Braune Karrieren Braune

Braune Karrieren Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus Herausgegeben von C h ristine Pie p e r · M i k e s C H M e i t z n e r · G e r h a r d N a s e r Braune Karrieren Dresdner Täter und Akteure im Nationalsozialismus Herausgegeben von Ch ristine Piep er · M i k e s C H Mei tz n er · Ger ha r d Nas er

San dstein Verlag Inhalt

Vorwort und Einleitung SA, SS, Gestapo Justiz Fachleute der Vernichtung

9 dirk Hilbert 60 Ch ristine Pieper 106 Wolfgang Howald 154 bor is Böhm Grußwort Georg von Detten und Hans Hayn Otto Georg Thierack Alfred Fernholz Die sächsischen SA-Gruppenführer Hitlers willfähriger Justizminister Ein Schreibtischtäter im Dienste 10 Ch ristine Pieper und der »Röhm-Putsch« der »Volksgesundheit« Mi ke Schmeitzn er 115 bi rgit Sack Ger har d Naser 66 si egfr i ed Gru n dman n Heinrich von Zeschau 162 bi rgit Töpolt Vorwort Arno Weser Ankläger beim Volksgerichtshof Heinrich Eufinger Der »Spucker«, aber auch Schläger Chefarzt der Frauenklinik 13 Ch ristine Pieper 120 gerald Hacke Dresden-Friedrichstadt und Mitver­ Mi ke Schmeitzn er 72 i r i na Suttn er Heinz Jung antwortlicher an der Zwangs- Täter und Akteure im Nationalsozialismus Gu n da U lbr icht Sachsens Generalstaatsanwalt sterilisierung Dresdner Frauen Ein forschungsgeschichtlicher Überblick Henry Schmidt Leiter des Judendezernats 128 Clau dia Bade 168 J u li us Schar n etzky der Dresdner Gestapo Alfred Häbler, Günther Jahn Horst Schumann und Rudolf Fehrmann Ein aktiver Anhänger der 78 Carsten Sch r ei ber Partei und Verwaltung Heeresrichter und national­sozialistischen Rassen- Die Führer des Sicherheitsdienstes (SD) die »Kriegsnotwendigkeiten« und Vernichtungspolitik 22 Mi ke Schmeitzn er in Dresden Martin Mutschmann und 172 J u li us Schar n etzky Manfred von Killinger Paul Rost und Helmut Fischer Die »Führer der Provinz« Rassenhygiene Von den Krankenmorden auf dem Verräter, Denunzianten, Sonnen­­stein zur Shoah in Polen und Italien 32 Ch ristine Pieper Überläufer 136 Caris-Petra Heidel Mi ke Schmeitzn er Matth ias Li en ert Karl Fritsch 86 Mi ke Schmeitzn er Ernst Philalethes Kuhn Stellvertretender und Arthur Kunze Die Etablierung der Rassenhygiene als Wirtschaft sächsischer Innenminister Die (un)freiwillige »Karriere« akademisches Lehrfach an der TH Dresden des SPD-Überläufers 180 tHomas Grosch e 41 Ch r istel H erman n 144 Mar i na Li en ert Georg Lenk Ernst Zörner, Hans Nieland und Caris-Petra Heidel 94 Carsten Voigt Wirtschaftsminister Sachsens Eduard Bührer, Rudolf Kluge Hermann Jensen und Alois Boehm Kurt Sindermann Oberbürgermeister und ihre Stellvertreter Personelle Vorhut zur Umsetzung der Als kommunistischer V-Mann 187 Hagen Mar kwar dt »Neuen Deutschen Heilkunde« 51 annekatrin Jah n in den Fängen der Dresdner Gestapo Georg Bellmann am Johannstädter Stadtkrankenhaus Hauptgeschäftsführer der IHK Dresden Cuno Meyer und Hellmut Walter 99 gerald Hacke Dresden Dresdens NSDAP-Kreisleiter Hans Müller 193 tHomas Grosch e Der Dresdner Bibelforscher Arthur Dressler als Spitzel in höchsten Funktionen Die Firma Sturm – Zigaretten für die SA Inhalt

Evangelische Kirche Kultur und Kunst Angehörige berichten

202 ger har d Li n deman n 248 tHomas Schaarschmi dt 298 Hella Holsten Friedrich Coch Arthur Graefe Irma Händel Ein aktiver Parteigenosse »Der Sachsenmacher« und das Regimetreue zwischen Begeisterung als sächsischer Landesbischof »Heimatwerk Sachsen« und Besessenheit

208 ger har d Li n deman n 255 norbert Haase Johannes Klotsche Will Vesper Ein Vertrauensmann Mutschmanns Der Schriftsteller und die national­ Nachworte an der Spitze der Landeskirche sozialistische ­Bücher­­­verbrennung in Dresden 306 Peter Grohman n 214 ger har d Li n deman n An Morgen erinnern Walter Grundmann 262 Ch ristine Pieper »Chefideologe« der sächsischen Hans Posse 308 Hans-Peter Lü h r Deutschen Christen Museumsdirektor und Kunsträuber Was nicht aufhört weh zu tun… Hitlers

270 kath r i n Iselt Wissenschaft und Schule Hermann Voss Direktor der Staatlichen Gemäldegalerie Anhang 222 konstantin Herman n Dresden und Hitlers »Sonderbeauftragter 312 Personenregister Arthur Göpfert für Linz« 316 Abkürzungen Zehn Jahre kommissarischer Leiter 317 Dank des Volksbildungsministeriums 318 Autoren 228 ku rt R ei nsch ke Architektur 319 Bildnachweis Matth ias Li en ert 320 Impressum Mi ke Schmeitzn er 280 Ch ristine Pieper Wilhelm Jost Wilhelm Kreis »Führer-Rektor« der TH Dresden Hitlers »Generalbaurat für die Gestaltung der deutschen Kriegerfriedhöfe« 238 Han ka Blesse Die Anstaltsleiter der sächsischen Napola 288 Ch ristine Pieper Dresden-Klotzsche Martin Hammitzsch und Angela Raubal Die Halbschwester Hitlers und ihr Ehemann Partei und Verwaltung Killinger machte Mutschmann persönlich verantwortlich für die dort erfolgte Folterung des vormaligen sozialdemokratischen Innenministers Hermann Liebmann, der seine früheren NS- kritischen Landtagsreden in Gegenwart Mutschmanns und »zum allgemeinem Gaudium« hatte verlesen müssen. Killingers Fazit war düster: »Der Nationalsozialismus wird nicht getragen von dem Vertrauen des Volkes, sondern stützt sich in Sachsen auf Furcht vor dem [Reichs-]Statthal- ter [Mutschmann].«4 Die Reaktion des Angegriffenen war bezeichnend genug: Zwar versuchten er und sein »Gau- beauftragter« viele Vorwürfe zu relativieren. Doch ließ er immer wieder durchblicken, dass er tatsächlich der Mann für die »härtere Gangart« war. Wie selbstverständlich ließ Mutschmann wissen, dass sogar Killingers Telefonanschlüsse durch die Gestapo überwacht worden waren, dass sich derselbe »schützend vor die gemaßregelten Juden stellte« und die von ihm (Mutsch- Martin Mutschmann und Manfred von Killinger mann) geforderten »harten, notwendigen Maßnahmen« hintertrieb oder nur teilweise durch- führte. Seine Besuche im KZ Hohnstein bestätigte Mutschmann ebenso wie die Folterung des Die »Führer der Provinz« »SPD-Bonzen Liebmann«, wobei er davon abgeraten habe, »ihn weiter [!] zu misshandeln«. Seine Rechtfertigungsversuche machten nicht einmal vor dem Vorwurf des Lynchmordes halt. Wenn Mi ke Schmeitzn er ein Renegat in der »Kampfzeit« der Bewegung in den Rücken falle, »dann ist er ein Todfeind der Bewegung und muss erwarten, dass die Bewegung ihn bei der Machtübernahme so behandelt, wie er es nach gesundem Volksempfinden verdient hat«. Killingers »Verleumdungen« erinner- Von »Lumpen« und »Ehrabschneidern« ten ihn folgerichtig an das »Gehirn eines jüdisch-bolschewistischen Intellektuellen«.5 oder: NS-Führer vor dem Obersten NS-Parteigericht Wenn man einmal vom »Niveau« dieser OPG-»Verhandlungen« absieht, bleiben vor allem Es war wohl eines der bemerkenswertesten Verfahren der nationalsozialistischen Parteige- zwei Dinge erwähnenswert: einerseits die brutale Offenherzigkeit, mit der besonders Mutsch- schichte, das da 1936/37 verhandelt wurde: Vor dem Obersten Parteigericht (OPG) der NSDAP mann seine Herrschaftspraxis zu legitimieren versuchte, andererseits die vorgebliche Milde, die standen sich gleich zwei maßgebliche »Führer der Provinz«1 als Kläger und Beklagter gegenüber. sein Gegenspieler Killinger zu verströmen schien. Es wird im Folgenden zu klären sein, inwie- Es handelte sich bei ihnen um keine Geringeren als den inzwischen mächtigsten Mann Sach- weit sich beide Protagonisten bei der Durchsetzung der Diktatur in den Vorgehensweisen und sens, Martin Mutschmann, der seit 1935 alle entscheidenden Partei- und Staatsfunktionen in Methoden tatsächlich unterschieden. Das Verfahren, von dem bereits die Rede war, verlief indes Händen hielt (NS-Gauleiter, , Ministerpräsident), und Manfred von Killinger, im Sande, obwohl eine Klärung »im Interesse der Stellung der beiden Beteiligten und des Anse- der im innerparteilichen Machtkampf mit Mutschmann sein Amt als Ministerpräsident verlo- hens der Partei« beim OPG erwünscht schien. Hitler selbst hatte jedoch mit der beruflichen ren hatte, aber als hoher SA-Führer und Reichstagsabgeordneter noch keineswegs als »Unper- Weglobung Killingers in den Auswärtigen Dienst des »Dritten Reiches« für eine ganz praktische son« bezeichnet werden konnte. Klärung der Fronten gesorgt. Wegen der nunmehrigen »räumlichen Entfernung« Killingers (er Den Stein ins Rollen gebracht hatte im Sommer 1936 der sächsische »Gaufürst«, der in sei­ wurde Generalkonsul in San Francisco) musste das Verfahren Ende 1937 ausgesetzt werden.6 nem Antrag darum bat, »gegen Herrn von Killinger das Ausschlussverfahren aus der Partei einzuleiten«. Killinger habe Dritten gegenüber ihn – Mutschmann – als »Lump« und »Ehrab- Karrierewege zweier Rechtsextremisten schneider« bezeichnet und so seine »Ehre verletzt«.2 Was hier als bizarrer Streit um Worte be­­ Die Karrierewege der beiden Protagonisten sind inzwischen weitgehend bekannt.7 Beide ent- gann, wuchs sich im Laufe des Parteiverfahrens zu handfesten Vorwürfen aus, die ein bezeich- stammen derselben Alterskohorte und wurden spätestens während der Nachkriegskrise (1919 – nendes Licht auf den Charakter des Regimes und dessen Führer warf. Denn – anders als von 1923) politisch entscheidend geprägt. Von der sozialen Herkunft her unterschieden sie sich Mutschmann vielleicht erwartet – begnügte sich Killinger nicht mit der Relativierung der von jedoch gravierend, wobei sie auch in dieser Hinsicht zwei verschiedene Rekrutierungsfelder des ihm erhobenen Vorwürfe. Er stellte beim OPG selbst den Antrag »auf Eröffnung eines Verfahrens späteren NS-Führungskorps personifizierten. Während der 1879 geborene Mutschmann aus […] gegen den Pg. Mutschmann mit dem Ziele denselben seiner Ämter zu entheben und ihn aus proletarisch-kleinbürgerlichen Verhältnissen kam und von Anfang an darauf bedacht war, sozial der Partei auszuschließen«. Als Gründe nannte er die »Beschimpfung und Verleumdung« seiner aufzusteigen, versuchte der 1886 geborene Killinger die prekäre landwirtschaftliche Welt des Person durch Mutschmann.3 niederen Adels rasch hinter sich zu lassen. Auf die Fortführung des elterlichen Gutes bei Nossen Einmal in Fahrt, zögerte Killinger nicht, alle relevanten Belastungen gegen seinen Wider­ legte er keinen Wert; vielmehr strebte er in jungen Jahren zum Militär. So absolvierte er eine sacher in Stellung zu bringen: Da war die Rede von brutalen Übergriffen im Landtag (März 1933), Kadettenausbildung und wurde später Seekadett in der kaiserlichen deutschen Marine, dann – von Eigenmächtigkeiten und Enteignungen, von Morden an politischen Gegnern und nicht nach dem Besuch der Offiziersschule in Wilhelmshaven – Oberleutnant zur See auf Torpedoboo- zuletzt von »schwersten Verfehlungen« der Wachmannschaften im KZ Hohnstein (1933/34). ten und Kreuzern. Mutschmanns Karriere bewegte sich dagegen in bürgerlichen Bahnen: In der

22 Partei und Verwaltung Martin Mutschmann und Manfred von Ki lli nger 23 Killingers Wende zum Rechtsradikalismus vollzog sich direkt 1919: Durch das Kriegsende und die hierdurch bedingte Auslieferung der Kriegsflotte verlor der Torpedobootkommandant sein Schiff und jegliche beruflich-militärische Perspektive. Er, der – wie viele andere Offiziere – in den »roten« Kapitulanten die eigentlichen Hintermänner der Niederlage erblickte, heuerte bei der Marinebrigade Ehrhardt an, um sozialistisch-kommunistische Aufstände (wie im Früh- jahr 1919 in Bayern) mit militärischer Gewalt zu ersticken.10 Bevor sich die Wege beider Protagonisten kreuzten, hatten sie in unterschiedlichen Organi­ sationen »erfolgreiche« rechtsradikale Karrieren verwirklicht: Der rhetorisch und intellektuell eher blasse Mutschmann setzte sich in der sächsischen NSDAP dank früher Verbindungen zu Hitler und finanzieller Ressourcen, durch brutalen Machtinstinkt und Organisationsgeschick rasch durch. 1925 bestätigte ihn Hitler als sächsischen Gauleiter der Partei, deren organisatorischen Auf- und Ausbau er weiterhin von aus betrieb, wo sich der Sitz der Gauleitung befand.11 Killinger war zu dieser Zeit als rechtsradikaler Terrorist schon einschlägig bekannt: Nach der erzwungenen Auflösung der Marinebrigade Ehrhardt hatte er zum harten Kern der illegal weiter existierenden Umsturzzelle gezählt, die jetzt als »Organisation Consul« (OC) traurige Berühmt- heit erlangte. Mit gezielten Attentaten auf Politiker der jungen Republik versuchte sie das ver- hasste politische System sturmreif zu schießen. Es war Killinger, der den Befehl zur Ermordung des bekannten demokratischen Politikers Matthias Erzberger gab;12 zwei Jahre später (1922) war er wiederum in das Attentat auf Reichsaußenminister Walter Rathenau verstrickt. Doch eine nachhaltige juristische Aufklärung blieb aus: Eine aus der Kaiserzeit überkom- mene Justiz behandelte die Mörder zumeist als »Patrioten«, sodass auch Killinger für seine Taten nur für wenige Monate hinter Gefängnismauern kam. Als Landesleiter des Bundes Wiking, wie sich die OC nun nannte, organisierte er auch weiterhin paramilitärische Einheiten in Sachsen, Thüringen und Schlesien. Am 1. Mai 1928 trat er schließlich mit seinen Anhängern der NSDAP in Sachsen bei und avancierte hier zum hauptamtlichen SA-Führer. Entscheidende Gründe für diese Kräftebündelung dürften in dem sächsischen Verbot des Bundes Wiking (1927), seiner

Das sächsische Kabinett vom 6. Mai 1933 v. l.: Georg Thierack (Justiz), Georg Schmidt (Arbeit und Wohlfahrt), Rudolf Kamps (Finanzen), nachlassenden Attraktivität im rechtsradikalen Milieu und der Suche der in Sachsen noch kaum Manfred v. Killinger (Ministerpräsident), Martin Mutschmann (Reichsstatthalter), Wilhelm Hartnacke (Volksbildung), Karl Fritsch entfalteten SA nach geeigneten Führern und Anhängern gelegen haben.13 (Inneres), Friedrich Günther (Chef der Staatskanzlei), Georg Lenk (Wirtschaft), Magnus Wilisch (Ministerialrat in der Staatskanzlei)

Macht und Verbrechen aufstrebenden sächsischen Textilmetropole Plauen gelang es ihm nach dem Besuch der Bürger- Killingers Entschluss, an hervorgehobener Position in die Bürgerkriegsarmee der NSDAP zu wech- und Handelsschule, sich als Stickermeister mit Ehrgeiz und Organisationsgeschick »emporzu- seln, sollte sich – an der Schwelle zur Weltwirtschaftskrise – für ihn als glückliche Fügung erwei- arbeiten«. Nach ersten Führungspositionen als Abteilungsleiter und Geschäftsführer in mittel- sen: Noch Anfang 1929 stieg er zum Chef der sächsischen SA, 1931 zum Chef der SA-Gruppe Mitte ständischen Unternehmen gründete er 1907 eine eigene Firma.8 und 1932 zum Inspekteur Ost der Obersten SA-Führung auf. Sein Einfluss als SA-Führer wuchs Für die politische Sozialisierung und Radikalisierung beider Protagonisten erwiesen sich mit der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die sich rasch zur Staatskrise weitete. Die sprunghaft Krieg und Nachkrieg als entscheidende Zäsuren. Mutschmanns erste Berührungen mit dem steigende Anhängerschar sicherte ihm aber auch innerparteilich eine immense Hausmacht, was völkischen Antisemitismus war möglicherweise noch früher, sah er doch seine wirtschaftliche bereits 1929 mit seiner Berufung zum Fraktionsführer der sächsischen NSDAP im Landtag zum Existenz schon vor dem Ersten Weltkrieg durch die in Plauen ansässige ostjüdische »Ramsch«- Ausdruck kam. Mutschmann wiederum erblickte in dem SA-Führer einen »mächtigen Widersa- Konkurrenz bedroht. Während der Mobilmachungstage 1914 soll er beim ersten Pogrom gegen cher«, der seine unangefochtene innerparteiliche Stellung plötzlich zu beeinträchtigen schien.14 Plauener Juden selbst handgreiflich geworden sein. Der Kriegsausgang wie die vermeintliche Was folgte, waren erbitterte Auseinandersetzungen zwischen Partei- und SA-Führer, die sich Bedrohung durch eine angebliche jüdische Hochfinanz und eine vorerst triumphierende »jü­­ – wie eingangs gesehen – bis weit über das Jahr 1933 hinaus fortsetzen sollten. Dessen ungeach- disch-marxistische« Arbeiterbewegung ließen ihn dann 1919 mit dem Eintritt in den »Deutsch- tet gelang es beiden NS-Organisationen auf verschiedene Weise, das einstmals »rote Sachsen« Völkischen Schutz- und Trutzbund« (DSTB) endgültig in die Reihen des organisierten deutschen sukzessive in eine braune Hochburg zu verwandeln. Während den Nazis zuerst im sächsischen Antisemitismus treten. Drei Jahre später verstärkte er bereits die junge NSDAP.9 Südwesten (Plauen – Zwickau – Chemnitz) der Durchbruch glückte, vermochte das dichte Netz

24 Partei und Verwaltung Martin Mutschmann und Manfred von Ki lli nger 25 nicht vor Synagogen-Schändungen zurückgeschreckt war, betätigte sich fortlaufend als antise- mitischer Hassprediger. Kaum eine seiner Reden kam ohne stereotype verschwörungstheore- tische Plattitüden und Gewaltandrohungen aus. Den antisemitischen Boykott-Tag im April 1933 bezeichnete er als »Generalprobe« für Schlimmeres: »Das nächste Mal geht es nicht so gemütlich zu. […] Wenn man einen Feind schlägt, dann muss man ihn vernichten.«26 Im Gegensatz zu Killinger versuchte er von Anfang an und mit persönlichem Eifer die Existenzgrundlagen von Juden oder jüdisch herkünftigen Deutschen (wie Victor Klemperer und ) zu zerstören. Hasskampagnen zur »Entjudung« Dresdens führte er gemeinsam mit dem Juden- Hetzer Streicher durch, und noch 1944 drängte er den SS-Chef Heinrich Himmler, die »Endlö- sung« auch zu Ende zu bringen.27 Persönliche Willkür zeigte sich ebenso bei der Verfolgung und Demütigung von politischen und religiösen Gegnern: Über den Fall Liebmann hinaus sorgte er 1935 – im Gegensatz zur reichs- weiten Praxis – für die Überstellung von 19 Pfarrern der evangelischen Bekennenden Kirche ins KZ Sachsenburg. Die Geistlichen hatten sich in einer Kanzelabkündigung gegen die germanisch- religiöse Deutsche Glaubensbewegung gewandt. Bezeichnend für Mutschmann war, dass er Ernst Lewek, den er noch aus Plauen kannte, als »Rädelsführer« der Pfarrerfronde erkannt haben wollte, obwohl dieser keinesfalls als solcher gelten konnte. Doch das störte Mutschmann nicht, war für ihn doch entscheidend, dass Lewek jüdische Wurzeln hatte und so die Verschwörungs- vorstellungen des »Sachsenführers« zu bestätigen schien.28 Persönliche Willkür übte Mutschmann aber nicht nur gegen politische und religiöse Gegner, selbst die eigenen Partei- und Verwaltungsspitzen blieben von seinen cholerischen Ausfällen und persönlich motivierten Säuberungsaktionen nicht verschont. Schlüsselfunktionen in Regie- rung und Verwaltung besetzte er meist mit servilen Gefolgsleuten, die häufig fachlichen Ansprü- chen nicht genügten. Die noch im Mai 1933 zu Ministern berufenen Karl Fritsch und Georg Lenk sind dafür Paradebeispiele; umgekehrt belegen sie aber auch Mutschmanns Praxis, selbst eigene Parteigänger urplötzlich fallen zu lassen – wie die Fälle Fritsch und Lenk im Jahr 1943. Oftmals reichte es aus, wenn Oberbürgermeister (wie Ernst Zörner in Dresden) populärer zu werden drohten als der »Sachsenführer« oder ihm aber als vermeintliche Konkurrenten zu gefährlich erschienen. Seine eigene Absetzung durch Mutschmann kommentierte Zörner denn auch 1937 mit einer Denkschrift an die Parteispitze, in der es hieß, dass Sachsen keinen Anspruch erheben Reichstheaterfestwoche, Mai 1934: (Mitte), zweiter von links Manfred von Killinger, daneben Hans Hayn und Martin könne, ein »Rechtsstaat« oder gar ein »Staat der Ehre zu sein«. Wer sich in diesem Land als »ein Mutschmann (rechts) auf dem Theaterplatz in Dresden Charakter erweise«, werde »verfolgt und gedemütigt«.29 Wenn sich also selbst langjährige NS-Funktionäre über den Provinzdespotismus des »Sach- senführers« mokierten, bleibt die Frage zu beantworten, weshalb sich Mutschmann über einen Gewaltsames Ende so langen Zeitraum unangefochten behaupten konnte. Die rabiate Verdrängung von vermeint- Hatte Gewalt bei der von Mutschmann und Killinger errichteten Diktatur eine entscheidende lichen und tatsächlichen Konkurrenten ist nur eine Erklärung, eine weitere hat mit seinem engen Rolle gespielt, so spielte sie diese auch bei ihrem Untergang. Das kriegerische Ende des »Dritten und frühen Vertrauensverhältnis zu Hitler zu tun; sein fanatischer Rassismus und Antisemitis- Reiches« riss beide Protagonisten mit in den Tod. Für den vormaligen SA-Führer und Minister- mus und sein Organisationsgeschick ließen ihn selbst in Kriegszeiten als unersetzbar erschei- präsidenten kam dieses gewaltsame Ende allerdings vor dem 8. Mai 1945 und vor der Exekution nen. In Sachsen selbst profilierte sich Mutschmann seit 1936 mit der Schaffung eines »Heimat- seines ungeliebten Nachfolgers. Killingers früher Tod hatte ausgerechnet mit seiner Karriere im werks Sachsen« und einer damit verbundenen Sachsenpropaganda nicht nur als »150-prozenti- Auswärtigen Amt zu tun, die ihn vom eingangs erwähnten Posten des Generalkonsuls in San ger Natio­nal­sozia­list, sondern auch 250-prozentiger Landesfürst«. Der von ihm – auch gegen die Francisco bis zum Gesandtenposten in Bukarest führte. Während seiner Zeit als Gesandter war Berliner Zentrale – beförderte »Sachsenstolz« imponierte zudem nicht wenigen »Untertanen von Killinger in die spannungsgeladene Judenpolitik dieser Diktatur involviert gewesen. So holte er ›König Mu‹«, die über dessen sonstige Befähigungen eher die Nase rümpften.30 »deutsche Judenberater« ins Land und »versuchte generell, bei den dortigen Regierungen eine

28 Partei und Verwaltung Martin Mutschmann und Manfred von Ki lli nger 29 Lebensweg von Otto Georg Thierack Thierack galt als »Alter Kämpfer«, da er bereits 1932 in die NSDAP eingetreten war, 1934 trat er in die sächsische SA ein und brachte es zum Rang eines Gruppenführers. Geboren am 19. April 1889 in Wurzen, studierte Thierack Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg und Leipzig, wurde 1914 promoviert und nahm als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. Nach dem Referendardienst, unter anderem am Landgericht Dresden, wurde er 1920 Gerichtsassessor am Landgericht Leipzig. 1921 zum Staatsanwaltschaftsrat in Leipzig ernannt, wechselte er 1926 zur Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht Dresden. Unterlagen, die über seine Tätigkeit im sächsischen Justizdienst Aufschluss geben könnten, sind nicht auffindbar. Die NS-Presse berich- tete später, Thierack habe der nationalsozialistischen Bewegung in politischen Prozessen »wert- volle Dienste« geleistet.2 Nach der »Machtergreifung« in Sachsen 1933 bestätigte Gauleiter Martin Mutschmann Thie­ rack, der nach dem Rücktritt der Regierung Schieck bereits als Justizminister amtierte, in diesem Amt. Er betonte in einem Aufruf, er habe »Männer berufen, die in jahrelangem Kampf in der vordersten Front der Nationalsozialistischen Bewegung an der Befreiung unserer sächsischen Otto Georg Thierack Heimat und unseres deutschen Vaterlandes vom Joche marxistisch-liberalistischer Herrschaft mitgewirkt haben.«3 Thieracks Amtssitz war zunächst in der Hospitalstraße 7, wo sich heute Hitlers willfähriger Justizminister wieder das Sächsische Staatsministerium der Justiz befindet. Persönlicher Referent wurde sein Wolfgang Howald Vertrauter Herbert Klemm, den er später als Staatssekretär in das Reichsjustizministerium nach- holen sollte. Thieracks Zeit als sächsischer Minister war von vornherein begrenzt. Im Rahmen der Gleichschaltung der Länder hatte er vornehmlich die Überleitung der Justizverwaltung auf Im Herbst 1941 hatte sich Hitler zu einem schärferen Vorgehen gegen die Widerstandsbewegung das Reich vorzubereiten. im Protektorat Böhmen und Mähren entschlossen und den Chef der Sicherheitspolizei und des Mit Eifer machte er sich unmittelbar nach Amtsantritt an die personelle Umgestaltung der SD Reinhard Heydrich mit der Führung der Geschäfte des Reichsprotektors beauftragt. Heyd- Justiz. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« bot ihm hierfür die Hand- richs Ziel war es zunächst, die »autonome« Protektoratsregierung, an deren Spitze Alois Elias habe. Nach eigenem Bekunden habe er »mit harter Hand« die Justiz von Marxisten und Juden stand, auszuschalten. Nach der überraschenden Verhaftung von Elias diente dazu ein schneller gesäubert. Insgesamt seien von 18 700 überprüften Personen mehr als 250 entlassen und mehr Schauprozess gegen ihn und den Prager Oberbürgermeister Otakar Klapka, der wegen der pro- als 500 Orts- und Friedensrichter ihres Amtes enthoben worden.4 Thieracks besonderes Inter- pagandistischen Wirkung vor dem Volksgerichtshof stattfinden sollte. Dessen Präsident Otto esse sollte sich, wie für einen NS-Juristen typisch, auf das Strafrecht und das Strafvollzugsrecht Thierack stimmte diesem Plan bereitwillig zu. Heydrich und Thierack beschlossen, die Anklage richten. So sorgte er für eine Verschärfung des Strafvollzugs, etwa durch die Einführung militä- unter Missachtung des Anklagemonopols der Staatsanwaltschaft der Gestapo zu überlassen, rischer Formen in den Gefängnissen, die Abschaffung der Gefängnisbeiräte und der Gefängnis- die Elias binnen zwei Tagen die »Anklageschrift« zustellte – die eigentlich zuständige Reichs- fürsorge sowie die Entfernung »undeutscher« Schriften aus den Anstaltsbüchereien. »Sehr am anwaltschaft hätte dafür einige Wochen benötigt. Bereits nach weiteren zwei Tagen, am 1. Okto- Herzen«, wie er betonte, lag ihm auch die Ausbildung des juristischen Nachwuchses, die er auf ber 1941, fand die Verhandlung des Volksgerichtshofs unter Leitung seines Präsidenten Thierack Kosten klassischer Fächer mit nationalsozialistischen Inhalten wie etwa der »Rassenkunde und vor etwa 200 ausgewählten Zuhörern im Sitz der Stapo-Leitstelle Prag statt. Trotz dürftiger -pflege« füllte. Er empfahl angehenden Juristen die Mitgliedschaft in der SA, der SS oder im Beweislage wurde Elias wegen »Feindbegünstigung« und »Vorbereitung zum Hochverrat« zum Stahlhelm. Nach Auflösung der selbständigen Berufsvereinigungen der Juristen und korporati- Tode verurteilt. Ebenso erging es einen Tag später Klapka. ver Eingliederung in den BNSDJ (Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen) waren die Heydrich war mit Thierack zufrieden: »Trotz verschiedener Behinderungsversuche durch Voraussetzungen für eine »Verreichlichung« der Justiz geschaffen. Thierack, der diesen Prozess das Reichsjustizministerium und Staatssekretär Schlegelberger gelang es, dank der vorzüglichen begrüßte, wirkte hieran beflissen mit. Unterstützung und dem politischen Verständnis des Präsidenten Dr. Thierack innerhalb von Dies sollte ihm nicht zum Schaden gereichen. Denn nach dem endgültigen Übergang der drei Tagen nach der Verhaftung zur Verhandlung mit abschließendem Urteil zu kommen.«1 Länderjustizbehörden auf das Reich zum 1. April 1935 ernannte Hitler ihn, der keinerlei richter- Franz Schlegelberger, der damals als Minister amtierte, sollte später im Nürnberger Juristen­ liche Erfahrung aufzuweisen hatte, auf Vorschlag des Reichsjustizministers Franz Gürtner noch prozess Thieracks Verhalten als »unzweideutigen Beweis seiner Parteihörigkeit« werten. Jeden- am gleichen Tag zum Vizepräsidenten des Reichsgerichts. Am Reichsgericht in Leipzig waren falls hatte Thierack in Heydrich und Himmler nun wichtige Verbündete in seinem Streben nach trotz der zunehmenden Anpassung an die Ziele der Nationalsozialisten unter dem Präsidenten dem Amt des Reichsjustizministers gewonnen. Dr. Erwin Bumke hochqualifizierte Juristen tätig, denen Thierack fachlich kaum ebenbürtig war.

106 J ustiz Otto Georg Th i erack 107 Er soll in der kurzen Zeit seiner Tätigkeit an diesem Gericht den Beinamen »Völkischer Beobach- ter« erhalten haben,5 offensichtlich weil er der Partei über die politische Haltung seiner Kollegen berichtet haben soll. Doch bald sollte sich ein neues, für Thierack angemesseneres Amt finden.

Thierack als Präsident des Volksgerichtshofes Thierack wurde am 1. Mai 1936 zum Präsidenten des Volksgerichtshofs (VGH) ernannt. Dieser war kurz nach dem Freispruch kommunistischer Funktionäre, unter anderem Georgi Dimitroffs, im »Reichstagsbrandprozess« errichtet worden. Seine Gründung beruhte jedoch eher auf mit- telfristigen Bestrebungen, in effizienten Strafverfahren die politischen Hauptgegner aburteilen zu können.6 Dem VGH wurden die bisher dem Reichsgericht vorbehaltenen erstinstanzlichen Zuständigkeiten für Hoch- und Landesverratssachen übertragen. Später kamen auch Straftaten nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung, zum Beispiel Wehrkraftzersetzung, hinzu. Etwa zeitgleich mit der Ernennung Thieracks wurde der VGH ordentliches (Straf-)Gericht, stand damit auf gleicher Stufe wie das Reichsgericht; ihm wurde eine selbständige Reichsanwaltschaft als Anklagebehörde angegliedert. Bekannt und berüchtigt ist vor allem die Verhandlungs- und Spruchpraxis des VGH unter Roland Freisler, dem Nachfolger Thieracks ab 1942. Aber schon unter Thierack begann die Ent- wicklung zu einer reinen Terrorjustiz, die auch durch die Ausdehnung der Strafgewalt auf das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren sowie durch die Kriegssituation beeinflusst wurde.7 Eine die Konturen im politischen Strafrecht verwischende Auslegung und eine exzessive Straf- Reichsjustizminister Dr. Otto Georg Thierack bei der Feier zur Amtsübernahme am 26. August 1942, zumessungspraxis setzte bereits während der Präsidentschaft Thieracks ein, wie der eingangs v. l.: Roland Freisler, Franz Schlegelberger, Otto Georg Thierack, Curt Rothenberger geschilderte Fall Elias und der Anstieg der Todesurteile zeigen. Ideologisch überhöhte Thierack, der sich gerne als »Chefpräsident« titulieren ließ, die Arbeit am VGH als »Kampf auf Leben und Tod« für das Volk und sah die Richter seines Gerichts »im Der VGH war unter Thierack Vorreiter dieser Praxis. So verurteilte der Erste Senat des VGH Schützengraben« gegen die politischen Gegner des Nationalsozialismus kämpfend. Seine Bemü- unter seinem Vorsitz 1938 drei Leipziger Jugendliche wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu hungen, die von ihm begehrte Sonderstellung des VGH auch dadurch zu erreichen, dass das mehrjährigen Freiheitsstrafen, weil diese die Hitlerjugend abgelehnt und zum Teil zu bekämp- Gericht Hitler direkt unterstellt wurde, blieben allerdings erfolglos. fen gesucht hatten. In der Urteilsbegründung hieß es unter anderem: »Hinter dieser im Interesse Zu seiner Auffassung der Rechtsprechungsaufgabe des VGH schrieb Thierack kurz nach der Ruhe und Erhaltung der deutschen Volksgemeinschaft und des gesicherten Bestandes des seinem Amtsantritt: Der Richter müsse »auch erfassen können, welche Aufgaben und Ziele der nationalsozialistischen Deutschlands notwendigen abschreckenden Wirkung der Strafe muss Nationalsozialismus sich und seinem Volke stellt [...]«.8 Er forcierte deshalb eine entsprechende die Persönlichkeit des einzelnen Täters zurücktreten.«10 Schulung und Erziehung der Richter. Die von ihm geforderte politische Rolle des Richters und In seinen Urteilen tendierte er meist zur höchstzulässigen Strafe. Noch in den letzten Mona- damit die Veränderung der Funktion des Strafrechts lässt sich insbesondere seinen späteren ten seiner Tätigkeit am VGH verurteilte Thierack mehrere tschechische Widerstandskämpfer Verlautbarungen als Reichsjustizminister entnehmen: »Im allgemeinen muss sich der Richter wegen Vorbereitung zum Hochverrat und Feindbegünstigung zum Tode und leitete damit über des Volksgerichtshofs daran gewöhnen, die Ideen und Absichten der Staatsführung als das in die letzte Phase des VGH, in der unter der Präsidentschaft Roland Freislers Todesurteile am Primäre zu sehen, das Menschenschicksal, das von ihm abhängt, als das Sekundäre. Denn die Fließband ergingen. Thierack jedoch sollte nun bald die Erfüllung seines Karrierestrebens erleben. Angeklagten vor dem Volksgerichtshof sind nur kleine Erscheinungsformen eines hinter ihnen stehenden größeren Kreises, der gegen das Reich kämpft.«9 Thierack als Reichsjustizminister Das Strafrecht hatte nach der NS-Doktrin die Aufgabe, die »Volksgemeinschaft«, deren Wil­len Am 19. Januar 1941 war Reichsjustizminister Dr. Franz Gürtner gestorben, das Reichsjustizminis- allein die NS-Führung zum Ausdruck brachte, zu schützen und denjenigen, der sich gegen sie terium wurde danach lediglich kommissarisch durch Staatssekretär Prof. Franz Schlegelberger stellte, aus der Gemeinschaft auszustoßen und »auszumerzen«. Die »Volksgemeinschaft« wurde geführt. Hitler, der eine tiefe Abneigung gegen Juristen hegte, hatte es mit einer Neubesetzung zum höchsten Rechtsgut stilisiert. So kam es zur Verlagerung von der Strafbarkeit der Tat auf die des Ministerpostens nicht eilig. Zudem wetteiferten die Parteijuristen misstrauisch bis feind- Strafbarkeit des – gegen den NS-Staat und damit gegen die Gemeinschaft gerichteten – verbre- selig und mit vorauseilendem Gehorsam um die Führungsposition und um die Gunst Hitlers. cherischen Willens, zur analogen Anwendung von Straftatbeständen zuungunsten des Täters, Hans Frank, »Reichsrechtsführer« und Präsident der Akademie für Deutsches Recht, geriet im zu einem Ausufern des Strafrahmens und zum Abbau prozessualer Rechte des Angeklagten. Sommer 1942 in Misskredit des »Führers«. Freisler hatte nie die Achtung Hitlers erworben. Ähn-

108 J ustiz Otto Georg Th i erack 109 heiten und ärztlichen Erfahrungen zu erfassen, dass diese aber dennoch wichtig für die ärztliche Praxis seien.3 Außerdem verunsicherten die Erfolge alternativer Heilweisen die Ärzte. Sie waren einem erhöhten Konkurrenzdruck ausgesetzt und sahen sich zugleich in großer Abhängigkeit von den Krankenkassen. Deshalb forderten sie sowohl eine größere Autonomie bei der Thera- piewahl aus verschiedenen medizinischen Konzepten als auch ein Zurückdrängen des Einflusses der Krankenkassen. Die Nationalsozialisten griffen den bereits von biologistisch orientierten Ärzten benutzten Begriff einer Neuen Deutschen Heilkunde auf.4 Sie versprachen eine Synthese der Schulmedizin mit den für effektiv befundenen alternativen Therapieverfahren. Damit sollte der Arzt zum alleinigen Gesundheitsführer seiner Patienten werden, Wissen über eine gesunde Lebensweise sowie erbbiologisches und rassenhygienisches Gedankengut nicht nur verbreiten, sondern dessen Umsetzung auch kontrollieren und steuern können. Den Ärzten wurden also weitrei- chende Möglichkeiten der Prophylaxe und Therapie, aber auch eine exklusive Position in Aus- Hermann Jensen und Alois Boehm sicht gestellt. Das Rudolf-Heß-Krankenhaus sollte in diesem umfassenden Sinn zu einem Zentrum der Personelle Vorhut zur Umsetzung der Neuen Deutschen Heilkunde entwickelt werden. Während einer vorbereitenden Besprechung der Reichsärzteführers Gerhard Wagner mit Vertretern der Stadt sowie der NS-Volksgesundheit »Neuen Deutschen Heilkunde« am 9. Mai 1934 wurde deshalb festgelegt: »Die Neuheit, Vielheit und – teilweise – weltanschau- am Johannstädter Stadtkrankenhaus Dresden liche Bedingtheit und politische Bedeutung der […] Maßnahmen und Einrichtungen erfordert unbedingt Zusammenfassung der Leitung in einer Hand. Dafür kann nur in Betracht kommen Mar i na Lienert · Caris-Petra Heidel ein ausgezeichneter ärztlicher Fachmann, der zugleich große Erfahrung im Krankenhausdienst und in der Heranbildung von Schwestern im Geiste der Braunen Schwesternschaft besitzt und der ferner altbewährter Nationalsozialist ist.«5 Diese Beschreibung traf in besonderem Maße auf Hermann Jensen zu. »Das Rudolf-Heß-Krankenhaus, ärztliche Forschungsanstalt für natürliche Heilweise, ist am Hermann Johann Hans Jensen wurde am 30. April 1895 in Schleswig geboren. Er studierte in 5. Juni [1934] seiner Bestimmung übergeben worden. Die Gesamtleitung des Hauses wurde dem Kiel Medizin und bestand dort 1917 das Physikum. Als aktives Mitglied der Landsmannschaft Oberarzt Dr. Jensen übertragen. Damit wird das bisherige Stadtkrankenhaus Johannstadt neben »Troglodytia«6 folgte er deren Wahlspruch »Ne feriare feri – Sei Hammer, nicht Amboss«. Nach der Krankenheilung dem Zwecke zugeführt, biologische Forschungsstelle und Fortbildungs- Ableistung des Kriegsdienstes setzte er sein Studium fort. 1920 wurde Jensen die ärztliche stätte für Ärzte zu sein. Der Stellvertreter des Führers hat die Genehmigung zur Anwendung Approbation erteilt und an der Psychiatrischen und Nervenklinik der Universität Kiel promo- seines Namens gegeben, um durch dessen Einsatz das Interesse zu betonen, das er an der Erfor- viert. Möglicherweise haben seine Heirat mit Charlotte Dorothea Marie Pabst und die Geburt schung der umstrittenen Methoden der naturgemäßen Heilung nimmt.«1 So klangen die Presse­ ihres ersten von drei gemeinsamen Kindern im Oktober 1921 ihn veranlasst, sich rasch als prak- meldungen über die Profilierung des 1901 eingeweihten Dresdner Stadtkrankenhauses zum tischer Arzt niederzulassen.7 Von 1921 bis 1927 war er als Arzt in eigener Niederlassung in Süder- »Biologischen Zentralkrankenhaus für das Deutsche Reich«. Die Oberärzte der Kranken­haus­ hastet (Holstein) tätig und soll bereits hier von der Gemeinde ein Haus mit sechs bis acht Betten abtei­lun­gen wurden teilweise ausgewechselt, neues Personal sollte die nationalsozialistische für chirurgisch Kranke zur Verfügung erhalten haben.8 Jensen entschloss sich 1928, eine fach- Gesundheitspolitik wissenschaftlich untermauern.2 Zwei Männer, die sich bereits in der NSDAP ärztliche Ausbildung für Chirurgie zu absolvieren und arbeitete deshalb seit dem 1. September einen Namen gemacht hatten, wurden als Garanten dafür eingesetzt: Hermann Jensen und als Volontärarzt und seit dem 1. April 1929 als Assistenzarzt an der Chirurgischen Klinik des Hermann Alois Boehm. Aber warum sollten ausgerechnet ein Chirurg und ein Rassenhygieniker Krankenhauses Hannover 1 (Nordstadtkrankenhaus). die Erforschung alternativer Heilverfahren vorantreiben? Jensen trat am 1. Mai 1928 der SA9 und schon vor 1933 auch der NSDAP sowie dem NSD-Ärz- Der Begriff der Neuen Deutschen Heilkunde war schon Ende der 1920er Jahre, während der tebund (NSDÄB) bei. Bereits 1932 erzwang er den Eintritt ihm unterstellter Mitarbeiter in die Diskussion über eine »Krise der Medizin«, die wiederum aus der erkennbaren Diskrepanz zwi- NSDAP unter Androhung ihrer Entlassung.10 Kurz nach der Machtübernahme der National­sozia­ schen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und deren Umsetzung in effiziente Therapien listen wurde Jensen zum Oberarzt ernannt. Ein Zeitzeuge berichtete: »Bei der Machtübernahme erwachsen war, geprägt wor­den. Zudem verfestigte sich die Auffassung, dass die an den Uni- durch die N.S.D.A.P. im Jahre 1933 stellte sich der Oberarzt der Chirurgischen Abteilung […] an die versitäten gelehrte naturwissenschaftlich begründete Medizin nicht in der Lage sei, alle Krank- Spitze der Ärzteschaft.« Sein persönliches Fortkommen scheint also eine Folge seines politischen

144 Rassen hygi en e H ermann Jensen und Alois Boehm 145 Engagements gewesen zu sein. Weiter heißt es: »U.A. versuchte Dr. Jensen die Gründung einer Braunen Schwesternschaft mit einseitig nationalsozialistischer Einstellung durchzusetzen.«11 Als Braune Schwestern bezeichneten sich bereits seit 1924 einige der NSDAP und deren Ideologie nahestehende Gruppierungen, die sich »ganz besonders für die Pflege verwundeter SA-Männer und für die Betreuung hilfsbedürftiger Parteigenossen«12 eingesetzt hatten. In Hannover hatte sich Erna Mach seit 1932 »um die Erfassung nationalsozialistisch gesinnter Schwestern im ›Gau Süd-Hannover-Braunschweig‹ bemüht.«13 Jensen soll seine »guten Parteibeziehungen« nach der Machtergreifung dazu genutzt haben, der Hannoveraner nationalsozialistischen Schwesternor- ganisation eine Sonderstellung zu verschaffen.14 Am 30. Oktober 1933 eröffnete in Hannover die erste staatlich anerkannte Krankenpflegeschule der NS-Schwestern, geleitet von Jensen.15 Am 28. März 1934 wurde die Gründung der Schwesternschaft der N.S.V. verfügt, um die Braunen Schwestern in eine straffe Struktur einzubinden und auch das Pflegepersonal gleichzuschalten. Als das Johannstädter Klinikum zum Modellkrankenhaus avancieren sollte, musste es auch über eine nationalsozialistisch gesinnte Schwesternschaft verfügen. Jensen, der Protegé Wag- ners, schien also der richtige Mann in Dresden: Er hatte sowohl seine gefestigte nationalsozia- listische Gesinnung als auch Durchsetzungsvermögen demonstriert und war erfahren bei der Führung und Ausbildung von NS-Schwestern. Er nahm daher bereits an der vorbereitenden Besprechung am 9. Mai 1934 in Dresden teil, auf der unter anderem festgelegt wurde, dass er zum Oberarzt der Chirurgischen Abteilung ernannt würde. Jensen, dem erst am 1. Juni 1934 der Facharzt für Chirurgie zuerkannt wurde, der als Oberarzt einer chirurgischen Abteilung erst seit Hermann Jensen während einer ärztlichen Visite am Rudolf-Heß-Krankenhaus einem Jahr Erfahrung gesammelt hatte, verdrängte damit den seit 1918 amtierenden Hans Seidel, der in den Ruhestand versetzt wurde. Zugleich sollte Jensen als ärztlicher Leiter des gesamten Krankenhauses fungieren.16 Bisher waren alle Oberärzte ebenso wie der Verwaltungs- Jensen soll am Rudolf-Heß-Krankenhaus keinerlei politischen Druck ausgeübt haben.20 Mög- leiter lediglich der Stadtverwaltung untergeordnet. Zudem wurde die 1932 geschlossene Schwes- licherweise bestand dafür am Klinikum selbst keine Notwendigkeit, war doch allen Mitarbeitern ternschule des Johannstädter Klinikums ebenfalls unter Jensens ärztlicher Leitung als Reichs- bewusst, im Fokus der nationalsozialistischen Führung zu stehen. Der damalige Oberarzt der mutterhaus der NS-Schwesternschaft mit Schwesternschule am 1. Juli 1934 wiedereröffnet. Chirurgischen Abteilung des Friedrichstädter Klinikums, Albert Bernhard Fromme, bezeichnete Jensen sah als Chirurg zwar keine Möglichkeiten, sich unmittelbar der wissenschaftlichen ihn hingegen als »erheblichen Nationalsozialisten, mit dem er keine über das Unerlässliche Untersuchung der Naturheilverfahren zu widmen. Er propagierte aber als Ziel jeglicher ärztli- hinausgehende Kontakte pflegte, nie privat«.21 Andererseits scheint Jensen in Dresden nicht cher Tätigkeit: »Der Wert irgendeiner Behandlungsmethode richtet sich doch danach, wie gut mehr parteipolitisch aktiv gewesen zu sein und widmete sich offenbar insbesondere der Leitung es uns gelingt, mit tragbarer wirtschaftlicher Belastung und geringem Risiko, ein möglichst seiner Chirurgischen Abteilung. Er soll gern gegen 23 Uhr noch einmal auf Station nach dem gutes Dauerergebnis, d. h. Wiederherstellung des kranken Menschen, zu erzielen. […] Wir dürfen Rechten gesehen haben22 und stellte während der Bombenangriffe seine Villa in der Waldpark- uns nicht abschließen gegenüber Anschauungen und Methoden, die uns vielleicht ferner liegen. straße als Notunterkunft für die Säuglinge in der Kinderklinik sowie der benachbarten Staatli- Vielmehr müssen wir uns ernsthaft bemühen, gerade sie auf ihren Wert und ihre Erfolgsmög- chen Frauenklinik zur Verfügung. Während andere Ärzte sich vor der Roten Armee in Sicherheit lichkeit zu prüfen […].«17 Dieses Credo vertrat er als Leiter der 1935 gegründeten Fortbildungs- brachten, berichtete Jensen noch am 6. Juni 1945 in einem Brief: »Mir persönlich geht es relativ schule am Rudolf-Heß-Krankenhaus ebenso wie nach deren Einbindung in die 1938 neu gegrün- gut. Ich bin gleichfalls keine Stunde [aus Dresden] fort gewesen und habe jetzt schon wieder dete Dresdener Akademie für ärztliche Fortbildung als deren stellvertretender Vorsitzender. Er über 500 Patienten zu betreuen. Die Arbeit wächst von Tag zu Tag.«23 Jensen wurde 1945 ver- galt als guter Operateur, insbesondere für die Nagelung von Schenkelhalsfrakturen, von der mutlich im Klinikum verhaftet und in ein russisches Lager oder Gefängnis gebracht. Dort zog er sogar ein Lehrfilm angefertigt wurde.18 Die Chirurgische Abteilung des Rudolf-Heß-Kranken- sich eine Sepsis zu und wurde in das Stadtkrankenhaus Dresden-Friedrichstadt verlegt, wo ihm hauses war, wie das Stadtkrankenhaus Friedrichstadt und selbst das Diakonissenkrankenhaus, Fromme noch ein Bein amputierte.24 Dennoch verstarb Jensen am 16. März 1946 in der Klinik. aber auch zur Durchführung von Zwangssterilisationen verpflichtet, die vom Erbgesundheits- Um die Neue Deutsche Heilkunde im nationalsozialistischen Modellkrankenhaus zu etab- gericht angeordnet waren.19 lieren, sollte auch rassenhygienisches Gedankengut im Klinikum, bei den Fortbildungsveran- Persönlich hatte Jensen den frühen Tod seiner ersten Frau zu verkraften. Er schloss 1939 die staltungen und in der NS-Schwesternschule verbreitet werden. Zu diesem Zweck wurde ein Ehe mit Vera Habert. Dieser Ehe entstammen zwei Kinder. Jensens beide ältesten Söhne fielen weiterer altgedienter Parteigenosse nach Dresden beordert. im Zweiten Weltkrieg.

146 Rassen hygi en e H ermann Jensen und Alois Boehm 147 Stadtkrankenhaus Dresden-Johannstadt, Verwaltungsgebäude Neubau im Rudolf-Heß-Krankenhaus

Hermann Alois Boehm wurde am 27. Oktober 1884 in Fürth als Sohn eines praktischen Arztes logische Erfassung der gesamten deutschblütigen Bevölkerung und die Ausschaltung »asozia- geboren. Von 1903 bis 1910 studierte er an der Universität München Medizin. 1911 erhielt er die len, abträglichen Erbgutes« durch dauernde Asylierung und zwangsweise Sterilisierung.31 Von ärztliche Approbation und wurde in München promoviert. Im selben Jahr begann Boehm zu­­ Juni 1933 bis Juli 1934 leitete Boehm die Abteilung »Rassenhygiene« im Reichsausschuss für den nächst an der Universität München seine Weiterbildung zum pathologischen Anatomen, die er Volksgesundheitsdienst. Hier setzte er sich intensiv für die Umsetzung des »Gesetzes zur Ver- an den Universitäten in Jena und Göttingen fortsetzte. Vom 15. Januar 1915 bis zum 1. Februar hütung erbkranken Nachwuchses« ein.32 1919 diente er als Sanitätsoffizier.25 1919 nahm Boehm eine Tätigkeit als Pathologe am Kranken- Im August 1934 wurde die seit 1932 geschlossene Pathologische Abteilung des Johannstädter haus rechts der Isar in München auf. Im selben Jahr heiratete er Katharina Tietje. Das Paar hatte Klinikums wiedereröffnet und Boehm unterstellt. Im November 1934 wurde er zudem zum Hono- gemeinsam vier Kinder, die in den Jahren 1926 bis 1935 geboren wurden.26 rarprofessor für »Rassenpflege« an der Universität Leipzig ernannt, obwohl er mit nur einigen Nach Kriegsende begann Boehm, sich parteipolitisch zu engagieren, zunächst 1920/21 im wenigen Publikationen kaum den hohen Ansprüchen genügen konnte. Auch an der Staatsaka- Alldeutschen Verband. Seine eigentliche politische Heimat fand er 1923 in der NSDAP. Für seine demie für Rassen- und Gesundheitspflege, die am Deutschen Hygiene-Museum eingerichtet Teilnahme am Hitlerputsch im November 1923 in München erhielt er später den »Blutorden«. worden war, hielt er Vorlesungen über »Allgemeine und menschliche Vererbungslehre«. Anders Am 1. September 1923 trat er außerdem der SA bei. Während des Verbots von NSDAP und SA als offenbar Jensen blieb er parteipolitisch aktiv. Im Gau Sachsen leitete er von 1934 bis 1937 das engagierte er sich 1924/25 im Völkischen Block27 und im Deutsch-Völkischen Offiziersbund Disziplinargericht des NSDÄB. Ab Herbst 1934 war er zudem als Mitglied des Erb­gesund­heits­ober­ (1923 – 1926). Nach der Neugründung der NSDAP 1925 trat Boehm ihr mit der Mitgliedsnummer gerichts in Dresden an Entscheidungen über Zwangssterilisierungen beteiligt. Sein wissenschaft- 120 erneut bei. Mit Wiedereintritt in die SA 1931 stieg er rasch in den Stab der Obersten SA- liches Interesse galt zunehmend der Vererbungslehre. So war er einer der Herausgeber des in zwei Führung auf und avancierte bis 1942 zum SA-Sanitäts-Gruppenführer. Jahrgängen erschienenen Periodikums »Probleme der theoretischen und angewandten Genetik 1931 schied Boehm aus dem Krankenhausdienst aus und arbeitete bis 1933 als Referent für und deren Grenzgebiete«,33 in dem er aber nicht selbst veröffentlichte. Rassenhygiene im NSDÄB.28 Auf dessen dritter Reichstagung im Dezember 1932 referierte er Im März 1937 wechselte Boehm auf besonderen Wunsch des Reichsärzteführers an das Erb- über Rassenhygiene und Nationalsozialismus: »Nationalsozialist kann nur sein, wer bewußt biologische Forschungsinstitut der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt Rehse.34 Hier oder unbewußt rassisch fühlt; und wer echt rassisch empfindet, muß Nationalsozialist sein.«29 bildete er Ärzte »auf dem Gebiet der experimentellen Genetik aus, führte selbst Versuche an Die besondere Pflege müsse »dem deutschblütigen, deutschfühlenden, körperlich und seelisch Drosophila durch und erstellte ab 1939 auch erbbiologische Abstammungsgutachten«.35 1938 gesunden Menschen nordischer Prägung« gelten.30 Dazu forderte er unter anderem die erbbio- setzte er seine Ernennung zum Honorarprofessor an der Universität Rostock durch. 1939 wurde

148 Rassen hygi en e H ermann Jensen und Alois Boehm 149 sein Institut zunächst zu einem Lazarett umfunktioniert und erst 1941 eingeschränkt wieder Anmerkungen eröffnet. Da die geplante ordentliche Professur für Boehm an der Universität Rostock scheiterte, 1 Krankenhausnachrichten, Dresden, in: Zeitschrift für das 27 Der Völkische Block war eine von NS-Anhängern gegrün- nahm er schließlich zum 1. Januar 1943 eine Berufung an die Universität Gießen als ordentlicher gesamte Krankenhauswesen 30 (1934) 14, S. 331. dete Wahlplattform, die ihre Politik »in die Parlamente 2 Zur Geschichte des Rudolf-Heß-Krankenhauses vgl. Ma- tragen und diese von innen heraus attackieren wollte«. Professor für Rassenhygiene und Direktor des Instituts für Erb- und Rassenpflege an. rina Lienert: Das Stadtkrankenhaus Dresden-Johannstadt Robert Probst: Völkischer Block in Bayern (VBl), 1924/25, 1945 wurde er von der amerikanischen Militärverwaltung entlassen und führte nun eine in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Albrecht Scholz/ in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexi- Caris-Petra Heidel/Marina Lienert: Vom Stadtkranken- kon-bayerns.de/artikel/artikel_44636 (25. 3. 2011) Privatpraxis in Gießen. 1947 wurde Boehm im Zuge der Ermittlungen zum Nürnberger Ärzte- haus zum Universitätsklinikum, Köln/Weimar/Wien 28 Vgl. Matthias Schwager: Die Versuche zur Etablierung der prozess vernommen. Hier gab er unter anderem zu Protokoll, dass er im November 1940 Beden- 2001, S. 105 – 142. Rassenhygiene an der Leipziger Universität während des ken geäußert habe bezüglich der Durchführung der Euthanasie in Deutschland: »1) die unschöne 3 Vgl. Dethlef Bothe: Neue Deutsche Heilkunde, Husum, Nationalsozialismus unter besonderer Berücksichtigung 1991, S. 22. des Lebens und Wirkens von Hermann Alois Böhm, Med. Art der Benach­­ ­rich­ti­gung der Angehörigen, 2) das Fehlen eines Versuches, die Zustimmung der 4 Diese verstanden darunter eine »dreifache Reinheit«: Diss., Leipzig 1992, S. 24 f. Angehörigen zur Durchführung der Euthanasie einzuholen, 3) die Angabe fingierter Todes­ ei­­ne äußere Reinheit des Körpers, eine innere Reinheit 29 Hermann Boehm: Rassenhygiene und Nationalsozialis- sowie eine kollektive Reinheit zur Verbesserung der »Ras­ mus, in: Ziel und Weg 5 (1932), S. 11, zitiert nach: Schwager 36 ursachen«. Er verurteilte lediglich »die Durchführung des Euthanasie-Programms, wie sie in ­se«. Vgl. Uwe Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die (wie Anm. 28), S. 26. Deutschland während des letzten Krieges geübt wurde«, nicht jedoch die Ermordung von geis- Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland, Frankfurt 30 Ebd., S. 12. am Main/New York 2006, S. 227. 31 Ebd., S. 14. 37 tig und körperlich Behinderten generell. Nachdem er noch die vollen Pensionsansprüche für 5 Stadtarchiv Dresden, Stadtgesundheitsamt, Personalakte 32 Hermann Boehm: Die Aufgaben des Kreisarztes bei der Aus- seine Tätigkeit an der Gießener Universität erstritten und genossen hatte, verstarb Boehm am H78, Dr. Hauffe, Protokoll der Verhandlung über organi­ führung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuch- satorische Änderungen im Stadtkrankenhaus Johannstadt ses, in: Zeitschrift für Medizinalbeamte 46 (1933), S. 309 ff. 7. Juni 1962 in Gießen. und Wiedereröffnung der Schwesternschule vom 9. 5. 1934. 33 Probleme der theoretischen und angewandten Genetik Mit Jensen und Boehm wurden 1934 zwei in der NS-Bewegung seit langem aktive Ärzte an 6 Johannes Mai: Die Geschichte der Chirurgie in Dresden, und deren Grenzgebiete, Leipzig 1 (1937) – 2 (1938). das Rudolf-Heß-Krankenhaus berufen, die es zu einem Zentrum der Neuen Deutschen Heil- Med. Diss., Dresden 1958, S. 132. 34 Schwager (wie Anm. 28), S. 54. 7 Stadtarchiv Hannover, Personalakte Hermann Jensen. 35 Ebd. kunde profilieren sollten. Jensen, der insbesondere die Gründung der NS-Schwesternschaft 8 Mai (wie Anm. 6). Siehe auch A[ugust] Borchard/W[alter] 36 Eidesstattliche Erklärung von Hermann Boehm vom 28. 2. befördert hatte, sah nun als Leiter des gesamten Klinikums seine Karrierewünsche vermutlich v. Brunn (Hg.): Deutsches Chirurgen-Verzeichnis, 3. Aufl., 1947, Affidavit concerning the administration of the eu- Leipzig 1938, S. 314. thanasia program, http://nuremberg.law.harvard.edu/ als erfüllt an. Auch wenn er als Chirurg durchaus gute Arbeit leistete und sich verantwortungs- 9 BArch, BDC, Jensen, Hermann. php/pflip.php?caseid=HLSL_NMT01&docnum=2357&nu bewusst seinen Patienten und der Leitung des Klinikums widmete, hat er hier in Dresden den- 10 Vgl. Birgit Breiding: Die Braunen Schwestern, Stuttgart mpages=3&startpage=1&title=Eidesstattliche+Erklaerun 1997, S. 103. g..&color_setting=C noch aufgrund seines offensiven Eintretens für die nationalsozialistische Gesundheitspolitik 11 Entnazifizierungsakte Ernst Ewald. In: NdS. 171. Hann. 37 Ebd. und der Verstrickung in die Zwangssterilisationspraxis weiterhin an der Durchsetzung der NS- Nr. 7332. Zitiert nach: Breiding (wie Anm. 10). 12 Gespräch mit der Generaloberin Käte [sic!] Böttger. Ziel: Politik mitgewirkt. Der »alte Kämpfer« Boehm konnte zwar in Dresden selbst nicht die von ihm 23 000 NS.-Schwestern., in: Berliner Illustrierte, Nachtaus- erhoffte Breitenwirkung erzielen und auch kein Zentrum der rassenhygienischen Forschung gabe, 20. 11. 1936. Zitiert nach: Breiding (wie Anm. 10). etablieren. Er propagierte aber offensiv rassenhygienisches Gedankengut und hat an dessen 13 Breiding (wie Anm. 10), vgl. weiter ebd., S. 100 – 105. 14 Ebd., S. 105 f. praktischer Umsetzung aktiv mitgewirkt. Während Jensen in Dresden 1947 in der Haft umkam, 15 Ebd., S.111 f. lebte Boehm in Gießen weitgehend unbehelligt, bevor auch er mit 78 Jahren verstarb. 16 Vgl. Stadtarchiv Dresden (wie Anm. 5). 17 Hermann Jensen: Naturheilkunde und Chirurgie, in: C. Adam [Hg.]: Die natürliche Heilweise im Rahmen der Ge- samtmedizin, Jena 1938, S. 299. 18 Mai (wie Anm. 6). 19 Inwieweit hier tatsächlich solche Sterilisationen durch- geführt worden sind, ist nicht überliefert, aber ebenso wenig ist Widerstand dagegen dokumentiert. 20 Mündliche Auskunft von Hildegard Dietrich-Schneider am 10. 11. 1994, mündliche Auskunft von Theodor Matthes am 10. 7. 2000. 21 Mündliche Auskunft von Friedrich Karl Fromme am 5. 7. 2000. 22 Mündliche Auskunft von Theodor Matthes am 10. 7. 2000. 23 Brief von Hermann Jensen an Dr. Ernst vom 7. 6. 1945, Privatbesitz. 24 Schriftliche Auskunft von Elisabeth Schenk vom 10. 7. 1995. 25 BArch, BDC, Alois Böhm, SA-Personalbogen. 26 Ebd.

150 Rassen hygi en e H ermann Jensen und Alois Boehm 151 seinen Wegen und Motiven nachzuspüren, ist das Grundanliegen dieses Buches. und Personenkreis weiten Kunst.Diesem der und Wissenschaft der Kirche, der Repräsentantenauch aus der Justiz, der Medizin, der Wirtschaft,sondern der Architektur,vor, Gestapo-Leute und SS- SA-, nur nicht stellt Beiträgen 42 und ren viele Täter und Akteure ihre »Arbeit« verrichteten. Der Sammelband mit 33 Auto- zu viel der in Reich«, »Dritten Gauhauptstadtim wichtige eine ebenso sondern Dresden war – mit Blick auf den 13. Februar 1945 – nicht nur eine »Stadt der Opfer«, I d n a S B S N 7 222-8 7 - 85 - 2 4242 9 - 3 - 978 s n i e t

Braune Karrieren