichte lässt sich nicht wegschließen 50 Aufbau Ost – viel zu tun

BUNA-Werk Schkopau, 1990 Die DDR hat ihre Wirtschaftslage, die in den 80er Jahren immer aussichtsloser wurde, lange zu verheimlichen ­versucht. Noch kurz nach dem Mauerfall beschönigten ostdeutsche Spitzenpolitiker gegenüber ihren westdeut­ schen Gesprächspartnern die Situation. Dabei hätten sie wissen müssen, dass der Chef der Staatlichen DDR-Pla­ nungskommission, Gerhard Schürer, schon Mitte der 1970er Jahre vor einer rasant steigenden Verschuldung bei westlichen Banken gewarnt hatte. Im Mai 1989, als sich das Ende des Arbeiter-und Bauern-Staates schon langsam abzeichnete, schlug er noch einmal Alarm und verwies darauf, dass die DDR auf unverantwortliche Weise über ihre Verhältnisse lebte und dass die Verschul­ dung der DDR monatlich um eine halbe Milliarde Ost­ mark zunehme. Wenn so weiter gewirtschaftet werde, so Schürer, sei das Land schon 1991 zahlungsunfähig.

Außenhandelsminister Gerhard Beil und sein Staatsse­ kretär Alexander Schalck-Golodkowski errechneten kurz vor dem Mauerfall, dass sich ein Stopp der Verschuldung nur durch die Verringerung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erreichen lasse. Damit werde die DDR aber unregierbar.

So war verständlich, dass DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière 1990, als das finanzielle Desaster immer sichtbarer wurde, Bundeskanzler Helmut Kohl in seinem Urlaubsort am Wolfgangsee aufsuchte und die Befürch­ tung äußerte, dass die DDR noch vor der Vereinigung am 3. Oktober einen wirtschaftlichen Kollaps erleide.

Die Treuhandanstalt

Wie nahe die DDR tatsächlich am Abgrund stand, wurde erst richtig sichtbar, als die Treuhandanstalt ihre Arbeit aufnahm und hinter die Kulissen der volkseigenen Kom­ binate und Betriebe blicken konnte. Zuvor hatte bereits

52 die Modrow-Regierung eine erste Treuhand ins Leben gerufen. Sie sollte volkseigene Unternehmen in Aktien­ gesellschaften umwandeln und die kleinen und mitt­ leren Betriebe reprivatisieren, die Anfang der 1970er Jahre enteignet worden waren. Im Zentrum der Modrow- Treuhand stand aber die Erhaltung und Bewahrung des Volkseigentums.

Die neue Treuhandanstalt hingegen, die ihre Arbeit mit einem Mandat der frei gewählten Volkskammer auf­ nahm, sollte fast 8.000 Betriebe mit über vier Millionen Beschäftigten privatisieren – und ihnen so neue Chancen auf dem Markt eröffnen. Die Devise von Treuhandchef Detlev Karsten Rohwedder lautete: Schnell privatisieren – entschlossen sanieren – behutsam stilllegen.

Auch die Treuhandanstalt startete allerdings mit einer grandiosen Fehleinschätzung. So rechneten ihre Chefs mit einem Industrievermögen der DDR von etwa 600 Mil­ liarden DM. Als die Treuhand Ende 1994 ihre Arbeit been­ dete, verzeichnete sie ein Defizit von 204 Milliarden DM, das zu Lasten der Steuerzahler ging. Die Wettbewerbs­ fähigkeit der DDR-Wirtschaft und damit der Wert des DDR-Vermögens waren durchgängig, auch im Westen, Detlev Karsten Rohwedder, der überschätzt worden. Auch Helmut Kohl gestand dies in erste Chef der Treuhandanstalt seinen Memoiren ein.

Im September 1990 klang Rohwedders erster Bericht vor den Volkskammerabgeordneten noch optimistisch. ­Rohwedder räumte zwar einen „holprigen Start“ bei der Privatisierung ein, verwies aber auch auf reges Interesse von ausländischen Investoren. Dem Treuhand-Chef war bereits zu diesem frühen Zeitpunkt klar, dass die Treu­ handanstalt nach rund einem Jahr von der „Verkäufer­ situation in die Anbietersituation“ gelangen würde.

— Aufbau Ost – viel zu tun Bei genauerem Hinsehen erwiesen sich die meisten Betriebe als kaum sanierungsfähig. Die Maschinen waren größtenteils völlig veraltet, der produktionstechnische Rückstand auf die alten Bundesländer betrug mitunter mehrere Jahrzehnte. Neue Produkte, etwa neue Fahrzeug­ modelle, auf den Markt zu bringen war immer wieder an fehlenden Werkstoffen gescheitert.

Wegen des chronischen Devisenmangels konnte sich die Prototyp eines modernen Wart- burg, der nicht in Serie ging DDR nicht die erforderlichen Rohstoffe im Ausland besor­ gen. Vor allem fehlten den Betrieben nach 40 Jahren der Abschottung vermarktbare Produktmarken und die ­Kundenstämme. Zur nüchternen Abschlussbilanz des ­SED-Staates gehört auch: Weil das Regime um jeden Preis Vollbeschäftigung organisieren wollte, war ein Teil der Betriebsangehörigen faktisch beschäftigungslos.

Gleichwohl ist in den neuen Ländern die Kritik an der Arbeit der Treuhand bis heute nicht verstummt. Der Hauptvorwurf lautet, dass unter Detlev Karsten Rohwed­ der, der am 1. April 1991 in seinem Düsseldorfer Haus von RAF-Terroristen ermordet wurde, und seiner Nachfolgerin Birgit Breuel überlebensfähige DDR-Unternehmen zu schnell abgewickelt worden seien. Dabei sei es auch darum gegangen, unliebsame Konkurrenz für etablierte West- Firmen auszuschalten. Einer nüchternen Analyse des DDR- Erbes hält diese Kritik jedoch allenfalls in wenigen Einzel­ fällen stand. Die Treuhand hat alles in allem wesentlich dazu beitragen können, dass die ostdeutschen Betriebe zügig in die Marktwirtschaft einsteigen konnten.

Absatzmärkte brachen weg

Eine Rolle bei der wirtschaftlichen Talfahrt in Ostdeutsch­ land spielte auch der Zusammenbruch des Handels mit den ehemaligen sozialistischen Ländern Osteuropas. Noch 1991 gingen Kohl und Gorbatschow von Warenlieferungen

54 aus Ostdeutschland nach Russland im Wert von 25 Milli­ arden DM aus. Schon ein Jahr später waren es weniger als fünf Milliarden DM. Exporte DDR/RGW

Entwicklung des Warenhandels der DDR

Finnland Norwegen

Schweden Estland

Lettland Litauen Vereinigtes Königreich Niederlande Weißrussland DDR Polen Deutschland

Ukraine Tschechien Slowakei Moldawien Frankreich Österreich Schweiz Ungarn Slowenien Rumänien Italien Kroatien

Serbien Bulgarien Bosnien Albanien Griechenland Türkei

Entwicklung des Warenhandels der DDR mit dem Entwicklung des Warenhandels der DDR mit dem nicht sozialistischen Wirtschaftsgebiet sozialistischen Wirtschaftsgebiet Zeit Export insgesamt Import ingesamt Zeit Export insgesamt Import ingesamt 1975 7.692 10.447 1975 13.115 13.304 1980 12.621 15.385 1980 19.618 19.917 1989 16.299 19.173 1989 31.078 29.177

— Aufbau Ost – viel zu tun Einen Schock für die Verbraucher löste auch die Preis­ entwicklung aus. Jahrzehntelang hatte die DDR die Preise festgesetzt und Grundnahrungsmittel subventio­ niert. Was abstruse Blüten trieb: Wer im Wald Beeren sammelte und verkaufte, bekam dafür mehr, als er für die gleichen Beeren auf dem Markt zahlen musste. Dieses System konnte auf Dauer nicht funktionieren. Jetzt fielen diese Subventionen weg, zwangsläufig wurden beispiels­ weise Brot oder Milch um ein Vielfaches teurer.

Auch mit dem bislang unbekannten Problem der Arbeits­ losigkeit wurden die Ostdeutschen plötzlich konfron­ tiert. Schon Mitte Februar 1990 wurde das erste Arbeits­ losengeld gezahlt. Da hielt sich die Zahl der Arbeitslosen mit rund 142.000 noch im Rahmen. Allerdings stieg die Zahl der Menschen ohne einen Job bereits im Herbst 1990 auf rund eine halbe Millionen. Bis 1996 ging etwa die Hälfte der vier Million Arbeitsplätze in den Betrieben, die zur Treuhand gehörten, verloren.

Der Solidarpakt

Aufgrund der Wirtschaftsschwäche und des enormen Investitionsbedarfs zur Modernisierung der maroden Infrastruktur war von Anfang an klar, dass der wirt­ schaftliche Aufbau in den neuen Ländern nur mit einem enormen finanziellen Kraftakt zu stemmen war. Im Mit­ telpunkt stand dabei zunächst die Unterstützung der ­ostdeutschen Länder aus dem Fonds Deutsche Einheit. Die neuen Länder sofort in den sogenannten Länder­ finanzausgleich einzubinden barg zu große Risiken, denn ihre Finanzkraft unterschied sich stark von den westdeutschen Ländern. Insgesamt erhielten die ost­ deutschen Länder in den Jahren von 1990 bis 1994 über den Fonds rund 82 Mrd. Euro, von denen 40 Prozent den Kommunen zugutekamen.

56 Von 1995 bis 2004 erfolgte die Hilfe über den Solidar­ pakt I, den Bund und Länder ausgehandelt hatten. Die neuen Länder wurden mit gleichen Rechten und Pflich­ ten in den Länderfinanzausgleich einbezogen. Darüber hinaus erhielten sie jährliche Transferzahlungen des Bundes in Höhe von 20,6 Milliarden DM.

Schon bald wurde klar, dass der Solidarpakt weiterbeste­ hen musste, um die Wirtschaftskraft und die Beschäfti­ gung zu fördern und die Infrastrukturlücke weiter abzu­ bauen. Der Solidarpakt II trat 2005 in Kraft und gilt bis 2019. Er hat ein Gesamtvolumen von 156,5 Milliarden Euro und wird vom Bund finanziert. Die bereitgestellten Mittel nehmen Jahr für Jahr ab.

Der Solidarpakt II stellt den zentralen finanziellen Rah­ men für den Aufbau Ost dar und hat wesentlich dazu bei­ getragen, dass die ostdeutschen Länder binnen weniger Jahre eine beispiellose Entwicklung vollziehen konnten.

Zu Beginn der 1990er Jahre gab es unter anderem bei der Telekommunikation einen besonders gravierenden Rückstand. Es war zur Zeit der Wiedervereinigung gera­ dezu abenteuerlich, über die ehemalige innerdeutsche Grenze hinweg telefonieren zu wollen. Ein Großteil der Arbeitszeit ging damit verloren, eine Telefon- oder Fax­ verbindung herzustellen. Zum Ende der DDR kamen auf 100 Einwohner gerade einmal zehn Anschlüsse. Knapp sieben Jahre später, als die Telekom den Aufbau Ost offizi­ ell für abgeschlossen erklärte, waren es 50 Anschlüsse. Das bedeutete nahezu Gleichstand mit dem Westen, wo auf 100 Einwohner 52 Anschlüsse entfielen.

Aus dem maroden Telefonnetz des Ostens war schon zur Mitte der 1990er Jahre eines der modernsten Netze der Welt geworden.

— Aufbau Ost – viel zu tun Autobahnbaustelle bei ­Wandersleben in Thüringen Ausbau der Verkehrsinfrastruktur

Einen ähnlichen Rückstand gegenüber dem Westen galt es auch beim ostdeutschen Straßen- und Schienennetz aufzuholen. In den 40 Jahren DDR wurden neue Autobah­ nen nur zwischen Berlin und Hamburg (als Transitverbin­ dung vom Westen finanziert) sowie von Berlin nach Ros­ tock gebaut. Erneuerungen auf den bereits bestehenden Autobahnen gab es kaum. In der alten Bundesrepublik wurde das Autobahnnetz hingegen im gleichen Zeit­ raum von rund 2.200 auf insgesamt rund 8.800 Kilometer erweitert.

Die Mängel des Verkehrsnetzes waren schnell zu spüren, als die Zahl der West-Autos in den neuen Ländern gera­ dezu explodierte. Das Straßennetz war dem rasant zunehmenden Verkehrsaufkommen nicht gewachsen. Die Folge war eine deutliche Zunahme der Verkehrs­ unfälle.

58 Neuer Lärmschutztunnel in Jena-Göschwitz

Das Bundesverkehrsministerium startete ein Sofortpro­ gramm. Durch Leitplanken und Standstreifen wurden Unfallschwerpunkte beseitigt. Die Verkehrssicherheit in den neuen Ländern verbesserte sich rasch, die Zahl der Verkehrstoten auf ostdeutschen Autobahnen sank von 1991 bis 1992 um rund 25 Prozent.

Verkehrsprojekte Deutsche Einheit

Mitentscheidend für den zügigen Aufbau einer leistungs­ fähigen Verkehrsinfrastruktur in den neuen Ländern waren die 17 Verkehrsprojekte Deutsche Einheit (VDE), die die Regierung Kohl im April 1991 beschlossen hatte.

Die neun Schienen- und sieben Autobahnvorhaben sowie ein Wasserstraßenprojekt hatten ein Gesamtinvestitions­ volumen von rund 39 Milliarden Euro. Sie galten als ­Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung und für das Zusammenwachsen von Ost und West. Dauerte bei­ Bahnbrückenbau bei Riesa (Sachsen) spielsweise Ende der 1980er Jahre eine Bahnfahrt von ­Hannover nach Berlin noch mehr als vier Stunden, beträgt die Reise­zeit heute nur noch rund eineinhalb Stunden.

Bislang sind sechs Schienenprojekte und rund 1.840 km Straße für den Verkehr freigegeben, während weitere 70 km Straße im Bau sind. Damit sind heute mehr als 95 Prozent der Straßenvorhaben verwirklicht oder in der Umsetzung. Bis auf den Neubau der A44 von Kassel zur A4 bei Eisenach soll das gesamte VDE-Straßennetz bis Ende 2010 weitestgehend fertiggestellt sein. Wasserstraßenkreuz Magdeburg

— Aufbau Ost – viel zu tun Ausbau der Autobahnen in den neuen Bundesländern

Ausbau der Bahntrassen Neubau der Autobahnen Stralsund Lübeck Rostock Hamburg Schwerin

Uelzen

Salzwedel Stendal Hannover Berlin Helmstedt

Magdeburg

Eichenberg Nordhausen Bitterfeld Halle Leipzig Eisenach Dresden Erfurt Bebra

Nürnberg

Aufholprozess noch nicht beendet

Ausschlaggebend für den Aufholprozess der ostdeut­ schen Länder gegenüber dem Westen bleibt jedoch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Menschen in den neuen Ländern bescheinigt, dass sie in den zurückliegenden Jahren „unheimlich viel“ geleistet haben. Wegen der im Ver­ gleich zu den alten Ländern nach wie vor geringeren Steuereinnahmen und einer doppelt so hohen flächen­ deckenden Arbeitslosigkeit seien jedoch noch „etliche Jahre“ besondere Anstrengungen nötig, so Merkel.

60 Gleichwohl sprechen Wirtschaftsexperten von einer „Wohlstandsexplosion“ in den neuen Ländern. Die Aus­ stattung der Wohnungen mit langlebigen Konsum­ gütern hat sich dem westdeutschen Niveau weitgehend angeglichen.

Das verfügbare Durchschnittseinkommen je Einwohner wuchs von 1991 bis 2007 in den neuen Ländern um 85 Prozent auf 1.260 Euro im Monat, während es in West­ deutschland nur um 40 Prozent auf 1.603 Euro zunahm.

Auch das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner stieg von 1991 bis 2007 im Osten von 9.442 Euro auf 22.145 Euro. Das entspricht einem Zuwachs von 135 Prozent. Im Westen betrug der Anstieg im gleichen Zeitraum nur 42 Prozent auf insgesamt 31.381 Euro. 2009 erreichte das Brutto­ inlandsprodukt je Einwohner in den neuen Ländern (ein­ schließlich Berlin) 73 Prozent des Westniveaus.

Besonders wichtig für den Aufholprozess war die höhere Wachstumsrate der ostdeutschen Industrie im Vergleich zum Westen. So nahm die Bruttowertschöpfung im ­Verarbeitenden Gewerbe zwischen 1991 und 2009 um atemberaubende 104 Prozent zu, während es in West­ deutschland nur knapp 3 Prozent waren. Auch in der jüngsten Wirtschaftskrise hat sich die ostdeutsche Wirt­ schaft insgesamt günstiger entwickelt als die im Westen. Inzwischen hat sich der Trend aber wieder umgekehrt.

Nach Berechnungen des Instituts für Wirtschaftsfor­ schung Halle (IWH) haben die neuen Länder zwar im ­Krisenjahr 2009 Boden gutmachen können, weil der ­konjunkturelle Absturz weniger stark als im Westen aus­ fiel. Allerdings setzt sich bei ihnen auch die wirtschaft­ liche Erholung etwas langsamer durch als in den alten Ländern.

— Aufbau Ost – viel zu tun Ost-Unternehmen legen zu – Export gewinnt an Bedeutung

Die ostdeutsche Wirtschaft musste in der Marktwirt­ schaft nicht nur die Geschäftsprozesse optimieren und Produkte entwickeln, die deutschlandweit absetzbar waren. Diese Zeit stand auch im Zeichen verstärkter Glo­ balisierung, sodass die Herausforderung darin bestand, international wettbewerbsfähige Produkte und Struk­ turen zu schaffen.

Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts in den neuen Ländern 1991–2008 Phase 1 Phase 2 Phase 3 (ohne ­Berlin, alte ­Länder = 100) 75 % Quelle: Jahresbericht der ­Bundesregierung zum Stand 70 % der Deutschen Einheit 2009 65 % 60 % 55 % 50 % 45 % 40 % 1991 1997 1993 1992 1999 1995 1998 1996 1994 2001 2007 2003 2002 2005 2008 2006 2004 2000

Die Unternehmen in den neuen Ländern haben diese Herausforderungen angenommen. In den vergangenen Jahren ist es gelungen, in der Chemieindustrie, im Maschinenbau und insbesondere auf den zukunfts­ orientierten Wirtschaftsfeldern einen Spitzenplatz zu erobern. Das gilt für die erneuerbaren Energien, aber auch für die Medizintechnik, Gesundheitswirtschaft, Nanotechnologie oder Optische Technologien. Die Unter­ nehmen, die sich in diesen Bereichen engagiert haben, werden sowohl von der Bundesregierung als auch von den Ländern besonders gefördert.

62 Die Unterstützung der Mikroelektronikforschung durch die Staatsregierung in Sachsen ist ein Beispiel dafür. Der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Peter Keitel, kommt sogar zu dem Schluss, dass die alte DDR-Industrie, die in den 1990er Jahren weg­ gebrochen ist, inzwischen durch sehr moderne und zukunftsorientierte Betriebe abgelöst worden sei. Und die Zahlen geben ihm recht. Allein 2009 haben die Inves­ titionen in neue Ansiedlungen und Modernisierungen dazu geführt, dass erneut 15 Prozent der ostdeutschen Bruttowertschöpfung auf das verarbeitende Gewerbe entfielen. Damit ist die Reindustrialisierung der neuen Länder auch im internationalen Vergleich weit voran­ gekommen, denn das ist deutlich mehr als in den Indus­ trieländern USA, Großbritannien oder Frankreich.

— Aufbau Ost – viel zu tun „Wir sind sehr weit gekommen. Wir haben eine sehr gute Infrastruktur geschaffen. Wir haben kleinere Unternehmen, aber zum Teil auch schon international wettbewerbsfähige kleine Unternehmen. Und man muss eben wissen: Es dauert lange.“

Die neuen Länder haben zugleich an Attraktivität für Klaus von Dohnanyi, ehem. ausländische Investoren gewonnen. Es ist vor allem die Hamburger Bürgermeister, geografische Lage zwischen den hoch industrialisierten sanierte und privatisierte nach der Wiedervereinigung das westeuropäischen Staaten und den neuen EU-Mitglieds­ Schwermaschinenkombinat staaten Osteuropas, die Ostdeutschland für Investoren TAKRAF in Leipzig aus Asien und Amerika so interessant macht. Nach den Worten des Chefs der Standortmarketinggesellschaft Germany Trade and Invest, Michael Pfeiffer, sind es besonders die hohe Qualifikation der ostdeutschen Fach­ arbeiter und die duale Berufsausbildung, die mehr und mehr ausländische Firmen dazu bringen, sich in den neuen Ländern anzusiedeln. Ihnen gehe es meist nicht nur um die reine Produktion, sondern auch um die ­Weiterentwicklung von Erzeugnissen. So nutzten sie die inzwischen gute Vernetzung von Unternehmen mit Uni­ versitäten und Forschungseinrichtungen. Als Beispiel führt Pfeiffer die Photovoltaik an. In dieser Branche seien die neuen Länder inzwischen weltweit die Nummer eins.

Die gestiegene Wettbewerbsfähigkeit der neuen Länder zeigt sich auch an der Zunahme des Exports. Vor Aus­ bruch der internationalen Finanzmarktkrise gelang es den Unternehmen sogar, die Ausfuhren stärker als in den alten Ländern zu steigern. So nahmen die Ausfuhren ­zwischen 2002 und 2008 um 127 Prozent zu, während der Zuwachs im Westen nur 60 Prozent betrug. Das ändert allerdings nichts daran, dass der Exportanteil in den neuen Ländern mit 20,3 Prozent immer noch erheblich unter dem westdeutschen Vergleichswert von 34,5 Pro­ zent liegt.

Photovoltaik

64 Das Auslandsgeschäft wirkt sich auch positiv auf die Schaffung von Arbeitsplätzen aus. Laut einer Prognos-­ Studie hat die Belegschaft in Unternehmen mit Auslands­ engagement zwischen 2005 und 2008 um sieben Prozent zugenommen, während Firmen, die nur für den Binnen­ markt produzieren, um fünf Prozent gewachsen sind.

Wie in den alten Ländern ging die Arbeitslosigkeit auch in den neuen im Laufe der vergangenen fünf Jahre deutlich zurück. Waren 2006 noch fast 1,5 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet, waren es im Jahresdurchschnitt 2009 rund 400.000 weniger. Trotz dieser erfreulichen Entwick­ lung ist die Arbeitslosenquote immer noch deutlich höher als im Westen. Das zeigt, dass der Aufbau der Wirtschaft in den neuen Ländern zwar fortschreitet, aber nach wie vor besonderer Unterstützung bedarf.

Landwirtschaft behauptet sich

Zu den Erfolgsgeschichten des Einigungsprozesses gehört die Entwicklung der ostdeutschen Landwirtschaft. Ihre Produktivität ist seit der Wiedervereinigung ständig gestiegen. So nahm die Durchschnittsernte bei Weizen von rund 5.200 Kilo pro Hektar im Jahr 1990 auf über 7.600 Kilo zu. Auch die Milchleistung der Kühe erhöhte sich von jährlich 4.180 Liter auf 8.276 Liter.

Die Zahl der Beschäftigten ist zeitgleich erheblich gesun­ ken. 1990 waren in der DDR-Landwirtschaft rund 850.000 Menschen tätig, bereits im April 1991 war fast eine halbe Million ausgeschieden. 2007 gab es in den 30.100 land­ wirtschaftlichen Betrieben der neuen Länder nur noch rund 159.000 Beschäftigte. Dass nur etwa 1,7 Arbeitskräfte je 100 Hektar für die ostdeutsche Landwirtschaftsproduk­ tion erforderlich sind, liegt nach Einschätzung von Exper­ ten auch am geringen Anteil der Viehhaltung. Zwar wur­ den in den vergangenen Jahren die Bestände an Geflügel

— Aufbau Ost – viel zu tun und Schweinen aufgestockt, doch spielt die Tierhaltung eine wesentlich geringere Rolle als im Westen.

Die nach wie vor großen, zusammenhängenden Flächen bieten für die Landwirtschaftsbetriebe in den neuen Län­ dern erhebliche Kostenvorteile. So können die Betriebe leistungsstarke Erntemaschinen nutzen und benötigen weniger Arbeitskräfte.

Auch auf den Zukunftsfeldern nachwachsende Rohstoffe und ökologisch erzeugte Lebensmittel haben die Ost­ deutschen mittlerweile die Nase vorn. Mit zwölf Prozent Anteil im Ökolandbau liegt Mecklenburg-Vorpommern bundesweit an der Spitze. Auch alle großen Biosprit-­ Fabriken liegen in den neuen Ländern. Experten sind sich einig: Die Anpassungsprobleme in der Landwirtschaft, die dem Westen noch bevorstehen, sind im Osten schon gelaufen.

Als wichtigste Ursache für die Aufwärtsentwicklung der Landwirtschaft in den neuen Ländern gilt die Tatsache, dass die Landwirte wieder Eigenverantwortung tragen. In der ehemaligen DDR waren nicht nur die ökonomi­ schen Anreizsysteme unzureichend, sondern durch die Kollektivierung waren die Landwirte auch weitgehend von Grund und Boden entfremdet. Deshalb hat bereits die Volkskammer im Juni 1990 das erste sogenannte Landwirtschaftsanpassungsgesetz verabschiedet. Es schuf die Rechtsgrundlage zur Wiederherstellung und Gewährleistung des Privateigentums. Mit der Novellie­ rung des Gesetzes rund ein Jahr später konnten dann die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) als Unternehmen in neuen Rechtsformen fortbeste­ hen. Alternativ konnten sich die LPG-Mitglieder den Eigenkapitalanteil, der ihnen zustand, auszahlen lassen.

66 Weizenfeld bei Köthen ­(Sachsen-Anhalt) Tourismus auf Wachstumskurs

Die neuen Länder haben sich inzwischen auch im Tou­ rismus einen Namen gemacht. So kamen 2009 mehr Sommerurlauber nach Mecklenburg-Vorpommern als in jedes andere deutsche Bundesland. Auch bei den pro­ zentualen Zuwachsraten der Übernachtungen liegt der Nordosten, gefolgt von Thüringen, vor allen anderen deutschen Flächenländern.

Die Regionen zwischen Kap Arkona auf Rügen und dem Fichtelberg im Erzgebirge haben beste Aussichten, auch weiterhin auf Wachstumskurs zu bleiben. So gehören

— Aufbau Ost – viel zu tun beispielsweise Berlin/Potsdam, Dresden und Weimar zu den beliebtesten Urlaubszielen im Inlandstourismus.

Derzeit sind in der Branche rund 450.000 Menschen beschäftigt. Das sind etwa acht Prozent aller Erwerbs­ tätigen in den neuen Ländern. Schon 2020 könnte jeder zehnte Beschäftigte im Osten im Tourismus arbeiten.

Die Branche ist zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. So stieg die Zahl der Übernachtungen von 1996 bis 2008 von 43,3 Millionen auf 69,8 Millionen. Die Zahl der Gästebetten ist im gleichen Zeitraum um 30 Prozent auf über 500.000 gewachsen.

Seebrücke in Sellin auf Rügen

68 Selbst die globale Finanzmarktkrise konnte diese Ent­ wicklung nicht stoppen. Im Gegenteil: Sie hat sogar dazu beigetragen, dass mehr Urlauber Deutschland wieder als Ferienland entdeckten. Den Osten Deutschlands schät­ zen inzwischen auch immer mehr Ausländer als Ferien­ ziel.

Das ostdeutsche Konzept für den Landtourismus hat sogar bundesweit Vorbildcharakter, obwohl „Ferien auf dem Bauernhof“ bis zur Wiedervereinigung im Osten völlig unbekannt waren. Inzwischen bieten zahlreiche Betriebe Urlaub auf dem Land an. Die Palette reicht von Biohöfen, Kneipp-Ferienhöfen, Obst-, Spargel-, Winzer- und Ziegenhöfen bis hin zu Reiterferien, Kochkursen und Kräuterakademien. Sogar Urlaub im Planwagen ist im Kommen. Damit sind die neuen Länder beim Landurlaub nach Einschätzung von Tourismusexperten deutlich ­vielfältiger als die Konkurrenz im Westen.

Weimar, Goethes Gartenhaus

— Aufbau Ost – viel zu tun 70 Auferstanden aus Ruinen ...

Quedlinburg im Harz. Mit ihren über 1.200 Fachwerkhäusern … so begann die DDR-Hymne. Allerdings durfte der Text gehört die Stadt seit 1994 zum Weltkulturerbe der UNESCO. ab Anfang der 1970er Jahre nicht mehr gesungen wer­ den, weil „Deutschland, einig Vaterland“ nicht mehr zur Abgrenzungspolitik der SED passte. Als der Dichter Johannes R. Becher 1949 die Hymne schrieb, konnte er nicht ahnen, dass die DDR in 40 Jahren ihrer Existenz nie aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs auferstehen würde. Im Gegenteil: Sie hat immer neue produziert. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, lautete ein treffender

— Auferstanden aus Ruinen Spruch in der Bevölkerung. Am Ende waren Städte und Dörfer, ja ganze Stadtviertel dem Verfall preisgegeben.

Wie katastrophal der Zustand der Gebäude wirklich war, machte eine Reportage im DDR-Fernsehen unter dem Titel „Ist Leipzig noch zu retten?“ deutlich. In dem Bei­ trag, der am 6. November 1989 auf dem Sendeplatz des abgesetzten „Schwarzen Kanals“ lief, wurde zum ersten Mal das Thema Verfall der Altbausubstanz am Beispiel der Messestadt ­realistisch dargestellt. Denn Leipzig hatte trotz enormer Kriegsschäden den wohl größten Bestand an Gründerzeit-Häusern in Deutschland. Doch anstatt die Gebäude zu sanieren und zu erhalten, verfielen die Wohnungsbestände immer mehr.

Es gab kaum Baukapazitäten, um diese Entwicklung zu stoppen. Es fehlte an Geld – denn die Mieten deckten die Kosten nicht – und an Material. Sowohl die Bauleute als auch das Material wurden aus der gesamten Republik ­zusammengezogen und in das ehrgeizige Neubaupro­ gramm Erich Honeckers gesteckt. Im Eiltempo schossen in allen DDR-Bezirken Betonbauten aus dem Boden. Die Devise lautete: „Jedem eine eigene Wohnung“. Der so­ genannte Plattenbau hatte höchste Priorität. Den Preis DDR-Plattenbau mussten Millionen Altbauwohnungen zahlen, die dem Verfall preisgegeben wurden.

„Bei vielen Gebäuden glaubte ich nicht, dass sie jemals neu entstehen könnten“, sagte der Leipziger Fotograf Armin Kühne, der den Verfall Leipzigs mit der Kamera festhielt. „Die Dächer waren kaputt, an den Fassaden war kaum noch Putz, und in den Wohnungen breitete sich Schimmel aus. Ich dachte eher, ich mache noch ein Foto, bevor die Abrissbirne kommt.“ Umso mehr bewundert er heute den Mut der Bauherren und Architekten, „aus die­ ser Substanz wieder bewohnbare und nutzbare Gebäude geschaffen zu haben, in denen sich die Menschen wohl­ f ü h l e n “.

72 Fotos von Armin Kühne: die Universitätsbibliothek­ ­(Albertina) in Leipzig – Anfang der 1990er Jahre und heute

Die Michaelisstraße im Erfurter Andreasviertel – 1990 und 2008

— Auferstanden aus Ruinen Rettung in letzter Minute

Solche „Schönheitsoperationen“ haben in den 20 Jahren deutscher Einheit in fast allen Städten und Dörfern Ost­ deutschlands stattgefunden. Und es geht weiter. Denn der Prozess ist noch nicht abgeschlossen.

„Blühende Landschaften“ hatte Bundeskanzler Helmut Kohl den Bürgern der DDR 1990 versprochen. Auch wenn noch eine Menge zu tun bleibt: Wer durch die neuen ­Länder fährt, kann mit eigenen Augen sehen, dass dies in vielen Bereichen bereits gelungen ist. Zwischen Ostsee und Erzgebirge präsentieren sich Kirchen und Klöster, Burgen und Schlösser, ja ganze Stadtviertel und Dorf­ straßen in neuer Pracht. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes in letzter Minute gerettet worden und aus Ruinen auferstanden.

Aus den einst grauen Gemäuern aus DDR-Zeiten sind moderne Wohngebiete und Geschäftshäuser entstanden. Selbst alte Wohnviertel aus der Zeit vor dem Ersten Welt­ krieg sind behutsam restauriert und in alter Schönheit wiedererstanden. Anders als in den meisten Städten Westdeutschlands, wo in den 1960er und frühen 1970er Jahren manches verschandelt oder abgerissen wurde, was den Krieg überlebt hatte, war in Ostdeutschland von der historischen Bausubstanz noch sehr viel erhalten. Alte Häuser aus Renaissance, Barock und Klassizismus erstrahlen heute in neuem Glanz.

Wirksamer Denkmalschutz

Zum Beispiel Naumburg in Sachsen­Anhalt: Die Stadt ist voll von solchen historisch wertvollen Gebäuden, die nach den Plänen der DDR flächendeckend abgerissen werden sollten. Inzwischen sind 65 Prozent der Häuser saniert – dank des Bund­Länder­Programms „Städtebau­ Naumburg an der Saale licher Denkmalschutz“. Rund 90 Millionen Euro wurden

74 seit der Wiedervereinigung in das einzigartige baukul­ turelle Erbe Naumburgs investiert. Weitere 30 Projekte werden noch umgesetzt. Die Stadt atmet Geschichte, steht für Lebensqualität und hat ein individuelles Image.

Für das Denkmalschutz-Programm, 1991 in den neuen Ländern eingeführt und 2009 auch in die alten Länder übertragen, hat der Bund bis Ende 2009 insgesamt 1,85 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt.

Davon ist beispielsweise auch ein Teil in die Restaurie­ rung der Altstadt von Güstrow geflossen. Der Stadtkern gilt als einer der schönsten in Mecklenburg-Vorpom­ mern und ist inzwischen ein beliebter Anziehungspunkt für Touristen geworden. Über 90 Millionen Euro haben Bund, Land und Stadt dort bislang investiert. Noch bis 2020, also insgesamt drei Jahrzehnte, wird die Sanierung dauern, rechnet die Stadt. Deutschlandweit bekannt wurde Güstrow 1981, als der damalige Bundeskanzler Güstrow (Mecklenburg- Helmut Schmidt nach einem Gespräch mit DDR-Staats­ Vorpommern) chef das Atelier des berühmten Künstlers Ernst Barlach (1870–1938) besuchte. Eine Begegnung des Kanzlers mit der Güstrower Bevölkerung wollte das SED- Regime verhindern, also ersetzte es die Einwohner durch Stasi-Mitarbeiter. Eine makabere Inszenierung.

Stadtumbau

Trotz der Sanierung und damit der Zunahme an Lebens­ qualität haben die meisten Städte in den neuen Ländern mit Bevölkerungsverlust zu kämpfen. Nach wie vor ist die Zahl der Abwanderer größer als die der Zuwanderer.

Bemerkbar machte sich das vor allem durch den wach­ senden Wohnungsleerstand in den Plattenbaugebieten. In Güstrow waren zeitweise bis zu 15 Prozent dieser Woh­ nungen unbewohnt, heute sind es nur noch drei bis vier

— Auferstanden aus Ruinen Prozent. Inzwischen wurden Gebäude mit rund 1.000 Wohnungen abgerissen, die anderen saniert.

Stadtumbau in Frankfurt/Oder Zu verdanken haben Güstrow, Leipzig, Naumburg und all die anderen Kommunen diese Entwicklung auch dem Förderprogramm „Stadtumbau Ost“. Im Jahr 2000 stan­ den rund eine Millionen Wohnungen in den neuen Län­ dern leer. Deshalb hat die Bundesregierung 2002 dieses Programm gestartet. Bis heute ist es eines der wichtigs­ ten Instrumente der Stadtentwicklung in den neuen ­Ländern.

Ziele des Programms, das Bund, Länder und Kommunen gemeinsam tragen, sind der Abriss leer stehender Woh­ nungen und die Aufwertung der Innenstädte. Beides greift ineinander und ist als Doppelstrategie angelegt. Auch die Zersiedelung des Umlandes soll dadurch gebremst werden. Gemeinsam haben Bund, Länder und Gemeinden von 2002 bis 2009 insgesamt 2,5 Milliarden Euro für den „Stadtumbau Ost“ bereitgestellt, davon hat alleine der Bund eine Milliarde Euro beigesteuert.

76 Städtebaulich gefördert wurden bzw. werden rund 400 Gemeinden. Das sind drei Viertel aller ostdeutschen Kommunen mit mehr als 10.000 Einwohnern sowie alle Großstädte mit Ausnahme Potsdams. Konkret bedeutet das: Etwa jeder zweite Einwohner in den neuen Ländern lebt in einer Stadtumbau-Gemeinde.

Bis Ende 2009 wurden über 270.000 Wohnungen abge­ rissen. Auch das zweite Ziel – die Aufwertung der Städte – ist sichtbar näher gerückt. Die Lebensqualität hat sich in vielen Stadtquartieren bereits spürbar verbessert.

Nicht zuletzt wegen der weiter abnehmenden Bevölke­ rungszahl wird das Programm bis 2016 fortgeführt, um die Zukunftsfähigkeit ostdeutscher Städte nachhaltig zu sichern.

Aufgrund der positiven Ergebnisse des Programms wurde die Förderung des Stadtumbaus 2004 auf die alten Länder ausgedehnt. Sie profitieren nun von den Erfah­ rungen in den neuen Ländern.

Wissen schafft Wohlstand

Die Studierenden aus dem Westen kommen noch mit Vorbehalten. Doch wenn sie erst mal da sind, wollen sie kaum noch weg. Die Universitäten, Hoch­ und Fach­ schulen zwischen Rostock und Ilmenau sind nicht nur viel moderner, auch die Betreuung ist besser, und die Hörsäle sind nicht heillos überfüllt. Das heißt: In den neuen Ländern sind die Studienbedingungen deutlich besser als in den alten.

Diese Einschätzung belegen Untersuchungen des Cen­ trums für Hochschulentwicklung (CHE), das die Bertels­ mann­Stiftung und die Hochschulrektorenkonferenz finanzieren. Das Ergebnis einer Umfrage unter 75.000 Campus der Universität ­G r e i f s w a l d Studierenden ist bemerkenswert: Der Osten liegt im

— Auferstanden aus Ruinen ­Vergleich zum Westen fast durchweg an der Spitze. Be­ wertet wurden der Zustand der Räume, der vorhandene Platz pro Student, die Qualität der Bibliothek und die technische Ausstattung.

Trotzdem beginnen nur etwa vier Prozent der westdeut­ schen Abiturienten ein Studium in einem der neuen ­Länder. Umgekehrt zieht es mehr als ein Fünftel der Ost- Schulabgänger in den Westen. Wegen des Geburten­ rückgangs erwarten die neuen Länder von 2011 bis 2015 eine Lücke von 63.000 Studierenden. Bund und Länder tragen dieser Sondersituation im Hochschulpakt 2020 Rechnung und haben weiterhin finanzielle Unterstüt­ zung zugesichert. Campus der Universität Jena Allein der Bund stellt zur Kapazitätssicherung der Studi­ enplätze und damit zur Entlastung der westdeutschen Flächenländer zusätzlich 179 Millionen Euro bereit. Vor­ aussetzung ist aber, dass die Zahl der Studienanfänger konstant bleibt. Aus dem eigenen Nachwuchs können die neuen Länder voraussichtlich nur 50 Prozent der Studien­plätze besetzen – die andere Hälfte muss aus den alten Ländern und dem Ausland angeworben werden. Deshalb rühren die Ost-Hochschulen in der Hochschul­ initiative Neue Bundesländer gemeinsam mit dem Bund und den Ländern kräftig die Werbetrommel.

Unterstützung für Studienanfänger

„Pack Dein Studium – am besten in Sachsen“ heißt zum Beispiel das Motto des Freistaats, mit dem er mehr West- Abiturienten zu einem Umzug nach Leipzig, Dresden oder Chemnitz motivieren will. Auf Internetforen ­können die kommenden Erstsemester nicht nur ihre „Wunschhochschule“ angeben, sondern auch gleich ihre künftigen Kommilitonen kennenlernen und sich mit ihnen vernetzen.

78 Engagierte Studentinnen und Studenten aus den jewei­ ligen Studienbereichen sollen als Ansprechpartner im Netz fungieren. Seit dem Start der Onlineaktion im April 2009 haben bis Januar 2010 bereits 29.450 Schülerinnen und Schüler eine ostdeutsche Hochschule als Wunsch­ hochschule angegeben, davon waren 36,1 Prozent aus dem Westen. Der Bund unterstützt die Hochschulinitia­ tive. Hörsaal in der Universität Leipzig Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels ist es umso wichtiger, dass junge Menschen nicht nur ver­ mehrt in den neuen Ländern studieren, sondern nach dem Studium dort bleiben. Deshalb richtet sich die Hoch­ schulinitiative auch an Ost­Kommilitonen, die es an West­Unis zieht.

Dass heute mehr Schüler eines Jahrgangs im Osten ihr Abitur machen und anschließend ein Studium aufneh­ men können, hat verschiedene Gründe. Zum einen ist die Vergabe von Studienplätzen nicht mehr – wie zu DDR-­ Zeiten – von staatlicher Bedarfsplanung und leistungs­ fremden Kriterien wie der politischen Einstellung ab­hängig. Zum anderen ist bei vielen die Überzeugung gewachsen, dass ein Studium die beste Grundlage für berufliche und materielle Sicherheit bietet.

Waren 1990/91 nur 106.960 Studierende an Hochschulen in den neuen Ländern (ohne Berlin) immatrikuliert, so gab es 2008/09 bereits 294.230 Studenten. Auch wenn ein Teil davon aus Westdeutschland stammte und viele Ostdeutsche ein Studium in Westdeutschland aufgenom­ men hatten, so wird doch deutlich, dass in den neuen Ländern erheblich mehr junge Menschen ein Hochschul­ studium aufnehmen konnten als zu DDR-Zeiten. Auf­fällig war auch die Änderung der Studienfächer: Während die Zahl der Studenten in den Ingenieurwissenschaften abgenommen hat, gab es in den Sprach- und Kultur­

— Auferstanden aus Ruinen wissenschaften sowie den Rechts-, Wirtschafts- und ­Sozialwissenschaften größeren Zulauf.

Zur gleichen Zeit erhöhte sich auch der Anteil der Bevöl­ kerung mit Fachhochschulreife: Verfügten 1991 rund 12,5 Prozent über einen solchen Abschluss, waren es sechs Jahre später bereits 21,0 Prozent.

Studierende in den neuen Ländern – Wintersemester 1990 / 91 bis Wintersemester 2008 / 09

Quelle: Statistisches Bundesamt 1990/01 2000/01 2008/09

Neue Länder insgesamt 106.960 223.156 294.230 ­(ohne Berlin) Brandenburg 5.415 33.015 46.865 Mecklenburg-Vorpommern 13.160 27.646 37.252 Sachsen 53.813 84.516 107.355 Thüringen 13.711 39.752 50.034

Neue Strukturen im Bildungssystem

Die positive Entwicklung ist auch darauf zurückzufüh­ ren, dass die Umstrukturierung des Bildungssystems in Ostdeutschland weitgehend reibungslos verlief. Gleich die erste frei gewählte Volkskammer hat zahlreiche Gesetze und Verordnungen des DDR-Bildungssystems abgeschafft. Und da mit der Vereinigung der Bildungs­ bereich unter die Hoheit der neu gegründeten Länder fiel, haben alle fünf das einheitliche Bildungssystem der DDR durch das gegliederte ersetzt.

Die Gliederung sah jedoch von Bundesland zu Bundes­ land unterschiedlich aus. Lediglich Mecklenburg-Vor­ pommern hat das dreigliedrige System der alten Länder übernommen. Am Abitur nach zwölf Schuljahren haben die meisten neuen Länder festgehalten.

80 Zur Bilanz gehört allerdings auch, dass die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss (Hauptschule) deutlich gestiegen ist. Sie hat sich im Osten wie im Westen bei rund zehn Prozent eingependelt.

Die meisten Schüler schließen die Realschule ab und beginnen eine Lehre als Facharbeiter. Wie in den alten Ländern teilen sich Staat und Wirtschaft die Verantwor­ tung für die Berufsausbildung. Alle Berufsschulen sind seit der Wiedervereinigung in kommunale Trägerschaft überführt.

Bei „Fahnenappellen“ sollten die Jugendlichen eine Chance beim Einstieg in das Berufs­ Kinder zu DDR-Zeiten ihre Treue leben zu geben ist Sinn und Zweck des Ausbildungsplatz­ zum Sozialismus bekräftigen. programms Ost. Der Bund und die neuen Ländern finan­ zieren es gemeinsam. Es hat einen erheblichen Beitrag zur Entlastung des ostdeutschen Lehrstellenmarktes geleistet. Rund 185.000 zusätzliche Ausbildungsplätze ließen sich in den neuen Ländern so für unvermittelte Jugendliche bereitstellen.

Mittlerweile entspannt sich die Ausbildungssituation im Osten wegen der demografischen Entwicklung und der sinkenden Bewerberzahlen. Wurden 2001 noch 16.000 Lehrstellen gefördert, so sind es heute nur noch 7.000. Dennoch beträgt der Anteil außerbetrieblicher Ausbildung zum Ausgleich des mangelnden betrieb­ lichen Angebots noch immer rund 23 Prozent.

Nicht zu vernachlässigen sind auch die vielen Altbe­ werber, die sich wiederholt vergeblich auf Ausbildungs­ stellen beworben haben. Andererseits fehlen in manchen Ausbildungsberufen inzwischen geeignete Bewerber. Hier sind nicht die Ausbildungsplätze knapp, sondern die Lehrlinge.

— Auferstanden aus Ruinen Hochschulen als Innovationsmotor

Wie in den Schulen haben sich auch die Aufgaben der Hochschulen geändert. In der DDR waren sie hauptsächlich für die Lehre zuständig, forschen konnten sie nur am Ran­ de. Mit der Wiedervereinigung sind die Hochschulen in die Hoheit der Länder übergegangen, sind die Strukturen den westdeutschen angepasst. Dennoch ist die Rolle der Hochschulen eine andere: Wegen der fehlenden Großun­ ternehmen gehören die 57 staatlichen Hochschulen nicht nur häufig zu den wichtigsten Arbeitgebern in den Regio­ nen, sie sind gleichzeitig ein wichtiger Innovationsmotor.

Wichtig ist, dass Hochschulabsolventinnen, die Kinder haben, ihren Beruf ausüben können. Dazu müssen genü­ gend Kindertagesstätten vorhanden sein. Hier liegt der Osten weit vor dem Westen. Während in den neuen Län­ dern von Anfang an ein großes Angebot an Kinderbetreu­ ungsplätzen vorhanden war, hat in den alten Ländern die Phase des Ausbaus erst begonnen. Im Westen liegt der Anteil der betreuten Kinder unter drei Jahren bei 15 Pro­ zent und erreicht damit nur ein Drittel der Quote in den neuen Ländern. Nachholbedarf besteht dort vor allem hin­ sichtlich erzieherischer Hilfen.

Neue Forschungslandschaft

Große Veränderungen gab es nach der Wiedervereini­ gung in den Bereichen Wissenschaft und Forschung. Die meisten ostdeutschen Wissenschaftseinrichtungen, die der Wissenschaftsrat positiv bewertet hat, sind heute in eine der westdeutschen Forschungsgemeinschaften inte­ griert. So gingen die Akademien der Wissenschaften, die in der DDR für die Grundlagenforschung zuständig waren, in die Leibniz-Gemeinschaft (WGL) über. Heute gibt es im Osten 42 Leibniz-Einrichtungen, die zur Hälfte vom Bun­ desministerium für Bildung und Forschung sowie vom

82 jeweiligen Land finanziert werden – allein im vergange­ nen Jahr mit 210 Millionen Euro.

Forschungseinrichtungen in den neuen Ländern

Stand: 2009 Leibniz-­ Max-Planck- Fraunhofer- Helmholtz- * ehem. Ost-Teil Gemeinschaft Gesellschaft Gesellschaft Gemeinschaft Berlin* 10 1 2 2 Brandenburg 9 3 4 4 Mecklenburg- 5 1 2 3 Vorpommern Sachsen 11 6 13 3 Sachsen-­ 5 4 4 1 Anhalt Thüringen 2 3 3 1 Summe 42 18 28 14

Zu den Glanzlichtern gehören unter anderem das Leib­ niz­Institut für Länderkunde in Leipzig, das den National­ atlas Bundesrepublik Deutschland herausgibt, das For­ scherteam zur Identifizierung des SARS­Coronavirus am Berliner Leibniz­Institut für Molekulare Pharmakologie und das Potsdam­Institut für Klimafolgenforschung.

Inzwischen ist in jedem neuen Bundesland auch ein Ins­ titut der Helmholtz­Gemeinschaft angesiedelt. Zum Bei­ spiel das Helmholtz­Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Es erforscht Ursachen und Folgen von Umwelt­ veränderungen und erarbeitet Handlungskonzepte für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Rund 900 Mitarbei­ ter sind dort beschäftigt. Das GeoForschungsZentrum Potsdam ist durch die Entwicklung eines Tsunami­Früh­ warnsystems weltweit bekannt geworden. 2009 sind insgesamt 330 Mio. Euro vom Bund in die ostdeutschen Einrichtungen geflossen.

Erfolgreich haben sich auch die Max­Planck­Gesellschaf­ ten (MPG) entwickelt, die unmittelbar nach der Wieder­ vereinigung in den neuen Ländern ins Leben gerufen

— Auferstanden aus Ruinen Auf dem Beutenberg-Campus in Jena arbeiten zehn Forschungs- wurden. Heute haben sie mit 18 Instituten und For­ institute. Im angegliederten Technologie- und Innovations- schungsstellen eine Dichte wie im Westen erreicht. park sind 50 Firmen zu finden. Durch den hohen Anteil an ausländischen Direktoren (40 Prozent) und wissenschaftlichen Mitarbeitern (30 Prozent) sind sie auch international sehr attraktiv. Das Max­Planck­Institut „Wendelstein 7X“ in Greifswald zum Beispiel ist der weltgrößte Fusionsreaktor des Stellarator­ Typs und liefert wichtige Forschungsergebnisse für den Fusionsreaktor ITER, der unter internationaler Beteili­ gung in Frankreich entsteht. Das Bundesministerium unterstützte die Max­Planck­Einrichtungen 2009 mit 160 Millionen Euro.

Zur ostdeutschen Forschungslandschaft gehört jetzt auch die Fraunhofer Gesellschaft (FhG), die 28 Einrich­ tungen mit über 2.000 Mitarbeitern unterhält, darunter 15 Institute und fünf Teilinstitute. Besonders für Indust­ rie und Hochschulen sind die FhG­Einrichtungen wich­ tige Forschungspartner. An den Standorten Halle und Potsdam existieren bereits Forschungsnetzwerke, in denen Fraunhofer­Institute mit der Universität und den Max­Planck­Gesellschaften zusammenarbeiten.

84 Halle an der Saale ist seit 1878 Sitz der Deutschen Akade­ mie der Naturforscher Leopoldina. Sie ist die älteste medizinisch-naturwissenschaftliche Akademie der Welt. Im Februar 2008 wurde sie zur Nationalen Akademie der Wissenschaften ernannt, die in internationalen Gremien die deutschen Wissenschaftler vertritt. Schirmherr der Leopoldina ist der Bundespräsident. Die Einrichtung wird vom Bund (80 Prozent) und vom Land Sachsen- Anhalt (20 Prozent) finanziert.

Im Rahmen der Exzellenzinitiative fördert der Bund innovative Zukunftskonzepte an drei ostdeutschen Gra­ duiertenschulen in Jena, Leipzig und Dresden sowie ein Exzellenzcluster an der Technischen Universität Dresden. Weitere sieben Graduiertenschulen und sechs Exzellenz­ cluster werden an den Berliner Universitäten (Humboldt, Technische und Freie Universität) unterstützt. In der geplanten zweiten Runde sollen erstmals auch inno­va­ tive Konzepte zur forschungsorientierten Lehre ­bewertet Das Fraunhofer-Institut für Digitale Medientechnologie auf werden. dem Gelände der TU Ilmenau

— Auferstanden aus Ruinen Ein völlig neues Förderinstrument hat das Bundesminis­ terium für Bildung und Forschung 1999 in Gang gesetzt: Mit InnoRegio sollten unterschiedliche Akteure aus ­Forschung, Wirtschaft und Verwaltung zusammenarbei­ ten und Innovationspotenziale ihrer Region ausfindig machen. Noch zu schwach war die Partnerschaft zwi­ schen den Bildungs- und Forschungseinrichtungen sowie der Wirtschaft entwickelt, die aber für die kleinen und mittleren Unternehmen besonders wichtig war.

Dass InnoRegio damit ins Schwarze getroffen hat, zeigte die große Resonanz. Insgesamt 444 InnoRegios reichten ein Zukunftskonzept für die Region ein, davon wurden 23 fünf Jahre gefördert. Von 1999 bis 2006 sind über 230 Millionen Euro für die regions- und clusterorientierte Innovationspolitik zur Verfügung gestellt worden. Und die Investition hat sich gelohnt: Über 11.100 Einzelpro­ jekte wurden in Angriff genommen, die nicht nur neue Arbeitsplätze (7.500) geschaffen und die Gründung von 143 Unternehmen angestoßen haben, sondern sie legten auch den Grundstein für die Entwicklung leistungs­ starker Wirtschaftsstandorte. In rund 70 Prozent der geförderten Regionen ist die Zahl der Beschäftigten ­weiter gestiegen.

Um Forschungsergebnisse schneller zu Produkten und Märkten zu entwickeln, wurde erstmals ein konsistentes Innovationskonzept auf den Gebieten Gesundheit, Klima, Energie, Mobilität und Sicherheit gestartet. Vorausset­ zungen sind, dass Wirtschaft, Wissenschaft und Politik in einem Cluster Hand in Hand arbeiten. Zu Deutsch­ lands Spitzencluster gehören auch zwei Innovationsver­ bünde aus dem Osten: „Solarvalley Mitteldeutschland“ und „Cool Silicon – Energy Efficiency Innovations from Silicon Saxony“.

86 Herausragende Solarstandorte in Deutschland

Kiel Schleswig- Holstein Mecklenburg- Vorpommern Hamburg Schwerin

Bremen

Niedersachsen Brandenburg

Hannover Berlin Sachsen- Anhalt Potsdam Magdeburg Nordrhein- Westfalen

Düsseldorf

Erfurt Sachsen Dresden Hessen Thüringen

Wiesbaden Mainz Rheinland- Pfalz Saarland Saarbrücken

Bayern Stuttgart

Baden- ­Württemberg München

Zulieferer Industrie Handel

Stand: 2007 < 50 Mitarbeiter Quelle: Standortgutachten Deutschland, ifo, EuPD Research, 51 – 250 Mitarbeiter 2008 251 – 1.000 Mitarbeiter

> 1.001 Mitarbeiter

— Auferstanden aus Ruinen Von der ­Dreckschleuder zum ­„ S o l a r V a l l e y “

88 Braunkohlekraftwerk ­Espenhain 1990 und 2008 Die Schornsteine des Kraftwerks in Bitterfeld, „die wie Kanonenrohre in den Himmel zielen und ihre Dreck­ ladung Tag für Tag und Nacht für Nacht auf die Stadt schießen, nicht mit Gedröhn, nein sachte wie Schnee, der langsam und sanft fällt, der die Regenrinnen verstopft, die Dächer bedeckt, in den der Wind kleine Wellen weht“ – diese Schornsteine, wie sie Monika Maron 1981 in ihrem Roman „Flugasche“ beschrieben hat, gibt es nicht mehr. Mitsamt dem Braunkohletagebau in dieser Gegend.

Aus der einst dreckigsten Stadt Europas, wo bis 1990 mehr als 300 Millionen Tonnen Kohle aus der Erde ­gebaggert wurden, ist eine rund 60 Quadratkilometer große Seen-, Natur- und Kulturlandschaft entstanden, eine der weltgrößten überhaupt. Die Chemieregion Bitter­feld-Wolfen hat eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht. Nach erfolgreichem Strukturwandel ist eine ­Freizeitlandschaft mit hohem Erholungswert ent­ standen – ohne dass der Chemiestandort an Bedeutung ver­loren hätte.

Auf dem sanierten Gelände des ehemaligen Chemie­ kombinats haben sich ein großer deutscher Pharma- und Chemiekonzern sowie etwa 360 kleinere Firmen der ­Chemie- und Pharmabranche angesiedelt. Rund 11.000

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ Menschen arbeiten hier, weitere 2.200 sind in der neuen Solarindustrie, im sogenannten Solar Valley, beschäftigt.

Die enormen Veränderungen, die sich seit der Einheit vollzogen haben, sind eine Erfolgsgeschichte, die nicht nur den Wandel der Chemieregion Halle-Leipzig-Bitter­ feld von der einstigen Dreckschleuder zum Standort modernster Umwelttechnologien betrifft, sondern alle neuen Länder. BUNA-Werke Schkopau, 1990

Umwelt-Einheit

Dank gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen wurden die Umweltgefahren beseitigt und moderne Strukturen aufgebaut. Das im Einigungs­ vertrag festgeschriebene Ziel, „die Einheitlichkeit der ökologischen Lebensverhältnisse auf hohem, mindestens jedoch dem der Bundesrepublik Deutschland erreichten Chemisches Kombinat Bitter- Niveau zu fördern“, ist inzwischen erreicht. feld, „Straße der tausend Düfte“ Doch der Weg zur Umwelt-Einheit war nicht einfach. Die ökologischen Schäden, die das DDR-Regime dem verein­ ten Deutschland aufgebürdet hatte, waren katastrophal. Vier Jahrzehnte hatte die sozialistische Planwirtschaft kurzfristige Planerfüllung vor notwendige Umwelt­ schutzmaßnahmen gestellt, dringende Investitionen in die Umweltstruktur fanden nicht statt. Die Folgen waren überall sichtbar: akute Gesundheitsgefahren vor allem durch belastetes Trinkwasser und hohe Luftverschmut­ zung in den Industrie- und Ballungszentren. Hinzu Die Pleiße bei Leipzig, April 1981 kamen militärische und industrielle Altlasten sowie die hohe Belastung von Flüssen und Seen durch Industrie und Landwirtschaft, die nicht nur eine Umweltgefahr, sondern auch ein riesiges Investitionshemmnis waren.

Die ökologische Bilanz der DDR war verheerend. Das hat auch das Umweltgutachten bestätigt, das die General­ staatsanwaltschaft im Februar 1990 in Auftrag gegeben

90 hat: Es verzeichnet für 1989 2,2 Millionen Tonnen Staub- und 5,2 Millionen Tonnen Schwefeldioxid-Ausstoß – die höchste Belastung aller europäischen Länder. In den Industrieregionen litt bereits jeder vierte Bewohner unter der hohen Luftverpestung, fast jedes zweite Kind hatte Atemwegserkrankungen und jedes dritte Ekzeme.

Hochgradig verseucht waren auch Flüsse und Seen. Besonders die östliche Elbe mit ihren Nebenflüssen war eine einzige Industriekloake. Sie galt als meistvergifteter und verseuchter Fluss Europas. Bei der ersten gesamt­ deutschen Gewässergütekarte zur Beschreibung der Wasserqualität der Elbe musste sogar eine zusätzliche Güteklasse, „ökologisch zerstört“, eingeführt werden.

Über 1,2 Millionen Menschen ließen sich nicht mehr mit Umweltbibliothek im sauberem Trinkwasser versorgen. Auch das hat sich rasch ­Gemeindehaus der Ost-Berliner geändert. Durch die Stilllegungen veralteter Industrie­ Zionskirche werke und den Neubau von Kläranlagen stieg die Wasser­ qualität bis 1995 in den Flussabschnitten, die am stärks­ ten verschmutzt waren, gleich um mehrere Stufen.

Geheimhaltung in der DDR

Enorm belastet waren auch die Wälder, über die Hälfte des Bestandes war geschädigt. Doch in den DDR-Medien war von all dem nichts zu lesen – weder von den ver­ seuchten Gewässern noch von der verpesteten Luft und den vergifteten Böden. Zwar hatte die DDR-Regierung bereits 1968 als einer der ersten Staaten in Europa den Umweltschutz als Staatsziel in die DDR-Verfassung auf­ genommen, doch die jährlichen Umweltschutzberichte wurden ab Anfang der 1980er Jahre zur „Geheimen Ver­ schlusssache“ (GVS) erklärt, sodass sie nur noch wenige Personen einsehen konnten. Die übliche Begründung: Die Umweltdaten würde der Klassenfeind nutzen, um der DDR zu schaden.

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ Unter strenger Geheimhaltung stand auch die Atomkata­ strophe von Tschernobyl am 26. April 1986. Während die Medien der Bundesrepublik sofort über den Unfall im ukrainischen Kernkraftwerk und über eingeleitete Schutzmaßnahmen berichteten, erschien in den Zeitun­ gen der DDR erst nach vier Tagen eine kurze Mitteilung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS. Die DDR- Medien verschwiegen, dass beispielsweise in Sachsen- Anhalt die Radioaktivität von Milchproben den Grenz­ wert mit 700 Prozent überschritten hatte. Erich Honecker aber gab den verängstigten Müttern den Rat, Salat vorher zu waschen, bevor sie ihn den Kindern zum Essen gäben.

Erst nach der Friedlichen Revolution konnten sich die Bürger ein wahres Bild von den Umweltschäden in der DDR machen. Das drückte sich auch in Umfragen zur Umweltsituation aus. 1991 hielten nur vier Prozent der Befragten ihre Umweltbedingungen für gut oder ausge­ zeichnet, im Westen waren es 49 Prozent. Das änderte sich schon fünf Jahre später. Da waren die Befragten in den neuen Ländern (51 Prozent) und in den alten Ländern (52 Prozent) gleichermaßen mit ihrer Umweltsituation zufrieden und schätzten sie mit gut ein.

Rasche Verbesserungen

Diese positiven Werte sind auf die rasche Beseitigung von Umweltschäden zurückzuführen. Die Luftschad­ stoff Emissionen waren bereits Mitte der 1990er Jahre beträchtlich gesunken. Heute werden in den neuen L ändern Schwefeldioxid­Konzentrationen gemessen, die denen in den alten Ländern entsprechen. In Sachsen­

Anhalt beträgt die Luftbelastung durch SO2 nur noch Kläranlagenbau in Neustrelitz 0,5 bis ein Prozent der DDR­Belastungen.

Schon im Februar 1990 ergriff das Bundesumweltminis­ terium die Initiative und beschloss mit der damaligen

92 DDR-Regierung in einer Gemeinsamen Umweltkommis­ sion ein Sofortprogramm, um akute Gefahren zu behe­ ben. Dazu gehörten die Stilllegung der Atomkraftwerke sowjetischer Bauart in Greifswald und Rheinsberg sowie der Baustopp einer weiteren Anlage in Stendal. Auch wur­ den Smog-Frühwarnsysteme und Trinkwassermessnetze erarbeitet. Zum 1. Juli 1990, zeitgleich mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, entstand mit dem Umwelt­ rahmengesetz die Umweltunion: Wesentliche Bestim­ mungen des Umweltrechts der Bundesrepublik Deutsch­ land erlangten auch auf dem Gebiet der DDR Geltung.

Die Bundesregierung legte gleich nach der Wiederver­ einigung im November 1990 konkrete „Eckwerte für die ökologische Sanierung und Entwicklung in den neuen Ländern“ fest – mit dem Ziel, „bis zum Jahr 2000 gleiche Umweltbedingungen auf hohem Niveau in ganz Deutsch­ land zu schaffen“. Es war eine Bestandsaufnahme der Umweltsituation und ein Gesamtrahmen für die Sanie­ rungs- und Entwicklungsstrategie. Um das bestehende Umweltgefälle zwischen Ost und West auszugleichen, erhielten die Umweltministerien in den neuen Ländern finanzielle Unterstützung. Auch Beraterfirmen wurden ihnen an die Seite gestellt.

Wie hoch die finanziellen Investitionen des Bundes in den Umweltschutz der neuen Länder waren, ist schwer zu beziffern. Von 1990 bis 1998 sind allein für Investitionen in den Bereich der Wasserversorgung rund 6,7 Milliarden Euro geflossen (Umweltgutachten 2000).

Neben der Beseitigung der Umweltschäden (2,9 Milliar­den Euro) waren die Sanierungsaufgaben gleich zu Beginn der 1990er Jahre auf den Abbau von Investitionshemmnissen gerichtet. Dazu zählten ökologische Altlasten an vielen Produktionsstandorten und mangelnde Infrastruktur im Umweltschutz. Daran wird noch heute gearbeitet.

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ Neue Chancen für die Natur

Vor allem der großflächige Abbau der Braunkohle hat gravierende Schäden hinterlassen. Die Sanierung von etwa 100.000 Hektar, die sich nicht privatisieren ließen, liegt in der Verantwortung des Bundes und der Braun­ kohleländer Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Insgesamt 8,8 Milliarden Euro flossen bisher in die Sicherung der stillgelegten Tagebaue und die Sanierung des Geländes. Dabei tragen der Bund 75 Pro­ zent und die Länder 25 Prozent. Rund 95 Prozent der bergtechnischen Grundarbeiten sind weitgehend ab­geschlossen. Über ein Drittel der Flächen ist bereits privatisiert, alle geplanten Seen sind geflutet.

Altlasten-Großprojekte

GP = Großprojekt Quelle: Bundesanstalt für GP Küstenindustrie, GP Küstenindustrie, Vereinigungsbedingte Standort Rostock Standort Stralsund 1 Sonderausgaben GP Küstenindustrie, Standort Wismar 1 Mecklenburg- Vorpommern

1 Dem Land Mecklenburg- Vorpommern am 29. November GP PCK AG Schwedt 1994 übergeben Brandenburg GP Region Oranienburg

Sachsen- GP Stadt Berlin Brandenburg Anhalt GP Berlin Altlastenverpflichtungen GP Sanierungsgesellschaft pauschalisiert Magdeburg-Rothensee GP Erdöl-Erdgas Gommern GmbH Altlastenverpflichtungen GP Bitterfeld-Wolfen GP Mansfeld AG GP BUNA GmbH GP Leuna-Werke GmbH nicht pauschalisieren GP Kali GP BASF Schwarzheide Thüringen GP SOWBohlen Altlasten-Großprojekte GP Lautawerk GmbH GP Hydrierwerk Zeitz / Sachsen Paraffinwerk Webau GP VVG Kositz GP Dresden-Coschütz / Gittersee Thüringen GP SAXONIA Freiberg

94 Jetzt wachsen auf der größten Landschaftsbaustelle Euro­ pas in der Lausitz und im mitteldeutschen Revier um Leipzig neue ökologische Seelandschaften mit hohem Freizeitwert und neue Standorte für Industrie und Gewerbe. Das „Lausitzer Seenland“ und das „Leipziger Neuseenland“ sind die ersten großräumigen Natur­ schutzprojekte, die auf den ehemaligen Tagebauen und Standorten der Braunkohleindustrie entstanden sind. Dass die wissenschaftlich-technologischen Kompeten­ zen, die die Fachleute bei der Braunkohlesanierung erworben haben, jetzt sogar auf internationales Interesse Der Cospudener See bei Leipzig, stoßen, ist ein weiterer Gewinn. früher ein Braunkohle-Tagebau- gelände Wie in der Braunkohle gehen auch die Sanierungsarbei­ ten im Uranerzbergbau der ehemaligen Sowjetisch-deut­ schen Wismut AG voran. Zu DDR-Zeiten förderte sie unter anderem das Uran für die sowjetischen Atomwaffen. Die Stilllegung der Bergwerke, die Sanierung und Revitali­ sierung der radioaktiv verseuchten Flächen sind bereits zu 80 Prozent abgeschlossen. Sie werden im Auftrag der Bundesregierung von der 1991 gegründeten Wismut GmbH durchgeführt. Insgesamt bis zu 6,4 Milliarden Euro hat der Bund dafür bereitgestellt. Mit dem Ab­ schluss der Sanierung ist in fünf Jahren zu rechnen. Die Wismut nach der Sanierung Wismut GmbH ist noch heute mit 1.500 Mitarbeitern und 200 Lehrlingen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Zurzeit wird die Privatisierung des Unternehmens vorbereitet.

„Das hätte sich zu DDR-Zeiten niemand vorstellen können: dass nicht nur der Uranbergbau beendet wird, sondern tatsächlich eine Sanierung passiert, in die wirklich viel investiert wird. Das ist wirk- lich ein Glücksfall für alle Menschen, die dort leben.“

Michael Beleites, Mitbegründer der Umweltbewegung in der DDR

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ Hightech für die Umwelt

Dank gemeinsamer Anstrengungen von Bund, Ländern und Kommunen führt eine ökologisch orientierte Indus­ triepolitik zu Erfolgen. Anreize schuf das Erneuerbare Energien­Gesetz (EEG). Dadurch haben sich neue Indus­ triefirmen angesiedelt, die schon nach kurzer Zeit zu den Großen ihrer Branche aufgestiegen sind. Beispiele dafür sind das Solarunternehmen Q­Cells in Thalheim bei Bit­ terfeld und der Windkraftanlagenbauer ENERCON auf dem Gelände des früheren Magdeburger Schwermaschi­ nenherstellers TAKRAF. ENERCON ist mit seinen 2.000 Mitarbeitern einer von sieben führenden Herstellern. Besonders die Regionen um Freiberg (Sachsen), Bitter­ feld­Wolfen (Sachsen­Anhalt), Frankfurt/Oder (Branden­ burg) und Arnstadt (Thüringen) haben sich fest als Solar­ standorte etabliert.

Neben den erneuerbaren Energien eröffnen Informa­ tions­ und Kommunikationstechnologien sowie die Nanot echnologie Chancen und Perspektiven für die neuen Länder in hoch innovativen Bereichen. Auch die Kohle­Kraft werkstechnik ist eine der modernsten welt­ Herstellung von Solarmodulen weit. in Freiberg Einen besonderen Stellenwert im Umweltschutz nimmt die Sicherung des wertvollen Naturerbes ein. Gerade die neuen Länder verfügen über einen großen Reichtum an Naturschätzen. Von den 14 deutschen Nationalparks befinden sich sieben, von den 13 Biosphären­Reservaten acht ganz oder teilweise in den neuen Ländern.

Windpark Küstrow ­(Nordvorpommern)

96 Das „Grüne Band“ von Finnland bis zum Schwarzen Meer

Finnland

Norwegen

Ehemaliger Grenzstreifen bei Schweden Estland Behrungen (Thüringen)

Lettland

Litauen Vereinigtes Königreich Weißrussland Niederlande Polen Deutschland Belgien Ukraine Tschechien

Slowakei Frankreich Moldawien Schweiz Österreich Ungarn Slowenien Rumänien Italien Kroatien Bosnien u. Herzegowina Serbien Bulgarien

Mazedonien Albanien

Griechenland Türkei

Quelle: Bundesamt für ­Naturschutz

Vor allem der frühere Todesstreifen entlang der ehemali­ gen innerdeutschen Grenze, das „Grüne Band“, das sich über 1.393 Kilometer von der Ostsee bis zum sächsischen Vogtland erstreckt, hat einen unerwarteten Reichtum an gefährdeten Tier- und Pflanzenarten offenbart. Er ist deutschlandweit einmalig und macht einen wesentli­ chen Teil unseres Nationalen Naturerbes aus.

— Von der Dreckschleuder zum „Solar Valley“ Eine gute ­Versorgung für alle

98 Es gibt wohl kaum einen Bereich des gesellschaftlichen Lebens der ehemaligen DDR, der so überschätzt wurde – und teilweise immer noch wird – wie das staatliche Gesundheitswesen. Zwar verfügten die Polikliniken und Krankenhäuser über gut ausgebildete Ärzte und Schwestern, aber es haperte nicht nur an modernen medizinisch-technischen Geräten, sondern auch an sim­ plen Dingen wie Spritzen oder Verbandsmaterialien.

Selbst in der renommierten Berliner Charité mussten Stu­ denten benutzte Gummihandschuhe immer wieder rei­ nigen, um sie aus Kostengründen mehrfach verwenden zu können. Wenn ältere Ärzte dem medizinischen Nach­ wuchs von heute über ihre DDR-Erfahrungen berichten, ernten sie nur ungläubiges Kopfschütteln.

Es waren vor allem junge Ärzte und Schwestern, die mit ihren Familien 1989 über Budapest, Warschau oder Prag der DDR den Rücken kehrten und so das ostdeutsche Gesundheitswesen zusätzlich an den Rand des Zusam­ menbruchs brachten. Pro 100.000 Einwohner gab es im Jahr des Mauerfalls im Osten 245 Ärzte, im Westen dage­ gen 303. Heute sind es in den neuen Ländern 345, und mit 385 bleibt die Ärztedichte in den alten Ländern trotz der Aufholjagd immer noch beträchtlich höher. Bei Zahn­ ärzten war die Versorgung von jeher geringfügig besser als im Westen, und es ist mit 85 (West: 78) bis in die Gegen­ wart so geblieben.

Soforthilfe

Die Experten sind sich einig, dass es gelungen ist, schon in den frühen Jahren der Einheit im Gesundheitsbereich schnell eine Ost-West-Annäherung zu erreichen. Es erwies sich als Vorteil, dass der Umbau des Gesundheits­ wesens noch in der Amtszeit der letzten DDR-Regierung begann. Damals stellte die Bundesregierung der DDR

— Eine gute Versorgung für alle rund drei Milliarden D­Mark zur Verfügung, um schnell die wichtigsten Unzulänglichkeiten in der medizini­ schen Versorgung zu beseitigen. Das betraf vor allem die bessere Ausstattung der Arztpraxen mit Geräten und Material sowie der Austausch der veralteten Betten in Krankenhäusern.

Wie erfolgreich die Angleichung inzwischen vorange­ schritten ist, zeigt sich unter anderem bei der gestiege­ Das neue Carl-Thiem-Klinikum in Cottbus (Brandenburg) nen Lebenserwartung. Neben der verbesserten Umwelt­ situation und anderen Faktoren hat auch die verbesserte Gesundheitsversorgung wesentlich dazu beigetragen. Noch 1990 starben Ostdeutsche im Schnitt sechs Jahre früher als ihre Landsleute im Westen. Diese Unterschiede haben sich deutlich verringert. So lag die Lebenserwar­ tung bei Frauen schon 2007 im Osten bei 82,0 und im Westen bei 82,3 Jahren. Die entsprechenden Werte für Männer betrugen zu diesem Zeitpunkt 75,8 in den neuen und 77,2 Jahre in den alten Ländern.

Entwicklung der Lebenserwartung bei Geburt seit 1990

Mittlere Lebenserwartung 84 bei Geburt und fernere Lebens- erwartung (mit 65 Jahren) im 82 Zeitvergleich 80 78 Alte Bundesländer 76 Deutschland 74 Neue Bundesländer 72 70 68 66 2 1997 1993 1999 1992 1995 1998 1994 1996 2001 2007 2003 / 2005 2008 2004 2006 200 / / / / / / 2000 / / / / / / / / / /

0 1991 1997 1995 1993 1992 1996 1990 1994 1999 2001 1998 2005 2003 2002 2006 2004 Quelle: BMG 200

100 Bereits Mitte der 1990er Jahre war das westdeutsche Gesundheitswesen nahezu komplett und ohne größere Probleme auf den Osten übertragen worden. Das traf auf die Finanzierung genauso zu wie auf die Struktur des Krankenversicherungssystems. Wegen der unterschied­ lichen Einkommensverhältnisse und Wirtschaftskraft war in den neuen Ländern in der Übergangszeit eine Reihe von Sonderregelungen erforderlich. Das betraf unter anderem die Zuzahlungsregelungen und die Här­ tefallgrenzen sowie die Beitragsbemessungsgrenzen.

Polikliniken in neuer Form

Der dringend notwendigen Erneuerung des Gesund­ heitswesens fielen zunächst auch Einrichtungen zum Opfer, die sich – bei näherem Hinsehen – bewährt hatten: vor allem die sogenannten Polikliniken. Inzwischen sind sie als Ärztehäuser oder medizinische Versorgungs­ zentren wieder oder neu entstanden. In den Jahren 2005 bis 2009 hat sich ihre Zahl bundesweit von 269 auf 1.378 erhöht. Auch das Modell der Gemeindeschwester, das früher in Ostdeutschland verbreitet war, hat unter dem Namen AGnES in ganz Deutschland Schule gemacht.

Mehr und bessere Pflegeheime Ärztehaus in Berlin-Weißensee Einen besonderen Nachholbedarf gab es bei der Ausstat­ tung der Heime für Senioren, speziell für pflegebedürf­ tige. Der bauliche Zustand sowie die technische Ausrüs­ tung der meisten Feierabend­ und Pflegeheime mit Mehrbettzimmern befanden sich in einem unzumutba­ ren Zustand. So sah das Pflegeversicherungsgesetz von 1995 auch Finanzhilfen des Bundes von 3,3 Milliarden Euro zur Verbesserung der Pflegeinfrastruktur vor. Damit konnten allein 1.025 neue Pflegeeinrichtungen Senioren-Pflegeheim in Chemnitz in den neuen Ländern in Betrieb genommen werden.

— Eine gute Versorgung für alle Zusätzlich wurden für besondere Projekte zur Verbesse­ rung der Versorgung pflegebedürftiger Senioren noch einmal 80,4 Millionen Euro bewilligt.

Hohes Rentenniveau

Die gesetzliche Rentenversicherung hat sich als erste Säule der Alterssicherung auch in den neuen Ländern bewährt. Am 1. Januar 1992 trat das sogenannte Renten­ überleitungsgesetz in Kraft. Damit wurde die gesetzliche Rentenversicherung für alle Bestands- und Zugangs­ rentner in den alten und neuen Ländern auf eine einheit­ liche Rechtsgrundlage (Sozialgesetzbuch VI) gestellt. Besonderheiten des DDR-Rechts, die der Systematik der beitrags- und lohnbezogenen westdeutschen Rente fremd sind, wurden stufenweise verändert. Die umfang­ reichen Zusatz- und Sonderversorgungssysteme sind in die Rentenversicherung überführt worden.

Die Rentner in den neuen Ländern haben von den neuen Regeln profitiert. In der DDR betrugen ihre Altersbezüge nicht mehr als 30 Prozent ihres durchschnittlichen Arbeitseinkommens. Gesetzlich garantierte Rentenan­ hebungen waren in der DDR nicht vorgesehen, von einer dynamischen Rente, wie sie 1957 in der Bundesrepublik eingeführt wurde, ganz zu schweigen. Rentenerhöhun­ gen behielt sich das SED-Politbüro vor, das dabei weder die Gewerkschaft noch das zuständige Arbeitsressort ­einbezog.

So gab es zwischen der Staatsgründung 1949 und dem Mauerbau 1961 nur vier Erhöhungen der Altersruhe­ gelder, die mehr als bescheiden ausfielen. Nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 hoben die Machthaber die Renten einheitlich um zehn Mark an.

Zum Zeitpunkt der Vereinigung beliefen sich die Alters­ ruhegelder der ostdeutschen Rentner auf etwa 35 Pro­

102 zent der Bezüge im Westen. Inzwischen sind die Renten auf 88,7 Prozent des Westwertes gestiegen. Für die gegen­ wärtige ostdeutsche Rentnergeneration haben sich die Bezüge zwischen 1990 und 1999 etwa vervierfacht. Ein guter Beleg für die Funktionsweise des solidarischen ­Systems der deutschen Sozialversicherung.

Entwicklung der Standardrenten in Ost und West im Vergleich Alte Länder 1.400 € Neue Länder 1.200 € 1.195 € 1.050 € 1.000 € 954 € 800 € + 25,3 % 600 € 486 € 400 € + 116,3 % 200 € 0 € 1991 2008

Dass die westdeutschen Rentner dennoch einen Vor­ sprung haben, liegt daran, dass sie neben der ­gesetzlichen Rente oft noch andere Einnahmen – beispielsweise aus Betriebsrenten – haben. So können Rentnerehepaare im Westen monatlich durchschnittlich 2.350 Euro aus­geben, im Osten lediglich 1.937 Euro.

Die Senioren in den neuen Ländern sind bislang zu 93 ­Prozent ausschließlich auf Bezüge aus der gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen. Der Anteil an Betriebs­ renten oder privater Vorsorge nimmt zwar bei den jünge­ ren Jahrgängen in den neuen Ländern zu, aber die lang anhaltend hohe Arbeitslosigkeit veranlasst die Politik, Konzepte zur Verhinderung von Altersarmut zu disku­ tieren.

— Eine gute Versorgung für alle Eine ­Zwischenbilanz

Das sanierte „Holländische Viertel“ in Potsdam

104 Zwei Jahrzehnte sind seit der deutschen Wiedervereini­ gung vergangen. Wie lautet die Zwischenbilanz?

Reiht man die wirtschaftlichen Erfolge beim Aufbau der neuen Länder aneinander, kommt eine beachtliche Liste zustande, um die das wiedervereinigte Deutschland – vor allem von seinen ehemaligen sozialistischen Nachbar­ staaten – beneidet wird. Es war ein Schnellstart beim Übergang von einer Kommandowirtschaft zur Markt­ wirtschaft. Schon Mitte der 1990er Jahre gab es kaum noch Ost-West-Unterschiede bei der Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern. Versorgungs­ mängel, die zum Alltag in den 40 Jahren DDR gehörten, kennen die Menschen in den neuen Ländern seit Oktober 1990 nicht mehr.

— Eine Zwischenbilanz Dabei waren es längst nicht nur die Südfrüchte, die früher fehlten. So gab es sogar Papiertaschentücher oder Toilet­ tenpapier oft nur unter dem Ladentisch. Und wer ein Auto haben wollte, musste sich anmelden und gut eineinhalb Jahrzehnte warten. 1988 hatten in der ehemaligen DDR nur 54 Prozent der Haushalte ein Auto. In der alten Bun­ desrepublik waren es zu diesem Zeitpunkt 73 Prozent. Schon 2008 besaßen 76 Prozent der ostdeutschen Haus­ halte einen eigenen Pkw, im Westen 78 Prozent. Auch die Reisefreiheit, auf die die Ostdeutschen 40 Jahre ­warten mussten, nutzen sie seit dem ersten Tag nach dem Mauer­ fall.

Beim Immobilienbesitz haben die Ostdeutschen ebenfalls gegenüber ihren westdeutschen Landsleuten Boden gut gemacht. Bei der Wiedervereinigung hatten gerade ein­ mal 25,7 Prozent (West: 40,5 Prozent) der Bevölkerung in den neuen Ländern ihre eigenen vier Wände. Gut ­eineinhalb Jahrzehnte weiter waren schon 32,7 Prozent (West: 43,7 Prozent) in Besitz einer Immobilie.

Aufholbedarf besteht allerdings noch bei der Wirtschafts­ kraft. Ihre Stärkung ist die Voraussetzung dafür, dass sich auch die Einkommen zwischen Ost und West weiter anpassen können. Zwar hat sich der Ost-West-Abstand bei den Einkommen seit 1990 deutlich verringert, dennoch hatte 2007 ein Ostdeutscher im Durchschnitt 1.260 Euro (1991: 595 Euro) monatlich zur Verfügung, während es in den alten Ländern 1.603 Euro (1991: 1.148 Euro) waren.

Fehlen darf bei der Aufzählung auch nicht der schnelle Ausbau des Straßen-, Schienen- und Telekommunikations­ netzes sowie die Modernisierung der Schulen, Kranken­ häuser und Altenheime. Das alles war nur mit massiven Hilfen der alten Länder zu schaffen. Deshalb lagen die öffentlichen Investitionen in den ersten Jahren der Ein­ heit pro Bürger auch mehr als ein Drittel über dem Ver­ gleichswert der alten Länder.

106 Angesichts dieser Bilanz erscheint es müßig, darüber zu streiten, ob in den neuen Ländern tatsächlich die „blü­ henden Landschaften“ entstanden sind, die Helmut Kohl 1990 versprochen hat. Selbst der Altkanzler hat inzwi­ schen eingeräumt, über den wahren Zustand der DDR zu wenig gewusst zu haben. Es gab keinen Masterplan für die Einheit, den man nur aus der Schublade hätte ziehen müssen. Deswegen waren Fehler im Einzelnen nicht zu vermeiden.

Kritiker halten der Kohl-Regierung vor, die Höhe der Ver­ einigungskosten verschleiert zu haben, als sie den größ­ ten Teil der Hilfsgelder für den Osten auf die Sozialkassen abgewälzt habe. Nie wäre die Bereitschaft der Westdeut­ schen zu Steuererhöhungen für die Einheit größer gewe­ sen als 1990, heißt es. Aber war der tatsächliche Aufwand damals wirklich absehbar? Nur wenige westdeutsche Fachleute hatten sich vor 1990 ein Bild vom tatsächlichen Zustand der Kombinate und „Volkseigenen Betriebe“ in der DDR machen können. Die offiziellen Statistiken des SED-Staates waren schöngefärbt, wie sich zeigen sollte.

Kosten der Deutschen Einheit

Die neue Strelasundbrücke Die Kosten der Einheit sind in regelmäßigen Abständen zwischen Stralsund und der ein Streitpunkt geblieben. Die letzte offizielle Aufstel­ Insel Rügen lung ist über zehn Jahre alt. Dass die Bundesregierung seitdem bewusst darauf verzichtet, ist vor allem der Tat­ sache geschuldet, dass sich viele Leistungen, die Ost wie West erhalten, nicht mehr gesondert erfassen lassen. Der Bundeshaushalt ist nach sachlichen und nicht nach regionalen Gesichtspunkten gegliedert.

Manche Medien haben mitunter Hunderte Milliarden Euro undifferenziert zusammenaddiert. Dabei wurden Leistungen wie Personalkosten des Bundes oder Aus­ gaben für die Bundeswehr mitgerechnet, denen Gegen­

— Eine Zwischenbilanz leistungen für ganz Deutschland gegenüberstehen. Oder Leistungen, die auf einer bundeseinheitlichen Rechtsgrundlage gewährt werden, also keine spezifische Förderung der neuen Länder darstellen – etwa im Bereich des Länderfinanzausgleichs und der Sozialversicherung.

Teilweise blieb auch verschwiegen, wie viele Steuern und Beiträge die Menschen in den ostdeutschen Ländern erbracht haben. Oder man übersieht, wie viel die ostdeut­ schen Fachkräfte zur Wirtschaft in den westdeutschen Ländern beigetragen haben. Professor Ulrich Blum vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle schätzt, dass die Bürger, die seit der Wiedervereinigung in den Wes­ ten abgewandert sind, dort jährlich ein Sozialprodukt von 60 bis 70 Milliarden Euro erwirtschaften.

Auch nicht zu vergessen ist, dass die Gelder letztendlich in ganz Deutschland zu zusätzlicher Produktion geführt haben; westdeutsche Unternehmen konnten von heute auf morgen neue Absatzmärkte erschließen und ihre ­Produkte an viel mehr Menschen verkaufen.

Die Diskussion um die Kosten der Einheit ist müßig geworden, da heute niemand mehr genau sagen kann, wo der Westen aufhört und der Osten anfängt.

Kontroverse Debatte über den Einigungsprozess

Die zwei Jahrzehnte Vereinigungsgeschichte haben eine Reihe von Irrtümern hervorgebracht. So werden nach wie vor gerne Solidarpakt und Solidaritätszuschlag ver­ wechselt. Der Zuschlag in Höhe von 5,5 Prozent auf die Einkommen-, Kapitalertrag- sowie Körperschaftsteuer wurde 1991 eingeführt und unter anderem mit der Finan­ zierung der Aufbauleistungen im Osten begründet. Das mag manche Westdeutsche zu dem Glauben verleitet

108 haben, nur sie hätten den „Soli“ zu zahlen. Tatsächlich wird der Zuschlag sowohl im Westen als auch im Osten erhoben. Zunächst galt er für ein Jahr, wurde aber 1995 erneut eingeführt. Sein Aufkommen wird in diesem Jahr voraussichtlich zwölf Milliarden Euro betragen und liegt damit rund zwei Milliarden Euro niedriger als die Auf­ bauleistungen des Bundes für den Osten, die im Rahmen des Solidarpaktes II vorgesehen sind.

Der Solidarpakt II ist der Finanzrahmen für die Aufbau­ leistungen des Bundes in Ostdeutschland. Er soll es ermöglichen, dass die ostdeutschen Länder ihre Infra­ struktur an das westdeutsche Niveau anpassen und die – auch nach dem Länderfinanzausgleich – unterproportio­ nale Finanzkraft ihrer Kommunen aufstocken können. Darüber hinaus soll – unter anderem durch Investitions- und Innovationsförderung – die Wirtschaftskraft so gestärkt werden, dass die neuen Länder wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und ohne besondere Hilfen auskommen, wenn die Vereinbarung 2019 ausläuft. Darin sind sich Bund und Länder einig.

Hauptaufgaben: Abbau der Arbeitslosigkeit, Stärkung der Wirtschaftskraft, Gestaltung der Folgen des demografischen Wandels

Eine Hauptaufgabe für die neuen Länder bleibt der Abbau der immer noch deutlich höheren Arbeitslosig­ keit. Sie hat in den letzten Jahren bereits deutlich ab­ genommen. Nicht zuletzt aufgrund der Bevölkerungs­ entwicklung hat sie sich bereits ein Stück weit dem geringeren westdeutschen Niveau angenähert.

Auch bei der Anpassung der Wirtschaftskraft gibt es positive Perspektiven, wenn man realistische Erfolgs­ maßstäbe zugrunde legt. So kommt eine Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zu dem

— Eine Zwischenbilanz Stadtumbau in der Lutherstadt Eisleben: Rund um Martin Ergebnis, dass die neuen Länder in rund zehn Jahren die ­Luthers Geburtshaus ist ein ­attraktives Wohn- und Lebens­ Wirtschaftskraft der strukturschwächeren alten Länder umfeld entstanden. erreichen könnten, wenn die Wachstumstrends der letz­ ten Jahre anhalten.

Mehr Arbeitsplätze und eine stärkere Wirtschaftskraft sind auch Voraussetzung, um die Abwanderung zu bremsen. Denn um zu bleiben, brauchen junge Leute in ihrer Umgebung in der Regel ähnliche berufliche P erspektiven wie anderswo.

Ein struktureller Nachteil für den Aufbau Ost, der sich nur allmählich überwinden lässt, ist der geringe Anteil an Großunternehmen und Konzernzentralen. Damit verbunden ist auch, dass die Forschungszentren häufig weiter in den alten Ländern angesiedelt sind. Langsam, aber stetig entsteht jedoch eine leistungsfähige mittel­ ständische Unternehmenslandschaft, die Anlass zu H offnung bietet.

Die Bevölkerungsentwicklung in den neuen Ländern zeigt im Zeitraffer, worauf sich in Zukunft auch viele Regionen im Westen einstellen müssen. Deshalb können

110 die Lösungen, die die neuen Länder insbesondere zur Organisation der Daseinsvorsorge finden, richtungs­ weisend sein. Wie sind unter den Bedingungen einer alternden und abnehmenden Bevölkerung die techni­ sche und die soziale Infrastruktur zu gestalten? Wie lässt sich das Fachkräfteangebot sichern? Wie ist ein lebens­ wertes Umfeld zu bewahren? Die Lösungsansätze, die hierzu in den neuen Ländern entwickelt werden, stoßen bundesweit auf großes Interesse. Ein Beispiel dafür ist die im April 2010 eröffnete Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt.

Gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken

Zu den Erfahrungen des Einigungsprozesses gehört, dass in Zeiten gravierender sozialer und ökonomischer Veränderungen der Erhalt des gesellschaftlichen Zusam­ menhalts unserer besonderen Fürsorge bedarf.

Inzwischen gibt es in den neuen Ländern viele Projekte des bürgerschaftlichen Engagements, in denen „Zukunft erfunden“ wird. Bürgerarbeit, Bürgerbusse und Bürger­ stiftungen sind einige der Formen, mit denen die Men­ schen auf kreative und neue Art Verantwortung für ihr Gemeinwesen wahrnehmen.

Neue Formen bürgerschaftlichen Engagements sind auch in Zukunft gefragt, da der Staat nicht mehr auf alle Fragen Antworten geben kann. Viele Zukunftsideen für das mecklenburgische Dorf oder die sächsische Klein­ stadt lassen sich nur vor Ort finden, nicht in den Regie­ Die wieder aufgebaute Dresdner Frauenkirche rungszentralen von Bund und Ländern. Dazu zählt auch ein entschiedenes Eintreten gegen Ext­ remismus und gewaltsame Übergriffe auf Andersden­ kende. Bürgerbündnisse und Bürgerinitiativen in Dres­ den, Jena, Pirna und vielen anderen Orten haben gezeigt, dass die Menschen in den neuen Ländern entschlossen

— Eine Zwischenbilanz und in der Lage sind, die Werte und Traditionen der Friedlichen Revolution des Jahres 1989 zu verteidigen.

Deutsche Einheit bleibt ein Gewinn

20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist eine junge Generation herangewachsen. Sie ist in ein Deutschland geboren, in dem alle Menschen in Freiheit leben. Das Ende von Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl hat den Weg in die Zukunft eröffnet. Die Altstadtbrücke, die den deutschen und den polnischen Die jungen Deutschen stehen inzwischen vor neuen Her­ Teil von Görlitz verbindet ausforderungen. Die Dimension dieser Aufgaben ist nicht geringer als die bei der Gestaltung der deutschen Einheit in den letzten zwanzig Jahren.

Der frei gewählte DDR-Ministerpräsident Lothar de Mai­ zière hat mehrmals darauf hingewiesen, die Teilung lasse sich nur durch Teilen überwinden. Und das ist im weites­ ten Sinne zu verstehen. Auch die Bevölkerung in den alten Ländern wird bei genauerem Hinsehen feststellen, dass sich nach 20 Jahren Vereinigungsgeschichte nicht nur der Osten verändert hat.

Dabei ist unstrittig, dass den Menschen in den neuen Ländern am meisten abverlangt wurde. Dennoch bedeu­ tet die Deutsche Einheit etwas anderes als nur die Fortset­ zung der alten Bundesrepublik in größerem Rahmen. Es ist ein neues Deutschland entstanden. Ein Deutschland, das zum ersten Mal in seiner gesamten Geschichte in Freiheit, Einheit und in Frieden mit allen seinen Nach­ barn lebt und dadurch eine tragfähige Brücke zwischen West- und Osteuropa bildet.

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Stand Juni 2010

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