1,7 Kilo pro Tag Der Zürcher Kokain- Report

WOZ Die Wochenzeitung

«Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, Das wagen wir verständig zu probieren, Und was sie sonst organisieren liess, Das lassen wir kristallisieren.»

Johann Wolfgang von Goethe, «Faust. Der Tragödie zweiter Teil» (1832)

Von Daniel Ryser Es war eine Zahl, die vor einem knappen Jahr und Olivier Würgler für Schlagzeilen ­sorgte: In werden ­jeden Tag 1,7 Kilogramm Kokain konsumiert. Mit Bildern von Wir wollten wissen: Was bedeutet das? Lukas Wassmann Wir trafen mehrere Dutzend ­Personen, die mit der Substanz zu tun haben. Viele Ge- spräche fanden im ­vorliegenden Text ­keinen Platz – wir möchten uns dennoch bei allen bedanken, die uns ihre Zeit op­ ferten. Wir trafen Gelegenheitskonsument­ Innen aus unterschiedlichen Szenen, wir ­trafen ­Menschen mit mehr oder weniger problema­tischem Konsumverhalten. Wir sprachen mit Drogenpsychiatern, Staats­­an­ wälten und SchmugglerInnen, mit Poli­ti­ker­­ Innen, Ärzten, Polizisten und Histo­rikern (dass in den Chefpositionen der Zürcher ­Kliniken oder bei den Behörden ­vornehmlich Männer sitzen, hat in dem Text zu einem Männerüberhang geführt). Das ist unsere Geschichte.

Eine Beilage der Wochenzeitung Redaktion: Adrian Riklin Diese Beilage wurde durch den Möchten Sie die nächste grosse WOZ Nr. 8 vom 22. Februar 2018 Abschlussredaktion: Armin Büttner, Recherchierfonds des Fördervereins Recherche mitfinanzieren? Roman Schürmann ProWOZ ermöglicht: www.prowoz.ch. Nutzen Sie dazu folgendes Postkonto: Weitere Exemplare können Fotos: Lukas Wassmann ­nach­bestellt werden. Bildbearbeitung: Tricolor Zürich Sorgfältige Recherche bedeutet Förderverein ProWOZ Gestaltung: Alina Günter vor allem eines: Arbeit und Zeit. Guter Hardturmstrasse 66 WOZ Die Wochenzeitung Korrektorat: WOZ-Korrektorat Journalismus ist kostbar, ohne ge­ 8031 Zürich, Schweiz Hardturmstrasse 66 und Kathrin Berger sicherte Finanzierung ist er nicht mög- PC 80-22251-0 8031 Zürich, Schweiz lich. Die Reportage, die Sie gerade in (Vermerk «Recherchierfonds») Telefon +41 (0)44 448 14 14 Werbung: Claudia Gillardon, den Händen halten, und andere ­grosse [email protected], www.woz.ch Camille Roseau WOZ-Recherchen gibt es nur dank Oder rufen Sie uns an: Verlag: Genossenschaft infolink Spenden unserer LeserInnen. Telefon +41 (0)44 448 14 83. Druck: Swissprinters, Zofingen Vielen Dank! Erster Teil 6 7 Spuren einer Volksdroge «Im Rotlichtviertel, in der kaput­ Frühling 2017. Wir sitzen auf dem Rasen der Bäcker­ testen Ecke der Stadt, war ich anlage im Kreis 4 in Zürich, trinken Bier und diskutieren 8 über eine Zahl: 1,7 Kilogramm. Das ist die Menge Koka­ nachts sicher. Sicher nämlich, dass in, die gemäss der jährlichen Abwasserstudie der ETH- ab etwa drei Uhr nachts alle an- Wasserforschungsstelle Eawag 2016 in der Stadt Zürich deren, die noch unterwegs waren, konsumiert wurde. Und zwar jeden Tag. Die NZZ schreibt ­un­gefähr genauso DRAUF waren von einer Stadt im «Bann des weissen Gifts». Dabei ist es zwanzig Jahre her, dass die Bäckeran­ wie ich. Es gab in Zürich zwei Clubs, lage von einem Polizeisonderkommando geräumt und die zuverlässig dominiert waren abgeriegelt wurde, nachdem die Infektionsraten wegen von Drogenmonstern, der eine be- dreckiger Spritzen immer mehr gestiegen waren. fand sich im Dachgeschoss eines krabbeln Kinder durch das Gras, und das Einzige, was hier noch steigt, sind die Wohnungsmieten. Eine offene Parkhauses, der andere Kaputten- Drogenszene gibt es in Zürich nicht mehr. club lag in einem Kellergeschoss. Hat Kokain Heroin abgelöst? Wer sind die Konsument­ So genau bekam ich ohnehin nicht Innen von heute, die täglich 1,7 Kilogramm Kokain ver­ mehr mit, wo ich gerade war, mir brauchen? Und überhaupt: Ist das viel? Immerhin heisst es, dass Kokain sehr schnell süchtig macht. Sind diese fiel nur auf, dass es entweder zu viel 1,7 Kilogramm pro Tag beziehungsweise 620,5 Kilo­ Ausblick auf die Stadt und deren gramm pro Jahr Ausdruck eines gesellschaftlichen Pro­ Lichter gab oder gar ke­ inen – und blems in dieser Stadt? dass ich lange nicht mehr in einem Ein paar Tage später: Gesprächstermin mit Thilo Beck, Chefarzt der Arbeitsgemeinschaft für risikoarmen Erdgeschoss ge­wesen war.» Umgang mit Drogen (Arud), die 1991 als medizinische Benjamin von Stuckrad-Barre, Antwort auf das damalige Drogenelend in der Stadt ge­ «Panikherz» (2016) gründet wurde. Wir sitzen in einem karg eingerichteten Sitzungszimmer an der Konradstrasse im Kreis 5. Auch so ein Ort, wo heute die Mieten steigen – und sich vor 25 Jahren nach der Schliessung des Platzspitzes Süchti­ ge in Hinterhöfen und direkt auf der Strasse Spritzen in Arme, Beine und Hals jagten, bevor sich am Letten die zweite offene Szene bilden sollte. Prügel für alte Damen, wenn sie die Handtasche nicht rausrückten. Die Beschaf­ fungskriminalität war auf einem Höchststand. «Unter dem Druck der damaligen Schreckensbilder hat die Drogenpolitik Fortschritte gemacht», sagt Beck, der sich seit dreissig Jahren mit dem Thema beschäftigt. «Dann sind die Bilder verschwunden, und die Politik hat sich anderen Dingen zugewandt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Wir sind auf halbem Weg stehen geblieben. Das ist ein grosses Problem für unsere tägliche Arbeit.» 1,7 Kilogramm Kokain pro Tag, Herr Beck, können Sie das erklären? «Es ist der Beleg, dass Kokainkonsum stattfindet», sagt Beck. «Und dass unsere Gesellschaft diesbezüglich einen Normalisierungsprozess durch­ laufen muss. Das Schadenspotenzial von Kokain wird übertrieben eingeschätzt. Die Substanz wird verteufelt, weil sie illegal ist. Wenn Sie sich mit dem Thema ausein­ andersetzen wollen, sollten Sie von folgender Annahme ausgehen: Substanzen sind im Grunde neutral. Es ist die Art des Konsums, die entscheidend ist.» Thilo Beck ist ein Mann, der mit seinen Ansichten provoziert. Immer wieder hat er in der Vergangenheit die Legalisierung aller psychoaktiven Substanzen gefordert. «Ich fände es wichtig, dass Sie in Ihrem Bericht auch ein­ mal den sogenannten Normalkonsum darstellen», sagt der Chefarzt. «Horrorgeschichten von Süchtigen ken­ nen wir zur Genüge. Dem unproblematischen Konsum wird zu wenig Beachtung geschenkt. Man nimmt die schlimmsten Fälle und generalisiert. Die Mehrheit kon­ sumiert psychoaktive Substanzen ohne Probleme. Das ist beim Alkohol so, das ist beim Kokain so. Diesen Normal­ konsum verstehen die Menschen als Steigerung ihrer Le­ bensqualität. Wenn man zusammen ein Glas Wein trinkt das kein Problem.» Sie bestellt einen neuen Cappuccino 9 oder eine Linie Kokain zieht, dient das der Steigerung und sagt, dass sie jedes Jahr «Sober October» zelebriere, der sozialen Interaktion. Es gibt Leute, die mal an einem «Nüchterner Oktober». «Da nehme ich nix», sagt sie. «Ich Abend zwei Linien Heroin schnupfen, sich wohlfühlen bin eine fortgeschrittene Userin. Ich lagere diverse Dro­ und danach ins Bett gehen. Andere trinken zwei Gläser gen zu Hause so wie andere Wein im Keller. Trotzdem Rotwein. Es ist ein Mythos, dass man vom einmaligen habe ich kein Bedürfnis, sie ständig zu nehmen.» Konsum einer Substanz süchtig wird.» Der Vorrat in ihrem «Weinkeller» besteht aus einigen Unabhängig von der Substanz gebe es immer einen LSD-Filzen, ein paar Gramm Haschisch, einem grossen gewissen Prozentsatz an Menschen, bei denen der Kon­ Plastikbeutel mit gefrorener Amphetaminpaste, einem sum aus dem Ruder laufe, im Schnitt zwischen 15 und Beutel Kokain, zwei Tütchen mit MDMA-Kristallen, zehn 25 Prozent der KonsumentInnen, sagt Beck, und bei fast gelben und blauen Ecstasytabletten, Ketamin, ein wenig all diesen Menschen sei die Abhängigkeit nicht die Ursa­ 2C-B und einer Pipette mit GBL, die sie kürzlich beim che, sondern Ausdruck eines tiefer liegenden Problems. Putzen hinter dem Büchergestell entdeckt hat. «In der Medizin sprechen wir von Vulnerabilitätsfakto­ «Die meisten Drogen konsumiere ich nur selten, zur ren. Die schwer Betroffenen, die bei uns in Behandlung Erholung vom Alltag», sagt Janina, deren Name geändert sind, weisen alle Risikofaktoren für eine Abhängigkeit ist, so wie viele Namen, die in diesem Text folgen werden. auf, die sie von Normalkonsumenten unterscheiden: «Kokain und Amphetamin sind alltagskompatibel. Ko­ zerrüttete familiäre oder schwierige sozioökonomische kain macht mich wach, ich fühle mich gut, ein leichter, Verhältnisse, Traumatisierungen wie etwa durch Miss­ warmer Rausch legt sich über mich. Amphetamin ist eine handlungen, psychische Störungen, ein unbehandeltes Leistungsdroge: Ich ziehe eine grosse Linie, setze mich schweres ADHS. Solche Menschen tendieren dazu, ihr fokussiert hin und arbeite zehn Stunden am Stück.» Leiden mit Substanzen zu betäuben.» Beck ist für eine Legalisierung von Kokain. «Was da­ — bei letztlich passieren würde, wissen wir nicht. Wir müs­ sen es ausprobieren. Die Vorstellung, dass alle anfangen Sonntagmorgen, sechs Uhr. Technoparty im Keller eines würden, sich zu Tode zu konsumieren, ist panisch über­ besetzten Hauses. Nils ist im Redeschwall. Er und zwei trieben. Als 1994 die heroingestützte Behandlung ein­ Freunde sitzen auf einem Sofa und ziehen Regenbogen­ geführt wurde, herrschte eine riesige Nervosität. Viele linien: Linien aus Kokain und Ketamin. Ketamin ist ein haben behauptet: ‹Wenn ihr diesen Schwersüchtigen He­ Betäubungsmittel, das unter anderem die Affinität zu roin abgebt, dann driften sie ab und konsumieren sich Musik verstärkt. «Das Kokain schiebt dich an, das Keta­ ins Oblivion.› Man hat schnell gemerkt, dass diese Men­ min wirkt leicht psychedelisch», sagt der gelernte Schrei­ schen sich über die Heroinbehandlung selbst reguliert ner, der heute als Fotograf arbeitet. haben. Sie haben sich auf eine Dosis eingestellt, mit der Abgesehen von Heroin konsumiert der 33-Jährige so sie zurechtkommen, mit der es ihnen gut geht.» ziemlich alles, was der Markt zu bieten hat: MDMA, Ec­ Diejenigen, die koksen wollten, kämen gemäss Beck s­tasy, Speed, DMT, Ketamin und am häufigsten Kokain. schon heute an den Stoff. «Die Droge ist in Zürich zu­ «Die Qualität der Drogen gibt in Zürich zu keinen Klagen gänglich für alle. Es wird mit viel Geld ein repressives Anlass. Und der Stoff ist immer verfügbar.» System aufrechterhalten, das mehr Schaden als Nutzen Er sei ein «High Sensation Seeker», sagt Nils, «ich verursacht. Es entstehen Parallelmärkte, die unkontrol­ suche ständig eine möglichst hohe Erlebnisdichte, und liert sind, erbarmungslos, und einen grossen Schaden das Kokain hilft mir dabei, die Synapsen zu befeuern. Ich verursachen.» kokse jedes Wochenende.» Wenn er nach Hause komme und nicht schlafen könne, schlucke er ein Beruhigungs­ — mittel, ein Valium, ein Xanax oder ein Temesta. «Ich schlafe sofort ein und fühle mich am nächsten Tag pu­ Kokain zur Steigerung der Lebensqualität – im Café La delwohl.» Am Montag geht er wieder arbeiten. Stanza beim Paradeplatz treffen wir Janina. Die 32-jäh­ «Unter der Woche habe ich zu viel zu tun, um Drogen rige Wirtschaftsprüferin kokst seit fünfzehn Jahren und zu nehmen», sagt Nils. «Am Wochenende kokse ich fast sagt: «Ich liebe Kokain. Es verbessert mein Leben.» Sie immer. Ich mache das seit dreizehn Jahren. Und mein trägt Schuhe von Charles Louboutin, einen schwarzen ganzes Umfeld auch. Ich warte immer darauf, dass es mal Hosenanzug von Gucci und eine Handtasche von Louis einen umhaut, aber es passiert einfach nicht.» Dann sagt Vuitton. «Und Amphetamin liebe ich fast noch ein wenig Nils: «Wartet einen Moment!» mehr», sagt sie. «Ich liebe sie beide. Ohne Amphetamin Er wedelt mit der Hand. Zieht eine Linie Koks. und Koks wäre ich heute nicht da, wo ich bin.» Zieht eine zweite Linie. Eine dritte. Schüttelt sich. Wenn sie am Freitag nach einem Fünfzehnstunden­ «Ah, schon besser», ruft er. tag und einer Siebzigstundenwoche ins Wochenende Zieht eine vierte Linie. starte, halte sie nichts davon ab, sich eine Linie Koks zu «Ich habe eine geniale Idee», sagt er dann. gönnen. «Ich trinke keinen Alkohol. Andere trinken ein «Wer könnte euch besser schildern, wie und wo in Feierabendbier, ich ziehe eine Linie.» Ein Gramm reiche ­Zürich überall gekokst wird, als ein Koksdealer?» ihr im Schnitt für fünfzehn bis zwanzig Linien. «Ich will wegen meines strengen Jobs nicht auf Club — und Party verzichten», sagt Janina. «Oder auf meine Freunde. Oder auf einen verkaterten Besuch samstags «Von der Ärztin bis zum Tellerwäscher. Von der Anwalts­ bei den Eltern. Mit einer Linie Koks oder Amphetamin ist kanzlei bis zum besetzten Haus. So würde ich meine

Kundschaft beschreiben. Einzig mit den Junkies habe trums für Abhängigkeitserkrankungen, sowie der Psy­ ich nichts zu tun.» Johnny, 28, verkauft Drogen an Par­ chologe und Kokainforscher Boris Quednow. 12 tys und bringt Leuten das Kokain mit dem Fahrrad nach «Man kann aufgrund der Abwasserdaten nicht sagen, Hause. Eher zufällig ist er in die Sache reingerutscht. Vor wie viele Leute tatsächlich konsumieren», sagt Quednow, fünf Jahren, er war völlig pleite, wurde er von einem Be­ als wir ihn auf die ETH-Studie ansprechen. «Es kann sein, kannten aus der Technoszene angefragt, ob er GBL in die dass es wenige Leute sind, die sehr viel konsumieren. Es Schweiz schmuggeln wolle. Mit dem Flixbus fuhr er nach kann aber auch sein, dass es viele Leute sind, die wenig Polen, kaufte dort für 1300 Euro zwanzig Liter der Party­ konsumieren. Wir wissen auch nicht, wie viele koksende droge, bestieg den Bus zurück nach Zürich und verkaufte Pendler und Touristen darin enthalten sind.» Das sol­ sie hier für 10 000 Franken. le sich ändern, so der Kokainforscher: «Wir planen im Johnny fährt auch wegen eines einzigen Gramms Moment eine Studie, mit der wir diese Frage hoffentlich Kokain durch die ganze Stadt. Er zahlt für das Gramm bald besser beantworten können.» Dafür ProbandInnen 45 Franken und verkauft es für 100. Ein Gewinn von zu finden, sollte kein Problem sein. «Bei einer Studie 55 Franken. «Pro Wochenende verkaufe ich bis zu dreissig zu Opiaten meldet sich fast niemand. Aber wenn wir in Gramm. Aufwand und Ertrag stehen in einem guten Ver­ ­einem Veranstaltungskalender im Internet Probanden hältnis. Weil ich immer nur mit kleinen Mengen unter­ für eine Kokainstudie suchen, kriegen wir jeweils sehr wegs bin, laufe ich nicht Gefahr, wirklich hart bestraft zu viele Rückmeldungen.» werden.» Aus Vorsicht wechselt er seine Handynummer Kokain sei in seiner täglichen Arbeit sehr präsent, alle paar Wochen. sagt Psychiater Marcus Herdener. «Wir haben wegen Ko­ Ein wichtiger Absatzmarkt sind für ihn After Hours, kain viele Patienten. Das lässt allerdings keinen Schluss die Technopartys, die erst gegen Morgen beginnen. «Ko­ auf eine Gesamtzahl zu. Wir sehen ja nur jene, die ein kain ist die Droge Nummer eins, vor MDMA, Ecstasy, Ke­ Problem haben.» Die Mehrheit kokse, ohne Probleme zu tamin», sagt er. «Auch wenn die Clubs Dealer rauswerfen, haben. «Wir gehen davon aus, dass in Zürich im euro­ ist es ihnen letztlich recht, wenn im Club gekokst wird. päischen Vergleich relativ viel Kokain konsumiert wird. Wenn die Leute koksen, saufen sie mehr.» Einerseits schliessen wir das aus den Abwasseranalysen, Johnny kauft das Kokain einmal monatlich in Zürich andererseits entsteht dieser Eindruck aber auch in un­ in einer grösseren Menge, teilt es in kleinere Einheiten serem Arbeitsalltag. Genaue Konsumentenzahlen sind und verkauft diese gleich weiter. «Im Moment ist in Zürich aber schwierig abzuschätzen. Mit Sicherheit kann man so viel hochprozentiger Stoff auf dem Markt, man kann aber in der Stadt Zürich von einer vergleichsweise hohen es sich nicht leisten, das Zeug zu strecken», sagt er. Der Zahl an Konsumenten sprechen und davon ausgehen, Reinheitsgrad liege häufig bei neunzig Prozent. «Wenn dass der tatsächliche Anteil deutlich höher ist als das sich der Schweizer einen neuen Fernseher kauft, kauft er knapp eine Prozent, das in den üblichen telefonischen in der Regel kein Billigprodukt. Er gibt lieber mehr Geld Gesundheitsbefragungen für die Schweiz ermittelt wird.» aus und kriegt dafür Qualität. So ist es auch beim Koks.» In der Arbeit mit Abhängigkeitserkrankungen habe Es gebe in Zürich viele Leute, die ähnlich wie er Koka­ man es mit der ganzen Bandbreite der Gesellschaft zu in verkauften. Er kenne selbst ein Dutzend Dealer. «Ein tun, sagt Herdener. «Es ist wichtig, dass man beim The­ erheblicher Teil des Kleinhandels läuft über den Be­ ma Drogen nicht in Stereotypen denkt. So verschieden kanntenkreis. Das macht es den Bullen fast unmöglich, die Menschen ohne Substanzprobleme sind, so verschie­ irgendetwas dagegen zu tun», sagt er. den sind die Menschen mit Substanzproblemen.» Bei Als Dealer könne man beobachten, wie manche Kund­ einer Kokainstudie mit 150 KonsumentInnen sei «vom Innen immer mehr konsumierten. «Zuerst rufen sie dich Randständigen bis zum Investmentbanker» alles dabei nur ab und zu an, vielleicht alle paar Monate. Dann alle gewesen, sagt Quednow. «Es ist nicht so, dass Kokainkon­ paar Wochen. Dann jedes Wochenende.» Er habe sich sumenten unter den Besserverdienenden einen Schwer­ gefragt, ob er ein schlechtes Gewissen haben müsste, punkt bilden. Handwerker, Hilfsarbeiter, Hausfrauen, weil er mit Kokain handle. «Kann ich noch in den Spie­ Lehrer, Köche: Kokain wird in allen sozialen Schichten gel schauen? Aber dann sagte ich mir: ‹Was du tust, ist konsumiert.» scheisse. Aber immerhin gestehst du es dir ein.›» Andere In den siebziger Jahren sei Kokain eine Nischensub­ Leute arbeiteten bei Nestlé und stellten sich diese Fragen stanz für KünstlerInnen und Reiche gewesen, sagt Qued­ gar nicht. now. Inzwischen könne es sich jeder leisten, der halbwegs «Es gibt drei Dinge, die ich mit Sicherheit weiss», sagt ein Einkommen habe. In den Achtzigern kostete ein Johnny. «Erstens: Gutes Kokain ist in Zürich so verfügbar Gramm über 300 Franken, heute koste es einen Hunder­ wie noch nie. Zweitens: Es wird viel mehr konsumiert als ter. «Hohe Qualität, günstiger Preis, Schweizer Kaufkraft. noch vor fünfzehn Jahren. Drittens: Kokain ist keine eli­ Mit Letzterer kann man sich mehr Kokain leisten als in täre Droge mehr. Alle nehmen Kokain. Auch in jedem Al­ Frankreich, Österreich oder Italien. Das ist eine der Er­ ternativlokal koksen sich heute die Leute die Birne voll.» klärungen dafür, warum Kokain in Zürich in den letzten zwanzig Jahren von einer Droge der High Society zu einer — Volksdroge geworden ist.» Kokain könne man rauchen, spritzen, schnupfen, Das Tram Nummer 11 Richtung Rehalp bringt uns zur sagt der Psychiater Marcus Herdener. Dabei schütte der Haltestelle Balgrist. Von dort spazieren wir hinab zum Körper die körpereigenen Botenstoffe Dopamin, Nor­ Hügel Burghölzli und zur Psychiatrischen Universitäts­ adrenalin und Serotonin aus. Dies führe zu gesteigerter klinik Zürich (PUK), wo uns zwei Kokainexperten er­ Euphorie, Redseligkeit sowie erhöhter Risikobereitschaft warten: der Psychiater Marcus Herdener, Leiter des Zen­ und unterdrücke Müdigkeit und Hunger. «Nach kurzer 13 «Hohe Qualität, günstiger Preis, Schweizer Kaufkraft. Mit Letzterer kann man sich mehr Kokain leisten als in Frankreich, Österreich oder Italien. Das ist eine der Erklärungen dafür, warum Kokain in Zürich in den letzten zwanzig Jahren von einer Droge der High Society zu einer Volksdroge geworden ist.»

Boris Quednow, Kokainforscher Zeit lässt die Wirkung nach, und das Hirn verlangt nach Kokain zu beurteilen, und die Aufgabe des Staates, die mehr. Viele Konsumenten fallen dann in ein Loch und Gesundheit der Bevölkerung bestmöglich zu garantieren. 14 verspüren das Bedürfnis, wieder zu konsumieren.» Ich gehe davon aus, dass eine Legalisierung von Kokain Wer Kokain konsumiere, sagt Boris Quednow, setze die Gesamtgesundheit verschlechtern würde. Denn es ist sich vor allem bei einem chronischen Konsum einem er­ auch eine Frage der Verfügbarkeit: Je verfügbarer eine höhten Risiko für einen Infarkt aus. «Das gilt auch für Substanz ist, desto mehr Leute werden ein Problem da­ Menschen mit gesundem Herzen. In der Stunde nach mit bekommen.» dem Konsum hat man ein zwanzigfach erhöhtes Herz­ Marcus Herdener sagt, er stehe irgendwo zwischen infarktrisiko. In Kombination mit Alkohol erhöht sich Beck und Quednow: «Substanzkonsum findet in unse­ dieses Risiko auf das Vierzigfache. Wenn sie einen jungen ren Gesellschaften seit Jahrhunderten statt. Daher kann Mann im Alter von etwa 25 Jahren in der Notaufnahme man den Schluss ziehen, dass es unmöglich ist, diesen haben, der einen Hirnschlag oder einen Herzinfarkt er­ Konsum über alle Klassen hinweg zu verbieten. Es ist litten hat, spielen oft Stimulanzien eine Rolle, wenn es nicht realistisch. Es gibt illegale Substanzen wie Can­ keine kardiologische Vorerkrankung gibt.» Bilduntersu­ nabis oder Kokain, die extrem breit in der Gesellschaft chungen von SchwerstkonsumentInnen hätten laut dem verfügbar sind. Das Modell einer drogenfreien Gesell­ Psychologen ergeben, dass manche viele kleine Mikro­ schaft – ob das wünschenswert ist oder nicht, sei einmal läsionen im Hirn hätten, also «Minischlaganfälle». dahingestellt – ist nicht realistisch. Es gibt keine mir be­ Nach einer intensiven Konsumphase würden viele kannte Gesellschaft, wo dies der Fall war. Die Frage, die Menschen in ein Loch fallen, beschreibt Marcus Herde­ sich daraus ergibt: Wie können wir den Bedarf an Kon­ ner Folgeerscheinungen auf psychischer Ebene. «Man sum, der offensichtlich besteht, so steuern, dass für die kann in diesen Momenten depressiv werden oder sogar Gesellschaft am wenigsten Schaden entsteht?» Suizidgedanken entwickeln. Akut kann man auch pa­ Der Schwarzmarkt produziere Probleme. Mit der or­ ranoide Zustände erleiden, also Verfolgungsideen ent­ ganisierten Kriminalität sei weltweit sehr viel Leid ver­ wickeln. Das geht in der Regel mit dem Absetzen des bunden, sagt Herdener. «Die Folgen einer Abhängigkeit Konsums wieder weg.» Übermässiger Konsum könne sind ein anderer Aspekt. Auch sie verursachen viel Leid. auch die Wahrnehmung verändern, sagt der Arzt. «Man Je mehr Menschen man einer Substanz aussetzt, umso kann Dinge sehen und hören, die es nicht gibt. Was uns mehr Süchtige gibt es: Das ist eine Milchbüchleinrech­ vor al­ lem bei Menschen, die intensiv Kokain konsumie­ nung. Dennoch glaube ich, dass es bessere Modelle ge­ ren, begegnet, ist, dass sie manchmal einen Dermato­ ben muss als ein Verbot. Abgesehen von der organisier­ zoenwahn entwickeln, das Gefühl also, Käfer oder ­andere ten Kriminalität ist es heute beispielsweise ein riesiges Tiere unter der Haut zu haben.» Problem, dass die Konsumenten nicht wissen, was sie Wir sind auch in die PUK gekommen, um von Her­ konsumieren. Man sieht das aktuell in den USA, wo auf­ dener und Quednow zu hören, was sie von Thilo Becks grund der Opioidepidemie Zehntausende pro Jahr an Vorschlag halten, Kokain zu legalisieren. Über­dosen sterben. Weil sie nicht wissen, was sie kon­ «In der Fachwelt herrscht ein Konsens, dass man sumieren. Das könnte man über eine regulierte Abgabe den Konsum entkriminalisieren muss», antwortet Boris deutlich eindämmen.» Quednow. «Man muss den Konsumenten aus der Verant­ wortung nehmen. Dass der Konsument kriminalisiert — wird, halte ich für wenig sinnvoll. Ich sehe das aus der Optik der Menschen, die Substanzprobleme haben. Diese Letzten Sommer wäre Kurt fast durch seinen chronischen Menschen können es sich nicht mehr aussuchen, ob sie Konsum von gestrecktem Kokain gestorben: Als man den konsumieren oder nicht.» jungen Mann aus Zürich in die Intensivstation des Uni­ Das bedeute nicht, dass er wie Beck den Handel lega­ versitätsspitals einlieferte, war die Sauerstoffsättigung lisieren würde. «Ich habe bezüglich Legalisierung eine im Blut lebensbedrohlich tief. «Ich hatte zwei Jahre lang klare Meinung», sagt Quednow. «Substanzen wie Koka­ fast jeden Tag Kokain geschnupft», sagt der 25-jährige in können, chronisch konsumiert, dazu führen, dass die Jusstudent. «Um mir das Studium zu finanzieren, arbei­ Fähigkeit zur Selbstverantwortung geschwächt wird. Es tete ich in einem Nachtclub. Ich trank viel Alkohol und ist das Wesen der Abhängigkeit, dass die Eigenverant­ kokste. Nachmittags spielte ich mit meinen Freunden wortung irgendwann nicht mehr funktioniert. Aus einer Playstation, begann, mit ihnen Koks zu ziehen. Sie gin­ gesellschaftlichen Perspektive würde ich daher sagen: gen dann irgendwann nach Hause, und ich ging arbeiten Es ist die Aufgabe des Staates, die Menschen manchmal und kokste die ganze Nacht weiter. Ich vernachlässigte auch vor sich selbst zu schützen. Beim Autofahren erlau­ Studium und Sport, passte den Freundeskreis immer ben wir es dem Staat ja auch, uns vorzuschreiben, dass mehr dem Konsum an, und so glitt ich schrittweise in wir uns anschnallen. Bei den Substanzen hingegen heisst eine Sucht.» es, der Mensch habe ein Recht auf Rausch, jeder müs­ Die Ärzte diagnostizieren eine pulmonale Hypertonie, se das für sich selbst entscheiden. Das würde ich nicht einen lebensbedrohlichen Lungenhochdruck, vermut­ unterschreiben, denn viele Substanzen untergraben lich ausgelöst, so steht es im Bericht des Zürcher Univer­ eben gerade die Fähigkeit, rationale Entscheidungen zu sitätsspitals vom September 2017, durch eine Reaktion ­treffen.» des Körpers auf das Kokainstreckmittel Levamisol, ein Quednow, der seit über fünfzehn Jahren zu Kokain Medikament gegen Fadenwürmer. Ein Streckmittel, so forscht, sagt: «Auch ich als Experte kann mir die Sub­ heisst es in medizinischen Fachkreisen, das vor zehn stanz und ihre Risiken nicht vollständig erklären. Es ist Jahren erstmals in Kokain aufgetaucht ist und mit dem die Aufgabe der Experten, das Gefahrenpotenzial von heute rund siebzig Prozent des in den USA konsumier­ ten Kokains gestreckt ist. «Auch in Zürich enthielten Dr. Satan sagt, die Frau sei eine Romaprostituierte. 15 zwischen 2010 und 2016 fünfzig bis siebzig Prozent al­ Sein Freund habe sie einem Zuhälter abgekauft. Jetzt ler Kokainproben Levamisol», sagt PUK-Forscher Boris wohne sie bei ihm. Quednow. Auf dem Tisch liegt eine Grammwaage. Der Dealer «Von schweren Folgeerkrankungen durch Levamisol zieht einen Plastikbeutel hervor. wird verhältnismässig selten berichtet, vielleicht aber Ein Pitbull rennt durchs Zimmer. Der Dealer schmeisst auch deshalb, weil das Mittel nicht als Ursache erkannt ihm einen Tennisball hinterher. In einer Glasvitrine ste­ wird», sagt Andreas Schleich, Facharzt für Nierenerkran­ hen eine Bong – eine Wasserpfeife ohne Schlauch – und kungen am Stadtspital Waid in Zürich. Er hatte in einer ein Terrarium mit Vogelspinnen. Fachzeitschrift auf die Folgen von Levamisol durch chro­ Dr. Satan will zehn Gramm kaufen, hat aber nur Geld nischen Kokainkonsum hingewiesen, und zwar, nach­ für fünf Gramm dabei. dem sich schwere Hautentzündungen einer 65-jährigen Das sei schlecht, sagt der Dealer. Patientin im Triemli-Spital vorerst nicht hatten erklären Dr. Satan kauft fünf. lassen. «Bei jüngeren Patienten fragen wir relativ bald «Kennst du jemanden, der Valium braucht?», fragt der nach Drogenkonsum», sagt Schleich. «Bei dieser älteren Dealer. Dame kamen wir anfangs nicht auf die Idee, sie zu fra­ «Ja, voll», sagt Dr. Satan. «Ich bring ihn dir.» gen, ob sie seit Jahren regelmässig Kokain konsumiere.» «Wollt ihr noch eine Linie ziehen?», fragt der Dealer. Derzeit behandelt Schleich einen Mann mittleren Alters, «Unbedingt!», sagt Dr. Satan. einen regelmässigen Kokainkonsumenten, der wegen «Wie hast du es sonst im Leben?», fragt der Dealer. des Levamisol eine Nierenentzündung bekommen hat. «Mache gerade Entzug», sagt Dr. Satan. «Angesichts des steigenden Konsums in Zürich ist das eine Entwicklung, die wir im Auge behalten müssen», — sagt der Arzt. Levamisol werde von den Drogenkartellen bereits in Ein paar Tage später sitzen wir abends auf einer Park­ den Produktionsländern beigemischt, sagt Arud-Chef­ bank bei der ehemaligen Zürcher Börse und blicken auf arzt Thilo Beck. «Einfach weil die Kartelle der Meinung die Sihl. Dr. Satan tippt auf seinem Smartphone. Das sind, dass sich ihr Produkt dadurch besser verkaufen Hintergrundbild zeigt seine drei kleinen Söhne. «Mein lässt. Bis heute weiss niemand genau, warum die Kar­ Psychiater meint, ich gehöre zu einer kleinen Gruppe telle das Kokain ausgerechnet damit strecken. Es wird von Süchtigen, die schwer zu therapieren seien», sagt der angenommen, die euphorisierende Wirkung werde so 41-jährige Treuhänder. stärker wahrgenommen. Andere sind der Meinung, Le­ Mit 31 konsumierte er zum ersten Mal Kokain, ge­ vamisol lasse das Kokain flockiger aussehen.» Beck wirft raucht als Freebase. Es riss ihn hinauf in höchste Höhen, dem Staat vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen: Bei die Horrorbilder der Vergangenheit waren mit einem Mal Nahrungsmitteln sorge er dafür, dass nichts verkauft weggewischt. Doch schon nach fünf Minuten, als das werde, was giftig sei, «doch im Bereich der Substanzen High vorbei war, waren sie wieder da, und er stürzte ins versagt er völlig. Durch die Verbotspolitik lässt er es zu, Bodenlose. Er wollte sofort wieder hoch. Die Nacht koste­ dass sich die Leute auf dem Schwarzmarkt versorgen te ihn 20 000 Franken. Heute, mehr als zwanzig solcher und sich Dreck durch die Nase ziehen. Der Staat wäre Freebase- und Crackorgien später, hat er Schulden von verpflichtet, eine Alternative zur Verfügung zu stellen 100 000 Franken in Kleinkrediten, obwohl er als Treu­ und die Bevölkerung zu schützen.» händer gut verdient. Dr. Satan ist auch schwer schnupfsüchtig. Er hat im­ mer mindestens drei Gramm Kokain bei sich. Für den Fall, dass das Reissen nach Kokain komme. Damit er kei­ «Das Kokain spricht: nen Scheiss mache. Damit er nicht an der Langstrasse in Liebes Gehirn, ohne mich einem Puff ende und Tausende Franken verrauche. bist du ein Nichts.» «Du läufst die Langstrasse runter, meistens schon betrunken, und dann wirst du von einer Prostituierten Aus den Tagebüchern von Dr. Satan angehaucht», beginnt Dr. Satan seinen Langstrassen- Bericht. «Man ist geil, kopfgeil, geht mit hinauf ins Zim­ An einem Abend im November fahren wir mit Dr. Satan mer, und dann kommt irgendwann die Pfeife ins Spiel. in eine Blocksiedlung nach Schlieren zu seinem Dealer. Pipa, wie die Dominikanerinnen sagen. Geraucht wird Wir klingeln bei einer Wohnung im dritten Stock. Crack oder Kokainbase. Das Rauchen ist sensationell, viel Ein hagerer, unrasierter Mann um die vierzig, der nur besser als Schnupfen. Leider macht es auch viel schneller Basketballshorts trägt, öffnet die Tür. süchtig. Das High ist unvergleichlich, tausendmal bes­ Wir ziehen die Schuhe aus, und der Dealer führt uns ser, als wenn man schnupft, dafür viel kürzer. Und dann ins Wohnzimmer. Auf einer weinroten, hufeisenförmi­ gehts tief hinab. gen Sofagarnitur sitzt eine etwa zwanzigjährige Frau in Ich erinnere mich an meine erste Nacht. Die Prostitu­ einem Trainingsanzug apathisch vor einem Glastisch, ierte sass mir gegenüber und hielt die Pfeife in der Hand, auf dem Spuren von weissem Pulver liegen. und ich habe sie angebrüllt: ‹Ich möchte sterben! I wanna Sie sagt kein Wort, und offenbar spricht sie kein die!› Ich wollte nie wieder damit aufhören, also habe ich Deutsch, denn der Dealer sagt ihr auf Englisch, sie solle einfach immer weitergemacht.» ihm eine kleine Tasche rüberreichen. Die Prostituierten und Dealerinnen an der Lang­ In der Luft liegt der Duft von Marihuana. strasse haben ihm einen Namen gegeben: Dr. Satan.

«Wenn ich ein Kilogramm ein­ 18 kaufe und direkt weiterver­kaufe, zahle ich 32 500 Euro und ver­kaufe es in ­Zürich für 47 000 Franken. Ein Gewinn von rund 10 000 Franken pro Kilo.»

Theresa, Schmugglerin und Händlerin Dr. Satan wurde als Kind vergewaltigt. Der Missbrauch Das Argument von Kokainforscher Boris Quednow, 19 fand in der eigenen Familie statt. «Ich wollte mir die Birne wonach bei einer Legalisierung von Kokain die Verfüg­ wegknallen, alle Wut rauslassen, die tief in mir steckte, barkeit steige und somit auch die Zahl der Süchtigen, hält den Hass, wollte mich erniedrigen, wie ich als Kind er­ Beck für fragwürdig. «In einem Markt wie hier, wo die niedrigt worden bin», sagt er. «Und ich wollte befehlen. Verfügbarkeit schon sehr hoch ist, wäre der Unterschied Wer zahlt, befiehlt. Fünf Frauen, die tun, was man ihnen im Konsum, der durch eine Legalisierung entstehen wür­ sagt. Obwohl sexuell fast nichts passiert in einer solchen de, vermutlich nicht so hoch.» Nacht. Wenn du Crack oder Freebase rauchst, ist der Kör­ Wenn man Substanzen reguliere, müsse man sich das per betäubt, nichts geht mehr. Alles passiert im Kopf. Ich Vorgehen gut überlegen. «Man muss den bestehenden bin nicht homosexuell. Aber auf Crack ist alles möglich. Schwarzmarkt anschauen und das Angebot so wählen, Eine Transsexuelle kommt ins Zimmer, und dann fickt sie dass es keine übermässige Stimulierung des Konsumen­ dich. Man liegt da und hat Bilder im Kopf und raucht und ten bedeutet», sagt Beck. «Der Preis darf nicht zu tief, aber zahlt und raucht, und es gibt keine Grenzen mehr. Eine auch nicht zu hoch sein. Zudem sollte man verbieten, das Prostituierte telefoniert ständig. Sie bestellt mehr Crack­ Produkt zu bewerben. Wichtig ist, dass man die Menschen steine oder bei einer weiteren Dame das Lesegerät für die informiert, was sie tun. Die Leute müssen wissen, was sie Kreditkarte. Geld spielt keine Rolle mehr. Man würde in konsumieren und wie es wirkt. Dann können sie entschei­ diesen Momenten alles tun, um an den nächsten Hit zu den, ob sie das Risiko auf sich nehmen wollen oder nicht. kommen. Sie räumen dir dein Konto leer. Du gehst am Leuten, die süchtig werden, müssen wir Unterstützung Freitagabend rein, und wenn du rauskommst, ist es Sams­ anbieten. Wir müssen ihnen helfen, Strategien zu entwi­ tagnachmittag. ckeln, den Konsumdrang besser zu steuern.» Viele Männer schämen sich, weil sie in diesen Orgien Eine Entkriminalisierung des Konsums, wie Qued­ völlig die Kontrolle verlieren. Das Ersparte. Den neuen now sie fordere, sei laut Beck ein Schritt in die richtige BMW», sagt Dr. Satan. «Ein Freund von mir arbeitet im Richtung, aber letztlich inkonsequent. «Was gekauft Management einer Bank. Er verdient eine Viertelmillion. wird, muss auch verkauft werden. Wenn man den Kon­ Letzte Woche musste ich ihm einen Tausender leihen.» sum legalisiert, muss man konsequenterweise auch das, In der Entzugsklinik Frankental lernt Dr. Satan einen was die Leute konsumieren, legal zur Verfügung stellen, Mann kennen, der von seinem Vater ein Dutzend Uhren sonst bleibt der Schwarzmarkt erhalten – ein Markt, der im Wert von 100 000 Franken geerbt hatte. «Sie sind alle sich nicht darum kümmert, ob es jemandem schlecht für Crackorgien draufgegangen», sagt Dr. Satan. «In der geht. In einem regulierten Markt hätten wir viel besse­ Entzugsklinik heisst es unter den Süchtigen: ‹Die Uhren re Möglichkeiten, Risikokonsum frühzeitig zu erkennen, gehen an die Huren.›» zu begleiten und die Leute zu unterstützen – und durch Information vielleicht auch zu verhindern, dass sie über­ — haupt süchtig werden.»

«Wir haben es in unserer Therapiearbeit immer wieder — mit vermögenden Bankern oder Anwälten zu tun, die in einer derartigen Konsumphase bis zu 30 000 Franken lie­ Wir sitzen in einer Kontaktbar im sogenannten Bermu­ gen lassen», sagt Drogenpsychiater Thilo Beck. «Immer dadreieck im Zürcher Kreis 4. Halb zehn Uhr an einem wieder hören wir von Patienten, dass in vielen Bordellen Samstagabend. Ein DJ spielt in unangenehmer Lautstär­ in Zürich Kokain oder Crack à discretion zur Verfügung ke brasilianische Discohits, drei in die Jahre gekommene stehe. Bei diesen Exzessen geht es allerdings nicht um Männer zwängen sich an einen runden Tisch. Das Bier Sex, sondern in erster Linie ums Freebasen. Die Prosti­ kostet acht Franken und die Piccolos, die Miniprosecco­ tuierte ist vor allem dazu da, die Pfeife vorzubereiten.» flaschen für die Damen aus der Dominikanischen Repu­ Das Rauchen von Kokain als Base oder als Crack ge­ blik, die sich zu uns gesellen, fünfzig. Es riecht nach stalte sich schnell exzessiv, sagt Beck. Beim Schnupfen ­Kotze. Wir kommen direkt zur Sache und fragen, ob wir von Kokain, der verbreitetsten Konsumform, sei das High Crack kaufen könnten. deutlich weniger stark und somit auch das folgende Tief. Ist es wirklich so einfach, im Kreis 4 an Crack oder Beim Rauchen werde die Droge über die Lunge «extrem Freebase zu kommen? Kann man, wie Dr. Satan es be­ schnell angeflutet», schneller als beim Spritzen – die ma­ schreibt, einfach in ein Bordell hineinspazieren, und ein ximale Wirkung der Droge ist in Millisekunden da. «Die paar Stunden später hat man sich in einem schäbigen Wirkung klingt schnell wieder ab. Das High dauert bloss Zimmer um sein Bankkonto geraucht? wenige Minuten. Das zwingt die Menschen zu einer stän­ Die Damen sagen, dass wir sie ins Séparée begleiten digen Wiederholung des Konsums, weil sie den brutalen müssen, und fragen, ob wir eine Kreditkarte hätten. Ha­ Absturz von diesem spektakulären High fast nicht aus­ ben wir nicht. «Schade», sagen sie. Wir verabschieden uns, halten. Der Crash lässt die Menschen ins Bodenlose fallen. treten raus auf die Strasse und laufen hundert Meter wei­ Um ihn hinauszuzögern, rauchen manche mehrere Tage ter, vorbei an suchenden Blicken, jeder und jede scheint am Stück ohne Pause. Aber irgendwann crasht jeder. Die hier etwas anbieten zu wollen. Schliesslich entscheiden meisten lassen für drei oder vier Wochen die Finger vom wir uns für zwei Männer, aber im letzten Moment fällt Stoff. Dann folgt in der Regel die nächste Orgie.» In sol­ unser auf eine asiatische Transsexuelle auf der an­ chen Phasen würden zehn bis zwanzig Gramm Kokain deren Strassenseite. Ihr roter Mantel leuchtet hell, sie fi­ verbraucht, plus Champagner, plus Spesen für die Frau­ xiert uns mit ihrem Blick, und irgendwie sieht diese Pros­ en. «Die Prostituierten arbeiten schichtweise», sagt Beck. tituierte aus wie ein Motiv aus der Welt von Dr. Satan. Wir «Ein extrem teures Gesamtpaket.» gehen auf sie zu, und sie sagt: «Hi», und wir fragen, ob sie Kokain oder Crack verkaufe. «Zum Schnupfen oder zum kramt sie ein altes Handy aus ihrem Mantel und ruft Rauchen?», fragt sie. Wir sagen: «Zum Rauchen.» Und jemanden an. Durch das Telefon hören wir eine Frau­ sie sagt, wir sollten mitkommen. Und dann verschwin­ enstimme. Die beiden unterhalten sich in gebrochenem den wir zu dritt in einem Hauseingang und steigen fünf Deutsch. Stockwerke hoch, und auf jedem Stockwerk leuchten in «Wo du? Wie lange? Zwei Minuten.» einer Ecke die roten Sensoren von Infrarotkameras. Sie Sie verlässt das Zimmer, und wir sitzen schweigend wohnt ganz oben im Haus. im engen Raum auf dem Rand des Betts. Am Boden ein Sie schliesst die Tür auf zu einer Einzimmerwoh­ überquellender Aschenbecher, es riecht nach kaltem Zi­ nung, die so klein ist, dass man neben dem kleinen Bett garettenrauch. kaum Platz zum Stehen hat. Aber das kann man sowieso Wir sitzen in der Stille und stellen uns vor, wie vermö­ nicht, weil die Decke schräg ist. Das einzige Fenster ist gende Schweizer Anwälte oder Treuhänder oder Banker winzig, wie auch das Badezimmer. Auf einem Schreib­ hierherkommen und Crack für Tausende von Franken tisch stehen allerlei Medikamente sowie Nasenduschen, verrauchen, weil sie nicht mehr vom High herunterkom­ Augentropfen und Desinfektionsmittel, gestapelte Plas­ men wollen, während die Prostituierte Pornos mit alten tikboxen voller Essensreste vom Thairestaurant um die Frauen auf dem Laptop abspielt oder irgendwelche sexu­ Ecke. Auf einem Gestell neben dem Bett ein Billiglaptop ellen Wünsche erfüllt, und wie die Männer am nächsten mit dem Standbild eines Pornofilms, auf dem eine sehr Tag nach draussen treten, das Bankkonto leer geräumt, alte, sehr dicke Frau von einem jungen Mann die Vagina eine schwere Drogendepression im Anmarsch, nach Hau­ geleckt bekommt. Auf dem Boden liegen Lederstiefel und se zu Frau und Kindern. Filzpantoffeln, an der Wand hängt ein Bild der Königin Nach zehn Minuten kommt die Transsexuelle mit von Thailand neben dunkelbraunen Streifen, als habe je­ einer Kugel aus Alufolie zurück. Wir öffnen die Folie, mand sehr dreckige oder blutige Hände an der Wand ab­ darin liegen kleine, weisse Steinchen, die aussehen wie gestrichen. Der dunkelrote Bettbezug ist voller Flecken. Meersalz und ein wenig nach Zement riechen. Sie geht Sie fragt: «Ihr wollt Crack rauchen?» ins Badezimmer und kommt zurück mit einer Bong. Das Wir sagen, dass wir das wollten, und sie sagt, eine La­ Wasser ist abgestanden, der Pfeifenkopf mit Aluminium dung koste hundert, sie müsse den Stoff aber zuerst ho­ ausgekleidet. len. Und während sie hundert Franken entgegennimmt, «Kommt, raucht», sagt sie. «An diesem Abend hatte ich wieder in snifft, erhält er geheime Codes und Nachrichten. Im 21 sechs Gramm gerupft. Aber es Rausch kommen ihm geniale Geistesblitze, die er mit Stiften auf die Wände seiner Wohnung schreibt. Morgens war bessere Qualität. Es war keine um sechs, wenn er die letzte Linie gezogen hat, legt er schäbige Langstrassen-Qualität. sich hin und schläft. Am Nachmittag fährt er wieder an Das hab ich dann auch gemerkt.» die Langstrasse und kauft Kokain – die Menge steigert sich schnell, bald sind es die täglichen sechs Gramm. David, ETH-Physiker Dann setzt er sich in ein Dönerrestaurant in seinem Quartier, das rund um die Uhr geöffnet ist. Er notiert sei­ David bleibt vor einer Bushaltestelle in der Nähe seiner ne Gedanken auf Zettel, trinkt alleine Bier – das Kokain Wohnung stehen. «Hier haben die Dealer irgendwann in der Jackentasche –, freut sich auf das, was in der Woh­ auf mich gewartet», sagt er und nimmt einen Zug von nung folgen wird. Die Personen, die ihm zufällig auf der seiner Marlboro-Gold-Zigarette. An der Langstrasse war Strasse oder im Dönerladen begegnen, sind wichtig. Ein der 32-jährige Physiker als lukrativer Kunde aufgefallen: Kaiser. Ein General. Vielleicht ein Agent. Die Menschen einer, der sehr regelmässig sehr viel kauft und dabei im­ unterteilt er nach Farben, in Rot und Blau, Gut und Böse. mer den üblichen Strassenpreis bezahlt – hundert Fran­ Manchmal denkt er, er sei ein Angehöriger der US-Ma­ ken pro Gramm – und nie Mengenrabatt fordert. Ab dem rines. An vieles kann er sich nicht mehr erinnern. Sommer 2015 schnupft David während eineinhalb Jah­ Das erste Gramm zieht er immer gleich auf ex. Alles ren täglich sechs Gramm Kokain – ein Normalkonsument auf einmal. «Ich rauchte eine Zigarette, legte mich hin, verbraucht an einem Abend etwa ein halbes Gramm, ein dann kam die Scheibe», sagt David. «Es ist, wie wenn ganzes reicht im Schnitt für fünfzehn bis zwanzig Linien. man an einem kalten Tag in die Badewanne steigt. Ent­ In dieser Menge kauft er den Stoff auch immer: sechs spannend, aber auch anregend. Alle Probleme sind auf Gramm. «Meine Fahrt an die Langstrasse wurde zum einen Schlag weg. Alles ist gewürzter. Ein Porno war auf täglichen Ritual», sagt er und nimmt einen Schluck Red Koks viel besser. Wenn ich Musik gehört habe, dachte Bull Zero. «Ich hätte gar nicht gewusst, wo ich sonst den ich, der Sänger spricht direkt zu mir. Nach dem vierten Stoff hätte kaufen können.» Geld ist kein Problem, denn Gramm kommen die Halluzinationen. Du schläfst mit er hat vom verstorbenen Vater, einem Unternehmer, eine einer Frau, die gar nicht da ist. Doch du spürst sie. Nach Million Franken geerbt. «Ich weiss nicht, wie viel Geld dem fünften Gramm beginnt alles zu schwappen, wie auf ich verkokst habe», sagt David, der nun seit einem Jahr einem Schiff.» kein Kokain mehr konsumiert hat. «Es waren mehrere Er duscht nur noch selten, wäscht seine Kleider nicht Hunderttausend Franken. Irgendwann ist nichts mehr mehr. Er nimmt nicht wahr, dass er komplett vereinsamt. die Nase hochgegangen. Sie war verstopft und verklebt, «Wenn du Stimmen hörst, Dinge siehst, bist du immer alles voller Blut und Schleim. Nichts ging mehr hoch. beschäftigt», sagt er. Seine Freunde versuchen, ihn an­ Also versuchte ich, den Stoff zu essen.» zurufen, sein Telefon schaltet er gar nicht mehr ein. Die Nach seinem Studium der Physik verdient David in Wohnungstür öffnet er niemandem. Ein Freund fängt seinem ersten Job als Analyst jährlich 150 000 Franken. ihn vor der Wohnung ab und redet auf ihn ein, einen Er wird schnell befördert, arbeitet bis zu sechzehn Stun­ Therapeuten aufzusuchen. Dieser überweist ihn direkt den täglich. Die religiöse und esoterische Mutter und die in eine stationäre Klinik, wo ihm eine paranoide Schizo­ Schwester empfangen Botschaften aus dem Himmel. Für phrenie diagnostiziert wird. Er bekommt Medikamente ihn sei ein anderes Leben vorherbestimmt, eine andere gegen die Stimmen in seinem Kopf. Frau, ein Baby und ein anderer Beruf. Zwei Monate ist David im Sommer 2016 in stationärer Nach drei Jahren gibt David seine Karriere auf und be­ Behandlung, dann wechselt er in eine Tagesklinik. Dort ginnt eine Ausbildung zum Naturheilpraktiker. Die Mut­ trifft er zum ersten Mal andere Menschen, die ebenfalls ter stellt immer häufiger religiös fundierte Anforderun­ abhängig sind. Er lernt auch eine Frau kennen, die ihm gen an seine Lebensführung. «Irgendwann konnte ich Kokain anbietet. Dann verschafft sie ihm die Nummer nicht mehr», sagt David. Mutter und Schwester brechen eines Dealers, der besseren Stoff verkauft als das miese mit ihm. Er sitzt allein in seiner neu eröffneten Praxis, Zeug, das man an der Langstrasse bekommt. Schnell ist und von irgendwo, weit entfernt, hört er jetzt erstmals David zurück bei der alten Tagesdosis: sechs Gramm – auch Stimmen. Kokain hat er bis dahin nur gelegentlich aber viel reinerer Stoff. probiert. Wenn er mit Freunden an der Langstrasse un­ Sein Rückfall endet im Januar 2017 abrupt. Nach terwegs war, kaufte sich jemand ein bisschen was. Also mehreren Gramm spürt er ein Krabbeln im Gesicht. Er geht er dorthin, warum, das weiss er heute gar nicht mehr schlägt die Augen auf. Die Wohnung ist voller schwarzer so genau, und kauft sich sein erstes Gramm. Das schnupft Spinnen. Er zieht eine Linie. Die Spinnen werden grösser. er während der Arbeit in seiner Praxis. «Der Zeitpunkt, Er zieht mehr. Die Spinnen wachsen. Es sind Hunderte. als ich begann, alleine Kokain zu ziehen, war der Anfang Er schnappt sich ein T-Shirt und rennt halb nackt aus vom Ende», sagt er. der Wohnung. Auch draussen überall Spinnen. Er will Während sich die meisten KonsumentInnen mit Ko­ fliehen. Weiss nicht, wohin. Fällt zu Boden. Passanten kain stimulieren, sucht David den totalen Rausch. «Ko­ kommen. Versuchen, ihn zu beruhigen. Rufen einen kain war für mich ein Tor zu einer anderen Welt», sagt er. Krankenwagen. «Ich war schon immer ein Suchender. Kokain gab mir das Gefühl, es gebe da draussen etwas zu entdecken.» Die Stimmen sind jetzt immer da, die Vögel sprechen mit ihm, ständig hört er Polizeisirenen. Wenn er Koka­ Zweiter Teil 22 23 Hundert Jahre Verbots­ politik «Der Coco-Schnupfer wartet Im September 2017, während seines Wahlkampfs um die beginnende Depression nicht einen Sitz im Bundesrat, wird ein altes Zitat des FDP- 24 Nationalrats Ignazio Cassis hochgekocht. Der Tessiner ab, sobald er das Abklingen der Arzt forderte darin die Legalisierung von Kokain. Die SVP eu­phorischen Phase fühlt, wird geht auf Distanz. In der NZZ liefert Cassis den Kontext: eine neue Prise genommen. Die Schweizer Drogenpolitik müsse endlich eine kohä­ Dies wieder­­holt sich drei-, viermal rente Suchtpolitik werden. Er vertrete diese politische Linie seit fünfzehn Jahren. Zu dieser Überzeugung sei pro Stunde. So bleibt er Tag und er als junger Arzt in den frühen neunziger Jahren gekom­ Nacht in fieber­­hafter Hast und fühlt men, als er auf dem Platzspitz Nadeln ausgetauscht habe. weder Hunger noch Durst noch Dort habe er feststellen müssen, dass die Prohibitions­ Schlaf. Die Art der psychischen Ver­ politik unwirksam sei. «Wir müssen den Schwarzmarkt austrocknen. Ich bin weder für eine Prohibition noch für wirrungen, der Halluzinationen eine Kiosklösung», sagt Cassis. Er plädiere für die Regu­ und Delirien variiert nach Geistes- lierung aller psychoaktiven Substanzen, für einen regu­ entwicklung, Erziehung, sozialer lierten Markt, «ähnlich, wie wir die Arzneimittel und die Klasse und Um­gebung.» Genussmittel regulieren». In einem anderen Interview, ebenfalls mit der NZZ, Victor Heinemann, «Medizinische und psychologische fordert im Oktober 2017 die Zürcher Gesundheitsvorste­ Überlegungen zur Schaffung einer Gesetzgebung gegen Kokain-Missbrauch» (1923) herin und SP-Stadträtin Claudia Nielsen, dass Kokain re­ guliert abgegeben werden soll. Im November spricht sich die NZZ in einem ganzseitigen Kommentar für die Le­ galisierung von Kokain aus. Von einem Verbot profitiere nur der Schwarzmarkt. Als wir Nielsen Anfang Dezember 2017 zum Gespräch treffen, sagt sie: «Es muss eine Form geben, Kokain legal abzugeben. Es geht dabei nicht nur darum, Leute, die ein Suchtproblem haben, besser be­ handeln und begleiten zu können. Es geht auch darum, dass Leute, die kein Suchtproblem haben, sauberes Ko­ kain kaufen können, ohne dabei den Schwarzmarkt und die Drogenmafia zu unterstützen. Substanzkonsum ge­ hört zur Menschheit. Man schafft ihn nicht aus der Welt, indem man ihn verbietet. Wie beim Alkohol müsste man beim Kokain den übermässigen Konsum problematisie­ ren und nicht die Substanz als solche.» Wann und wie kam Kokain eigentlich auf den Markt? Ab wann wurde es verboten? Und wie ist die heutige Dro­ genverbotspolitik entstanden? Ein Mann, der eingehend zur Geschichte der Drogen geforscht hat, ist der emeri­ tierte Zürcher Geschichtsprofessor Jakob Tanner. Wir treffen ihn in seinem Büro an der Rämistrasse. Er über­ häuft uns mit Quellenmaterial.

1804 isoliert der Paderborner Apotheker Friedrich Sertür­ ner das Hauptalkaloid aus Opium und nennt es Morphi­ um, nach Morpheus, dem griechischen Gott des Schlafs und der Träume. 1859 publiziert der Mailänder Arzt Pao­ lo Mantegazza seine Schrift «Über die hygienischen und medizinischen Vorzüge des Koka und die Nervennah­ rung im Allgemeinen». Mantegazza war 1854 nach La­ teinamerika gereist, um jene Pflanze zu suchen, von der bereits der deutsche Naturforscher Alexander von Hum­ boldt 1801 während einer Südamerikareise berichtet hat­ te: In Peru würden Eingeborene Kokablätter kauen und damit tagelang ohne Schlaf und Nahrung durcharbeiten. Der Göttinger Chemiker Friedrich Wöhler greift Man­ tegazzas Schrift auf. Er lässt sich aus Peru dreissig Pfund Kokablätter liefern und beauftragt seinen Schüler Albert Niemann, mit der Kokapflanze zu tun, was fünfzig Jah­ re zuvor Friedrich Sertürner beim Opium gelungen war: das Hauptalkaloid zu isolieren. 1860 extrahiert Niemann weisse Kristalle aus der Kokapflanze. Er nennt sie Kokain. Mit dem Abstieg des britischen Weltreichs und dem Auf­ 25 Der Chemiker beschreibt eine betäubende Wirkung des stieg der USA zur neuen Weltmacht beginnt der Kampf Kokains auf Zunge und Mundschleimhaut. Kurz darauf gegen Kokain und Opiate. Noch zu Beginn des 19. Jahr­ experimentiert er im Labor mit Senfgas. Das Experiment hunderts hatte die britische East India Company aus misslingt, Niemann stirbt. wirtschaftlichen Interessen China mit indischem Opium Zwei Jahre später beginnt die Firma Ernst Merck in überschwemmt. Das Empire setzte den Handel und die Darmstadt mit der industriellen Produktion von Kokain. Legalisierung in zwei Opiumkriegen gegen China durch. Bevor der Stoff verboten wird, stellen sechs Länder Ko­ In der Mitte des 19. Jahrhunderts floriert der Men­ kain her: Deutschland, das den Kokainweltmarkt domi­ schenhandel mit chinesischen Billigarbeitern in die USA. niert, sowie Japan, Frankreich, die Niederlande, die USA Die Chinesen bringen auch das Rauchen von Opium ins und die Schweiz. Land. «Das über die Opiumkriege von den Chinesen ver­ «Die Basler Firmen Roche und Ciba produzierten ton­ breitete Bild sollte für das Schicksal der Arbeitsemigran­ nenweise Kokain», sagt Jakob Tanner. Als leistungsstei­ ten aus China bestimmend werden», schreibt Manfred gerndes Genussmittel wurde Kokain im ausgehenden Kappeler, emeritierter Berliner Professor für Sozialpäda­ 19. Jahrhundert zu einer Sensation. Der französische gogik, in seinem Buch «Drogen und Kolonialismus». Chemiker Angelo Mariani versetzt es mit Bordeaux- Die US-amerikanische Bevölkerung begegnet den Wein und wird zum ersten Kokainmillionär, sein «Vin Einwanderern mit zunehmendem Rassismus. Die weis­ Mariani» wird zum Genussmittel der oberen Klassen. sen Arbeiter sehen in den Chinesen «Streikbrecher» und Papst Leo XIII. stellt sich als Werbeträger zur Verfügung, «Lohndrücker». «Dabei», so Kappeler, «diente den Weis­ und auch Königin Victoria, Jules Verne und Alexandre sen die unter den Chinesen verbreitete Gewohnheit des Dumas schwören auf den Kokainwein. Der krebskranke Opiumrauchens als Vorwand für die Verfolgung einer US-General Ulysses S. Grant schreibt seine Memoiren im rassischen Minderheit.» Gewerkschaften und die protes­ Vin-Mariani-Rausch. Als der US-Bundesstaat Georgia tantische Kirche lancieren eine Anti-Opium-Kampagne, 1886 Alkohol verbietet und Kokainwein nicht mehr ver­ die eigentlich eine Anti-Chinesen-Kampagne ist. Der Ge­ fügbar ist, kreiert ein morphiumsüchtiger Mann namens werkschaftsführer Samuel Gompers beklagt «die kleinen John Pemberton Coca-Cola, im damaligen Rezept noch unschuldigen Opfer der chinesischen Lasterhaftigkeit mit Kokain versetzt und als Heilmittel gegen Impotenz, unter dem Einfluss des Rauschgifts». Kopfschmerzen und Morphiumabhängigkeit vermarktet. 1875 wird in San Francisco ein Gesetz erlassen – das «Dem Kokain wurden fantastische Eigenschaften erste Gesetz zum Verbot von Drogen überhaupt –, das zugeschrieben», sagt Tanner. «Es wurde der Inbegriff sich im Kern gegen die chinesischen Einwanderer und einer Leistungsdroge und stiess in Sport und Militär auf Arbeiter richtet: Nur noch US-StaatsbürgerInnen dürfen grosses Interesse. Alpinisten propagierten es für Gipfel­ Opium verarbeiten und verkaufen. Es ist der erste Schritt besteigungen, militärische Kreise, vor allem in Deutsch­ zur Kriminalisierung von DrogenkonsumentInnen. In land, glaubten, dass die Truppen nach Gewaltmärschen den Städten bilden sich erste Schwarzmärkte. von drei Tagen immer noch fit für die Schlacht sein könn­ Auf internationaler Ebene versuchen die USA, den ten. Diese Überschätzung schlug dann rasch in Ernüch­ Handel von Opium und Kokain durch die von ihnen ein­ terung um.» berufene Opiumkonferenz von 1911/12 in Den Haag zu Der Wiener Arzt Carl Koller, ein Bekannter Sigmund unterbinden. Auf nationaler Ebene folgt im Dezember Freuds, experimentiert 1884 als Erster mit Kokain als 1914 mit dem Harrison Act das erste umfassende Dro­ lokalem Betäubungsmittel. Zu seinem Durchbruch als gengesetz der USA. «Herstellung und Handel von Koka­ Lokalanästhetikum verhilft ihm der Chirurg William in und Opiaten werden verboten», sagt Tanner. «Mit der Stewart Halsted, Mitgründer des Johns Hopkins Hospi­ Kriminalisierung der Drogen wird auch die rassistische tal in Baltimore. In den Krankenhäusern werden Dosen Ausgrenzung der Konsumenten verschärft.» Hamilton und Ampullen voller Kokain und Morphium gestapelt. Wright, erster US-Drogenbeauftragter und Verfasser des Regulierende Vorschriften oder Aufklärung über das Ab­ Harrison Act, sagt bei den Anhörungen zum Gesetzestext, hängigkeitspotenzial der Stoffe gibt es kaum. Viele Ärzte das Rauchen von Opium gehöre zur «rassischen Eigenart sind inzwischen selbst opium- oder kokainsüchtig und des Chinesen». Harry J. Anslinger, erster Vorsitzender der verschreiben die Stoffe schon bei kleinsten Gebrechen. Vorgängerin der Drogenvollzugsbehörde DEA und ein Mann mit Berner Vorfahren, gibt zu Protokoll, mit Opium und «seiner typisch orientalischen Unbarmherzigkeit» lo­ cke der Chinese weisse Mädchen in «Opiumhöhlen», ma­ «Der Treibstoff unserer 1975er-Tour che sie süchtig und zwinge sie den Rest ihres Lebens zu war Merck-Kokain. Wir sorgten «unvorstellbar verdorbenen Sexualpraktiken» – mit dem Ziel, dass «die chinesische Rasse die Welt beherrsche». ­dafür, dass es versteckte Gänge Bei der Prohibitionspolitik spielen auch rassistische hinter den Verstärkern gab, sodass Vorurteile gegen die afroamerikanische Bevölkerung wir zwischen den Stücken Linien eine wichtige Rolle. «Der Kokainnigger ist verdammt ziehen konnten. Ein Stück, eine schwer zu töten», sagt ein Arzt bei den Anhörungen zum Gesetz. Die meisten sexuellen Angriffe auf weisse Frau­ Nase voll, das war die Regel von en in den Südstaaten seien das «direkte Resultat des mit Ronnie und mir.» Kokain verseuchten Negerhirns». Kokain sei ein Problem Rolling-Stones-Gitarrist Keith Richards in der schwarzen Unterklasse. Im Februar 1914 titelt die ­seiner Autobiografie «Life» (2010) «New York Times»: «Schwarze Kokainteufel – Neue Plage im Süden». Der «kokainsniffende Neger» sei selbst durch und Psychiater die Folgen des Kokainkonsums», sagt «einen Schuss direkt ins Herz nicht zu töten», schreibt der Jakob Tanner. «Statistiken zeigen, dass in den Kliniken 26 Journalist Edward Huntington Williams. «Dies war die in erster Linie Alkoholiker lagen, und Alkohol war vom Begründung dafür, weshalb die Polizei in den Südstaaten Gesetz nicht betroffen. In der politischen Debatte wur­ mit Waffen eines grösseren Kalibers ausgestattet wurde», den eine Reihe von Psychiatern zitiert, die die drohen­ schreibt der britische Schriftsteller Johann Hari in sei­ den Gefahren metaphorisch aufblähten. Kokain wurde nem Buch «Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges». als Katalysator für Homosexualität dargestellt und mit Die «Plage» lässt sich empirisch nicht belegen. Unter­ der Vorstellung verknüpft, die Schweizer seien ein ster­ suchungen zeigen, dass damals Kokain unter Weissen bendes Volk. Man verpasste der Droge ein kompaktes verbreiteter war als unter Schwarzen. Dass ein Grossteil Horrorimage. Aus der Leistungsdroge wurde eine Ver­ der Opiumsüchtigen in den USA weisse Ärzte und – we­ weigerungsdroge.» gen der offensiven Abgabepraxis – deren PatientInnen In Zürich hatte sich im Ersten Weltkrieg eine Exilcom­ waren, spielte im damaligen Verbotsdiskurs praktisch munity von Flüchtlingen, von Wehrdienstverweigerern keine Rolle. Der Suchtforscher Carl Hart, Professor für gebildet, Leute, die mit dem Ersten Weltkrieg nichts zu Psychologie und Psychiatrie an der Columbia University, tun haben wollten, sich als Künstlerexistenzen verstan­ schreibt 2014: «Der Mythos vom kokainsüchtigen Afro­ den und den Konsum von Kokain zelebrierten. «Die Poli­ amerikaner formte die amerikanische Drogenpolitik.» tik erweckte den Eindruck, dass die Schweiz von Kokain Die Beschlüsse der Haager Opiumkonferenz bleiben und Opium überschwemmt werde und dass die Boheme wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs für die meis­ die nationale Moral untergrabe», sagt Tanner. «Die Ge­ ten Länder wirkungslos. Die USA setzen 1919 deshalb schichte des Kokains ist ein eindrückliches Beispiel dafür, durch, dass diese Beschlüsse – ein Verbot der Produktion wie sich Ordnungsvorstellungen und Ängste an Drogen und des Handels von Kokain und Opium zu nichtmedi­ kristallisieren und wie jene, die solche Stoffe gebrauchen, zinischen Zwecken – Teil der Versailler Friedensverträge zu einer Gefahr für die Gesellschaft stilisiert werden.» werden. Auch eugenische und rassistische Argumente spie­ len eine wichtige Rolle, als die Schweiz Kokain verbietet. — Hans W. Maier, Oberarzt der Psychiatrischen Universi­ tätsklinik Zürich, schreibt 1924 von einer «Infektions­ «Die Schweiz war von den Versailler Verträgen ausgenom­ krankheit». Er fordert eine Zwangsinternierung von men. 1922 ist sie das einzige Industrieland der Welt, in KokainkonsumentInnen wegen ihrer «Nähe zur Schi­ dem Heroin und Kokain legal produziert und exportiert zophrenie» und «Neigung zur Kriminalität». Kokain sei werden können», sagt Jakob Tanner. Der Druck der USA eine Droge, die bei «heterosexuell Veranlagten unter der und des Völkerbunds auf den Bundesrat, das Haager Opi­ Wirkung des Kokains homosexuelle Neigungen» hervor­ umabkommen zu ratifizieren, nimmt zu. rufe. Unter Homosexuellen sei Kokain zudem besonders Im Auftrag der Basler Pharma prüft der Basler Staats­ verbreitet, weil die «ausgesprochen pervers Sexuellen» rechtler Julius Landmann eine Umsetzung des Haager durch Kokain noch weiter enthemmt und im Drogenmi­ Abkommens auf seine Verfassungskonformität. In sei­ lieu leicht «willenlose Objekte» fänden. Dadurch sei es nem hundertseitigen Bericht «Soll die Schweiz das Haa­ verständlich, schreibt Maier, «dass Homosexuelle durch ger Opiumabkommen ratifizieren?» kommt er im August Kokainistenmilieus angezogen werden, ganz abgesehen 1923 zum Schluss, eine Ratifizierung sei mit der verfas­ davon, dass ja schon in ihrer Psychopathie ein Moment sungsmässig garantierten Handels- und Gewerbefreiheit liegt, das für alle Abwegigkeiten prädisponiert». nicht vereinbar. Um die Verfassung zu ändern, brauche Victor Heinemann, Arzt am Gerichtlich-Medizini­ es eine Volksabstimmung, zudem würden «gewichtige schen Institut der Universität Zürich, schreibt 1923 im schweizerische Wirtschaftsinteressen gegen die Ratifi­ Hinblick auf eine mögliche «Gesetzgebung gegen Ko­ zierung sprechen», schreibt Landmann. kain-Missbrauch»: «Die Kokainisten entstammen allen Der Druck auf die Schweiz wird so gross, dass der sozialen Schichten, hauptsächlich aber dem Milieu der Bundesrat den mühsamen und langwierigen Weg einer Prostitution, der Lebewelt, die sich mit Hilfe solcher Be­ Verfassungsänderung mit einem Trick umgeht. Um Ver­ täubungsmittel von Sensation zu Sensation peitschen, kauf und Produktion von Kokain und Opiaten möglichst in der Romantik ihres nächtlichen Strassen- und Caféle­ schnell verbieten zu können, stellt er diese als Gefahr für bens degenerierend. Die Infektionsgefahr ist ungeheuer die «Volksgesundheit» dar. Damit kann sich der Gesetz­ gross. Jeder Kokainist ist als ‹Infektionskranker› zu be­ geber auf Artikel 69 der damaligen Bundesverfassung trachten und als solcher zu behandeln.» In der Mehrzahl stützen, der es dem Bund erlaubt, «gesetzliche Bestim­ seien es «labile Elemente» mit psychopathischer Veran­ mungen zur Bekämpfung übertragbarer oder stark ver­ lagung, die der Infektion erlägen. Wer Gelegenheit habe, breiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Einblick in die ungeahnte Entwicklung des Kokainismus Tieren zu treffen». zu haben, schreibt Heinemann, «dem öffnen sich beängs­ 1924 beschliesst die Bundesversammlung einstim­ tigende Perspektiven der Rassenhygiene». mig das erste schweizerische Betäubungsmittelgesetz und ratifiziert damit das Haager Abkommen. «Es zeig­ — ten sich die Grenzen eines schweizerischen Alleingangs», sagt Jakob Tanner. «Als kleines, neutrales Land konnte Heute, fast hundert Jahre nach der Einführung des Ver­ die Schweiz nicht einfach sagen: Wir machen nicht mit.» bots, werden in der Schweiz täglich 22 Kilogramm Kokain «Um das erste Schweizer Betäubungsmittelgesetz konsumiert. Mit ihrer Jahresproduktion von 1920 hätte durchs Parlament zu bringen, dramatisierten Politik die Basler Pharma gerade einmal den Bedarf in der Stadt 27 «1922 ist die Schweiz das ­einzige Industrieland der Welt, in dem ­Heroin und Kokain legal produziert und exportiert werden können.»

Jakob Tanner, Historiker

Zürich von 2016 decken können: 620 Kilogramm. Die von Kolumbien, per Schiff oder Flugzeug kommt es nach der Stadtpolizei im selben Jahr beschlagnahmte Menge: Euro­pa.» Der Flughafen Zürich sei neben jenen in Ams­ 30 15 Kilogramm. terdam, Frankfurt und Madrid für Drogenschmuggler­ «Für uns ist ein Kilogramm viel», sagt Christoph Zelt­ Innen ein interessanter Knotenpunkt: «Nach Zürich wer­ ner, Chef Planung und Einsatz bei der Stadtpolizei Zürich. den mehrere Langstreckenflüge aus Südamerika ange­ Einen Tag vor unserem Treffen hat seine Medienstelle boten, zudem gibt es ein breites Netz von Kurzstrecken­ ein Communiqué veröffentlicht, dass man in Zürich Nord flügen. Das dichte Flugnetz wirkt sich für die Geschäfts­ 1,2 Kilogramm Kokain beschlagnahmt habe. «So etwas welt positiv aus, aber auch für Drogenkuriere. Es sind stellt man nicht jeden Tag sicher», sagt Zeltner. «Hier in die Direktflüge von São Paolo, Rio de Janeiro und Punta Zürich ist es nicht wie in Südamerika, wo es Pablo Esco­ Cana, auf die wir ein besonderes Auge werfen. Auch Ku­ bar gab und eine Organisation wie die Narcos, die alles riere nehmen gerne den schnellsten Weg, schauen aber kontrollierte. Hier haben wir Dutzende Kleinstorganisa­ auch auf den Flugpreis. Deshalb sind zum Beispiel auch tionen, die dem Drogenhandel nachgehen. Das macht die Anschlussflüge aus Madrid interessant, denn von dort Bekämpfung sehr schwierig.» betreibt Iberia ein dichtes Südamerikanetz.» Ein grosser Fall den Zürcher Strassenhandel betref­ SchmugglerInnen würden das Kokain im Hand­ge­ fend sei die «Operation Hamster» vor sechs Jahren ge­ päck, in den Haaren versteckten, trügen es am ­Körper, wesen, sagt Zeltner. Dabei habe die Stadtpolizei in mi­ in Schuhsohlen oder doppelten Kofferböden. Ein Teil nutiöser Kleinstarbeit sogenannten Kügelidealern das der Schmugg­lerInnen seien BodypackerInnen, die das Handwerk gelegt. Durch monatelange Observation konn­ Kokain in Fingerlingen verpackt schluckten. Zehn te man den Strassendealern einen Umsatz von 850 000 Gramm pro Fingerling, Hunderte Gramm bis mehr als Franken nachweisen. ein Kilogramm pro KurierIn. «In der Regel steckt eine Der Kokainhandel im Kreis 4 sei heute in den Hän­ Bande dahinter, die Menschen aus ärmlichen Verhält­ den von Dominikanern. «Das liegt ein bisschen auf der nissen als Kuriere anheuert und ihnen ein paar Tausend Hand, das Kokain kommt ja aus Südamerika», sagt Zelt­ Franken gibt», sagt Weingartner. «Früher waren es über­ ner. «Man muss also irgendeinen Bezug zu Südamerika wiegend Menschen aus Südamerika. Heute registrieren haben. Von der Sprache her, Spanisch und so weiter. Die wir immer mehr Europäer in finanzieller Not, die solche Dominikaner, die im Drogenhandel tätig sind, sind viel­ Kurierdienste tätigen.» fach mit Frauen liiert, die im Rotlichtmilieu verkehren. Es gebe verschiedene Möglichkeiten, den KurierInnen Oftmals konsumieren diese Frauen selbst Kokain und auf die Schliche zu kommen, sagt der Polizist. «Meistens verkaufen es auch den Freiern.» verhalten sich diese Personen auffällig, weil es in der Zeltner sagt, deswegen würden in Bordellen im Kreis 4 Regel Leute sind, die es nicht gewohnt sind zu fliegen häufig Drogenkontrollen durchgeführt. «Wir haben auch und an einem Flughafen nur schlecht zurechtkommen. schon Freier gehabt, die Anzeige erstattet haben, weil Unsere Fahnder haben ein geschultes Auge für so was», ihnen im Rausch die Kreditkarte abgenommen und das sagt Weingartner. «Die Personen sind nervös, können bei Konto leer geräumt wurde. Da haben wir einige erfolg­ den Grenzkontrollen nicht genau sagen, wo sie hinwollen, reiche Verfahren geführt.» oder haben kein adäquates Gepäck dabei. Vielfach ist der Grundsätzlich sei er optimistisch, was die Eindäm­ Reisepass ganz frisch.» mung des Kokainhandels in Zürich betreffe, sagt Zeltner: Ein weiteres Problem für die BodypackerInnen sei, «Wir haben effiziente Teams in der Drogenfahndung, die dass die Fingerlinge auch an der Aussenseite mit Kokain Kantonspolizei Zürich ein weiteres. Wir erleben es nicht, kontaminiert seien. «Der Bodypacker konsumiert damit dass im Strassenhandel paketweise Kokain verkauft selbst eine gewisse Menge Kokain, wenn er die Fingerlin­ wird. Das ist für die Dealer ein viel zu grosses Risiko. Es ge schluckt», sagt Weingartner. «Es gibt Schnelltests für ist uns gelungen, die Szene stark zu verunsichern. Die Körperschweiss, die uns anzeigen: Dieser Mensch ist ent­ Wahrscheinlichkeit ist gross, dass sie erwischt werden.» weder ein Konsument – oder ein Packer. Wenn sich der Operatives erfährt man wenig vom Fahndungschef. Verdacht erhärtet, begleiten wir die Leute zum Röntgen. Die Studie, wonach in Zürich jedes Jahr Hunderte Kilo­ Ein Staatsanwalt muss das anordnen. Wir haben eine gramm Kokain konsumiert werden, kommentiert Zelt­ Arztpraxis mit Röntgenapparat im Haus. Geschluckte ner nicht. Die Diskrepanz zwischen konsumierter und Fingerlinge sind auf dem Röntgenbild einfach zu erken­ beschlagnahmter Menge bleibt ungeklärt. nen. Die Kuriere kommen in einen Raum mit Spezial­ toilette, wo die Fingerlinge aus dem Kot der Schmugg­ — ler gefischt werden. Haben wir die Papierarbeit erledigt, transportieren wir die Schmuggler ins Polizeigefängnis Flughafen Zürich. Hier treffen wir Felix Weingartner, nach Zürich. Abschliessend bringt man sie ins Spital, wo Chef des Kriminaldiensts der Kantonspolizei. Wein­ man anhand einer Computertomografie sichergeht, dass gartner ist weniger optimistisch als sein Kollege von der sie keine Fingerlinge mehr im Bauch haben.» Stadtpolizei. «Wir beschlagnahmen am Flughafen jedes Im Schnitt überführe man einen Schmuggler pro Jahr rund sechzig Kilogramm Kokain», sagt er. «Wenn Woche. «Manchmal auch zwei und dann wieder einen ich diese Zahlen der Abwasseranalyse anschaue, würde Monat lang gar keinen. Die Dunkelziffer der eingeführ­ das heissen: Wir stellen nur einen tiefen Prozentsatz des ten Drogen ist vermutlich ziemlich hoch. Grundsätzlich importierten Kokains sicher. Der Rest kommt ins Land ist es ein gesetzlicher Auftrag, den wir leisten. Für mich und wird konsumiert.» ist ein Bodypacker immer auch ein Patient mit einem Weingartner erklärt zuerst, wie das Kokain in die grossen Risiko. Er ist zwar für das verantwortlich, was Schweiz gelangt: «Produziert wird es in Bolivien, Peru, er getan hat. Trotzdem ist es ein Mensch mit einem schlimmen Schicksal, der sich durch sein Bodypacking kleine Strafe herauszuholen. 500 Gramm: keine riesige 31 an Leib und Leben gefährdet. Öffnet sich ein Fingerling Sache mehr. Heute gibt es viele Ameisen. Jede Menge von im Magen oder Darm eines Schmugglers, ist ihm der Tod Kleintransporteuren und Kleinimporteuren.» ­garantiert.» Die anderen gebe es auch, sagt der Strafverteidiger. Vor zwei Jahren, sagt Weingartner, entdeckten Fuss­ «Bei einem meiner Klienten hat die Polizei einmal 200 gänger in Oberengstringen eine Leiche. Der Mann war an Kilogramm gefunden.» Kokain, verpackt in Konserven­ einem Strassenrand deponiert worden. «Die Obduktion dosen. Eine Scheinfirma, um den Import zu decken. 50 ergab, dass die Leiche mit Kokainfingerlingen gefüllt war. Kilogramm pro Monat für den Zürcher Markt. «Die Sache Mehrere davon waren geplatzt», sagt Weingartner. «Um war direkt verlinkt mit der organisierten Kriminalität in an die Drogen heranzukommen, hätten die Abnehmer Südamerika.» ihn aufschneiden müssen. Dafür war die Hemmschwelle Dann sagt Landmann: «Wenn Sie wirklich wissen wol­ wohl zu gross. Ich könnte mir vorstellen, dass man in an­ len, wie die Sache auf operativer Ebene läuft, gehen Sie deren Ländern weniger zimperlich gewesen wäre.» zur Staatsanwaltschaft 2, Abteilung Organisierte Krimi­ nalität, die werden Ihnen helfen können, die machen die — wirklich grossen Fälle.»

Noch wissen wir kaum etwas über das operative Vorge­ — hen der Betäubungsmittelfahndung in der Stadt. Ein Drogenfahnder, der von unseren Recherchen erfahren Theresa schmuggelt seit mehreren Jahren jeden Monat hat, bietet uns anonym seine Hilfe an. Im letzten Moment ein bis zwei Kilogramm Kokain von Deutschland nach sagt er ein Treffen in der Lobby des Park-Hyatt-Hotels ab. Zürich. Die Zürcherin lebt vom Kokainhandel. Wir tref­ Stattdessen sagt er am Telefon: «Wenden Sie sich an Va­ fen sie in der Innenstadt. Bedingung für das Treffen: Ein lentin Landmann. Als Strafverteidiger hat er sein halbes reines Fachgespräch müsse es sein, keine Aufnahmen. Leben im Zentrum eines Schneesturms verbracht.» «Wenn ich ein Kilogramm einkaufe und als Ganzes In seinem Büro am Zürichberg bombardiert uns der weiterverkaufe, zahle ich 32 500 Euro und verkaufe es Anwalt mit Geschichten aus dem Zürcher Milieu. Er er­ in Zürich für 47 000 Franken. Ein Gewinn von rund zählt von Feliciano, einer Milieulegende. 10 000 Franken pro Kilo», sagt sie. Ein Kilogramm als «Feliciano hat fast alles, was er mit seinen kriminellen Ganzes einzukaufen und als solches direkt weiterzu­ Aktivitäten verdient hat, wieder die Nase hochgelassen. verkaufen, sei die einfachste und schnellste Variante, Wahrscheinlich zwei, drei Millionen Franken. Feliciano Geld zu machen. Doch dafür brauche es die entspre­ war ein bekannter Wirtschaftskrimineller. Aber einer mit chenden AbnehmerInnen. «Wenn ich mir die Mühe ma­ Herz. Er hat keine Leute kaputtgemacht. Er hat Leasing­ che, ein Kilogramm­ in kleineren Mengen zu verkaufen, betrüge gemacht. Das ist natürlich ­schädlich. 100 Gramm hier, 200 Gramm dort, steigt der Gramm­ An einer Hochzeit hat er zum ersten Mal Kokain kon­ preis und somit auch der Gewinn. Wenn einer bei mir sumiert. Feliciano fuhr sofort voll drauf ab. Es war für ihn 50 Gramm kauft, bezahlt er nicht 47 Franken pro Gramm. die Erleuchtung. Er sagte: ‹Das ist meine ­Droge!› Dann bezahlt er um die 70. Trotzdem ist das für beide ein Ich sass dann einmal mit ihm an einem Tisch in gutes Geschäft.» ­einem feinen Zürcher Restaurant. Er nahm eine Dose Je kleiner die Mengen seien, die einer verkaufe, desto hervor, die man normalerweise für Schuhwichse benutzt. höher sei sein Gewinn pro Gramm. «Der andere bezahlt Sie war bis oben gefüllt. Als er aufstand und ruckartig zwar bei mir 70 pro Gramm, verkauft die Gramme aber die Dose öffnete, wurden die Leute um ihn herum ein auf der Strasse einzeln für 100. Die Grammpackungen bisschen verpudert. ‹Wer möchte?›, fragte er in die Runde. auf der Strasse enthalten nie ein ganzes, sondern höchs­ Einer sagte scheu: ‹Gerne.› Er nahm ein bisschen Kokain tens 0,8 Gramm.» Der Nachteil am Handel mit kleine­ aus dem Döschen und schnupfte es. Feliciano sagte: ‹Das ren Mengen sei, dass der Aufwand viel grösser werde. nennst du Koksen? Jetzt zeigt ich dir, wie Gott kokst!› «Wenn ich ein Kilo direkt verkaufe, habe ich mit einer Er steckte seine Nase in die Dose und zog voll hoch. einzigen Person zu tun und verdiene mit dieser einen In der Dose entstand ein Trichter. Er blieb steif stehen. Transaktion 10 000 Franken», sagt Theresa. «Wenn ich Dann kippte er nach hinten um. Blaulicht. kleinere Mengen verkaufe, muss ich viele Transaktionen Als Feliciano verhaftet wurde, sagte er zum Staats­ abwickeln. Ich muss mich mit mehreren Leuten treffen anwalt: ‹Ich weiss gar nicht, warum ich mit Ihnen spre­ und vielleicht auch mit solchen, mit denen ich nicht son­ che. Ich könnte auch einfach durch die Wand laufen und derlich viel zu tun haben möchte.» Trotzdem sei diese Art ­gehen.› Er hatte inzwischen eine Kokainpsychose ent­ des Verkaufens verlockend. wickelt. Der Staatsanwalt fragte: ‹Warum machen Sie es «Du verkaufst am Morgen schnell 50 Gramm Kokain dann nicht?› Er antwortete: ‹Weil meine Entourage nicht und verdienst aufgrund des viel höheren Grammprei­ hier ist.› ses 2000 Franken», sagt sie. «Am Mittag übergibst du Feliciano starb an einem Herzinfarkt. Vermutlich die nächsten 50 an den nächsten Kleindealer. Bis zum ­wegen übermässigen Konsums.» Abend hast du eine fünfstellige Gewinnsumme zusam­ men – und hast erst fünf Mal 50 Gramm verkauft. Bleiben — dir noch 750 Gramm von deinem Kilo. Es regnet Geld.» 10 000 Franken. So viel muss Theresa pro Kilogramm Landmann sagt, dass die Mengen in Zürich «steigen und mindestens verdienen. Sonst ist es kein gutes Geschäft steigen». Was vor zwanzig Jahren ein schwerer Fall ge­ für sie, sagt sie. Schon allein wegen der Risiken. «Weil wesen sei, sei heute ein Delikt, «wo wir versuchen, eine Leute von den Bullen gefickt werden, ändert sich der Kilo­kurs ständig. Es ist wie mit einer Aktie. Und wir re­ Wenn mehrere Leute in die Kiloeinkäufe involviert den hier nicht von Leuten wie mir, die mit ein paar Kilos seien, gebe es klare Abmachungen, sagt Theresa: «Die erwischt werden», sagt sie. «Wegen ein paar beschlag­ Schmugglerin trägt das Risiko, beim Transport erwischt nahmter Kilos ändert sich der Marktpreis nicht. Der zu werden. Aber das finanzielle Risiko für den Fall, dass Marktpreis ändert sich, wenn am falschen Ort ein paar der Stoff beschlagnahmt wird, wird zwischen den Finan­ Tonnen ­beschlagnahmt werden. Dann kann es passie­ ciers aufgeteilt. Diese Deals ändern sich im Detail stän­ ren, dass sich das direkt auf mich auswirkt, weil ein Teil dig, weil es dabei immer darauf ankommt, wer mit wie dieses Stoffs über Zwischenstationen auch an mich ge­ viel Geld involviert ist.» gangen wäre.» Sie sagt, es sei noch nie vorgekommen, dass ihre Ware Das Kokain kommt tonnenweise in europäischen beschlagnahmt worden sei. Sollte das irgendwann einmal Hafenstädten an – in Rostock, Amsterdam, Ro­ tterdam, passieren, gebe es Abmachungen. «Ich vertraue meinen Hamburg, Genua –, wird ausgeladen, aufgeteilt, weiter­ Abnehmern und sie mir. Ohne ein gewisses Vertrauen verfrachtet und -verkauft. Von den Kartellen an Zwi­ funktioniert der Handel auf dieser Ebene nicht. Ich könn­ schenhändlerInnen und von dort an Leute wie There­ te meinen Mitfinanzierern ja auch erzählen, der Stoff sei sa. «Ich fahre nach Deutschland, treffe die richtigen weggekommen. Ich würde kurzfristig einen guten Ge­ Leute. Ich gebe das Geld, sie geben die Ware, und dann winn machen. Aber ich wäre nicht lange im ­Geschäft.» schmuggle ich das Kokain umgehend in die Schweiz. Ich möchte nicht sagen, mit welchem Transportmittel. — Es gibt ja wirklich alle möglichen Optionen, wie man es machen kann, zu Fuss, mit dem Fahrrad, mit dem Auto, Hansjörg Müllers Büro ist eine Baustelle. «Entschuldi­ dem Zug, dem Bus, dem Flugzeug. Bei meiner Art des gen Sie den Lärm», sagt er. Es wird gebohrt, gehämmert, Transports ist die Grenze kein Problem. Es kann höchs­ geschrien. Totalsanierung der unteren Stockwerke im tens sein, dass ich das Kokain verliere. Aber zugeordnet Gebäude der ehemaligen Börse. Müller arbeitet bei der werden könnte es nicht. Natürlich wären Geld und Ware Staatsanwaltschaft 2, Abteilung C, Organisierte Krimi­ verloren.» nalität. Sein Spezialgebiet: Drogenhandel. 33 «Sachbearbeiter aus dem Be­ reich Betäubungsmittel werden vermehrt in den Bereich Islamismus abgezogen. Unsere Observations­ einheiten werden vielfach wegen islamistischer Gefährder vom Bund beansprucht. Diese Leute fehlen dann woanders, zum Beispiel bei uns.»

Hansjörg Müller, Staatsanwalt, Abteilung Organisierte Kriminalität «Ich arbeite in einer Bar. Es ist 34 ein Teufelskreis: die ­Nachtschichten. Der Alkohol. Die Leute, die ­ständig kommen. Jeden Tag andere, die Lust haben abzustürzen. Aber du bist ja jeden Abend da. Und stürzt jeden Abend mit ab, wenn du in einer Bar arbeitest, wo du die Leute kennst. Und wenn du regel­mässig hinter dem Tresen stehst, kennst du bald alle.»

Louisa, Barkeeperin Als Staatsanwalt leitet Müller Verfahren gegen das Zürich und in Lagos, die Geld hin- und herschieben, vom 35 organisierte Verbrechen. Er ordnet Observationen und anonymen Geldüberweisungssystem Hawala. Telefonüberwachungen an. Auch die Frage eines allfälli­ Wenn Staatsanwalt Müller Strukturen beobachtet, gen Zugriffs wird von ihm entschieden. «Ohne umfassen­ lasse er die Telefone von zehn bis fünfzehn Personen de Überwachungsmassnahmen kommen wir in Fällen, überwachen. Für die Auswertung seien in seinem jüngs­ wie ich sie führe, nicht weiter», sagt er. «Dann können ten grösseren Fall bis zu fünf nigerianische Igbodolmet­ wir vielleicht gerade noch ein paar Kügelidealer an der scherInnen beschäftigt, die tagsüber die nächtlichen Langstrasse verhaften.» Gespräche auswerten und im Fall einer Observation Müller ist seit 25 Jahren im Geschäft. Er begann auf Telefonate in Echtzeit abhören und übersetzen. Doch dem Platzspitz, zog sich als junger Staatsanwalt zur Tar­ Observationen rund um die Uhr gebe es nicht. «Dafür nung eine Jeansjacke an, man gab ihm einen Pfefferspray, fehlen uns die Ressourcen», sagt der Staatsanwalt: «Um «dann zog ich mit den Betäubungsmittelfahndern los». eine einzelne Zielperson zu observieren, braucht die Poli­ Er sagt, die brennenden Ölfässer habe er bis heute nicht zei mindestens fünf bis sechs Leute. Die kann sie nur für vergessen, an denen sich die Abhängigen aufgewärmt eine beschränkte Zeit einsetzen. Uns stehen nur einige hätten, halbtote Menschen, die herumlagen. Menschen, Observationseinheiten zur Verfügung. Im Kanton gibt es die dort starben. «Wenn man gesehen hat, von welchem drei, vier solche Teams. Die Stadtpolizei verfügt eben­ Elend die Dealer profitiert haben, war man sehr moti­ falls über eine Observationseinheit. Diese Teams werden viert, sie hart zu strafen», sagt Müller. jedoch für verschiedene polizeiliche Ermittlungen bean­ Sein letzter grosser Fall – derzeit laufen die Aufarbei­ sprucht.» Es sei schon vorgekommen, dass aufgrund von tungen – betraf eine nigerianische Gruppe, die wöchent­ Telefonüberwachungen klar gewesen sei, dass jetzt eine lich drei bis vier Kilogramm Kokain ins Land schmug­ Lieferung komme. «Ein Kurier hatte die Orientierung gelte. «Die Organisatoren sitzen einerseits in Nigeria, verloren und dauernd telefoniert. Wir wussten Bescheid, andererseits in Holland», sagt der Staatsanwalt. «Wir aber uns fehlten die Ressourcen für den Zugriff, weil die verhaften die Kuriere, doch jene, die Nachschub und entsprechenden Observationsteams gerade am Weltwirt­ Geldfluss kontrollieren, arbeiten weiter. Auch wenn wir schaftsforum im Einsatz waren.» die Empfängerzelle geräumt haben, muss ich davon aus­ Er habe die Befürchtung, dass die Kostenthematik bei gehen, dass der Handel dieser Gruppe weiterläuft. Das der Strafverfolgung irgendwann zu stark in den Vorder­ Geschäftsmodell funktioniert, alle Beteiligten profitie­ grund gerückt werde. «Logisch muss man sich bei gewis­ ren davon. Wenn die einen Kuriere weg sind, überneh­ sen Fällen überlegen, ob es sich lohnt. Aber Strafverfol­ men andere.» gung darf keine ausschliessliche Kosten-Nutzen-Frage Das Kokain gelange von den Niederlanden durch sein. Überwachungsmassnahmen kosten, und Strafver­ Body­packerInnen in die Schweiz: «Ein Kilogramm pro folgungsbehörden sind kein Betrieb, der Gewinn erwirt­ Person. Immer an einen bestimmten Sammelpunkt. War schaften muss.» der Stoff in der Schweiz, ging es wie der Blitz. Die Finger­ Schon allein Telefonüberwachungen seien unglaub­ linge waren bereits für den entsprechenden Empfänger lich teuer. «Eine Nummer zur Überwachung freizuschal­ angeschrieben. Kurz nachdem sie verteilt worden waren, ten, kostet jedes Mal 2530 Franken. Wenn ein Gerät oder sammelten die Inlandkuriere bereits wieder das Geld eine ausländische Nummer geschaltet wird, dreimal so für die Ware ein und brachten es zurück an den Sammel­ viel», sagt der Staatsanwalt. «Pro Fall lasse ich mindes­ punkt. Dort wurde das Geld in grosse Euronoten gewech­ tens zehn bis fünfzehn Nummern überwachen. Und die selt, gebügelt, gerollt und wieder in Fingerlinge gepackt. überwachten Personen wechseln ihre Nummern häufig Dann wurde es von Kurieren geschluckt und zurück nach wöchentlich. Manche Nummern werden nur für ein paar Holland gebracht, manchmal via Flixbus, manchmal Stunden und eine bestimmte Funktion benutzt. Ab März via Bahn. Wir konnten die Kuriere in der Schweiz nicht 2018 tritt eine neue Gebührenverordnung in Kraft. Dann fassen. Sie waren zu schnell. Wir gaben an der Grenze soll die Freischaltung eines Anschlusses voraussichtlich Tipps, diese Leute zu röntgen. Sie hatten alle mindestens 3490 Franken kosten. Für Überwachungen brauche ich je 50 000 Euro im Bauch.» zudem oft Dolmetscher: Einer kostet 70 Franken pro Müller sagt, er sei auf eine gute internationale Zu­ Stunde.» sammenarbeit angewiesen. «Obwohl der Handel in die Das sichtbare Drogenelend sei aus Zürich verschwun­ Schweiz zum Teil in Holland organisiert wird, können den, und so hätten sich auch die Prioritäten verschoben, wir dort nicht ermitteln», sagt er. «Mit Rechtshilfege­ sagt Müller. «Sachbearbeiter aus dem Bereich Betäu­ suchen können wir den Holländern immerhin sagen: bungsmittel werden vermehrt in den Bereich Islamis­ ‹Durchsuchen Sie Haus X›, und die machen das dann mus abgezogen. Unsere Observationseinheiten werden auch. Damit aber wirklich etwas passiert, müssen die vielfach wegen islamistischer Gefährder vom Bund be­ Holländer selbst Ermittlungsverfahren eröffnen. Doch ansprucht. Diese Leute fehlen dann woanders, zum Bei­ in Holland kommen Frachter mit ein oder zwei Tonnen spiel bei uns. Wie in Holland frisst das Thema Islamis­ Kokain an. In meinem Fall geht es um ein paar Kilos. Das mus auch hier viele Ressourcen.» ist für die Holländer weniger interessant.» Zudem habe in den Niederlanden der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus oberste Priorität und fresse viele Mittel. Die Spur des Geldes: Müller spricht von Zehntausen­ den Euros in menschlichen Körpern, von Passagieren auf Businessflügen nach Hongkong mit 200 000 Franken im Koffer, von Partnergeschäften für elektronische Geräte in Dritter Teil 36 37 Zarottis Bericht «Es ist seit dem Platzspitz ein Montagmorgen, 9 Uhr. Interviewtermin auf der WOZ-Re­ ­be­liebtes Narrativ in den ­Medien: daktion: Florian setzt sich erst mal einen Schuss. «Wenn 38 ich am Wochenende nicht gefixt habe, bin ich am Montag Junkies fixen Heroin, Banker richtig gierig», sagt der Fünfzigjährige. Der Teilzeitinfor­ schnupfen Kokain. Diese Erzählung matiker fixt nur an seinen drei Arbeitstagen. Eine Abma­ ist falsch. Man müsste anstatt von chung zwischen ihm und seiner Frau. Der Teenagersohn einer Heroinepidemie von einer soll nicht mitbekommen, dass der Vater drauf ist. Der Informatiker holt einen Teelöffel aus seiner Ta­ Heroin-Kokain-Epidemie sprechen. sche und sauberes Besteck: Spritze, Alkoholwatte, As­ Die meisten Leute am Platzspitz corbinsäure und destilliertes Wasser. Er mischt Heroin, haben beides gespritzt. Cocktails Kokain, Ascorbinsäure und das Wasser im Löffel, den er aus Kokain und Heroin. Schon mit einem Feuerzeug erhitzt. Nach einigen Sekunden verschmelzen die vier Zutaten zu einer braunen Brühe. 1990 wurde in der Schweiz doppelt Damit zieht er eine Spritze auf – vier Rationen für den so viel Kokain beschlagnahmt Arbeitstag. Eine zweite Spritze füllt er bloss zu einem wie Heroin.» Viertel. Er bindet sich den linken Arm ab. «Ich habe sehr dünne Venen», sagt er. «Eine Zeit lang habe ich sie gar Albert Wettstein, ehemaliger Zürcher Stadtarzt, nicht mehr getroffen. Es war ein Gemetzel.» Dann rammt im Gespräch mit der WOZ er mit der rechten Hand die Spritze in die Innenseite sei­ nes linken Oberarms. «Ich kann nicht aufhören», sagt Florian. «Ich bin ex­ trem drückgeil. Als ich meine Frau geheiratet habe, dach­ te ich: Jetzt schaffst du es. Als sie schwanger war, dachte ich: Jetzt kannst du aufhören. Mein Sohn kam zur Welt, meine Frau war noch im Spital. Ich fuhr in die Stadt, holte Stoff und setzte mir einen Schuss.» Mit fünfzehn spielt Florian noch mit Playmobil-Figu­ ren, sammelt Panini-Fussballbildchen. Das Weltgesche­ hen deprimiert ihn. Er ritzt sich die Arme. In den Schul­ ferien liest er «Wir Kinder vom Bahnhof Zoo» über das Leben einer minderjährigen Drogensüchtigen im Berlin der siebziger Jahre und über deren Freund, der für Dro­ gen auf den Strich geht. Die Schilderungen des täglichen Beschaffungsstresses klingen nach Abenteuer. «Vielen anderen aus meiner Generation ging es genauso», sagt er. Florian fährt zum Shopville im Zürcher Hauptbahnhof und prostituiert sich auf dem Schwulenstrich. Männer bezahlen den Fünfzehnjährigen dafür, dass er sich vor ihnen einen runterholt. Heroin findet er am Hirschenplatz im Niederdorf, wo sich die offene Drogenszene trifft. Der erste Schuss misslingt. Florian spritzt sich Luft in den Arm. Der Arm schwillt an. Der Teenager sucht Rat bei ­einer Lehrerin, die ihn ins Spital schickt. Als er nach Hause kommt, weiss es die ganze Schule. Von da an gilt er als Junkie. Die Schule will ihn loswerden. Kurz vor der Ma­ tura fliegt er raus. «Es war mir egal, ich hatte sowieso an­ deres im Kopf.» Florian hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, und am Wochenende schnupft und spritzt er zusammen mit seinen Freunden Heroin. Nach drei Jahren lernt er eine Frau kennen. Sie hat noch nie Heroin genommen. Er setzt ihr den ersten Schuss. Zusammen stürzen sie ab. Bald fixen sie jeden Tag. Sie zeigt ihm Kokain. «Ein Bekannter von ihr hatte sie am Platzspitz überre­ det, einen Cocktail aus Heroin und Kokain zu spritzen», sagt er. «Als ich es auch probierte, wurde Kokain sofort dominant in meinem Leben. Koks fixen gibt einen ex­ trem euphorisierenden Flash, viel intensiver als Heroin, das dich beruhigt. Beim Heroin ist nur das erste oder zweite Mal richtig intensiv. Aber wenn du Kokain spritzt, ist der Flash immer wieder von neuem krass. Es sind die­ se ersten paar Sekunden, die spitze sind, die ich immer Jahr kostete eine Tablette fünf Franken, jetzt kostet sie 39 wieder suche.» Den meisten Süchtigen auf dem Platzspitz zehn. Heroin, Kokain, Dormicum – alles in eine Sprit­ sei es wie ihm ergangen, sagt er. «Ich kenne fast nieman­ ze. Man nennt das dann nicht mehr Cocktail, sondern den, der nach einem Kokaincocktail nur beim Sugar ge­ ­Triplette.» blieben ist.» Auf seinem heutigen Arbeitsweg besucht Florian eine — der städtischen Kontakt- und Anlaufstellen. Er hofft, dass einer der Süchtigen Stoff zum Verkaufen hat. Dann fährt Die neunziger Jahre stehen für eine drogenpolitische er zur Arbeit. Florians Frau, die sein Konto verwaltet, gibt Wende: für eine Abkehr von überwiegend repressiven ihm jeden Tag neunzig Franken. «Wenn ich ein eigenes Ansätzen hin zur Politik der Schadensminderung. Der Konto hätte, würde ich alles Geld für Drogen ausgeben Begriff steht für einen anderen Umgang mit dem The­ und mich ins Nirwana schiessen», sagt er. Die neunzig ma Abhängigkeit. «Man hat gemerkt, es ist unrealistisch, Franken reichen für ein halbes Gramm Kokain und ein dass alle mit den Drogen aufhören», sagt Arud-Chefarzt Fünftel Gramm Heroin, daraus mischt er seine tägliche Thilo Beck. «Statt die Konsumenten zu kriminalisieren Cocktaildosis. Der Hausarzt verschreibt ihm Methadon. und sie dadurch in Situationen zu bringen, in denen sie Er könnte auch am Heroinprogramm teilnehmen, doch er sich schaden, sorgt man pragmatisch dafür, dass sie habe Angst vor der Registrierung. Angst, dass die Daten unter bestmöglichen Umständen konsumieren.» Die weitergereicht würden, er berufliche Konsequenzen zu Abgabe von sauberem Besteck war ein erster Schritt, die befürchten hätte. «Und da ich das Kokain sowieso illegal Einrichtung von Fixerräumen und die Heroinabgabe ein kaufen muss, ist es kein grosser Unterschied.» zweiter. Die HIV-Ansteckungs- und die Todesraten bei Die Anlaufstellen sind ein Produkt des 1994 einge­ Süchtigen sanken, die Zahl der HeroinkonsumentInnen führten Viersäulenprogramms: Prävention, Therapie, stabilisierte sich. Schadensminderung und Repression. Durch diese Strate­ «Viele der Süchtigen, die äusserlich schlimm und ka­ gie sind die derzeit rund tausend klassischen Junkies aus putt aussehen, sind Relikte jener Zeit, in der man extrem dem Zürcher Stadtbild verschwunden. Heute gibt es hier schlechten Stoff mit dreckigen Spritzen fixte, Tag und vier solche Anlaufstellen, zwei liegen an der Peripherie, Nacht auf den Beinen war, um sich Stoff zu beschaffen», in der Brunau und in Oerlikon, zwei mitten in der Stadt, sagt Beck. Heute ist die Schadensminderung als Teil des bei der Kaserne und beim Bahnhof Selnau. Dort, ganz Viersäulenprogramms im Schweizer Betäubungsmittel­ in der Nähe der belebten Bahnhofstrasse und mitten im gesetz verankert. Kreis 1, bewacht ein Sozialarbeiter mit ordnungsdienst­ 1994 wurde in Zürich erstmals Heroin an Süchtige ab­ lichen Aufgaben von der Sip (Sicherheit, Intervention, gegeben. Ein Mann, der damals Süchtigen Spritzen mit Prävention) den Eingang eines unscheinbaren kleinen Heroin aufzog, war der Arzt Gianni Zarotti. Wir treffen Hauses. Rein kommt nur, wer nachweisen kann, dass den frisch pensionierten Psychiater vor einem fünfstö­ er in der Stadt Zürich wohnt. Das Raucherzimmer der ckigen Haus am Zürcher Seilergraben. Hier, im Haus zur Anlaufstelle ist voll. Im Fixerraum sitzt ein Mann und Ringmauer, befand sich die erste Abgabestelle. Weil in setzt sich eine Spritze. An einem Tresen werden Röhr­ Fachkreisen bereits damals klar gewesen sei, dass die chen zum Schnupfen abgegeben, Spritzen und Pfeifen. Junkies nicht nur Heroin konsumierten, sondern auch Das Licht ist steril und grell wie in einem Operationssaal. Kokain, gab die Stadt Zürich 1994 nicht nur legal Heroin, Es riecht nach Desinfektionsmittel und Blut. Ein Schild sondern auch Kokain ab. «Daran kann und will sich, auch in der Kontakt- und Anlaufstelle warnt: «Kein sichtbarer in Fachkreisen, heute niemand erinnern», sagt Zarotti. Deal». «Der internationale Druck auf die Schweiz war damals so «Wenn die Sozialarbeiter die Leute beim Dealen er­ massiv – das Bundesamt für Gesundheit hat einen dop­ wischen, schmeissen sie sie raus und geben ihnen Haus­ pelten Salto rückwärts gemacht.» verbot», sagt Florian. «Wenn das passiert, ist es richtig «Die Überlegung, auch Kokain abzugeben, lag auf der scheisse. Ich sehe keinen Sinn dahinter. Viele Menschen Hand», sagt Zarotti. «Wir hatten das Heroinprogramm sehen im Dealer einen Bösewicht. Ich sehe es gegentei­ seit einigen Monaten am Laufen und sahen, dass es den lig. Wir sind froh drum, dass es Leute aus der Szene gibt, Leuten durch die sauberen Spritzen und den sauberen die auch ein bisschen dealen. Leute, die wir kennen und Stoff sehr schnell viel besser ging. Fast alle konsumierten die guten Stoff haben. Jeder Dealer, der hochgenommen beides. Heroin bekamen sie legal, Kokain aber mussten wird, ist ein Problem für uns Konsumenten. Diese Leute sie nach wie vor auf dem Schwarzmarkt kaufen. Wir woll­ machen ja auch keine Kohle damit. Die finanzieren sich ten die Leute von der illegalen Szene wegbringen.» den Konsum. Sie sind selber süchtig und verschuldet. Sie Ab dem 14. Juni 1994 – so steht es in einem offiziellen zu verhaften, ist ein Witz. Wir warten dann halt alle ein­ Bericht der städtischen sozialen Dienste – gibt die Stadt fach zwei, drei Stunden länger, bis der Nächste kommt, Zürich legal Kokain zum Rauchen an elf Probanden und der was rauslassen kann. Einerseits dürfen wir hier im eine Probandin ab. Alle sind sie TeilnehmerInnen des geschützten und sauberen Rahmen konsumieren, an­ Heroinprogramms. Die Zigaretten werden vom Bun­ dererseits sollen wir den Stoff irgendwo auf der Gasse desamt für Gesundheit mit fünfzig oder hundert Milli­ kaufen.» gramm Kokainbase versetzt. Dreimal täglich dürfen die Kokain sei unter den Süchtigen das Hauptthema ProbandInnen in der Abgabestelle eine Kokainzigarette auf der Gasse. «Mit dem Methadon- und dem Heroin­ rauchen. programm wurde die Nachfrage nach Heroin gedämpft», «Kokain spritzen ist total scheisse. Ich kann es nicht sagt Florian. Ein zweites grosses Gassenthema sei seit ei­ anders sagen. Es lässt das Gewebe absterben. Rauchen niger Zeit das Schlafmittel Dormicum: «Noch vor ei­ nem ist viel weniger schädlich», sagt Zarotti. «Ein erster ­Erfolg

«Weil in Fachkreisen bereits 42 damals klar war, dass die Junkies nicht nur Heroin konsumierten, ­sondern auch Kokain, gab die Stadt Zürich 1994 nicht nur legal ­He­­roin, sondern auch Kokain ab. Daran kann und will sich, auch in Fach­ kreisen, heute niemand erinnern. Der internationale Druck auf die Schweiz war damals so massiv – das Bundesamt für ­Gesundheit hat ­einen doppelten ­Salto rück­wärts ­gemacht.»

Gianni Zarotti, Arzt und Jugendpsychiater der Substitution war, dass die Leute das Kokain nicht für Suchtfragen. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Inter­ 43 mehr gespritzt haben.» view. Es ist ein moderiertes Gespräch zwischen ihm «Die Bürokraten in haben darauf bestanden, und dem heutigen Aussenminister Ignazio Cassis über dass die Zigaretten kein Nikotin enthalten dürfen», sagt Legalisierungsmöglichkeiten von Drogen, erschienen der Arzt. «Also belieferten sie uns mit Zigaretten aus in einer medizinischen Fachzeitschrift. Das Gespräch Waldmeister, versetzt mit Kokainbase. Der Waldmeister ist zwei Jahre alt. Es sind Teile dieses Gesprächs, die im hat unerträglich gestunken. Heute würde ich für Nasen­ ­September 2017 für nationale Schlagzeilen sorgten, weil spray plädieren. Trotz des Gestanks haben die Leute die Cassis darin unter anderem die Legalisierung von Koka­ Zigaretten geraucht.» in gefordert hatte. «Für eine schnelle Skandalisierung Ein grundsätzlicher Denkfehler der damaligen Ko­ wurde es im Wahlkampf ausgegraben», sagt Berthel. «Am kainabgabe sei gewesen, dass die Abhängigen vor Ort gleichen Tag bekam ich einen Anruf von ‹20 Minuten›. konsumieren mussten. «Beim Heroin funktioniert das, Der Journalist bombardierte mich mit Suggestivfragen: weil man aufgrund der körperlichen Abhängigkeit den ‹Finden Sie das nicht auch schlimm und unverantwort­ Wecker stellen kann, wann jemand seinen täglichen lich?› Das ist die Art und Weise, wie heute in der Öffent­ Schuss braucht», sagt Zarotti. «Kokain funktioniert an­ lichkeit mit der Suchtfrage umgegangen wird: kurz mit ders. Die Leute müssen es situativ nehmen können, wenn der Moralkeule draufschlagen, und ab zum nächsten sie psychisch das Reissen kriegen, wenn sie eine schlech­ Thema.» te Situation besser machen wollen oder eine gute Situa­ Benjamin Dubno, Chefarzt der Integrierten Psychia­ tion noch besser.» trie Winterthur/Zürcher Unterland, sagt: «Fälle von Am 2. September 1994 wird der Versuch mit lega­ schwerer Abhängigkeit machen den Menschen grosse lem Kokain beendet. «Praktisch alle reduzierten ihren Angst. Dabei wird übersehen, dass die meisten Menschen Konsum von illegalem Kokain während des Versuchs», unproblematisch konsumieren. Man sieht, was eine Sub­ schreibt Zarotti am 6. September 1994 in seinem Ab­ stanz im schlimmsten Fall anrichten kann. Also verteu­ schlussbericht zum «Pilotversuch mit Cocain-Base- felt man die Substanz, um sich zu vergewissern, dass das Zigaretten» zuhanden des Bundesamts für Gesundheit. nichts mit einem selbst zu tun hat, dass das einem selbst Für die Mehrheit der ProbandInnen habe sich im Laufe nie passieren könnte.» Dabei sollte man in seinen Augen der zweieinhalb Monate des Pilotprojekts eine ähnliche den Fokus weniger auf die Substanz als vielmehr auf die prozesshafte Entwicklung weg vom illegalen Konsum Gründe dahinter legen: «Dass bei einer Abhängigkeit die gezeigt wie beim Heroin. «Vor dem Hintergrund unse­ Sucht nicht die Ursache, sondern das Symptom ist: Diese rer Erfahrungen empfehlen wir, die Abgabe von Cocain- Erkenntnis muss sich durchsetzen. In einigen Kliniken Base-Zigaretten in der Dosierung von 100mg/Zigarette gab es früher sogar einen Suchtvertrag. Leute mussten in den Versuchen unbedingt zu ermöglichen», heisst es diesen Vertrag unterschreiben. Darin stand: ‹Einmal im Bericht weiter. Konsum, dann bist du draussen.› Übersetzen Sie das mal «Wir sind alle davon ausgegangen, dass die Kokain­ auf eine andere Krankheit. Wer würde einem Schizophre­ abgabe weitergeführt wird», sagt Zarotti. «Ich kann nicht nen sagen: ‹Wenn du noch eine Stimme hörst, fliegst du genau sagen, was passiert ist. Ich kann nur sagen, dass raus›?» die Sache sehr schnell sehr diskret sterben «Es gibt ein menschliches Bedürfnis nach Rausch», liess. Der Druck war riesig: SVP, USA, WHO – alle sind sagt Toni Berthel. «Die Medizin aber definiert Rausch sie Sturm gelaufen. Ständig sind WHO-Experten, viele bis heute als Vergiftung. Wir reden vom Höhenrausch, davon ehemalige Drogenfahnder des FBI oder der DEA, vom Glücksrausch, Liebesrausch, Geschwindigkeits­ bei uns am Seilergraben aufgetaucht und haben uns be­ rausch. Rausch ist eine anthropologische Konstante. Sie handelt wie Schwerverbrecher. Die hätten uns am liebs­ kommt in allen Gesellschaften vor und hat unterschied­ ten alle verhaftet.» Die Amerikaner seien schon wegen liche Ausprägungen und Formen. Kulturgeschichtlich des Heroins durchgedreht, sagt der Zürcher Arzt. «Aber ist der Rausch fester Bestandteil von Übergangsritualen beim Kokain sagten sie, das sei ein absolutes No-Go.» in neue Lebensphasen und von sozialen Feierlichkeiten. Zarottis Bericht verschwindet 1994 in einer Schublade Doch die Medizin definiert den Rausch als krankhaftes der Berner Behörden. Zehn Jahre später, im Jahr 2004, Geschehen. Man pathologisiert eine wichtige menschli­ wird Markus Jann, Leiter der Sektion Drogen beim Bun­ che Erlebensmöglichkeit. Das ist nicht zukunftsträchtig. desamt für Gesundheit, von JournalistInnen gefragt, Genauso wie das heutige Betäubungsmittelgesetz nicht was er von einer Kokainabgabe für Süchtige halte, die zukunftsträchtig ist.» Ärzte immer wieder forderten. Markus Jann sagte: «Es Berthel sagt, dass man zwar für Suchtkranke das gibt keine Hinweise, dass ein solches Programm erfolg­ Viersäulenmodell eingeführt habe, aber dass es für alle reich sein würde.» anderen keine Lösung gebe – «für alle Mitglieder unserer Gesellschaft, die psychoaktive Substanzen zur Erholung — konsumieren». Das heutige Gesetz bestrafe diese Form von Konsum. «Dabei ist es einfach», sagt Berthel. «Sind «Es ist die Angst», sagt Toni Berthel. «Die Angst und die Substanzen vorhanden, werden sie konsumiert. Sind sie Bewirtschaftung von Angst, die entscheidende Fort­ nicht vorhanden, werden sie organisiert und dann kon­ schritte in diesem Bereich verhindern. Geschürt wird die sumiert. Also stellt sich doch die Frage: Wie organisieren Angst durch eine ständige Moralisierung des Drogenthe­ wir den Rausch?» mas, die eine Differenzierung verhindert.» «Manchmal», sagt Dubno, «wenn ich neue Assistenz­ Der Psychiater Toni Berthel ist Präsident der dem ärzte einführe, die noch keine Erfahrung mit Patienten Bundesrat unterstellten Eidgenössischen Kommission haben, die psychoaktive Substanzen konsumieren, kann es passieren, dass sie einen Patienten vorstellen und mehr interessieren. Zudem leidet man womöglich bald ­sagen: ‹Dieser Patient hat eine Polytoxikomanie.› an ­einigen komplizierten Geschlechtskrankheiten. Und 44 Ich frage: ‹Was konsumiert der Patient denn?› der Familien-BM­ W gehört nach drei, vier solcher Orgien Der neue Assistenzarzt sagt: ‹Er hat einmal Ecstasy womöglich einem dominikanischen Drogenhändlerring, probiert und einmal LSD.› so wie auch der Inhalt des Sparkontos der beiden Kin­ Ich sage dann: ‹Das ist keine Polytoxikomanie. Das ist der … Also ­Augen zu und hoffentlich durch. keine Störung, das ist ein Hobby.› Was heisst das also, wenn einer abhängig wird? Für viele Leute, auch Ärzte, ist bereits die Substanz Was heisst das, sich konkret mit Abhängigkeit aus­ problematisch. Sie wird zur Diagnose. Aber jemand, einanderzusetzen? Von der Abhängigkeit betroffen zu der hin und wieder ein Bier trinkt, ist kein Alkoholiker. sein, sie zu therapieren? Und jemand, der hin und wieder Ecstasy, LSD oder Ko­ «Ich hätte es nicht geschafft, dieses Interview zu ge­ kain konsumiert, ist kein Polytoxikomane. Wir müssen ben, ohne mir direkt vorher Kokain zu spritzen», sagt ­einerseits thematisieren, dass Drogen verheerende Fol­ Florian, der fünfzigjährige Informatiker, seit dreissig gen haben können. Wir müssen andererseits aber auch Jahren süchtig. «An einem Tag, an dem ich mich darauf thematisieren, dass die meisten Leute Drogen konsumie­ eingestellt habe, etwas zu konsumieren, muss ich es tun. ren, weil sie sich was Gutes tun wollen.» Ich war schon drei Wochen im Ausland in den Ferien und Dubno sagt, ein Kind habe Angst, alleine in den Keller habe nichts genommen und habe auch gar nicht an das zu gehen, weil es glaube, es gebe dort Geister. «Also pfeift Kokain gedacht. Auf der Heimfahrt fing es an. So ist es es, denn das Pfeifen gibt ihm das Gefühl, etwas tun zu immer, wenn ich aus den Ferien zurückkomme: Je näher können, um die Geister zu verscheuchen. Das Pfeifen gibt Zürich kommt, desto grösser wird die Lust. Ich kriege hef­ ihm das Gefühl, nicht ausgeliefert zu sein. Es ist ein Bild, tige Bauchschmerzen. Ab Aarau kommt der Durchfall.» wie unsere Gesellschaft mit psychoaktiven Substanzen Dr. Satan sagt: «In dem Moment, wo ich Kokain wirk­ umgeht: Das Verbot löst zwar kein Problem, aber man lich will, mache ich fast alles, um es zu kriegen. Zu Hau­ rationalisiert die Angst. Man glaubt, etwas getan zu ha­ se habe ich deshalb einen Koksbunker. Damit ich nicht ben. Gleichzeitig dämonisiert man damit die Substan­ nachts um vier Uhr abhaue und Scheisse baue: ins Puff zen: Sie sind so übermächtig, dass nur Verbote helfen. fahren, die Kreditkarte überziehen, Crack rauchen und Wenn man sich als Psychiater nüchtern mit der Thematik danach noch mehr Schulden haben.» auseinandersetzt, merkt man, dass man es nicht mit Dä­ «Abhängigkeit ist eine Krankheit», sagt Florian. «Man monen, sondern mit Substanzen zu tun hat, die je nach kann sich dieses extrem dominierende und einengende Mensch und Situation unterschiedlich wirken. Manche Gefühl nur schwer vorstellen. Ein grosser Teil der Ener­ Substanzen kann man unproblematisch konsumieren. gie wird von der Sucht vereinnahmt. Wer es nicht kennt, Es gibt aber auch Faktoren, die Abhängigkeit begüns­ für den ist es schwierig nachzuvollziehen. Ich würde tigen. Und an diesen Faktoren kann man ganz konkret mein Leben geben für meine Familie. Aber aufhören, arbeiten. Die Psychiatrie meinte vor hundert Jahren, sie Koks zu spritzen, das ginge nicht. Ich könnte die Sucht müsse sogenannt Abnormes behandeln. Aber Psychiater auch für meine Familie nicht aufgeben. Meine Frau denkt müssen nicht das, was als abnorm gilt, behandeln, son­ sich vielleicht: Bin ich dir weniger wichtig als der Stoff? dern Leiden.» Aber man kann das nicht vergleichen. Das sind zwei völ­ «1951 sind in der Schweiz 200 Menschen er­ trunken», lig verschiedene Ebenen.» sagt Toni Berthel. «Damals lebten hier vier Millionen «Ich arbeite in einer Bar», sagt die 25-jährige Louisa. Menschen. 2016 sind 32 Menschen ertrunken bei ­einer «Es ist ein Teufelskreis: die Nachtschichten. Der Alko­ Bevölkerung von acht Millionen. Man hat 1951 das hol. Und die Leute, die ständig kommen. Jeden Tag an­ Schwimmen nicht verboten, sondern die Lebensret­ dere Leute, die Lust haben abzustürzen. Aber du bist ja tungsgesellschaft gegründet, die Schwimmkurse gab. jeden Abend da. Und stürzt jeden Abend mit ab, wenn Viele der Leute, die heute in der Schweiz ertrinken, sind du in einer Bar arbeitest, wo du die Leute kennst. Und Nichtschwimmer aus dem Ausland. Man hat das Positive, wenn du regelmässig hinter dem Tresen stehst, kennst die Freude am Schwimmen, geschützt, indem man einen du bald alle. Das Kokain ermöglicht es, dass du jeden Umgang mit der problematischen Seite gefunden hat.» Abend trinken kannst. Leute kommen, spendieren dir was. Du nimmst vielleicht selbst einen kleinen Schnupf — mit einer Freundin, weil es ja Donnerstag ist, quasi schon Wochenende. Ein Grund zum Feiern. Ich arbeite jetzt seit Diese Angst, die Fortschritte rund um die Regulierung zwei Jahren Vollzeit im Gastro. Vorher habe ich fast nicht von Drogen verhindert: Man sitzt an einem sonnigen gekokst. Heute ist es schon ein Erfolg, wenn ich mal einen Samstagmorgen mit der Gattin im Vorgarten des Eigen­ Abend lang nicht ziehe.» heims in Wallisellen, die Tochter ist beim Fussball und «Ich sitze im Zug von Genf nach Zürich und versu­ der Sohn beim Eishockey, und man denkt an die Vor­ che, mich abzulenken», sagt Florian. «Lese Zeitung. Ein sorgelösung der Kantonalbank oder den neuen silber­ Buch. Irgendwas. Es ist richtig streng. Wenn der Zug grauen BMW 220d Gran Tourer, der in der Einfahrt steht, dann endlich in Zürich angekommen ist, bin ich richtig mit sieben Sitzen, zum Neupreis von 59 600 Franken, gierig. Wenn ich mit meiner Familie unterwegs bin, habe für noch mehr Kinder … Doch nicht weit von hier, nur ich dieses Gefühl nicht. Ich habe es nur, wenn ich alleine ein paar Kilometer Luftlinie entfernt, bieten asiatische reise und weiss: Jetzt kann ich konsumieren.» Transsexuelle oder dominikanische Prostituierte ein «Bei mir herrschte monatelang eine schwere Tris­ Pulver feil, das offenbar sofort dafür sorgt, dass das tesse», sagt Jacques, ein 45-jähriger Versicherungsange­ gute Leben bald kopf­steht, Frau und Kinder einen nicht stellter. Sein Freund, mit dem er zusammenwohnte, habe ihn komplett ignoriert. Um diese Stimmung ertragen zu Einzige, der süchtig geworden ist. Viele Leute sagen, man können, habe er sich jeden Abend nach der Arbeit im müsse mit einem Junkie brechen, damit er merkt, was Wohnzimmer drei Spritzen Koks gesetzt und sei dann seine Abhängigkeit anrichtet. Ich halte das für proble­ irgendwann schlafen gegangen. «Seht ihr den kleinen matisch. Es gibt ja auch Leute, die an ihrer Abhängigkeit Blutfleck dort auf dem Bild?», fragt Jacques dann. Wir sterben. Meine Mutter hat immer zu mir gehalten. Sie hat drehen die Köpfe und betrachten ein schwarzes Bild. In mich finanziell unterstützt, sodass ich eine Ausbildung der Mitte sieht man einen kleinen roten Fleck. «Da ist mir nachholen konnte. Trotz der Abhängigkeit habe ich In­ beim Fixen die Spritze explodiert. Ich hatte mir die gan­ formatik studiert. Auch meine Frau, die nicht abhängig ze Nacht immer wieder noch einen Schuss gesetzt, bis ist, hat mich unterstützt. Es ist wichtig, dass man als irgendwann die Kanüle verstopfte.» Es sei ein teures Bild, Süchtiger Kontakte ausserhalb der Szene hat. Ich sehe deswegen habe er es behalten. «Nach dieser Nacht sagte ja die Leute, die das nicht haben. Sie verbringen all ihre ich mir: ‹Jetzt musst du mal nachdenken.› Ich hatte noch Zeit in den Kontakt- und Anlaufstellen und konsumieren fünfzehn Gramm zu Hause und noch eine weitere Woche und versumpfen.» Ferien. Ich wusste: Wenn du so weitermachst, bist du in ein paar Tagen tot. Mir ging es sehr schlecht. Ich brauchte — jemanden zum Reden. Ich blickte auf mein Telefon und realisierte: Ich muss mich nicht fragen, wen ich anru­ «Craving», sagt Arud-Chefarzt Thilo Beck. «Das ist der fe, sondern vielmehr: Wen rufe ich nicht an? Es war ein Fachausdruck. Es bezeichnet das unstillbare psychische Moment des Glücks. Ich realisierte, ich habe zwei Hände Verlangen, wieder zu konsumieren. Kokain macht im Ge­ voller Leute, die ich anrufen kann.» gensatz zu Alkohol körperlich nicht abhängig. Die Lust, «Viele haben das Gefühl, Drogenkonsum sei ein per­ wieder zu konsumieren, ist rein psychisch. Unser Hirn sönliches Versagen, ein Charakterfehler, und man wird hat ein Belohnungszentrum. Es wird stimuliert durch nicht mehr wirklich ernst genommen», sagt Florian. «Ich überlebenswichtige Aktivitäten: Sex, Essen, Wassertrin­ würde jedem empfehlen, ohne Vorurteile an das Thema ken. Wir werden dadurch dazu angehalten, lebenswich­ heranzugehen. Ich habe fünf Geschwister und bin der tige Dinge zu verrichten. Normalerweise werden diese 46

Zentren stimuliert, wenn man aktiv etwas macht. Kokain Wenn man diese Störung behandeln kann, hat das auch stimuliert dieses Zentrum, ohne dass wir etwas leisten. indirekt ­einen Einfluss auf die Kokainabhängigkeit. 48 Und das Hirn speichert Situationen, in denen dieser Kon­ ­Zugelassene Medikamente zur Behandlung der Abhän­ sum stattgefunden hat.» gigkeit gibt es nicht. Es gibt aber dennoch Möglichkei­ Craving sei mit einem starken Hungergefühl ver­ ten, mit gewissen anderen Medikamenten zum Beispiel gleichbar, sagt Kokainforscher Boris Quednow. «Wie das Craving zu dämpfen. Es gibt auch ­auffallend ­viele wenn man lange nicht gegessen hat. Ein intensives, psy­ Kokain­konsumenten oder Kokainabhängige, die an chisches Verlangen nach dieser Substanz, ein Reissen. ­einem nichtbehandelten ADHS leiden. Das sind Men­ Es kann passieren, dass jemand im Alltag überhaupt schen, die sich mit Kokain womöglich selbst helfen, nicht an Kokain denkt und dann einen Hinweisreiz sieht, weil das ­eigentlich aufputschende Kokain auf sie beru­ ­etwas, das mit der Substanz assoziiert ist. Eine Person, higend und fokussierend wirkt. In solchen Fällen kann mit der, oder ein Ort, an dem man konsumiert. Es gibt es sinnvoll sein, Patienten mit Ritalin zu therapieren.» Leute, die fahren Zug und sehen diese weiss verpackten «Drei Faktoren sind es, die massgeblich beeinflussen, Strohballen auf den Feldern. Das erinnert sie an die Ko­ wie eine Droge wirkt», sagt Arud-Chefarzt Thilo Beck. kainpäckchen, und in diesem Moment haben sie Lust, zu «Der erste Faktor ist die Substanz selbst: Wie wirkt sie? konsumieren. Das Craving ist deshalb so fatal, weil Leute, Der zweite Faktor ist das Set, also die Frage, wie eine die viel konsumieren, auch vieles in ihrem Umfeld mit Person im Moment gestimmt ist. Das hat einen enormen dieser Droge assoziieren und deshalb auch viele Dinge Einfluss darauf, wie eine Droge wirkt. Der dritte Faktor dieses starke Konsumverlangen auslösen.» ist das Setting: In welchem Umfeld bewegt sich jemand?» «Es ist möglich, dass Leute, die früher intensiv konsu­ «Wie man eine Kokainabhängigkeit therapiert, lässt miert haben, zehn Jahre nichts mehr nehmen. Dann lau­ sich aufgrund der unterschiedlichen Ausprägungen fen sie in der Stadt zum Beispiel am Platzspitz vorbei, und nicht pauschal festlegen», sagt Marcus Herdener. «Es das Reissen ist wieder da», sagt PUK-Psychiater Marcus gibt psychotherapeutische Ansätze, deren Wirksamkeit Herdener. «Ein solches Suchtgedächtnis kann über sehr nachgewiesen ist. Es sind vor allem verhaltenstherapeu­ lange Zeiträume bestehen. Leute gehen in eine Stadt und tische Ansätze, mit denen man versucht, die Gründe zu merken irgendwann, dass sie gar nicht an dem Ort sind, verstehen, weshalb jemand konsumiert. Man analysiert wo sie eigentlich hinwollten, sondern einfach irgendwie die Situation, in der eine Person jeweils konsumiert, so­ an der Langstrasse gelandet sind. Manche haben Pro­ wie die Reize, die den Konsum auslösen. Dann muss man bleme, diesen Ablauf zu reflektieren, und landen immer sich fragen, wie man ein Umfeld umstrukturieren kann, wieder in Situationen, in denen sie sich wundern: Wie damit die Person weniger diesen Reizen ausgesetzt ist konnte das passieren?» und lernt, besser damit umzugehen.» Ein weiteres Kriterium, um von einer Kokainabhän­ «Man muss mit Menschen mit einem süchtigen Kon­ gigkeit sprechen zu können, sei neben dem Craving der sumverhalten daran arbeiten, Strategien zu entwickeln, Kontrollverlust, sagt Thilo Beck. «Sie konsumieren trotz den Konsum und den Drang zum Konsumieren besser zu des Wissens über die Schädlichkeit der Substanz weiter.» kontrollieren», sagt Thilo Beck. «Man schaut mit diesen «Es gibt Kriterien der WHO, wonach gewisse Punkte Leuten: Was löst den Konsum aus? Wenn bei jemandem gleichzeitig vorliegen müssen, damit man von einer Ab­ zum Beispiel Alkohol die Hemmschwelle zum Koksen hängigkeit sprechen kann», sagt Marcus Herdener. «Einer reduziert, schauen wir mit der Person, dass sie Alkohol dieser Faktoren muss der wiederkehrende Wunsch sein, nicht bis zu jenem Punkt trinkt, an dem sie den Reiz ver­ die Substanz zu konsumieren. Das kann bei manchen spürt. Und wenn sie doch diesen Reiz verspürt, dass sie Leuten alle zwei Wochen sein, bei anderen täglich. Das zum Beispiel immer einen Zettel bei sich trägt mit kon­ ist nicht definiert. Aber der Zwang muss vorhanden sein. kreten, in der Therapie individuell erarbeiteten Anwei­ Ein zweites wichtiges Kriterium ist, dass die Fähigkeit, sungen, was nun Schritt um Schritt zu tun ist, um den den Konsum zu begrenzen, verloren gegangen ist. Hinzu Automatismus zu unterbrechen und dem Verlangen nicht kommen körperliche Aspekte wie Entzugserscheinungen nachgeben zu müssen.» und Toleranzentwicklung: Sie konsumieren mehr, ver­ tragen mehr, brauchen mehr. Sie vernachlässigen andere — Lebensaktivitäten und schaden sich körperlich und ge­ sundheitlich.» Kurz vor Weihnachten 2017. Johnny, der Zürcher Stras­ «In neueren Konzepten wird nicht mehr die kategori­ sendealer, ist beschäftigt: zehn Gramm Kokain und ein sche Frage gestellt, ob eine Person süchtig ist oder nicht», Dutzend Ecstasypillen für eine Studenten-WG an der sagt Thilo Beck. «Man benutzt ein dimensionales Modell Langstrasse, fünf Gramm Koks für den Weihnachtsapéro und spricht von problematischem Konsum in verschie­ einer Zeitungsredaktion, vier Gramm für eine Anwältin, denen Gradierungen. Diese Auffassung trifft die Sache in ebenfalls vier für einen Maler, fünfzehn Gramm für ei­ meinen Augen besser. Denn es gibt so viele verschiedene nen Banker im Kreis 1, drei Gramm für einen DJ im Nie­ Formen, wie man konsumieren kann, und genauso gibt derdorf, sieben Gramm für einen Werber, zwei Gramm es viele Formen, wie man damit Probleme bekommen für eine Kunststudentin, acht Gramm für das Personal kann.» einer Bar im Kreis 5 … Das Protokoll eines Arbeitstags. Marcus Herdener wiederum sagt, ein grundsätzli­cher Zwischen Weihnachten und Neujahr wird Johnny stän­ Punkt sei auch die Frage, was für psychische Erkrankun­ dig unterwegs sein. gen bei den Menschen sonst noch vorhanden seien. «Posttraumatische Belastungsstörungen beispielswei­ se sind bei Kokainkonsumenten gehäuft anzutreffen. 49 «Sind Substanzen vorhanden, werden sie konsumiert. Sind sie nicht vorhanden, werden sie ­orga­­­nisiert und dann kon­sumiert. Also stellt sich doch die Frage: Wie organisieren wir den Rausch?»

Toni Berthel, Präsident Eidgenössische Kommission für Suchtfragen Glossar Entfernung von Graffiti. Die beiden Stoffe Panizzon, lautete Rita. Panizzon testete seine sind einerseits eine be­ liebte Party- und Erfindungen gerne an seiner Frau, so auch Sexdroge, andererseits – als Tropfen in ein das erstmals von ihm synthetisierte Methyl- 50 A Alkohol Getränk geschüttet – berüchtigt als soge­ phenidat. Auf Methylphenidat konnte Rita Gehört zur Gruppe der sogenannten Downer, nannte K.-o.-Tropfen oder Vergewaltigungs- viel besser Tennis spielen, darum Ri­ talin. der Drogen mit beruhigender, entspannen­ droge, da man bei zu hoher Dosierung der und angstlösender Wirkung. Dazu zählen in ­einen komaähnlichen Zustand fällt, der S Speed neben Alkohol Beruhigungsmittel, Angst­ mehrere Stunden anhalten kann. Aufputschmittel (oder Upper), das Gegen- löser, Schlafmittel, Schmerzmittel und ins­­ stück zum Downer. Chemische Substanz besondere ­Opiate. H Haschisch mit stark stimulierender Wirkung. Gehört Getrocknetes Harz aus den Drüsenhaaren zur gleichnamigen Substanzklasse der Amphetamin der Cannabispflanze. Gehört zur Gruppe ­Amphetamine, zu der weitere psychoaktive → Speed → Ecstasy und MD­ MA der Downer und wirkt entspannend, appetit­ Drogen zählen, etwa Methamphetamin anregend, beruhigend und ­schmerzstillend. oder Ephedrin. Weisses oder gelbliches C Crack ­Pulver, das vor allem geschnupft wird. Rauchbares, gestrecktes und deshalb bil­ Heroin ­Vermindert den Appetit, erhöht die Leis- liges Kokain, das aus Kokainsalz und ­Na­tron Heroin (chemische Bezeichnung: Diacetyl­ tungsfähigkeit, hält wach. hergestellt wird. Wird in kleinen Pfeifen morphin) ist eine halbsynthetische Substanz. ­geraucht. Die Wirkung tritt nach we­ nigen Gehört zur Gruppe der Opioide und wird T Temesta Sekunden ein und flaut nach ein paar aus Rohopium hergestellt, einer Substanz, Angstlösendes Beruhigungsmittel der Firma ­Minu­ten wieder ab. Gilt wegen der kurzen die aus dem Schlafmohn gewonnen wird. ­Pfizer. Wirkungsdauer als Droge mit hohem Ab­ Das weisse, graue oder braune Pulver wird hängigkeitspotenzial. Die Portionen sind in der Regel gespritzt, selten geschnupft und V Valium billig, durch das schnell auftretende Reis­sen seit den Neunzigern immer häufiger ge­ Markenname eines angstlösenden Beruhi- nach mehr kann der Crackkonsum sehr raucht. Das Mischen von Heroin und Ko­kain gungsmittels der Basler Firma Ro­ che. kostspielig sein. Das billige Crack machte wird als Speedball oder Cocktail bezeich­net. das damals noch sehr teure Kokain in den Heroin wirkt schmerzlindernd, angst­lösend, X Xanax Achtzigern auch für Arme erschwinglich. beruhigend und erzeugt eine körperliche Angstlösendes Beruhigungsmittel der ­Firma In der Schweiz ist als rauchbares Ko­ kain Wärme. Heroin wurde – etwa zeitgleich Pfizer. Xanax wurde Anfang der 1970er ­Jahre vor allem Freebase verbreitet (→ Freebase). mit dem späteren anderen Verkaufsschlager entwickelt und ist in den USA unter den Aspirin – 1896 von der deutschen Firma Psychopharmaka seit einigen Jahren das D DMT Bayer entwickelt, die den Markennamen am meisten verschriebene Medikament. Ausgesprochen N,N-Dimethyltryptamin. Heroin schützen liess und die als Schmerz- Während in den Neunzigern Rapper in den Natürliches Psychedelikum, eine Droge, die mittel weltweit vermarktete Substanz USA vor allem den Konsum von Cannabis das Bewusstsein erweitert. Bekannt sind 1931 auf politischen Druck hin aus dem zelebrierten, verherrlichen jüngere Rapper vor allem die DMT-Gemische Changa und ­Sortiment nahm. unter anderem den Konsum von Xanax. Ayahuasca. Wird geraucht, geschnupft Im November 2017 starb der Rapper Lil Peep und geschluckt. KonsumentInnen sprechen K Ketamin an einer Überdosis der verschreibungs- von einer Loslösung des Körpers vom Narkosemittel für Menschen und Tiere. pflichtigen Medikamente Fentanyl (ein Geist, von einer Ich-Auflösung. Bei hohen Gleich­zeitig beliebtes Rauschmittel, das vor ­Opiat) und ­Xanax. Dosen werden auch Nahtoderfahrungen allem an Partys meistens geschnupft und ­beschrieben. selten gespritzt wird. Bekannt auch un­ ter 2C-B dem Namen «Special K». Erhöht die Affinität Chemische Substanz, meist in Pillenform. Dormicum zu Musik, führt je nach Dosis zur Auflösung Fördert die Wahrnehmung und auch die Markenname eines verschreibungspflich­ti­ des Körperempfindens und zu einem Ge- Lust auf Sex. gen Schlafmittels der Basler Firma Ro­ che. fühl von Schwerelosigkeit. KonsumentInnen Wie die Medi­­ka­ ­mente → Temesta, → Xanax ­berichten bei erhöhter Dosis von Nahtod­ und → Valium gehört Dormicum in die erfahrungen, dem sogenannten K-­Hole, bei Arznei­mittelgruppe der Benzodiazepine, der dem man gefühlt den eigenen Körper ver- pharmazeutischen Wirkstoffe mit angst­ lässt. Wirkt geschnupft nach ein paar Minu­ lösenden, krampflösenden, beruhigen­den ten und hält in der Regel nicht länger als und schlafför­­der­n­den Eigenschaften. eine Stunde. Der englische Journalist Ned Benzo­diazepine ­können eine Abhän­gigkeit Beauman über das K-­Hole: «Einen endlosen, ­erzeugen. dunklen Tunnel hinabgezogen werden, während sich die Zeit verlangsamt, du dich E Ecstasy und MDMA nicht mehr bewegen kannst und sich sogar MDMA gehört zu den Amphetaminen und Wagner grossartig ­anhört.» zur Gruppe der Stimulanzien. MDMA gibt es als kleine Kristalle oder als Pulver, Kokain in Pillen­form heisst es Ecstasy. Wird in der Wird aus den Blättern des Kokastrauchs ge­ Regel geschluckt, für eine schnellere Wir- wonnen und zur Gruppe der Stimulanzien kung ge­schnupft. Bewirkt eine ver­mehrte gezählt. Weiss oder gelblich als Pulver oder Frei­setzung des körpereigenen Bo­ten­stoffs Stein. Wird in der Regel geschnupft, selte- Serotonin, was ein Gefühl von Eu­ phorie, ner gespritzt oder in ­Base umgewandelt und Leichtigkeit und Unbeschwertheit auslöst. ­geraucht (→ Crack → Freebase). Dabei verändern sich auch Seh- und ­Hör­ver­mögen, Berührungen und Musik wer- L LSD den intensiver empfunden, ­Hemmungen Kurz für Lysergsäurediethylamid. Halluzi­­no­ werden abgebaut, es entsteht ein starkes gene Substanz, die 1943 vom Schweizer Kontakt­bedürfnis. Chemiker Albert Hofmann entdeckt und bis zu ihrem weltweiten Verbot als psychothe­ F Freebase ra­peutisches Hilfsmittel eingesetzt wurde. Rauchbares Kokain, das durch die Verbin- Hofmann bezeichnete die bewusst­seins­ dung von Kokain und Ammoniak hergestellt erweiternde Substanz als «Werkzeug, das wird. Hat betreffend Wirkung und Abhän- uns in das verwandelt, was wir sein so­ llten». gigkeitspotenzial dieselben Eigenschaften wie Crack. M MDMA → Ecstasy und MDMA G GHB und GBL Zwei verwandte Stoffe. Wirken je nach Do­ sis R Ritalin entspannend, andererseits euphori­sierend, Handelsname für Methylphenidat der dama­ sexuell stark anregend, halluzi­nogen. GHB ligen Basler Firma Ciba, heute Novartis. war ursprünglich ein Narkose­mittel, GBL ist Der Rufname der Frau des Erfinders, eines ein Lösungsmittel, unter anderem für die italienischen Chemikers namens Leandro