Plenarprotokoll 16/118

Deutscher

Stenografischer Bericht

118. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- (FDP) ...... 12144 C neten Peter Götz, Gerd Bollmann und Jörg van Essen ...... 12137 A (CDU/CSU) ...... 12146 B Wahl des Abgeordneten Christoph Waitz als Dr. (DIE LINKE) ...... 12148 A Mitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Un- (SPD) ...... 12150 C terlagen-Gesetzes ...... 12137 B (BÜNDNIS 90/ Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- DIE GRÜNEN) ...... 12152 C nung ...... 12137 B Dr. (CDU/CSU) ...... 12155 B Absetzung der Tagesordnungspunkte 8, 13 und 26 ...... 12138 C Jörg Rohde (FDP) ...... 12157 A Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 12138 D Klaus Brandner (SPD) ...... 12158 B Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . 12160 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 12161 A Tagesordnungspunkt 3: Rolf Stöckel (SPD) ...... 12161 D Abgabe einer Erklärung durch die Bundesre- gierung: Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand – (Hamm) (CDU/CSU) ...... 12163 A Chancen für den Arbeitsmarkt ...... 12138 D Namentliche Abstimmung ...... 12164 B in Verbindung mit Ergebnis ...... 12167 B

Zusatztagesordnungspunkt 4: Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Dirk Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. , wei- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: CDU/CSU und SPD eingebrachten Ent- Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit wurfs eines Gesetzes zur Errichtung ei- an Beitragszahler zurückgeben – Beitrags- nes Sondervermögens „Kinderbetreu- senkungspotenziale nutzen ungsausbau“ (Drucksache 16/6434) ...... 12138 D (Drucksache 16/6596) ...... 12164 C Franz Müntefering, Bundesminister b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, BMAS ...... 12139 A , Dr. , weiterer II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Abgeordneter und der Fraktion DIE Dr. , Bundesministerin LINKE: Kinderbetreuungsausbau mit BMFSFJ ...... 12182 C mehr Mitteln, Fachkräften und Quali- tät ausstatten – Rechtsanspruch auf Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ Ganztagsbetreuung 2010 einführen DIE GRÜNEN) ...... 12184 C (Drucksache 16/6601) ...... 12164 C (SPD) ...... 12185 C c) Antrag der Abgeordneten Ekin Deligöz, Grietje Bettin, , weiterer Ab- Miriam Gruß (FDP) ...... 12186 C geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 12187 C DIE GRÜNEN: Angebot und Qualität der Kindertagesbetreuung schneller Dieter Steinecke (SPD) ...... 12189 A und verlässlicher ausbauen – Realisie- rung nicht erst 2013 (Drucksache 16/6607) ...... 12164 D d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Tagesordnungspunkt 34: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsge- a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- rechtes Angebot an Kindertagesbetreu- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- ung für Kinder unter drei Jahren 2007 derung des Wohngeldgesetzes und des (Drucksache 16/6100) ...... 12165 A Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache 16/4019) ...... 12190 A in Verbindung mit b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines … Ge- setzes zur Änderung des Jugendge- richtsgesetzes und anderer Gesetze Zusatztagesordnungspunkt 5: (Drucksachen 16/6293, 16/6568) ...... 12190 A Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Miriam Gruß, , weiterer Abgeordne- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- ter und der Fraktion der FDP: Chancenge- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- rechtigkeit von Beginn an ten Gesetzes zur Änderung des Regio- (Drucksache 16/6597) ...... 12165 A nalisierungsgesetzes (Drucksache 16/6310) ...... 12190 B (Erfurt) (SPD) ...... 12165 B d) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ina Lenke (FDP) ...... 12165 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Finanzierung der Beendigung (FDP) ...... 12166 A des subventionierten Steinkohlenberg- baus zum Jahr 2018 (Steinkohlefinan- Steffen Kampeter (CDU/CSU) ...... 12171 A zierungsgesetz) (Drucksache 16/6566) ...... 12190 B Otto Fricke (FDP) ...... 12172 C

Diana Golze (DIE LINKE) ...... 12173 B e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Nicolette Kressl (SPD) ...... 12175 C zes zur Regelung der Weiterverwen- dung nach Einsatzunfällen (Einsatz- Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 12175 D Weiterverwendungsgesetz – Einsatz- WVG) Diana Golze (DIE LINKE) ...... 12176 A (Drucksache 16/6564) ...... 12190 C

Krista Sager (BÜNDNIS 90/ f) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 12176 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirt- Peer Steinbrück, Bundesminister schaftsplans des ERP-Sondervermögens BMF ...... 12178 B für das Jahr 2008 (ERP-Wirtschafts- (BÜNDNIS 90/ plangesetz 2008) DIE GRÜNEN) ...... 12178 C (Drucksache 16/6565) ...... 12190 C

Otto Fricke (FDP) ...... 12180 D g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Ina Lenke (FDP) ...... 12181 D zes zur Änderung des Bundesversor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 III

gungsgesetzes und anderer Vorschriften Zusatztagesordnungspunkt 6: des Sozialen Entschädigungsrechts (Drucksache 16/6541) ...... 12190 C a) Antrag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Christian h) Erste Beratung des von der Bundesregie- Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Fraktion der FDP: Notwendige Verbesse- ten Gesetzes zur Änderung des Zwölf- rungen am Telemediengesetz jetzt ange- ten Buches Sozialgesetzbuch und hen anderer Gesetze (Drucksache 16/5613) ...... 12191 C (Drucksache 16/6542) ...... 12190 D b) Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, , Angelika i) Erste Beratung des von der Bundesregie- Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- der Fraktion der FDP: Verpackungsver- zes zu dem Abkommen vom 9. Februar ordnung sachgerecht novellieren – Wei- 2007 zwischen der Bundesrepublik chen stellen für eine moderne Abfall- Deutschland und Australien über die und Verpackungswirtschaft in Deutsch- Soziale Sicherheit von vorübergehend land im Hoheitsgebiet des anderen Staates (Drucksache 16/6598) ...... 12191 C beschäftigten Personen („Ergänzungs- abkommen“) (Drucksache 16/6567) ...... 12190 D j) Erste Beratung des von der Bundesre- Tagesordnungspunkt 35: gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Fi- a) Zweite und dritte Beratung des von der nanzverwaltungsgesetzes und anderer Bundesregierung eingebrachten Entwurfs Gesetze eines Zweiten Gesetzes über die Bereini- (Drucksache 16/6560) ...... 12190 D gung von Bundesrecht im Zuständig- keitsbereich des Bundesministeriums k) Erste Beratung des von der Bundesregie- der Justiz rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten (Drucksachen 16/5051, 16/6626) ...... 12191 D Gesetzes zur Änderung des Legehen- nenbetriebsregistergesetzes b) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksache 16/6559) ...... 12191 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Pflichtversicherungsgesetzes und l) Antrag der Abgeordneten , anderer versicherungsrechtlicher Vor- , Patrick Meinhardt, weiterer schriften Abgeordneter und der Fraktion der FDP: (Drucksachen 16/5551, 16/6627) ...... 12192 A Deutsche Forschungsflotte leistungsfä- hig erhalten – mittel- und langfristige Programme erarbeiten c) Zweite und dritte Beratung des von der (Drucksache 16/4064) ...... 12191 A Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zur Änderung des Eu- m) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- ropäischen Übereinkommens vom schung und Technikfolgenabschätzung ge- 30. September 1957 über die internatio- mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- nale Beförderung gefährlicher Güter nikfolgenabschätzung (TA) auf der Straße (ADR) TA-Projekt: Biobanken für die human- (Drucksachen 16/6121, 16/6610) ...... 12192 B medizinische Forschung und Anwen- dung d) Beschlussempfehlung und Bericht des (Drucksache 16/5374) ...... 12191 A Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, n) Unterrichtung durch die Bundesregierung: , Elisabeth Scharfenberg, Nationales Reformprogramm Deutsch- weiterer Abgeordneter und der Fraktion land 2005 bis 2008 BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bioethi- Umsetzungs- und Fortschrittsbericht sche Grundsätze auch bei Arzneimitteln 2007 für neuartige Therapien sicherstellen (Drucksache 16/4560) ...... 12191 B (Drucksachen 16/4853, 16/5582) ...... 12192 C IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 e) Beschlussempfehlung des Rechtsausschus- der Bundesregierung über die Zusam- ses: Übersicht 8 über die dem Deutschen menarbeit in Angelegenheiten der Eu- Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor ropäischen Union dem Bundesverfassungsgericht (Drucksache 16/6452) ...... 12192 D – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus Löning, Dr. , Michael Link f) – m) (Heilbronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: EU-Regierungs- Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- konferenz schnell zum Erfolg führen schusses: Sammelübersichten 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275 und 276 zu Peti- – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder tionen Steenblock, Jürgen Trittin, Omid (Drucksachen 16/6443, 16/6444, 16/6445, Nouripour, weiterer Abgeordneter und der 16/6446, 16/6447, 16/6448, 16/6449, Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 16/6450) ...... 12192 D EU-Regierungskonferenz – Für eine handlungsfähige und demokratische EU

Tagesordnungspunkt 5: (Drucksachen 16/6399, 16/5882, 16/5888, 16/6632) ...... 12203 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- Dr. Frank-Walter Steinmeier, torsicherheit zu dem Antrag der Abgeordne- Bundesminister AA ...... 12203 C ten Hans-Josef Fell, , , weiterer Abgeordneter und der Markus Löning (FDP) ...... 12205 A Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein- führung eines Erneuerbare Energien Wär- (CDU/CSU) ...... 12206 B megesetzes – EEW (Drucksachen 16/3826, 16/5361) ...... 12193 C Dr. (DIE LINKE) ...... 12208 A

Dirk Becker (SPD) ...... 12193 D Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12209 D Michael Kauch (FDP) ...... 12195 B Michael Roth (Heringen) (SPD) ...... 12210 D Dr. (CDU/CSU) ...... 12196 C (FDP) ...... 12212 B Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 12198 B (CDU/CSU) ...... 12213 B , Bundesminister BMU ...... 12199 A Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... Michael Kauch (FDP) ...... 12199 C 12214 D

Josef Göppel (CDU/CSU) ...... 12201 A (SPD) ...... 12215 D

Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) ...... 12217 B DIE GRÜNEN) ...... 12201 D Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU) ...... 12218 A

Tagesordnungspunkt 6: Tagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- päischen Union rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Reform des Verfahrens in Fami- – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ liensachen und in den Angelegenheiten CSU und SPD: Regierungskonferenz zur der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGG- Änderung der vertraglichen Grundla- Reformgesetz – FGG-RG) gen der Europäischen Union und Un- (Drucksache 16/6308) ...... 12219 C terrichtung der Bundesregierung ent- sprechend Ziffer VI der Vereinbarung b) Erste Beratung des von der Bundesre- zwischen Deutschem Bundestag und gierung eingebrachten Entwurfs eines Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 V

Gesetzes zur Klärung der Vaterschaft Tagesordnungspunkt 9: unabhängig vom Anfechtungsverfahren (Drucksache 16/6561) ...... 12219 C a) Erste Beratung des von den Abgeordneten , , Ingrid c) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Arndt-Brauer und weiteren Abgeordneten brachten Entwurfs eines Gesetzes über eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes genetische Untersuchungen zur Klä- zur Änderung des Grundgesetzes zur rung der Abstammung in der Familie Verankerung der Generationengerech- (Drucksache 16/5370) ...... 12219 C tigkeit (Generationengerechtigkeitsge- setz) , Bundesministerin (Drucksache 16/3399) ...... 12236 A BMJ ...... 12219 D b) Antrag der Abgeordneten Diana Golze, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger , , weiterer Abge- (FDP) ...... 12221 A ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Soziale Gerechtigkeit statt Generatio- (CDU/CSU) ...... 12222 A nenkampf – Für eine nachhaltige Poli- tik des Sozialstaates im Interesse von Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 12223 C Jung und Alt (Drucksache 16/6599) ...... 12236 B (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12224 C Peter Friedrich (SPD) ...... 12236 C (SPD) ...... 12225 C (Münster) (FDP) ...... 12240 B Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 12226 D (CDU/CSU) ...... 12241 B

Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 12242 C

Zusatztagesordnungspunkt 7: Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12243 D Antrag der Abgeordneten Jürgen Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Birgit Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 12244 A Homburger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Missbilligung der Äuße- Dr. Carl-Christian Dressel (SPD) ...... 12245 B rungen des Bundesministers der Verteidi- gung Dr. zum Abschuss Michael Kauch (FDP) ...... 12246 C von in Terrorabsicht entführten Flugzeu- gen Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 12247 C (Drucksache 16/6490) ...... 12228 B Michael Kauch (FDP) ...... 12247 D Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) ...... 12228 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 12248 A Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 12229 A Michael Kauch (FDP) ...... 12248 B Bernd Siebert (CDU/CSU) ...... 12230 A Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 12248 C Jan Korte (DIE LINKE) ...... 12231 D

Olaf Scholz (SPD) ...... 12232 C Tagesordnungspunkt 10: Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12234 B Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 12235 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Dr. Namentliche Abstimmung ...... 12236 A , weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Zwangsverren- tung stoppen – Beschäftigungsmöglich- Ergebnis ...... 12238 A keiten Älterer verbessern VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

– zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD) ...... 12267 C Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Dr. (DIE LINKE) ...... 12269 A Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zwangsverrentung von Langzeitarbeits- losen ausschließen Tagesordnungspunkt 15: (Drucksachen 16/5902, 16/5429, 16/6625) . . 12250 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Anton Schaaf (SPD) ...... 12250 B schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 12251 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus Karl Schiewerling (CDU/CSU) ...... 12252 C Weinberg, , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion Klaus Ernst (DIE LINKE) ...... 12254 C der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. , Jörg Tauss, Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ Nicolette Kressl, weiterer Abgeordneter DIE GRÜNEN) ...... 12255 B und der Fraktion der SPD: Bildungsbe- richterstattung fortführen und weiter- entwickeln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Tagesordnungspunkt 11: Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Zweite und dritte Beratung des von der Bun- der FDP: Bildungsberichterstattung in desregierung eingebrachten Entwurfs eines Deutschland und deren Weiterentwick- Gesetzes zur Neuregelung des Rechtsbera- lung tungsrechts (Drucksachen 16/3655, 16/6634) ...... 12256 C – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, Krista Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Sager, weiterer Abgeordneter und der BMJ ...... 12256 C Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bildungsforschung und Bildungsbe- Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 12257 C richterstattung stärken

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 12258 C (Drucksachen 16/5415, 16/5409, 16/5412, 16/6614) ...... 12269 C Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 12260 A

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12261 B Tagesordnungspunkt 14: Christoph Strässer (SPD) ...... 12262 A Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien zu dem An- trag der Abgeordneten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, Dr. Karl Tagesordnungspunkt 12: Addicks, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Klare Konzepte für den Bau Antrag der Abgeordneten Dr. , des Berliner Schlosses Kerstin Andreae, Cornelia Behm, weiterer (Drucksachen 16/5961, 16/6595) ...... 12270 B Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte der Ver- Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) ...... 12270 C braucherinnen und Verbraucher beim Ver- kauf von Immobilienkrediten stärken (Drucksache 16/5595) ...... 12263 B Tagesordnungspunkt 17: Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12263 C a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 12264 C zes zur Förderung der betrieblichen Al- tersversorgung (CDU/CSU) ...... 12266 A (Drucksache 16/6539) ...... 12272 A Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 VII b) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. nation im Europäischen Forschungsraum Kolb, , Daniel Bahr verbessern (Münster), weiterer Abgeordneter und der (Drucksache 16/6454) ...... 12273 A Fraktion der FDP: Abgabenfreie Entgelt- umwandlung über 2008 hinaus fortfüh- ren und ausbauen (Drucksache 16/6433) ...... 12272 A Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von der Bundesregierung in Verbindung mit eingebrachten Entwurfs eines Neunten Ge- setzes zur Änderung des Versicherungsauf- sichtsgesetzes (Drucksache 16/6518) ...... 12273 A Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Irmingard Schewe- Gerigk, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, Tagesordnungspunkt 20: weiterer Abgeordneter und der Fraktion a) Antrag der Abgeordneten , BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Beitragsfreie Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, wei- Entgeltumwandlung – Erst prüfen, dann terer Abgeordneter und der Fraktion der entscheiden FDP: Deutschland muss rüstungskon- (Drucksache 16/6606) ...... 12272 A trollpolitische Glaubwürdigkeit bewei- sen – Angepassten KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstimmung vorlegen Tagesordnungspunkt 16: (Drucksache 16/6431) ...... 12273 B b) Antrag der Abgeordneten Winfried Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- Nachtwei, , Jürgen ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Trittin, weiterer Abgeordneter und der , , Sevim Dağdelen, wei- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: terer Abgeordneter und der Fraktion DIE Angepassten Vertrag über Konventio- LINKE: Bleiberecht als Menschenrecht nelle Streitkräfte in Europa ratifizieren (Drucksachen 16/3912, 16/4827) ...... 12272 B (Drucksache 16/6605) ...... 12273 C

in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 19: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Zusatztagesordnungspunkt 9: zes zur Modernisierung des Rechts der Antrag der Abgeordneten Dr. Karl-Theodor landwirtschaftlichen Sozialversicherung Freiherr zu Guttenberg, , (LSVMG) (Lübeck), weiterer Abgeordneter (Drucksache 16/6520) ...... 12272 C und der Fraktion der CDU/CSU sowie der b) Unterrichtung durch den Präsidenten des Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert Bundesrechnungshofes: Bericht nach Weisskirchen (Wiesloch), , wei- § 99 der Bundeshaushaltsordnung über terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: die Umsetzung und Weiterentwicklung Die Krise des KSE-Vertrages durch neue der Organisationsreform in der land- Impulse für konventionelle Abrüstung und wirtschaftlichen Sozialversicherung Rüstungskontrolle in Europa beenden (Drucksache 16/6147) ...... 12272 D (Drucksache 16/6603) ...... 12273 C

Tagesordnungspunkt 23: Tagesordnungspunkt 18: Erste Beratung des von der Bundesregierung Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gehring, Priska Hinz (Herborn), weiterer Ab- Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ buch und anderer Gesetze DIE GRÜNEN: Kooperation und Koordi- (Drucksache 16/6540) ...... 12273 D VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Tagesordnungspunkt 22: Anlage 2

Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Mündliche Frage 11 schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Verbraucherschutz zu dem Antrag der Abge- DIE GRÜNEN) ordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, Bärbel Höhn Speicherung von IP-Adressen und weiteren und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Daten von Nutzern der Internetseiten von NEN: Dem Verlust an Agrobiodiversität Bundesministerien und nachgeordneten Einrichtungen unter anderem durch das entgegenwirken Bundeskriminalamt, insbesondere vor dem (Drucksachen 16/5413, 16/5752) ...... 12274 A Hintergrund des Berufungsurteils des Landgerichts Berlin gegen das Bundesjus- tizministerium

Tagesordnungspunkt 25: Antwort , Parl. Staatssekretär Antrag der Abgeordneten Klaus Brähmig, BMI Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter Friedrich (117. Sitzung, Tagesordnungspunkt 2) ...... 12277 C (Hof), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der Anlage 3 Fraktion der SPD: Messen und Geschäftsrei- sen als Chance für den Tourismusstandort Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Deutschland der Beschlussempfehlung und des Berichts zu (Drucksache 16/5958) ...... 12274 B den Anträgen: – Bildungsberichterstattung fortführen und weiterentwickeln

Tagesordnungspunkt 24: – Bildungsberichterstattung in Deutschland und deren Weiterentwicklung Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- – Bildungsforschung und Bildungsbericht- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Horst erstattung stärken Friedrich (Bayreuth), Michael Kauch, Jan Mücke, weiterer Abgeordneter und der Frak- (Tagesordnungspunkt 15) tion der FDP: Oldtimer von Feinstaub- Fahrverboten ausnehmen Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) ...... 12278 A (Drucksachen 16/4060, 16/6327) ...... 12274 C Cornelia Pieper (FDP) ...... 12279 D

Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 12281 A

Zusatztagesordnungspunkt 10: Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12281 D Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Andreas Storm, Parl. Staatssekretär Neuregelung des Wohngeldrechts und zur BMBF ...... 12282 C Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften (Drucksache 16/6543) ...... 12275 A Anlage 4 Nächste Sitzung ...... 12275 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Klare Konzepte für den Bau des Berliner Schlosses (Tagesordnungspunkt 14)

Anlage 1 (CDU/CSU) ...... 12284 A Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 12277 A Petra Weis (SPD) ...... 12284 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 IX

Dr. h. c. (SPD) ...... 12284 C Anlage 7

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) ...... 12285 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung:

Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ – Entwurf eines Gesetzes zur Modernisie- DIE GRÜNEN) ...... 12285 D rung des Rechts der landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG)

– Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun- deshaushaltsordnung über die Umsetzung Anlage 5 und Weiterentwicklung der Organisations- reform in der landwirtschaftlichen Sozial- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: versicherung

– Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der (Tagesordnungspunkt 19 a und b) betrieblichen Altersversorgung (CDU/CSU) ...... 12297 B – Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwand- lung über 2008 hinaus fortführen und aus- (CDU/CSU) ...... 12299 A bauen Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 123000000 AB – Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prüfen, dann entscheiden Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 12301 A

(Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- Dr. (DIE LINKE) ...... 12301 D nungspunkt 8) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12302 C Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . 12286 B , Parl. Staatssekretär Gabriele Hiller-Ohm (SPD) ...... 12287 C BMAS ...... 12303 B Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) ...... 12289 A

Volker Schneider (Saarbrücken) Anlage 8 (DIE LINKE) ...... 12290 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ des Antrags: Kooperation und Koordination DIE GRÜNEN) ...... 12291 C im Europäischen Forschungsraum verbessern (Tagesordnungspunkt 18) Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS ...... 12292 B Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU) ...... 12304 A

René Röspel (SPD) ...... 12305 D Anlage 6 Cornelia Pieper (FDP) ...... 12307 B

Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. (DIE LINKE) ...... 12308 D der Beschlussempfehlung und des Berichts: Bleiberecht als Menschenrecht (Tagesord- Krista Sager (BÜNDNIS 90/ nungspunkt 16) DIE GRÜNEN) ...... 12310 B (CDU/CSU) ...... 12292 D

Rüdiger Veit (SPD) ...... 12293 D Anlage 9

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 12294 C Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Än- Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 12295 C derung des Versicherungsaufsichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21) Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12296 D Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 12311 B X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) ...... 12312 B Gerd Andres, Parl. Staatssekretär BMAS ...... 12327 C Frank Schäffler (FDP) ...... 12313 D

Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 12314 B

Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Anlage 12 DIE GRÜNEN) ...... 12315 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegen- wirken (Tagesordnungspunkt 22) Anlage 10 Johannes Röring (CDU/CSU) ...... 12328 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. (SPD) ...... 12329 B der Anträge: Gabriele Groneberg (SPD) ...... 12330 A – Deutschland muss rüstungskontrollpoliti- sche Glaubwürdigkeit beweisen – Ange- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 12330 C passten KSE-Vertrag dem Deutschen Bun- destag zur Abstimmung vorlegen Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 12331 C Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ – Angepassten Vertrag über Konventionelle DIE GRÜNEN) ...... 12332 B Streitkräfte in Europa ratifizieren

– Die Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse für konventionelle Abrüstung und Rüstungskontrolle in Europa beenden Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (Tagesordnungspunkt 20 a und b und Zusatz- des Antrags: Messen und Geschäftsreisen als tagesordnungspunkt 9) Chance für den Tourismusstandort Deutsch- land (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) ...... 12316 A Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 12333 A

Dr. Rolf Mützenich (SPD) ...... 12317 C Anita Schäfer (Saalstadt) (CDU/CSU) . . . . . 12334 A Brunhilde Irber (SPD) ...... 12335 A Elke Hoff (FDP) ...... 12318 C (FDP) ...... 12336 C Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 12319 C Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 12337 C (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12320 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12338 B

Anlage 11 Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an- dem Antrag: Oldtimer von Feinstaub-Fahrver- derer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23) boten ausnehmen (Tagesordnungspunkt 24)

Michael Hennrich (CDU/CSU) ...... 12321 C Dr. (CDU/CSU) ...... 12338 D Anton Schaaf (SPD) ...... 12324 A Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) ...... 12340 A Heinz-Peter Haustein (FDP) ...... 12325 B Patrick Döring (FDP) ...... 12341 A Katja Kipping (DIE LINKE) ...... 12326 B Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 12342 B Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 12327 A DIE GRÜNEN) ...... 12343 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 XI

Anlage 15 Sören Bartol (SPD) ...... 12345 A Joachim Günther (Plauen) (FDP) ...... Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung 12346 A des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung (DIE LINKE) ...... 12346 C des Wohngeldrechts und zur Änderung ande- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ rer wohnungsrechtlicher Vorschriften (Zusatz- DIE GRÜNEN) ...... 12347 B tagesordnungspunkt 10) Karin Roth, Parl. Staatssekretärin (CDU/CSU) ...... 12344 B BMVBS ...... 12348 A

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12137

(A) (C) Redetext

118. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Leibrecht, Dr. Werner Hoyer, Jens Ackermann, Die Sitzung ist eröffnet. Guten Morgen, liebe Kolle- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ginnen und Kollegen! Den Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Ich habe einige Mitteilungen zu machen, bevor wir in Birma/Myanmar stärken unsere Tagesordnung eintreten. – Drucksachen 16/5608, 16/6611 – In der letzten Septemberwoche haben die Kollegen Berichterstattung: Peter Götz, Gerd Bollmann und Jörg van Essen ihre Abgeordnete Holger Haibach 60. Geburtstage gefeiert. Detlef Dzembritzki Harald Leibrecht (Beifall) Monika Knoche Im Namen des ganzen Hauses möchte ich dazu herzlich Kerstin Müller (Köln) (B) gratulieren und alle guten Wünsche übermitteln. (ZP 1 bis ZP 3 siehe 117. Sitzung) (D) Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Christoph Waitz anstelle der Kollegin Gisela Piltz Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, neues Mitglied im Beirat nach § 39 des Stasi-Unter- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP lagen-Gesetzes werden soll. Sind Sie mit diesem Vor- schlag einverstanden? – Das sieht ganz so aus. Dann ist Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an der Kollege Christoph Waitz in den Beirat gewählt. Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen- kungspotenziale nutzen Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge- – Drucksache 16/6434 – führten Punkte zu erweitern: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) ZP 1 Aktuelle Stunde Ausschuss für Wirtschaft und Technologie auf Verlangen der Fraktionen FDP und DIE Haushaltsausschuss LINKE ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina Lenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weiterer Haltung der Bundesregierung zu Veränderun- Abgeordneter und der Fraktion der FDP gen bei der Bezugsdauer des Arbeitslosengel- des I und bei der Rente ab 67 und entspre- Chancengerechtigkeit von Beginn an chenden Äußerungen des Bundesministers für – Drucksache 16/6597 – Arbeit und Soziales Franz Müntefering Überweisungsvorschlag: ZP 2 Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales SPD und FDP Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Menschenrechte und Demokratie in Birma Haushaltsausschuss durchsetzen ZP 6 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- – Drucksache 16/6600 – fahren (Ergänzung zu TOP 34) ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- a) Beratung des Antrags der Abgeordneten schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph 12138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Waitz, Christian Ahrendt, weiterer Abgeord- Überweisungsvorschlag: (C) neter und der Fraktion der FDP Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Notwendige Verbesserungen am Tele- Verteidigungsausschuss mediengesetz jetzt angehen ZP 10 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/5613 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- Überweisungsvorschlag: gelung des Wohngeldrechts und zur Änderung Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften Ausschuss für Kultur und Medien – Drucksache 16/6543 – b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Überweisungsvorschlag: Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Rechtsausschuss Fraktion der FDP Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Verpackungsverordnung sachgerecht novel- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO lieren – Weichen stellen für eine moderne Abfall- und Verpackungswirtschaft in Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Deutschland weit erforderlich, abgewichen werden. – Drucksache 16/6598 – Die Tagesordnungspunkte 8, 13 und 26 werden abge- Überweisungsvorschlag: setzt. In der Folge werden die Tagesordnungspunkte 14 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und und 15, 16 und 17, 18 und 19, 20 und 21, 22 und 23 so- Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie wie 24 und 25 jeweils getauscht. Das ist ja alles sehr Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und übersichtlich und deswegen sicherlich sofort verständ- Verbraucherschutz lich. ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus- Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der merksam: Fraktion der FDP Der in der 115. Sitzung des Deutschen Bundestages Missbilligung der Äußerungen des Bundes- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll nachträg- ministers der Verteidigung Dr. Franz Josef (B) Jung zum Abschuss von in Terrorabsicht ent- lich zusätzlich an den Rechtsausschuss (6. Ausschuss) (D) führten Flugzeugen und den Ausschuss für Tourismus (20. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. – Drucksache 16/6490 – Jahressteuergesetzentwurf der Bundesregie- ZP 8Beratung des Antrags der Abgeordneten rung 2008 (JStG 2008) Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- – Drucksache 16/6290 – tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prü- Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss fen, dann entscheiden Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/6606 – Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Ausschuss für Tourismus Finanzausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Sind Sie mit diesen vorgetragenen Veränderungen Ausschuss für Gesundheit einverstanden? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist Haushaltsausschuss das so beschlossen. ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl- Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatz- Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge- punkt 4 auf: ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie 3 Abgabe einer Erklärung durch die Bundesregie- der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, (Wiesloch), Niels Annen, weiterer rung Abgeordneter und der Fraktion der SPD Aufschwung, Teilhabe, Wohlstand – Chancen Die Krise des KSE-Vertrages durch neue für den Arbeitsmarkt Impulse für konventionelle Abrüstung und ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk Rüstungskontrolle in Europa beenden Niebel, Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, – Drucksache 16/6603 – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12139

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an tisch gelähmte junge Menschen in Rollstühlen. Diese (C) Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen- jungen Frauen sind aus Wuppertal und arbeiten als As- kungspotenziale nutzen sistentinnen, als Betreuerinnen für diese jungen Men- schen. Wenn man das erlebt, weiß man, dass es großartig – Drucksache 16/6434 – ist, wie sie sich da engagieren. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Haushaltsausschuss Ich nenne junge Auszubildende, die ich in München Zu der Regierungserklärung liegt ein Entschließungs- kennengelernt habe. Sie stehen jeden Morgen so auf, antrag der Fraktion der FDP vor, über den wir später na- dass sie um 5 Uhr losfahren können irgendwo im Bay- mentlich abstimmen werden. Ich weise jetzt auch schon ern-Land, um in München die Ausbildung zu machen. darauf hin, dass wir im Laufe des Nachmittags, vermut- Sie sagen: Jawohl, wir machen das. Wir lernen, wir wol- lich gegen 17 Uhr, eine weitere namentliche Abstim- len die Ausbildung, und wir wollen anschließend in ei- mung haben werden. nen guten Beruf hineinkommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Ich nenne eine große Spedition, die sich, was die Aus- die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- zubildenden angeht, entschieden hat, zunächst einmal rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich höre dazu 100 Ausbildungsplätze für Hauptschülerinnen und Haupt- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. schüler anzubieten. Sie sagen: Wir stellen 300 ein; Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat 100 davon nehmen wir aus der Hauptschule. der Bundesminister für Arbeit und Soziales, Franz (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Müntefering. bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ich nenne die Laufer Mühle, eine Einrichtung, in der ich vor wenigen Wochen war – Frau Schmidt und Herr Franz Müntefering, Bundesminister für Arbeit und Müller waren dabei –, wo wir mit Menschen sehr enga- Soziales: giert darüber gesprochen haben, was sie tun, damit die, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und die sonst keine Chance am Arbeitsmarkt hätten, solche Herren! Wir haben unser Regierungsprogramm in Mese- Chancen bekommen. berg mit dem Satz eingeleitet: Ich nenne dies alles stellvertretend. Vieles wäre noch (B) Deutschland befindet sich im Wandel. Die Globali- zu nennen. Was ich damit sagen will, ist: Es sind in (D) sierung und die demographische Entwicklung stel- Deutschland viele neben der Politik, außerhalb der Poli- len Politik und Gesellschaft vor große Herausforde- tik unterwegs, die sich engagieren und die mithelfen, rungen dass dieses Land vorankommt. Denen sagen wir unseren Dank und unseren Respekt. – aber auch vor große Chancen. Dann haben wir die Wege und die Instrumente beschrieben und vorgezeich- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) net, die zu diesen Zielen führen: zu Aufschwung, zu Teilhabe, zu Wohlstand in Deutschland. Zu diesen We- Wir tun unsere politische Arbeit, und wir tun sie mit gen und Instrumenten will ich sprechen. Zuversicht. Denn die vergangenen Jahre haben gezeigt: Gestaltung ist möglich, auch ehrgeizige Ziele sind er- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Bundesregie- reichbar. Wir simulieren keinen Idealzustand für rung nimmt die Herausforderung an und nutzt die Chan- Deutschland. Aber es gibt auch keinen Grund zur Ver- cen. Wir sind dankbar für jeden, der dabei mitmacht: in zagtheit. Die Aufgaben sind groß. Wir wissen, die Ar- der Wirtschaft, den Gewerkschaften, den Verbänden, den beitslosigkeit ist hoch, sie ist zu hoch. Die Verteilung der Kirchen, den Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. Ich Bildungs- und Lebenschancen ist ungerecht. Auch die will stellvertretend einige nennen. Verteilung des Vermögens ist ungerecht. Aber das Poten- zial für eine gute und erfolgreiche gemeinsame Zukunft Ich nenne Betriebsräte aus Nordhausen, die sich enga- in unserem Land ist groß. Vom Erfolg aller sollen alle gieren für die Kolleginnen und Kollegen, die Sorge ha- sozial gerecht profitieren – heute, aber auch morgen und ben um ihre Arbeitsplätze. Ich nenne kleine und große übermorgen. Deshalb müssen wir heute die Saat legen Unternehmen, die wir auszeichnen für ihr vorbildliches für den Wohlstand von morgen und für nachhaltiges und Verhalten in ihren Unternehmen im Zusammenwirken dauerhaftes Wachstum auch für die nächsten Jahrzehnte. mit ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ich nenne die Integration durch Sportaktionen in Ber- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) lin-Kreuzberg, wo Ehrenamtliche in den Vereinen dafür Heute dürfen wir selbstbewusst feststellen: Die An- sorgen, dass junge Menschen von der Straße geholt wer- strengung zahlt sich aus. Deutschland ist auf einem gu- den und eine Perspektive bekommen. ten Weg. Die Bundesregierung der Großen Koalition ist (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fest entschlossen, zum Nutzen unseres Landes und sei- ner Menschen diesen Weg zu gehen, auch wenn es an- Ich nenne zwei junge Frauen, die ich gestern kennen- strengend ist – und es ist anstrengend; manchmal ma- gelernt habe. Sie begleiteten schwer behinderte, spas- chen wir es uns unnötig anstrengend. 12140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesminister Franz Müntefering (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- land bleiben können. Wir, Bund, Länder und Gemeinden (C) neten der SPD) – ich nenne die beiden Letztgenannten ganz ausdrück- lich –, müssen den Mut haben, die Arbeitsplätze, die es Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Weg zu Wachs- gibt, zu heben. tum, Teilhabe und Wohlstand heißt auch und zuvorderst „mehr und gute Arbeit“; denn Arbeit ist sinnstiftend für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) jeden Menschen. Sie ist die Bedingung für Wohlstand, der gemeinsam erwirtschaftet wird. Deshalb bleiben der Wir haben zu Beginn der Koalition das 25-Milliarden- Kampf für mehr und gute Arbeit und die Bekämpfung Programm vereinbart. Das setzt sich fort. Das führt dazu, der Arbeitslosigkeit herausragende Ziele dieser Bun- dass wir in diesem und in den kommenden Jahren stabil desregierung. 9,1 Milliarden Euro für Investitionen des Bundes im Verkehrswesen zur Verfügung haben. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Viertes Beispiel: energetische Gebäudesanierung. Mehr Arbeit ist möglich. Deutschland ist wettbe- Sie ist von besonderem Gewicht und ein Gewinn in drei- werbsfähig. Dazu tragen wir bei, und das werden wir facher Hinsicht: Energetische Gebäudesanierung bringt auch weiter tun. Deutschland hat noch mehr Arbeit, die Arbeitsplätze vor Ort, bei den kleinen und mittleren Un- auch mobilisiert werden muss. Ein paar Beispiele: ternehmen; sie ist gut für den Klimaschutz, und sie amortisiert sich in fünf bis zehn Jahren; denn die Ener- Dienst Mensch am Mensch. Wir haben in Meseberg giepreise werden nie wieder so niedrig sein, wie sie mal beschlossen, dass die Gesundheitsministerin ein Kon- gewesen sind. Wir müssen diese Linie der energetischen zept zu der Idee „Dienst Mensch am Mensch“ im Gebäudesanierung fortsetzen. Wir müssen das intensi- Bereich Pflege vorlegt. Da gibt es gerade in einer älter vieren. Wir müssen die Chance nutzen, mit Umweltthe- werdenden Generation, in einer älter werdenden Gesell- men, mit einer vernünftigen Klimapolitik Arbeitsplätze schaft viele Aufgaben, große Bedarfe und große Chan- zu schaffen. Das ist eine alte Idee, die so aktuell ist, wie cen. Das Gesundheitswesen einschließlich des ganzen sie nur sein kann. Heute wissen wir alle: Wer vernünf- Pflegebereichs ist, wenn man so will, die größte Bran- tige Umweltpolitik, wer vernünftige Klimapolitik macht, che, die wir in dieser Gesellschaft haben. Da wird es Ar- muss deshalb nicht in die Zeit der Sandalen und langen beitsplätze und noch mehr Arbeitsplätze geben als bis- Locken zurückfallen, sondern kann das im Wohlstands- her. Wir müssen dieses ganze System nicht nur begreifen leben aller tun. als etwas, worüber wir sprechen, wie wir Geld sparen wollen. Das Gesundheitswesen und das Pflegewesen (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der sind nicht dann am besten, wenn wir möglichst wenig CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ (B) ausgeben, sondern wenn die Menschen, die darauf ange- DIE GRÜNEN]: Nichts gegen Sandalen!) (D) wiesen sind, etwas davon haben. Das dürfen wir bei all dem, was wir tun, nicht aus den Augen verlieren. – Zwischenfragen sind zwar nicht erlaubt, Zwischenrufe von mir aus aber schon. Ihr seht ja heute auch alle ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie pflegt aus. Das ist mit euch alles anders geworden. des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der Zweites Beispiel: Haushalt. Dass es da Möglichkeiten CDU/CSU – Widerspruch beim BÜND- gibt, mehr und legale und sozialversicherungspflichtige NIS 90/DIE GRÜNEN) Beschäftigung zu organisieren, das zeigt uns zum Bei- spiel unser Nachbar Frankreich. Dienstleistungen im pri- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir Hochleis- vaten Bereich müssen so weit wie möglich aus dem tungsland sein wollen – und das wollen wir –, dann müs- Nebel der Schwarzarbeit herausgeholt und geordnet sen wir Hochbildungsland sein. Wir haben in den ver- werden. 2008 werden wir aktiv werden: Haushalt als gangenen Tagen zur Kenntnis nehmen dürfen, dass die Auftraggeber – das wollen wir stärker systematisieren Nobelpreise für Physik und Chemie an Deutsche verge- und damit zusätzliche Impulse setzen. ben worden sind. Von hier aus meinen und sicherlich Ih- rer aller Glückwunsch an die Professoren Grünberg und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ertl. Drittes Beispiel: Infrastruktur. Gerade bei der Infra- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP struktur leben wir an vielen Stellen von der Substanz; und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des das ist vielen nicht bewusst. Das gilt ganz besonders für BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) den kommunalen Bereich, bei Gebäuden, Wegen und Kanälen. Wir geben deutlich weniger für diesen Bereich Wir sind stolz auf die beiden. Und natürlich: Schönen aus als Anfang der 90er-Jahre. Damals waren es 2,8 Pro- Gruß an all die jungen Grünbergs und Ertls: Macht zent unseres BIP, heute sind es 1,4. Die Gemeinden zum voran! Wir möchten, dass ihr in zehn oder 20 Jahren Beispiel geben aktuell nur 18 Milliarden Euro im Jahr auch die Nobelpreise bekommt. aus. Wir bräuchten aber das Doppelte oder Vierfache. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Fritz Wenn wir heute nicht reparieren und instandsetzen, wird Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und es morgen oder übermorgen um ein Vielfaches teurer. jetzt noch Glückwünsche an die Frauennatio- Deshalb müssen wir in die Infrastruktur des Landes in- nalmannschaft!) vestieren. Diese Infrastruktur ist ein Gut, eine Bedin- gung dafür, dass wir Hochleistungsland und Wohlstands- – Das kommt dazu. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12141

Bundesminister Franz Müntefering (A) Bildung ist unser Schicksal. Bildung ist die entschei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, im September war (C) dende Bedingung, damit wir Wohlstandsland bleiben die Arbeitslosigkeit in Deutschland so niedrig wie seit können. Deutschland muss die Zahl der Schulabbrecher zwölf Jahren nicht mehr: 1 Million arbeitslose Men- deutlich reduzieren und die Zahl der Studenten deutlich schen weniger als vor zwei Jahren, 694 000 weniger als erhöhen. vor einem Jahr. Bei den über 50-Jährigen sind 191 000 weniger arbeitslos – das sind 17,4 Prozent – als vor ei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie nem Jahr. Bei den unter 25-Jährigen sind 103 000 weni- bei Abgeordneten der FDP) ger arbeitslos – das sind 19,6 Prozent – als vor einem Und insbesondere den Kindern mit Migrationshinter- Jahr. Dazu kommen 1 Million offene Stellen. Wann kön- grund müssen wir ein ehrliches und wirksames Angebot nen wir in Deutschland eigentlich von einem Erfolg der machen. politischen Arbeit sprechen, wenn nicht an dieser Stelle? Ich habe einen Bürgerbrief bekommen, der sich, weil (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) er kurz ist, zum Zitieren eignet: Erfolge sind überall vorhanden, aber sie verteilen sich Meine Enkelin Claudia besuchte mich mit Freund regional noch sehr unterschiedlich, dramatisch unter- Fabio. schiedlich. Der Kreis Eichstätt meldet mit 1,8 Prozent Arbeitslosigkeit de facto Vollbeschäftigung, während am So schreibt mir diese Frau. anderen Ende der Skala die Stadt Görlitz mit Fabio stellte sich vor: Schweizer, in Sizilien gebo- 21,6 Prozent eine Arbeitslosigkeit aufweist, die deutlich ren, fünfjährig mit den Eltern in die Schweiz einge- macht: Wir haben das Ziel „Arbeit für alle“ noch lange wandert, kam in die Schule. Der Lehrer stellte nicht erreicht. Deswegen werbe ich für einen Kommu- Sprachschwierigkeiten fest. Da bekam Fabio zwei nalkombi, um in Regionen mit besonders verfestigter Jahre Einzelunterricht in Deutsch auf Staatskosten, Langzeitarbeitslosigkeit mehr Chancen auf Arbeit zu er- machte Abi und studierte. öffnen. Die Briefschreiberin fragt abschließend: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Wie viele deutsche Ingenieure hätten wir mehr, Wir müssen in dieser Situation in Deutschland den Weg wenn wir unsere Immigrantenkinder vergleichbar finden, denen, die aus der Geschichte heraus in ganz be- förderten? sonderer Weise Schwierigkeiten haben, am Arbeitsmarkt Arbeit zu finden, besondere Hilfe zu geben. Wir müssen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie diese Situation des Landes nutzen – 1 Million offene bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und (B) Stellen –, dafür zu werben, dass sich strukturell etwas (D) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) verändert. Ein Unterschied von 20 Prozent zwischen Das ist eine sehr berechtigte und sehr nachdenklich ma- Eichstätt und Görlitz darf nicht bleiben. Dafür müssen chende Frage, eine Frage, die den Finger in die Wunde wir miteinander streiten. legt. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Das gilt auch für Ausbildung. Eine gute Ausbildung Ich bin gegen Schönmalerei. Ich werbe für Realis- ist noch immer der beste Schutz vor Arbeitslosigkeit. mus. Aber ich bin gegen die Propheten des Depressiven, Der Ausbildungsmarkt ist erfolgreich. Zum Beginn des die mir immer noch zu oft begegnen Ausbildungsjahres sind bundesweit bislang 530 700 Aus- bildungsverträge abgeschlossen worden. Aber rund (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 29 000 Jugendliche sind noch unversorgt. Im letzten Jahr der CDU/CSU) um diese Zeit waren es noch knapp 50 000. Das beweist: Es ist besser geworden. Aber trotzdem gilt auch in die- und die eines auf jeden Fall nicht sind, nämlich ins Ge- sem Jahr, dass wir jetzt alle Anstrengungen in die Nach- lingen verliebt. Das muss man aber sein, wenn es gelin- vermittlungen legen müssen, und zwar gemeinsam: Poli- gen soll. tik, Betriebe und Sozialpartner. Die 40 000 Plätze für Dieser Tage, am 4. Oktober, las ich in einer ddp-Ti- Einstiegsqualifizierung, die die Bundesregierung fördert, ckermeldung über die Arbeitslosigkeit in der Gruppe werden dabei entscheidend mithelfen, so wie das Pro- der Älteren, von einer wichtigen Person veranlasst: gramm „U 25“ und der neue Qualifizierungskombi, der rückwirkend am 1. Oktober dieses Jahres in Kraft tritt. Nach wie vor würden jeden Monat rund 100 000 äl- tere Menschen über 50 Jahre arbeitslos, seit Jahres- Ein weiteres wichtiges Element haben die Koalitions- beginn seien es eine Million Menschen. Es seien fraktionen mit dem Konzept „Jugend, Ausbildung und auch kaum mehr Menschen über 50 als früher, die Arbeit“ eingebracht. Wir haben in Meseberg verabredet, wieder einen Job erhielten. Und viele davon fänden dass wir die Prüfung sehr bald abschließen werden und nur kurzfristige Beschäftigung oder Leiharbeit. schauen, was wir in den Bereichen Ausbildungsbonus Hier gebe es dringenden Handlungsbedarf … für überdurchschnittlich ausbildende Betriebe, Ausbil- dungskostenzuschüsse für die Ausbildung bestimmter Richtig ist: Im September gab es mehr als 102 000 Zu- Gruppen von benachteiligten Altbewerbern, Einsatz von gänge aus der Generation 50 plus in Arbeitslosigkeit. Ausbildungspaten und Verstärkung der personellen Res- Es gab aber im September auch 141 000 Abgänge von sourcen der Berufsberatung umsetzen können. „50-Plus-ern“ aus der Arbeitslosigkeit heraus. 12142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesminister Franz Müntefering (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der SPD) (C) CDU/CSU) Die Tarifparteien haben sich auf einen Tarifvertrag geei- Seit Anfang 2007 stehen 1 004 000 Zugänge von nigt und den Antrag auf Aufnahme ins Gesetz und auf „50-Plus-ern“ in Arbeitslosigkeit 1,235 Millionen neuen Allgemeinverbindlichkeit für ihren Tarifvertrag gestellt. Stellen gegenüber, die von über 50-Jährigen besetzt wur- Wir gehen die Umsetzung und die Aufnahme ins Arbeit- den: über 230 000 neue Chancen und Perspektiven. nehmer-Entsendegesetz jetzt zügig an, sodass bis zum Neujahrstag zeitgleich mit dem Ende des Briefmonopols Wenn man solche Darstellungen in solchen Meldun- in Deutschland ein allgemeinverbindlicher Mindestlohn gen liest, in denen die 100 000 minus genannt werden, für Briefdienste möglich ist. Ich möchte das. aber die 140 000 plus nicht, dann kann einen schon der heilige Zorn packen. Von bewusster Täuschung ist das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht ganz weit entfernt. der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Meine Damen und Herren, Ziel von Mindestlohnrege- Insgesamt haben wir im zweiten Quartal 2007 eine lungen ist es, zu verhindern, dass mit Dumpinglöhnen Beschäftigungsquote von 52 Prozent bei den über 55-Jäh- Menschen unwürdig behandelt werden und mit Lohn- rigen. Das waren 1968, als Rot-Grün begann, 37,7 Pro- dumping ehrliche und faire Unternehmer in die Knie zent. konkurriert werden. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der SPD) NEN]: 1968? Da war ich erst 12!) Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu guter Arbeit ge- – 1998. Habe ich etwas Falsches gesagt? hört, dass wir im Bundesministerium für Arbeit und So- ziales an einem Konzept zur Humanisierung der Arbeits- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- welt arbeiten. Auch das haben wir in Meseberg noch NEN]: Ja, 1968!) einmal miteinander vereinbart. Da geht es um Präven- – 1998. Ich habe das Gefühl, das ist schon lange her; da- tion, um Gesundheitsschutz, um alters- und alternsge- her kommt das vielleicht bei mir. rechte Arbeit, um Möglichkeiten zur Qualifizierung, um familiengerechte Arbeitswelt. Außerdem haben wir in (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU) Meseberg vereinbart, dass wir analysieren und prüfen, 1998 waren es also 37,7 Prozent. Im zweiten Quartal was im Bereich Zeitarbeit geschieht. Die Zeitarbeit hat dieses Jahres sind es 52 Prozent. Jetzt sage ich noch eine sich inzwischen zu einer soliden und seriösen Branche Zahl, weil ich mir das gestern noch einmal differenziert entwickelt. Das ist gut, und das soll auch so bleiben. Da- (B) (D) habe heraussuchen lassen: Bei den 55- bis 59-Jährigen bei wollen wir sie stützen und stabilisieren. liegt der Anteil jetzt bei 67,2 Prozent. Über zwei Drittel (Widerspruch bei der LINKEN) der 55- bis 59-Jährigen sind wieder in Beschäftigung. Mit Verlaub, darauf dürfen wir alle miteinander stolz Aber wir müssen prüfen, ob die Methode Zeitarbeit sein. Das ist eine gute Entwicklung. überall so ausgestaltet ist, wie wir uns das vorgestellt ha- ben. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben in Mese- Zeitarbeit darf nicht dazu führen, dass Belegschaften berg nicht nur Akzente für mehr Arbeit, sondern auch ausgegliedert und dann drei Tarifstufen niedriger wieder für gute Arbeit gesetzt. Wir haben in der Koalition eine zurückgeholt werden. schwierige, aber doch Einigung über zwei Instrumente (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – erzielt, um Lohndumping und Dumpinglöhne zu verhin- Lachen bei der LINKEN) dern: erstens das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Wir verändern das Entsendegesetz und werden nächstes Jahr Zeitarbeit soll nicht zu Dauerarbeit werden und schon allen Branchen, die die Voraussetzungen erfüllen, hier gar nicht zum Zweck willkürlich herbeigeführter niedri- einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn ermöglichen. ger Löhne. (Zuruf von der LINKEN: Was ist mit der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Post?) der CDU/CSU – Kornelia Möller [DIE LINKE]: Dafür habt ihr aber gesorgt!) Zweitens aktualisieren wir das Mindestarbeitsbedingun- gengesetz, um auch diejenigen Branchen für Mindest- Wir werden uns dazu melden. lohnregelungen zu erreichen, in denen die Tarifbindung Meine Damen und Herren, gute Arbeit, das heißt unter 50 Prozent liegt und die deshalb nicht ins Entsen- auch: Chancen zur Weiterbildung und Weiterqualifi- degesetz aufgenommen werden können. Auch das pas- zierung. Hier ist Deutschland Entwicklungsland. siert in 2008. Darauf haben wir uns in der Koalition ge- einigt; das setzen wir um. (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Allerdings!) Noch in diesem Jahr nehmen wir zu alten Bedingun- gen nach bisherigem Modus den Bereich Briefdienste Hier sind wir eindeutig nicht auf der Höhe der Zeit. Uns ins Entsendegesetz auf. fehlen in Deutschland nachweisbar Maschinenbau- und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12143

Bundesminister Franz Müntefering (A) Elektroingenieure. Dazu haben wir in Meseberg drei angepeilt. Wir arbeiten aktuell an einem Gesamtkonzept, (C) Punkte beschlossen: das einen Bonus für Arbeit, den Erwerbstätigenzuschuss, mit dem bewährten und zu erweiternden Instrument des Erstens und zuvorderst wollen wir das eigene Poten- Kinderzuschlags verbindet. Mit diesem neuen Instru- zial nutzen. Das heißt, wir müssen alle Menschen, die le- ment wollen wir Erwerbstätige, die vollbeschäftigt oder gal in Deutschland sind, bilden, ausbilden und qualifizie- nahe daran sind, aber mit ihrem Arbeitseinkommen nicht ren. Das, was wir an Potenzial haben, sind die das Existenzminimum erreichen, möglichst vor Hilfebe- Menschen. Wir brauchen sie. Mit ihnen müssen wir die dürftigkeit schützen. Sie fallen dann nicht mehr unter die Aufgaben, die wir in diesem Land zu erfüllen haben, er- Vermögensprüfung nach dem SGB II. füllen. Das ist die erste Bedingung in diesem Zusam- menhang. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nach unseren bisherigen Berechnungen könnten wir mit diesem Instrument auch mehrere Hunderttausend Kinder Kurzfristig, zum 1. November, öffnen wir zweitens aus der Hilfebedürftigkeit herausholen. den Arbeitsmarkt für Maschinenbau- und Elektroinge- nieure aus den zwölf neuen EU-Mitgliedstaaten. Für sie Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei der Armutsbe- wird das Prinzip der Nachrangigkeit am deutschen Ar- kämpfung haben wir vor allem die Kinder im Blick. Wir beitsmarkt aufgehoben. Ausländische Studenten haben wollen und werden vom Interesse des Kindes her den- nach Abschluss ihres Studiums wie bisher ein Jahr Zeit, ken. Arbeit zu finden. Neu ist: Auch für sie entfällt das Prin- ( [CDU/CSU]: Sehr gut!) zip der Nachrangigkeit. Aus materieller Armut darf keine Chancenarmut wer- (Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut!) den, Das heißt, sie können sich gleichrangig am deutschen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Arbeitsmarkt bewegen. keine Armut an Bildung, keine Armut an Gesundheit (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der und keine Armut an Teilhabe. Aber das passiert heute CDU/CSU) oft. Gleiche Chancen auf Bildung, Ausbildung und Ar- Drittens. Wir wollen eine arbeitsmarktadäquate Steu- beit zu organisieren, das ist und bleibt der Schlüssel, um erung der Zuwanderung hochqualifizierter Fachkräfte Armut nachhaltig zu bekämpfen und ihr dauerhaft vor- vorsehen. Die Bundesregierung wird ein Konzept zur zubeugen. Hier haben wir eine große Verantwortung. (B) Zuwanderung entwickeln, das den Interessen unseres Alle stehen in dieser Verantwortung: Bund, Länder und (D) Landes auch in der nächsten Dekade Rechnung trägt. Gemeinden. Wir dürfen nicht an der falschen Stelle spa- Bei der Erarbeitung dieses Konzepts sollen quantitative ren. Das, was wir jetzt in die Kinder und Jugendlichen und qualitative Instrumente geprüft und die Erfahrungen und in die Chancengerechtigkeit investieren, ist sehr gut anderer Länder bei der arbeitsmarktbezogenen Steue- angelegtes Geld, auch für die Zukunft unseres Landes. rung der Zuwanderung einbezogen werden. Es geht um (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) eine arbeitsmarktadäquate Arbeitsmigration. Aber ich sage noch einmal: Zuerst sind die zu qualifizieren, die in Vom Interesse des Kindes her zu denken, das führt unserem Lande sind. nach meiner Überzeugung auch dazu, dass wir die Hilfe anders organisieren müssen als nur über direkte Geld- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten leistungen. Niedrige Kitagebühren, ein gesundes Mittag- der CDU/CSU) essen in Kita oder Schule und spezielle Unterstützung Liebe Kolleginnen und Kollegen, Deutschland ist ein bei der Einschulung, das könnten Hilfen sein, die direkt reiches Land. Dennoch gibt es Armut. Gegen existenz- bei den Kindern ankommen, die diese direkten Hilfen gefährdende Armut haben wir verlässliche Solidar- ganz besonders brauchen. und Grundsicherungssysteme. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Zuruf von der LINKEN: Mindestlohn!) bei Abgeordneten der FDP) Das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe decken das Armut zu bekämpfen und Teilhabe zu sichern, das Existenzminimum ab. sind unsere Ziele in Deutschland, aber darüber hinaus auch in der Europäischen Union und in der Welt. Auch (Zuruf von der LINKEN: Sagen Sie!) hier ist die Bundesregierung mit ihrer Politik aktiv. Wäh- Ob das noch so ist und ob die Anpassungsmechanismen rend unserer EU-Ratspräsidentschaft haben wir das richtig funktionieren, überprüfen wir gerade. Im Novem- Soziale in Europa sichtbarer gemacht und das europäi- ber werden wir valide Zahlen vom Statistischen Bundes- sche Sozialmodell gestärkt. Daran knüpfen wir in der amt vorliegen haben. Und dann wird die Bundesregie- Teampräsidentschaft mit Portugal und Slowenien an. rung sehr rasch entscheiden, ob und wie reagiert werden Deshalb habe ich in dieser Woche in Lissabon einen Vor- kann. stoß gemacht zur Ergänzung der integrierten Leitlinien, der Lissaboner Leitlinien, die im nächsten Jahr fortge- Wir haben in Meseberg ein weiteres aktives Instru- schrieben werden. Es soll in der Beschäftigungsleitlinie ment zur Armutsbekämpfung und zur Arbeitsschaffung um die Bekämpfung von Armut bei Familien und Kin- 12144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesminister Franz Müntefering (A) dern und um den Anspruch auf faire, gerechte Löhne ge- Das Wort erhält zunächst der Kollege Dirk Niebel für (C) hen. Es gab dafür viel Zustimmung von den europäi- die FDP-Fraktion. schen Partnern und Kommissionsvertretern. Wir werden auch international den Prozess von Heiligendamm fort- (Beifall bei der FDP) setzen; auch das haben wir in Meseberg vereinbart. Dirk Niebel (FDP): Wir werden von hier aus nicht alle Probleme der Welt Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und lösen können; aber wir können und wir wollen mithel- Herren! Der Bundesarbeitsminister hat eben eine interes- fen, dass soziale Kohärenz im Handeln der großen inter- sante Rede gehalten, nationalen Organisationen wie UNO, ILO, WTO, IWF und Weltbank gestärkt wird und Mechanismen für die (Zuruf von der SPD: Eine gute!) soziale Gestaltung der Globalisierung vorankommen. Denn das ist klar: Das Soziale ist Wachstums- und Stabi- die über weite Strecken sogar als launige Rede bezeich- litätsfaktor – bei uns im Land, in Europa und in der Welt. net werden kann. Deswegen liegt für Deutschland – Exportweltmeister, (Ludwig Stiegler [SPD]: Er hat auch allen der wir sind – die soziale Gestaltung, auch die soziale Grund dazu!) Gestaltung der Welt, im wohlverstandenen eigenen Inte- resse. Er hat Dinge gesagt, denen ich nicht zustimme. Er hat Dinge gesagt, denen ich zustimme. Er hat völlig zu (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Recht das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger in diesem Land gelobt. Er hat völlig zu Recht die Leis- Deshalb engagieren wir uns – die Bundeskanzlerin, der tungsfähigkeit vieler Menschen in diesem Land gelobt. Außenminister, der Wirtschaftsminister, alle, die wir in Ich glaube, bei diesem Lob hat er einzig die Damen-Fuß- diesem Kabinett, in dieser Bundesregierung unterwegs ballnationalmannschaft vergessen, die ich jetzt aus- sind – in Europa und darüber hinaus auch für diesen drücklich beglückwünschen möchte. Aspekt. Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit von Arbeit und Sozialem in Deutschland sprechen, müssen wir wis- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sen: Das verbindet sich aufs Engste mit der Frage, wie es der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des denn in Europa und darüber hinaus in dieser Welt weiter- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Klaus geht. Wir wollen als reiches Land unseren Teil dazu bei- Brandner [SPD]: Das haben die Grünen schon tragen, dass Armut in der Welt, soweit es denn nur mög- getan! Da kommen Sie zu spät!) lich ist, bekämpft wird. Dass die soziale Dimension bleibt, dass das Ökonomische und das Ökologische – das Besonders interessant an der Rede des Vizekanzlers und (B) (D) ist wichtig – um das Soziale ergänzt werden und dass Arbeitsministers war aber, dass er offenkundig weder daraus eine vernünftige, kohärente soziale Politik wird Kraft noch Mut hat, das arbeitsmarktpolitisch inte- – nicht nur in Deutschland, sondern auch darüber hinaus –, ressanteste Thema in der öffentlichen Diskussion hier dafür wollen wir in dieser Bundesregierung unseren Bei- konkret anzusprechen. trag leisten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, unsere Deutschlands hat einen Stein ins Wasser geworfen. Statt schöne Hauptstadt Berlin und ihre Menschen sind für der geneigten Öffentlichkeit vom Platz des Ministerprä- eine gewisse Sprödigkeit bekannt. In Berlin heißt das sidenten von Rheinland-Pfalz auf der Bundesratsbank höchste Lob: Da kannste echt nich meckern! aus zu erklären, was er für die Zukunft Deutschlands und (Heiterkeit) den Arbeitsmarkt möchte, sieht er vom spanischen Ba- destrand zu, wie sich die Wellen auf den Arbeitsminister Über Sinnhaftigkeit und Leistung dieser Großen Koali- zu bewegen und sie ihn auf lange Frist wahrscheinlich tion wird seit ihrem Bestehen viel sinniert und viel ge- wegspülen werden. deutet, meistens skeptisch. Ich sage Ihnen voraus: Wenn es die Große Koalition einmal nicht mehr geben wird (Dr. Peter Struck [SPD]: Das, was Sie machen, – irgendwann in 17 500 Stunden oder so ähnlich –, ist nur primitiv! Jeder hat Anspruch auf Ur- laub, Herr Niebel!) (Heiterkeit der Abg. Elke Ferner [SPD]) Die Agenda 2010 wurde von den Sozialdemokraten werden sich viele im Land umsehen und werden, wenn noch bis vor kurzem als Auslöser für den Schröder-Auf- sie die Leistungen der Großen Koalition bewerten, sa- schwung gelobt. Mittlerweile schämen Sie sich um die gen: Da kannste echt nich meckern! Wette. Es stellt sich die Frage, ob sich diese Krise der SPD – ich sage den Sozialdemokraten in Union und (Langanhaltender Beifall bei der SPD und der SPD: den Linksaußen werdet ihr nicht nachlaufen kön- CDU/CSU) nen; sie sind schon so lange unterwegs, dass ihr sie nie überholen könnt – Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE Ich eröffne die Aussprache. LINKE]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12145

Dirk Niebel (A) zu einer Krise der Bundesregierung entwickelt. Das steht schen ausgegrenzt und ihnen die Teilhabechancen in (C) zu befürchten und wäre schlecht für die Menschen in diesem Land genommen werden. Das ist falsch. Deutschland. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Sie, geehrte Frau Bundeskanzlerin – wir sehen, dass Um das beurteilen zu können, müssen wir einmal in Sie vorübergehend im Land sind –, finden im Ausland Ruhe betrachten, was die Führungsreserve der SPD im völlig zu Recht viele gute und sehr deutliche Worte. Im Kabinett von Frau Merkel tut. Sigmar Gabriel taucht in Inland glänzen Sie durch Schweigen. Frau Bundeskanz- seiner uns bekannten Bescheidenheit ab und sagt gar lerin, bei den wichtigsten Themen, die die Menschen in nichts. Er versteckt sich quasi unter dem Stein. Da wir diesem Land bewegen, führen Sie nicht. Es geht um die schon bei den Steinen sind: Wir stellen fest, dass auf- Chance, einen Arbeitsplatz zu haben. Nicht die Höhe grund der unklaren Aussagen in dieser innerparteilichen oder Dauer irgendeiner Transferleistung, sondern die Diskussion, durch die eine Regierungskrise ausgelöst Möglichkeit, sich als mündiger Bürger seinen Lebensun- werden kann, der Wunsch, ein Parteiamt zu bekommen, terhalt selbst zu erwirtschaften, ist sozial gerecht. Ihre sehr ausgeprägt sein muss. Herr Steinbrück gibt den Mo- Aufgabe ist es, deutlich zu machen, was diese Regierung derator. Herr Steinmeier ist genauso klar wie eine hierzu erreichen will. Sphinx. (Beifall bei der FDP) Der Arbeitsminister wird alleine gelassen, obwohl er Die Frage, was gerecht ist oder nicht, beantwortet inhaltlich ausnahmsweise einmal recht hat; denn die Ar- man nicht mit der Feststellung, dass man 12, 18 oder beitslosigkeit ist gerade bei den älteren Menschen über- 24 Monate lang eine Versicherungsleistung erhält. Die proportional zurückgegangen. Alle Forschungsinstitute Frage, was gerecht ist, kann man bei dem Systemwech- sagen, dies habe einen ursächlichen Zusammenhang mit sel vom Versicherungssystem in das Fürsorgesystem der Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. stellen. Man darf und muss vielleicht sogar darüber strei- (Beifall bei der FDP) ten, ob es gerecht ist, dass derjenige, der sein Geld ver- lebt hat, sofort Arbeitslosengeld II, also die Unterstüt- Am 11. November 2006 hat Kurt Beck in der Süd- zung der Allgemeinheit, erhält, während derjenige, der deutschen Zeitung gesagt – ich zitiere –: Vorsorge betrieben hat, erst einmal einen Großteil seiner Unser Anspruch muss sein, alles zu tun, damit Lebensleistung einbringen muss. Darüber kann man un- Menschen schnell wieder Arbeit bekommen, und ter der Überschrift „Gerechtigkeit“ diskutieren. nicht, dass sie etwas länger und etwas besser in der (Beifall bei der FDP) Arbeitslosigkeit leben können. Wir wissen: Je län- (B) (D) ger jemand draußen ist, desto schwerer hat er es, Was Sie, meine Damen und Herren Genossen von der wieder reinzukommen. SPD, machen, ist purer Populismus. Sie können sich auch nicht hinter Umfragen verstecken, wonach Diesen Teufelskreis mussten wir durchbrechen. 80 Prozent der Bevölkerung Ihr Vorhaben toll finden. Wer das jetzt wieder rückgängig macht, begeht ei- Bieten Sie Freibier an, und Sie werden die gleichen Er- nen schweren Fehler. gebnisse bekommen, weil alle, die kostenfrei trinken Damals, am 11. November, hatte er noch recht. können, das gut finden. (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Ja, am Sie müssen sich darüber klar werden, ob Sie regieren 11. 11.!) oder opponieren wollen. Ich verstehe, dass Kurt Beck, wenn er Kanzler werden möchte, Optionen eröffnen Jetzt macht er eine Rolle rückwärts und lässt den Ar- muss. Seit Juni dieses Jahres sieht kein Umfrageinstitut beitsminister im Regen stehen, obwohl der Rückgang in Deutschland eine auch nur rechnerische Mehrheit für bei den älteren Arbeitslosen mit 4,7 Prozent überpro- eine sogenannte Ampel, abgesehen davon, dass wir bei portional war und obwohl – dies hat der Minister selbst einer solchen nicht mitmachen würden. Deswegen muss gesagt – die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigen sich Kurt Beck, wenn er einmal Kanzler werden will, deutlich auf 52 Prozent gestiegen ist, was zwar immer Optionen eröffnen. Aber damit stärkt er diejenigen am noch viel zu wenig ist, aber immerhin. Die Höhe des An- linken Rand, die ohnehin nicht mehr links überholt wer- spruchs aus der Arbeitslosenversicherung bemisst sich den können; dort werden sich nämlich diejenigen sam- nach dem Nettolohn. Je länger man arbeitslos ist, desto meln, die von Kurt Beck in die Arme der Kommunisten geringer ist die Chance, dieses Nettolohnniveau wieder getrieben werden. zu erreichen. Also ist es folgerichtig, die Leistungsdauer möglichst weitgehend auszuschöpfen. (Zurufe von der LINKEN: Oh!) Das ist wirtschaftlich völlig nachvollziehbar; poli- Das ist Ihr strategischer Fehler. Das sollten Sie wissen tisch muss es aber verhindert werden. Das hat die vorhe- – das sollte auch die Union wissen – und bei den politi- rige Regierung getan. Dies geschah völlig zu Recht auch schen Schritten, die Sie jetzt einleiten, bedenken. mit den Stimmen dieses Hauses. Wir dringen darauf, (Beifall bei der FDP) dass nicht der Fehler begangen wird, in die alte Politik zurückzufallen. Nach nur einem Jahr des wirtschaftli- Richtig wäre es, dafür zu sorgen, dass die Menschen chen Aufschwungs werden die gleichen Fehler der letz- in der Mitte der Gesellschaft am Aufschwung beteiligt ten Jahrzehnte begangen, mit dem Ergebnis, dass Men- werden. Die Bürger fragen völlig zu Recht: Wo ist mein 12146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dirk Niebel (A) Aufschwung? Herr Steinbrück freut sich wie ein Schnee- Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Debatte der (C) könig über Steuermehreinnahmen, vergisst dabei aber letzten Zeit ist wesentlich von den Themen soziale Ge- regelmäßig, dass es die Bürgerinnen und Bürger sind, rechtigkeit, gleichberechtigte Teilhabe, Bekämpfung von die diese Steuern gezahlt haben. Die Entlastung der Armut und Anerkennung von Lebensleistung geprägt, Menschen ist das Entscheidende. Die Bundesagentur für um nur die am häufigsten genannten zu nennen. Positiv Arbeit sammelt Geld ein. Geben Sie es denen zurück, die besetzt sind eigentlich alle. Dennoch sind sie inzwischen es bezahlt haben, also den Arbeitnehmern und Arbeitge- zu wahren Kampfbegriffen in der politischen Auseinan- bern! Der Anstaltsleiter in Nürnberg sagt, er habe Über- dersetzung geworden. Was den Bürgern und Bürgerin- schüsse in Höhe von 6,5 Milliarden Euro. nen unter diesen Begriffen manchmal zu ihrem angeb- lich Besten verkauft wird, entpuppt sich häufig als (Zuruf von der LINKEN: Warum denn?) Bevormundung und Gängelung – damit als Eingriff in Geben Sie diese im Wege von Beitragssenkungen zu- die Freiheitsrechte des Einzelnen –, bedeutet aber häufig rück, damit die Menschen in der Mitte der Gesellschaft nicht mehr Gerechtigkeit und Teilhabe. Geld für Konsum haben, Einzelne oder organisierte Interessenvertreter sind als (Volker Kauder [CDU/CSU]: Machen wir Rattenfänger unterwegs, und wir Politiker starren wie doch!) das Kaninchen auf die Schlange und trauen uns nicht mehr, Zusammenhänge zu erklären und dem gesunden die Betriebe Geld für Investitionen haben, Arbeit billiger Menschenverstand eine Chance zu geben, von großarti- wird und damit die Chance auf einen Arbeitsplatz erhöht gen Ausnahmen, wie wir eben gehört haben, abgesehen. wird und im Endeffekt die Arbeitslosigkeit sinkt. Das Wir trauen uns auch nicht mehr, schlicht und ergreifend wäre der richtige Weg! Nein zu sagen, wenn es um die Befriedigung von immer Über die Arbeitslosenversicherung hinaus sagen Sie neuen Wünschen geht, statt Hilfe zur Selbsthilfe zu för- kein einziges Wort zu notwendigen Reformen, was das dern und die Eigenkräfte zu stärken. Arbeitsrecht, betriebliche Bündnisse für Arbeit, ein mo- Kann unser Ziel wirklich eine Gleichmacherei aller dernes Steuerrecht und ein modernes Transfersystem be- und die weitgehende Umverteilung des Erwirtschafteten trifft. Diese Regierungserklärung hat eines gezeigt: Sie sein? Kann das ohne massives Eingreifen des Staates auf haben nichts außer den alten Konzepten, die schon in Kosten der Freiheit seiner Bürger funktionieren? Haben den vergangenen Jahrzehnten nicht funktioniert haben. wir nicht schon viel zu lange die Bürger entmündigt und Diese versuchen Sie bis zum nächsten Wahltermin ihnen vorgegaukelt, alles für sie regeln zu können? Wird durchzusetzen. Das ist ein großer Fehler und ein Verlust durch Gleichmacherei nicht die Vielfalt der Leistungs- für die Menschen in Deutschland. träger und damit das Herzstück unserer Gesellschaft be- (B) (D) Vielen herzlichen Dank. schnitten? (Beifall bei der FDP) Entscheidend und ein Gebot sozialer Gerechtigkeit ist es, gleiche Chancen für alle Menschen zu schaffen. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nächste Rednerin ist die Kollegin Ilse Falk für die Jeder Mensch hat Begabungen und Fähigkeiten, die er CDU/CSU-Fraktion. einbringen kann, soll und in aller Regel auch möchte. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Diese zur Entfaltung zu bringen, ist die eigentliche He- neten der SPD) rausforderung für Wirtschaft und Gesellschaft. Natürlich hat auch der Staat die Verpflichtung, soziale Ilse Falk (CDU/CSU): Verantwortung zu übernehmen und denen Sicherheit zu Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es geben, die sich selbst nicht helfen können, sei es, weil sei mir erlaubt, mit einem Zitat von Abtprimas Notker sie vorübergehend oder dauerhaft in ihrer Leistungsfä- Wolf zu beginnen, dessen Buch mit dem Titel „Worauf higkeit eingeschränkt sind. Sie bedürfen der Solidarität warten wir noch?“ ganz oben auf den Bestsellerlisten der Gemeinschaft, aber auch der des Staates. Dabei geht steht und offenbar den Nerv vieler Menschen trifft. Je- es um materielle und praktische Unterstützung im tägli- denfalls gehe ich davon aus, dass die meisten es auch le- chen Leben, gute gesundheitliche Vorsorge und Versor- sen und nicht nur verschenken. Ich zitiere den Anfang gung, gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen des Kapitels mit der Überschrift „Gleichheit – eine deut- Leben und Unterstützung bei der Eingliederung in den sche Obsession?“: Arbeitsmarkt. Kann es sein, dass der Kommunismus gar nicht un- Gesellschaftliche Teilhabe bedarf des Zusammen- tergegangen ist? Dass er sich in Wirklichkeit … nur spiels vieler Kräfte. In diesem Zusammenhang sind die unsichtbar gemacht hat, um unangefochten zu herr- starke Familie zu nennen, die funktionierende Nachbar- schen? Dass er diesmal durch die Hintertür gekom- schaft, die schon erwähnten Ehrenamtlichen, aber auch men ist und sich unter dem Pseudonym „soziale Arbeitgeber und Institutionen wie die Kirchen, Gewerk- Gerechtigkeit“ bei uns eingeschmeichelt hat? Oder schaften, Wohlfahrtsverbände und freien Träger. Sie alle gibt es eine andere Erklärung dafür, dass wir Ge- – oder besser: wir alle – stehen an erster Stelle in der rechtigkeit und Gleichheit nicht mehr auseinander- Verantwortung füreinander, und erst dann kommt der halten? Staat, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12147

Ilse Falk (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stehen. Weil das so ist, hat für die Union die Senkung der (C) Beitragslast in der Arbeitslosenversicherung oberste Pri- jedenfalls dann, wenn sich alle Genannten nicht nur der orität. Verantwortung bewusst sind, sondern sie auch tatsäch- lich wahrnehmen. An dieser Stelle wird es manchmal (Beifall bei der CDU/CSU) ganz schön brüchig. Wir alle kennen versagende Fami- lien und Unternehmer, die Ausgrenzung von Unbeque- Die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversiche- men und die Verweigerung von selbstverständlichen rung auf 3,9 Prozent ist bereits vorgeschlagen. Wir sind Pflichten. Glücklicherweise gibt es aber auch großartige uns sicher, dass es bei der Verabschiedung des entspre- Beispiele für Aktivität, Kreativität, Fürsorge im besten chenden Gesetzentwurfs 3,5 Prozent sein werden. menschlichen Sinn wahrgenommener Unternehmensver- (Beifall bei der CDU/CSU) antwortung und gelebter Nächstenliebe. Dadurch fällt es leicht, auf den allumsorgenden Staat zu verzichten und Das bedeutet bei einem Einkommen von 2 000 Euro eine ihn auf seine originären Aufgaben zu verweisen. Das monatliche Ersparnis für Arbeitnehmer und Arbeitgeber heißt, runter mit den Sozialausgaben und rauf mit Quali- von jeweils 30 Euro, also von jeweils 360 Euro im Jahr. fizierung und Investitionen. Das schafft Arbeitsplätze Das ist doch schon was. und Wohlstand und bringt Menschen aus staatlicher Ab- hängigkeit. Das ist sozial. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Richtig ist es ebenso, weitere Anreize zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu geben. Dafür Geld einzusetzen, ist Wir können gerade jetzt an den Zahlen ablesen, wie klug. Deshalb hat sich die Koalition vorgenommen, in das Konzept „Investieren, sanieren, reformieren“ ver- einem Bereich, der bisher eher stiefmütterlich behandelt bunden mit der Idee des Förderns und Forderns Früchte wurde, etwas zu tun, Stichwort „Haushalt als Arbeitge- trägt und wir einen Aufschwung erleben, den noch vor ber und Auftraggeber“. Hierzu hat meine Fraktion erste einem Jahr kaum einer für möglich gehalten hätte. Überlegungen angestellt, die dazu geeignet sind, einer- seits die Schaffung von sozialversicherungspflichtigen (Zuruf von der CDU/CSU: Sehr gut!) Arbeitsplätzen zu fördern und andererseits vorhandene Arbeitsplätze aus der Schwarzarbeit herauszuführen. Ich will die Zahlen nicht wiederholen. Der Minister hat Wir lichten zugleich den Förderdschungel und erhöhen sie in aller Ausführlichkeit genannt. Sie sprechen für die Abzugsmöglichkeiten teilweise deutlich. sich und sind eindrucksvoll: Hunderttausenden von Menschen werden neue Chancen geboten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (B) (D) Die Große Koalition hat mit ihrer Politik die Weichen Ich will meine Rede nicht beenden, ohne einen drin- richtig gestellt. Aber – das will ich nicht unerwähnt las- genden Appell nach innen, das heißt an unsere eigene sen – der wirtschaftliche Aufschwung ist neben einer Verantwortung als Regierungskoalition, zu richten. Ver- günstigen weltwirtschaftlichen Lage in erster Linie den lässliche Rahmenbedingungen sind das A und O für vielen leistungsbereiten Menschen in unserem Land zu Wirtschaft und Gesellschaft und sind unabdingbar, wenn verdanken. Wir freuen uns über diesen Aufschwung; wir das Vertrauen der Bürger in unsere Politik gewinnen denn er ist die zwingende Voraussetzung für eine Teil- wollen. Da darf es nicht passieren, dass verabschiedete habe auch der Schwächeren. Wir wollen, dass der Auf- Gesetze bereits nach sechs Monaten infrage gestellt wer- schwung bei allen ankommt. Es geht nicht um neue Ku- den – ich denke hier an Begehrlichkeiten bei der Rente schelecken, sondern um Teilhabe am Arbeitsmarkt und mit 67 – oder in Grundsatzfragen alle elf Monate ein die Chance, sein Einkommen selber zu erwirtschaften. Richtungswechsel stattfindet. Das muss das Ziel sein. Das gilt auch für diejenigen, die es besonders schwer haben. Das haben wir gestern in eindrucksvoller Weise auf unserem Kongress erleben Präsident Dr. Norbert Lammert: können, bei dem es um die Teilhabe der Menschen mit Frau Kollegin, denken Sie bitte an Ihre Redezeit. Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt ging. Dabei wurde deutlich, wie viele gerne einen Arbeitsplatz auf Ilse Falk (CDU/CSU): dem ersten Arbeitsmarkt hätten und sich anstrengen, um Ich bin gleich fertig. dieses Ziel zu erreichen. So gut Werkstätten für Behin- derte auch sind, so wichtig ist es, dass wir den Menschen Markenzeichen einer erfolgreichen Politik insgesamt mit Behinderungen auch eine Chance auf dem ersten Ar- müssen Verlässlichkeit und Umsicht sein. Ziel einer er- beitsmarkt bieten. folgreichen Sozialpolitik muss es sein, Chancen und Leistungsgerechtigkeit weiter auszubauen, um so die Vo- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- raussetzungen für nachhaltiges Wachstum und Auf- neten der SPD) schwung zu schaffen und damit die Chance für Teilhabe Höhere Steuereinnahmen und die verbesserte Situa- und Wohlstand zu eröffnen. tion der Sozialkassen dürfen uns nicht verführen, den Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Pfad der Tugend zu verlassen. Die Devise muss weiter- hin lauten: Arbeitskosten senken und die Wettbewerbs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fähigkeit der Wirtschaft stärken, damit Arbeitsplätze ent- neten der SPD) 12148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: wenn Sie, Herr Bundesminister, auch diese vorgetragen (C) Ich erteile das Wort nun dem Kollegen Gregor Gysi, hätten. Nehmen wir einen ganz konkreten Monat, den Fraktion Die Linke. September 2007. Von den 55- bis 64-jährigen Arbeitslo- sen sind 40 000 Menschen im September aus dem Bezug (Beifall bei der LINKEN) von Arbeitslosengeld I herausgefallen, 6 000 davon des- halb, weil sie einen neuen Job hatten, 34 000 aber des- Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): halb, weil sie ALG II beziehen, weil sie einen 1-Euro- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Job haben oder weil sie Rente beziehen. Das heißt, ein Müntefering, ich habe Ihnen gern zugehört. Ich könnte Siebtel hat einen neuen Job. Das ist keine signifikante genauso wie Herr Niebel sagen: Zum Teil konnte ich zu- Größe. Sie hätten hier erwähnen müssen, dass die meis- stimmen, zum Teil nicht. Es werden sicherlich andere ten, die aus dem Bezug des Arbeitslosengeldes I fallen, Teile als bei Herrn Niebel sein. Ich finde es auch okay, keinesfalls eine Erwerbsarbeit aufnehmen. dass Sie versuchen, im Bundestag Ihren Parteitag vorzu- bereiten; das kann man hinnehmen. Aber ich habe ein (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Problem mit Ihnen selbst. Ich glaube, dass Sie einmal Winkelmeier [fraktionslos]) sozialdemokratisches Urgestein waren. Dann bekamen Wenn man mehr Arbeit schaffen will, dann muss man Sie die Chance auf den SPD-Vorsitz unter Herrn über andere Dinge diskutieren. Dann müssen wir da- Schröder, und zwar unter der Bedingung, dass Sie die rüber diskutieren, dass wir Arbeitszeit zu verkürzen ha- Agenda 2010 akzeptieren. Ich vermute, dass Sie am An- ben, um Arbeit gerechter zu verteilen. Aber Sie verlän- fang so dachten wie ich heute, nämlich dass die Agenda gern die Lebensarbeitszeit um zwei Jahre. 2010 unsozialdemokratisch ist. (Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei (Klaus Brandner [SPD]: Wer macht denn aus der CDU/CSU) dem Bundestag einen Parteitag?) – Ich wusste, dass Sie jetzt aufschreien. – Wir müssen Dann haben Sie sich schrittweise durchgerungen, das darüber diskutieren, dass wir einen öffentlich geförder- Ganze zu vertreten und zu verteidigen. Nun sind Sie ten Beschäftigungssektor brauchen, und zwar dort, wo noch nicht einmal bereit, sich an einer Stelle ein Stück die Privatwirtschaft nicht investiert, wo aber wichtige zurückrudern zu lassen, weil es ein so schwieriger psy- Arbeit zu leisten ist. Ein Beispiel dafür ist der Förderun- chologischer Vorgang war. Aber wir können die Bevöl- terricht für Schülerinnen und Schüler, denen das Lernen kerung nicht mit den Problemen von zwei Herren beläs- schwerer fällt, tigen. Sie haben das zu lösen, und zwar im Interesse der Arbeitslosen. (B) (Beifall bei der LINKEN) (D) (Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: für Migrantenkinder – ein schönes Beispiel, das Sie hier Wen meinen Sie jetzt: Lafontaine und Gysi?) genannt haben – oder auch Unterricht für Kinder mit be- Ihre These, dass der Abbau der Arbeitslosigkeit Er- sonderer Begabung. Wir müssten darüber reden, dass gebnis von Agenda 2010, Hartz IV und der Arbeits- wir eine Investitionspauschale für Kommunen brauchen. marktreform ist, ist falsch. Schon ein Ökonomiestudent Selbstverständlich brauchen wir – das haben Sie gesagt – weiß nach dem ersten Semester, dass die Konjunktur eine bessere Bildung und Ausbildung. entscheidend ist, nicht die Agenda 2010 oder Hartz IV. Im Juni 2005 haben Sie, Herr Müntefering, gesagt, Zum Abbau der Arbeitslosigkeit haben Sie umfassend dass Sie die alte Regelung, nach der Arbeitslosengeld bis Stellung genommen. Sie haben Zahlen genannt; dazu zu 32 Monate gezahlt wird, verteidigen wollen, dass werde ich noch etwas sagen. Aber Sie müssten noch ein man sie also belassen muss, und zwar wegen der schwie- paar andere Tatsachen erwähnen, zum Beispiel dass die rigen Arbeitsmarktlage für Ältere und damit die SPD ein Hälfte der neuen Jobs Teilzeitjobs sind, dass mehr als die Zeichen setzen kann, dass sie die Sorgen der älteren Ge- Hälfte der neuen Jobs Mini- und Midi-Jobs mit kargen neration ernst nimmt. Das ist ein Zitat von Ihnen vom Löhnen sind und dass viele in Leiharbeit mit abenteuerli- Juni 2005. Da Sie damals gesagt haben, nur mit einer chen Löhnen sind. Sie müssten erwähnen, dass der An- Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I von bis zu teil der Frauen unter den Arbeitslosen zunimmt. Sie 32 Monaten nimmt man die Sorgen der älteren Genera- müssten sagen, dass die Arbeitslosigkeit im Westen tion ernst, muss ich Sie fragen, ob Sie die Sorgen jetzt schneller abgebaut wird als im Osten, was die Schere nicht mehr ernst nehmen; denn es hat sich doch für die wieder stärker auseinandergehen lässt. Sie müssten er- Älteren nichts geändert. wähnen, dass Langzeitarbeitslose besonders schwer zu vermitteln sind und dass das noch heute gilt. Ich sage Ih- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert nen: Über 1,2 Millionen Menschen in Deutschland wa- Winkelmeier [fraktionslos]) ren im September 2007 länger als ein Jahr arbeitslos. Diese lassen sich besonders schwer vermitteln. Weil sich die Union und die FDP immer besonders darüber aufregen – Herr Niebel, für Sie ist eine Bezugs- Nun kommen wir zu anderen Zahlen: 26 Prozent der dauer von 32 Monaten ja völlig indiskutabel –, muss ich ALG-I-Bezieher haben einen neuen Job gefunden, aber Sie an Folgendes erinnern: Als Sie noch zusammen mit nur 11 Prozent der ALG-II-Bezieher. Das ist ein drama- Herrn Kohl regierten, gab es Arbeitslosengeld I bis zu tischer Unterschied. Nun kommen wir zu einer Statistik 32 Monaten. Damals war selbst die FDP noch einen Tick der Bundesagentur für Arbeit. Mich hätte es gefreut, sozialdemokratischer als die SPD heute. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12149

Dr. Gregor Gysi (A) (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) (C) Der SPD-Vorsitzende Beck beginnt jetzt, sich selbst Es gibt ein zweites, schon gewichtigeres Argument: zu widerlegen. Er hat gewisse Thesen aufgestellt, als Mi- das Argument der Frühverrentung. Man sagt, die Un- nisterpräsident Rüttgers vorgeschlagen hat, das ternehmen und die Betroffenen würden eine längere Be- Arbeitslosengeld I länger zu zahlen. Herr Rüttgers hat zugsdauer von Arbeitslosengeld I nutzen, um die Früh- das vorgeschlagen, und die CDU hat das auf eine Art verrentung anzustreben. Zunächst einmal ermöglichen und Weise beschlossen, die nicht akzeptabel ist, und wir als Gesetzgeber die Frühverrentung. Das ist dieselbe zwar deshalb, weil Sie von der Union Generationenun- Theorie wie bei den Steuerschlupflöchern. Alle regen gerechtigkeit einplanen. Sie sagen im Ernst, die jungen sich darüber auf, dass sie genutzt werden, nachdem man Arbeitslosen sollten dafür bezahlen, dass Ältere länger so ein Gesetz beschlossen hat. Wir regeln das doch und Geld bekommen. Das ist wirklich indiskutabel. Sie wen- nicht die andern. den sich an die schwächste Gruppe in der Gesellschaft und wollen diese bezahlen lassen, nicht aber eine Ver- Aber zum Zweiten verstehe ich dann bei der Frühver- mögensteuer oder die Überschüsse, die die Bundesagen- rentung eines nicht. Ich muss etwas genauer werden. tur für Arbeit jetzt hat, verwenden. Das ist nicht hin- Zum 31. Dezember 2007 laufen § 65 Abs. 4 SGB II und nehmbar. Aber immerhin hat Rüttgers vorgeschlagen, § 428 SGB III aus. Damit entfällt die sogenannte 58er- die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I zu verlängern. Regelung, also die Wahlmöglichkeit für 58-jährige und Damals hat Herr Beck gesagt, das sei indiskutabel und ältere Arbeitslose, sich als Arbeitslose und Arbeitsu- ein Generalangriff auf die Agenda 2010, der für ihn chende registrieren zu lassen oder eine Frührente zu be- antragen. Dabei ist die Frührente um bis zu 18 Prozent nicht infrage komme. Nach einem Jahr sieht er das an- gekürzt. Heute haben sie eine Wahlmöglichkeit. Nun ders. Das finde ich in Ordnung. Schrittweise versucht er, laufen beide Bestimmungen aus. Das begründen Sie die SPD für uns koalitionsfähig zu machen. Das muss auch noch damit, keine Frühverrentung zu wollen. Sie man akzeptieren, vergessen aber, dass § 5 Abs. 1 SGB II klar regelt, dass (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert man jede andere Transferleistung nehmen muss, bevor Winkelmeier [fraktionslos]) man ALG II beziehen kann. wobei ich sage, dass noch weitere Schritte erforderlich (Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Zu Recht!) sind, auch in der Außen- und Friedenspolitik, in der Damit ist dort geregelt, dass diejenigen, wenn die beiden Steuer- und Sozialpolitik und vor allen Dingen bei der Bestimmungen auslaufen, gezwungen sind, eine Früh- Angleichung der Verhältnisse in Ost und West. Aber rente zu beantragen. Wenn sie aber dazu gezwungen (B) erste Schritte sind zu erkennen. sind, sagen Sie jemandem mit 58 oder 59: Du musst jetzt (D) Nun stellt sich die Regierung dagegen, was nicht eine Rente beantragen – minus 18 Prozent –, und noch nachvollziehbar ist. Sie, Herr Müntefering, nennen mit 88 Jahren ist sie um 18 Prozent geringer. Gründe, wenn auch nicht heute. Heute haben Sie sie ver- Das halte ich schon grundgesetzlich für sehr bedenk- schwiegen, was die FDP wiederum zu Recht hervorge- lich. Ich bitte Sie aber, geben Sie wenigstens unserem hoben hat. Aber Sie haben sie außerhalb des Bundesta- Antrag statt, die verkürzte Verrentung aus § 5 Abs. 1 ges benannt. Sie sagen, wie alle anderen Neoliberalen SGB II herauszunehmen und die §§ 65 Abs. 4 und 428 auch, eine Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslo- fortzusetzen, damit es für ältere Arbeitslose die Wahl- sengeldes I wäre kontraproduktiv. Der Druck auf die Ar- möglichkeit gibt! beitslosen nähme ab, irgendeine, und sei es die am schlechtesten bezahlte Tätigkeit anzunehmen, die Ar- (Beifall bei der LINKEN) beitslosen würden sich in der sozialen Hängematte aus- ruhen etc. Ich sage zu all diesen Argumenten eines: Ich Nun sagen Sie, man soll nicht immer pessimistisch finde sie wirklich unverfroren und böswillig. sein; man muss auch mal die Leistung sehen. All das will ich akzeptieren. Ich weiß auch, je nach Situation (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert sieht man all das etwas unterschiedlich; das ist mir nicht Winkelmeier [fraktionslos]) neu. Aber wir haben ja das ZDF-Politbarometer. Was sagt es denn? Es sagt, 78 Prozent der Bevölkerung mer- Weit über 90 Prozent aller Arbeitslosen wünschen eine ken nichts vom Aufschwung, nichts von mehr Wohl- neue Erwerbsarbeit in Würde. Das ist auch ihr gutes stand, nichts von höheren Chancen. Woran liegt das? Recht. Liegt das daran, dass sie es nicht begreifen, oder liegt das an deren Situation? Was machen Sie denn seit Jah- Dann nehmen Sie eine kleine Minderheit, die es im- ren, seit der Regierung von SPD und Grünen und nun mer und in jeder gesellschaftlichen Gruppe gibt, und ma- fortgesetzt von der Union und der SPD? Sie haben die chen daraus eine Theorie für die Mehrheit der Arbeitslo- Körperschaftsteuer für die Deutsche Bank und andere sen. Im Übrigen sind gerade die älteren Arbeitslosen Aktiengesellschaften von 45 auf jetzt 15 Prozent ge- besonders erpicht darauf, eine Erwerbsarbeit zu bekom- senkt. So ein Geschenk bekäme kein sozial Bedürftiger men. Ich kenne Leute, die einmal Ingenieure waren und in dieser Gesellschaft je von Ihnen wie die Deutsche heute beispielsweise als Pförtner arbeiten, bloß um ir- Bank und andere Aktiengesellschaften. gendeine Erwerbsarbeit zu haben. Ein solches Urteil steht uns nicht zu; das will ich ganz klar sagen. (Beifall bei der LINKEN) 12150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Gregor Gysi (A) Sie erwähnen dabei nie, dass die Körperschaftsteuer dass der Marburger Bund akzeptiert hat, dass ein Arzt an (C) in den USA, in Frankreich und in Großbritannien über einer Universitätsklinik im Osten 400 Euro weniger be- 30 Prozent beträgt, bei uns nur noch 15 Prozent. kommt. Auch damit muss endlich Schluss sein. (Laurenz Meyer [Hamm] [CDU/CSU]: Sagen (Beifall bei der LINKEN) Sie mal, tut Ihnen das eigentlich wirklich nicht weh, so etwas vorzutragen?) Präsident Dr. Norbert Lammert: Sie haben den Spitzensteuersatz der Einkommensteuer Nächster Redner ist der Kollege Ludwig Stiegler für von 53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt. Sie haben für Ak- die SPD-Fraktion. tiengesellschaften die Verkaufserlössteuer gestrichen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie erheben keine Vermögensteuer. All das machen Sie und reduzieren damit die Einnahmen des Staates. An- schließend erhöhen Sie die Mehrwertsteuer um 3 Pro- Ludwig Stiegler (SPD): zentpunkte, um die Normalverdienenden und sozial Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Schwachen zur Kasse zu bitten. Kollege Gysi gerade so agitiert hat, habe ich mir über- legt, wie er wohl geredet hätte, wenn er in Berlin nicht (Beifall bei der LINKEN) aus der Verantwortung geflüchtet wäre Außerdem senken Sie den Sparerfreibetrag, damit die (Widerspruch bei Abgeordneten der LINKEN) Normalverdienenden mehr Steuern bezahlen müssen. Auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes kürzen und in der Lage gewesen wäre, eine Bilanz vorzustellen, Sie von bis zu 32 Monaten auf 18 bzw. 12 Monate. Dann wie sie Franz Müntefering vorgestellt hat. führen Sie das unwürdige ALG II ein, bitten Kranke zur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Kasse und stellen Krankenkassen schlechter. Sie machen bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Minusrunde für Minusrunde bei den Rentnerinnen und NISSES 90/DIE GRÜNEN) Rentnern und sagen: Künftig gibt es die Rente zwei Jahre später, nämlich erst ab 67 Jahre. Sie gehen keine Dann hätte er ein rhetorisches Feuerwerk entfacht. Er hat Schritte zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost ja SED-Erfahrung. Man hat damals gelernt, dass man und West. Die Pendlerpauschale streichen Sie für die eine Regierung mit viel weniger Erfolgen loben muss. Hälfte der Bezieher, und die andere Hälfte bekommt Herr Gysi ist anders als die frustrierten PDSler aus dem deutlich weniger. Westen, die zum Lachen in den Keller gehen. Herr Gysi hätte hier eine wahre Prachtrede gehalten. Deshalb sage ich: Geschenkt wegen Kümmerlichkeit. (B) Präsident Dr. Norbert Lammert: (D) Herr Kollege Gysi, denken Sie bitte auch an die Rede- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie zeit. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE): Zur geschätzten Kollegin Falk, die uns philosophi- Ja. sche Betrachtungen nahegebracht hat; sie hat sich hier Lassen Sie mich nur noch darauf hinweisen, dass mit Äbten beschäftigt. Als Klosterschüler habe ich dafür 1,2 Millionen Menschen geringfügige, lächerliche Löhne volles Verständnis. Ich muss Ihnen sagen: Dieser Abt erhalten. Inzwischen befinden sich 800 000 Beschäftigte scheint den Aristoteles, den er in seinem Studium ken- in einem Leiharbeitsverhältnis – das hat zumindest das nengelernt hat, vergessen zu haben. Aristoteles sagt Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung festgestellt – nämlich in der Nikomachischen Ethik: Gerechtigkeit ist und arbeiten für unerträglich niedrige Löhne. Hinzu Gleichheit. Dem Genus proximum der Gleichheit fügt er kommt, dass die Reallöhne in Deutschland um 6 Prozent die Differentia specifica nach Verdienst, Bedarf und gesunken sind. Das alles erklärt, warum sich viele zu Leistung hinzu. Wir gehen davon aus: Gerechtigkeit ist Recht nicht wohlfühlen. mehr Gleichheit; aber im Detail gibt es feine Differen- zen. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Das ist aber Zum Schluss möchte ich noch auf etwas eingehen, nicht Aristoteles! – Volker Kauder [CDU/ was mich sehr geärgert hat. Man muss endlich den Min- CSU]: Das ist Stiegler, aber nicht Aristoteles! – destlohn für die Postbeschäftigten durchsetzen, wie Sie Dr. [FDP]: Das ist nicht es angekündigt haben. Dies richtet sich aber gar nicht an Aristoteles, das ist Stiegler! – Beifall bei Ab- die Adresse des Bundestages, sondern an die Tarifpar- geordneten der SPD) teien. Ich muss wirklich sagen: Es ist ein starkes Stück, dass man Ende des Jahres 2007 für unterschiedliche So ist es eben auch in einer Großen Koalition. Wir als Mindestlöhne der Beschäftigten der Post im Osten und Große Koalition sind das Genus proximum; aber ich bin im Westen sorgen möchte. die sozialdemokratische Differentia specifica. Darum betone ich manche Dinge anders als Frau Falk. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD – Dr. Ralf Brauksiepe Die Kostenstruktur ist in ganz Deutschland gleich. Ich [CDU/CSU]: Reden Sie in Ihrem Ortsverein sage das auch in Richtung Verdi. Mich hat auch geärgert, eigentlich auch so, Herr Stiegler?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12151

Ludwig Stiegler (A) – Ja, selbstverständlich. Aristoteles ist mein ständiger fördern, Bildung fördern, neue Erkenntnisse in Produkte (C) Begleiter. und Dienstleistungen umsetzen, also Unternehmensneu- gründungen fördern – eine Aufgabe, die wir in diesem (Heiterkeit bei der SPD) Jahr haben – und die erneuerbaren Energien fördern. Er ist nach wie vor ein guter Ratgeber, übrigens auch, Dazu sage ich Ihnen: Allein im letzten Jahr hat die KfW was seine rhetorischen Übungen angeht. Da betont er für das energetische Programm Kredite in Höhe von das Peithomenon, das Überzeugende. 17 Milliarden Euro ausgereicht, Investitionen in Höhe von 29 Milliarden Euro angestoßen und damit 500 000 Franz Müntefering hat die beste Bilanz vorgelegt, die Arbeitsplätze im Handwerk und im Mittelstand gesi- ein Bundesarbeitsminister seit 20 Jahren – ich erinnere chert. Das und nicht der Sozialabbau ist aktive Arbeits- an Norbert Blüm – präsentiert hat, und dazu kann man marktpolitik. ihm gratulieren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) In diesem Jahr ist es genauso: 12,2 Milliarden Euro Er hat hier die Zusammenhänge umfassend dargestellt. bis zum September, 370 000 Arbeitsplätze. Ich erinnere Er hat unsere Unterstützung. Wir alle haben unsere Er- an die Handwerksförderung. Ich erinnere an die Förde- fahrungen mit dem Arbeitsmarkt. Wir haben für rung der kommunalen Investitionen. Hartz IV gesorgt. 2005 dachten wir: In zwei Jahren ist die Arbeitslosigkeit halbiert. Wir haben zusehen müssen, Dank der Gewerbesteuerreform treten die Kommunen wie uns die Realökonomie und die Dotcom-Blase einen endlich wieder als Nachfrager auf dem Baumarkt auf. Strich durch die Rechnung gemacht haben. Am Ende hat Wir werden mit ihnen zusammen, Frau Falk, das Thema sich gezeigt: Nicht die Arbeitsmarktbedingungen sind als Auftraggeber angehen. Das hatte ich schon während das Entscheidende, sondern die Nachfrage nach Arbeit der Koalitionsverhandlungen versucht. Franz Müntefering und die wirtschaftliche Aktivität. Der Aufschwung hat kennt meine Rechungen. Damals waren die Großen des durch die veränderten Arbeitsmarktbedingungen einen Reiches in diesem Bereich noch etwas zurückhaltend. zusätzlichen Anstoß bekommen, weil zur Nachfrage Ich denke, wir werden das hinbekommen. Aber dann nach Arbeit die richtigen Instrumente vorhanden waren. müssen auch die Arbeitsbedingungen stimmen. Es muss Das ist die richtige Reihenfolge. klar sein: Nur dann, wenn die Arbeitsbedingungen stim- men – nicht bei Niedriglöhnen oder ausbeuterischen Zurzeit lese ich wegen der Finanzmarktkrise häufiger Löhnen –, wird das über den Haushalt als Arbeitgeber die Webseiten der Zentralbanken. Ich habe auf der funktionieren. Webseite der englischen Zentralbank eine Rede von David Blanchflower gefunden – die Leute dort würden (Beifall bei der SPD) (B) (D) Westerwelle für einen Sozialisten und Brüderle für einen Wir unterstützen alle Bemühungen für die lebens- Kommunisten halten –; lange Weiterbildung. Wir haben heute den Instrumenten- (Lachen der Abg. Elke Ferner [SPD]) kasten, mit dem wir die Nachfrage nach Arbeit finanzie- ren oder unterstützen können. Wenn es denn stimmt, dieses Mitglied des Monetary Policy Committee sagt, er dass es jetzt 1 Million registrierte offene Stellen gibt habe die europäischen Arbeitsmarktbedingungen unter- – die Bundesagentur sagt: das ist nur die Hälfte der wirk- sucht. Unglücklicherweise, schreibt er, habe sich heraus- lich vorhandenen –, dann erwarte ich, dass die Arbeits- gestellt, dass es keine oder nur eine ganz kleine agenturen und die Optionsgemeinden Tag und Nacht ar- Verknüpfung zwischen den sogenannten diversen Markt- beiten, um mit dem Instrumentenkasten, den ihnen Franz rigiditäten und den Änderungen in der Arbeitslosigkeit Müntefering und die Große Koalition hingestellt haben, gibt. Er hat Europa betrachtet und festgestellt: Weder die Menschen in Arbeit bringen. Das ist jetzt die Haupt- gibt es eine Korrelation zwischen der Arbeitslosigkeit aufgabe, und das ist unser gemeinsames Ziel. und der Bezugsdauer, noch gibt es eine Korrelation zwi- schen der Arbeitslosigkeit und dem Kündigungsschutz. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Es gibt nicht einmal einen Unterschied hinsichtlich der Dazu gehört natürlich auch gute Arbeit. Dazu gehören Stärke der Gewerkschaften. Er sagt: Entscheidend sind auch tarifliche Mindestlöhne, so zum Beispiel die im die Produktmärkte, die Kapitalmärkte und die Bau- Gebäudereinigerhandwerk seit 1. Juli. Die Welt ist nicht märkte. Als Einziges stellt er eine Korrelation zwischen zusammengebrochen, weil die Gebäudereiniger Min- Arbeitslosigkeit und Wohnungseigentum fest, was näm- destlöhne bekommen. Sie wird auch nicht zusammen- lich zu einer mangelnden Mobilität führt. – So ein engli- brechen, wenn die Postler anständig bezahlt werden. Ich scher Zentralbanker. warne Herrn Gerster und andere davor, gelbe Schmutz- Er sagt am Ende: The labour market follows. – Der gewerkschaften zu gründen, um eine anständige Bezah- Arbeitsmarkt folgt, nämlich den Arbeitsbedingungen lung der Postler zu hintertreiben. und der Nachfrage nach Arbeit. Wenn schon die Englän- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der so weit sind, das zu erkennen, dann müssen unsere der LINKEN) Liberalen irgendwann nachziehen. Hier hätte ich mir auch Beifall von meinem Koalitions- (Beifall bei der SPD) partner gewünscht, aber der kann ja innerlich stattgefun- Darum haben wir in der Koalition folgende Themen den haben und ist noch nicht nach außen getragen wor- bearbeitet: Arbeit schaffen, Forschung und Entwicklung den. Ich entnehme jetzt manchem Anlächeln, dass 12152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Ludwig Stiegler (A) zwischen der inneren Einstellung und dem äußeren Aus- Sicherheit im Wandel gegeben werden. Daran lasst uns (C) druck noch ein kleiner Hiatus besteht. Das wird sich aber arbeiten. Der Wandel bleibt. Dass die Menschen aber schon noch finden. Wie heißt es doch so schön: diesem Wandel in Sicherheit mit Zuversicht begegnen können, dafür werden wir gemeinsam sorgen. Blamier mich nicht, mein schönes Kind, und grüß mich nicht unter den Linden; Glück auf! wenn wir nachher zu Hause sind, wird sich schon alles finden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)

(Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Gerade die Einführung von Mindestlöhnen führt also zu Der Kollege Fritz Kuhn ist der nächste Redner für die mehr Kaufkraft und mehr wirtschaftlichen Erfolgen. Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich denke an einen weiteren Punkt: Dabei handelt es sich um die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): regionalen Wirtschaftsstruktur“. Vor uns liegen die Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Haushaltsberatungen. Wir haben Anträge zur Investi- Franz Müntefering hat für seine Rede viel Beifall be- tionsförderung in Höhe von 1 Milliarde Euro. Wir müs- kommen. Ich finde, dass man aus dem Beifall heraushö- sen dafür sorgen, dass diese Investitionen in Ost wie in ren konnte, dass es sich um drei verschiedene Arten von West getätigt werden. Wenn wir das jetzt versäumen, Beifall handelte. Zum einen mag es anerkennender Bei- könnte es passieren, dass wir erst im nächsten Investi- fall für die Leistungen von Franz Müntefering gewesen tionszyklus hier wieder zum Zuge kommen. Deshalb sein. Zum anderen – das war bei der CDU/CSU deutlich mein Appell an die Haushälter: Denkt daran, dass die herauszuhören – handelte es sich um eine Art Antibeifall steuerliche Investitionsförderung ausläuft. Lasst uns we- für Herrn Beck und seinen Vorschlag zum Arbeitslosen- nigstens diese Gemeinschaftsaufgabe miteinander vo- geld I. Zum Dritten hörte man bei beiden großen Volks- ranbringen. parteien eine Art Pfeifen im Walde angesichts der Dis- kussion, die sie noch vor sich haben. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) (Dirk Niebel [FDP]: Das Dritte habe ich auch gehört!) Meine Damen und Herren, Franz Müntefering hat auf dem Arbeitsmarkt wirklich unglaublich viel bewegt. Er Interessant finden wir, dass Sie in den letzten Tagen hat auch recht, wenn er sagt: Vorrangig ist es, dass wir ständig darüber diskutieren, wie die Agenda 2010 bei die Menschen in Arbeit bringen. – Wir übersehen aber der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I revidiert wer- (B) (D) nicht, dass es auch Menschen gibt, die Sorgen haben. So den soll, dass aber bis auf ein paar süffisante Nebenbe- treibt viele Ältere die Sorge um, wie es mit ihnen weiter- merkungen weder der Arbeits- und Sozialminister noch geht. Darum wird in der SPD intensiv darüber diskutiert, die Redner von CDU/CSU und SPD in der Lage sind, in wie man es schaffen kann, dass das, was wir eigentlich diesem Hohen Hause auf die Debatte einzugehen. An Ih- wollten, dass es geltendes Recht wird, umgesetzt wird. rem Verhalten ist wirklich einiges komisch. Das ist in diesem Fall ein interner Streit. Das freut die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Opposition. Ich gönne ihr, dass sie sich darüber freut. und bei der FDP) Das Leben ist ja sonst so karg. Das können Sie also ha- ben. Geschenkt. Wir wollen und müssen differenziert über die Agenda 2010 reden. Aber ich will einmal eines deutlich machen. Ich halte aber fest: Wir nehmen die Sorgen der Men- Die Agenda hatte – zu diesem Strang der Agenda stehen schen ernst. Ich habe gestern gesagt: Wir tragen die Re- wir nach wie vor – einen Hauptsinn, nämlich Schluss zu gierung auf Händen, aber gelegentlich machen wir eine machen mit all den diffusen Vorruhestandsmodellen, Pause, und dann reden wir mit dem Volk. Das sagt uns die zu nichts anderem führen als zu dem stillen Deal dann gelegentlich etwas anderes, als uns die Regierung zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, dass ältere sagt. Dann gibt es eben eine kleine Verwirrung und einen Belegschaften leichter entlassen werden können, weil kleinen Disput, aber am Ende ist es in 99 Prozent der entweder die Versichertengemeinschaft oder der Staat Fälle so: Wir sind stolz darauf, was wir gemeinsam mit dafür aufkommen, sodass die Kultur der Altersarbeit im der Regierung in der Großen Koalition erreicht haben. Laufe der Jahre und Jahrzehnte richtig ruiniert wurde. Wir werden alles dafür tun, dass wir wie bei dem be- rühmten Märchen von der Prinzessin auf der Erbse die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Erbse auch noch beseitigen und dann ganz ruhig schla- und bei der FDP) fen. Dafür werden wir miteinander in anständiger Weise Deswegen haben wir gemeinsam, die allermeisten jeden- sorgen. falls, die Agenda 2010 so gestaltet, dass die Bezugsdauer (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Arbeitslosengeldes I – wenn auch mit Übergangslö- der CDU/CSU – Dr. Guido Westerwelle sungen – reduziert wurde. [FDP]: Wer ist die Prinzessin? – Zuruf von der Der Vorschlag des SPD-Vorsitzenden Beck heißt CDU/CSU: Wer ist die Erbse?) nichts anderes, als mit dieser zentralen Logik der Meine Damen und Herren, es war immer auch die Agenda, die alle begrüßt haben, zu brechen. Beck setzt Botschaft von Franz Müntefering: Den Menschen muss an der völlig falschen Stelle an. Ich glaube nicht, dass Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12153

Fritz Kuhn (A) das die Beschäftigungskultur für ältere Arbeitnehmer in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) unserem Lande wieder verbessern kann. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die CDU hat ja eine Tradition auf dem Gebiet. Von sowie bei Abgeordneten der FDP) 1927 bis 1984 lag die Bezugsdauer des Arbeitslosengel- des in Deutschland bei 12 Monaten. Ab 1984 hat Helmut Ausgerechnet, liebe Kolleginnen und Kollegen von Kohl zusammen mit der FDP die Dauer systematisch auf der SPD, in einem Moment, wo es gelungen ist, die Be- 32 Monate angehoben. Das hatte einen einfachen Grund, schäftigungsquote älterer Arbeitnehmer zu steigern – die Frau Merkel: Er wollte den Haushalt sanieren. Denn Ar- Erwerbsquote bei den über 55-Jährigen lag im Jahr 2001 beitslosenhilfe wird vom Bundeshaushalt gezahlt und bei 37,9 Prozent und liegt jetzt bei 48,4 Prozent –, gehen Arbeitslosengeld von der Versichertengemeinschaft. So Sie in die Gegenrichtung und machen den Vorschlag, sie konnte man die Verhältnisse sehr schön zulasten der Ver- wieder zu reduzieren. sichertengemeinschaft verschieben, übrigens auch zulas- Gott sei Dank haben Sie, wenn ich dem Handelsblatt ten aller Arbeitslosen, weil die hohen Lohnnebenkosten, von heute folgen darf, die Ansätze zur Erweiterung der die das bewirkt hat, natürlich die Neuinvestitionen in Ar- Erwerbsminderungsrente auf Eis gelegt. beit reduziert haben. Da sollten Sie jetzt klare Kante zei- gen und sagen, was Sie eigentlich wollen. (Jörg Tauss [SPD]: Was wollen die Grünen?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich hoffe, dass das so stimmt. Denn dieser Vorschlag Frau Merkel, ich fordere Sie als CDU-Vorsitzende würde nichts anderes bedeuten, als die Chancen älterer auf, Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Arbeit zu finden, weiter zu reduzieren. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Sie können sie höchstens bitten!) Kommen Sie mir an dieser Stelle nicht mit den Um- fragen. Wenn man die Leute fragt, ob sie eine längere sich nicht hinter der SPD zu verstecken und Herrn Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere wollen, Röttgen und all diejenigen zu stoppen, die davon reden, dann sagt die große Mehrheit natürlich Ja. Aber wenn dass man dann die Koalition aufkündigen müsse – oder Sie die Leute fragen würden, ob sie eine längere Bezugs- wie auch immer sie sich geäußert haben. Sie müssen ein- dauer oder mehr Chancen für arbeitslose über 55-Jäh- mal klar sagen, was Sie selber machen wollen. Sie wol- rige, wieder in Arbeit zu kommen, wollen, was meinen len doch eigentlich das Gleiche, nur modifiziert um eine Sie, wie die Ergebnisse der Umfrage dann aussähen? Es Generationenungerechtigkeit, weil bei Ihnen die Jungen ist doch völlig logisch, dass das Ergebnis von der Frage für die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosen- (B) abhängt. geldes I zahlen sollen. (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- und bei der FDP) SES 90/DIE GRÜNEN) Ich fordere die SPD auf, sich noch einmal wirklich zu Ich stelle die Frage, was hier eigentlich die Priorität fragen, an welchen Stellen die Agenda 2010 zu verän- ist. Ich finde, die Große Koalition beschreibt die Priorität dern ist, und den falschen Vorschlag, der jetzt bei Ihnen nicht. in der Umlaufbahn ist, nicht umzusetzen. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Doch! Arbeits- (Jörg Tauss [SPD]: Was wollen die Grünen?) plätze schaffen!) Übrigens ist die CDU/CSU in dieser Debatte keinen Ist es wichtiger, die Transferleistungen um einige Mo- Deut besser. Willkommen im Rüttgers-Klub, kann ich da nate zu verlängern, oder wäre es nicht besser, alle Mittel nur sagen! darauf zu konzentrieren, dass wieder mehr Menschen schneller in Arbeit kommen, wenn sie arbeitslos gewor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den sind? Ich habe viel Erstaunliches gelesen. Ich weiß ja nicht so (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Da haben genau, Frau Merkel, wie es bei der CDU im Innern zu- Sie völlig Recht!) geht. Aber der stärkste Spruch, den ich seit langem ge- hört habe, kam von Ihrem mittelstandspolitischen Spre- Dies tun Sie aber nicht, weil Sie beides gleichzeitig wol- cher, Herrn Michael Fuchs, der in der Leipziger len und keine Prioritäten setzen können. Volkszeitung zur Verlängerung des Arbeitslosengeldes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagte: und bei der FDP) Das haben wir doch damals nur angenommen, weil Herr Müntefering, ich komme zu einigen Punkten, bei jeder wusste, das kommt nicht. denen Sie in Ihrem Debattenbeitrag ausgewichen sind. Es geht um die Bilanz der Arbeitsmarktpolitik der Gro- Ich danke für die Lesehilfe von CDU-Programmen und ßen Koalition. CDU-Parteitagsbeschlüssen. Wir müssen in der Zu- kunft also davon ausgehen: Was Sie beschließen, haben Erstens. Ihr großes Versprechen, Frau Merkel, die Sie nur angenommen, weil Sie hoffen, dass es nicht Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu senken, kön- kommt. nen Sie nicht einhalten. Wenn Sie den Anstieg des Pfle- 12154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Fritz Kuhn (A) geversicherungsbeitragssatzes um 0,25 Prozentpunkte zum standen wird, wieder schnell in die Erwerbsarbeit zu (C) Sommer 2008 dazunehmen, dann liegen Sie über 40 Pro- kommen. Hier hat die Agenda 2010 Defizite, und wir zent und nicht unter 40 Prozent. Sie haben also Ihr erstes meinen, dass man an dieser Stelle ansetzen muss. zentrales Ziel Ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik – bis- Ich nenne in diesem Zusammenhang erstens den Re- lang jedenfalls – nicht erreicht. gelsatz. Ich erwarte, dass Sie entsprechende Zahlen lie- Zweitens. Sie, Herr Müntefering, haben immer von fern, Herr Müntefering. Zweitens stellt sich die Frage einer Neuausrichtung der aktiven Arbeitsmarktpolitik nach einem Mindestlohn, für den wir nach dem von uns gesprochen. Sie wollten die Instrumente prüfen und de- vorgeschlagenen Verfahren sind. Dazu gehört auch das ren Anzahl reduzieren. Bislang ist dies nicht geschehen. Thema Kinderarmut, Frau Merkel, die sich weiter aus- Sie prüfen seit über zwei Jahren und machen nichts an- breitet. Die Zahl der Bezugsberechtigten von Arbeitslo- deres, als immer neue Programme aufzulegen, anstatt die sengeld II sinkt ja nicht. Es muss mehr getan werden als dezentrale Kompetenz der Fallmanager in den Arbeits- die Erhöhung des Regelsatzes aufgrund der Preissteige- agenturen zu stärken. rungen und die Zahlung des Kinderzuschlages, um die Kinderarmut in diesem Land zu bekämpfen. (Beifall des Abg. Dirk Niebel [FDP]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es kommt ein Programm nach dem anderen. Heute haben Sie wieder zwei neue angekündigt. Ich nenne Ih- Den Bereich des Altersvermögens müssen wir refor- nen einmal den Grund, warum Sie diese Programme auf- mieren. Alle, die mit den Leuten reden, wissen doch, legen. Wer keinen Mut zu weiteren Strukturreformen dass die Art, wie das Altersvermögen abgeschmolzen hat, der flüchtet systematisch in Programme: hier ein wird, eines der Hauptärgernisse der Bevölkerung im Zu- Kombilohn, dort eine Kleinigkeit zum Mindestlohn, aber sammenhang mit der Agenda 2010 ist. Deswegen sage kein ausreichender Mindestlohn; hier ein Programm für ich: Schauen Sie sich doch noch einmal unseren Vor- Lehrlinge, dort ein kommunales Ergänzungsprogramm. schlag eines Altersvorsorgekontos an. So können wir Es gibt aber keine Stringenz, woran man erkennen kann, großzügiger und breiter aufgestellt Altersvermögen in welcher Art und Weise Sie weiter reformieren wollen. schützen, und das ist auch eine unbürokratische Lösung. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt kommt Herr Müntefering, ich komme zum wichtigsten Argu- Ihr Vorschlag!) ment: Die Arbeit im Niedriglohnbereich ist in Deutsch- land zu teuer, weil wir zu hohe Lohnnebenkosten erhe- Das Gleiche gilt für die Arbeit der Arbeitsgruppe ben. Deswegen gibt es so viel Schwarzarbeit. Deswegen Niedriglohn. Seit langem brüten Sie über dem Erwerbs- haben so viele Menschen, die in diesem Bereich Vollzeit tätigenzuschuss. Eigentlich sollte ein entsprechender arbeiten, zu wenig Geld zum Leben, sodass sie ergän- (B) Vorschlag den Menschen im unteren Lohnbereich netto zende Arbeitslosengeld-II-Leistungen in Anspruch neh- (D) mehr bringen. Jetzt geht es aber nur noch um einen men müssen. Lohnkostenzuschuss. Ich sage klar: Eine Koalition, die sich zwischen Mindestlohn und flächendeckendem Kombilohn nicht entscheiden kann, wird keine klare Präsident Dr. Norbert Lammert: Richtung in die Arbeitsmarktpolitik der Bundesrepublik Herr Kollege Kuhn. Deutschland bringen. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir sagen dazu: Lasst uns in diesem Bereich die Frau Merkel, an Ihre Adresse sage ich: Wenn der Satz Lohnnebenkosten in der Breite im Rahmen eines Pro- „Wer voll arbeitet, der muss damit ein existenzsichern- gressivmodells senken! Lasst uns den Schwerpunkt der des Einkommen für sich und seine Familie erzielen kön- Reformarbeit darauf legen! Es muss doch möglich sein, nen“ richtig sein soll, dann müssen Sie einmal sagen, eine falsche Struktur, die zur Verteuerung einfacher Ar- wie Sie das – Sie lehnen ja den Mindestlohn ab – errei- beit in Deutschland führt, zu ändern. Frau Merkel, jetzt chen wollen. Sie tun es aber nicht, weil der flächende- sollen alle im Hightechbereich einen Arbeitsplatz su- ckende Kombilohn keine Antwort auf die vor uns liegen- chen; dort wird investiert. Was haben wir denn davon, den Probleme ist. wenn wir keine Arbeitsplätze für die einfachen Leute ha- ben, für diejenigen, die die erforderliche Qualifikation (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht haben, aber in unserem Land arbeiten wollen und SES 90/DIE GRÜNEN) arbeiten müssen? In diesem Bereich gibt es strukturelle Ich will unsere Reformrichtung im strukturellen Be- Hindernisse. Herr Müntefering, ich fordere Sie auf, an reich verdeutlichen. Wir sagen zunächst einmal, dass die dieser Stelle etwas zu tun. Agenda 2010 an verschiedenen Stellen richtig war. Bei- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) spielsweise hat die Zusammenlegung von Arbeitslosen- hilfe und Sozialhilfe 500 000 Menschen die Möglichkeit eröffnet, Anschluss am Arbeitsmarkt zu finden und wie- Präsident Dr. Norbert Lammert: der in die Erwerbsarbeit zu kommen. Wenn Sie sich in Herr Kollege Kuhn, schauen Sie zwischendurch ein- der Bevölkerung umhören, dann werden Sie aber erfah- mal auf die Redezeit. ren, dass das Arbeitslosengeld II, was die Ermittlung des Bedarfs und die Auszahlung betrifft, von den Bürgern Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch nicht als Existenzsicherung und als Chance ver- Bitte? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12155

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Das ist nicht schlechtzureden. Die Bilanz der wirtschaft- (C) Können Sie zwischendurch einmal auf die Anzeige lichen Entwicklung dieses Landes ist beeindruckend, Ihrer Redezeit schauen? und das schlägt sich in sehr guten Arbeitsmarktzahlen nieder. Darauf sind wir stolz. Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Es ist schlecht, wenn man sich auf die Redezeit kon- der SPD) zentriert. Man sollte sich auf den Inhalt konzentrieren, Herr Präsident. Die Arbeitslosigkeit ist immer noch zu hoch, aber immerhin ist die Zahl der Arbeitslosen auf 3,5 Millionen (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ zurückgegangen. Im Vergleich zum September letzten DIE GRÜNEN) Jahres haben wir 694 000 Arbeitslose weniger; der Minister hat zu Recht darauf hingewiesen. Im Vergleich Präsident Dr. Norbert Lammert: zum September 2005 sind es sogar 1,1 Millionen Ar- Das ist wohl wahr. Das ist eine spezifische Herausfor- beitslose weniger. Das ist eine gute Entwicklung. Wer derung, die alle Mitglieder des Hauses immer wieder ehrlich ist, muss gerade aufseiten der Opposition zuge- trifft. ben: Das hätten Sie so nicht erwartet. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Fritz Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): der SPD) Ich komme Ihnen zuliebe zum Schluss. Die Zahl der Erwerbstätigen ist auf fast 40 Millionen ge- (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- stiegen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be- NEN) schäftigten ist auf fast 27 Millionen gestiegen. Die Große Koalition hat in dieser Debatte bislang Damit das, was der Kollege Gysi dazu gesagt hat, nicht gesagt, wohin sie dieses Land eigentlich reformie- nicht unwidersprochen stehen bleibt, will ich betonen: ren will. Sie verteilen Geld, das wahrscheinlich nicht Innerhalb eines Jahres haben wir bei der sozialversiche- mehr lange da ist. Sie legen nichts zurück, und anstelle rungspflichtigen Beschäftigung einen Zuwachs von von Strukturreformen zur Verbesserung der Lage der 555 000 Stellen zu verzeichnen. Es ist wahr, Herr Gysi: Dauerarbeitslosen finden Programme statt, aber ohne Davon sind rund die Hälfte Vollzeitstellen und rund die System und ohne klare Richtung. Hälfte Teilzeitstellen. Das ist doch völlig in Ordnung. Vielen Dank. Wir haben knapp 300 000 Vollzeitstellen und knapp 300 000 Teilzeitstellen mehr als vor einem Jahr. Was ha- (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben Sie denn in Ihrer Zeit als Senator für Wirtschaft und (D) Arbeit geschaffen? Welche Zahlen können Sie dagegen- Präsident Dr. Norbert Lammert: stellen? Wir sind stolz auf die Zahlen, die wir vorzuwei- Herr Kollege Kuhn, ich bedanke mich für die aus- sen haben. drückliche Sympathieerklärung, weise aber darauf hin, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und dass sie von meiner Großzügigkeit bei der Bemessung der SPD) Ihrer Redezeit noch deutlich überboten wird. Nur zur Erklärung, weil Sie vom ersten Semester (Heiterkeit) Ökonomiestudium gesprochen haben: Es mag an Ihrer Nun hat das Wort der Kollege Dr. Ralf Brauksiepe für Uni ja vielleicht so erzählt worden sein, wie Sie es dar- die CDU/CSU-Fraktion. gestellt haben, aber ich will Ihnen sagen, dass Mini- und Midijobs nicht zur sozialversicherungspflichtigen Be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schäftigung gehören. Wenn Sie heute ein Ökonomiestu- dium aufnehmen würden, würde Ihnen das im ersten Se- Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): mester erläutert. Der Zuwachs an Mini- und Midijobs Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich kommt zu diesem Aufwuchs an sozialversicherungs- kann direkt an die Rede des Kollegen Stiegler anknüp- pflichtiger Beschäftigung hinzu. Reden Sie es also nicht fen: Es ist wirklich schön und macht Spaß, als Mitglied klein; bleiben Sie mindestens bei der Wahrheit! der Regierungskoalition eine so erfolgreiche Politik in (Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. diesem Hause vertreten zu können, wie sie diese Große Jörg Tauss [SPD]) Koalition und diese Bundesregierung machen. Das ist wirklich eine schöne Sache. – Herr Tauss, wir regieren doch noch zusammen. Ich habe jetzt zwei Jahre lang nicht Ihre Zwischenrufe ge- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- hört. Die habe ich vermisst. neten der SPD) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Das schlägt sich in überzeugenden Zahlen zum wirt- schaftlichen Wachstum nieder. Wir haben das schon im Zur Frage, wo der Aufschwung ankommt und wer da- letzten Jahr erlebt. Das Institut der deutschen Wirtschaft von etwas merkt. Es mag ja sein, dass von den rund kündigt in diesen Tagen ein wirtschaftliches Wachstum 25 oder 26 Millionen Menschen, die in Arbeit waren, als von 2,5 Prozent in diesem Jahr an. Die Zahlen sind be- wir die Regierung übernommen haben, nicht jeder sagt, eindruckend. Davon beißt keine Maus einen Faden ab. dass es ihm besser geht. Denn sie hatten ja schon vorher 12156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Ralf Brauksiepe (A) Arbeit. Aber die Millionen Menschen, die in der Amts- dass das Geld, das für die Kinder gedacht ist, in der Tat (C) zeit der Großen Koalition Arbeit bekommen haben – es bei den Kindern ankommt. Das ist unsere gemeinsame sind keine 26 Millionen, aber es sind Millionen – wis- Verantwortung, der wir gerecht werden. sen, dass es ihnen heute besser geht. Ihre Situation und die ihrer Familien haben sich erheblich verbessert. Da- Wir stehen als Große Koalition gemeinsam, denke rauf sind wir stolz. Sie bemerken den Aufschwung. ich, für das, was in Meseberg verabredet worden ist. Wir sind vertragstreu. Das sage ich ganz deutlich. Das gilt (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auch für alle Verabredungen, die wir zum Mindestlohn neten der SPD) getroffen haben. Aber klar ist natürlich auch: Es gibt ein Man kann also feststellen: Wir sind uns in der Großen paar ungewöhnliche Entwicklungen, über die man reden Koalition nicht in allem einig, aber wir haben gemein- muss. Sie haben es angesprochen. Es geht zum Beispiel sam eine Menge erreicht. Wir sind gemeinsam erfolg- um den ehemaligen Arbeitsminister von Herrn Beck. Ich reich und konzentrieren uns in der Zukunft gemeinsam habe den Bundesarbeitsminister danach gefragt. Es ist auf die Lösung der Probleme, die jetzt auf dem Arbeits- wirklich so: Herr Gerster ist nicht wegen neoliberaler markt noch besonders drängen. Es gibt Problemregio- Umtriebe von Herrn Beck entlassen worden, sondern da- nen. Dafür gibt es unter anderem den Kommunalkombi. mals aus anderen Gründen ausgeschieden. Es ist richtig, dass man regional Schwerpunkte setzt, wo Herr Gerster kündigte gestern die Gründung einer sie notwendig sind. neuen Gewerkschaft an. Er sagte: Es gibt Leute, die sich Wir konzentrieren uns auf die Gruppen, zum Beispiel von Verdi nicht vertreten fühlen. Es könne dieser Tage die Langzeitarbeitslosen und die Menschen mit Behin- eine Gewerkschaftsgründung geben, und vielleicht gebe derungen, die bisher vom Aufschwung weniger profi- es dieses Jahr noch miteinander konkurrierende Tarifver- tieren als andere. Die Arbeitslosigkeit bei Menschen mit träge. Behinderungen ist in einem Jahr um 10 Prozent gesun- Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Ex-Arbeits- ken. Das ist für sich genommen eine große Zahl. Bei ei- minister der SPD sucht sich eine Gewerkschaft, die tap- nem Rückgang von insgesamt 15 Prozent zeigt das aber fer für niedrige Löhne kämpft. Das ist politisch ein Stück auch, dass Handlungsbedarf besteht. Deswegen gehen aus dem Tollhaus. wir besonders an diese Problemgruppen auf dem Ar- beitsmarkt heran. (Beifall des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE] – Ludwig Stiegler [SPD]: Wir müssen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und fest zusammenstehen, damit das nicht passiert! der SPD) Fest zu Meseberg stehen! Mit Meseberg gegen (B) Gleichzeitig haben wir in dieser Zeit Diskussionen, Gerster!) (D) die sich Rot-Grün in ihrer Regierungszeit gewünscht Wir werden sehen müssen, wie wir rechtlich damit um- hätte. Herr Kuhn, Sie mussten nie darüber diskutieren, zugehen haben; aber es ist ein Stück aus dem Tollhaus. wohin man mit Milliardenüberschüssen will. So eine Debatte kennen Sie aus Ihrer eigenen Regierungsverant- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der wortung gar nicht. Wir sind froh, dass wir in einer Situa- LINKEN) tion sind, in der es um die Frage geht, was wir mit den Deswegen werden wir sorgfältig das zu prüfen haben, Überschüssen machen. Unsere Position als Union ist was auch angesichts angekündigter Klagen einer rechtli- klar: Wir wollen die vorhandenen Überschüsse an die chen Analyse bedarf. Wir stehen zu den Verabredungen, Beitragszahler zurückgeben. die wir getroffen haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie mich noch etwas zum Arbeitslosengeld I Wir sind zuversichtlich, dass wir uns mit unserem Koali- sagen, weil es sich in der Debatte immer um Jüngere und tionspartner darüber verständigen können. Ältere dreht. Als CDU haben wir auf unserem Bundes- Ich will, weil es immer wieder um das geht, was bei parteitag einen Beschluss gefasst, Herr Kuhn, aus dem den Menschen ankommt, einmal auf Folgendes hinwei- ich nur einen Punkt zitieren will, über den häufig nicht sen: Wenn wir eine Senkung des Arbeitslosenversiche- gesprochen wird. Wir haben festgelegt, dass wir längere rungsbeitrages auf 3,5 Prozent schaffen, dann haben Zahlungen nicht ans Lebensalter, sondern an die Bei- wir die Beitragszahler in der Zeit der Großen Koalition trags- und Lebensleistung knüpfen wollen. Wer 15 Jahre um 20 Milliarden Euro entlastet, indem wir den Bei- lang eingezahlt hat, soll 15 statt 12 Monate lang Arbeits- tragssatz von 6,5 Prozent auf 3,5 Prozent gesenkt haben. losengeld beanspruchen können. Was hat das denn mit Das sind eine stolze Bilanz und eine gute Leistung. Älteren zu tun? Bei uns gibt es Leute – ich denke hier an meinen Stellvertreter Stefan Müller –, die mit 16 Jahren (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) angefangen haben, Beitrag zu zahlen. Wenn jemand mit 16 anfängt, Beiträge zu zahlen, dann hat er nach unserem Das ist die Politik, die wir gemeinsam erarbeitet haben Konzept mit 31 Jahren Anspruch auf eine um drei Mo- und die wir gemeinsam zu vertreten haben. nate längere Arbeitslosengeldzahlung. Wird da ein Älte- Ich will an das anknüpfen, was der Arbeitsminister rer begünstigt? Er kann noch in der Jungen Union sein, gesagt hat. In der Diskussion bezüglich des Regelsatzes sogar bei den Jusos könnte er sein; er darf noch nicht bei im SGB II muss für uns die Priorität darin liegen, dass den alten Herren Fußball spielen. Ein Anfang-30-Jähri- alle Kinder in diesem Land eine echte Chance haben und ger ist doch kein Alter, der da begünstigt wird. Es gibt si- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12157

Dr. Ralf Brauksiepe (A) cherlich auch andere, die 30 Semester Politologie studie- nen wortwörtlichen Begründung zur damaligen Verkür- (C) ren. So etwas steht Ihnen in Ihrer Fraktion, Herr Kuhn, zung der Bezugsdauer des ALG I noch einmal zu! vielleicht näher als die Werdegänge, die wir bei uns ha- ben. (Beifall bei der FDP – Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Über Begründungen wird aber (Heiterkeit bei der CDU/CSU) normalerweise nicht abgestimmt!) Ich sage Ihnen ganz deutlich: Es geht nicht um Jüngere Diese Argumente waren damals richtig und sind es heute oder Ältere, sondern es geht darum, Beitrags- und Le- noch. Sie sollten zu Ihrer Meinung stehen. bensleistung zu honorieren. Das ist unser Vorschlag, mit dem wir in die weiteren Gesprächen gehen. Andernfalls erklärten Sie heute, dass Sie damals Fal- sches beschlossen hätten. Oder hängen Sie heute Ihre Vielen Dank. Meinung wie eine Fahne in einen populistischen linken Wind? Wir Liberale freuen uns schon auf den Abgleich (Beifall bei der CDU/CSU) der Namen nach Auszählung der heutigen namentlichen Abstimmung. Damals haben schließlich 592 Abgeord- Präsident Dr. Norbert Lammert: nete diesem Gesetz zugestimmt. Das Wort erhält der Kollege Jörg Rohde für die FDP- Fraktion. (Dirk Niebel [FDP]: Ziemlich große Mehr- heit!) (Beifall bei der FDP) Anstatt aber den älteren Arbeitssuchenden Steine in Form von vermeintlichen Wohltaten durch einen verlän- Jörg Rohde (FDP): gerten ALG-I-Bezug in den Weg zu legen, sollten Sie Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen den Jobsuchenden über 50 Jahre lieber die Türen des Ar- und Herren der Koalition! Vor allem aber: Sehr geehrte beitsmarktes weiter öffnen. Über die Jahrzehnte haben ehemalige Beteiligte an der rot-grünen Regierungskoali- sich etliche Beschäftigungs- und Wiedereinstellungs- tion von 2002 bis 2005! Ich gehe zunächst auf die heu- hemmnisse für Ältere in die Arbeitsmarktgesetzgebung tige Debatte ein. Herr Müntefering, Sie haben die Zeitar- eingeschlichen. Einige wenige davon sind durch die Ar- beit erwähnt und gesagt, es solle sich nicht um beitsmarktreformen von Rot-Grün beseitigt worden. Dauerarbeitsplätze handeln. Aber es gibt beispielsweise Aber anstatt nun auch die restlichen Beschäftigungs- in der IT-Branche Arbeitnehmer, die es ablehnen, einen hemmnisse für Ältere auszuräumen, diskutieren Sie da- Arbeitsplatz in dem Unternehmen anzunehmen, in dem rüber, wie man das Rad wieder zurückdrehen kann. sie eingesetzt sind. Denken Sie bitte auch an diese Ar- (B) Liebe Kolleginnen und Kollegen der Union, lassen Sie (D) beitnehmer, Herr Minister, die in einer sicheren Zeitar- sich bei dieser Diskussion nicht von der SPD einwi- beitsfirma bleiben möchten. ckeln; drängen Sie lieber auf eine Entrümpelung der Ar- Leider haben Sie heute kein Wort zu den immer noch beitsmarktgesetze! hohen Arbeitslosenzahlen bei den Schwerbehinderten (Beifall bei der FDP) gesagt. Hier bin ich Herrn Brauksiepe für seine Bemer- kung sehr dankbar. Meine Damen und Herren, lassen Sie sich von der FDP einmal kurz sagen, wodurch ältere Beschäftigte und Ar- Herr Gysi, Arbeitszeitverkürzung ist der falsche Weg. beitslose bedroht bzw. am Wiedereintritt in den Arbeits- Die 35-Stunden-Woche, die übrigens von der IG-Metall markt behindert werden. Die Regelung zur Altersteilzeit durchgesetzt wurde, hat sehr viele Arbeitsplätze ge- stellt einen Fehlanreiz zum vorzeitigen Arbeitsende dar. schaffen – aber im Ausland und nicht hier in Deutsch- Miserable Hinzuverdienstmöglichkeiten machen die Er- land, Herr Gysi. werbstätigkeit parallel zum Altersrentenbezug völlig un- (Beifall bei der FDP – Dr. Gregor Gysi [DIE attraktiv. Die 58er-Regelung lässt die Potenziale der über LINKE]: So ein Quatsch!) 58-Jährigen ungenutzt verkümmern. Herr Stiegler, eine Antwort sind Sie schuldig geblie- (Beifall bei der FDP) ben. Es wäre natürlich interessant gewesen, zu erfahren, Diese Missstände gilt es anzugehen. wie sich die SPD-Bundestagsfraktion beim Thema ALG I positioniert. Ich dachte, dies sei gerade für Ihre (Dirk Niebel [FDP]: Sehr richtig!) Partei eine zentrale Frage. Wir dürfen nicht das vorzeitige Arbeitsende subven- (Beifall bei der FDP) tionieren, sondern wir müssen alle Arbeitnehmerinnen Mit unserem heutigen Entschließungsantrag eröffnen und Arbeitnehmer durch kontinuierliche Weiterqualifi- wir von der FDP allen Kolleginnen und Kollegen, be- zierung länger am Arbeitsmarkt halten. Wir müssen die sonders aber den Abgeordneten der SPD, die Möglich- 58er-Regelung, mit der ältere Arbeitslose nur noch ge- keit, fördert, aber nicht mehr gefordert werden, wie geplant auslaufen lassen. Da ich gestern im Ausschuss sehr ge- (Lachen des Abg. Jörg Tauss [SPD]) nau zugehört und den Vorstoß der SPD bemerkt habe, sage ich Ihnen: Hände weg von diesem Gesetz! sich zu Ihren Überzeugungen von 2003 zu bekennen. Bleiben Sie heute standhaft und stimmen Sie Ihrer eige- (Beifall bei der FDP) 12158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Jörg Rohde (A) Auch für diejenigen, die schon eine Altersrente bezie- der Finanzminister voraussichtlich in diesem Jahr erst- (C) hen, müssen wir es durch eine Erhöhung der Hinzuver- mals einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen kann. dienstgrenzen attraktiv machen, einem Nebenerwerb Wann konnte zuletzt ein Rückgang der Arbeitslosigkeit nachzugehen. in Millionenhöhe verkündet werden? Das ist ein ent- scheidender Erfolg unseres Arbeits- und Sozialministers Allerdings nahen Weihnachten und Parteitage, und Franz Müntefering. Ich finde, das sollte heute herausge- schon wollen linke Sozialromantiker und Märchenerzäh- stellt werden. ler in der SPD und vielleicht auch in der Union auf Kos- ten der Beitragszahler ein Wahlgeschenk kaufen, dessen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Umfang die Haushaltspolitiker auf mindestens 2 Milliar- der CDU/CSU) den Euro taxieren. Lassen Sie diesen Unsinn, meine Da- men und Herren! Folgen Sie den Vorschlägen der FDP Wann konnte ein Finanzminister so positive Zahlen vor- und nutzen Sie die Überschüsse der Bundesagentur für legen, wie dies Peer Steinbrück tun konnte? Arbeit für eine größtmögliche Senkung des Beitrags zur (Beifall bei der SPD) Arbeitslosenversicherung. Denn davon profitieren alle Arbeitnehmer. Das ist ein hervorragender Erfolg unseres Finanzminis- ters, der seinesgleichen sucht. (Beifall bei der FDP) Die Fakten können sich im internationalen Vergleich Dadurch würde die Arbeit in Deutschland günstiger und sehen lassen, vor allem dann, wenn man berücksichtigt, wettbewerbsfähiger, und es würden mehr Arbeitsplätze dass kein anderes westeuropäisches Land die Kosten der entstehen. So bringen wir Deutschland voran. deutschen Vereinigung zu schultern hatte; diese Kosten Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und SPD, waren übrigens nicht aus der Portokasse zu zahlen, wie kehren Sie zur Vernunft zurück! Beenden Sie jetzt Ihren uns manche glauben machen wollten. Wettstreit mit der Fraktion Die Linke um die schlech- Die Profiteure dieser guten Entwicklung sind die teste und teuerste Arbeitsmarktpolitik! Bleiben Sie in der 1,5 Millionen Menschen, die wieder Arbeit gefunden ha- Arbeitsmarktpolitik dem Grundsatz des Förderns und ben. Wir sind dem Ziel, mehr Beschäftigung zu schaffen, Forderns treu! Bekräftigen Sie die Gesetzesbegründung schon ein großes Stück näher gekommen. Damit geben aus dem Jahre 2003 und folgen Sie heute dem Antrag wir uns aber nicht zufrieden. Wir wollen noch mehr der FDP! Menschen Teilhabe und Arbeit ermöglichen, und wir Vielen Dank. wollen gute Arbeitsbedingungen schaffen, damit die Menschen in Würde arbeiten können. Deshalb folgen (B) (Beifall bei der FDP) wir unserer Leitlinie, die deutlich zum Ausdruck bringt: (D) Wir wollen die Reformen am Arbeitsmarkt menschen- Präsident Dr. Norbert Lammert: würdig und mit Augenmaß umsetzen; bei manchen Re- Das Wort erhält der Kollege Klaus Brandner für die formen ist das in der Vergangenheit leider aus dem Blick SPD-Fraktion. geraten. Das hat für uns Sozialdemokratinnen und So- zialdemokraten das Prä, und dafür stehen wir ein. (Beifall bei der SPD) (Frank Schäffler [FDP]: Was heißt das konkret?) Klaus Brandner (SPD): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Wir wollen, dass die wirtschaftliche Dynamik nicht nur Damen und Herren! Die heutige Regierungserklärung, wenigen, sondern möglichst vielen Menschen nutzt. Wir die mit den Stichworten Aufschwung, Teilhabe, Wohl- wollen – das haben wir mit dem Agendaprozess gezeigt –, stand und Chancen für den Arbeitsmarkt überschrieben dass von diesem erfolgreichen Prozess am Ende alle et- ist, weist darauf hin, dass die gute wirtschaftliche Ent- was haben. wicklung für die Menschen gestiegene Chancen am Ar- Wir Sozialdemokraten haben für die Agenda einiges beitsmarkt mit sich gebracht hat. an gesellschaftlichem Gegenwind in Kauf genommen. Das Handelsblatt hat gestern gemeldet, dass sich die Heute ist noch einmal deutlich geworden, dass unser jet- deutsche Wirtschaft im Hinblick auf die Auftragsein- ziger Koalitionspartner dabei nicht immer mit hilfrei- gänge in einem Investitionsrausch befindet. Auch bei der chen Äußerungen aufgetreten ist. Industrieproduktion sind positive Zahlen zu verzeich- (Jörg Tauss [SPD]: Das ist wahr! Aber da sind nen. Die wirtschaftliche Entwicklung ist robust, und wir nachsichtig!) das in einem schwierigen Umfeld, in dem die Rohöl- preise und der Eurokurs auf Rekordniveau sind und in Es gibt viele Ministerpräsidenten, es gibt selbst Regie- dem die Immobilienkrise in den USA auf die deutschen rungsmitglieder, die sich oft einen schlanken Fuß ge- Banken ausstrahlt und auch auf die Situation anderer macht haben. Rüttgers ist sicherlich nur ein Name. Er hat Unternehmen Auswirkungen hat. über die Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslo- sengeld I schwadroniert, tatsächlich will er eine massive Trotz dieses schwierigen internationalen Umfeldes ist Kürzung der Leistungen. Das muss an dieser Stelle auch es uns erstens gelungen, die Zahl der Arbeitslosen von ganz offen angesprochen werden. gut 5 Millionen auf 3,5 Millionen Menschen zu reduzie- ren. Zweitens ist es uns gelungen, dafür zu sorgen, dass (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. 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Klaus Brandner (A) Insofern wäre zumindest aus meiner Sicht – die Bundes- auf Umwegen zutage tritt. – Ich sehe freundliches Ni- (C) kanzlerin ist nicht mehr da – ein deutlicheres Wort in cken bei unserem Koalitionspartner, in den Reihen der mancher Situation erwünscht und hilfreich gewesen, CDU/CSU. – Das wäre ansonsten kleingeredet worden. Dieser Erfolg kann sich sehen lassen. Er gibt Menschen (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Dürfen wir Sie Hoffnung und Halt. Darauf können wir stolz sein. zitieren?) (Beifall bei der SPD) um diesen sozial gesteuerten Reformprozess systema- tisch fortsetzen zu können. Die Erfolge am Arbeitsmarkt, gerade für Ältere, sind angesprochen worden – ich will sie nicht alle wie- Denn die Erfolge sind da. Die Erfolge der Großen derholen –: Über 200 000 Menschen über 50 haben im Koalition – auf sie ist heute mehrfach hingewiesen wor- letzten Jahr Arbeit gefunden. Die Erwerbsbeteiligung den –, aber auch die Erfolge, für die wir zusammen mit der Älteren ist deutlich gestiegen von 38 Prozent in den einem anderen Koalitionspartner den Grund bereitet ha- 90er-Jahren auf über 52 Prozent jetzt. Das sind gute Zah- ben, für die Bundeskanzler a. D. Gerhard Schröder den len. Aber damit dürfen wir uns insgesamt gesehen nicht Grund bereitet hat, haben uns neue Spielräume und neue zufriedengeben. Wir brauchen eine noch viel höhere Er- finanzielle Möglichkeiten gegeben, die wir nutzen werbsbeteiligung Älterer. Wenn unsere Bevölkerung (Beifall bei der SPD) schrumpft, wenn immer weniger Jüngere nachwachsen, muss unser Wohlstand mehr und mehr von den Älteren für Investitionen in die Zukunft, die wir nutzen für eine mit geschaffen werden. Deshalb brauchen wir eine hö- bessere Bildung für unsere Kinder, die wir nutzen für here Erwerbsbeteiligung aller Bevölkerungsgruppen, mehr Innovationen, für gute Arbeit und die wir nutzen insbesondere der Älteren. Das setzt ein Umdenken in für eine bessere Infrastruktur und nicht zuletzt für eine den Betrieben voraus. Der Prozess des altersgerechten Klimapolitik, die uns ein Leben auf diesem Planeten erst Arbeitens beginnt erst. Er wird noch dauern, wie wir ermöglicht. Das sind die Zukunftsaufgaben, denen wir wissen. Deshalb wollen wir die Bezugsdauer von uns stellen. Arbeitslosengeld I für Ältere unter diesem Risikoge- Konjunktur und Arbeitnehmerrechte, das ist immer sichtspunkt verlängern. Wir wollen diesem Umstand eine große Herausforderung, der wir uns stellen müssen. Rechnung tragen. Dabei ist es aus meiner Sicht ganz wichtig, dass man Deshalb sage ich aber auch ganz deutlich: Die Aufre- klarstellt, dass Wachstum auch ohne den Abbau von Ar- gung in der Diskussion darüber, dass damit eine Abkehr beitnehmerrechten geschieht. von der Agendapolitik verbunden sei, ist völlig überzo- (Beifall bei der SPD) gen. Ich sehe dafür überhaupt keinen Zusammenhang. (B) (D) Ich kann mich sehr gut an die heftigen und ideologischen (Beifall bei der SPD) Diskussionen über Mitbestimmungsrechte, über Tarif- Die eigentliche Herausforderung liegt ganz woanders. autonomie, über Kündigungsschutz erinnern. Sie alle Die Zukunftsfragen heißen: Wie können wir die Bun- sollten geschliffen werden, Teile sollten geopfert wer- desagentur für Arbeit zu einer Beschäftigungsversiche- den, damit wir wieder mehr Arbeit in diesem Land ha- rung weiterentwickeln? Wie muss eine präventive Ar- ben. Ich sage ganz deutlich: Die Sicherung der Arbeit- beitsmarktpolitik aussehen, damit Arbeitslosigkeit erst nehmerrechte, die mir ein Herzensanliegen ist, steht gar nicht entsteht? Wie sieht eine Arbeitsmarktpolitik für wirtschaftlichem Wachstum nicht entgegen. eine Welt mit völlig veränderten Erwerbsbiografien aus? (Beifall bei der SPD) Die Anforderungen an ein Erwerbsleben haben sich Die Menschen brauchen Sicherheit, sie brauchen Boden deutlich verändert. Elternzeiten für beide Ehepartner, unter den Füßen, damit sie innovativ und kreativ zum Pflegezeiten für Eltern, Sabbaticals zur Weiterbildung, Wohle unseres Landes wirken können. Deshalb gibt es eine völlig neue berufliche Ausrichtung, all das ist neben mit uns keinen Abbau des Kündigungsschutzes, um es neuen Berufsbildern gefragt. Hierzu werden von uns, klar und deutlich zu sagen. verbunden mit dem Stichwort gleitende Übergänge in den Ruhestand zum Beispiel auch aus gesundheitlichen (Beifall bei der SPD) Gründen, Antworten erwartet. Wir müssen Antworten darauf finden, wie wir die höheren Flexibilitätsanforde- In den letzten Tagen ist über die Beschäftigung Älte- rungen mit Sicherheit verbinden können. rer und über die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I diskutiert worden. Wir machen uns diese Diskussion Die Bundesagentur der Zukunft muss sich deshalb nicht leicht, wie Sie alle wissen und erleben. Da hat es mehr in Richtung einer präventiven Politik orientieren: Herr Rüttgers schon leichter. Diese Diskussion – lassen Beratung in der Schule, in der Ausbildung, bei den Über- Sie mich das sagen – hat allerdings neben dem Inhaltli- gängen aus der Schule in das Arbeitsleben und aus Fami- chen eine positive Begleiterscheinung: Wir können bei lienzeiten, bei der Weiterbildung, bei der Qualifizierung dieser Diskussion auf die grandiosen Erfolge der Ar- und bei der zweiten Chance. Die Aufgabe, für eine quali- beitsmarktpolitik dieser Regierung und der Vorgänger- tativ hochwertige Arbeitsmarktpolitik zu sorgen, bleibt regierung hinweisen. Sie wäre sonst niemals so zur bestehen. Deshalb besteht aus unserer Sicht die Aufgabe, Kenntnis genommen worden. Rechte und Linke im Haus dafür zu sorgen, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst ent- hätten niemals so gelobt, was sich am Arbeitsmarkt alles steht. Mit dieser Zukunftsorientierung gehen wir an die bewegt hat. Das ist auch ein Punkt, der manchmal erst Arbeitsmarktpolitik heran. 12160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Klaus Brandner (A) Deshalb sage ich ganz deutlich: Es geht nicht vorran- (Jörg Tauss [SPD]: Wie bisher!) (C) gig um die Frage, ob der Beitrag zur Arbeitslosenversi- Ich kann heute feststellen: Wir haben die Hoffnungen cherung angesichts der guten Finanzsituation um weitere der Menschen nicht enttäuscht. 0,3 Prozentpunkte gesenkt werden kann. (Volker Kauder [CDU/CSU]: Richtig!) (Beifall bei der SPD) Wir haben uns der Lösung der drängenden Probleme in Im Vordergrund steht, dass wir neben der Beitragssatz- unserem Land zugewandt. Wir haben uns den Herausfor- senkung von 6,5 Prozent auf 4,2 Prozent – eine weitere derungen, die Globalisierung und demografischer Wan- Senkung auf 3,9 Prozent ist jetzt schon beschlossen – die del mit sich bringen, gestellt und versuchen, sie einer Frage beantworten müssen, welche Aufgaben zukünftig Lösung zuzuführen. wahrgenommen werden sollen, damit die Menschen möglichst schnell wieder in Arbeit kommen, um nicht (Beifall bei der CDU/CSU) aus dem Arbeitsprozess herauszufallen Das gilt ausdrücklich nicht nur für die Arbeitsmarkt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und Sozialpolitik, sondern das gilt auch für viele andere der CDU/CSU) Bereiche, in denen es heute nachweisbare Erfolge unse- rer Politik gibt: im Bereich der Finanz- und Haushalts- und um dafür zu sorgen, dass die Arbeitslosenversiche- politik, im Bereich der Umwelt- und Energiepolitik und rung zu einer Beschäftigungsversicherung weiterentwi- im Bereich der Familienpolitik, um nur ein paar Bei- ckelt wird. spiele zu nennen. Aber wir haben von vornherein gesagt: Uns geht es um gute Arbeit. Ich habe gesagt, die Ar- Das zentrale Handlungsfeld dieser Regierung und der sie beitswelt hat sich verändert – nicht nur als Folge von tragenden Fraktionen ist die Arbeitsmarktpolitik, weil veränderten Wünschen Einzelner, sondern auch wegen sich politische Erfolge dort unmittelbar messen lassen anderer Lebensentwürfe und des globalen Wettbewerbs. und bei den Menschen unmittelbar ankommen. Wir wissen, dass Teile der Wirtschaft mit einfachen Re- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- zepten darauf reagieren: Lohnsenkungswettbewerb, neten der SPD) Leiharbeit, Rückkehr zu kürzeren Taktzeiten, Umgehung von Tarifverträgen, verstärkte Schichtarbeit an Wochen- Diese Erfolge unserer Arbeit lassen sich heute an den enden und Ähnliches. Der Druck wird einfach an die Ar- Zahlen ablesen. Ich glaube, die Zahlen sind so gut, dass beitnehmerinnen und Arbeitnehmer weitergereicht. Das man sie immer wieder vortragen sollte: Die Arbeitslosig- wollen wir nicht. Ich kann nur davor warnen. Das ist zu keit betrug im September 2005 4,6 Millionen, im Sep- kurz gesprungen. Der richtige Weg für uns ist: nicht län- tember 2007 3,5 Millionen. Sozialversicherungspflichtig (B) ger, schneller und härter, sondern besser, intelligenter beschäftigt waren im September 2005 26,5 Millionen (D) und qualifizierter. Das sind die Losungen, für die unsere Menschen, im September 2007 26,9 Millionen. Wir ha- Arbeitsmarktpolitik steht. ben weniger Jugendliche, die arbeitslos sind, und mehr Ältere, die wieder eine Beschäftigung gefunden haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diese Zahlen zeigen, dass die Große Koalition erfolg- der CDU/CSU) reich arbeitet. Wir leisten unseren Beitrag dazu, dass im- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. Gerade für mer weniger Menschen auf Fürsorge angewiesen sind das Thema Zeitarbeit sind uns gute Beispiele bekannt und immer mehr Menschen von ihrer eigenen Arbeit le- – zum Beispiel bei Audi –, mit denen deutlich gemacht ben können. wird, dass wir den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ früher verwirklichen müssen und dass Mindest- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- löhne notwendig sind, damit es nicht dazu kommt, dass neten der SPD) man bei vollschichtiger Arbeit nicht von seinem Arbeits- Das, was wir in zwei Jahren gemeinsam mit der SPD einkommen leben kann. erreicht haben, kann sich sehen lassen und lässt sich in Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. verschiedenen Bereichen der Arbeitsmarktpolitik able- sen, zum Beispiel bei der Senkung des Beitrags zur (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Arbeitslosenversicherung um 2,3 Prozentpunkte. Wir der CDU/CSU) haben damit nicht nur die Lohnzusatzkosten gesenkt, Arbeit und Arbeitsplätze in Deutschland wieder wettbe- Präsident Dr. Norbert Lammert: werbsfähig gemacht, sondern gleichzeitig auch dafür ge- Das Wort erhält nun der Kollege Stefan Müller für sorgt, dass den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern CDU/CSU-Fraktion. in unserem Land von ihrem Bruttolohn netto mehr übrig bleibt. Das ist ein Erfolg, auf den wir stolz sein können. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Nun gibt es ja einen Antrag der FDP. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als (Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP] meldet sich die Große Koalition vor zwei Jahren ihre Arbeit aufge- zu einer Zwischenfrage) nommen hat, haben die Menschen in diesem Land die Hoffnung damit verbunden, dass die drängenden Pro- – Vielleicht möchte Herr Dr. Kolb dazu eine Zwischen- bleme in diesem Land endlich gelöst werden. frage stellen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12161

(A) Vizepräsidentin : Wirtschaft jetzt nicht länger nur von Beschäfti- (C) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des gungschancen Älterer sprechen darf, sondern in der Kollegen Dr. Kolb? Pflicht ist, dafür zu sorgen, dass Menschen über 50 wirklich wieder eingestellt werden. Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Bitte schön. neten der SPD) Wir werden diesen Kurs fortsetzen, insbesondere im Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Hinblick auf diejenigen, bei denen dieser Aufschwung Herr Kollege Müller, nachdem heute immer wieder am Arbeitsmarkt so noch nicht angekommen ist. Die die angeblichen Entlastungen der Arbeitnehmer von den Zahlen werden immer wieder deutlich gemacht; sie wer- Vertretern der Koalition beschworen werden, möchte ich den auch gar nicht bestritten. Nicht wahr ist, dass der Sie fragen: Wären Sie denn bereit, uns zu sagen, wie Aufschwung an den Langzeitarbeitslosen und den Men- hoch die Mehrbelastungen der Arbeitnehmer auf- schen mit geringeren Qualifikationen bislang komplett grund der Erhöhung der Rentenversicherungsbeiträge, vorbeigegangen ist. In der Tat können wir uns da aber der Erhöhung der Krankenversicherungsbeiträge, der ab- noch sehr viel mehr wünschen. Gerade für diese Gruppe sehbaren Erhöhung des Pflegeversicherungsbeitrages der Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten und der Erhöhung der Mehrwertsteuer sind? Ich glaube, sind wir in der Verantwortung, mehr zu tun. dass sich insgesamt ein negativer Saldo ergibt. Stimmen Sie dem zu? Eine zweite Gruppe, um die wir uns intensiv küm- mern müssen, sind die Jugendlichen. Der Kollege Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU): Brandner hat sie bereits angesprochen. Auch hier gilt es, noch mehr Anstrengungen zu unternehmen, um die Ju- Ich stimme dem ausdrücklich nicht zu, Herr Kollege gendlichen in eine Beschäftigung zu bringen. Es bleibt Dr. Kolb. Wir führen diese Debatte ja heute nicht zum ersten Mal. Ich gebe Ihnen gern noch einmal die Unter- dabei: 400 000 jugendliche Arbeitslose unter 25 sind im- lagen des Instituts der deutschen Wirtschaft, aus denen mer noch 400 000 zu viel. Es bleibt dabei, dass auch die- ich im Ausschuss schon einmal zitiert habe. Dieses Insti- jenigen eine Chance bekommen müssen, die heute die tut kommt im Endergebnis dazu, dass es eine Entlastung Hauptschule verlassen, ohne anschließend unterzukom- der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gegeben hat. men. Auch für sie werden wir noch einiges machen. (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Allein die Zu- Unser Ziel ist, dass kein junger Mann und keine junge satzbelastung durch die Mehrwertsteuererhö- Frau die Schule verlässt und dann in die Arbeitslosigkeit hung!) fällt. Unser Ziel ist – das haben wir schon mehrfach for- (B) muliert –, dass jedem, der die Schule verlässt, ein Aus- (D) Ich stelle Ihnen diese Unterlagen sehr gerne zur Verfü- bildungsplatz, ein Arbeitsplatz, eine Qualifizierungs- gung. maßnahme oder eine gemeinnützige Beschäftigung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) angeboten wird. All das ist besser, als zu Hause herum- zusitzen, weil man keine Arbeit hat. Herr Kollege Dr. Kolb, uns liegt heute ein Antrag der Wir haben in den letzten zwei Jahren dafür gesorgt, FDP mit dem Titel „Überschüsse der Bundesagentur für Arbeit an Beitragszahler zurückgeben – Beitragssen- dass diejenigen, die Hilfe brauchen, diese auch bekom- kungspotenziale nutzen“ vor. Sie sprechen sich darin für men. Wir haben Instrumente geschaffen, um Menschen eine weitere Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenver- mit besonderen Vermittlungshemmnissen bessere Chan- sicherung mindestens auf 3,5 Prozent aus. Dieser Antrag cen am Arbeitsmarkt zu bieten, und wir haben dafür ge- trägt das Datum 19. September 2007. Dazu fällt mir nur sorgt, dass die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands ein: Guten Morgen! Auch schon ausgeschlafen? – All hinsichtlich der Arbeitsplätze verbessert wurde. das, was Sie in diesem Antrag fordern, haben Vertreter Insofern rufe ich Ihnen zu: Die Zeiten der ruhigen der Großen Koalition schon seit Wochen und Monaten in Hand in Deutschland sind vorbei. Deutschland bewegt diesem Hause immer wieder besprochen und beschlos- sich nach vorn. Das ist auch das Verdienst dieser Bun- sen. Ich kann Ihnen versichern, dass wir diesen Weg desregierung und der sie tragenden Fraktionen. weitergehen werden. Ihre Nachhilfe haben wir in diesem Zusammenhang jedenfalls nicht nötig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD – Ludwig Stiegler [SPD]: Und (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- von Franz Müntefering!) neten der SPD) Wir haben Fehlentwicklungen im SGB II abgebaut. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Da ging es nicht allein darum, Missbrauch zu bekämp- Nächster Redner ist der Kollege Rolf Stöckel für die fen, sondern auch darum, ungerechtfertigte Inanspruch- SPD-Fraktion. nahme einzudämmen und vor allem die knapper werden- den Mittel auf diejenigen zu konzentrieren, die wirklich (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Hilfe brauchen. Wir haben mit der Initiative „50 plus“ die Beschäftigungschancen und -perspektiven für ältere Rolf Stöckel (SPD): Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bundes- verbessert, gleichzeitig aber ein Signal gegeben, dass die minister Müntefering hat heute Morgen eine eindrucks- 12162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Rolf Stöckel (A) volle Zwischenbilanz und einen ausführlichen Ausblick Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozial- (C) auf die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dieser Bundesre- hilfe hat viele Menschen aus der verdeckten und ver- gierung gegeben. Ich glaube, wir können ein bisschen schämten Armut in die soziale Grundsicherung nach stolz darauf sein, dass wir hinsichtlich der Ziele, mit de- dem SGB II geholt. Sie hat die Statistik ehrlicher ge- nen wir angetreten sind, in der Tat inzwischen erste Er- macht und die staatlichen Instrumente zur Bekämpfung folge auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen, die auch nach- der Langzeitarbeitslosigkeit und der Armut verbessert. haltig sind. Es bleibt richtig und prioritär, dass verstärkt Arbeitsplätze und existenzsichernde Familieneinkom- in Qualifizierung und Beschäftigung investiert wird, und men sind prioritär und stellen die materielle Basis zur es zeigt sich, dass diese Anstrengungen vor allen Dingen Vermeidung von Kinderarmut dar. Der Erfolg unserer die älteren Arbeitnehmer erkennbar erreicht haben. Politik ist sichtbar. Die Arbeitslosigkeit sinkt. Hartz IV ist deshalb auch zweieinhalb Jahre nach Inkraftteten des Das heißt aber auch – Minister Müntefering hat die Gesetzes – sicherlich ist noch vieles zu verbessern – we- Beschlüsse der Bundesregierung, die wir noch umzuset- der der Grund für zunehmende Armut noch ein geeigne- zen haben, angesprochen –, dass diese Politik ständig ter Gradmesser. verbessert und weiterentwickelt werden muss. Es ist keine Schande – das hat diese Debatte ausdrücklich do- Entscheidend ist die Weiterentwicklung der von uns kumentiert –, dass gerade eine Partei wie die SPD da- eingeleiteten Maßnahmen der Familien-, der Gesund- rüber diskutiert, wie man einerseits eine richtige Antwort heits-, der Bildungs-, der Arbeitsmarkt-, der Sozial- und auf die besondere Situation von älteren Arbeitnehme- der Integrationspolitik. Ich rufe dem neuen Ministerprä- rinnen und Arbeitnehmern und Arbeitslosen findet sidenten Bayerns zu, der heute in einem Interview sagt, und auf der anderen Seite für neue Arbeitsbiografien und er habe Verständnis dafür, wenn ältere Arbeitslose mehr neue Herausforderungen gerade für junge Familien mit und länger Arbeitslosengeld I bekommen wollten als Kindern, die auch vom Risiko der Arbeitslosigkeit be- Menschen aus der Türkei oder Bosnien: Ich finde, diese droht sind, neue Lösungen findet, die dazu beitragen, Form der Spaltung von Arbeitnehmerinnen und Arbeit- dass die Armutsrisiken von Familien und besonders nehmern gehört in das 20. Jahrhundert, aber nicht in eine von Kindern nachhaltig abgebaut werden. moderne Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. (Beifall des Abg. Ludwig Stiegler [SPD]) (Beifall bei der SPD) Im Streit in der SPD geht es auch darum, dass die Unser Ziel bleibt, dass möglichst viele Menschen un- Arbeitslosenversicherung, die wir zu einer Beschäfti- abhängig von einer staatlichen Grundsicherung leben gungs- und Arbeitsversicherung weiterentwickeln wol- können – Hilfe zur Selbsthilfe –, dass sie sich aber im len, eine solidarische Risikoversicherung ist. (B) Bedarfsfall auch darauf verlassen können. Ausmaß und (D) Gründe für Armutsrisiken bei Kindern sind viel weitge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hender, als diejenigen meinen, die öffentlich immer wie- Die Äquivalenz von Lebensleistung und gezahlten Bei- der auf Armut durch Hartz IV verweisen. Zu keiner Zeit trägen spielt eine große Rolle. Ich glaube, darauf müssen hat es mehr Maßnahmen sowie Struktur- und Leistungs- wir auch eine Antwort geben. Sie drückt sich in dem verbesserungen zur Bekämpfung der Armutsrisiken bei prozentualen Anteil des Arbeitslosengeldes I am bisheri- Kindern gegeben als heute. Wir haben seit 1998 – zuerst gen Verdienst aus; sie muss sich aber auch in einer zeitli- unter Rot-Grün, dann in der Großen Koalition – die Fa- chen Differenzierung ausdrücken. Diese besteht zwar miliensozialleistungen wesentlich verbessert: dreimalige schon, aber sie kann womöglich verbessert werden. Erhöhung des Kindergeldes und des steuerfreien Exis- tenzminimums, Senkung der Eingangssteuersätze, För- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) derprogramme für soziale Städte, erweiterte Rechts- ansprüche, Leistungen nach dem SGB II sowie Eines wird die SPD nicht mitmachen – das muss ich Kinderzuschlag für Familien. Die Bundesländer haben als Nordrhein-Westfale auch dem dortigen Ministerprä- 4 Milliarden Euro für den Ausbau von Ganztags- sidenten Rüttgers klar sagen –: durch das alleinige Beto- grundschulen bekommen. Wir haben mit dem größten nen der Leistungsgerechtigkeit einen schleichenden Weg Investitionsprogramm in der Geschichte, dem Tagesbe- in eine private Ansparversicherung anzubahnen. treuungsausbaugesetz, eine enorme Kraftanstrengung (Beifall bei Abgeordneten der SPD) unternommen, um die Strukturen insbesondere bei der Betreuung der unter Dreijährigen zu verbessern. Die Situation junger Familien und das Armutsrisiko von Kindern war in den letzten Wochen vor allem durch (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften ein öffentliches Thema, das zunehmend an Bedeutung ge- Frau Merkel hat vor einigen Monaten die Initiative er- winnt. Deswegen begrüße ich die Zusage des Bundesar- griffen und gefordert, die Kinderrechte sowie das Recht beitsministers, gerade in diesem Bereich nicht nur die auf Förderung und Entwicklung in das Grundgesetz auf- Modi der Transferleistungen zu überprüfen, sondern mit- zunehmen. Die Debatte darüber muss dazu führen, diese zuhelfen, zu einem koordinierten Vorgehen und einem Initiative zu unterstützen und zu einem gemeinsamen Bündnis gegen Kinderarmut und für Bildungs- und Vorgehen der föderalen Ebenen zu kommen. Nur so wer- Lebenschancen von Kindern zu kommen. den wir Strukturverbesserungen erreichen, die notwen- dig sind, um Kinderarmut auf allen Ebenen zu bekämp- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) fen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12163

Rolf Stöckel (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Beitrag dazu leisten, dass es in der Wirtschaft in (C) Deutschland mehr Wettbewerb unter den Unternehmen Die meisten Kinder und Jugendlichen in Deutschland le- gibt, ja oder nein. ben in Wohlstand. Aber das heißt nicht automatisch, dass sie gegen Misshandlungen oder Verwahrlosung, insbe- Schauen wir uns an, was sich zurzeit – der Kollege sondere emotionaler Art, in einer Gesellschaft gefeit Brauksiepe hat einen Teilaspekt angesprochen – zum sind, in der zunehmend weniger Kinder leben. Es kommt Beispiel im Bereich der Post tut. Herr Müntefering, ich darauf an, dass wir gemeinsam, Bund, Länder und Kom- sage in vollem Ernst: Macht Ihnen nicht Sorge, was da munen, Verbände und alle anderen, die gesellschaftliche zurzeit beispielhaft abläuft? Ich sehe, dass ein Unterneh- Verantwortung tragen, die Kinderrechte stärken und die men einen Arbeitgeberverband gründet, damit anschlie- Bedingungen, unter denen Kinder in Deutschland auf- ßend der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wachsen, verbessern. Frau Merkel, wir unterstützen Sie werden kann; daraufhin wollen andere Unternehmen auf diesem Weg. eine Gewerkschaft gründen, um dagegenzuhalten. Das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ist doch eine Fehlentwicklung, die wir nicht mitmachen der CDU/CSU) dürfen. Wir müssen alle auffordern, sich endlich an ei- nen Tisch zu setzen und vernünftige Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmer in diesem Bereich zu schaffen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege (Beifall bei der CDU/CSU – Ludwig Stiegler Laurenz Meyer für die CDU/CSU-Fraktion. [SPD]: Gelbe Marktwirtschaft!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dirk Niebel Wir werden den Weg der Zersplitterung von Arbeitneh- [FDP]: Jetzt mal gradlinig bleiben!) mervertretungen und Arbeitgebervertretungen nicht mit- gehen; denn wir sehen diesen Prozess mit großer Sorge. Laurenz Meyer (Hamm) (CDU/CSU): Unternehmen und Arbeitgeber versuchen in allen mögli- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und chen Branchen – einige waren bei Ihnen, Herr Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, Müntefering –, den Mindestlohn und die Möglichkeit, dass alle, die Bedenken hatten, wie sich diese Debatte Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, dazu vor dem aktuellen Hintergrund entwickeln wird, eines zu benutzen, weniger Wettbewerb in ihren Branchen zu Besseren belehrt worden sind. Ich finde, das ist eine sehr erreichen. wichtige Debatte. Wir müssen sie unbedingt fortsetzen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Denn eines ist ganz klar: Wenn es uns nicht gelingt, den neten der FDP) Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland (B) (D) klarzumachen, dass die durchgeführten Reformen und Das betrifft die Zeitarbeitsbranche, Entsorgungsfirmen die geplanten Veränderungen ihnen zum Vorteil gerei- und viele andere mehr. Die großen Unternehmen in den chen, und wenn der Aufschwung nicht bei den Arbeit- verschiedenen Branchen wollen den Wettbewerb mit den nehmerinnen und Arbeitnehmern ankommt, dann wird kleinen und mittleren Unternehmen minimieren. Sie be- die Glaubwürdigkeit der sozialen Marktwirtschaft insge- dienen sich dazu ausgerechnet des Instruments der Er- samt nicht gestärkt, sondern geschwächt. klärung von Tarifverträgen für allgemeinverbindlich und des Entsendegesetzes. Herr Müntefering, wenn Sie oder (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wir auf diese Praktiken hereinfallen würden – ich bin si- neten der SPD) cher, dass Sie es nicht tun –, dann würden wir der sozia- Deswegen bin ich sehr dafür, dass wir uns jetzt über- len Marktwirtschaft in Deutschland einen Bärendienst legen, wie wir es wirklich schaffen können, dass bei de- erweisen. Die CDU/CSU und ich sind jedenfalls nicht nen, die jetzt in den Arbeitsprozess gekommen sind – die bereit, diesen Weg mitzugehen. meine ich in erster Linie –, von dem, was sie sich erar- (Beifall bei der CDU/CSU) beiten, auch möglichst viel ankommt. Dazu dient bei- spielsweise die Senkung des Arbeitslosenversiche- Wettbewerb ist für mich das Schlüsselwort der sozialen rungsbeitrags. Wenn wir das schaffen, dann kommt bei Marktwirtschaft, wenn es um die Wirtschaft geht. Wenn den Betroffenen direkt mehr Geld an, und wir leisten zu- weniger Wettbewerb herrscht, werden wir alle teuer da- sätzlich einen Beitrag zur Schaffung von mehr Arbeits- für bezahlen. Letztendlich werden die Arbeitnehmer mit plätzen in Deutschland. einer Maßnahme, die gut gemeint ist, bestraft. Wir müssen aufpassen, dass wir an der Stelle, an der Wir haben in einem weiteren Bereich etwas gemacht, wir jetzt sind – das ist wirklich ein Scheideweg –, nicht was gut gemeint war, aber leider zu einer Fehlentwick- den Fehler machen, Programme mit zusätzlichen Ausga- lung geführt hat. Das betrifft die Hinzuverdienstmög- ben zu beschließen; wir müssen vielmehr alle Maßnah- lichkeiten beim ALG II. Wir müssen darangehen, die- men daraufhin abklopfen, ob sie einen zusätzlichen Bei- sen Bereich neu zu organisieren. Ich habe meine trag zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen leisten, ja Zweifel, ob die von Ihnen bisher vorgeschlagene Lösung oder nein, die richtige ist. Unabhängig davon haben Sie in einem (Beifall bei der CDU/CSU) Teilaspekt recht. Wir müssen bis zu einem Betrag von 1 200 Euro einen gleitenden Übergang erreichen und ob sie einen Beitrag dazu leisten, dass mehr Geld beim Brüche vermeiden. Wenn bei einem Betrag von Arbeitnehmer ankommt, ja oder nein, und ob sie einen 800 Euro ein neuer Bruch erfolgen würde, wäre das für 12164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Laurenz Meyer (Hamm) (A) das System genauso schlecht wie der Bruch bei jetzt Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die (C) 400 Euro. Wir müssen den unteren Teilbereich der gerin- Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- gen Einkommen neu organisieren – das betrifft auch die lung zu beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Anrechnung von Kindern –, damit sich eine Kombina- Ihnen später bekannt gegeben.1) tion von ALG II, einem Miniminijob und Schwarzarbeit nicht lohnt. Unternehmen und Arbeitnehmer arbeiten da Wir kommen zum Zusatzpunkt 4. Interfraktionell wird zurzeit Hand in Hand. Wir dürfen diese Fehlentwicklung die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/6434 an nicht hinnehmen. die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe kei- Das Gleiche gilt für den Kinderzuschlag. Die derzei- nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. tige Situation ist skandalös. Wir müssen verfassungsge- mäße Wege finden, damit nicht ein Geringverdiener, Ich bitte diejenigen, die der weiteren Beratung folgen etwa einer in der Gruppe der Bezieher von Einkommen wollen, Platz zu nehmen, und diejenigen, die Gespräche bis 1 200 Euro, für sein Kind nur ungefähr die Hälfte der führen wollen, dies nach Möglichkeit außerhalb des Saa- Transferleistungen dessen bekommt, der keine Arbeit les zu tun. Ich möchte gerne in der Debatte fortfahren. hat. Wir müssen das Problem intelligent mit Anreizen lö- Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 d so- sen, damit Kinder in diesem Einkommensbereich gleich- wie Zusatzpunkt 5 auf: gestellt werden und sich Arbeit für diejenigen lohnt, die Arbeit aufnehmen wollen. 4 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ CSU und SPD eingebrachten Entwurfs eines (Beifall bei der CDU/CSU) Gesetzes zur Errichtung eines Sondervermö- Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt sind die gens „Kinderbetreuungsausbau“ privaten Haushalte. Ich bin froh, dass wir in diesem Bereich endlich aktiv werden wollen, um die Ziele und – Drucksache 16/6596 – die Anreize richtig zu setzen. Zurzeit hat keiner auf bei- Überweisungsvorschlag: den Seiten – weder der Haushalt als Arbeitgeber noch Haushaltsausschuss (f) Rechtsausschuss der Arbeitnehmer – ein Interesse daran, die Schwarz- Finanzausschuss arbeit zu minimieren, damit die Leute in sozialversiche- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie rungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse kommen. Wir Ausschuss für Arbeit und Soziales haben ungefähr 200 000 gemeldete Stellen – Minijobs Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend plus andere Beschäftigungsverhältnisse –, aber 4 Millio- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana nen Beschäftigte in den Privathaushalten. Es muss uns Golze, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer doch gelingen, wenigstens einige Hunderttausend dieser (B) Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (D) Beschäftigten in sozialversicherungspflichtige Beschäf- tigungsverhältnisse zu bringen, indem wir die richtigen Kinderbetreuungsausbau mit mehr Mitteln, Anreize setzen. Fachkräften und Qualität ausstatten – Rechts- Das ist für mich soziale Marktwirtschaft. An diesen anspruch auf Ganztagsbetreuung 2010 einfüh- Kriterien – Wettbewerb, und was dient den Arbeitgebern ren und den Arbeitnehmern in Deutschland, damit mehr Ar- – Drucksache 16/6601 – beitsplätze entstehen? – sollten wir die Maßnahmen und Überweisungsvorschlag: das Riesenpaket an Reformen, das wir jetzt vor uns ha- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) ben, messen. Dann sind wir auf einem guten Weg, und Ausschuss für Arbeit und Soziales dann werden wir diesen positiven Weg, hier vielfach be- Ausschuss für Bildung, Forschung und schrieben, zum Nutzen der Menschen in Deutschland Technikfolgenabschätzung weitergehen. Haushaltsausschuss (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ekin neten der SPD) Deligöz, Grietje Bettin, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Ich schließe die Aussprache. Angebot und Qualität der Kindertagesbetreu- ung schneller und verlässlicher ausbauen – Im Rahmen des Tagesordnungspunkts 3 kommen wir Realisierung nicht erst 2013 zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6624 zur Abgabe – Drucksache 16/6607 – einer Erklärung durch die Bundesregierung. Die Frak- Überweisungsvorschlag: tion der FDP hat namentliche Abstimmung verlangt. Ich Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge- Finanzausschuss sehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an den Ur- Ausschuss für Arbeit und Soziales nen besetzt? – Jetzt sind alle Urnen besetzt. Ich eröffne Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung die Abstimmung. Haushaltsausschuss Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Stimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der 1) Ergebnis Seite 12167 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12165

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- Kleinkinderbetreuungsmöglichkeiten wie Krippenplät- (C) regierung zen im Osten viel besser als in Westdeutschland. Ich sage ganz persönlich: Ich hätte mir gewünscht, dass die Bericht der Bundesregierung über den Stand besonderen Erfahrungen, die man in Ostdeutschland mit des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot dieser Betreuung gemacht hat – als Kind bin ich selbst in an Kindertagesbetreuung für Kinder unter dieser Form betreut worden –, viel früher Einfluss auf drei Jahren 2007 die Politik dieses Landes gehabt hätten. – Drucksache 16/6100 – (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und Überweisungsvorschlag: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ich glaube, dass es Deutschland gutgetan hätte, wir hät- Ausschuss für Bildung, Forschung und ten früher damit angefangen und hätten diese Erfahrung Technikfolgenabschätzung mit eingebracht. Haushaltsausschuss Ich erinnere mich an jemanden, der die These vertre- ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ina ten hat – er ist dann niedersächsischer Justizminister ge- Lenke, Miriam Gruß, Sibylle Laurischk, weiterer worden –, die überproportional starke rechtsextreme Abgeordneter und der Fraktion der FDP Einstellung in Ostdeutschland, die es durchaus gibt, Chancengerechtigkeit von Beginn an rühre daher – so weit ging das! –, dass die Kleinkinder zusammen aufs Töpfchen gehen. – Drucksache 16/6597 – Überweisungsvorschlag: (Ina Lenke [FDP]: Ja, genau! Das kennen wir Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) auch!) Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung und Da habe ich mich gefragt: In welcher Welt lebt dieser Technikfolgenabschätzung Kollege? Haushaltsausschuss (Zurufe von der SPD: Genau!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Ich Ich halte es daher für richtig, dass wir in der Großen höre dazu keinen Widerspruch. Dann werden wir so ver- Koalition übereingekommen sind, den Ländern und den fahren. Kommunen finanziell deutlich unter die Arme zu grei- fen, auch wenn es nicht unsere originäre Aufgabe ist Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- – eigentlich ist es gar nicht unsere Aufgabe –, uns als (B) ner das Wort dem Kollegen Carsten Schneider für die Bund um dieses Thema zu kümmern. (D) SPD-Fraktion. (Beifall des Abg. Otto Fricke [FDP]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Eigentlich haben wir gar keine Veranlassung, dafür Geld bereitzustellen. Aber das ist ein Thema, bei dem man Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): nicht nur zuschauen kann, bei dem es um das langfristige Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieses soziale Zusammenleben in diesem Land geht. Das hat Thema ist eine gesellschaftspolitische Revolution. Wir auch eine ökonomische Komponente, die für den Bund reden heute über den Ausbau der Kinderbetreuung in natürlich mit entscheidend ist, nämlich dass möglichst Deutschland. Die politische Debatte darüber ist seit vie- viele Frauen, wenn sie gut ausgebildet sind len Jahren im Gange. Die Saat ist mit dem Tagesbetreu- (Renate Gradistanac [SPD]: Und Männer!) ungsausbaugesetz, kurz: TAG, gesät worden. Dieses Gesetz ist unter Federführung von ent- – natürlich sollten auch die Männer ihre Kinder betreuen –, standen und am 1. Januar 2005 in Kraft getreten. Es die Vereinbarkeit von Familie und Beruf tatsächlich le- stellt einen ersten richtigen Schritt zur Ausweitung der ben können. Kinderbetreuung in Deutschland dar. Wir setzen die- sen Weg fort mit der heute stattfindenden Beratung des Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung eines Sonderver- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der mögens „Kinderbetreuungsausbau“. Das Ganze hat zum Kollegin Ina Lenke? einen finanzielle Aspekte und zum anderen vor allen Dingen gesellschaftspolitische. Ich halte die gesell- Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): schaftspolitischen Aspekte und die damit verbundenen Weichenstellungen für viel wichtiger. Ja, bitte sehr. Zunächst einmal geht es um die Eltern, vor allen Din- (Christel Humme [SPD]: Nicht schon wieder gen um die Mütter mit kleinen Kindern im Alter zwi- die gleiche Frage! Die kennen wir schon! – schen einem und drei Jahren. Was wir mit dem verstärk- Weitere Zurufe) ten Ausbau von Krippen- und Kindergartenplätzen in den Kommunen erreichen wollen, ist eine Verände- Ina Lenke (FDP): rung der derzeitigen Situation. Die derzeitige Situation Von der Regierungsbank will ich überhaupt nichts hö- ist gekennzeichnet von einer Spaltung in Ost und West. ren. Sie haben hier gar nichts zu sagen, wenn wir als Par- Entgegen dem sonstigen Standard ist das Angebot an lamentarier diskutieren. 12166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Ina Lenke (A) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und unsere Schwerpunktsetzung. Das verbessert sozusagen (C) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) die Qualität unserer Staatsausgaben, weil das zukunfts- gewandt ist. Das führt die Finanzpolitik des Finanz- Ich habe eine Frage an den Kollegen. Herr Schneider, ministers der vergangenen Jahre fort. Ich bin froh, dass Sie haben gesagt, dass das Parlament in Berlin mit der er – wie auch wir Haushalts- und Finanzpolitiker – ge- Kinderbetreuung eigentlich nichts zu tun hat. Da habe sagt hat: Wir sind dabei. Das ist sehr wichtig. Ich bin ich genau hingehört. Ich würde Ihnen gern Art. 3 des gern bereit, dafür Geld zur Verfügung zu stellen. Grundgesetzes entgegenhalten, nach dem der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von (Ina Lenke [FDP]: Das stimmt auch nicht! Er Frauen und Männern fördert und auf die Beseitigung be- hat sich gewehrt!) stehender Nachteile hinwirkt. Deshalb fühle ich mich als Parlamentarierin im Bundestag dazu aufgerufen, von Dafür stellen letztendlich ja die Bürgerinnen und Bürger hier aus zu helfen. Sie sind sicherlich meiner Meinung, diesem Staat ihr Geld in Form von Steuern zur Verfü- oder? gung. Ich möchte aber gerne noch ein paar andere Punkte Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): ansprechen. Eine Frage ist, ob mit dieser Schwerpunkt- Frau Lenke, ein Blick ins Gesetzbuch und gerade ins setzung Ungerechtigkeit einhergeht. Hier gibt es ja zwi- Grundgesetz ist meistens gut; vielen Dank. Ich wollte schen uns und der Union – das wird von Unionsseite damit sagen, dass wir von der Ausgabeseite her zwar ei- sicherlich auch noch vorgetragen – einen Dissens. Ge- gentlich nicht dafür zuständig sind, dass wir als Bund rade vonseiten der CSU wird gefordert, dass wir zusätz- aber natürlich ein Gesamtinteresse haben. Wir wollen lich zum Ausbau der Plätze in Kindertagesstätten ein den Ländern und Kommunen einen Schub geben, dass Betreuungsgeld einführen. In diesem Zusammenhang sie die von uns als richtig erkannte Weichenstellung mit- möchte ich fragen: Gibt es denn bisher Gerechtigkeit tragen, die Benachteiligung, die es in diesem Bereich zwischen denen, die Kinder haben und arbeiten möch- bisher gibt, weil zu wenig Betreuungsplätze vorhanden ten, und denen, die Kinder haben und zu Hause bleiben sind, abzubauen. Dafür stellen wir Mittel bereit. wollen? Ich sage, die gibt es nicht. Andersherum habe ich es noch nie erlebt, dass ein (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Bundesland oder eine Kommune sich an friedenserhal- der CDU/CSU) tenden Maßnahmen finanziell beteiligt hat. Wir beteili- gen uns in diesem Fall trotzdem, weil uns dieses Projekt Es gibt nämlich derzeit nicht überall ein passendes An- viel zu wichtig ist, als dass es scheitern dürfte. Es hat in gebot. In Ostdeutschland gibt es dies. Nicht umsonst ist (B) den vergangenen Jahrzehnten nicht die Priorität in die- Potsdam als familienfreundlichste Stadt ausgezeichnet (D) sem Land gehabt. worden. Dagegen zahlen Freunde von mir, die in Baden- Württemberg leben und in Stuttgart arbeiten, für die Be- Ich bin froh, dass sich das jetzt ändert; denn es geht treuung ihres kleinen Sohnes, den sie vor kurzem be- gerade für Frauen und Männer um einen entscheidenden kommen haben, 800 Euro an eine Tagesmutter. Bei ei- Punkt: um die Wahlfreiheit zwischen Beruf und Fami- nem Halbtagsjob wird es schon schwierig, so viel Geld lie. Ich bin selbst junger Familienvater; ich habe eine an- netto, also aus versteuertem Einkommen, zu verdienen. derthalbjährige Tochter. Meine Frau ist seit einem hal- ben Jahr wieder im Beruf, und ich weiß, wie schwierig (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Deshalb die es ist, die Familie und eine Vollzeitstelle zu verknüpfen. steuerliche Absetzbarkeit, Herr Kollege!) Ich weiß aber auch, wie wichtig es für sie war – bei uns Es ist dann nicht mehr attraktiv, arbeiten zu gehen. Ich in Erfurt ist es so, dass jeder, der möchte, einen Kinder- halte es für eine Benachteiligung, wenn denen, die arbei- betreuungsplatz bekommt –, wieder arbeiten gehen zu ten gehen wollen und zum Sozialprodukt dieses Landes können. beitragen wollen, im Endeffekt nichts übrigbleibt. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Diejenigen, die in dieser Frage Wahlfreiheit haben des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie – ich will, dass es Wahlfreiheit gibt; jeder soll das für der Abg. Ina Lenke [FDP]) sich selbst entscheiden können; ich will niemandem vor- Dies hat auch viel mit Selbstachtung und Selbstverwirk- schreiben, was er zu tun hat –, werden bereits gefördert, lichung zu tun. wenn sie sich für die Betreuung zu Hause entscheiden. Ich nenne beispielsweise das Ehegattensplitting. Hier- Wenn die Gesellschaft das, was sie braucht – nämlich durch werden Alleinverdiener bevorteilt. mehr Kinder –, tatsächlich haben will, dann müssen wir in diesen Bereich investieren. Deswegen bin ich sehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD) froh, dass wir – das möchte ich klar sagen – an dieser Stelle Schwerpunkte setzen. Es handelt sich um Steuerbeträge von mehreren Milliar- den Euro, auf die wir durch Einräumung dieser Möglich- Mit diesem Sondervermögen investieren wir in den keit verzichten. Ein weiterer zusätzlicher Vorteil, der zu- ersten Jahren 2,15 Milliarden Euro, damit die Betreu- sammen mit dem genannten berücksichtigt werden ungsplätze nicht nur personell ausgestattet sind, sondern muss, besteht in der Möglichkeit zur kostenlosen Mit- überhaupt erst geschaffen werden; das ist entscheidend. versicherung des Ehepartners – es kann sich ja auch um 2,15 Milliarden Euro ist ein sehr hoher Betrag. Das zeigt den Ehemann handeln – in der Krankenversicherung. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12167

Carsten Schneider (Erfurt) (A) Wenn wir nun ein Betreuungsgeld einführen würden Landes ist und maßgeblich zur Herstellung sozialer (C) – darüber wird es ja eine politische Diskussion geben –, Gerechtigkeit beiträgt; denn – ich habe das vorhin ange- kostete das mindestens 2 bis 2,7 Milliarden Euro. sprochen – gerade für Kinder aus bildungsfernen Schich- ten und Kinder mit Migrationshintergrund ist es (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Kein Rechtsan- entscheidend, dass sie im Kindergarten bzw. in der Kin- spruch ohne Betreuungsgeld, Herr Kollege!) derkrippe schon als Kleinkinder Deutsch lernen, mit an- Ich frage Sie: Sind 2,7 Milliarden Euro nicht besser an- deren Kindern zusammen sind und ihnen insgesamt die gelegt in der Ermöglichung wirklicher Wahlfreiheit, in Möglichkeit gegeben wird, ihre Fähigkeiten am besten der Schaffung eines qualitativ viel besseren Angebots, zu entfalten. Von daher handelt es sich bei diesem Ge- zum Beispiel in Form kleinerer Gruppen, und vielleicht setz nicht nur um eine finanzielle Angelegenheit; es geht darüber hinaus in der Senkung der Gebührensätze sowie nicht nur um ökonomische Fragen und darum, dass am Ende sogar in einer kompletten Kostenbefreiung? Frauen und Männer arbeiten können und damit die Er- Warum muss für einen Kindergartenplatz gezahlt wer- werbstätigenzahlen gesteigert werden, sondern es geht den, aber nicht für die Schule? Ich bin nicht für die Ein- auch um die Frage von sozialer Gerechtigkeit. Von daher führung eines Schulgeldes – auf keinen Fall! Ich denke bin ich froh, dass wir dieses Gesetz, das ursprünglich be- aber, dass es sehr wichtig ist, gerade Kindern aus bil- reits von Renate Schmidt angestoßen wurde, heute auf dungsfernen Schichten im Kindergarten bzw. in der Kin- den Weg bringen. derkrippe möglichst frühzeitig – die Wissenschaftler sa- Vielen Dank. gen ja, dass man hier ganz frühzeitig ansetzen muss – die Möglichkeit zu geben, das Beste aus sich zu machen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Denn dank der PISA-Studie wissen wir, wie sehr Bil- der CDU/CSU) dungsarmut aufgrund sozialer Selektion vererbt wird. Wäre es angesichts dessen nicht am besten, wenn Kin- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dergarten- bzw. Kinderkrippenplätze kostenfrei angebo- Ich komme nun zurück zum Tagesordnungspunkt 3 ten würden? Ich denke, wir sollten diesen Weg beschrei- und gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und ten und hier unsere Prioritäten setzen. Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab- (Beifall bei der SPD) stimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6624 zur Abgabe einer Er- Meine Damen und Herren, ich glaube, dass dieses klärung durch die Bundesregierung bekannt: Abgege- Gesetz unser Land verändern wird. Wir beschließen ja bene Stimmen 570. Mit Ja haben gestimmt 98, mit Nein hier sehr oft und sehr viel. Ich glaube aber, dass dieses haben gestimmt 466, enthalten haben sich 6 Kollegen. (B) Gesetz entscheidend für die Zukunftsfähigkeit unseres Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. (D)

Endgültiges Ergebnis Paul K. Friedhoff Detlef Parr Dr. Uschi Eid Abgegebene Stimmen: 569; (Bayreuth) Cornelia Pieper Hans-Josef Fell davon Dr. Edmund Peter Geisen Gisela Piltz Kai Gehring Dr. Katrin Göring-Eckardt ja: 98 Jörg Rohde Hans-Michael Goldmann Frank Schäffler nein: 465 Miriam Gruß Dr. Britta Haßelmann enthalten: 6 Joachim Günther (Plauen) Bettina Herlitzius Heinz-Peter Haustein Dr. Priska Hinz (Herborn) Ja Elke Hoff Dr. Rainer Stinner Ulrike Höfken Birgit Homburger Carl-Ludwig Thiele Bärbel Höhn CDU/CSU Dr. Werner Hoyer Christoph Waitz Thilo Hoppe Michael Kauch Ute Koczy Peter Rauen Dr. Guido Westerwelle Dr. Heinrich L. Kolb Dr. Claudia Winterstein Sylvia Kotting-Uhl Hellmut Königshaus Fritz Kuhn FDP Dr. Volker Wissing Gudrun Kopp Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Renate Künast Dr. Karl Addicks Jürgen Koppelin Martin Zeil Markus Kurth Christian Ahrendt Heinz Lanfermann Undine Kurth (Quedlinburg) Daniel Bahr (Münster) Sibylle Laurischk BÜNDNIS 90/ Anna Lührmann Uwe Barth Harald Leibrecht DIE GRÜNEN Nicole Maisch Rainer Brüderle Ina Lenke Jerzy Montag Sabine Leutheusser- Kerstin Andreae Kerstin Müller (Köln) Ernst Burgbacher Schnarrenberger (Köln) Winfried Nachtwei Patrick Döring Horst Meierhofer Cornelia Behm Mechthild Dyckmans Patrick Meinhardt Birgitt Bender Brigitte Pothmer Jörg van Essen Jan Mücke Grietje Bettin (Augsburg) Ulrike Flach Burkhardt Müller-Sönksen Alexander Bonde Krista Sager Otto Fricke Dirk Niebel Dr. Thea Dückert Elisabeth Scharfenberg 12168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Christine Scheel Dr. Michael Fuchs Dr. Max Lehmer Wilhelm Josef Sebastian (C) Irmingard Schewe-Gerigk Hans-Joachim Fuchtel Dr. Gerhard Schick Dr. Jürgen Gehb Kurt Segner Rainder Steenblock Eduard Lintner Bernd Siebert Thomas Silberhorn Jürgen Trittin Ralf Göbel Dr. Michael Luther Johannes Singhammer Wolfgang Wieland Josef Göppel (Altötting) Jens Spahn Josef Philip Winkler Peter Götz Wolfgang Meckelburg Christian Freiherr von Stetten Margareta Wolf (Frankfurt) Dr. Wolfgang Götzer Dr. Gero Storjohann Ute Granold Dr. Andreas Storm Nein Reinhard Grindel Hermann Gröhe Laurenz Meyer (Hamm) (Heilbronn) CDU/CSU Michael Grosse-Brömer Hans Peter Thul Markus Grübel Dr. h. c. Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Ilse Aigner Monika Grütters Dr. Eva Möllring Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Marlene Mortler Volkmar Uwe Vogel Peter Altmaier Guttenberg Hildegard Müller Andrea Astrid Voßhoff Dorothee Bär Carsten Müller Gerhard Wächter Thomas Bareiß Holger Haibach (Braunschweig) Gerda Hasselfeldt Stefan Müller (Erlangen) Dr. Ursula Heinen Bernward Müller (Gera) Peter Weiß (Emmendingen) Günter Baumann Uda Carmen Freia Heller (Bremen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Ernst-Reinhard Beck (Reutlingen) Jürgen Herrmann Dr. Georg Nüßlein Karl-Georg Wellmann Dr. Franz Obermeier Annette Widmann-Mauz Otto Bernhardt Ernst Hinsken Klaus-Peter Willsch Willy Wimmer (Neuss) Renate Blank Robert Hochbaum Rita Pawelski Elisabeth Winkelmeier- Klaus Hofbauer Ulrich Petzold Becker Franz-Josef Holzenkamp Dr. Dagmar Wöhrl Dr. Maria Böhmer Joachim Hörster Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller Anette Hübinger Willi Zylajew Wolfgang Börnsen Hubert Hüppe (B) (Bönstrup) Susanne Jaffke SPD (D) Dr. Daniela Raab Klaus Brähmig Dr. Hans-Heinrich Jordan Michael Brand Dr. Franz Josef Jung Hans Raidel Gerd Andres (Konstanz) Dr. Niels Annen Dr. Ralf Brauksiepe Bartholomäus Kalb Ingrid Arndt-Brauer Monika Brüning Hans-Werner Kammer (Potsdam) Steffen Kampeter Klaus Riegert (Neuruppin) Cajus Caesar Dr. Gitta Connemann Bernhard Kaster Franz Romer Dr. Hans-Peter Bartels Siegfried Kauder (Villingen- Johannes Röring Schwenningen) Kurt J. Rossmanith Sören Bartol Volker Kauder Dr. Norbert Röttgen Sabine Bätzing Thomas Dörflinger Eckart von Klaeden Dr. Christian Ruck Marie-Luise Dött Jürgen Klimke (Weiden) Maria Eichhorn Julia Klöckner Peter Rzepka Dr. Stephan Eisel Anita Schäfer (Saalstadt) Dr. Anke Eymer (Lübeck) Kristina Köhler (Wiesbaden) Hermann-Josef Scharf Manfred Kolbe Dr. Wolfgang Schäuble Ilse Falk Norbert Königshofen Hartmut Schauerte (Heidelberg) Dr. Dr. Ingrid Fischbach Hartmut Koschyk Dr. Andreas Scheuer Kurt Bodewig Hartwig Fischer (Göttingen) Thomas Kossendey Karl Schiewerling Dirk Fischer (Hamburg) Michael Kretschmer Norbert Schindler Gerd Bollmann Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Günter Krings Georg Schirmbeck Dr. Gerhard Botz Land) Dr. Martina Krogmann Klaus Brandner Dr. Maria Flachsbarth Johann-Henrich Christian Schmidt (Fürth) Klaus-Peter Flosbach Krummacher Andreas Schmidt (Mülheim) Dr. Hermann Kues (Berlin) (Hildesheim) Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Karl A. Lamers Dr. (Hof) (Heidelberg) Dr. Ole Schröder Marco Bülow Erich G. Fritz Dr. Norbert Lammert Bernhard Schulte-Drüggelte Jochen-Konrad Fromme Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12169

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Dr. Michael Bürsch Dr. h. c. Susanne Kastner Axel Schäfer (Bochum) DIE LINKE (C) Bernd Scheelen Hüseyin-Kenan Aydin Marion Caspers-Merk Christian Kleiminger Dr. Hans-Ulrich Klose Dr. Frank Schmidt Dr. Lothar Bisky Dr. Herta Däubler-Gmelin Astrid Klug (Aachen) Heidrun Bluhm Dr. Bärbel Kofler Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Martina Bunge Martin Dörmann Renate Schmidt (Nürnberg) Dr. Carl-Christian Dressel Fritz Rudolf Körper Heinz Schmitt (Landau) Sevim Dağdelen Elvira Drobinski-Weiß Karin Kortmann Carsten Schneider (Erfurt) Dr. Diether Dehm Rolf Kramer Werner Dreibus Detlef Dzembritzki Ernst Kranz Klaus Ernst Nicolette Kressl Reinhard Schultz Wolfgang Gehrcke Siegmund Ehrmann Volker Kröning (Everswinkel) Diana Golze Dr. Hans-Ulrich Krüger (Spandau) Dr. Gregor Gysi Angelika Krüger-Leißner Heike Hänsel Petra Ernstberger Jürgen Kucharczyk Lutz Heilmann Karin Evers-Meyer Helga Kühn-Mengel Hans-Kurt Hill Dr. Martin Schwanholz Annette Faße Ute Kumpf Cornelia Hirsch Elke Ferner Dr. Uwe Küster Dr. Barbara Höll Christine Lambrecht Rita Schwarzelühr-Sutter Ulla Jelpke Rainer Fornahl Christian Lange (Backnang) Wolfgang Spanier Dr. Lukrezia Jochimsen Gabriele Frechen Dr. Dr. Margrit Spielmann Dr. Hakki Keskin Waltraud Lehn Jörg-Otto Spiller Katja Kipping Peter Friedrich Helga Lopez Dr. Ditmar Staffelt Monika Knoche Sigmar Gabriel Gabriele Lösekrug-Möller Dieter Steinecke Jan Korte Dirk Manzewski Andreas Steppuhn Katrin Kunert Iris Gleicke Lothar Mark Ludwig Stiegler Günter Gloser Caren Marks Rolf Stöckel Ulla Lötzer Renate Gradistanac Christoph Strässer Dr. Gesine Lötzsch Angelika Graf (Rosenheim) Dr. Peter Struck Ulrich Maurer Dieter Grasedieck Joachim Stünker Dorothée Menzner Kornelia Möller Petra Merkel (Berlin) Dr. Rainer Tabillion Kersten Naumann Gabriele Groneberg Dr. Jörg Tauss Wolfgang Nešković Achim Großmann Ursula Mogg (B) Jella Teuchner Petra Pau (D) Wolfgang Grotthaus Marko Mühlstein Dr. h. c. Wolfgang Thierse Wolfgang Gunkel Detlef Müller (Chemnitz) Jörn Thießen Elke Reinke Hans-Joachim Hacker Gesine Multhaupt Franz Thönnes Paul Schäfer (Köln) Franz Müntefering Rüdiger Veit Volker Schneider Klaus Hagemann Dr. Rolf Mützenich Simone Violka (Saarbrücken) Alfred Hartenbach Jörg Vogelsänger Dr. Herbert Schui Michael Hartmann Dr. Marlies Volkmer Dr. Ilja Seifert (Wackernheim) Holger Ortel Hedi Wegener Dr. Petra Sitte Nina Hauer Heinz Paula Andreas Weigel Frank Spieth Reinhold Hemker Johannes Pflug Petra Weis Dr. Kirsten Tackmann Rolf Hempelmann Joachim Poß Gunter Weißgerber Dr. Axel Troost Dr. Barbara Hendricks Christoph Pries Gert Weisskirchen Jörn Wunderlich Dr. Wilhelm Priesmeier (Wiesloch) Petra Heß Fraktionsloser Dr. Gabriele Hiller-Ohm Dr. Abgeordneter Stephan Hilsberg Lydia Westrich Gert Winkelmeier (Essen) (Cottbus) Dr. Gerd Höfer Maik Reichel Andrea Wicklein (Wismar) Gerold Reichenbach Heidemarie Wieczorek-Zeul Enthalten Frank Hofmann (Volkach) Dr. Carola Reimann Dr. Dieter Wiefelspütz Eike Hovermann Christel Riemann- Engelbert Wistuba BÜNDNIS 90/ Klaas Hübner Hanewinckel Dr. DIE GRÜNEN Christel Humme Sönke Rix Waltraud Wolff Winfried Hermann Lothar Ibrügger René Röspel (Wolmirstedt) Peter Hettlich Brunhilde Irber Dr. Ernst Dieter Rossmann Heidi Wright Dr. Johannes Jung (Karlsruhe) Michael Roth (Heringen) Manfred Zöllmer Hans-Christian Ströbele Johannes Kahrs Anton Schaaf Brigitte Zypries Dr. Harald Terpe 12170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) (Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE aber gefühlt bin ich doch zuständig – das Gefühlte ist in (C) GRÜNEN]: Das ist das Ende der Reform- der Politik ja im Moment wichtiger als der Verstand –, agenda 2010! – Gegenruf der Abg. Ute Kumpf also mache ich das. – Darauf hat der Finanzminister fest- [SPD]: Herr Kollege Beck!) gestellt, dass das aber eine zu hohe Belastung bedeutet; denn er will – das ist der eigentliche Grund für dieses Nun fahren wir in der Debatte fort. Ich erteile das Sondervermögen – zeigen, wie die Neuverschuldung je- Wort dem Kollegen Otto Fricke für die FDP-Fraktion. des Jahr weiter abgebaut wird. Also wird in diesem Jahr (Beifall bei der FDP) ein Sondervermögen angelegt – wir haben ja Steuer- mehreinnahmen, was gut ist –, damit die Neuverschul- dung nicht im nächsten Jahr wieder steigt. Otto Fricke (FDP): Geschätzte Frau Präsidentin! Meine lieben Kollegin- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) nen und Kollegen! Ich glaube, eines muss man bei dieser Debatte als Opposition ganz klar festhalten: Wir streiten Der nächste Punkt ist: Man war nicht bereit, das uns nicht mehr über die Frage des Ob der Betreuung der Ganze auf die Kommunen zu übertragen. unter Dreijährigen, sondern um die Frage des Wie. (Ina Lenke [FDP]: Genau! Das wäre das Beste (Beifall bei der FDP) gewesen!) Wir sind da in unserem Lande, auch wenn immer noch Übrigens glaube ich, dass der Bund dazu anders als die versucht wird, Streitigkeiten zu erzeugen, viel weiter ge- Länder bereit gewesen wäre. Diese Große Koalition kommen. Ich glaube auch nicht, dass es uns bei der wäre mit ihrer Zweidrittelmehrheit in der Lage gewesen, Frage des Wie und der Frage, was für die Kinder und die das zu tun. Familien am besten ist, wirklich weiterbringt, noch über (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten das Ob zu diskutieren. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bei der Frage des Wie kommen wir an einen ganz ent- scheidenden Punkt: Was ist bei der Frage, wie das Geld Sie hätte den Kommunen Umsatzsteuerpunkte geben bei denen ankommt, die es brauchen, zu beachten? Zu können. Aber sie hat es nicht getan, besonders deswegen beachten ist, dass der Bürger erkennen können muss: nicht, weil die Länder das nicht wollten. Die Länder ha- Wer ist verantwortlich, wer gibt das Geld aus, wie viel ben hier die klebrigen Finger. Das ist der eigentliche kostet es – das sollte man gerade mit Blick auf die Kin- Grund, warum das Ganze nicht an die Kommunen über- der sehen, denen man die Schulden auferlegt –, und wen tragen wird. Für meine Fraktion steht klar und deutlich (B) kann ich ansprechen, wenn es nicht funktioniert? An die- fest: Das Geld muss den Kommunen gegeben werden. (D) ser Stelle hat die Koalition nach unserer Meinung Sie sind in der Verantwortung und werden vom Bürger schlicht versagt. angesprochen, wenn etwas nicht richtig funktioniert. Die Gründe dafür sind einfach. Wir machen eine Mein letzter Punkt. In Bezug auf die weitere Belas- Mischfinanzierung und werden jetzt ein Sondervermö- tung weise ich darauf hin, dass es auch in späteren Jah- gen anlegen. Die Länder werden dann Berichte erstellen, ren – das sage ich ganz bewusst; das wird nämlich 2013 wie das Geld grob zu verteilen ist, und in den Kommu- sein, wenn es diese Große Koalition gar nicht mehr gibt; nen wird geschaut, wie das umgesetzt wird. Die einzelne davon gehen wohl auch die einzelnen Parteien der Gro- Kinderkrippe und die einzelne Kinderbetreuungseinrich- ßen Koalition aus – die Verpflichtung gibt, 770 Millio- tung werden das Geld erst verspätet bekommen. Wenn nen Euro pro Jahr für die Betreuung auszugeben. Herr sie es nicht bekommen und fragen, wer dafür zuständig Minister, das werden sich die Haushälter ganz genau an- ist, wird wieder – das erleben wir doch – von der Kom- schauen. Im Moment können Sie das noch verdecken, mune aufs Land verwiesen und vom Land – die Länder weil es nicht in der Finanzplanung ist. Aber faktisch be- müssten eigentlich heute hier vertreten sein – auf den lasten wir heute, auch wenn das keine gesetzliche Ver- Bund. Das wird geschehen, wenn angeblich irgendetwas pflichtung ist, den Bund weiter mit zusätzlichen Ausga- nicht funktioniert und irgendeine Verordnung nicht ben für etwas in der Sache Gutes; aber wir sorgen nicht stimmt. Dieses Risiko, liebe Große Koalition, tragen Sie; dafür – das sollte eigentlich die Hauptverpflichtung ge- Sie haben die Verantwortung, wenn im Wirrwarr unserer genüber den Kindern sein –, dass die Verschuldung ab- Verwaltung wieder einmal manches untergeht. gebaut wird und wir unseren Kindern nicht nur eine gute Kinderbetreuung hinterlassen, sondern auch möglichst (Beifall bei der FDP) wenig Schulden. Daran müssen wir noch arbeiten. Der zweite Punkt. Warum schaffen Sie eigentlich die- (Beifall bei der FDP) ses Sondervermögen? Sie könnten doch jedes Jahr im Haushalt etwas dafür einstellen. Der Grund liegt darin, Als Schlusswort, liebe Große Koalition: Kommen Sie dass der Finanzminister das eigentlich ganz anders ha- bitte nicht am Ende des Jahres oder im nächsten Jahr da- ben wollte als die Familienministerin, die ihm das einge- mit, dass das alles nicht so gut läuft, weil Sie nicht er- brockt hat. Die Familienministerin hat gesagt: Ich bin wartet haben, was es an verwaltungsmäßigen Kompli- zwar gesetzgebungsmäßig nicht zuständig; ziertheiten gibt. (Christel Humme [SPD]: Doch!) (Heiterkeit der Abg. Ina Lenke [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12171

Otto Fricke (A) Die Bürger, die Kinder, die Familien werden Sie daran Schritt ist bereits erfolgt. Bei diesem Schritt geht es um (C) messen, welches Geld bei ihnen ankommt, und wir wer- die materielle Wahlfreiheit. Ich nenne das Stichwort den Sie erst recht daran messen. Elterngeld. Das Elterngeld ist neben dem Ehegattensplit- ting ein zentrales Instrument der materiellen Wahlfrei- Herzlichen Dank. heit, das insbesondere in der Mitte dieser Gesellschaft (Beifall bei der FDP) wirkt, also da, wo sich immer weniger Menschen, wie wir festgestellt haben, für die Familie entscheiden. Dort Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: bedarf es der Sicherstellung einer materiellen Organisa- Nächster Redner ist nun der Kollege Steffen tionsfreiheit; dort müssen wir investieren. Deswegen Kampeter für die CDU/CSU-Fraktion. war das Signal, das von der Einführung des Elterngeldes ausging, für die Mitte unserer Gesellschaft so wichtig. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP]: Herr Kampeter, 40 Prozent kriegen nur die Steffen Kampeter (CDU/CSU): Hälfte!) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für diejenigen, die schon etwas länger im Parla- Der zweite Schritt wird heute eingeleitet. Dabei ist es ment sind, ist es eine eher merkwürdige Debatte: Es soll mir wichtig, Folgendes festzuhalten: Aus Sicht der über Familienpolitik debattiert werden, und die Haus- Unionsfraktion ist trotz der Ausweitung der Kinderbe- haltspolitiker eröffnen die Debatte. Es wird nicht nur die treuungsmöglichkeiten klar, dass der große Teil der unter Familienministerin, sondern auch der Finanzminister re- Dreijährigen auch zukünftig in den Familien, also von den. Die Verbindung dieser wichtigen Politikbereiche den Eltern, erzogen wird. Auch das ist ein wichtiges Si- macht deutlich, dass es einen erheblichen Bedeutungs- gnal, das von dieser Debatte ausgeht. und Wahrnehmungswandel hinsichtlich der Familien in (Beifall bei der CDU/CSU) unserer Gesellschaft und in der Großen Koalition gibt Wir wollen bis zum Jahre 2013 schrittweise für etwa (Ina Lenke [FDP]: In der CDU!) ein Drittel der Menschen auch die organisatorische und dass die Familienpolitik vom Rand ins Zentrum des Wahlfreiheit ausbauen. Für diejenigen Menschen, die Regierungshandelns und des parlamentarischen Han- ihre unter dreijährigen Kinder nicht in der Familie erzie- delns rückt. hen wollen – über die Gründe sollte die Politik nur zu- rückhaltend urteilen –, brauchen wir Betreuungsange- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bote. Diese Menschen verdienen unseren Respekt und neten der SPD) keine Anklage. Der Staat ist hier in der Pflicht, diese Le- (B) (D) bensentscheidung zu respektieren. Im Übrigen soll denje- Der Kollege Schneider hat deutlich gemacht, dass nigen, die sich aufgrund organisatorischer Mängel bisher Haushaltspolitik eben nicht nur Erbsenzählerei ist und schwertun, sich für Kinder und Familie zu entscheiden, sich nicht nur mit Plus, Minus und Schulden beschäftigt, diese Entscheidung erleichtert werden. Es handelt sich sondern als zentralen Kern auch Gesellschaftspolitik ent- also um eine wichtige gesellschaftspolitische Debatte hält. Es ist auch eine gesellschaftspolitische Entschei- über eine an sich haushaltspolitische Entscheidung. dung, wofür der Staat Geld ausgibt und wofür nicht. Die Entscheidung, die heute ansteht, zeigt die steigende (Beifall bei der CDU/CSU) Wertschätzung für die Menschen in unserem Land, die sich für Familie und Kinder entscheiden. Mit diesem Gesetz werden wir noch in diesem Jahr ein Sondervermögen errichten. Den Familien ist es re- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der lativ egal, woher das Geld kommt. Hauptsache ist, FDP) (Ina Lenke [FDP]: Hauptsache, es kommt an!) Dabei geht es uns aus Haushältersicht nicht nur da- dass wir denjenigen, die für die Kinderbetreuung und für rum, immer mehr Titel für die Familien im Haushalt zu die dort notwendigen Investitionen zuständig sind, das schaffen, sondern es geht natürlich auch darum, die Qua- Geld kurzfristig und bedarfsgerecht zur Verfügung stel- lität der familienpolitischen Instrumente zu verbessern len. Mit unserer verfassungskonformen Lösung gehen und die Zielsetzung der Bundesregierung darauf auszu- wir diesen Weg. Wir sollten nicht in eine Finanzverfas- richten. Ein zielgenauerer Einsatz der Gelder, die wir für sungsdebatte – wie vorhin die Kollegin von der FDP – die Familie investieren, bedeutet im Ergebnis mehr eintreten und uns streiten, Möglichkeiten und mehr Entscheidungsfreiheit für die Familien. Das ist das eigentliche Signal, das von dieser (Ina Lenke [FDP]: Das haben wir gar nicht Finanzdebatte an die Bevölkerung gehen soll. nötig!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sondern einen vernünftigen Weg finden, damit die Inves- neten der SPD) titionen dort ankommen, wo sie tatsächlich benötigt wer- den. Worum geht es im Detail? Der heutige Vorschlag, die Förderung für die unter Dreijährigen zu verbessern, Es können damit Betreuungsplätze eingerichtet, aus- muss in die Gesamtstrategie eingebettet werden, die wir gebaut und saniert werden. Es können Ausstattungsmaß- im Bundeshaushalt und in der Familienpolitik in den nahmen durchgeführt werden. Es kann in den Ausbau der vergangenen zwei Jahren entwickelt haben. Der erste Kindertagesbetreuung investiert werden. Dieses unbüro- 12172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Steffen Kampeter (A) kratische Vorgehen ist ein wichtiges Signal an diejenigen, (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) (C) die Verantwortung für die entsprechenden Investitionen – Sogar vollständig, weil wir alle im Haushaltsausschuss in den Kommunen tragen. Wir wollen die Familien nicht diese Erfahrung gemacht haben. aus finanzverfassungsrechtlichen Gründen im Regen ste- hen lassen. Wir haben eine Aufgabe, und diese Aufgabe wollen wir mit diesem Gesetz erfüllen. Steffen Kampeter (CDU/CSU): Darüber sollten Sie vielleicht einmal mit der Kollegin (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Lenke diskutieren. Ich habe vorhin ausgeführt, dass ich der Auffassung (Ina Lenke (FDP): Wir sind uns da einig!) bin, dass ein Beitrag der Haushaltspolitik darin besteht, dass wir die Gelder dorthin transportieren, wo sie tat- sächlich hingehören. Wir sind gebrannte Kinder. Im Otto Fricke (FDP): Rahmen verschiedener Gesetzgebungsmaßnahmen hat Darüber brauche ich mit der Kollegin Lenke gar nicht der Bund Geld zur Verfügung gestellt; die Gemeinden zu diskutieren. Sie weiß das meistens besser als mancher haben aber gesagt: Es kommt nicht bei uns an. Deswe- Haushälter. gen ist ein wichtiger Baustein dieses Gesetzes die Ver- Herr Kollege Kampeter, Sie haben gerade gesagt, waltungsvereinbarung, die vom entsprechenden Hause dass es, wenn die Länder das Geld nicht dafür verwen- feder-Leyen beschlossen worden ist. den, wofür es vorgesehen ist, Ärger gibt. Das hört sich (Heiterkeit bei der CDU/CSU, der SPD und stark an; Sie wirken ja auch am Rednerpult stark. Für der FDP) mich stellt sich aber die Frage: Wie machen Sie das? Was machen Sie denn dann? Sagen Sie mehr als: „Das – Was habe ich gesagt? ist böse, was ihr da gemacht habt!“? Oder enthält das Gesetz wirklich eine Regelung, damit Sie sagen können: (Ina Lenke [FDP]: Feder-Leyen!) „Das ist eine Fehlverwendung. Wir streichen euch die – Ich wollte „federführend“ sagen. Gelder, bzw. ihr müsst sie zurückgeben“? Zwei Dinge sind mir besonders wichtig: Erstens. Wir kontrollieren, dass das Geld auch tatsächlich für den Steffen Kampeter (CDU/CSU): Ausbau der Kinderbetreuungsplätze ausgegeben wird. Herr Kollege Fricke, als Jurist sollten Sie wissen: Ein Wenn es nicht für entsprechende Investitionen verwen- Blick ins Gesetz und in die Verwaltungsvereinbarungen det wird – Herr Kollege Steinbrück, ein Versprecher fällt hilft immer weiter. Wir haben das Verfahren klar gere- mir auch noch zu Ihnen ein; keine Sorge –, dann gibt es gelt – Kollege Steinbrück nickt –: Die Gelder werden (B) Ärger. Wir wollen, dass das Geld dort ausgegeben wird, nur auf Antrag für bestimmte Maßnahmen, die ich hier (D) wo Betreuungsplätze benötigt werden, wo die Familien aufgezählt habe, bewilligt. Zweitens machen wir ein es tatsächlich brauchen. Einige schreien, das sei Büro- Monitoring, um sicherzustellen, dass der Ausbau der Be- kratie. Meines Erachtens ist in diesem Fall Bürokratie treuung der unter Dreijährigen vorangeht. Das ist im notwendig, damit wir diese Mittel nicht mit der Gieß- Vergleich mit allen vorherigen Gesetzen, bei denen wir kanne verteilen, sie letztendlich in den Länderhaushalten behauptet haben, Geld für die Familien auszugeben, ein versickern und die Kommunen sich auf die Suche bege- Gesetz, das den zielgenauesten und im Übrigen auch un- ben und fragen, wo die Gelder geblieben sind. Dann kla- bürokratischsten Einsatz garantiert. gen die Familien nämlich uns an, weil wir nicht dafür (Ina Lenke [FDP]: Das wollen wir doch erst gesorgt haben, dass das Geld dort angekommen ist, wo einmal sehen!) es hingehört, nämlich in der Betreuungsinfrastruktur der unter Dreijährigen. Damit sorgen wir dafür, dass das Geld da ankommt, wo es erforderlich ist, nämlich in den Gemeinden, die die (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Aufgaben zu lösen haben, die sich im Zusammenhang mit der Betreuung von unter Dreijährigen stellen. Damit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: setzen wir Maßstäbe. Das ist vorbildlich und familien- Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des freundlich. Kollegen Fricke? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Steffen Kampeter (CDU/CSU): Der Kollege Fricke ist sehr bekannt für gute Zwi- Ein weiterer Punkt ist der Zuschuss für den Betrieb. schenfragen; deswegen sehr gerne, Frau Präsidentin. Die Begeisterung der Finanzpolitiker darüber ist einge- schränkt; Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr einge- Bitte. schränkt!) der Kollege Fricke hat darauf hingewiesen. Wir sind der Otto Fricke (FDP): Auffassung, dass das eigentlich Ländersache ist. Aber Herr Kollege Kampeter, dem, was Sie gerade in Be- auch hier gilt: Wenn sich die Länder nicht ihrer Verant- zug auf die richtige Verwendung der Gelder gesagt ha- wortung für die Familien stellen, sollten wir die Fami- ben, stimme ich im Grundsatz zu. lien nicht darunter leiden lassen. Das muss jedoch lang- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12173

Steffen Kampeter (A) sam wirklich der letzte Vorgang sein, bei dem die Länder vorliegenden Gesetzesvorhaben zur Errichtung eines (C) erst Kompetenzen übernehmen wollen, aber im nächsten Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ ein wich- Schritt eine Finanzierung durch den Bund fordern. Unter tiger Schritt gemacht wird. Es ist gut, dass in den letzten Kaufleuten gilt das als unanständiges Verhalten. Das Monaten Dynamik in diese Debatte gekommen ist. Es ist sollte kein Regelfall sein. Das bedeutet einen Abzug in auch gut, dass es hier zu einem Prozess des Umdenkens der B-Note. Das ist ein Mangel dieses Gesetzes; das will der politisch Handelnden gekommen ist: weg von der ich nicht verschweigen. Stigmatisierung der Kindertagesbetreuung und hin zu ei- ner gesellschaftlichen Akzeptanz von Kindertagesstät- (Beifall bei der FDP) ten. Diese Leistung muss man Ihnen, Frau von der Unser Verhalten nützt aber unter dem Strich den Fami- Leyen, unumwunden zugestehen. lien; auch das muss man klar sagen. (Nicolette Kressl [SPD]: Bei den Sozialdemokra- Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte, ten war da keine Kehrtwende notwendig!) ist die Verbindung zwischen dem Rechtsanspruch auf Ja, es ist gut, dass es intensive Gespräche mit den Län- Kinderbetreuung für unter Dreijährige und dem Betreu- dern gegeben hat. Es ist natürlich auch gut, dass es zu ei- ungsgeld. Für die Unionsfraktion ist klar, dass das eine ner grundsätzlichen Einigung zwischen Bund, Ländern nur kommt, wenn das andere vereinbart wird. und Kommunen über die Wichtigkeit dieses Themas und (Beifall bei der CDU/CSU) letztlich über die Umsetzung des Ausbaus gekommen ist. Ja, es ist gut, dass Herr Steinbrück schlussendlich das nö- Deswegen wird im anstehenden Gesetzgebungsverfah- tige Signal der Mitfinanzierung dieses Vorhabens durch ren deutlich zu machen sein – das bezieht sich nicht auf den Bund in Form dieses Sondervermögen gegeben hat. dieses Gesetz, sondern auf das Folgegesetz hinsichtlich des Sozialgesetzbuches –, in welcher Art und Weise das Doch vor allem angesichts der Höhe des Sonderver- umgesetzt werden soll. In der Koalition sind wir diesbe- mögens stellt sich die Frage, wie ein Kinderbetreuungs- züglich, so glaube ich, auf einem guten Weg. Der Kol- angebot aussehen wird, das mit einer solchen Summe lege Singhammer wird alles, was in diesem Zusammen- ausgebaut wird. Damit bin ich bei dem, was die Linke hang zum Sozialgesetzbuch VIII gesagt werden muss, zum einen an diesem Sondervermögen und dessen ge- vortragen. setzlicher Ausgestaltung und zum anderen an den vorge- sehenen Änderungen im Kinder- und Jugendhilfegesetz Insgesamt finde ich: Dies ist ein guter Tag für die Fa- kritisch betrachtet. milien, weil wir eine Aufgabe lösen, die die Familien an uns herangetragen haben. Es ist ein guter Tag für die Bei einem Blick in die Historie der Kindertagesbe- (B) Haushalts- und Finanzpolitik, weil wir den nahezu schon treuung wird schnell offensichtlich, dass das, was heute (D) zu frechen Forderungen in Höhe von 7 oder 8 Milliarden als großer Durchbruch gefeiert wird, letztlich ein Ablen- Euro, die wir hier investieren sollten, nicht nachgekom- kungsmanöver kurz vor Fristablauf ist. men sind, sondern gemeinsam mit dem Bundesfinanzmi- (Beifall bei der LINKEN) nister und der Bundesfamilienministerin eine Ober- grenze festgelegt haben und dafür Sorge getragen haben, Das Tagesbetreuungsausbaugesetz ist mit dem Datum dass das Geld tatsächlich bei den Familien ankommt und 27. Dezember 2004 versehen. Heute, am Tag der De- nicht in den Länderhaushalten versickert. batte über die nötige Finanzierung, schreiben wir den 11. Oktober 2007. Angesichts der zeitlichen Abläufe Dies ist insgesamt ein guter Tag für die Große Koali- und der Fristen von der Verabschiedung des Gesetzes tion, weil wir Handlungsfähigkeit bewiesen haben und 2004 bis zur Schaffung des Sondervermögens 2007 bin deutlich gemacht haben, dass wir zur Lösung der Pro- ich gespannt, wann die Bundesrepublik endlich das bleme, die die Menschen in diesem Land haben, einen große Ziel erreicht, auf einen vergleichbaren Stand wie vernünftigen Beitrag leisten können. Wir wissen, dass Schweden, Dänemark oder Frankreich zu kommen. bei der Erziehung die Hauptaufgabe bei den Familien selbst liegt. Aber wir als Staat, wir als Große Koalition Eine solche Politik geht zulasten der Kinder, die wollen in dem Maße, in dem wir es können, helfen. Des- schon jetzt von einer guten Tagesbetreuung profitieren wegen ist dies ein guter Vorschlag. sollten. Es ist schon beachtlich, Frau von der Leyen, wie Sie es geschafft haben, der Öffentlichkeit den ausgehan- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- delten Kompromiss zum ab 2013 bestehenden Rechts- neten der SPD) anspruch als Erfolg zu verkaufen,

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Stimmt aber!) Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Diana Golze obwohl dieser laut Tagesbetreuungsausbaugesetz bereits für die Fraktion Die Linke. 2010 gelten sollte. (Beifall bei der LINKEN) (Nicolette Kressl [SPD]: Ist doch nicht wahr!) Es ist vielleicht eines der Glanzstücke des Politikmarke- Diana Golze (DIE LINKE): tings, ein großes Versagen als immensen Schritt nach Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- vorn zu verkaufen. nen und Kollegen! Ich gebe jeder Politikerin und jedem Politiker recht, wenn sie oder er sagt, dass mit dem heute (Beifall bei der LINKEN) 12174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Diana Golze (A) Denn das neue Vorhaben, nicht 2010, sondern erst 2013 Elterngeldlogik aufgehen, würde es 2013 mit den ge- (C) einen solchen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung zu schaffenen Plätzen recht eng in den Kitas und Tagespfle- garantieren, sehe ich nicht als Erfolg, sondern als weite- gestuben. Gut wäre es gewesen, wenn Sie sich nicht nur ren traurigen Beweis verfehlter Kinder- und Familienpo- darauf festgelegt hätten, wann dieser Rechtsanspruch für litik. unter Dreijährige kommt, sondern was der Rechts- anspruch umfasst: ob er für alle Kinder gilt und wie (Beifall bei der LINKEN) lange Kinder mit diesem Rechtsanspruch in der Kita be- Nennen Sie die Dinge beim Namen, Frau Ministerin! treut werden können. Dazu schweigt sich die Bundes- Die Bundesrepublik Deutschland erreicht das durch die regierung einmal mehr aus. rot-grüne Bundesregierung gesetzlich verbriefte Ziel, bis 2010 ein bedarfsgerechtes Kinderbetreuungsnetz auszu- Nun werden Sie mir vielleicht sagen, dass dies nicht bauen, nicht einmal ansatzweise. Im Bericht des Fami- in das Gesetz zur Errichtung eines Sondervermögens ge- lienministeriums zum Stand des Ausbaus der Kinderta- höre. Aber ich sage Ihnen: Ein Rechtsanspruch macht gesbetreuung vom 12. Juli 2007 war man ehrlicher. Da aus unserer Sicht nur dann einen Sinn, wenn er auf das heißt es, dass der Ausbau von einer geringen Dynamik Kind bezogen festgeschrieben ist. gekennzeichnet ist. Man schlussfolgert auf Seite 4 – ich (Beifall bei der LINKEN) zitiere –: Nur dann entspricht er dem, was Sie, Frau von der Die bisherige Entwicklung reicht damit nicht aus, Leyen, mit Ihren eindrucksvollen Rechenbeispielen von um das Ausbauziel des TAG zu erreichen. einem Podium zum nächsten tragen, nämlich einem An- Das war im Juli dieses Jahres. gebot, das kein Kind vor der Kita-Tür stehen lässt, das kein Kind von der Betreuung halb- oder ganztags aus- Die Bundesrepublik wird im Jahre 2013 auf einem schließt, weil seine Eltern nicht in der glücklichen Situa- Stand sein, der schon jetzt, im Jahre 2007, nicht ausrei- tion sind, einen Nachweis über die wirtschaftliche Not- chend ist. In § 24 a Abs. 4 des TAG steht – ich zitiere wendigkeit der Betreuung vorzulegen. Das sollten Sie wieder –: dann auch klar und deutlich sagen, Frau Ministerin. Solange das erforderliche Angebot noch nicht zur Wenn Erwerbstätigkeit der Eltern weiterhin der Maß- Verfügung steht, sind bei der Vergabe der neuge- stab ist, dann wird das Gesetz in der Tat zu dem, wie Sie schaffenen Plätze es verfassungsmäßig begründen. Hier muss auch ich 1. Kinder, deren Wohl nicht gesichert ist, und leider auf die Verfassungsmäßigkeit eingehen. Den 2. Kinder, deren Eltern oder alleinerziehende El- Ausbau der Kinderbetreuung und die dazu nötige An- ternteile eine Ausbildung oder Erwerbstätigkeit (B) schubfinanzierung mit Art. 104 b des Grundgesetzes zu (D) aufnehmen …, begründen, ist mehr als fragwürdig. In Art. 104 b heißt besonders zu berücksichtigen. es – ich zitiere erneut –: Sie wollen mit diesem Sondervermögen ein Kinderbe- Der Bund kann … den Ländern Finanzhilfen für be- treuungsnetz aufbauen, das 35 Prozent der in der Bun- sonders bedeutsame Investitionen der Länder und desrepublik lebenden Kinder einen Kita-Platz liefert. der Gemeinden … gewähren, die Dieses Angebot wird nicht für alle Kinder ausreichen, 1. zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaft- die dies in Anspruch nehmen wollen. Ich befürchte, lichen Gleichgewichts oder dass, wie schon jetzt, leider auch in meinem Bundesland 2. zum Ausgleich unterschiedlicher Wirtschafts- Brandenburg die Kinder von erwerbslosen Eltern vom kraft im Bundesgebiet oder Besuch einer Kita ausgeschlossen bleiben. Das hätte 3. zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums dann nichts, aber auch gar nichts mit einem Rechts- erforderlich sind. anspruch für jedes Kind zu tun; denn dieser muss un- abhängig vom Erwerbsstatus der Eltern gelten. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir als Frak- tion Die Linke verwahren uns dagegen, dass Kinder auf (Beifall bei der LINKEN) ein Instrument zur Förderung der Wirtschaftskraft redu- ziert werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Widerspruch bei der CDU/CSU) Kollegin Kressl? Wir wollen nicht, dass der Ausbau der Kinderbetreuung zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtlichen Gleich- Diana Golze (DIE LINKE): gewichts herangezogen wird. Wir wollen nicht, dass er Da sie wahrscheinlich wieder keine Frage stellt, als ausgleichendes Moment für die unterschiedlichen werde ich das heute nicht zulassen. wirtschaftlichen Entwicklungen dienen soll. Und all dies nur wegen Ihrer verkorksten Föderalismusreform! (Nicolette Kressl [SPD]: Weil Sie wieder nicht antworten können! – Gegenruf von der (Beifall bei der LINKEN – Nicolette Kressl LINKEN: Das entscheidet wohl die Präsiden- [SPD]: Das ist doch Blödsinn!) tin, ob das eine Frage ist oder nicht!) Wir wollen, dass eine Kindertagesbetreuung entsteht, die Gleichzeitig frage ich mich, warum Sie Ihren eigenen vorrangig ein Ziel hat: qualitativ hochwertige früh- Anreizgesetzen so wenig Vertrauen schenken. Sollte Ihre kindliche Förderung und Bildung für jedes Kind unab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12175

Diana Golze (A) hängig vom Erwerbsstatus oder der Herkunft seiner El- geld. Ich hoffe immer noch auf den bereits mehrmals (C) tern. deutlich artikulierten Widerstand der SPD-Familienpoli- tikerinnen und der SPD-Familienpolitiker. Außerdem Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, hochwertige hoffe ich, dass Frau Fischbach recht hat. Sie hat im Rah- Betreuung setzt auch einen Betreuungsschlüssel voraus, men einer Diskussionsrunde beim Deutschen Jugend- der Erzieherinnen und Erzieher in die Lage versetzt, dem institut gesagt – da diese Veranstaltung öffentlich war, Bildungs-, Betreuungs- und Erziehungsanspruch, der an darf ich das hier wiederholen; außerdem war auch die Kindertagesbetreuung heute gestellt wird, gerecht zu Ausschussvorsitzende dort –: Das Betreuungsgeld wird werden. Auch setzt sie voraus, dass genügend Erziehe- nicht kommen; darauf gebe ich Ihnen mein Wort. – Ich rinnen und Erzieher da sind. Kein Wort dazu in den ver- hoffe darauf. gangenen Wochen von der Bundesregierung. Ich frage Sie: Wer soll die Kinder in den vielen neuen Kitas be- Vielen Dank. treuen? (Beifall bei der LINKEN) Hochwertige Betreuung setzt eine gute Ausbildung und übrigens auch eine gute Bezahlung für Erzieherin- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nen und Erzieher sowie für Tagesmütter und Tagesväter voraus. Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich nun der Kollegin Nicolette Kressl. (Beifall bei der LINKEN) Kein Wort dazu in den vergangenen Wochen von der Nicolette Kressl (SPD): Bundesregierung. Sehr geehrte Frau Kollegin, Sie haben in Ihrer Rede wieder eine Reihe von unzulässigen Vermischungen vor- Wie soll die Kinderbetreuung in den kommenden Jah- genommen und unzulässige Behauptungen aufgestellt. ren aussehen? Welche Mindestanforderungen stellen wir? Was sind die Qualitätsstandards? Kein Wort dazu in (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl! den letzten Wochen von der Bundesregierung. Richtig! Das war alles Schrott!) Die Länder und Kommunen werden diese Fragen Ich will nicht auf alle eingehen; aber eines muss klarge- sicherlich stellen, spätestens dann, wenn die Kitas fertig- stellt werden. Ich bitte ausdrücklich darum, dass Sie gestellt sind und man nach qualifiziertem Personal sucht. nicht mehr behaupten, dass es in irgendeiner Form einen Denn alle politischen Kräfte fordern qualifiziertes Perso- eingeschränkten Rechtsanspruch geben wird. nal. Niemand will irgendeine beliebige Betreuung. Alle (B) wollen eine qualitativ hochwertige. Wir haben klar festgelegt, dass bis zum Jahr 2013 (D) eine Aufbauphase stattfinden wird. Wir wollen, dass bis Schließlich und endlich komme ich auf das politische dahin für 35 Prozent der unter Dreijährigen Betreuungs- Hintertürchen zu sprechen, das Sie der CSU gelassen ha- plätze zur Verfügung stehen; das haben Sie unzulässiger- ben, Frau von der Leyen. Ich spreche von der Einfüh- weise mit dem Hinweis auf einen Rechtsanspruch ver- rung des sogenannten Betreuungsgeldes. Dadurch rü- mischt. Danach werden alle Eltern, die das wollen bzw. cken Sie Ihre eigene Debatte in ein fragwürdiges Licht. darauf angewiesen sind, eine Garantie auf einen Betreu- Durch diesen Passus der Begründung, auch wenn er mit ungsplatz für ihre unter dreijährigen Kinder bekommen; der Formulierung „soll eingeführt werden“ versehen ist, das haben wir mehrmals betont. Im Interesse der Sache wird die Diskussion über die Rolle der öffentlichen Kin- bitte ich Sie, in diesem Fall den Ansatz, den heute Mor- dertagesbetreuung weit zurückgeworfen. Mit dieser Ab- gen auch Herr Müntefering angesprochen hat, zu verfol- sichtserklärung werden wieder die alten Diskussionen gen; denn wir machen hier einen riesigen gesellschaftli- über Bildung und Betreuung einerseits und Förderung, chen Schritt. Manchmal ist es sinnvoll, dass auch die Erziehung und Elternsorge andererseits eröffnet. Opposition sagt: Da kann man wirklich nicht meckern. Ich kenne diese Diskussionen, Frau Ministerin. Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten endeten bisher nie dort, wo Sie mit Ihrem Vorstoß ei- der CDU/CSU) gentlich hin wollten. Diese Debatten führen immer wie- der in die Rabenmüttersackgasse, die Sie eigentlich überwinden wollten. Dass sich elterliche Sorge und öf- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: fentliche Kindertagesbetreuung ergänzen, wobei die öf- Es gibt noch einen zweiten Wunsch nach einer Kurz- fentliche Kindertagesbetreuung die Erziehung der Kin- intervention. Darf ich diese Kurzintervention aufrufen, der fördern, sie den Eltern aber nicht abnehmen soll, bevor Sie antworten, Frau Golze? – Frau Kollegin davon lenkt die Debatte über das Betreuungsgeld ab. Da- Fischbach. durch werden diese zwei Aspekte in unzulässiger Weise gegenübergestellt. Ingrid Fischbach (CDU/CSU): (Beifall bei der LINKEN) Sehr geehrte Frau Kollegin Golze, wenn man zitiert bzw. davon berichtet, was gesagt wurde, macht es sich Ihr großzügiges Zugeständnis wird sich nicht positiv immer gut, den gesamten Zusammenhang darzustellen. auf das ursprüngliche Ziel auswirken. Dadurch werden die Unterschiede noch größer gemacht: Die einen be- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. kommen einen Kitaplatz, die anderen das Betreuungs- Nicolette Kressl [SPD]) 12176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Ingrid Fischbach (A) Es macht sich aber nicht gut, nur eine einzige Zeile he- Wie wollen Sie das dann rechtfertigen? Wie wollen Sie (C) rauszunehmen und nicht zu erklären, worüber vorher ge- diesen Rechtsanspruch, wie Sie es nennen, dann umset- sprochen wurde. zen? Das ist meine Befürchtung. Sie können mir diese Befürchtung ganz einfach nehmen, indem Sie in das Ge- Die Damen, die an der von Ihnen erwähnten setz schreiben: Der Rechtsanspruch gilt für alle Kinder Podiumsdiskussion teilgenommen haben, wussten schon unabhängig vom Erwerbsstatus der Eltern. ganz genau, wie das Betreuungsgeld ausgestaltet sein wird, wie hoch es sein wird, wer es bekommen und wer (Beifall bei der LINKEN) es nicht bekommen wird. Ich habe darauf hingewiesen, Frau Fischbach, dass Sie versuchen, sich zu rechtfer- dass wir in dieser Diskussion überhaupt noch nicht so tigen, kann ich verstehen. Es waren noch weitere Kolle- weit sind. Daher habe ich an diesem Abend gesagt: Sie ginnen des Hauses anwesend. Es wäre interessant, zu können sicher sein, dass das so nicht kommen wird; da- erfahren, wie diese Ihren Satz aufgenommen haben, den rauf gebe ich Ihnen mein Wort. – Ich bitte Sie, dass Sie Sie – ich habe ihn mir aufgeschrieben – gegenüber dem diesen Zusammenhang darstellen. Diskussionsleiter dieser Runde, einem Journalisten der Eine Kollegin – ich schaue jetzt zur FDP – wusste Süddeutschen Zeitung, genau so gesagt haben. Wir wa- schon ganz genau, wahrscheinlich aus anderen Zusam- ren alle erfreut, das zu hören, da auch die Kolleginnen menhängen, wie diese Regelung ausgestaltet sein wird. der SPD hoffen, dass dieses Betreuungsgeld nicht Vielleicht haben einige Kolleginnen Visionen. Ich weiß kommt. Insofern haben wir diesen Satz wohlwollend zur nicht, ob das auch für Sie gilt. Ich zumindest hatte keine Kenntnis genommen. Dass Sie ihn jetzt wieder etwas Visionen. Deshalb war das, was ich in diesem Zusam- entschärfen, finde ich schade; es hätte Ihnen gut zu Ge- menhang gesagt habe, richtig. Ich bitte Sie, diesen Ge- sicht gestanden, dabei zu bleiben. samtzusammenhang zu berücksichtigen und ihn auch (Beifall bei der LINKEN) darzustellen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ten der SPD und der Abg. Ina Lenke [FDP]) Nun hat das Wort die Kollegin Krista Sager für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau Kollegin Golze, bitte. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge- ehrte Frau von der Leyen, es ist zweifellos Ihr Verdienst, Diana Golze (DIE LINKE): (B) dass Sie die Modernisierungsblockaden von CDU und (D) Zur ersten Kurzintervention. Ich habe nicht davon ge- CSU in der Familien- und Kinderpolitik aufgebrochen sprochen, dass es einen eingeschränkten Rechtsanspruch haben. geben wird, sondern ich habe meine Befürchtung zum Ausdruck gebracht. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Welche Blockaden, Frau Kollegin?) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Sie haben das in einem Bereich getan, in dem der ideolo- Wissen Sie, ich habe lange Politik im Land Brandenburg gische Drahtverhau im konservativen Lager traditionell gemacht. Da ist genau dasselbe passiert: Man hat sich besonders dicht ist, nämlich bei der Betreuung der unter hehre Ziele gesteckt und dann, als man festgestellt hat, Dreijährigen. dass das Geld nicht reicht, bei denen gespart, die sich am (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was ha- wenigsten dagegen wehren können, nämlich bei den ben Sie während Ihrer sieben Jahre Regie- Kindern erwerbsloser Eltern. Man hat den Rechts- rungszeit gemacht?) anspruch wieder eingeschränkt. Aber wenn ich mir anschaue, wie der CSU-Vorsit- (Beifall bei der LINKEN) zende, Herr Huber, und der neue Ministerpräsident von Bayern, Herr Beckstein, Meine Befürchtung ist, dass hier genau dasselbe pas- siert: dass man sich ein hehres Ziel vornimmt – wir un- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Guter terstützen dieses Ziel ja –, aber nicht nachkommt mit Mann!) dem Ausbau. Dass man nicht weit genug geht, sehen wir leider schon jetzt an der Frage, inwieweit auch wir als Sie beim Betreuungsgeld schon wieder traktieren, be- Bund finanzielle Verantwortung tragen. Ich befürchte, komme ich das Gefühl, dass Sie auf Ihren innerparteili- dass der Rechtsanspruch so, wie Sie ihn sich vorgenom- chen Baustellen in den nächsten Jahren noch gut zu tun men haben, nicht wird kommen können. Bis 2013 wol- haben werden. len Sie für 35 Prozent der Kinder Plätze schaffen. Was (Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Machen Sie sich passiert, wenn am 1. Januar 2014 mehr Kinder vor der da mal keine Sorgen!) Tür stehen und Kinder abgewiesen werden müssen, weil nicht genügend Plätze vorhanden sind? Nach der Rede von Herrn Kampeter zum Betreuungs- geld muss ich sagen: Ich beneide Sie nicht um die Auf- (Nicolette Kressl [SPD]: Es gibt einen gabe, moderne Familienpolitik mit Ihren Freunden hier Anspruch!) durchdeklinieren zu müssen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12177

Krista Sager (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Reden Sie (C) Ina Lenke [FDP]: Sie haben gar nichts ge- doch einmal zu dem Gesetzentwurf, der heute macht! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: auf der Tageordnung steht! Frau Präsidentin, Sieben Jahre lang!) sie redet nicht zur Tagesordnung! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Zur Tagesord- – Stellen Sie mir eine Frage; dann antworte ich darauf. nung!) Wer bildungsfernen Familien mit einem geringen Fa- denn nur so kann die Mangelverwaltung in der Bundes- milieneinkommen Geld dafür anbietet, dass sie ihr Kind republik Deutschland beseitigt werden, was wir – auch nicht in die frühe Förderung bringen, wer ihnen dieses beim Zeitbudget – wirklich erreichen müssen. Geld, wenn sie sich entscheiden, ihr zweijähriges Kind doch zur Sprachförderung in die Kita zu bringen, wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) abnimmt, der handelt verantwortungslos gegenüber den Die nächste Frage, die sich stellt, lautet: Was wird nun schwächsten Kindern in dieser Gesellschaft, Herr eigentlich mit den Kindern über drei Jahre? Wir wissen Kampeter. doch längst, dass der garantierte Halbtagesplatz vielen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Eltern von Kindern über drei Jahre nicht ausreicht. und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der (Ina Lenke [FDP]: Ja!) SPD) Wir wissen auch, dass der tatsächliche Förderbedarf Das ist verantwortungslos gegenüber den Kindern, die für viele Kinder bei über vier Stunden liegt. Das heißt, die schlechtesten Startchancen haben. Da muss ich eines wir brauchen einen Rechtsanspruch auf einen Ganzta- sagen: Der Wunsch einer Partei, Eltern für einen be- gesplatz vom ersten Lebensjahr bis zum Eintritt in die stimmten Lebensentwurf eine Art Anerkennungsbonus Schule. Davon sind wir noch weit entfernt. Frau Ministe- zu zahlen, muss zurücktreten hinter der Ausrichtung von rin, das heißt, die Verhandlungen mit den Ländern müs- Familienpolitik auf die Kinder, die frühe Förderung am sen an diesem Punkt jetzt weitergehen. Es darf hier keine dringendsten nötig haben. Das haben Sie bisher offen- Besinnungspause aufgrund von Selbstzufriedenheit ge- sichtlich nicht verstanden. ben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN) Wir wissen jetzt, was der Bund leisten will. Wir wis- sen aber nicht, was die Länder leisten werden, und wir Ich appelliere an die Frauen in der Großen Koalition: wissen erst recht nicht, was die Kommunen leisten kön- Lassen Sie sich auf diesen Kuhhandel nicht ein! Es ist (B) nen. Ohne den garantierten eigenen Finanzierungsbei- (D) ein Kuhhandel zulasten der Schwächsten in dieser Ge- trag von Ländern und Kommunen wird es den Rechtsan- sellschaft. spruch noch nicht einmal im Jahre 2013 geben. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben Ihnen den Vorschlag gemacht, die Kommen wir jetzt einmal weg vom pädagogischen 5 Milliarden Euro, die durch eine Begrenzung der Höhe Ansporn und reden wir über die Wirklichkeit. In der des Ehegattensplittings freigesetzt würden, dafür zu ver- Wirklichkeit, meine Damen und Herren, ist auch heute wenden. bei weitem nicht alles gut. Wenn das, was Sie heute be- (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ja, jetzt schließen, umgesetzt wird, dann brauchen Sie sich nicht kommt heraus, was Sie wollen! – Steffen selbstzufrieden zurückzulehnen; denn es wird den Kampeter [CDU/CSU]: Den Familien weg- Rechtsanspruch erst dann geben, wenn die Kinder der nehmen! – Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Eltern, die heute Elterngeld erhalten, schon längst in die Kahlschlag bei den Familien!) Schule gehen. Das ist die Wirklichkeit. Deshalb muss man doch sagen: Ein großer Schritt für die CDU/CSU ist Das würde bedeuten, dass die Länder und Kommunen eben noch kein großer Schritt für die Menschheit. mehr Geld erhalten. Dann würde der Finanzierungsan- teil der Kommunen und Länder nicht so in der Luft (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – hängen, wie dies bei Ihnen jetzt der Fall ist. Lachen bei Abgeordneten der FDP) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wir haben Ihnen einen Vorschlag dafür gemacht, wie Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Kür- man auf der Basis der von Rot-Grün beschlossenen Ge- zungsorgie!) setze den Ausbau jetzt so forcieren kann, dass es diesen Rechtsanspruch tatsächlich schon im Jahre 2010 und Dass der Finanzierungsanteil in der Luft hängt, ist des- nicht erst im Jahre 2013 gibt. Diese Chance sollten Sie wegen dramatisch, weil wir hier nicht nur über einen wirklich ergreifen. quantitativen Ausbau reden, sondern wir reden auch über eine viel höhere Qualität der frühen Förderung. Sie haben sich bisher auch ziemlich um die klare Aus- Darauf muss sich der Blick jetzt konzentrieren. sage herumgemogelt, ob es um einen Rechtsanspruch für einen Ganztagesplatz geht. Dass nicht alle Eltern einen Wir brauchen pädagogische Konzepte und umfas- Ganztagesplatz nachfragen werden, ist eine Binsenwahr- sende Förderstrategien: Aufwertung der Erzieherinnen- heit. Haben sie aber einen Rechtsanspruch auf einen und Erzieherausbildung, ausreichend gutes Personal, Ganztagesplatz? Das ist doch die entscheidende Frage; kleinere Gruppen, Stärkung der Elternkompetenz, Ver- 12178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Krista Sager (A) zahnung von Elementarbereich und Grundschule. Wir dann müssen Sie der Öffentlichkeit natürlich auch deut- (C) brauchen daneben eine Senkung der Schwelle für Kinder lich machen, welche Grenzen dem durch die Verfas- aus armen Familien – sie müssen ein kostenloses Mittag- sungsgerichtsspruchpraxis gesetzt sind. essen und eine kostenlose Betreuung erhalten –, damit (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- sie tatsächlich früh gefördert werden können. neten der SPD) (Otto Fricke [FDP]: Dafür reichen 5 Milliar- Das müssen Sie den Menschen schon erklären. Sie dür- den Euro aber nicht aus!) fen nicht den Eindruck vermitteln, dass Sie, wenn Sie in Diese gewaltige qualitative Aufgabe steht vor uns. diesem Haus nur könnten, wie Sie wollten, dies landes- Deswegen wäre es besser gewesen, wenn der Bund bei und bundesweit völlig losgelöst von dem, was das Bun- den Betriebskosten einen höheren Anteil geleistet hätte, desverfassungsgericht als Rahmen vorgibt, veranlassen damit die Gegenfinanzierung auch für diese qualitative würden. Herausforderung gewährleistet wäre. Die Flucht vor der (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gegenfinanzierung und Ihre Absicht, nicht zeitgemäße NEN]: 5 Milliarden Euro sind doch verfas- Transferleistungen nicht abzubauen und sich in das Son- sungskonform!) dervermögen Investition hineinzuflüchten, weil man die entsprechenden Aufgaben dann mit Schulden finanzie- Ich möchte auch die Oppositionsparteien in diesem Zu- ren kann, bedeutet die Kapitulation vor der riesigen qua- sammenhang gern zu einer gewissen Mäßigung aufru- litativen Aufgabe, die frühe Förderung ernst zu nehmen fen. und dieses Vorhaben wirklich in Gang zu bringen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Frau von der Leyen, heute ist vielleicht ein Tag, an dem Sie sagen: Ich lehne mich zurück; ich bin zufrieden. Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Ich kann Ihnen aber ganz klar sagen: Immer dann, wenn Kollegin Sager? man in der Politik glaubt, dass man etwas im Kasten hat, muss man einsehen, dass in Wirklichkeit noch große Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Aufgaben vor einem stehen. Bitte sehr. (Markus Grübel [CDU/CSU]: Machen Sie sich Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): keine Sorgen!) Herr Minister, ist Ihnen bekannt, dass es Modelle von Wir werden Sie jeden Tag an diese großen Aufgaben er- durchaus seriösen Wissenschaftlern gibt, wonach man aus innern. Darauf können Sie sich verlassen. den 20 Milliarden Euro für das Ehegattensplitting durch- (B) aus 5 Milliarden herausnehmen kann, ohne dass das die (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – kleinen und mittleren Einkommen belastet, und dass diese Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wir sind 5 Milliarden Euro dann nicht nur dem Bund, sondern auch viel besser als sieben Jahre Rot-Grün!) den Ländern und Kommunen zufallen würden? Ist Ihnen ferner bekannt, dass 5 Milliarden Euro 50 Prozent dessen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sind, was heute für die Krippenbetreuung in Deutschland Für die Bundesregierung erteile ich nun dem Bundes- eingesetzt wird, und die Krippenbetreuung damit nicht finanzminister Peer Steinbrück das Wort. nur im Hinblick auf die Quantität, sondern auch die Quali- tät vorangebracht werden könnte? (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Haben Sie etwas gegen Ehe?) Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Herren! Es ist manchmal atemberaubend, was der Öf- Diese Stellungnahmen mag es geben. Unabhängig da- fentlichkeit in solchen Reden – in diesem Falle in Ihrer, von ist der Zwischenruf berechtigt, weil das Bundesver- Frau Sager – alles versprochen wird, ohne die Frage zu fassungsgericht dabei auf die Institution Ehe abstellt. beantworten, ob sich dies einigermaßen in den Propor- Aus den Recherchen und Nachfragen, die ich veranlasst tionen des finanziell Darstellbaren bewegt. habe, kann ich Ihnen berichten, dass über die Einführung eines verfassungskonformen Realsplittings allenfalls (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- 1 bis 2 Milliarden Euro zu heben sind und nicht die von neten der SPD – Krista Sager [BÜNDNIS 90/ Ihnen apostrophierten 5 Milliarden Euro. DIE GRÜNEN]: Wir haben einen Finanzie- rungsvorschlag gemacht!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nur vom Bund! – Gegenruf des Abg. – Wenn Sie einen solchen Finanzierungsvorschlag ma- Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unseriös!) chen – ich bin bei der Bewertung des Ehegattensplit- tings wahrscheinlich gar nicht so weit entfernt von Ih- Noch einmal: Ich bitte darum, nicht völlig von be- nen –, stimmten Rahmenbedingungen abzuheben, wenn solche Zahlen und Ankündigungen hier in den Raum geworfen (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: werden. Damit folge ich dem heutigen Hinweis von Ach so!) Herrn Müntefering, dass eine selektive Information der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12179

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Öffentlichkeit auch eine falsche Information der Öffent- Das, was wir auf den Weg bringen, ist übrigens nicht (C) lichkeit sein kann. neu erfunden worden. Ich darf mit einem gewissen Stolz hinzufügen, dass die Vorgängerregierung – eine rot- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- grüne Bundesregierung – diesen Weg bereits eröffnet neten der SPD) hat, was bei einer solchen Gelegenheit nicht verschwie- Meine Damen und Herren, ich würde gerne zwei bis gen werden sollte. drei grundsätzliche Bemerkungen machen. Ich habe bei (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der ersten Lesung des Bundeshaushalts 2008 darauf hin- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland alle An- strengungen unternehmen muss, um ihren zukünftigen Dies gilt gerade auch aus der Sicht des Bundes, obwohl Wohlstand zu sichern. Ich glaube, dass es drei Schlüssel- – an der Bemerkung ist mir gelegen mit Blick auf die begriffe gibt, die auch in der heutigen Debatte zur Förde- ewigen Forderungen, die Sie immer an die Adresse des rung der Kinderbetreuung eine erhebliche Rolle spielen Bundes stellen – diese Förderung der Betreuungsinfra- müssen, um dieses Wohlstandsniveau zu erhalten und struktur zunächst jedenfalls laut Grundgesetz nicht ge- auszubauen: Das ist eine bessere Bildung in Deutsch- rade eine prädestinierte bzw. vorgeprägte Aufgabe des land; dazu zähle ich insbesondere auch die frühkindliche Bundes ist. Betreuung. Das ist eine höhere Erwerbstätigkeit von Frauen – insbesondere der sehr gut qualifizierten jünge- (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ren Generation von Frauen – vor dem Hintergrund der Das habe ich auch nicht gesagt!) Alterung unserer Gesellschaft. Und es sind mehr Kinder. Deshalb finde ich auch, dass Sie die Länder und Kom- munen etwas stärker in die Pflicht nehmen dürfen, zumal (Beifall bei Abgeordneten der SPD) derzeit die Finanzausstattung und Finanzentwicklung Von diesen drei wichtigen Stellschrauben reden wir der Länder und Kommunen deutlich besser ist als die im Zusammenhang mit der Förderung von Betreuungs- des Bundes. plätzen. Noch einmal zur Verbesserung der Erwerbstä- (Ina Lenke [FDP]: Na ja!) tigkeit von Frauen: Diese ist in Deutschland im Ver- gleich zu der Entwicklung in anderen europäischen – Aber selbstredend. Beide Gruppen von Gebietskörper- Ländern unterdurchschnittlich. Das können wir uns defi- schaften werden in diesem Jahr einen positiven Finan- nitiv nicht leisten. Die älter werdende Gesellschaft tut zierungssaldo aufweisen. Der einzige Depp, der das sich einen Tort an, wenn sie diese Frauen, die – dieser nicht macht, bin ich für den Bund. Satz fällt mir als Mann sehr schwer – zunehmend bes- (B) sere schulische, berufliche und akademische Abschlüsse (Ina Lenke [FDP]: Sie müssen Ihre Schulden (D) machen als Männer, nicht in den Stand versetzt, eine ei- abbezahlen!) gene Berufsbiografie zu schreiben und gleichzeitig Kin- Die Länder werden in diesem Jahr einen positiven der in die Welt zu setzen. Dies bedeutet Wohlstandsver- Finanzierungssaldo von 5 Milliarden bis 6 Milliarden luste für die Bundesrepublik Deutschland. Euro erzielen. Sicherlich ist der Hinweis erlaubt, dass (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der sie – jedenfalls in diesem Zusammenhang – erkennbar FDP) größere Spielräume haben als der Bund. Ich will da keine Missverständnisse haben. Ich meine Wenn der Bund bzw. ein sonst garstiger Finanzminis- das als Finanzminister nicht nur im Sinne einer platten ter – Ärmelschoner, Ratzefummel und Bleistift in der ökonomischen Sichtweise, wie mir das unterstellt wurde. Hand, nur um zu streichen – Ich meine das in einem sehr weiten Sinne – auch mit (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Wir sind Blick auf die Gleichverteilung der Entwicklungsmög- Schlimmeres gewohnt!) lichkeiten von Männern und Frauen, aber auch mit Blick darauf, wie es mit dem Wohlstand und der Wohlfahrt in trotzdem entscheidet, dafür Geld auszugeben, dann ge- der Bundesrepublik Deutschland weitergeht. schieht das aus den übergeordneten wichtigen Gründen, die ich zu Anfang meiner Ausführungen erwähnt habe. (Beifall bei der SPD) Dazu habe ich von Anfang an gestanden. Wir haben diesbezüglich gegenüber anderen europäi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schen Ländern einen Nachteil. Erkennbar bieten wir un- der CDU/CSU) seren Kindern nicht annähernd gleiche Bildungschan- cen, wie sie in anderen europäischen Ländern geboten Wir müssen zu den familienpolitischen Erfolgen unse- werden. Das zeigen – nicht zu unserem Stolz; im Gegen- rer europäischen Nachbarländer aufschließen. Wir bieten teil: Da wird eine große Portion Selbstkritik fällig – lei- mit dem, was wir jetzt in Gang setzen, eine zielgenauere der alle Studien auf. Auch mit Blick auf die von mir Unterstützung und verschaffen einer längst überfälligen mehrfach erwähnte Erwerbstätigkeit von Frauen hinken Wahlfreiheit der Eltern endlich Spielraum. Dies sage wir deutlich hinterher. Es ist Zeit, dass wir an die Ver- ich gerade mit Blick auf Kinder von Eltern oder aus Fami- hältnisse anknüpfen, die es in Schweden, in Finnland, in lien – wenn es überhaupt Familienstrukturen gibt –, die Großbritannien, in Frankreich und in den Niederlanden garantiert nicht zu den Privilegierten unserer Republik ge- längst gibt. hören. 12180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Ich mache keinen Hehl daraus, dass ich auf meinen – Ich meine: beklagen. Auf das Kleben komme ich noch (C) Ehrenamtstouren in meiner damaligen Funktion in Nord- zu sprechen. Ich denke an das Bild von den klebrigen rhein-Westfalen zu häufig die Erfahrung gemacht habe, Händen; wir stehen gemeinsam unter dem Eindruck, dass wir es zunehmend mit Kindern zu tun haben, die dass zum Beispiel die Regionalisierungsmittel bei der aus völlig zerrütteten, kaum noch vorhandenen Fami- Förderung der Schienenpersonennahverkehre nicht im- lienverhältnissen kommen, keine Regelmäßigkeit ken- mer wie vorgesehen angekommen sind oder zu kompen- nen, nicht mit Messer und Gabel essen können, keine satorischen Ausweichmanövern der Länder geführt ha- Bücher kennen, denen nicht vorgelesen wird, denen ben. keine Regelmäßigkeit vermittelt wird und die in diesem Zustand die vorprogrammierten Verlierer unserer Gesell- (Ina Lenke [FDP]: Deshalb wollten wir das schaft und damit auch die prädestinierten Transferemp- auch anders! Sie haben es so gemacht!) fänger in einigen Jahrzehnten – das heißt zulasten der Gelegentlich habe ich den Eindruck, dass es bei den Steuer- und Abgabenzahler – sind. Deshalb ist die Schaf- Kosten der Unterkunft auch so ähnlich laufen könnte. fung einer Betreuungsinfrastruktur gerade für diese Kin- der von entscheidender Bedeutung. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Otto Fricke Ich habe zu häufig die Erfahrung gemacht, was es für [FDP]) diese Kinder und übrigens auch für ihr Sozialverhalten positiv bewirkt, endlich einmal in Gruppen integriert zu Ich möchte auch noch einen dritten Bereich erwäh- werden und dadurch möglichst auch Zugang zu Bildung nen, der dieses Thema unmittelbar betrifft. Dabei geht es bis hin zu Deutschkenntnissen zu erhalten und über die um die 1,5 Milliarden Euro, die der Bund in der Folge gleichen Möglichkeiten wie andere Kinder zu verfügen, eines Ergebnisses des Vermittlungsausschusses vor eini- wenn sie eingeschult werden. gen Jahren im Zusammenhang mit Hartz IV eigentlich den Kommunen zum Einstieg in die Betreuung der unter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten 3-Jährigen zugewiesen hat und von denen wir bis zum der CDU/CSU) heutigen Tag nicht so genau wissen, was die Kommunen Bei dieser Gelegenheit kann man zwar die Einfüh- damit gemacht haben. rung eines Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung bis (Beifall bei der SPD) hin zum ersten Schuljahr fordern, Frau Sager – ich will das gar nicht kritikasterhaft bewerten; das ist als Opposi- Um auf die Praxis zu sprechen zu kommen – darf ich tionspolitikerin leicht gesagt –, aber erklären Sie mir Ihre Fragestellung, bezogen auf das Sondervermögen, auch, wie wir das machen sollen, wenn man an anderer schon vorwegnehmen, Herr Fricke? –: Sie sagen, das sei Stelle verzichten muss, um so ein Vorhaben zu finanzie- ein bisschen „Tricky Dicky“ oder „fickelinsch“. Ich (B) ren. lasse mich nicht lange bitten und gebe zu: Wir gründen (D) dieses Sondervermögen, weil wir in diesem Jahr Liqui- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ditätsgewinne haben. Ich sage der Öffentlichkeit ganz Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: klar: Mit den Mehreinnahmen, die wir haben, gründen Darüber müssen wir reden, aber nicht über das wir dieses Sondervermögen. Das ist übrigens kein No- Arbeitslosengeld I!) vum; denn schon in der Vergangenheit haben wir gele- Wir führen einen Rechtsanspruch für das Jahr 2013 gentlich Sondervermögen eingerichtet. Es gibt auch ein ein. Dies hat eine völlig neue Qualität. Nicht zuletzt über aktuelles Sondervermögen zur Tilgung der Schulden zur die Verankerung dieses Rechtsanspruchs, der dann ab Integration der neuen Bundesländer. Vor diesem Hinter- dem Kindergarten- bzw. Betreuungsjahr August 2013 grund halte ich den ewigen, inflationär geworfenen folgende gilt, ist auch eine wichtige Korsettstange einge- Bannstrahl der Verfassungswidrigkeit für ermüdend. zogen worden, damit das Geld an der richtigen Stelle an- Warum soll dies verfassungswidrig sein? kommt. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke? Das antworte ich auch den Vertretern der FDP. Denn die Länder und die Kommunen werden eines Tages nach- Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: weisen müssen, dass sie diesen Rechtsanspruch erfüllt Bitte sehr. haben. Für den Fall, dass sie vielleicht Geld zweckent- fremdet ausgegeben haben – im Übrigen sind die Aus- führungen von Herrn Kampeter völlig zutreffend –, ist Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: mit der Verwaltungsvereinbarung, die wir mit den Län- Herr Kollege Fricke, bitte. dern abgeschlossen haben – übrigens mit einer sehr de- taillierten Erfolgskontrolle –, eine weitere Korsettstange Otto Fricke (FDP): als Garant eingezogen worden. Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie die wahren Gründe genannt haben, warum Sie finanziell so vorge- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) hen – ich habe eigentlich nichts zur Verfassungsmäßig- Anders als in den Fällen, die wir gemeinsam bekle- keit gesagt –, ben. (Nicolette Kressl [SPD]: Das hat er schon (Heiterkeit) immer gesagt!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12181

Otto Fricke (A) möchte ich versuchen, dort anzusetzen, wo der Kollege (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) Kampeter mir deutlich ausgewichen ist. Sie haben er- Wir sind gerne hilfreich!) klärt: Wir wollen nicht, dass das kommt, und deswegen Wir sehen daher einen Pauschalbetrag vor, der allerdings prüfen wir das genau. Die Länder müssen alles vorlegen einem entsprechenden Erfolgskontrollprozess ausgesetzt und zeigen, wofür sie die Gelder verwendet haben. – Ich sein muss, damit die Betriebsausgabenförderung bei den versuche, es präzise auf den Punkt zu bringen, Herr Bundesländern so ankommt, wie wir es uns vorstellen. Minister: Wenn Länder und Kommunen es ausweislich einer Nachprüfung nicht richtig gemacht haben, haben Dies ist ein weiterer sehr wichtiger Schritt zur Ver- Sie dann ein Druckmittel? Bisher haben die Länder Gel- wirklichung einer modernen Familienpolitik. Mein Bei- der wiederholt falsch verwendet; das haben wir festge- trag im Rahmen einer gestaltenden Finanzpolitik bestand stellt. Aber können Sie Länder und Kommunen zwingen, immer darin, dafür Sorge zu tragen, dass wir in der Fa- das Geld zurückzuzahlen, wenn sie das Geld falsch ver- milienpolitik etwas im Bereich der frühkindlichen Be- wenden, wenn das Geld also nicht bei den Kindern und treuung in Gang setzen, was in der mittleren Sicht richtig Familien ankommt, die es brauchen, oder bleibt das Geld ist, um vorprogrammierte Transferzahlungen zu mini- letztlich nicht doch dort? Ist das nicht weiterhin die mieren. Wenn wir am Anfang dieses Prozesses in der Folge? Ich sehe jedenfalls keine Rückzahlungsverpflich- Lage sind, Menschen einen gerechten Zugang zu Bil- tung. dungseinrichtungen zu ermöglichen, Kinder mit ausrei- chenden Deutschkenntnissen in die Schulen zu schicken, Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: die Zahl der Schulabbrecher zu verringern, den Jugendli- chen Ausbildungsplätze in ausreichender Zahl zur Verfü- Um so offen und wahrhaftig zu antworten, wie Sie gung zu stellen und sie weiterzuqualifizieren, dann ent- mich kennen, Herr Fricke: Das einmal den Bundeslän- spricht das meinem Verständnis einer vorsorgenden dern gegebene Geld wird man nicht wiederbekommen. Sozialpolitik, damit man hinterher nicht sehr viel teurer Aber da wir auf dem Geldsack sitzen, wenn es um die etwas reparieren muss, was sich durch Investitionen am einschlägige Förderung von Investitionsmaßnahmen, Anfang dieses Entwicklungsprozesses sehr viel günsti- auch beim Umsatzsteuerpauschalbetrag für die Be- ger und für die Menschen in ihrer eigenverantwortlichen triebsausgaben, geht, werden wir pro futuro diesen Geld- Lebensgestaltung sehr viel besser machen lässt. Ich strom kontrollieren und feststellen, welche Bundeslän- freue mich, dass wir auf dieser Wegstrecke so gut voran- der sich vorbildlich verhalten. gekommen sind. (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Zum ersten Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Mal! – Nicolette Kressl [SPD]: Rechtsan- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (B) spruch!) (D) Derjenige, der auf diesem Geldsack sitzt, bin bekannt- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lich ich. Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Ina Lenke für (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der die FDP-Fraktion. SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP) Bei der Einrichtung des infrage stehenden Sonderver- mögens sehe ich keine Schwierigkeiten. Bislang ging in Ina Lenke (FDP): Ihren Ausführungen unter, meine Damen und Herren Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau von der Opposition, dass es für den Bund sehr schwierig von der Leyen, Sie haben es gegen den Widerstand von ist, das zu tun – Sie haben das sogar noch als mehr not- Parteifreunden in der CDU und CSU geschafft, dass der wendig angemahnt, Frau Sager –, nämlich Betriebsaus- Bund Geld für die Kinderbetreuung bereitstellt. Herr gaben auf der Ebene der Kommunen zu finanzieren. Steinbrück, ich kann mich noch sehr genau an den An- Wie Sie wissen, sind die Kommunen verfassungsrecht- fang dieser Diskussion erinnern. Sie waren es, der Wi- lich gesehen nicht Bestandteil des Bundes, sondern der derstand gegen diese Bundesfinanzierung geleistet hat. Bundesländer. Daher gibt es keine direkten Finanzbezie- Nun zum Finanzierungsvorschlag im Antrag der hungen zwischen Bund und Kommunen. Wir haben aber FDP-Bundestagsfraktion. Sie wissen, dass wir den Fi- einen Weg gefunden. Wir ermöglichen über die Bundes- nanzierungsbedarf durch die Erhöhung des Anteils der länder eine Förderung der Betriebsausgaben, die bei den Gemeinden an der Umsatzsteuer nach Vorwegabzug des Kommunen ankommt. Der einzig verfassungskonforme Bundesanteils decken wollten. Das war verfassungskon- Weg ist hierbei die Lösung, die die Koalitionsfraktionen form, was bei Ihrem Konzept zumindest nicht so klar ist. gefunden haben, nämlich einen Pauschalbetrag bei der Umsatzsteuer. (Beifall bei der FDP – Steffen Kampeter [CDU/ CSU]: Keinerlei Erfolgskontrolle!) (Krista Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) Sicher ist, dass der Staat allein mit staatlicher Kinder- betreuung die Nachfrage nach mehr Plätzen für unter Kein Umsatzsteuerpunkt! Ich wäre ja mit dem Klammer- Dreijährige nicht zügig decken kann. Bisher haben Ver- beutel gepudert, wenn ich das täte; denn hier wäre eine käuferinnen, Kellnerinnen und Krankenschwestern, also dynamische Entwicklung absehbar. Ich bin gerne hilf- Frauen mit unregelmäßigen Arbeitszeiten, zum Beispiel reich, aber nicht blöd. auch an Wochenenden, keine Chance, ihre Erwerbstätig- 12182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Ina Lenke (A) keit und die Kinderbetreuung in staatlichen Einrichtun- Die Bundesagentur für Arbeit ist in diese Kampagne ein- (C) gen zu organisieren. zubeziehen. (Caren Marks [SPD]: Das stimmt nicht!) Alles, was wir hier machen – darin sind wir uns sicher einig –, dient dem Ziel, allen Kindern Bildung und Be- Dieses Defizit gleichen jetzt schon private Anbieter treuung zukommen zu lassen. aus. Viele haben lange Wartelisten. Die FDP will durch die Einbeziehung privater Anbieter ein breiteres Ange- (Beifall bei der FDP) bot schaffen. Nur privat-gewerbliche Anbieter werden bisher vom Konzept der Bundesregierung ausgenom- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: men. Zum Beispiel gibt die Familienministerin Betrie- Für die Bundesregierung hat nun die Bundesministe- ben über EU-Mittel 10 000 Euro pro neu geschaffenen rin Frau Dr. Ursula von der Leyen das Wort. Krippenplatz. Warum nicht auch für Existenzgründerin- nen? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Die FDP fordert die Gleichbehandlung aller Anbieter Dr. Ursula von der Leyen, Bundesministerin für und ein Ende der Ausgrenzung der von Eltern stark Familie, Senioren, Frauen und Jugend: nachgefragten privat-gewerblichen Anbieterinnen bzw. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Anbieter. Wir sind uns doch einig – besonders wir handeln heute im Parlament ein Thema mit einem sehr Frauen- und Familienpolitikerinnen –, dass wir gerade trockenen Titel: Sondervermögen „Kinderbetreuungs- Frauen den Weg in die Selbstständigkeit ebnen wollen. ausbau“. Ich finde, es ist ganz spannend, welch ein le- Dann bitte aber auch mit diesem Ausbildungsprofil. Ich bendiger Vorgang sich dahinter verbirgt. Ein Vorgang habe manchmal den Eindruck, auch in den Sitzungen des – das zeigt die Diskussion hier in diesem Parlament –, Familienausschusses, dass Sie den Privaten in dieser der beweist, dass die Große Koalition tatsächlich zu gro- Hinsicht misstrauen und nur dem Staat vertrauen, und ßen Schritten in der Lage ist. das ist falsch. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP) Wer hätte im Januar dieses Jahres gedacht, dass wir Der Bericht der Bundesregierung über die Betreuungs- neun Monate später fraktionsübergreifend und über alle angebote für unter Dreijährige in Deutschland beweist, drei Ebenen – Bund, Länder und Kommunen – nicht dass das bisher keine Erfolgsstory ist. Deutschland, bes- mehr diskutieren, ob wir all das brauchen, sondern heftig (B) ser: Westdeutschland – Frau Golze, da gebe ich Ihnen darüber debattieren, wie wir es gut machen, wie wir Kin- (D) recht –, hinkt hinterher. Die Zeit drängt, die Gemeinden derbetreuung qualitativ hochwertig gestalten? Das ist ein stehen in den Startlöchern. Die FDP fordert die Bundes- richtig großer Erfolg für diese Große Koalition in der ge- regierung und die Bundesländer auf, die Finanzströme sellschaftspolitischen Debatte. von Bund und Ländern so zu bündeln, dass die Gemein- (Beifall bei der CDU/CSU – Steffen Kampeter den passgenaue Angebote für Familien machen können. [CDU/CSU]: Neun Monate sind ein kluger Aufgrund der Alterung unserer Gesellschaft stehen Zeitraum!) Städte und Gemeinden schon heute im Wettbewerb um junge Familien. Eine Gemeinde ist nur attraktiv, wenn Ich glaube, das ist auch für die Menschen etwas, wo auch das Angebot an Kinderbetreuung stimmt. Familien- Politik plötzlich ganz pragmatisch und spürbar gestal- freundlichkeit ist kein Almosen, sondern ein wichtiger tend wird, und gerade das wird eigentlich von der Politik Standortvorteil. Der Mangel an Betreuungsmöglichkei- gewünscht und gefordert. Wir schaffen gemeinsame An- ten ist ein Problem des Westens, und deshalb werden die gebote. Angebote auch angenommen. Ich hoffe, dass wir unsere Frau Golze, wenn Sie bemängeln, dass der Bericht, Kinderbetreuung so verbessern, dass sie das Niveau der der heute zur Diskussion steht, mit den Zahlen vom Betreuung in den neuen Bundesländern erreicht. 15. März 2006 besagt, der Kinderbetreuungsausbau für Ich komme zum Schluss. Die FDP fordert die Bun- unter Dreijährige komme zu langsam voran, kann ich desregierung auf, erstens mit den Ländern zu vereinba- nur sagen: Ja! Deshalb tun wir jetzt diese großen Schritte ren, dass auch privat-gewerbliche Anbieter bei den – mehr und schneller –, damit die jungen Menschen spü- Finanzhilfen einbezogen werden, ren: Es ist uns nicht gleichgültig, wenn sie sich für Kin- der entscheiden. (Caren Marks [SPD]: Warum das?) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zweitens mit der Einführung von Bildungs- und Betreu- Ich möchte noch mal deutlich sagen: Hier zeigt sich ungsgutscheinen jedem Kind die staatliche Subvention eine Politik, die nicht nur wohlwollend nickt oder Sonn- als Budget in die jeweilige Einrichtung, die die Eltern tagsreden schwingt, sondern die handelt, die dort unter- wollen, mitzugeben und drittens eine Offensive für eine stützt, wo der Staat gezielt helfen kann, wo er seine Auf- noch bessere Ausbildung und für mehr Fachkräfte, Er- gabe und seine Verantwortung wahrnimmt. zieherinnen und Tageseltern zu starten. Bis 2013 werden zusätzlich 46 000 Tagesmütter und 66 000 Personen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kitas für die Betreuung der unter Dreijährigen benötigt. neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12183

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) Meine Damen und Herren, die jungen Familien wer- Ich frage noch einmal: Woher kommt das Gefühl, (C) den durch eine gute und flexible Kinderbetreuung mehr dass durch den Ausbau der Kinderbetreuung die Erzie- Möglichkeiten haben. Sicherlich macht der Ausbau der hung von Kindern zu Hause nicht genügend gewürdigt Kinderbetreuung vieles leichter, aber mit Sicherheit wird? Ich denke, dass sich hier inzwischen ein schon nicht alles. Er kann manche Hürde bei dem schwierigen lange bestehendes Gefühl offenbart, dass Erziehung in Spagat zwischen Kindererziehung und Arbeitswelt ab- den vergangenen Jahren von dieser Gesellschaft insge- bauen. Aber die Hauptlast bleibt bei den Eltern – und na- samt zu wenig gewürdigt wurde, türlich auch die meiste Freude und die große Verantwor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tung für den Alltag mit Kindern. Ich nehme nur einige Beispiele: fiebernde Kinder, durchwachte Nächte, Trotz- dass Erziehung dieser Gesellschaft kein wirklich vorran- phasen, Platzwunden, Eifersucht zwischen Geschwis- giges und gemeinsam getragenes Anliegen ist. tern. Das ist der Alltag von Menschen, die sich für Kin- der entscheiden, von allen Eltern, weit über das dritte Ich will es noch einmal unmissverständlich sagen: Lebensjahr hinaus. Das Elternhaus ist unersetzlich. Die Erziehung von Kin- dern vom ersten Tag an und weit über das dritte Lebens- All das bewältigen sie einmal besser und einmal jahr hinaus durch Mutter und Vater schwächer, aber völlig unabhängig davon – das ist mir (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) wichtig –, welches Etikett eines Familienmodells wir ih- nen in der öffentlichen Diskussion aufkleben. Ich sehe ist einzigartig, kostbar, und sie ist das Wichtigste, was unsere Aufgabe in der Politik nicht darin, Familien in eine Gesellschaft schützen muss. Modelle einzuteilen. Ich sehe die erste und vornehmste Aufgabe von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft darin, zu (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- fragen, in welchen Lebenssituationen Familien es beson- neten der SPD und der FDP) ders schwer haben, nur weil sie Kinder erziehen. In sol- Denn primär daraus erwächst in einer Gesellschaft die chen Situationen muss der Staat ihnen gezielt helfen, Bereitschaft, Verantwortung für andere zu übernehmen darf sich nicht vor der Verantwortung drücken und muss und sich für sie einzusetzen – sei es durch die Erfahrung, als Staat konsequent handeln. die Eltern machen, indem sie Kinder erziehen, sei es aber auch durch die kindliche Erfahrung, geliebt zu wer- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie den und geborgen zu sein. der Abg. Ina Lenke [FDP]) Warum also hat Erziehung keinen höheren Stellen- Aus den Diskussionen der vergangenen Wochen und wert in unserer Gesellschaft? Warum haben wir Kinder- (B) Monate, als es darum ging, die Strukturen der Kinderbe- erziehung so lange allein den Frauen zur Aufgabe ge- (D) treuung – das möchte ich noch einmal betonen – auf ein macht? Wo ist das lebendige, aktive, begeisternde europäisches Durchschnittsniveau anzuheben, macht Vaterbild? Wo sind die männlichen Erzieher in Kinder- mich doch zunehmend der Aspekt nachdenklich, warum gärten und die männlichen Grundschullehrer? sich parallel dazu bei einigen Menschen das Gefühl ent- wickeln konnte, sie würden benachteiligt. Das ist mit Si- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der cherheit nicht so. Ich habe bewusst und beharrlich dafür FDP – Nicolette Kressl [SPD], zur CDU/CSU gekämpft, dass der Ausbau der Kinderbetreuung eben gewandt: Ihr müsst klatschen! – Ute Kumpf nicht zulasten des Ehegattensplittings, nicht durch eine [SPD]: Das war die CDU! 16 Jahren lang! – Kürzung des Kindergelds, aber auch nicht durch Ver- Caren Marks [SPD], zur CDU/CSU gewandt: schuldung finanziert wird. Da sitzen sie!) (Nicolette Kressl [SPD]: Eine Kürzung war Erziehung zu Hause geht Mutter und Vater gleicherma- nie im Gespräch!) ßen an. Aber auch Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müssen Denn das wäre eine Finanzierung für Familien zulasten ihre Verantwortung wahrnehmen; denn nur dann haben anderer Familien gewesen und nicht etwa eine Leistung Eltern auch eine Chance auf gelingende Erziehungs- der gesamten Gesellschaft. Das konnte ich nicht akzep- arbeit. Sie wissen, dass wir dafür gezielte finanzielle Hil- tieren. fen, eine kinderbewusste Arbeitswelt und eine hochwer- Es ist uns nun gelungen, eine echte politische Priorität tige Infrastruktur brauchen. für Familien insgesamt zu setzen, weil in Familien neu Nachdem ich eingangs all diese Fragen gestellt habe, und mehr investiert wird. Dafür geht vor allem mein ho- möchte ich sagen: Ich habe mich darüber gefreut, dass her Dank an Sie, Herr Bundesfinanzminister, und an die wir diese Debatte in den letzten Monaten gemeinsam so Familienpolitikerinnen und -politiker sowie die Haus- konstruktiv geführt haben. Es ist zum Schluss etwas Gu- haltspolitikerinnen und -politiker. Das war wirklich eine tes herausgekommen. heroische gemeinsame Aufgabe, die wir zusammen ge- stemmt haben. Keine Familie verliert dadurch. Sehr Aber jetzt stehen wir am Anfang der nächsten De- viele Familien gewinnen dadurch. batte. Jetzt haben wir, Bund, Länder und Kommunen, gemeinsam die Chance, nicht nur die Kinderbetreuung (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- auszubauen, sondern auch auf gute Qualität zu achten, neten der SPD und der FDP) über die besten Konzepte zu debattieren: 12184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesministerin Dr. Ursula von der Leyen (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) SPD und der FDP sowie der Abg. Krista Sager Nächste Rednerin ist nun die Kollegin Anna [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Lührmann für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wie gestaltet man eine enge Zusammenarbeit zwischen den Tagesmüttern, den Krippen, den Kitas und den El- Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ternhäusern? Wie schaffen wir nachhaltige Bildungskon- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und zepte für die ersten zehn Lebensjahre eines Kindes? Je Kollegen! Als Mitglied des Haushaltsausschusses will jünger ein Kind ist, desto besser muss die Qualität der ich mich jetzt auf die Finanzierung Ihres Konzeptes zur Erziehung sein. Wir müssen für die Erzieherinnen und Kinderbetreuung, die etwas unsolide ist, konzentrieren. Erzieher, für die Tagesmütter Chancen auf mehr Fort- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Das hat Herr und Weiterbildung schaffen. Fricke schon versucht!) In den ersten Lebensjahren eines kleinen Kindes be- Sie wollen dieses Jahr 2,15 Milliarden Euro in einem ginnt auch der Kampf gegen Armut; denn Armut gründet Sondervermögen parken und dieses Geld dann in den zuallererst auf Bildungsarmut. Der Kampf gegen Bil- nächsten fünf Jahren schrittweise für Kinderbetreuung dungsarmut beginnt aber damit, dass Kinder spielend ausgeben. Um diesen optischen Haushaltstrick für Sie, miteinander lernen können. Wir alle wissen: Bildung ist liebe Bürgerinnen und Bürger, verständlich zu machen, der Schlüssel zur Welt. will ich das noch einmal in Ruhe erklären. Lassen Sie uns den heutigen Tag feiern. Wir haben (Christel Humme [SPD]: Nachhilfeunterricht!) Grund, zu feiern, weil das, was geschaffen worden ist, gut ist. Ich danke noch einmal allen Beteiligten. Es wäre – Vielleicht brauchen Sie ja die Nachhilfe auch noch, nicht gegangen, wenn nicht alle Beteiligten so eng zu- Frau Kollegin. sammengestanden und auch wirklich große neue Schritte (Caren Marks [SPD]: Ein bisschen frech!) gewagt hätten. Normalerweise gibt eine Regierung – so steht es im Wir sind jetzt am Anfang der Bewältigung der nächs- Gesetz – erst in dem Jahr Geld aus, in dem es benötigt ten großen Aufgabe; ich meine das große Thema „Quali- wird. Sie soll keine Schattenhaushalte bilden, indem sie tätsoffensive beim Ausbau der Kinderbetreuung“. in einem Jahr etwas zur Seite legt und dann schrittweise, Jahr für Jahr, wieder ausgibt. Das dient der Transparenz, (Ute Kumpf [SPD]: Reden Sie mal mit Ihren damit Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, jedes Jahr er- CDU-Länderchefs!) kennen können, wie viele Schulden eine Regierung auf- (B) Wir, der Bund, möchten die Länder und die Kommunen nimmt und wie es um die Staatsfinanzen bestellt ist. (D) bei dieser Diskussion gern begleiten. Wir möchten die Die Koalition legt dieses Sondervermögen an, um Qualität in der Kindertagesbetreuung verbessern. Wir sich dieses Jahr künstlich arm zu rechnen. Wenn Sie den wollen die frühkindliche Bildung und Förderung in den normalen, vom Gesetz vorgegebenen Weg gehen wür- Kindertageseinrichtungen mit einer Qualitätsoffensive den, wäre es möglich, schon in diesem Jahr deutlich we- voranbringen. Wir alle wissen, dass viele Erzieherinnen niger Schulden zu machen. Dann hätte die Koalition und Erzieher gute Arbeit leisten, aber keine oder kaum aber ein Problem. Erfahrungen mit der Betreuung von Kindern unter drei Jahren und mit der engen Zusammenarbeit mit den El- Nach Ihrem Plan sollen im nächsten Jahr immer noch tern dieser Kinder haben. Das ist Neuland. 11,9 Milliarden Euro Schulden gemacht werden. Ohne Sondervermögen würden Sie im nächsten Jahr die Ver- (Ute Kumpf [SPD]: Dafür gibt es schon viele schuldung erhöhen. Das sähe ganz schlecht aus und gäbe Beispiele!) ganz schlechte Schlagzeilen. Nur weil Sie eine gute Wir können da viel von unseren Nachbarn, den Franzo- Presse haben wollen, Herr Steinbrück, verpassen Sie die sen, den Schweden, den Dänen, den Engländern oder Chance, schon dieses Jahr ganz konkret 2,15 Milliarden den Holländern, lernen. Euro weniger Schulden zu machen. Auch wenn dieses Jahr die Steuereinnahmen sprudeln, werden Sie über Hierbei werden wir seitens des Bundes unterstützen, 12 Milliarden Euro Schulden aufnehmen. Sie selbst sa- gute Praxis auswerten und gemeinsam mit Trägern, gen immer wieder, der Bund habe eine strukturelle De- Kommunen und Ländern Umsetzungswege erproben. ckungslücke im Haushalt. Jetzt wollen Sie die Länder Ich möchte alle, die mitgeholfen haben, diesen ersten mit einer Pauschale am Umsatzsteueraufkommen betei- Schritt möglich zu machen, einladen, gemeinsam zu dis- ligen – das mag noch ganz intelligent sein –, erhöhen da- kutieren, und zwar so konstruktiv, wie wir das in den durch aber diese strukturelle Lücke im Bundeshaushalt. letzten Monaten gemacht haben. Wenn die Qualität der Kinderbetreuung stimmt, dann werden wir mit dem Aus- (Nicolette Kressl [SPD]: Und was hat die Frau bau wirklich Erfolg haben. Sager vorhin gesagt?) Vielen Dank. Das heißt, der Trick, den Sie hier machen, dient viel- leicht den Umfragewerten der Koalition und der Optik (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ihres Haushalts, geht aber zulasten der Kinder, die diese bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Schulden irgendwann einmal wieder zurückzahlen müs- NISSES 90/DIE GRÜNEN) sen. Sie geben den Kindern zwar einen Betreuungsplatz, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12185

Anna Lührmann (A) aber Sie geben ihnen auch die Schulden gleich mit ins Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) Gepäck. Nun hat das Wort die Kollegin Caren Marks für die SPD-Fraktion. (Caren Marks [SPD]: Ich glaube, das sehen die Kinder von morgen anders!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Das hat mit solider Haushaltspolitik wirklich nichts zu Caren Marks (SPD): tun. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Erlauben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie mir, Herr Kampeter – er ist, wie ich glaube, gerade Wir Grüne haben hingegen ein Konzept vorgelegt, nicht da –, vorab einen kleinen Hinweis. mit dem der notwendige Ausbau der Kinderbetreuung (Zurufe von der CDU/CSU: Doch! Bei der Re- wirklich nachhaltig finanziert werden könnte. Darüber gierungsbank! – Christel Humme [SPD]: Auf haben Sie sich gerade schon mit Frau Sager unterhalten. der Regierungsbank! Das ist ja erstaunlich!) Wir wollen in einem ersten Schritt das Ehegattensplit- ting in eine Individualbesteuerung mit übertragbarem – Dahinten ist er. Höchstbetrag umwandeln. Das wäre auch verfassungs- (Abg. Steffen Kampeter [CDU/CSU] begibt fest. Sie, Herr Steinbrück, haben eben gesagt, dass selbst sich zurück zu seinem Platz) bei einem Realsplitting 1 bis 2 Milliarden Euro mehr he- – Sie können ja auch im Laufen zuhören. reinkommen würden, und haben im gleichen Atemzug eine selektive Informationsweitergabe durch Frau Sager (Nicolette Kressl [SPD]: Da bin ich mir nicht gerügt. Sie selbst haben aber verschwiegen, dass sich so sicher!) Ihre Zahl „bis zu 2 Milliarden Euro“ nur auf den Bund Herr Kampeter, Kinder, die eine Kita besuchen, werden bezieht. ebenfalls von ihren Eltern erzogen, nicht selten verant- (Nicolette Kressl [SPD]: Das ist nicht wahr! wortungsvoller als andere. Das ist falsch!) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Die Mehreinnahmen durch eine Umstellung auf das Steffen Kampeter [CDU/CSU]: So habe ich Realsplitting würden auch bei den Ländern und bei den das auch nicht gemeint!) Kommunen anfallen. Das heißt, wir hätten selbst nach dem von Ihnen als verfassungsfest bezeichneten Modell – Aber gesagt. (B) (D) gesamtstaatlich – darauf kommt es an – Mehreinnahmen (Beifall der Abg. Ina Lenke [FDP]) von mindestens 4 Milliarden Euro. Das gehört dazu, wenn man hier alle Informationen weitergeben will. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, moderne Fa- milienpolitik ist ein komplexes Gebäude. An diesem Ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bäude muss kontinuierlich weitergearbeitet werden. Die tragenden Pfeiler dieses Gebäudes sind Infrastruktur, In einem zweiten Schritt sieht unser Konzept vor, Zeit und Geld für Familien. Mit dem Gesetz zur Errich- dass der Bund eine Kinderbetreuungskarte schafft, die tung eines Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ dafür sorgt, dass die Leistungen direkt an die Eltern ge- setzen wir in der Großen Koalition neue Bausteine, um hen und nicht den Umweg über die klebrigen Hände der das Gebäude nach den heutigen Bedürfnissen von Fami- Länder nehmen. Das funktioniert auch, und zwar mit ei- lien weiter zu modernisieren: ein konsequenter Schritt nem Geldleistungsgesetz; diese Frage haben wir prüfen nach dem TAG und dem Elterngeldgesetz. Als Bauleiter lassen. Sie stellen sich hier immer hin und tun so, als sei lässt der Bund die Bauherren – das sind in diesem Falle die Weitergabe von Geld über Umsatzsteueranteile der die Länder und Kommunen – nicht im Regen stehen. einzig gangbare Weg. Das stimmt aber nicht. Man kann das auch über ein Geldleistungsgesetz machen. Das Als Familienpolitikerin möchte ich mich an dieser funktioniert. Stelle ausdrücklich bei unserem Finanzminister Peer Steinbrück bedanken. Dank seines sehr guten Vorschla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ges ist die Finanzierung der Modernisierungskosten so- sowie bei Abgeordneten der FDP) lide gewährleistet. Erst durch diesen Finanzierungsvor- schlag haben sich Bund und Länder nach monatelangem Nach unserem Konzept würde wirklich jedes Kind Hin und Her auf einen deutlichen Ausbau der Betreu- unter drei Jahren einen Betreuungsplatz bekommen, ungsplätze für unter Dreijährige geeinigt. wenn die Eltern es wollen – ohne zusätzliche Schulden- Mit der Bereitstellung des Sondervermögens ermög- aufnahme. Das ist nachhaltige Haushaltspolitik. Das ist licht der Bund die Finanzierung der notwendigen Inves- der richtige Weg für den Ausbau der Kinderbetreuung. titionen im gesamten Bundesgebiet. Wir schaffen mit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dieser Unterstützung Vertrauen und Planungssicherheit für Länder und Kommunen, aber vor allem – ich glaube, sowie bei Abgeordneten der FDP – Ute Kumpf das ist das Wichtigste – für die Familien in diesem Land. [SPD]: Bei den Bildungsgutscheinen hat es auch nicht funktioniert! Ohne Angebot funk- (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter tioniert es nicht!) [CDU/CSU]: Frau von der Leyen war im 12186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Caren Marks (A) Übrigen auch beteiligt! Wenn Sie das auch er- ist in Deutschland im internationalen Vergleich nach wie (C) wähnen würden!) vor niedrig. Auf das Lebensmodell „Kind oder Karriere“ hatten Männer noch nie Lust, die meisten Frauen von – Das haben Sie ja erwähnt. heute aber auch nicht mehr. Im Übrigen ist Erwerbstätig- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Ich habe auch keit von Eltern – das gilt insbesondere für Alleinerzie- den Kollegen Steinbrück erwähnt!) hende – die beste Armutsprävention. Mit diesen Mitteln können die Kommunen neue Krip- Eingangs habe ich moderne Familienpolitik mit ei- penplätze schaffen, bestehende Kitas renovieren bzw. nem komplexen Gebäude verglichen. Die Modernisie- diese für die Benutzung durch jüngere Kinder umrüsten. rung des Gebäudes wird mit der finanziellen Beteiligung des Bundes und der Verankerung des Rechtsanspruchs Das Gesetz ist eingebettet in ein Gesamtkonzept. entscheidend vorangetrieben. Um das Haus mit Leben Finanziell wird sich der Bund außer an den Investitions- zu füllen, müssen zahlreiche Akteure mitwirken. Neben kosten – so sieht es das Konzept vor – dauerhaft auch an der Politik bedarf es der Unterstützung von Wirtschaft, den laufenden Betriebskosten beteiligen. Damit inves- Gewerkschaften, Verbänden, Vereinen und Kirchen. Nur tieren wir in Qualität, das heißt auch in Personal. Die in einem breiten Bündnis wird es gelingen, unsere Ge- SPD hat sich von Anfang an vehement für eine Beteili- sellschaft familien- und kinderfreundlicher zu gestalten. gung des Bundes auch an den Betriebskosten eingesetzt. Als verlässlicher Partner der Kommunen haben wir ver- Mit der Sicherstellung der Finanzierung machen wir hindert, dass diese finanziell überfordert werden. Nur beim Ausbau der Kinderbetreuung einen Quanten- mit den Kommunen an unserer Seite wird nämlich der sprung. Die von Rot-Grün eingeleitete moderne Famili- Betreuungsplatzausbau schnellstmöglich umgesetzt wer- enpolitik ist nicht mehr aufzuhalten. den. Darauf haben die Familien schon lange gewartet. Vielen Dank. (Beifall bei der SPD – Steffen Kampeter (Beifall bei der SPD) [CDU/CSU]: Das war nur nicht die SPD-Ver- handlungsposition in der Kommission!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Der ebenfalls im Gesamtkonzept verankerte Rechts- Das Wort hat die Kollegin Miriam Gruß von der FDP- anspruch auf ein Betreuungs- und Bildungsangebot ab Fraktion. dem vollendeten ersten Lebensjahr wird ab 2013 gelten. Ich freue mich, dass es uns, der SPD, gelungen ist, die Miriam Gruß (FDP): Einführung eines Rechtsanspruchs trotz anfänglicher Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin- Widerstände seitens der Union in der Großen Koalition (B) nen und Kollegen! Wenn man zum Schluss einer so lan- (D) umzusetzen. gen und heftigen Debatte redet, tut man das immer unter (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wider- dem Motto „Es ist schon viel gesagt worden, aber noch spruch des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU] – nicht von jedem“. Ich hoffe, dass ich Ihnen trotzdem Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Unver- noch ein paar Aspekte bieten kann, die für die Debatte schämte Rede!) erhellend und interessant sind. Hiermit stellen wir sicher, dass die vom Bund zur Verfü- Natürlich beurteilen wir von der Opposition den Aus- gung gestellten Mittel bei den Kommunen ankommen bau der Kinderbetreuung grundsätzlich als positiv. Aber und tatsächlich in den Ausbau der Betreuungsplätze flie- auch mir ist es wichtig, an dieser Stelle noch einmal da- ßen. Außerdem wertet der Rechtsanspruch die frühkind- rauf einzugehen, dass wir nicht nur mehr Quantität, son- liche Bildung auf. Er ermöglicht mehr Chancengleich- dern auch mehr Qualität brauchen. Ich freue mich dies- heit, für die schon bei den Kleinsten gesorgt werden bezüglich über die Worte insbesondere der Ministerin muss. Für eine gute Entwicklung brauchen Kinder näm- hier. lich nicht nur liebevolle Eltern, Herr Kampeter, sondern (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) auch eine optimale Förderung in einer Gruppe; denn Kinder brauchen auch Kinder. In dieser Woche hat – das wussten Sie vielleicht noch nicht – ein großer Tester Tintentankstellen, den schon oft Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein garantierter Be- zitierten Flachbildfernseher sowie einen Backtoaster und treuungsplatz gibt Eltern die Verlässlichkeit, die sie be- eine Margarine mit dem Namen „Idee“ getestet, die da- nötigen, um Familie und Beruf zu vereinbaren. Nach der für sorgen soll, dass die Kinder besser Ideen entwickeln Phase des Elterngeldbezuges erwarten Mütter und Väter können. Das ist alles gut und schön und sicherlich auch zu Recht einen guten Betreuungsplatz für ihre Kinder. wichtig in unserer Welt. Aber nicht getestet werden die Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ermög- Einrichtungen, denen wir als Eltern unsere Kinder anver- licht echte Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Le- trauen. Die Kinder verbringen dort im Schnitt 4 000 Stun- bensmodellen von Familien. Er trägt dem Wunsch der den ihres Lebens. Hier fehlen einheitliche Standards, die meisten jungen Frauen und Männer Rechnung, die so- bundesweit gelten und die uns Eltern das Gefühl geben, wohl Anerkennung und Erfolg im Beruf als auch ein Fa- dass wir unsere Kinder guten Gewissens außer Haus be- milienleben mit Kindern wollen und wünschen. Oft treuen lassen können. hatten insbesondere Mütter aufgrund fehlender Betreu- ungsangebote keine Chance, einer Erwerbstätigkeit Das ist eine wichtige Erkenntnis, die allerdings, so nachzugehen. Die Erwerbstätigkeitsquote von Müttern glaube ich, in diesem Haus unstreitig ist: Die Betreuung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. 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Miriam Gruß (A) außer Haus ist die erste neue, aber auch sehr wichtige Sie merken, ich habe hier nicht gemeckert, sondern (C) Lebens- und Lernumgebung von Kindern neben der habe konstruktive Vorschläge gemacht und auch gelobt. Familie, und um die Kinder muss es uns letzten Endes (Ina Lenke [FDP]: Genau! – Johannes gehen. Ich spreche an dieser Stelle zwar als kinder- und Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!) jugendpolitische Sprecherin der Fraktion, aber auch als Vorsitzende der Kinderkommission, die die Qualitätsof- Die Opposition verhält sich an dieser Stelle im Interesse fensive, die Sie angesprochen haben, sehr begrüßt. Wir der Kinder konstruktiv. brauchen diese Qualitätsoffensive. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der bei Abgeordneten der SPD) CDU/CSU) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Was brauchen Kinder noch? Kinder benötigen für Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer von eine gesunde Entwicklung Bindungspersonen, die für der CDU/CSU-Fraktion. ihre emotionalen Bedürfnisse verfügbar sind. Kinder brauchen stabile Bindungen; sie sind notwendig für die (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. gesunde motorische, kognitive und emotionale Entwick- Christel Humme [SPD]) lung. Stabile Bindungen können allerdings nicht nur zu Müttern oder Vätern aufgebaut werden, sondern auch zu Johannes Singhammer (CDU/CSU): weiteren Bezugspersonen. Das kann neben der Tante aus Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- der Familie auch die Tagesmutter oder der Tagesvater ren! Es freut mich, dass auch die Opposition uns zubil- sein, ebenso die Erzieherin oder der Erzieher. ligt, dass kaum ein vergleichbares politisches Großvor- (Ina Lenke [FDP]: Genau!) haben in den letzten Jahren so dynamisch angepackt und so erfolgreich und rasch umgesetzt worden ist wie die Es ist evident, welche Vorteile stabile Bindungen ha- Kinderbetreuung. ben: Die Kinder sind kreativer, aufmerksamer und fle- (Beifall bei der CDU/CSU) xibler. Sie haben eine höhere Ausdauer, eine bessere Ge- dächtnisleistung und Sprachentwicklung. Sie verfügen Wir werden die Zahl der Kinderbetreuungsplätze ver- in der Regel über höhere Bildungsabschlüsse und weisen dreifachen. Wir haben mit einem neuen Anschub die aufgrund guter Ernährung auch eine bessere Gesundheit Leistungskraft enorm gesteigert. Das führt bei dem Mo- auf. Auch dies muss ein wichtiger Aspekt in dieser De- dell der Kinderbetreuung nicht zu klimaschädlichen batte sein. Ziel muss es sein, den Kindern von Anfang an Auswirkungen, sondern es begünstigt ein Klima der (B) bessere Chancen zu bieten, wie es die FDP in ihrem An- Kinder- und Familienfreundlichkeit in Deutschland. (D) trag „Chancengerechtigkeit von Beginn an“ deutlich ge- macht hat. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der FDP) Die Menschen in unserem Land, die Millionen von Bei der Bildungsoffensive muss es also um Zweierlei ge- Müttern und Vätern sowie viele junge Paare, die über ih- hen: zum einen um die Inhalte und zum anderen um das ren Kinderwunsch momentan noch nachdenken, erfah- Personal. ren nun Planungssicherheit für die Betreuung ihrer Kleinsten. Taten statt Worte, Gesetzesbeschlüsse statt Noch einmal zu den Bildungsinhalten. Ja, auch das Ankündigungen, Chefsache statt Gedöns: Das ist unsere freie Spiel und das Erlernen sozialer Kompetenz sind Leitlinie. wichtig. Wir hatten gestern ein aufschlussreiches Exper- tengespräch in der Kinderkommission, in dem deutlich (Beifall bei der CDU/CSU – Renate Künast wurde, dass auch Themen wie kulturelle Bildung in die- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt gar sen Bildungseinrichtungen Eingang finden müssen. keine Kindergartenplätze!) Auch der frühe Zugang zu den Naturwissenschaften und Der Ausbau der Kinderbetreuung ist aber nur ein Teil das frühe Erlernen von Medienkompetenz sind wichtig. eines Gesamtkonzepts des von Bund und Ländern verab- Dazu braucht man eben motivierte und kompetente redeten Ausbaus der Betreuung für Kinder unter drei Fachleute, die sich für diese Aufgaben zur Verfügung Jahren. Im Begründungsteil des vorliegenden Gesetzent- stellen. Ich betone, was ich an dieser Stelle schon oft ge- wurfs über das Sondervermögen wird ausdrücklich da- sagt habe: Wir brauchen mehr männliche Erzieher. rauf hingewiesen, dass im nächsten Schritt weitere Re- gelungen folgen. Dort heißt es beispielsweise: Was ich hier anspreche, ist natürlich in hohem Maße Ländersache. Aber ich denke, dass sich der Bund da Ab 2013 soll für diejenigen Eltern, die ihre Kinder nicht aus der Verantwortung stehlen darf. Wir müssen an von 1 bis 3 Jahren nicht in Einrichtungen betreuen dieser Stelle klarmachen – wir werden heute von vielen lassen wollen oder können, eine monatliche Zah- gehört –, dass hier weitergearbeitet werden muss und lung (z. B. Betreuungsgeld) eingeführt werden. dass man es nicht bei dem Anschub, den der Bund leis- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tet, bewenden lassen darf. Wir müssen über den Perso- nalschlüssel für die Einrichtungen gemeinsam weiterde- Damit wird der Grundsatz der Wahlfreiheit darge- battieren. stellt. Keiner Familie, keinem Elternpaar, weder Müttern 12188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Johannes Singhammer (A) noch Vätern sollen Vorschriften gemacht werden, wie seits den Wunsch haben, möglichst viel Zeit mit ihren (C) sie ihre Familie zu organisieren haben. Eltern zu verbringen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Ina Lenke [FDP]: Haben Sie Enkelkinder? Hans-Michael Goldmann [FDP]) Dann fragen Sie die doch einmal!) Wir wollen Familien unterstützen, gleich welches Le- Die Forderung nach einem Betreuungsgeld ist daher bensmodell sie gewählt haben. Wir wollen ihnen nicht nicht mit dem Füllhorn der Sozialleistungen zu verglei- weniger, sondern mehr Wahlfreiheit geben. chen, nach dem Motto: Freibier für alle. Da gibt es im- mer Beifall. Diese Forderung entspricht vielmehr dem (Beifall bei der CDU/CSU) Wunsch der Familien, viel Zeit miteinander zu verbrin- Den richtigen Platz für die gesetzliche Festlegung der gen. Wahlfreiheit zu finden, wird das nächste große Vorhaben (Daniela Raab [CDU/CSU]: So ist es! Soll sein, das zur Änderung des Sozialgesetzbuches VIII füh- vorkommen!) ren wird. Darin wird zum einen die gesetzliche Ver- pflichtung zum Ausbau der Kinderbetreuung und die Viele Eltern empfinden es als Bevormundung – auch Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine Betreuung das darf ich an dieser Stelle sagen –, wenn sie feststellen, für alle Kinder vom vollendeten ersten bis zum dritten dass die Lebensentscheidungen, egal wie sie ausfallen, Lebensjahr ab dem Kindergartenjahr 2013/14 geregelt in eine gewisse Rangfolge gestellt werden, sowie zum anderen ab 2013 die Einführung eines Be- treuungsgeldes. Wir werden zunächst sorgfältig über (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) die Ausgestaltung des Betreuungsgeldes beraten und sie wenn sie feststellen, dass nur das eine Lebensmodell dann festlegen. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir aber politisch korrekt und zulässig ist, ein anderes, nämlich nicht den Haushalt des Jahres 2013 beschließen; auch die Entscheidung, für eine gewisse Zeit oder dauerhaft das ist richtig. für Kinder zu Hause zu bleiben, als „verzopft“, lächer- Warum sind synchron der Ausbau von Kinderbetreu- lich oder altmodisch dargestellt wird. ungsplätzen und die Einführung eines Betreuungsgeldes (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- notwendig? Ein großer Fortschritt, den diese Koalition neten der FDP) nicht nur zu verantworten hat, sondern auf den sie auch stolz ist, war die Einführung des Elterngeldes. Rot-Grün Diese Differenzierung wollen wir nicht. Wir überlassen ist es in sieben Jahren nicht gelungen, das Elterngeld auf es den Familien, zu entscheiden und zu wählen, wie sie den Weg zu bringen. Wir haben es innerhalb von sieben ihr Leben gestalten wollen. (B) Monaten geschafft. (D) (Nicolette Kressl [SPD]: Wir auch!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – An dieser Stelle möchte ich noch etwas sagen: Hüten Lachen bei der SPD) wir uns davor, den Eindruck zu erwecken, die Familie Freuen Sie sich darüber. Wir haben es gemeinsam ge- sei eine bildungsfreie Zone. Ich bin froh, dass das heute schafft. Für die ersten Eltern, die Elterngeld beziehen, nicht geschehen ist. Bildung wird zuallererst – darin sind läuft der Anspruch 2008 aus. Es stellt sich die Frage, wir uns einig – in der Familie vermittelt. was danach kommt. Dann stellt sich die Frage der Be- (Caren Marks [SPD]: In manchen Familien!) treuung. Deshalb brauchen wir den Ausbau der Kinder- betreuung. Zunehmend wird sich aber auch die Frage Ich würde mich freuen, wenn der Betreuungsschlüssel nach einem Betreuungsgeld stellen; denn Wahlfreiheit – es ist schon angesprochen worden, dass wir ihn verbes- bedeutet nicht Schulterklopfen, sondern auch finanzielle sern wollen, was Aufgabe der Länder ist –, der in einer Wahlfreiheit. Kleinkita wie einer Familie gegeben ist, auch in einer (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kita im üblichen Sinn erreicht würde. Dieses Verhältnis NEN]: Stehen Sie eigentlich auf einem Karton wird wohl nur sehr selten erreicht. Wir wollen die Wahl- roher Eier?) freiheit nicht für 35, nicht für 50, sondern für 100 Prozent der Väter und Mütter. Dazu werden wir die Beim beschleunigten Ausbau der Betreuung der unter entsprechenden Vorlagen erarbeiten. Dreijährigen wird von einer Versorgungsquote von 35 Prozent in diesem Zeitraum ausgegangen. Nach Es ist gut und notwendig, dass wir das Tempo in der Adam Riese bleiben 65 Prozent der Kinder übrig, für die Familienpolitik erhöht haben. Vor wenigen Wochen hat keine derartige Betreuung in Anspruch genommen wird. das Statistische Bundesamt die Geburtenzahlen für das Auch an diese Familien müssen wir denken. Wir müssen zurückliegende Jahr 2006 veröffentlicht. Wenn die Zahl daran denken, dass Schulterklopfen einen finanziellen der geborenen Babys in Deutschland ein Indikator – ne- Ausgleich nicht ersetzen kann. ben vielen anderen – für den Handlungsbedarf in der Fa- milienpolitik ist, dann dürfen wir im Tempo für mehr Fa- Mit dem Betreuungsgeld entsprechen wir dem Her- milien- und Kinderfreundlichkeit in Deutschland nicht zenswunsch vieler Eltern, möglichst viel Zeit mit ihren nachlassen. 1964 erblickten in den damaligen beiden Kindern zu verbringen. Ich bin mir ganz sicher, dass, deutschen Staaten 1,4 Millionen Babys das Licht der wenn wir eine Umfrage unter den Kindern machen wür- Welt. Laut den Zahlen des Statistischen Bundesamtes den, herauskommen würde, dass sehr viele Kinder ihrer- waren es im Jahr 2006 nicht 1,4 Millionen, auch nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12189

Johannes Singhammer (A) 1 Million, nicht 900 000, nicht 800 000, nicht 700 000, Schichten und Kinder, deren Muttersprache nicht (C) sondern 672 000. Deutsch ist, ist am Tag der Einschulung der Zug zwar noch nicht endgültig abgefahren, aber deutlich verspätet. Ein familienfreundliches Deutschland, eine kinder- Diese Verspätung aufzuholen, kostet viel Kraft, viel Zeit freundliche Grundstimmung in unserem Land entsteht und vor allen Dingen sehr viel Geld. nicht über Nacht, sondern bedarf der Nachhaltigkeit mit dem großen Projekt „mehr Kinderbetreuungsmöglich- (Beifall bei der SPD) keiten“, mit dem Rechtsanspruch, aber eben auch mit dem Betreuungsgeld. Kardinal Josef Frings sagte ein- Ein umfassendes Angebot an Tagesbetreuung für Kinder mal: unter drei Jahren ist eine unabdingbare Voraussetzung für Chancengerechtigkeit, für einen fairen Zugang zur Die Zukunft des Volkes hängt nicht von der Zahl Ressource Bildung für alle Kinder. der Kraftwagen ab, sondern von der Zahl der Kin- derwagen. Um diesem hohen Anspruch gerecht zu werden, be- darf es einer hohen Qualität der Betreuung. Nun bin ich Der Kardinal hat recht. keineswegs der Auffassung, dass der Weg zum Erzieher- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- beruf oder zur Tagespflegeperson ein Fachhochschulstu- neten der SPD) dium erfordern sollte, jedenfalls nicht für alle. Doch für Tagesmütter und hoffentlich auch bald für Tagesväter Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sollte es durchaus etwas mehr sein als ein 20-stündiger Crashkurs. Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat das Wort der Kollege Dieter Steinecke von der SPD- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Johannes Fraktion. Singhammer [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD) Wenn ich von Qualität in der frühkindlichen Betreu- ung und Erziehung spreche, dann meine ich vor allem Dieter Steinecke (SPD): jene in Krippen und anderen geeigneten und für die Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Altersgruppe unter drei Jahren angemessenen Tagesein- Herren! Es ist mir eine Freude, gleich in meiner ersten richtungen. Das Ausbildungsniveau der Mitarbeiterin- Rede von dieser Stelle über einen großen sozialdemokra- nen und Mitarbeiter garantiert hohe Standards, die Insti- tischen Erfolg sprechen zu dürfen. Mit der Errichtung ei- tutionalisierung Verlässlichkeit. nes Sondervermögens „Kinderbetreuungsausbau“ setzen (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD]) (B) wir unsere langjährige Politik für Kinder, für Familien (D) fort. Es ist sicherlich nicht falsch, an dieser Stelle aus- Der Mensch ist, wie schon Aristoteles wusste, von drücklich unserem Finanzminister Peer Steinbrück zu dem wir heute bereits häufiger gehört haben, ein Gesell- danken; denn schließlich nehmen wir, wie man so schön schaftswesen. Als Pädagoge sage ich Ihnen: Kinder ge- sagt, richtig Geld in die Hand. hören unter Kinder. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Natürlich gebührt auch allen anderen Dank, die am Ge- Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es gibt lingen des Projekts beteiligt waren. aber auch Familien mit mehreren Kindern!) Wofür wird das Geld verwendet? Diese Frage ist auf Vor allem in der Gruppe kann Integration geleistet wer- den ersten Blick nicht besonders originell. Ab 2013 wird den. Gerade in einer Gesellschaft wie der unseren, in der ein Rechtsanspruch auf Tagesbetreuung für alle Kinder viele Kinder keine Geschwister haben, können sie hier unter drei Jahren bestehen. Kapazitäten müssen gezielt bereits von sehr klein auf soziale Kompetenz erlernen ausgebaut werden. Wir wollen jedoch nicht nur in Beton und leben. investieren; auch Quantität allein ist nicht entscheidend. (Beifall der Abg. Christel Humme [SPD]) Die Qualität der Betreuungsangebote muss stimmen. Dafür stehen wir im Interesse der Kinder in unserem Die Qualität der Einrichtungen zu sichern und auszu- Land und für die Zukunft unseres Landes. bauen, bleibt eine Daueraufgabe. Daran braucht uns nie- Als Bundes- wie auch Kommunalpolitiker möchte ich mand zu erinnern. an dieser Stelle hervorheben, dass es ausgesprochen Sie sehen, wir lehnen uns nicht selbstzufrieden zu- wichtig ist, nicht nur die Errichtung von Kindertagesstät- rück, sondern wir blicken voraus. Wir werden den Weg ten und -krippen zu fördern, sondern auch deren laufen- zu einer bedarfsgerechten und qualitativ hochwertigen den Betrieb. Kinderbetreuung in unserem Land weiter beschreiten. Im Zentrum sozialdemokratischer Politik stehen die Der Grundstein für ausreichende Kapazitäten ist gelegt. Menschen. Im Zentrum unserer Familienpolitik stehen In den weiteren Beratungen zum SGB VIII werden wir neben Müttern und Vätern, wenn nicht sogar an erster uns gründlich mit dem Qualitätsaspekt beschäftigen. Stelle, die Kinder. Bildung und Erziehung beginnen Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. nicht erst mit dem dritten Lebensjahr oder gar erst mit der Einschulung. Schon früher werden wichtige Weichen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gestellt. Für viele, zu viele Kinder aus bildungsfernen des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]) 12190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) Herr Kollege Steinecke, ich gratuliere Ihnen im Na- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut- lung der Weiterverwendung nach Einsatzun- schen Bundestag. fällen (Einsatz-Weiterverwendungsgesetz – EinsatzWVG) (Beifall) – Drucksache 16/6564 – Ich schließe die Aussprache. Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuss (f) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Innenausschuss den Drucksachen 16/6596, 16/6601, 16/6607, 16/6100 Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO und 16/6597 an die in der Tagesordnung aufgeführten f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP- beschlossen. Sondervermögens für das Jahr 2008 (ERP- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 n sowie Wirtschaftsplangesetz 2008) die Zusatzpunkte 6 a und 6 b auf: – Drucksache 16/6565 – 34 a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Überweisungsvorschlag: Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Finanzausschuss Wohngeldgesetzes und des Zwölften Buches Ausschuss für Tourismus Sozialgesetzbuch Haushaltsausschuss – Drucksache 16/4019 – g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) rung des Bundesversorgungsgesetzes und Innenausschuss anderer Vorschriften des Sozialen Entschädi- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gungsrechts Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO – Drucksache 16/6541 – b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Innenausschuss Änderung des Jugendgerichtsgesetzes und Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (B) anderer Gesetze (D) h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksachen 16/6293, 16/6568 – gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Änderung des Zwölften Buches Sozialgesetz- Rechtsausschuss (f) buch und anderer Gesetze Innenausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/6542 – Überweisungsvorschlag: c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Änderung des Regionalisierungsgesetzes Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO – Drucksache 16/6310 – i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Abkommen vom 9. Februar 2007 zwischen der Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Bundesrepublik Deutschland und Australien Verbraucherschutz über die Soziale Sicherheit von vorübergehend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO im Hoheitsgebiet des anderen Staates beschäf- d) Erste Beratung des von der Bundesregierung tigten Personen („Ergänzungsabkommen“) eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur – Drucksache 16/6567 – Finanzierung der Beendigung des subventionier- Überweisungsvorschlag: ten Steinkohlenbergbaus zum Jahr 2018 (Stein- Ausschuss für Arbeit und Soziales kohlefinanzierungsgesetz) j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/6566 – gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Änderung des Finanzverwaltungsgesetzes und Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) anderer Gesetze Rechtsausschuss Finanzausschuss – Drucksache 16/6560 – Ausschuss für Arbeit und Soziales Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Finanzausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Innenausschuss Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Haushaltsausschuss Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12191

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Überweisungsvorschlag: (C) gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Änderung des Legehennenbetriebsregister- Ausschuss für Kultur und Medien gesetzes b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika – Drucksache 16/6559 – Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag: tion der FDP Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Verpackungsverordnung sachgerecht novellie- ren – Weichen stellen für eine moderne Abfall- l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia und Verpackungswirtschaft in Deutschland Pieper, Uwe Barth, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 16/6598 – Überweisungsvorschlag: Deutsche Forschungsflotte leistungsfähig erhal- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) ten – mittel- und langfristige Programme Ausschuss für Wirtschaft und Technologie erarbeiten Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz – Drucksache 16/4064 – Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Verfahren ohne Debatte. Technikfolgenabschätzung (f) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Ausschuss für Wirtschaft und Technologie die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu m) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- überweisen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Rege- dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung lung der Weiterverwendung nach Einsatzunfällen, Ta- (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- gesordnungspunkt 34 e, liegt inzwischen auf Druck- nung sache 16/6650 die Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates vor, die wie der Technikfolgenabschätzung (TA) Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- TA-Projekt: Biobanken für die humanmedizi- weisungen so beschlossen. nische Forschung und Anwendung Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m auf. – Drucksache 16/5374 – Es handelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zu (B) Überweisungsvorschlag: denen keine Aussprache vorgesehen ist. (D) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Tagesordnungspunkt 35 a: Innenausschuss Rechtsausschuss Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Ausschuss für Gesundheit regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes über die Bereinigung von Bundes- n) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- recht im Zuständigkeitsbereich des Bundes- regierung ministeriums der Justiz Nationales Reformprogramm Deutschland – Drucksache 16/5051 – 2005 bis 2008 Umsetzungs- und Fortschrittsbericht 2007 Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- schusses (6. Ausschuss) – Drucksache 16/4560 – – Drucksache 16/6626 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Berichterstattung: Finanzausschuss Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Ausschuss für Arbeit und Soziales Joachim Stünker Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Mechthild Dyckmans Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Wolfgang Nešković Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Jerzy Montag Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Haushaltsausschuss empfehlung auf Drucksache 16/6626, den Gesetzent- wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5051 in ZP 6 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Waitz, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim- Christian Ahrendt, weiterer Abgeordneter und men wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – der Fraktion der FDP Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Notwendige Verbesserungen am Telemedien- Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der gesetz jetzt angehen FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke angenom- – Drucksache 16/5613 – men. 12192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Dritte Beratung regierung auf Drucksache 16/6121 anzunehmen. Ich (C) bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem len, um ihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltun- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf stimmig angenommen. ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen angenom- men. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 35 b: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten nommen. Gesetzes zur Änderung des Pflichtversiche- rungsgesetzes und anderer versicherungs- Tagesordnungspunkt 35 d: rechtlicher Vorschriften Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksache 16/5551 – richts des Ausschusses für Gesundheit (14. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth schusses (6. Ausschuss) Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der – Drucksache 16/6627 – Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berichterstattung: Bioethische Grundsätze auch bei Arzneimit- Abgeordnete Daniela Raab teln für neuartige Therapien sicherstellen Marianne Schieder – Drucksachen 16/4853, 16/5582 – Mechthild Dyckmans Wolfgang Nešković Berichterstattung: Jerzy Montag Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- empfehlung auf Drucksache 16/6627, den Gesetzent- lung auf Drucksache 16/5582, den Antrag der Fraktion wurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/5551 in Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/4853 abzu- der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, lehnen. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- (B) Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen (D) Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange- und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen nommen. Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Dritte Beratung Tagesordnungspunkt 35 e: und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu- Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts- stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – ausschusses (6. Ausschuss) Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange- nommen. Übersicht 8 Tagesordnungspunkt 35 c: über die dem Deutschen Bundestag zugeleite- ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- gericht regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 28. Oktober 1993 zur – Drucksache 16/6452 – Änderung des Europäischen Übereinkommens Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge- vom 30. September 1957 über die internatio- genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- nale Beförderung gefährlicher Güter auf der lung ist einstimmig angenommen. Straße (ADR) Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- – Drucksache 16/6121 – titionsausschusses. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Tagesordnungspunkte 35 f: ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) – Drucksache 16/6610 – Sammelübersicht 269 zu Petitionen Berichterstattung: Abgeordneter Dr. Anton Hofreiter – Drucksache 16/6443 – Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf gen? – Sammelübersicht 269 ist einstimmig angenom- Drucksache 16/6610, den Gesetzentwurf der Bundes- men. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12193

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Tagesordnungspunkt 35 g: Tagesordnungspunkt 35 l: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 270 zu Petitionen Sammelübersicht 275 zu Petitionen – Drucksache 16/6449 – – Drucksache 16/6444 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 275 ist angenommen mit den gen? – Sammelübersicht 270 ist ebenfalls einstimmig Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen angenommen. der FDP-Fraktion und der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 35 h: Tagesordnungspunkt 35 m: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 271 zu Petitionen Sammelübersicht 276 zu Petitionen – Drucksache 16/6445 – – Drucksache 16/6450 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Sammelübersicht 271 ist mit den Stimmen der gen? – Sammelübersicht 276 ist angenommen mit den Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegen- Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion stimmen der Fraktion Die Linke und bei Enthaltung des Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der FDP- Bündnisses 90/Die Grünen angenommen. Fraktion und der Fraktion Die Linke. Tagesordnungspunkt 35 i: Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 5 auf: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ausschusses (2. Ausschuss) richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Sammelübersicht 272 zu Petitionen Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Cornelia Behm, Winfried Hermann, weiterer Ab- (D) (B) – Drucksache 16/6446 – geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- GRÜNEN gen? – Sammelübersicht 272 ist einstimmig angenom- Einführung eines Erneuerbare Energien Wär- men. megesetzes – EEW Tagesordnungspunkt 35 j: – Drucksachen 16/3826, 16/5361 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Berichterstattung: ausschusses (2. Ausschuss) Abgeordnete Dr. Maria Flachsbarth Dirk Becker Sammelübersicht 273 zu Petitionen Michael Kauch Hans-Kurt Hill – Drucksache 16/6447 – Hans-Josef Fell Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gen? – Sammelübersicht 273 ist bei Gegenstimmen der Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak- Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so tionen angenommen. beschlossen. Tagesordnungspunkt 35 k: Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner das Wort dem Kollegen Dirk Becker von der SPD- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Fraktion. ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 274 zu Petitionen Dirk Becker (SPD): Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! – Drucksache 16/6448 – Wenn wir heute über ein Erneuerbare-Energien-Wärme- gesetz reden, dann tun wir das aus gutem Grund. Ich Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- möchte eingangs fünf Feststellungen zum Wärmemarkt gen? – Sammelübersicht 274 ist angenommen mit den insgesamt treffen: Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd- Erstens. Der Wärme- und Kältemarkt – man sollte nis 90/Die Grünen. den Kälteanteil nicht vergessen, wenn man über den 12194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dirk Becker (A) Wärmemarkt spricht – stellt den größten Anteil am deut- nicht ausgeführt. In den letzten Monaten gab es in den (C) schen Endenergieverbrauch. Koalitionsfraktionen unterschiedliche Überlegungen. Zweitens. Er ist gekennzeichnet durch einen hohen Ich möchte kurz auf die Position der SPD-Fraktion Anteil fossiler Energieträger mit der Folge klimaschädli- eingehen. Bereits Ende letzten Jahres haben wir uns für cher Abgase. ein Fondsmodell ausgesprochen. Was wollen wir mit diesem Fondsmodell verfolgen? Dieses Modell soll der Drittens. Er ist gekennzeichnet durch eine große Im- Verrechtlichung und Verstetigung des Marktanreizpro- portabhängigkeit in erster Linie bei Gas und Öl. gramms dienen. Eine große Schwachstelle des bisheri- Viertens. Gerade diese hohe Importabhängigkeit ist gen Marktanreizprogramms war es, dass die Haushalts- im Hinblick auf die Versorgungssicherheit problema- mittel schon Mitte des Jahres verausgabt waren, sodass tisch. Es muss daher darum gehen, diese Importabhän- Antragsteller nicht mehr zum Zuge kamen. Wir wollten gigkeit in der Zukunft zurückzuführen. eine rechtlich verbindliche Fortentwicklung dieses Marktanreizprogramms mit einer entsprechenden Auf- Fünftens. Preissteigerungen – in erster Linie bei Öl stockung. Die Einführung des Ordnungsrechts haben wir und Gas – führen zu Problemen, gerade in sozial schwa- auch im Bereich der Wärmenutzung für möglich gehal- chen Haushalten. Das heißt, wir werden auch auf dem ten. Dies haben wir allerdings nicht favorisiert. Wärmesektor zunehmend mit der sozialen Frage kon- frontiert. Auch hier muss es Antworten geben, wie man (Michael Kauch [FDP]: Hört! Hört!) diesen brennstoffgebundenen Preissteigerungen entge- – Ich komme gleich dazu. genwirken kann. Es gab eine Reihe von Gesprächen – auch mit der Es stellt sich also die Frage: Was können wir tun? Ich Union, die sich etwas schwer getan hat, eine einheitliche will zwei Dinge kurz skizzieren: Wir müssen Maßnah- Position zu finden; das muss man auch einmal sagen. men ergreifen, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Die Bundesregierung hat hierzu Programme aufgelegt. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Na, na, Eines ist das Gebäudesanierungsprogramm, mit dem wir na! – Ulrich Kelber [SPD]: Bis heute noch das Ziel verfolgen, Energieeinsparmaßnahmen umzuset- nicht!) zen. Ein anderes ist die Förderung des Einsatzes effi- zienterer Anlagentechnik und effizienterer Heizungssys- – Zumindest gibt es bis heute Irritationen, auch in der teme. Öffentlichkeit. – Entscheidend ist aber das, was die Bun- desregierung beschlossen hat – darauf sollten wir uns Ferner kommt dem Einsatz erneuerbarer Energien be- jetzt konzentrieren –, nämlich ein ambitioniertes Pro- (B) sonderes Augenmerk zu. Warum ist das so? Der Einsatz gramm vorzulegen, das IKEP, das Integrierte Klima- und (D) erneuerbarer Energien senkt die eben angesprochene Im- Energieprogramm. portabhängigkeit. Dies erhöht die Versorgungssicherheit und dämpft brennstoffbezogene Heizkosten. Darüber hi- Gerade zum Bereich Wärme haben wir Vorschläge naus sind die erneuerbaren Energien unverzichtbar, gemacht, die – ich denke, das darf man sagen – viele wenn die Klimaschutzziele, die die Bundesregierung be- nicht für möglich gehalten hätten. schlossen hat, erreicht werden sollen. Ich möchte auf das Erstens. Unser gemeinsames Anliegen, nämlich die EEG, auf das Erneuerbare-Energien-Gesetz, für den Verrechtlichung, Verstetigung und Aufstockung des Strombereich verweisen. Hieran kann man erkennen, Marktanreizprogramms auf 350 Millionen Euro, ist Ge- was ein rechtlicher Ansatz zu leisten imstande ist. Nicht genstand dieses Beschlusses. Das ist ein großer Erfolg nur, dass Klimaschutzziele erreicht werden, nicht nur, für den Wärmemarkt, dass die Importabhängigkeit reduziert wird – es hat auch einen Effekt auf die heimische Wirtschaft: 200 000 Jobs (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) und weltweit erfolgreich operierende Unternehmen sind die Folge dieses Konstruktes Erneuerbare-Energien-Ge- insbesondere auch deshalb, weil von diesem Programm setz. Nun gilt es, Vergleichbares auch im Wärmebereich Impulse für die Entwicklung neuer Technologien in die sicherzustellen. Industrie und die Unternehmerschaft ausgehen. Über dieses Programm betreiben wir Technologieförderung (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hinsichtlich des Einsatzes erneuerbarer Heizungstechni- der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE ken. GRÜNEN) Zweitens: das Ordnungsrecht. Es wurde vereinbart, Die entscheidende Frage, die wir uns stellen müssen, eine Pflicht zum Einsatz sowohl von solarer Strahlungs- lautet: Wie kann dies im Wärmemarkt gelingen? Wir ha- wärme als auch von sonstigen erneuerbaren Energien ben das Ziel, dass der Anteil der erneuerbaren Energien einzuführen, damit in Zukunft bei Neubauten und grund- im Wärmebereich bis 2020 bei 14 Prozent liegt; so ist es legenden Sanierungen eine Verpflichtung zum Einsatz von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung erneuerbarer Energien besteht. beschlossen. Ich sage: Das sind gute Ansätze. Ich sage aber auch: Im Koalitionsvertrag steht, dass wir ein „regenerati- Das ist nur ein Einstieg. Es müssen weitere Schritte fol- ves Wärmenutzungsgesetz“ wollen und das Marktan- gen; wir befinden uns noch am Anfang dieser Debatte reizprogramm fortführen. Mehr ist dort zu diesem Punkt innerhalb der Koalition. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12195

Dirk Becker (A) Ich will kurz auch auf einige Risiken hinweisen. nicht sein sollte. Ich fand es sehr schön, dass Herr (C) Wenn man das Ordnungsrecht hier einführen will, muss Becker in sehr großer Offenheit gesagt hat, dass keine man ehrlicherweise auch auf die Vollzugsproblematik der Koalitionsfraktionen das Fördermodell, das der Um- hinweisen. Wir haben Probleme der Kontrolle, nachzu- weltminister vorgelegt hat, eigentlich wollte. vollziehen, ob der ordnungsrechtliche Ansatz tatsächlich eingehalten wird. Das muss man im Hinterkopf haben. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Wir sind Gerade vor dem Hintergrund der doch sehr geringen begeistert!) Neubau- und Modernisierungstätigkeit muss man Die Regierung setzt ganz klar auf Zwang, Bürokratie schauen, wie groß der Anteil sein kann, den dieses und Subventionen, nicht aber auf Marktanreize. Das ist Instrument zur Erreichung des 14-Prozent-Ziels beiträgt. ein staatsorientiertes Programm par excellence. Von ei- Ich denke aber, dass wir hier insgesamt einen richtigen nem sozialdemokratischen Umweltminister hätten wir Einstieg gefunden haben. wahrscheinlich auch nicht viel anderes erwarten können. Ich habe eine Bitte an das Ministerium. Wir haben er- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: lebt, dass durch die recht starken Veränderungen bei den Das ist die Funktionstaste F3: Textbausteine Fördervoraussetzungen im bisherigen Marktanreizpro- für Ihre Rede!) gramm eine gewisse Verunsicherung ausgelöst wurde. Die Fördersätze wurden innerhalb eines Jahres verän- Dass die Union das mit ihrer Kanzlerin und vor allem dert. Das ist nicht unbedingt dazu geeignet, auf Dauer mit ihrem Wirtschaftsminister mitmacht, finde ich aller- Vertrauen im Markt zu wecken. Es ist wichtig, jetzt auf dings sehr traurig. Aber was soll man auch von einem Basis dieser Regelung verlässliche und über mehrere Wirtschaftsminister erwarten, dem jede ordnungspoliti- Jahre geltende Fördervoraussetzungen festzulegen sowie sche Vorstellung darüber fehlt, wie man Klimaschutz dieses Programm über die Öffentlichkeitsarbeit und die wirtschaftspolitisch vernünftig gestaltet, und der nichts entsprechende Fachschulung der Handwerker und derje- anderes tut, als zu bremsen und zu reparieren? nigen, die vor Ort Kontakt zum Bürger haben, anzuprei- (Beifall bei der FDP) sen, zu bewerben und offensiv damit umzugehen. Ich möchte noch einmal klarmachen, was die Große Ich denke, wenn wir in dieser Form mit dem Pro- Koalition künftig von den Hausbesitzern verlangt: Sie gramm umgehen, dann können wir die gesteckten Ziele sollen im Rahmen von Modernisierungen zur Nutzung erreichen. 14 Prozent bis 2020 ist ein hohes Ziel, aber es erneuerbarer Wärme verpflichtet werden, und zwar ein- ist erreichbar. Über das IKEP werden wir unseren Bei- heitlich nach dem gleichen System, unabhängig davon, trag hierzu leisten. wie hoch die Kosten für das jeweilige Gebäude sind. (B) Danke. Wenn es nach dem Umweltminister geht, kommen dra- (D) konische Strafen bei Nichterfüllung hinzu. Das ist nicht (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) effizient, das ist kein Markt, sondern Staatszwang mit ei- ner massiven Kontrollbürokratie, und zwar in jedem ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zelnen Haus. Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von (Beifall bei der FDP) der FDP-Fraktion. Herr Glos hat dafür gesorgt, dass das System bei den (Beifall bei der FDP) Verhandlungen in der Koalition noch einmal richtig durchlöchert wird. Es sind Härtefall- und Ausnahmere- Michael Kauch (FDP): gelungen dazugekommen, die die ohnehin schon nötige Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP Bürokratie noch einmal vervielfacht haben. Das ist der hält eine bessere Förderung erneuerbarer Energien bei Erfolg, den das Wirtschaftsministerium erreicht hat. Ich der Wärmegewinnung für überfällig. Wir haben unser frage mich, ob Sie mit all diesen Härtefall- und Ausnah- Interesse in den vergangenen Jahren vielleicht zu stark meregelungen letztendlich den Beamten den Ermessens- auf den Strombereich fokussiert. Das Ergebnis ist eine spielraum übertragen wollen. Das ist kein Weg für mehr weiterhin bestehende sehr starke Abhängigkeit von Gas- Rechtssicherheit, das wird zu sehr unterschiedlicher Ver- importen aus Russland; zudem gibt es hohe CO2-Emis- waltungspraxis in den einzelnen Bundesländern führen. sionen im Gebäudesektor. Neben der Energieeinsparung müssen wir dem Einsatz erneuerbarer Energien im Ge- (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: bäudebereich endlich zum Durchbruch verhelfen – ich Wo ist denn der Unterschied zur FDP-Lösung denke, da sind wir uns einig –, sei es durch Biogas, in Baden-Württemberg?) durch Erdwärme, durch Holzpelletheizungen oder durch Es ist völlig unklar, ob die gesamte Zwangsbürokratie Solarthermie. dazu führt, dass die notwendigen Umweltziele erreicht (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ werden. Deshalb traut die Große Koalition diesem Wär- DIE GRÜNEN) megesetz ja auch nicht wirklich. Denn zusätzlich zur Zwangsbürokratie gibt es noch einen kräftigen Schluck Das ist ein zentraler Baustein sowohl für den Klima- aus der „Subventionspulle“. Diese Koalition ist in dieser schutz als auch für die Versorgungssicherheit. Aber man Diskussion einmal angetreten, den Einsatz erneuerbarer muss es auch richtig machen. Die Große Koalition Wärme haushaltsneutral zu fördern. Davon ist jetzt über- macht mit ihren Beschlüssen von Meseberg vor, wie es haupt nicht mehr die Rede. Stattdessen will man die Ver- 12196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Michael Kauch (A) steigerungserlöse aus dem Emissionshandel nutzen, um (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Das ist (C) die Mittel der Förderprogramme massiv zu erhöhen. doch völlig bürokratisch!) (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Herr Sorgen Sie, meine Damen und Herren in der CDU/ Kauch, wollen Sie jetzt gerade den Emissions- CSU, endlich für ein Umsteuern in der Union und erin- handel streichen?) nern Sie sich, womit Sie nach der Bundestagswahl 2005 Fazit: Schwarz und Rot setzen mit den Meseberg-Be- im Deutschen Bundestag angetreten sind! schlüssen auf Dirigismus, Bürokratie und Staatsknete. Vielen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Langsam dämmert manchem in der Union, was man da beschlossen hat. Heute hat der stellvertretende Frak- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: tionsvorsitzende Friedrich in den Ruhr Nachrichten er- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth klärt, man wolle die Gängelung von Hausbesitzern und von der CDU/CSU-Fraktion. die Eingriffe ins Eigentum verhindern und ihnen ent- schieden entgegentreten. Meine Damen und Herren von (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der CDU/CSU, dann machen Sie das auch! Tun Sie nicht neten der SPD) nur in der Presse so, als würden Sie sich für weniger Bürokratie für die Hauseigentümer einsetzen, sondern Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): stoppen Sie die Regierungspläne. Nicht die Details von Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Minister Gabriels Entwurf, sondern das ganze Förder- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Klimaschutz ist in modell ist verfehlt. diesen Tagen eines der zentralen Themen der nationalen (Beifall bei der FDP – Ulrich Kelber [SPD]: und internationalen Politik. Die Häufigkeit der Debatten Eigene Vorschläge!) zu diesem Thema in diesem Hause ist dafür ein beredtes Zeichen. – Das ist eine sehr schöne Überleitung. Die FDP hat eine Alternative für ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz Die Große Koalition hat sich von Anfang an den He- vorgelegt. rausforderungen des Klimawandels gestellt und schon im Koalitionsvertrag vereinbart, „bis zum Jahr 2020 die (Ulrich Kelber [SPD]: Wie ist das in Baden- Energieproduktivität gegenüber 1990 zu verdoppeln“ Württemberg?) und Dabei legt der Staat nicht für jeden Hausbesitzer fest, (B) die Marktpotenziale erneuerbarer Energien im Wär- (D) wie groß der Anteil an erneuerbarer Wärme sein soll, mebereich durch die Fortführung des Marktanreiz- sondern nur für die gesamte Volkswirtschaft. Welcher programms im bisherigen Umfang Hausbesitzer welchen Anteil mit welcher Technologie erreicht, wollen wir dem Markt überlassen. – da sind wir Gott sei Dank schon ein ganzes Stück wei- Um ein solches Gesetz möglichst unbürokratisch zu ter – gestalten, wollen wir es auf der obersten Handelsebene sowie durch weitere Instrumente, wie zum Beispiel ansetzen. Wer Heizöl und Erdgas in Verkehr bringt, soll ein regeneratives Wärmenutzungsgesetz, besser zu erneuerbare Wärme nachweisen müssen. Diese Nach- erschließen. weise können die Brennstoffhändler dann bei Biogasein- speisern oder Hausbesitzern erwerben, die erneuerbare Unter dem Eindruck unter anderem der Studien des Energien nutzen. IPCC haben der Europäische Rat im März und der G-8- Gipfel in Heiligendamm im Juni – beide unter dem Vor- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Und das sitz der Bundeskanzlerin – sehr ehrgeizige Ziele für die ist dann völlig unbürokratisch?) Klimaschutzpolitik beschlossen. Unsere Aufgabe auf na- Das wäre für die Hausbesitzer ein echter Investitionsan- tionaler Ebene ist es nun, weit über die Koalitionsverein- reiz, und zwar ohne Zwang und Bürokratie in jedem ein- barung hinaus diese Ziele in nationale Politik umzuset- zelnen Haus. zen. (Beifall bei der FDP) Das Bundeskabinett hat deshalb bei seiner Klausurta- gung in Meseberg am 23. und 24. August Eckpunkte für Wir haben vor der Sommerpause ein solches Modell ein Energie- und Klimapaket beschlossen. Insgesamt in den Deutschen Bundestag eingebracht. Ich ermuntere sollen damit Deutschlands CO2-Emissionen bis zum die Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU, diese Jahr 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 reduziert wer- Vorlage zu nutzen. den. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Davon Ein besonders hohes Klimaschutzpotenzial birgt der wird es auch nicht besser!) Wärmesektor. Gerade dem Gebäudebereich, der zu zwei Wir werden kein Modell zur Förderung erneuerbarer Dritteln als wärmetechnisch sanierungsbedürftig gilt, Wärme hinbekommen, das nichts kostet. Aber wir kön- kommt dabei mit rund 35 Prozent des Energieverbrauchs nen zumindest zu einem Modell kommen, das mit mög- und fast 20 Prozent aller Kohlendioxidemissionen eine lichst wenig Bürokratie und mit hoher Effizienz arbeitet. zentrale Rolle zu. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12197

Dr. Maria Flachsbarth (A) Aufgrund der in den letzten Jahren stetig steigenden (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Kosten für fossile Energieträger amortisieren sich Inves- neten der SPD) titionen in bessere Dämmung, modernere Heizungstech- nik und Umstellung auf erneuerbare Energien recht Deshalb begrüßen wir besonders, dass die Mittel für das schnell. Denn Wohnungseigentümer und Mieter sparen MAP im Haushaltsentwurf 2008 unter Hinzuziehung laut Bundesbauministerium durch Gebäudesanierung von Erlösen aus dem Verkauf von Zertifikaten im Emis- durchschnittlich etwa 86 Cent pro Quadratmeter pro sionshandel auf 350 Millionen Euro aufgestockt werden. Monat. Das sind bei einer 80 Quadratmeter großen Woh- Herr Kauch, wenn Sie meinen, dass das MAP überflüs- nung etwa 60 Euro pro Monat, also über 700 Euro pro sig ist, dann müssen Sie das hier auch sagen. Jahr. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wir Als zweiten Punkt wollen wir die Effizienz der fossi- haben das bereits mehrfach diskutiert. Ich sage das, denn len Wärmeerzeugung und Wärmeverteilung verbessern; eigentlich steht heute Ihr Antrag auf der Tagesordnung. denn trotz der Verdoppelung des Einsatzes erneuerbarer Energien auf dem Wärmesektor bis 2020 werden auch (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ dann mehr als 85 Prozent der Wärme aus fossilen Pri- DIE GRÜNEN]: Nicht „eigentlich“!) märenergieträgern gewonnen werden müssen. Natürlich Sie rennen mit Ihrem Antrag bei uns tatsächlich offene müssen wir auch hier technologische Weiterentwicklun- Türen ein. Die Bundesregierung hat in Meseberg in Be- gen und höhere Effizienzen erreichen. zug auf Wärme beschlossen, den Anteil erneuerbarer Drittens wollen wir die Wärme in Häusern und Woh- Energien auf 14 Prozent im Jahr 2020 zu erhöhen, die nungen besser halten. Deshalb begrüßen wir die erhebli- Energieeinsparordnung in zwei Schritten um jeweils che Aufstockung der Mittel für das CO2-Gebäudesanie- 30 Prozent in den Jahren 2008 und 2012 zu verschärfen, rungsprogramm auf insgesamt 5,6 Milliarden Euro im den Anteil der Kraft-Wärme-Kopplung an der Stromer- Zeitraum von 2006 bis 2009. zeugung bis zum Jahr 2020 auf 25 Prozent zu verdop- peln und die Nah- und Fernwärmenetze auszubauen. Die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eckpunkte, die dort beschlossen wurden, werden bis An- neten der SPD) fang April – also in einem sehr überschaubaren Zeitraum – Viertens. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammen- in Gesetze gegossen. hang ist und bleibt das Investor-Nutzer-Dilemma in Wir haben als CDU/CSU-Fraktion ein integriertes Mietverhältnissen. Aufgrund der Vorgaben im Mietrecht Wärmekonzept erarbeitet, das in das in dieser Woche können Vermieter die notwendigen Investitionen einer (B) von unserer Fraktion verabschiedete Positionspapier „Si- Sanierungsmaßnahme nur sehr begrenzt auf die Mieter (D) cher – sauber – sozial: Drei Dimensionen der Energiepo- umlegen. Den Profit einer Sanierungsmaßnahme haben litik“ Eingang gefunden hat. aber die Mieter durch die sinkenden Nebenkosten. Hier muss eine bessere Regelung her, weil es einen Sanie- (Beifall bei der CDU/CSU) rungsstau gibt. Ohne Zweifel ist es für den Mieter güns- tiger, die Investitionen in eine Wärmesanierung mitzufi- – Das haben wir gut gemacht; das finde ich auch. nanzieren, um danach davon zu profitieren, als aufgrund (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Aber die ständig steigender Kosten jedes Jahr höhere Heizungs- drei „S“ sind von der Deutschen Bahn ge- rechnungen bezahlen zu müssen. Einen Sanierungs- klaut!) zwang, über den in letzter Zeit diskutiert wurde, lehnen wir allerdings strikt ab. Auch in Bezug auf den Wärmebereich legen wir da- bei besonderen Wert auf Sozialverträglichkeit und haben (Beifall bei der CDU/CSU) das Ziel, Mietern, Eigentümern und den betroffenen Fünftens. Da, wo die Nachfrage nach Wärme und die Branchen Planungs- und Investitionssicherheit zu geben. Nachfrage nach Strom räumlich zusammenfallen, ist und bleibt die Kraft-Wärme-Kopplung die effizienteste Unser integriertes Wärmekonzept beinhaltet insbe- Technologie zur Umwandlung von Primärenergie. Des- sondere folgende Punkte: halb unterstützen wir das Meseberg-Ziel, den KWK- Erstens wollen wir die Wärmeerzeugung aus erneuer- Stromanteil bis 2020 zu verdoppeln. Bei einer Decke- baren Energien ausbauen. Wir schlagen dazu bei großen lung der Umlage auf 750 Millionen Euro pro Jahr sollen Gebäuden, bei Neubauten und grundsätzlicher Sanie- ausschließlich der Neubau und die Modernisierung von rung eine Pflicht zur anteiligen Nutzung vor, um eine hö- Anlagen, die bei Inbetriebnahme das Hocheffizienzkrite- here Marktdurchdringung als bisher zu erreichen. Zu den rium der KWK-Richtlinie erfüllen, gefördert werden. Es erneuerbaren Energien zählen wir in diesem Zusammen- ist unserer Meinung nach zu prüfen, ob es sinnvoll ist, hang insbesondere Solarthermie, oberflächliche und den Betreibern großer Anlagen anstelle einer KWK-För- tiefe Geothermie, feste Biomasse und Biogas. Die Mittel derung eine CO2-Gutschrift für vermiedenen Heizener- für das Marktanreizprogramm – es ist tatsächlich ein gieeinsatz zuzuweisen. großer Erfolg, Herr Kauch – wollen wir verstetigen und (Beifall bei der CDU/CSU) verrechtlichen. 1 Euro Förderung löst bis zu 10 Euro pri- vate Investitionen aus. Von einem Förderungsdschungel Wir streben zudem höhere Anschlussquoten bei Fern- kann also keine Rede sein. und Nahwärmenetzen an und wollen prüfen, wie bessere 12198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Maria Flachsbarth (A) Anreize für Bau bzw. Ausbau von Wärmeversorgungs- gar nichts. Förderprogramme erreichen die Bürgerinnen (C) netzen gesetzt werden können. Ohne das sind die KWK- und Bürger mit geringem Einkommen erst gar nicht. Der Ziele nicht zu erreichen. Dabei muss allerdings die na- Wärmebereich ist dafür ein gutes Beispiel: Bei rasant türliche Konkurrenz zwischen Gas- und Wärmenetzin- steigenden Heizkosten machen sich Sonnenkollektoren frastruktur entsprechend den individuellen örtlichen Ge- schnell bezahlt. Das Marktanreizprogramm für Solar- gebenheiten entschieden werden. wärme fördert aber bisher zu fast 100 Prozent nur Häus- lebauer, was natürlich auch gut ist. Mieter profitieren Sechstens. Klimaschutz wollen wir mit verbesserten kaum; denn die Wohnungswirtschaft sieht keinen An- Rahmenbedingungen für Energie-Contracting erreichen. lass, die Heizkosten der Mieter zu senken. Daran ändert Es bietet eine Win-win-Situation, wenn klimaschädliche übrigens auch der weichgespülte Energiepass nichts, den Emissionen, der Energieverbrauch sowie die Energie- sich die Bundesregierung abgerungen hat. Der Punkt ist: kosten von Bestandsgebäuden mit marktwirtschaftlichen Geringverdiener und Hartz-IV-Empfänger sind in der Instrumenten kurzfristig deutlich gesenkt werden kön- Regel Mieter in schlecht sanierten Wohnungen. nen. Wir wollen dieses Potenzial durch ein Energie-Con- tracting-Beschleunigungsgesetz schnellstmöglich erschlie- Umso mehr begrüßen wir, dass die Grünen mit ihrem ßen. Antrag und nun auch die Bundesregierung der Links- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, Sie fraktion folgen und konsequent auf einen ordnungsrecht- sehen, dass die Koalitionsfraktionen und die Bundesre- lichen Rahmen setzen. Der mittlerweile vorliegende Re- gierung im Wärmebereich längst das umsetzen, was Sie ferentenentwurf der Bundesregierung zum Erneuerbare- in Ihrem Antrag zu Recht fordern. Die Bundesregierung Energien-Wärmegesetz ist also ein Schritt in die richtige wird die Eckpunkte von Meseberg bis Anfang Dezember Richtung. Allerdings zeigt uns die Erfahrung, dass es bei 2007 in Gesetze gegossen haben. Dazu wird unter ande- dieser Großen Koalition noch ein weiter Weg bis zu ei- rem ein Wärmegesetz gehören. Wir, die CDU/CSU- nem Gesetz ist. Ich habe mit Aufmerksamkeit vernom- Fraktion, werden es an den Eckpunkten messen, die ich men, dass wir damit noch bis zum Dezember warten Ihnen vorgestellt habe, und dabei Wert darauf legen, müssen. Ich hoffe, wir müssen nicht noch länger warten. dass es möglichst technikoffene Vorgaben gibt. Wir wol- Deshalb an dieser Stelle einige Eckpfeiler, an denen len Ziele festsetzen, aber keine Wege vorschreiben. ein glaubwürdiges Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz Wichtig für uns ist eine möglichst kosten- und energieef- festzumachen ist: Erstens. Es müssen alle Gebäude in fiziente CO2-Ersparnis. die Pflicht genommen werden, und zwar ohne Aus- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ nahme. Das gilt vor allem für die Wohnungswirtschaft. CSU]) Zweitens. Der Mindestanteil erneuerbarer Energien (B) muss einen deutlichen Klimaschutzbeitrag leisten. Drit- (D) Ihr Antrag hat sich damit erledigt. Ich lade Sie ein, mit tens. Erneuerbare Wärmeenergien haben Vorrang vor auf unseren Weg zu kommen. Wir antworten pragma- Wärmedämmung. tisch mit einem integrierten Wärmekonzept auf den Kli- mawandel und setzen einen umfassenden Instrumenten- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum?) mix ein. Wenn sie den nicht haben, dann müssen die Ersatzmaßnah- Vielen Dank. men hohe Anforderungen wie den Passivhausstandard er- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) füllen. Viertens. Bei erneuerbaren Energien eingesetzte Techniken müssen ein echtes CO2-Minderungspotenzial haben und auch dementsprechend angerechnet werden. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Fünftens. Auch Nah- und Fernwärmenetze sollen nach Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill von der dem Anteil eingespeister erneuerbarer Energien bewertet Fraktion Die Linke. werden. (Beifall bei der LINKEN) Auch wenn wir nicht mit allen Inhalten des Grünen- Antrags übereinstimmen, so ist er doch ein Faustpfand; Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): denn beim EEG-Entwurf der Bundesregierung kommt, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wie wir das in der Vergangenheit schon oft erlebt haben, Wenn wir Klimaschutz sozial gerecht gestalten wollen, jetzt erst einmal der Weichspülgang. Mal sehen, was da- brauchen wir insbesondere im Wärmesektor das Ord- von übrig bleibt. Deswegen werden wir Linke dem An- nungsrecht. Herr Kollege Kauch, ich glaube, nachdem trag der Grünen in diesem Fall zustimmen. ich Ihren Beitrag dazu gehört habe, dass das bei der FDP noch nicht angekommen ist. Vielen Dank. (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Es ist die (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Frage, wie man das definiert!) NIS 90/DIE GRÜNEN) Außerdem gilt: Bester Garant für bezahlbare Energie ist der konsequente Ausbau der erneuerbaren Energien. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wirksamer Klimaschutz ist nur mit klaren Vorgaben zu Das Wort hat der Bundesminister Sigmar Gabriel. erreichen; denn bei Selbstverpflichtungen – das kennen wir insbesondere aus der Industrie – passiert erst einmal (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12199

(A) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- (C) schutz und Reaktorsicherheit: schutz und Reaktorsicherheit: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun- Wenn ich den Satz zu Ende gesprochen habe, gerne, desrepublik Deutschland hat sich im Rahmen der euro- Herr Präsident. – Die effizienteste Form der Biomasse- päischen Beschlüsse zur Klima- und Energiepolitik ver- nutzung ist eben nicht, Biomasse einfach zu verbrennen pflichtet, bis zum Jahr 2020 einen Anteil von 20 Prozent – das schlagen Sie vor –, sondern Kraft-Wärme-Kopp- erneuerbarer Energien in Europa durchzusetzen. Um die- lung damit zu betreiben oder Kraftstoffe daraus zu ma- ses europäische Ziel zu erreichen, hat die Bundesregie- chen, insbesondere Biogas zu nutzen, und bei der Strom- rung in Meseberg beschlossen, erstens den Anteil der erzeugung die Grundlastfähigkeit der regenerativen erneuerbaren Energien am Strommarkt auf 25 bis 30 Pro- Energien zu erreichen. Sie wollen, dass ein Riesenanteil zent zu erhöhen – bislang war das Ziel lediglich schlicht und ergreifend verbrannt wird. Das ist ineffizi- 20 Prozent –, zweitens den Anteil der Biokraftstoffe bis ent; das führt zu Konkurrenzen mit Nahrungsmitteln; so 2020 auf 20 Volumenprozent anzuheben – das bedeutet viele Flächen haben Sie nicht. Deshalb ist der Vorschlag 17 Prozent am Energiegehalt; bisher gab es nur eine undurchdacht, Herr Kauch. Das ist alles, was man dazu Zielsetzung von 5,75 Prozent bis 2010 – und drittens – sagen kann. darum geht es heute – den Anteil erneuerbarer Energien (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der am Wärmemarkt auf 14 Prozent bis 2020 zu steigern; LINKEN – Ulrich Kelber [SPD]: Der ist ideo- bislang liegt dieser Anteil bei 6 Prozent. logisch pur, der Vorschlag! Das ist wichtiger!) Das Erreichen dieser nationalen Ziele ist die Voraus- setzung, um die internationalen Ziele der Europäischen Michael Kauch (FDP): Union erreichen zu können. Für den Strommarkt berei- Herr Minister, erlauben Sie mir den Hinweis, dass Ih- ten wir die Novelle des EEG vor, die das Bundeskabinett nen Ihre Referenten unseren Antrag möglicherweise noch in diesem Jahr verabschieden wird, für die Ziele falsch zusammengefasst haben. Vielleicht habe ich ihn der Biokraftstoffe haben wir das Biokraftstoffquotenge- auch nicht richtig vorgetragen. Ich möchte Sie darauf setz, und um die Ziele am Wärmemarkt zu erreichen, hinweisen – gerade habe ich versucht, das deutlich zu will das Bundeskabinett am 5. Dezember den Entwurf machen –, es geht uns nicht darum, dass die Brennstoff- eines Wärmegesetzes für erneuerbare Energien verab- händler beispielsweise eine Quote Biogas oder Bioheiz- schieden und dem Parlament zuleiten. Derzeit befinden stoffe aus Biomasse dort einspeisen müssen. Vielmehr wir uns in der Ressortabstimmung. wollen wir Nachweise handeln. Das heißt, wenn jemand etwa eine Solarthermieanlage auf einem Haus betreibt, (B) Kernpunkte des Gesetzes sind erstens das Regelwerk kann er sich das zertifizieren lassen und mit diesen (D) des Ordnungsrechts und zweitens die Förderung. Herr Nachweis handeln, Stichwort: Zertifikatehandel, wie Sie Kauch, eine andere Möglichkeit, Politik zu machen, als das von der FDP kennen. durch eine Mischung aus Ordnungsrecht und Förderung (Ulrich Kelber [SPD]: Ganz unbürokratisch!) kenne ich nicht. Ihr Vorschlag ist auch Ordnungsrecht. Sie regen an, den Mineralölkonzernen vorzuschreiben, Es geht uns darum, dass es Biomasse sein kann, aber einen Anteil von Bioöl oder Bioenergie einzusetzen. Das auch Erdwärme oder Solarthermie. Deshalb wäre es ist auch Ordnungsrecht; das ist auch Bürokratie; das ist schlimm, wenn wir das, was Sie beschreiben, vorschla- auch Gesetzgebung. gen würden. Das tun wir aber nicht.

(Michael Kauch [FDP]: Ja, aber nicht für die Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- ganze Bevölkerung!) schutz und Reaktorsicherheit: – Das Problem ist nur: Der Vorschlag ist nicht durch- Herr Kollege Kauch, es mag sein, dass Sie Ihren An- dacht. Wenn Sie ihn umsetzen, müssen Sie entweder zu- trag in Ihrer Rede verkürzt vorgestellt haben. Sie haben lassen, dass massiv Biomasse aus anderen Ländern hier- aber gesagt, dass Sie auf einen bestimmten Anteil von herkommt – im Zweifel aus Palmöl oder Sojaöl, für die Biomasse setzen wollen. Ich habe gerade bei Ihrem Vor- die Regenwälder abgeholzt wurden –, oder Sie müssen trag im Rahmen Ihrer Zwischenfrage überlegt, welche zulassen, dass es in Deutschland zu einer weiteren Ver- Bürokratie Ihr Vorschlag auslösen würde. schärfung der Nutzungskonkurrenzen kommt. Denn wir (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN haben nicht genug Anbaufläche für Biomasse zur Strom- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) erzeugung, zur Kraftstofferzeugung und zur reinen Ver- brennung zur Wärmeerzeugung. Sie werden also eine Das ist ja unglaublich. Ich bin doch dafür, es so zu massive Nutzungskonkurrenz herbeiführen, und Sie machen, wie wir es derzeit diskutieren, nämlich erstens müssen irgendwann entscheiden, was die effizienteste eine Nutzungspflicht für erneuerbare Energien bei der Form der Biomassenutzung ist, wenn Sie nur eine be- Wärmeerzeugung in Neubauten und bei grundlegenden grenzte Anbaufläche zur Verfügung haben. Sanierungen in Altbauten – nur dann, wenn es wirt- schaftlich zumutbar ist; anders wäre es rechtlich nicht darstellbar – und zweitens eine Wahlfreiheit zwischen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: den unterschiedlichen Formen der Nutzung erneuerbarer Herr Minister Gabriel, erlauben Sie eine Zwischen- Energien, ausgenommen das schlichte Verbrennen. Da- frage des Kollegen Kauch? für habe ich eben die Gründe genannt. 12200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) Wahlfreiheit gibt es auch bei Erfüllung der Vorschriften zusammengestrichen werden. Das eigentlich Problema- (C) zur Energieeinsparung in der Energieeinsparverordnung tische an Ihren Vorschlägen ist, dass Sie sich als Um- durch Wärmedämmung oder der Nutzung erneuerbarer weltpolitiker gegen die Finanz- und Ordnungspolitiker Energien. Dazu ist es allerdings notwendig, eine enge Ver- Ihrer Fraktion in der Regel nicht durchsetzen können. zahnung des Wärmegesetzes für erneuerbare Energien mit der Energieeinsparverordnung herzustellen. (Beifall bei der SPD – Horst Friedrich [Bay- reuth] [FDP]: Das soll bei der Großen Koali- Die Energieeffizienz bei Neubauten und bei der grund- tion gelegentlich auch vorkommen!) legenden Sanierung in Altbauten soll nach Willen der Bundesregierung in dieser Verordnung um 30 Prozent an- Übrigens sind die 350 Millionen Euro aus der Auktio- gehoben werden. Wer erneuerbare Energien nutzt, muss nierung eine Erhöhung um fast 200 Prozent gegenüber seine Energieeffizienz dann nur um 15 Prozent steigern. der 2005 im Marktanreizprogramm bewilligten Größen- Wer allerdings keine erneuerbaren Energien nutzt, der ordnung der Mittel. Das ist eine deutliche Aufstockung. muss die Energieeffizienz gegenüber dem heutigen Ni- veau um 45 Prozent steigern. Entscheidend wird allerdings nicht sein, was wir ins Gesetz schreiben, sondern das, was am Ende umgesetzt Wenn öffentlich gesagt wird, es gebe keine Wahlfrei- wird. Da haben wir erhebliche Probleme – das sollten heit, dann ist das schlicht falsch. Wenn wir allerdings die wir zugeben –, weil wir in den Ländern und in den Kom- völlige Freiheit der Wahl zwischen Energieeffizienzstei- munen ein Vollzugsdefizit haben. Übrigens liefert auch gerung durch Wärmedämmung und erneuerbaren Ener- der Bund Beispiele dafür, dass er bei grundlegenden Sa- gien schaffen und somit keine Verzahnung herstellen nierungen nicht einmal die geltende Energieeinsparver- würden, dann würden wir die europäischen und auch die ordnung beachtet, weil niemand mehr ihre Einhaltung nationalen Ziele beim Ausbau der erneuerbaren Ener- kontrolliert. gien im Wärmebereich nicht erreichen. Wir werden deshalb überlegen müssen, wie wir die Viel wichtiger ist: Würden wir darauf verzichten, das Einhaltung der wichtigen gesetzgeberischen Vorgaben vorzuschreiben, würden wir dazu beitragen, dass wir den für den Klimaschutz und eine größere Versorgungsunab- Erfolgskurs der Schaffung neuer Arbeitsplätze auf dem hängigkeit gewährleisten können. Manche unserer auf Strommarkt im Bereich des Wärmemarktes nicht fortset- Entbürokratisierung ausgerichteten Maßnahmen der Ver- zen können. Herr Kauch, das ist übrigens mein größter gangenheit haben im Ergebnis dazu geführt, dass keiner Vorwurf gegenüber Ihrem Programm. Schon heute gibt mehr kontrolliert, ob die gesetzgeberischen Vorgaben es auf diesem Gebiet 235 000 neue Arbeitsplätze – profi- eingehalten werden. Das ist eines der Probleme, vor de- tiert hat davon insbesondere der Strommarkt – dank ge- nen wir stehen. (B) sicherter Rahmenbedingungen für Industrie und Hand- (D) werk. Durch die Umsetzung Ihrer Vorschläge würden Wir werden wahrscheinlich auch darüber nachdenken keine gesicherten Rahmenbedingungen für Industrie und müssen, wie wir beispielsweise durch eine stärkere Ein- Handwerk geschaffen. Würden wir Ihren Vorschlägen beziehung des Schornsteinfegerhandwerks Beratung und folgen, Herr Kauch, würde das dazu führen, dass wir auf Durchsetzung der entsprechenden gesetzgeberischen die Chance, auf dem Wärmemarkt zusätzlich 200 000 Verordnungen in der Praxis umsetzen können. Hier sehe neue Jobs zu schaffen, verzichten. ich das größte Defizit. Gespräche mit Handwerksmeis- tern zeigen: Wenn das, was wir ins Gesetz schreiben – es (Beifall bei der SPD) kann alles Mögliche sein –, nicht durchgeführt wird, Das ist es, was uns dazu bewegt, nicht mitzumachen. dann haben wir mit Zitronen gehandelt. Deswegen soll- ten wir in den Beratungen viel Augenmerk darauf legen, Wir sehen darüber hinaus eine verlässliche Förderung wie wir etwas zustande bringen wollen. der Investitionen zur Umsetzung der Gesamtmaßnahmen nach dem Wärmegesetz vor, wenn der Eigentümer seine Was die grundlegenden Sanierungen angeht: Wenn Nutzungspflicht freiwillig übererfüllt. Dies wird in der wir den „Kesselaustausch“ nicht allein betrachten könn- Regel natürlich schon dann der Fall sein, wenn er bei- ten, wenn vielmehr immer erst umfangreiche weitere spielsweise eine Wärmepumpe nutzt; schließlich wird er Baumaßnahmen hinzukommen müssen, dann würden nicht 15 Prozent seiner Heizungsanlage austauschen, wir unsere Vorgaben nicht einhalten. Der Teufel steckt sondern 100 Prozent. Dafür müssen die entsprechenden also auch bei diesem Thema im Detail. Wir verfolgen Mittel zur Verfügung stehen. mit der Verabschiedung des Wärmegesetzes drei Zielset- zungen: Klimaschutz, mehr Unabhängigkeit von Ener- Herr Kauch, Ihre Argumentation ist problematisch: gieimporten, insbesondere hinsichtlich Gas, und die Hier fordern Sie öffentlich, erneuerbare Energien stärker Schaffung von bis zu 200 000 neuen Arbeitsplätzen zu fördern. Im Haushaltsausschuss treten Sie allerdings durch die Fortsetzung der Erfolgsgeschichte im Bereich dafür ein, die Mittel der Auktionierung zur Senkung der der erneuerbaren Energien. Ich hoffe, dass wir in den Stromsteuer zur Verfügung zu stellen. Das heißt, Sie se- Beratungen dieses Gesetzentwurfs vor allen Dingen die hen gar keine Möglichkeit vor, Markteinführung zu be- praktischen Probleme werden lösen können. treiben. Die Finanzierung des Markteinführungsinstru- ments, dessen Richtigkeit Sie gelegentlich öffentlich Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. feststellen, soll durch die Mittelkürzungen, die Ihre Fraktionskollegen im Haushaltsausschuss vorschlagen, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12201

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dass man sich vorstellen kann, den gesamten Emissions- (C) Das Wort hat jetzt der Kollege Josef Göppel von der handel am Import fossiler Stoffe sozusagen aufzuhän- CDU/CSU-Fraktion. gen. Nur, da gibt es die Unwucht – wir beide haben es schon mehrfach diskutiert – zwischen Heizungsenergie (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) und Mobilitätsenergie. An diesem Problem scheitert die Umstellung in der konkreten politischen Praxis. Josef Göppel (CDU/CSU): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Ich denke, die Argumente für unseren Weg beim wollen bei diesem Thema, dem Wärmegesetz, jetzt Wärmegesetz, die Minister Gabriel hier vorgetragen hat, Tempo machen. Ich höre nun vom Minister Gabriel, dass sind zugkräftig, wenn wir es schaffen, die verstetigte der Entwurf noch in der Ressortabstimmung ist. Wenn Förderung ins Gesetz zu bringen. man da genauer hinschaut, merkt man: Da gibt es einen So wie wir im KWK-Gesetz eine Summe von Konflikt zwischen den Wohnungspolitikern und den 750 Millionen Euro pro Jahr festgelegt haben, so müssen Bauleuten, vor allem denen im Verkehrsministerium. in diesem Gesetz 350 Millionen Euro stehen, damit der (Ulrich Kelber [SPD]: Das Wirtschaftsministe- Markt sich darauf einstellen kann und wir von dem Rauf rium ist auch dabei! – Renate Künast [BÜND- und Runter wegkommen; Kollege Becker, das haben Sie NIS 90/DIE GRÜNEN]: Seien Sie mal ganz richtig gesagt. Es braucht Stetigkeit in der Förderung des ehrlich! Sie sind doch sonst so ehrlich! Das Marktanreizprogramms, damit die zusätzlichen 200 000 Problem heißt Glos!) Arbeitsplätze wirklich kommen. – Das ist auch dabei, Kollege Kelber. Es gibt sogar (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Leute, die heute in der Presse sagen, dass sie den Ent- neten der SPD) wurf ablehnen, obwohl er noch gar nicht da ist. Wenn je- Wenn ich in meinem Wahlkreis herumfrage, sagen mand Presseerklärungen abgibt, ohne mit den Leuten der alle Handwerker: Das ist Auftragsvolumen für das örtli- zuständigen Arbeitsgruppe zu reden, nehmen wir das che Handwerk. Das können nicht internationale Baulö- nicht besonders ernst. wen erledigen. Das ist Auftragssumme und Wertschöp- (Beifall bei der SPD) fung für das örtliche Handwerk. Deswegen liegen wir mit diesem Konzept richtig: eine ordnungspolitische Wir wollen bei diesem Gesetz Tempo machen, weil es Vorgabe für die Neubauten und eine verstetigte Förde- für das Handwerk und für den Klimaschutz viel bringt. rung. Der Entwurf, so wie er jetzt vorgesehen ist, nimmt auch Rücksicht auf die sozialen Belange. Uns als Unionsfrak- Ich möchte allerdings einen Punkt aus Ihrer Rede, (B) (D) tion ist wichtig, Akzeptanz für den Klimaschutz dadurch Herr Kollege Gabriel, noch aufgreifen, nämlich die zu erreichen, dass wir die soziale Situation der Men- Frage des Einsatzes von Biogasen und Pflanzenöl bei schen, zum Beispiel älterer Hauseigentümer, berücksich- Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen. Ich bin sehr dafür, tigen. dass wir deutliche finanzielle Anreize zum Einsatz klei- ner Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen in diesem Gesetz Deswegen ist der Punkt „Abstimmung des Verhältnis- verankern, aber ich würde es im Hinblick auf ländliche ses zwischen Mietern und Vermietern“, den meine Kol- Räume nicht völlig ausschließen wollen, dass auch ein- legin Flachsbarth angesprochen hat, so wichtig. Dafür mal unmittelbar Gas aus der Biogasanlage oder örtlich gibt es in der Praxis Lösungen. Wir als Bundestag kom- erzeugtes Pflanzenöl zum Heizen verwendet wird. Ich men nicht darum herum, die rechtlichen Voraussetzun- würde mir da eine kleine Öffnungsklausel wünschen. gen dafür zu schaffen, dass die Investitionskosten der Wir müssen das Gesetz so anlegen, dass die Akzeptanz Hauseigentümer sich auf die Miete umlegen lassen. Ich tatsächlich in allen Regionen und unter allen Lebensum- denke, das Gerechteste wäre, den Umlegungszeitraum ständen gegeben ist. Wir werden mit diesem Gesetz Er- an den Zeitraum zu binden, in dem sich die Investitions- folg haben, damit den Klimaschutz in Deutschland vo- kosten amortisieren. Das ist ein Prinzip, das klar und ranbringen und neue Arbeitsplätze schaffen. durchsichtig ist und das für Vermieter und Mieter Ge- rechtigkeit schafft. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Die Punkte, die uns als Unionsfraktion wichtig sind – ich nenne sie noch einmal –, sind bestimmte Pflichten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: für Neubauten und die verstetigte Förderung. Ich möchte Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat mich an dieser Stelle bei unserem Koalitionspartner be- der Kollege Hans-Josef Fell von Bündnis 90/Die Grünen danken, dass er vom Umlageverfahren abgegangen ist, das Wort. weil es auf diese Weise möglich war, die Zustimmung der gesamten Unionsfraktion zu erreichen. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]) Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Seit fast zwei Jahren wartet Deutschland auf Das ist jetzt, denke ich, eine ausgewogene Lösung. ein Wärmegesetz für erneuerbare Energien. Trotz groß- Die Vorschläge, die Sie, Kollege Kauch, gemacht ha- spuriger Ankündigungen im Koalitionsvertrag hat die ben, sind generell mehrfach auch für den Emissionshan- Große Koalition bis heute kein Wärmegesetz zuwege ge- del unterbreitet worden. Ich will nicht in Abrede stellen, bracht. Das ist typisch für den Regierungsstil von Frau 12202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Hans-Josef Fell (A) Merkel und Umweltminister Gabriel im Klimaschutzbe- gen. Da müssen Sie sich doch fragen lassen, warum Sie (C) reich: viel Rhetorik, aber Versagen beim Handeln. dort Beschlüsse über Sachverhalte fassen, die Sie bereits vor zwei Jahren im Koalitionsvertrag festgeschrieben (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi- haben, aber noch nicht umgesetzt haben. derspruch bei der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Weil man Auch die heutigen Ankündigungen von Frau Flachsbarth nicht alles in zwei Jahren abarbeiten kann!) und Herrn Becker, zum Frühjahr 2008 endlich ein Wär- megesetz aufzulegen, sind nicht glaubhaft; denn im Es ist allerdings interessant, dass Sie mit dem ordnungs- Handelsblatt von heute sind Ausführungen von Frau rechtlichen Ansatz wichtige Grundsätze für ein Erneuer- Reiche zu lesen, in denen sie all das wieder infrage stellt, bare-Energien-Wärmegesetz im Meseberger Beschluss was Sie beschlossen haben. genauso gefasst haben, wie wir Grünen in dem Antrag, Dabei geben die Branchenzahlen eine eindeutige Ant- der der heutigen Debatte zugrunde liegt. wort auf Ihr Nichtstun. Der Binnenmarkt für Sonnenkol- (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Sage ich lektoren ist in Deutschland im ersten Halbjahr 2007 um doch: Wir sind viel weiter, als Sie glauben!) 35 Prozent eingebrochen, der für Biogas- und Holzpel- letsanlagen sogar um 50 Prozent. Die Nutzung der Tie- Sie wollen Bauherren verpflichten, bei allen Neubau- fenerdwärme kommt weiterhin nur schleppend in Gang. ten und Altbausanierungen einen festgelegten Anteil für Angesichts dieser Probleme können wir nicht bis zum erneuerbare Energien zu verwenden. Richtig so! Wir ha- nächsten Frühjahr warten; denn die Wärmeerzeugung ben das längst vorgeschlagen. Aber warum lehnen Sie dann unseren Antrag ab? Im Umweltausschuss konnten verursacht etwa 25 Prozent aller CO2-Emissionen in Deutschland. Gleichzeitig wissen viele Bürgerinnen und Sie keinen einzigen stichhaltigen Grund für Ihre Ableh- viele Bürger nicht mehr, wie sie die steigenden Preise für nung nennen. konventionelle Energie bezahlen sollen. Der Weltölpreis (Horst Friedrich [Bayreuth] [FDP]: Das hat bewegt sich seit kurzem auf Rekordniveau; er schwankt noch nie gestört!) um 80 Dollar pro Barrel. Die abzusehende Verknappung bei Erdöl und Erdgas wird die Preise weiter nach oben Aber bei genauerem Hinsehen wird mir das klar: Sie ha- treiben. ben eine so große Menge von Ausnahmetatbeständen formuliert, dass Ihr Vorschlag für ein Erneuerbare-Ener- Erneuerbare Energien und Energieeinsparmaßnahmen gien-Wärmegesetz nach Ihren Vorstellungen ohne nen- sind die Antwort auf steigende Energiepreise, auf Kli- nenswerte Wirkung bleiben würde. mazerstörung und Verknappung sowie auf die zuneh- menden politischen Risiken bei der Versorgung mit (Dirk Becker [SPD]: Das steht in Ihrem An- (B) (D) Erdöl und Erdgas. Doch die Große Koalition tut, abgese- trag auch drin!) hen von Ankündigungen, nichts, um den Einbruch im Die heutigen Einwände von Frau Reiche sollen offenbar Markt für erneuerbare Wärmeenergien zu verhindern. alle wirksamen Maßnahmen für erneuerbare Energien (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ endgültig verhindern. CSU) Der Vorschlag des Ministers strotzt doch nur so von Sie nimmt offensichtlich sogar billigend Konkurse von Ausnahmen von der Baupflicht, sodass die Umsetzung Produzenten in Kauf. Gleichzeitig rühmen Sie sich, von vornherein ausgehöhlt wird. So werden Sie ein Er- mehr Haushaltsmittel im Bereich der Energieeinsparung neuerbare-Energien-Wärmegesetz gestalten, wie Sie für das von Rot-Grün initiierte Gebäudesanierungspro- auch das Marktanreizprogramm bisher gestaltet haben, gramm bereitgestellt zu haben. Doch Sie haben gleich- nämlich fast wirkungslos mit Produktionsrückgängen zeitig die Förderbedingungen so verschlechtert, dass es und ohne verlässliche Rahmenbedingungen für eine auch hier einen unglaublichen Markteinbruch gegeben Branche, die eigentlich wachsen will und wachsen muss. hat: Die Nachfrage nach Altbausanierungsmitteln ist Mit häufigen Haushaltsstopps, laufend veränderten För- nämlich um 65 Prozent im ersten Halbjahr 2007 zurück- derbedingungen und zu geringen Haushaltsmitteln im gegangen. Marktanreizprogramm haben Sie den Ausbau der Bran- che richtiggehend verhindert. So werden Sie Ihre Klima- Nein, meine Damen und Herren, aktive und verant- schutzziele nicht erreichen. Mit einem Ziel von wortungsvolle Klimaschutzpolitik sieht anders aus. 14 Prozent Anteil erneuerbarer Energien an der Wärme- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) versorgung bis 2020, Herr Gabriel, liegen Sie weit unter den Möglichkeiten. Wir Grünen haben in unserem Es gibt bei Ihnen eine himmelschreiende Diskrepanz Energiekonzept 2.0 nachgewiesen, dass das Doppelte zwischen Worten und Taten. Ich frage mich, warum er- möglich ist. höht die Öffentlichkeit nicht den Druck, damit den Kli- maschutzworten der Bundesregierung endlich auch Kli- Herr Bundesminister Gabriel, wir haben die Nase voll maschutztaten folgen. von Ihren schönen Worten und vollmundigen Reden für erneuerbare Energien. (Dirk Becker [SPD]: Weil sie es anders sieht als Sie!) (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) In Meseberg hat die Große Koalition erneut beschlos- Statt für die Kohle zu kämpfen, ist es Zeit, zu erneuerba- sen, ein Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz einzubrin- ren Taten zu schreiten. Bevor Sie als Verantwortlicher Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12203

Hans-Josef Fell (A) für viele Konkurse in der Branche der erneuerbaren Berichterstattung: (C) Energien in die Geschichte eingehen werden, Abgeordnete Michael Stübgen Michael Roth (Heringen) (Dirk Becker [SPD]: Meine Güte!) Markus Löning rate ich Ihnen, endlich Hand anzulegen. Die Einbrüche in der Branche der erneuerbaren Energien im Jahre 2007 Rainder Steenblock sprechen doch für sich. Nehmen Sie sie ernst; ansonsten Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für setzen Sie Hunderttausende Arbeitsplätze aufs Spiel, die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt statt 200 000 neue zu schaffen, wie wir das eigentlich es Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann gemeinsam wünschen. ist das so beschlossen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- ner dem Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: das Wort. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- CDU/CSU) schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Dr. Frank-Walter Steinmeier, Bundesminister des dem Titel „Einführung eines Erneuerbare Energien Wär- Auswärtigen: megesetzes – EEW“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5361, den An- Herren! Im vergangenen Jahr hatte ich für die Botschaf- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- terkonferenz Jean-Claude Juncker zum Thema „Europäi- sache 16/3826 abzulehnen. Wer stimmt für diese sche Verfassung“ eingeladen. Ich erinnere mich noch Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- sehr genau, was er gesagt hat, nämlich dass das Problem gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen mit der europäischen Verfassung sei, dass sie für 50 Pro- der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- zent der Europäer zu viel Europa enthält und für die genstimmen der Fraktion Die Linke und Bündnis 90/Die anderen 50 Prozent zu wenig Europa. Ich glaube, tref- Grünen angenommen. fender konnte man das Dilemma, in dem wir im vergan- genen Jahr waren, nicht beschreiben. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: Noch besser erinnere ich mich an das Jahr 2005, als Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (B) nach den zwei verlorengegangenen Referenden in (D) richts des Ausschusses für die Angelegenheiten Frankreich und den Niederlanden Europa sozusagen flä- der Europäischen Union (21. Ausschuss) chendeckend von Katerstimmung erfasst war. – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU Warum sage ich das? Um endlich einmal den Blick und SPD dafür freizumachen, wo wir heute stehen. Regierungskonferenz zur Änderung der ver- Vor einem Jahr sagten viele noch: Die Reform ist tot. – traglichen Grundlagen der Europäischen Heute stehen wir kurz vor dem Abschluss einer Regie- Union und Unterrichtung der Bundesregie- rungskonferenz, auf der dann über den Reformvertrag rung entsprechend Ziffer VI der Vereinba- der Europäischen Union entschieden werden soll, einen rung zwischen Deutschem Bundestag und Vertrag, der endlich den Weg frei macht für die notwen- der Bundesregierung über die Zusammenar- dige Runderneuerung unserer Arbeitsgrundlagen in beit in Angelegenheiten der Europäischen Europa. Union (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie – zu dem Antrag der Abgeordneten Markus bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Löning, Dr. Werner Hoyer, Michael Link (Heil- DIE GRÜNEN) bronn), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Dass wir das geschafft haben, darauf können wir in der Tat miteinander stolz sein. Das ist unser gemeinsa- EU-Regierungskonferenz schnell zum Erfolg mes Verdienst. Als Präsidentschaft ist es der Bundesre- führen gierung gelungen, dem Prozess der Vertragsreform – zu dem Antrag der Abgeordneten Rainder neuen Atem einzuhauchen. Mit dem Einigungswillen al- Steenblock, Jürgen Trittin, Omid Nouripour, ler Mitgliedstaaten gelang es, beim Europäischen Rat im weiterer Abgeordneter und der Fraktion Juni in Brüssel ein umfassendes politisches Mandat zu BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschieden. EU-Regierungskonferenz – Für eine hand- Ich will an dieser Stelle im Hohen Hause nicht ver- lungsfähige und demokratische EU gessen, eines zu erwähnen: Wir konnten auch nur des- halb so offensiv und auch so entschlossen auf der euro- – Drucksachen 16/6399, 16/5882, 16/5888, päischen Ebene verhandeln, weil wir uns jederzeit der 16/6632 – Unterstützung des Deutschen Bundestages und auch des 12204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) Bundesrates sicher sein konnten. Deshalb gilt: Wenn die mente deutlich gestärkt worden sind. Ich komme zu dem (C) politische Einigung beim informellen Treffen der Staats- Ergebnis, dass trotz aller Schwierigkeiten und trotz allen und Regierungschefs in Lissabon gelingt, dann ist das Ringens, das wir hinter uns haben, die demokratische unser gemeinsamer Erfolg. Dafür mein aufrichtiger und Legitimation Europas am Ende dieses Prozesses gestärkt herzlicher Dank Ihnen allen. wird. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Ich weiß, dass wir gemeinsam mit Ihnen – sozusagen bei Abgeordneten der FDP) im Vorgriff auf die Vertragsreform – eine Vereinbarung zwischen Bundesregierung und Bundestag geschlossen Ich habe nicht vergessen, dass wir bei alldem in der haben. Ich erinnere mich – Herr Löning, Sie werden Tat Abstriche machen mussten. Wir mussten auf das gleich darauf zurückkommen –, Konzept einer Verfassung und den entsprechenden Titel verzichten. Wir haben es entgegen unserer Vorstellung (Markus Löning [FDP]: Davon können Sie nicht hinbekommen, die Grundrechtecharta in den Ver- ausgehen!) trag aufzunehmen. Immerhin ist es uns gelungen, ihre Rechtsverbindlichkeit festzuschreiben. Wir haben auch dass es am Anfang etwas geruckelt hat. Ich bin mir aber hinnehmen müssen, dass die Einführung der doppelten sicher, dass sich das im Vorgriff Vereinbarte etablieren Mehrheit erst verzögert stattfindet. Dies waren schmerz- wird. Bevor Sie das gleich monieren, sage ich Ihnen von liche Kompromisse, die aber notwendig waren – ich bin hier aus: Das, was ich tun kann, um diese Vereinbarung mir sicher, die meisten von Ihnen sehen das genauso –, mit Leben zu erfüllen, will ich gerne tun. um die Gesamteinigung, um die es ging, zu erreichen. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP Schwerer wiegt in meinen Augen, dass es uns mit die- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen schmerzlichen Kompromissen gelungen ist, die we- Wir sind noch nicht ganz am Ende. Sie alle kennen sentliche Substanz der Verfassung zu erhalten und die den Gang der Verhandlungen bei der Regierungskonfe- Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Handlungs- renz, die nun unter portugiesischer Ratspräsidentschaft fähigkeit der Europäischen Union gestärkt wird. stattfindet. Sie wissen, dass die entscheidenden Voraus- (Beifall des Abg. Axel Schäfer [Bochum] setzungen für den Erfolg dieser Regierungskonferenz [SPD]) sind, dass wir im Juni ein klares, sehr detailreiches poli- tisches Mandat beschlossen haben und die portugiesi- Nicht nur ich, sondern auch viele andere, die für unser sche Ratspräsidentschaft danach einen sehr ehrgeizigen Land auf Brüsseler Ebene verhandelt haben, haben gera- – um nicht zu sagen: straffen – Zeitplan gesetzt hat. Das dezu penetrant den Satz wiederholt: „Die Welt wartet hatte immerhin zur Folge, dass jetzt ein erster vollständi- (B) nicht auf Europa.“ Dieser Satz hat seine Richtigkeit mit ger Vertragsentwurf vorliegt, der auf der Rechtsexper- (D) Blick auf die aufstrebenden Mächte in Ostasien, China tenebene gebilligt wurde. Ich denke, die Ergebnisse wur- und Indien, behalten. Die wirtschaftlichen und politi- den Ihnen in den letzten Tagen zugestellt. Dieser schen Gewichte in der Welt verschieben sich durchaus. Entwurf ist alles in allem kein Werk geworden – ich war Das macht deutlich, wie wichtig es war, dieses Eini- gestern auf der Buchmesse –, das für den Literaturnobel- gungswerk in Europa durchzusetzen. Rückblickend preis infrage kommt; aber das ist ein sorgfältig ausbalan- muss man sagen, dass diese Einigung ohne Alternative cierter Text, mit dem das politische Mandat vom Juni war. sehr korrekt umgesetzt wurde. Deshalb bin ich fürs Erste sehr zufrieden damit. Diese europäische Reform macht uns handlungsfähi- ger beim Klimaschutz, bei der Energieversorgung und Sie wissen, dass einige über das Mandat hinausge- beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus. All hende Wünsche haben. Wir werden diese Wünsche auf das erfordert ein Europa, das einig und geschlossen ist. dem nächsten Allgemeinen Rat der europäischen Außen- Dazu brauchen wir erneuerte Arbeitsgrundlagen, zumal minister in der kommenden Woche zu beraten haben. Ich wir jetzt ein Europa der 27 haben. kann nicht ausschließen, dass einiges davon das Treffen der Staats- und Regierungschefs erreichen wird. Deshalb Lassen Sie mich noch ein paar Punkte aufzählen, die sage ich: Wir sind zwar noch nicht am Ziel, aber so nahe ich zu den Fortschritten zähle: der – wenn ich so sagen dran wie jetzt waren wir im gesamten Prozess noch nie. darf – hauptamtliche Präsident des Europäischen Rates, Deshalb bin ich optimistisch, dass die Einigung gelingen wodurch mehr Kontinuität in der Zukunft gesichert wird; wird. die Aufwertung des Hohen Repräsentanten für Außen- und Sicherheitspolitik, was aus meiner Perspektive be- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- sonders wichtig ist; mehr und dadurch erleichterte Ab- wie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ stimmungen in den europäischen Gremien mit qualifi- DIE GRÜNEN]) zierter Mehrheit; die Einführung der doppelten Mehrheit und schließlich die Verkleinerung der Kommission. Das Wenn sie gelingt – damit komme ich zum Schluss –, sind fünf Punkte, über die Einigung erzielt wurde und sollten wir zusehen, dass die Verträge noch in diesem die aus meiner Sicht deutlich machen, wie wertvoll diese Jahr, und zwar vor Weihnachten unter portugiesischer Einigung tatsächlich war. Ratspräsidentschaft unterzeichnet werden, damit genü- gend Zeit bleibt, um das Ratifizierungsverfahren vor den Ich will nicht vergessen, dass auch die Rechte des Eu- Europawahlen 2009 durchzuführen. Ich würde mich sehr ropäischen Parlaments und die der nationalen Parla- freuen, wenn Deutschland mit einer raschen Ratifizie- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12205

Bundesminister Dr. Frank-Walter Steinmeier (A) rung modellhaft voranginge. Ich hoffe, das gelingt uns ßen und dazu kommen, dass wir in Europa wieder Poli- (C) gemeinsam. tik in der Substanz machen können Weniger an dieses Hohe Haus gerichtet als an manche (Beifall bei der FDP) europäische Nachbarn, die hinsichtlich Veränderungen am Text noch Erwartungen haben, sage ich: Wenn wir und dass wir beim Binnenmarkt vorwärtskommen. diese Chance in Europa verpassen, dann werden wir so Kollege Martin Zeil wird nachher noch einige Worte schnell keine neue bekommen. Aber eben weil das alle zum Binnenmarkt sagen. Ich sehe da ein großes Problem wissen, bin ich zuversichtlich, dass die Einigung gelingt. auf Europa zukommen; hier wird auf ein Kern-Asset der Herzlichen Dank. Europäischen Union verzichtet. Ich hoffe, dass wir in den Substanzen vorwärtskommen, zum Beispiel auch (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Außenminister, ich hatte eben ein Gespräch mit einem Kollegen aus Holland. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Das Wort hat der Kollege Markus Löning von der (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist im- FDP-Fraktion. mer gut!) (Beifall bei der FDP) Er sagte: Dass ihr Deutsche das Konzept der doppelten Mehrheit akzeptiert – ich glaube, es ist wichtig, dass das Markus Löning (FDP): hier im Deutschen Bundestag einmal gesagt wird –, ist Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kolle- ein außerordentlich großes Zugeständnis an eure polni- ginnen und Kollegen! Lassen Sie mich mit einem Lob schen Nachbarn; es ist eine Großherzigkeit, die wir in beginnen: Herr Steinmeier, der Bundesregierung ist es in Holland nur mit großen Problemen gegenüber unserer der Tat gelungen, einen europäischen Sack Flöhe zusam- eigenen Bevölkerung vertreten könnten. Ich glaube, dass menzubinden und zum Abschluss eines schwierigen Pro- es richtig und wichtig ist, dies gegenüber unseren polni- zesses entscheidend beizutragen. Dafür gebührt Ihnen schen Freunden zu betonen und zu sagen, dass die Bun- unser aller Lob. Das ist ganz ohne Zweifel so. desrepublik den Polen an vielen Stellen in den letzten Jahren mit großen Schritten entgegengekommen ist (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- (B) Ich glaube, der Umstand, dass sich diese Bundesregie- SES 90/DIE GRÜNEN) (D) rung an einer wesentlichen Stelle von ihrer Vorgänger- regierung unterscheidet, nämlich darin, dass Kanzlerin und dass wir von daher auch von unseren polnischen und Außenminister mit einer positiven Grundeinstellung Freunden erwarten, dass sie jetzt dabei helfen, dass gegenüber Europa aufgetreten sind, hat entscheidend Europa vorwärtskommt, und dass sie keine weiteren dazu beigetragen, dass Ihnen das gelungen ist. Das ist Steine in den Weg legen. ein deutlicher Unterschied zur Vorgängerregierung. Ich Europa sollte ohne Schwierigkeiten aus Polen vor- glaube, dass das die Einigung deutlich befördert und er- wärtskommen können. Diesen Wunsch gebe ich Ihnen leichtert hat. Insofern loben wir Sie an dieser Stelle und zum Gipfel mit. Ich hoffe, dass diese Botschaft auch in freuen uns, dass sich die Politik der Bundesregierung Warschau ankommt. Wir sind unter Schmerzen damit von der der Vorgängerregierung unterscheidet. einverstanden, dass Zugeständnisse gemacht werden. Wir werden uns nach Abschluss des Europäischen Aber wir erwarten dann auch Zugeständnisse von der an- Rates übernächste Woche anschauen, wie die Texte am deren Seite und den Willen, an einem gemeinsamen Ende des Tages tatsächlich aussehen. Wir werden es be- Europa zu arbeiten. Wir haben gar keine Alternative werten und auch an der Erklärung von Laeken messen. dazu, mit Polen unter dem europäischen Dach in Zu- Wurden die gesteckten Ziele erreicht? Bekommen wir kunft ernsthaft zusammenzuarbeiten. Wir profitieren da- mehr Demokratie in Europa? Bekommen wir mehr von, die Polen profitieren auch davon. Das muss endlich Transparenz in Europa? Es wird, so wie ich das aus jetzi- in vernünftige Bahnen gelenkt werden, damit wir in der ger Perspektive beurteilen kann, sicher ein eher ge- Substanz nach vorne kommen. mischtes Bild geben. Es gibt eine ganze Reihe von anderen Punkten, die Es gibt – zumindest laut der bisher vorliegenden Eini- wir unterstützen und über die wir uns freuen. Das heißt, gungen – ohne Zweifel eine Reihe von Themen, bei de- wenn das nächste Europäische Parlament den Kommis- nen die Europäische Union mit diesem Vertrag vorwärts- sionspräsidenten wählen wird, dann stellt sich auch an kommen würde. Es gibt aber durchaus auch eine Reihe uns als Parteien und als europäische Parteifamilien die von Themen, bei denen wir nicht vorwärtskommen. Es Frage: Wie wollen wir den Europawahlkampf 2009 füh- gibt auch eine Reihe von Themen, bei denen es gut ist, ren? Werden wir die Parteien weiter nach vorne stellen? dass das Geplänkel darüber endlich einmal abgeschlos- Werden wir in den europäischen Parteifamilien enger zu- sen wird. Auch dazu haben Sie ein wahres Wort gesagt: sammenrücken und auch im Europawahlkampf klarer Die Welt wartet nicht auf Europa. Es wird Zeit, dass wir politische Wahlkämpfe führen, oder werden wir es wie unsere internen Organisationsdebatten endlich abschlie- bisher handhaben, dass sehr viel nationale Politik und 12206 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Markus Löning (A) sehr wenig gemeinsame europäische Politik gemacht wusste, wie es mit diesem Europa weitergehen sollte. (C) wird? Hier war es tatsächlich der Erfolg der Bundesregierung unter Angela Merkel und unter Ihnen, Herr Außenminis- Lassen Sie mich, Herr Steinmeier, zum Schluss auch ter Steinmeier, die den gordischen Knoten mit der „Ber- einmal Herrn Juncker zum Thema Grundrechtecharta zi- liner Erklärung“ und einem vertrauensbildenden Prozess tieren. Herr Juncker ist jemand, den man in europapoliti- durchschlug, an dessen Ende ein sehr ausgeformtes schen Debatten in Deutschland immer gut zitieren kann. Mandat stand, das es umzusetzen galt. Mir hat er etwas über den Verfassungsvertrag und über die Debatte über die Grundrechtecharta erzählt. Er sagte (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) mir: Wir Europäer missionieren in der Welt für Grund- Trotz allem anderen, was wir in diesen Vertrag auf- rechte und für Menschenrechte, und dann sind wir nicht nehmen wollten, ist doch die Substanz dieses Vertrages in der Lage, uns selbst auf eine rechtsverbindliche – dieser Verfassung, die wir ursprünglich wollten – ge- Grundrechtecharta zu einigen; das ist doch lächerlich. wahrt worden. Sicherlich ist nicht zu unterschätzen, dass Wo der Mann recht hat, hat er recht. Es ist eine Schande, hier Symbole wie eine Fahne, eine Hymne und eine Prä- dass wir bei der Rechtsverbindlichkeit nicht weiterge- ambel fehlen – Letztere ist gewissermaßen ein Werteka- kommen sind. non innerhalb der Europäischen Union –; denn genau (Beifall bei der FDP) diese identitätsstiftenden Merkmale hätten dazu geführt, dass sich die Bürger in dieser Verfassung stärker hätten Ganz zum Schluss: Herr Steinmeier, Sie haben dem wiederfinden können. Dazu ist es nun leider nicht ge- Parlament nichts im Vorgriff zugestanden. Das Parla- kommen. Aber wir dürfen den Erfolg jetzt nicht kleinre- ment hat über seine beiden Mehrheitsfraktionen seine den; denn Europa hat seine Handlungsfähigkeit zurück- Rechte bei der Erteilung des Mandates nicht wahrge- gewonnen. nommen. So herum wird ein Schuh daraus. Das ist besonders wichtig vor dem Hintergrund, dass (Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem wir bislang auf der Grundlage des Vertrages von Nizza BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) standen, eigentlich auf einem institutionellen Europa der Das Parlament hat seit der ersten Hälfte der 90er-Jahre Zwölf, obwohl wir doch mittlerweile 27 geworden sind nach Art. 23 Grundgesetz das Recht, bei der europäischen und in absehbarer Zeit mit Kroatien 28 Mitgliedstaaten Gesetzgebung und der Erneuerung von Verträgen mitzu- sein werden. Die Kinderschuhe konnten jetzt also in der wirken. Es hat seitdem diese Rechte niemals umgesetzt. Ecke stehen gelassen werden. Wir haben jetzt einen in- Seit einem Jahr gibt es eine Vereinbarung, und diese Ver- stitutionellen Rahmen, mit dem wir auf das Europa von einbarung muss endlich mit Leben erfüllt werden. Ich heute und insbesondere auf die Herausforderungen des (B) weiß, dass es nicht an Ihnen liegt. Wir sind sogar von Ih- Europas von morgen reagieren können. (D) rem Kollegen aus dem Wirtschaftsressort aufgefordert Nur schlagwortartig möchte ich dies belichten: Wir worden, endlich unsere Rechte wahrzunehmen. Ich weiß, haben die Einführung eines Mehrheitsprinzips auf brei- dass es bei den Damen und Herren der Mehrheitsfraktio- ter Front und eben nicht mehr die Blockademöglichkei- nen liegt. ten mit einem Einstimmigkeitsprinzip. In diesen Kontext (Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Un- passt die Forderung Polens mit ihrer Ioannina-Klausel wahrheit, Herr Löning! Das wissen Sie!) überhaupt nicht hinein, weil man damit gerade jene Blo- ckaden aufrechterhalten will, die dieser Vertrag überwin- Ich wünsche mir, dass Sie mit Ihrer Fraktion reden und den soll. sie auffordern, die Rechte endlich wahrzunehmen. Kollege Löning, wir brauchen gar nicht mehr bis zum Vielen Dank. Gipfel zu warten. Morgen wird Herr Kaczynski nach (Beifall bei der FDP – Axel Schäfer [Bochum] Berlin kommen. Dies ist eine gute Gelegenheit für die [SPD]: Wer die Wahrheit kennt und die Un- Bundesregierung, bereits in diesem Gespräch, das Frau wahrheit sagt, der ist ein …!) Merkel führen wird, wenn ich richtig informiert bin, da- rauf hinzuweisen und für eine Bewegung in dieser Frage Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Werbung zu betreiben. Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum von der (Beifall bei der CDU/CSU) CDU/CSU-Fraktion. Dass die Grundrechtecharta verbindlich ist, ist ein (Beifall bei der CDU/CSU) weiterer Vorteil für die Bürger. Denn Grundrechte sind zunächst einmal Abwehrrechte des Bürgers gegenüber Gunther Krichbaum (CDU/CSU): dem Staat. Ich hätte mir gewünscht, dass die Diskussion Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei in Großbritannien vor diesem Hintergrund geführt wor- allem, was wir heute kritisieren, sollten wir auch einmal den wäre. Denn ich weiß nicht, ob eine Regierung, die den Blick zurück richten. Es ist etwas mehr als zwei dem Bürger plötzlich seine Abwehrrechte vorenthalten Jahre her, dass in europäischen Nachbarländern – in möchte, gut dasteht. Frankreich und in den Niederlanden – die europäische (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Verfassung in zwei Referenden abgelehnt worden ist. Danach verordnete sich Europa eine Denkpause, die in Aber das müssen die Menschen in Großbritannien ent- Wahrheit aber eine Phase der Ratlosigkeit war. Niemand scheiden. Ich denke, hier sind wir entscheidend vorange- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12207

Gunther Krichbaum (A) kommen. Außerdem hat der Deutsche Bundestag nun nach wie vor insgesamt zu wenig. Wenn wir die Ziele (C) mehr Rechte. Allerdings müssen wir unseren neuen der Lissabon-Strategie weiterhin ernst nehmen wollen, Möglichkeiten auch gerecht werden. dann müssen wir uns hier viel mehr engagieren. Herr Kollege Löning hat richtigerweise die Zusam- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) menarbeitsvereinbarung zwischen dem Bundestag und der Bundesregierung angesprochen. Aber wir müssen Das gilt auch für andere Themengebiete, zum Bei- den Kontrollmöglichkeiten und -pflichten, die unser na- spiel für den Klimawandel. Der Klimawandel verunsi- tionales Parlament in der Europapolitik jetzt hat, nach- chert die Bürger. Insbesondere in Afrika führt er dazu, kommen können. Wir fordern die Bundesregierung auf, dass Menschen ihre Lebensgrundlagen verlieren, weil sich dafür einzusetzen, dass die Texte auf europäischer ihr Land keine Früchte mehr liefert. Durch den Klima- Ebene auch in deutscher Sprache vorgelegt werden. wandel werden sie in die Flucht getrieben. Der dadurch Deutsch, Französisch und Englisch sind gleichberech- entstehende Migrationsdruck, der auch in Europa spür- tigte Sprachen. Wir möchten an dieser Stelle keine Bes- bar wird, stellt uns dann vor Fragen der inneren und äu- serbehandlung, sondern eine Gleichbehandlung. Herr ßeren Sicherheit. Diese Zusammenhänge sind nicht vom Außenminister, wir fordern Sie auf, alles Erdenkliche zu Tisch zu wischen. Auf diese Fragen kann Europa insge- tun, damit die Fortschrittsberichte am 7. November die- samt eine bessere und glaubwürdigere Antwort liefern, ses Jahres auch in deutscher Sprache vorgelegt werden, als wenn das jeder einzelne Mitgliedstaat für sich ge- nommen tut. Ich denke, hier besteht noch sehr viel Po- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- tenzial. An dieser Stelle müssen wir deutlich mehr tun neten der SPD) als in der Vergangenheit. wonach es im Augenblick aber leider nicht aussieht. Da ich gerade über die identitätsstiftenden Politikbe- In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das reiche spreche, die uns zusammenführen können, möchte keine Sonderposition Deutschlands ist. Deutsch ist die ich auf die auswärtige Kulturpolitik zu sprechen kom- Muttersprache von über 90 Millionen Menschen und hat men; hier schaue ich insbesondere den Kollegen Steffen insbesondere in Osteuropa und in den neuen EU-Bei- Reiche an. Wir können in Europa in diesem Bereich noch trittsstaaten als erste Fremdsprache eine große Bedeu- deutlich mehr tun. Denn Europa ist immer nur so gut, wie tung. es von den Menschen gelebt wird, wie es die Menschen zusammenführt. Wir können festhalten: Mit diesem Reformvertrag ha- ben wir eine Gebrauchsanweisung für Europa bekom- Allen Unkenrufen, was das deutsch-polnische Ver- men. Europa ist demokratischer und transparenter ge- hältnis angeht, zum Trotz muss man sagen: In den Zivil- (B) worden. Ich glaube, wir sollten genau das festhalten, und gesellschaften funktioniert es doch prima. Wir haben (D) zwar ungeachtet aller Steine, die auf diesem Weg noch 600 Städtepartnerschaften. Wir haben ein Deutsch-Pol- vor uns liegen. Ich bin zuversichtlich, dass wir diese nisches Jugendwerk, von dem ich mir persönlich wün- Steine mit viel gutem Willen aus dem Weg räumen kön- sche, dass es von beiden Staaten wirksamer unterstützt nen. wird als gerade in den letzten Monaten. Hier tut sich sehr viel. Deswegen müssen wir immer fein differenzieren Lassen Sie mich noch auf einen zweiten Aspekt zu zwischen der polnischen Regierung und der polnischen sprechen kommen: auf die Akzeptanz Europas. Europa Bevölkerung. ist immer nur so gut, wie es in der Lage ist, auf die Kern- fragen seiner Bürger Antworten zu geben. Europa muss (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der auf die veränderten Herausforderungen in der Welt, die SPD und der FDP) sich angesichts der Globalisierung stellen, reagieren. Jüngst hat Bundespräsident Köhler in seiner Berliner Wie gesagt, alles, was die Menschen zusammenführt, Rede auf die Chancen der Globalisierung hingewiesen, wird gut sein für Europa. Letztlich ist das Europa, das zu Recht aber auch unterstrichen, dass viele Menschen wir heute gestalten, das Europa für unsere Kinder, mit der Globalisierung mit großer Sorge und mit Ängsten viel mehr Chancen, als wir sie in der Vergangenheit je begegnen. Europa muss seine Wettbewerbskraft stärken; hatten, mit allen Möglichkeiten für einen großen Wohl- denn wir konkurrieren mit den USA und mit den Län- stand, mit einer Friedenssicherung, mit der Sicherung dern in Fernost. Deswegen ist es wichtig, dass wir unsere von Demokratie und Freiheit – Werten, die bei uns Ressourcen und Möglichkeiten bündeln. manchmal leider allzu selbstverständlich geworden sind, um die wir aber weltweit beneidet werden. Beispiel Forschungspolitik. Wir werden in Europa immer nur so erfolgreich sein, wie wir innovativer als Vielen Dank. andere Regionen in der Welt sind; denn Arbeitsplätze werden durch Innovationen geschaffen. In der For- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- schungspolitik ist es mit Sicherheit sinnvoller, dass wir neten der SPD) unsere Anstrengungen im Rahmen von Großforschungs- vorhaben viel stärker als in der Vergangenheit koordinie- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: ren, als dass 27 Länder jeweils ihr eigenes Süppchen ko- Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Diether Dehm von chen. Erst heute Morgen hat Herr Minister Müntefering der Fraktion Die Linke. zu Recht darauf hingewiesen, dass der Schlüssel in der Bildung liegt. In Europa tun wir im Bildungsbereich (Beifall bei der LINKEN) 12208 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militäri- (C) Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle- schen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. gen! Seit dem vorigen Freitag liegt uns der Entwurf eines Die militärischen Fähigkeiten, die verbessert werden EU-Reformvertrages vor. Auf dem informellen Gipfel- sollen, dienen der Durchführung von Missionen, auch treffen der Staats- und Regierungschefs am 18./19. Okto- außerhalb der Union. Mitgliedstaaten, die – so heißt es – ber, also in einer Woche, soll über ihn eine politische „anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militäri- Einigung erzielt werden. Da ist es müßig, heute über das schen Fähigkeiten erfüllen“, können „eine Ständige Verhandlungsmandat vom 23. Juni zu diskutieren; das Stukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union“ hat sich erledigt. bilden. Die Bundesregierung hat seit Juni grob gegen die mit dem Bundestag geschlossene Unterrichtungsvereinba- Im Protokoll Nr. 4 zum Vertrag wird das weiter kon- rung verstoßen und führt auch die Bürger hinters Licht. kretisiert: Bis 2010 sind Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen – Herr Löning, bewaffnete Einheiten bereitzustellen, die auf die in so wird ein Schuh daraus – lassen das mit sich machen. Aussicht genommenen Missionen ausgerichtet sind, Allein die Form der Vertragsentwurfs ist eine Zumu- taktisch als Gefechtsverband konzipiert … und fä- tung. Es ist ein reiner Änderungsvertrag, der ohne die hig sind, innerhalb von 5 bis 30 Tagen Missionen anderen Verträge gar nicht zu verstehen ist. Selbst inte- … aufzunehmen. ressierteste Bürger können sich da nicht hindurchfinden, Um die bewaffneten Einheiten zu ermöglichen, soll nach solange sie nicht links den Vertrag von Nizza und rechts dem genannten Art. 27 die in Verteidigungsagentur um- davon den gescheiterten Verfassungstext legen. Das ist getaufte Rüstungsagentur „Maßnahmen zur Stärkung der keine Aufklärung, das ist ein Puzzle. Wer das so eingefä- industriellen und technologischen Basis des Verteidi- delt hat, scheut das eigene Volk und die Volksabstim- gungssektors“ unterstützen bzw. selbst durchführen. Das mung wie der Teufel das Weihwasser; er scheut jegliche alles bedeutet weltweite Militärinterventionen nach au- lebendige Bürgerbeteiligung. ßen und Militarisierung von Wirtschaft und Gesellschaft Hier verstehe ich besonders die FDP und die Grünen nach innen. nicht. Sie versuchen, sich als Bürgerrechtsparteien dar- (Widerspruch bei der CDU/CSU) zustellen, vorzugsweise wenn es um ferne Länder geht. Wenn hier eingewendet wird, das sei nicht neu, das (Markus Löning [FDP]: Sie sind immer nur Bür- habe schon im gescheiterten Verfassungsvertrag gestan- gerrechtspartei, wenn es um Kuba geht!) den, dann antworte ich: Das ist nicht neu. Deswegen ha- (B) Aber wenn wir das Grundgesetz ergänzen wollen, damit ben wir den Verfassungsvertrag auch abgelehnt, und des- (D) wir über den wichtigsten EU-Vertrag eine Volksabstim- wegen lehnen wir den jetzigen Vertragsentwurf ebenfalls mung durchführen können, wie es einer Verfassung und ab. einer lebendigen Bürgerbeteiligung zukommt, schlagen (Beifall bei der LINKEN – Kurt Bodewig Sie die Hände über dem Kopf zusammen. [SPD]: Sie werden auch den nächsten ableh- Was mir aber die Schuhe ausgezogen hat – vielleicht nen!) ging es Ihnen auch so, Herr Löning –, war, als gestern im – Gestalten Sie ihn nach dem Sozialstaatsprinzip und EU-Ausschuss Elmar Brok auf meine Frage nach der entsprechend dem Angriffskriegsverbot des Grundgeset- Verwirrtechnik mit dem Reformvertrag sinngemäß ge- zes. Sie werden sehen, dass wir ihn dann nicht ablehnen. antwortet hat: Da müsse man halt sarkastisch werden und nach den gescheiterten Volksabstimmungen in (Beifall bei der LINKEN) Frankreich und in den Niederlanden „Transparenz he- Die Militarisierung ist ein wesentlicher Grund für die rausnehmen“. Wer es nicht glaubt, möge das im Wort- Ablehnung des Vertragsentwurfs, die Ausrichtung auf protokoll nachlesen, Herr Bodewig. einen marktradikalen Neoliberalismus ein anderer. (Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es gibt kein Auch bei Verfassungsfragen zählt das Kleingedruckte Wortprotokoll! – Kurt Bodewig [SPD]: Das ist besonders viel. Gegenüber unserer Kritik wird ange- eine Verdrehung! – Gegenruf des Abg. Markus führt, in Art. 3 des geänderten EU-Vertrages solle doch Löning [FDP]: Deswegen verweist er ja da- ein Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft stehen. Ich rauf!) weise darauf hin, dass hier von einer „wettbewerbsfähi- – Ich habe es aber mitgeschrieben. Das ist mit das Zy- gen sozialen Marktwirtschaft“ die Rede ist, der Wettbe- nischste, was ich in diesem Haus seit zwei Jahren gehört werb dem Sozialen also vorangestellt wurde. habe: „Transparenz herausnehmen“ – lesen Sie das Im Übrigen ist im Vertrag über die Arbeitsweise der nach! –, weil die Volksabstimmungen in Frankreich und EU – dort, wo es praktisch wird – immer nur von einer in den Niederlanden gescheitert sind. „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ die Ich denke, Herr Brok hat guten Grund, „Transparenz Rede. Dieser Wettbewerb ist ein race to the bottom, zu herauszunehmen“. Der Vertragsentwurf enthält in den niedrigsten zivilisatorischen Standards, ein Wettlauf Art. 27 des geänderten EU-Vertrages wieder das Aufrüs- hin zum Billiglohn und in das Steuerdumping. Es ist ein tungsgebot des gescheiterten Verfassungsvertrages. Weglauf der Konzerne vor der grundgesetzlichen Sozial- Wörtlich heißt es: bindung des Eigentums. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12209

Dr. Diether Dehm (A) (Markus Löning [FDP]: Das haben Sie desregierung hat mir gestern im EU-Ausschuss entgeg- (C) 30 Jahre erlebt! Das ist doch billigste Demago- net, es würde keine Sozialstaatlichkeit im Reformvertrag gie!) stehen, weil die EU kein Staat sei. Warum steht denn dann die Rechtsstaatlichkeit, aber nicht die Sozialstaat- Wenn die Deutsche Bank, die Stromkonzerne, Heu- lichkeit darin? schrecken oder die Rüstungsimporteure von Wettbewerb reden, wer denkt dabei an einen sportlich fairen Wettbe- (Beifall bei der LINKEN) werb? Was denken dabei die Arbeiter bei VW, denen die EU ihr Werk noch DAX-förmiger zurechthauen will? Wenn Befugnisse, hoheitlich tätig zu werden, auf die EU Was denken die vielen Hundert in Salzgitter, die bei un- übertragen werden, dann kann damit keine Freistellung verfälschtem Wettbewerb wegrationalisiert werden sol- von der Bindung an den Grundsatz der Sozialstaatlich- len? Was denken die Menschen in Osnabrück, wo das keit verbunden sein. Landeskrankenhaus durch Privatisierung wettbewerbsfä- (Beifall bei der LINKEN) higer gemacht, aber alles teurer, schlechter und unwirt- schaftlicher wurde? Was denken die Studierenden in Wer das zulässt, verhält sich verfassungsfeindlich. Hin- Hamburg, Hannover, Frankfurt und Göttingen, die bei ter dem Rücken der Menschen, gegen ihre sozialen diesem Wettbewerb der Hochschulen mittlerweile einen Ängste und gegen demokratische Mehrheiten gibt es Fulltimejob brauchen, um ihren Studienplatz zu finan- keine lebendige und keine vertiefte EU. Was Sie mit zieren? dem Reformvertrag betreiben, ist keine Integration, son- dern bürokratisches Aneinanderhauen und Zusammen- (Martin Zeil [FDP]: Was hat das mit Europa zu tricksen bei gleichzeitiger Vertiefung der sozialen Grä- tun?) ben. Damit fahren Sie die EU gegen die Wand. Was denkt der Landwirt im Zusammenhang mit dem Darum können wir allen Ihren Anträgen nicht zustim- Atomlager Gorleben in Lüchow-Dannenberg, wenn die men. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Vertrags- EU den Wettbewerb hier plötzlich verfälscht und einsei- entwurf nicht zu unterschreiben und stattdessen eine tig weiterhin und stärker in die Atomforschung inves- transparente Verfassung anzustreben, deren Ausrichtung tiert? demokratisch, freiheitlich, sozial und friedenssichernd ist, damit das Volk nicht mehr Angst haben muss vor der (Martin Zeil [FDP]: In der Schule hätte man EU und Sie nicht mehr vor dem eigenen Volk. früher „Thema verfehlt“ gesagt!) Ich danke Ihnen. Was fällt zum Wettbewerb ein, wenn in Oldenburg Mit- (B) arbeitern in den Großfleischereien mithilfe des EU-For- (Beifall bei der LINKEN) (D) mulars E 101 der Sozialversicherungsschutz weggenom- men wird? Was empfindet schließlich der Besitzer einer Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dönerbude in Braunschweig, die Neonazis abgefackelt Ich gebe das Wort dem Kollegen Rainder Steenblock, haben, wenn Staat und Gesellschaft sagen, wir können Bündnis 90/Die Grünen. dir nicht helfen, wir wollen den Wettbewerb doch nicht verfälschen? Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Kurt Bodewig [SPD]: Bei allem Respekt: Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ist der größte Unsinn!) Man ist wieder einmal geneigt, hier eine Lehrstunde in Der Begriff „unverfälschter Wettbewerb“ ist zwar politischer Strategie folgen zu lassen. Aber ich will nur nicht mehr im unmittelbaren Vertragstext des geänderten einen Satz dazu sagen: Wir sind uns, glaube ich, alle ei- EU-Vertrages enthalten, versteckt, aber nicht weniger nig, dass der jetzt vorliegende Reformvertragsentwurf verbindlich, findet er sich jetzt im Protokoll Nr. 4: Zu schlechter ist als das, was alle in diesem Haus gemein- dem Binnenmarkt, wie er in Art. 3 des Vertrages be- sam wollten. Denn von wenigen Ausnahmen abgesehen schrieben werde, gehöre ein „System, das den Wettbe- wollten alle in diesem Haus einen transparenten, ge- werb vor Verfälschungen schützt“. schlossenen Verfassungsvertragsentwurf. Wir haben das alle unterstützt. Ach ja: Wo bleibt übrigens das von Frau Merkel ver- sprochene Protokoll zur sozialen Dimension der EU? Lieber Kollege Dehm, es stellt sich doch die Frage, Durch das Grundgesetz werden wir alle an drei elemen- ob man nicht mit der Zustimmung zu einem Kompro- tare Grundwerte gebunden: Demokratie, Sozialstaatlich- miss, bei dem einem nicht alles passt, letztendlich mehr keit und Rechtsstaatlichkeit. Keine Mehrheit, nicht ein- erreichen kann, als wenn man durch Fundamentaloppo- mal eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag darf daran sition einen politischen Prozess kippt und am Ende – so rütteln. Die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 des wie jetzt – einen intransparenten Vertrag hat, der noch Grundgesetzes ist davor. Das gilt für staatliche Maßnah- unbefriedigender ist. Deshalb glaube ich, dass Die Linke men hier in Deutschland, aber auch für die Abtretung schlecht beraten ist und beraten war, mit anderen in von entsprechenden Befugnissen an die EU. Europa den Verfassungsvertrag zu bekämpfen und damit zu dem beizutragen, was wir jetzt haben. Das war nicht Als Werte, auf denen sich die EU gründen soll, stehen unser Wunsch und es war nicht unsere Intention. Wir in Art. 2 des Vertrages aber plötzlich nur Demokratie wollten einen transparenten Verfassungsvertrag haben, und Rechtsstaatlichkeit. Ein cleverer Kopf aus der Bun- und dazu stehen wir. 12210 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Rainder Steenblock (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wettbewerb sind, in denen wir übereinstimmen. Aber (C) bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – die Art und Weise – Barroso hat das, wie ich finde, zu Zuruf von der LINKEN) Recht kritisiert –, wie von Deutschland bzw. von Frank- reich aus in der Energiepolitik statt einer Öffnung die Aber, lieber Kollege Diether Dehm, ich stimme Ihrer Abschottung der Energiemärkte betrieben wird, ist kon- Kritik am Verfahren und am vorliegenden Antrag der traproduktiv für die wettbewerbsorientierte Energiepoli- Koalition völlig zu. Ich finde diesen Antrag in der Sache tik, die wir brauchen. – gemessen an dem Anlass, dass wir dieses Vertragswerk hier würdigen sollen – ausgesprochen peinlich. Das, was (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN darin steht, ist in der Sache peinlich. Mit diesem Antrag und bei der FDP) will man – das kritisieren wir massiv – zu einem extrem späten Zeitpunkt, zu dem – Herr Kollege Dehm und Herr Es ist kontraproduktiv, dass wir nicht in der Lage sind, Kollege Löning haben das auch gesagt – die Verhandlun- zumindest im Bereich der Versorgungspipelines eine gen praktisch abgeschlossen sind, ein Mandat erteilen. gemeinsame Energieaußenpolitik zu betreiben. Dass Das ist absurd. Russland bilateral die einzelnen europäischen Länder abgreift, kann nicht im Interesse der Europäischen Zudem ist dieses Mandat nicht mit politischen Vorga- Union sein. Deutschland spielt in dieser Debatte keine ben ausgestattet. Die einzige politische Vorgabe ist, dass produktive Rolle. Wir haben viel Engagement aufge- die Regierung ein Mandat bekommt und uns am Ende ei- bracht. Aber derzeit habe ich das Gefühl, dass uns alle nes Verhandlungsprozesses immer berichten soll, was anderen – die Briten, Barroso oder Sarkozy – in der eu- sie tut. Es wird nicht gesagt, wofür man eigentlich steht ropapolitischen Debatte davonlaufen, und wir bilden und was die Regierung verhandeln soll. Damit ist die gegenwärtig das Schlusslicht. parlamentarische Vertretung in diesem Lande in einer Si- tuation, in der man sich überlegen muss, ob die Regie- Ich würde mich freuen, wenn Herr Steinmeier und rung dieses Parlament eigentlich nur braucht, um Be- Frau Merkel gemeinsam das Engagement aus der Zeit richte zu erstatten. Das Parlament muss die Ziele und die der Ratspräsidentschaft – Inhalte der Politik vorgeben. Das gilt auch für Europa. Deshalb finde ich diesen Antrag schlecht, und wir wer- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den ihm auch nicht zustimmen. Herr Kollege! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): LINKEN) – mein letzter Satz – wiederbeleben und in diesem (B) (D) Wir haben die Verhandlungsposition der Bundesre- Hause wieder verstärkt europäische Themen ansprechen gierung in allen Verhandlungsphasen immer unterstützt – das gilt besonders für die Ostpolitik, einen Schwer- und glauben, dass die Bundesregierung viel dazu beige- punkt ihrer Präsidentschaft, der ein bisschen ins Leere tragen hat, dass jetzt etwas dabei herauskommt, was un- gelaufen ist –, Ziele vorgeben und diese auf der europäi- ter den gegebenen Bedingungen in der Sache positiv ist. schen Bühne verwirklichen würden. Das ist ein Wunsch, Was mir allerdings Sorgen macht, ist die Frage, wo die der über die Verfassung hinausgeht, und es ist auch et- Bundesregierung zurzeit im europäischen Konzert spielt. was, was im deutschen Interesse liegt. Man muss sich zum Beispiel nur anschauen, wie der bri- Vielen Dank. tische Untersuchungsausschuss massive Kritik an der Verhandlungsführung der Bundesregierung übt. Wir ha- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben das auch immer getan. Der Europaausschuss sagt sehr deutlich, dass diese Form von Geheimdiplomatie, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: die wir an vielen Stellen kritisiert haben, dazu führt, dass Das Wort hat der Kollege Michael Roth, SPD-Frak- die Debatte über diesen Vertragsentwurf nicht mehr ver- tion. nünftig zu führen ist. Dann ist die Frage nicht mehr, ob der Entwurf richtig (Beifall bei der SPD) oder falsch ist; diese Form von Geheimdiplomatie führt vielmehr dazu, dass das Thema populistisch ausgenutzt Michael Roth (Heringen) (SPD): werden kann und eine vernünftige Debatte über den Ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! trag und die Politik nicht mehr möglich ist. Deswegen Herr Bundesaußenminister, Sie haben völlig recht: In verlangen wir eine transparente Debatte von Anfang an. den vergangenen Jahren haben sich trotz erheblicher Das sollte die Lehre daraus sein. Auch wenn wir in der Schwierigkeiten auf der europäischen Ebene die Pessi- Sache nicht auseinander sind: Das Verfahren war misten, Blockierer und Verweigerer nicht durchgesetzt. schlecht. Das ist sicherlich auch ein Verdienst der Europapoliti- kerinnen und Europapolitiker der hier vertretenen Frak- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tionen. Denn wir haben immer wieder deutlich gemacht: sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Europa ist nicht allein die Angelegenheit von Diploma- Wir haben von Herrn Krichbaum und anderen gehört, ten, Beamten und Exekutivvertretern; europapolitische wie wichtig Zielsetzungen in der Energiepolitik oder in Debatten gehören in die Mitte des Bundestages. Deswe- Bezug auf Europa als Handlungspartner im globalen gen ist es gut, dass wir heute diese Diskussion führen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12211

Michael Roth (Heringen) (A) Dennoch bleibt bei all dem Positiven, über das wir rung konkret zu interpretieren haben. Es war doch ein (C) uns heute schon verständigt haben, ein bitterer Beige- gutes Zeichen, dass zumindest die Europapolitiker in al- schmack; denn es ist immer noch zu konstatieren, dass len Fraktionen der einhelligen Meinung waren, dass die das gemeinsame Fundament an politischen Überzeugun- Bundesregierung vor einem Beschluss über die Auf- gen in der Europäischen Union brüchiger geworden ist. nahme der Arbeit einer Regierungskonferenz den Bun- destag um das Einvernehmen ersuchen muss. Es ist nicht Das sollte uns aber nicht veranlassen, den Kopf in den so gelaufen, wie wir uns das vorgestellt haben. Mein Sand zu stecken. Ich rate vielmehr dazu, einmal den Kollege Schäfer hat sehr frühzeitig auch öffentlich da- Blick von außen auf die Europäische Union zu richten. rauf hingewiesen, dass es nicht an uns gescheitert ist, Das ist auch mein Appell an den Kollegen Dehm. Viel- sondern dass es offensichtlich in der Fraktionsspitze un- leicht sollten Sie, statt nur nach Kuba zu fahren und dort seres Koalitionspartners noch Diskussionsbedarf gab; die Unfreiheit zu loben, das ist nun einmal so. Wir lernen daraus und machen in (Zuruf von der SPD: Sehr wahr!) unserem fraktionsübergreifenden Antrag noch einmal deutlich, dass der Bundestag am gesamten Verfahren an- auch die Länder besuchen, die voller Bewunderung den gemessen beteiligt wird. europäischen Integrationsprozess verfolgen. Die haben eine ganz andere Vorstellung von Europa als die, die Sie Wir müssen in den nächsten Jahren darauf achten, uns eben einzureden versucht haben. dass wir die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bun- desregierung parlamentsfreundlich interpretieren; daran (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- besteht gar kein Zweifel. Die Signale, die bisher von der wie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ Bundesregierung ausgegangen sind, stimmen mich au- DIE GRÜNEN) ßerordentlich optimistisch, dass uns das auch gelingen Europa wird doch nicht als großer Aufrüster wahrge- wird. nommen, der unilateral seine Interessen durchzusetzen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) versucht. Wir werden doch nicht als großer Umweltzer- störer und diejenigen wahrgenommen, die Unfreiheit Denn die Bundesregierung hat in den Verhandlungen und Ungerechtigkeit zementieren. Ganz im Gegenteil: die Position des Deutschen Bundestages Wort für Wort Das Modell Europa steht doch gerade dafür, dass wir umzusetzen versucht. Dass das natürlich in einer EU wirtschaftliches Wachstum mit sozialer Stabilität und der 27 nicht so einfach ist, dürfte zumindest den Prag- ökologischer Nachhaltigkeit verknüpfen. Wir haben matikern und denjenigen, die einmal Koalitionsver- zwar auch Lernbedarf und müssen noch besser werden, handlungen – sei es im AStA, sei es woanders – geführt es kann aber nicht angehen, dass sich hier Links- und haben, klar sein. (B) Rechtspopulisten treffen, einseitig auf Europa eindre- (D) schen und gar nicht merken, welchen Schaden sie uns al- Ich will noch einige wenige inhaltliche Bemerkungen len damit zufügen. zu dem vorliegenden Entwurf des Reformvertrages ma- chen und dabei zunächst den Rechtsexperten danken. Wir (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der mussten diesen Weg beschreiten, um das Mandat, auf das CDU/CSU und des Abg. Martin Zeil [FDP]) sich der Junigipfel glücklicherweise verständigt hat, weit- gehend zu retten. Es strotzt sicherlich nicht gerade vor Wir brauchen nicht ein schwächeres, sondern ein stärke- parlamentarischer Beteiligung. Aber wir alle wussten, res Europa. dass vor dem Hintergrund der erheblichen Auseinander- Selbstverständlich ist es legitim, europäische Ent- setzungen zwischen den Staats- und Regierungschefs scheidungen gegebenenfalls zu kritisieren, wie wir es nicht mehr drin war und dass es ein großer Erfolg der immer wieder getan haben. Uns haben manche Geset- deutschen Ratspräsidentschaft war, zumindest ein eng zesinitiativen, die die Europäische Kommission in den umfasstes Mandat erreicht zu haben, das nun von Rechts- vergangenen Jahren auf den Weg gebracht hat, nicht ge- experten weitgehend umgesetzt wurde. schmeckt. Aber wir haben Einfluss zu nehmen versucht. Wir haben uns an dem Gesetzgebungsprozess aktiv be- Es gibt noch einige wenige offene Fragen. Diese soll- teiligt. Davon lebt die europäische Demokratie. Bei aller ten im Sinne des Reformvertrages geklärt werden. Des- Kritik an dem Verfassungsvertrag bzw. dem jetzigen Re- halb ein klares Nein an die Forderungen vor allem der formvertrag sind wir in vielen Bereichen ein gutes Stück polnischen Seite! Die Ioannina-Regelung sollte – sie ist vorangekommen. in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt – das blei- ben, was sie ist: ein Gentlemen’s Agreement. Es bedeu- Offensichtlich muss ich noch ein paar Fakten nennen; tet, dass man sich im Rat auch bei den Entscheidungen, denn ich kann es nicht hinnehmen, dass im Hinblick auf die mit Mehrheit getroffen werden, um eine möglichst das Verfahren alles in einen Topf geworfen wird. Wir, breite Zustimmung bemüht. Das ist der Versuch, euro- die Kolleginnen und Kollegen aus meiner Fraktion, hal- päische Entscheidungen auf ein breites Legitimations- ten das eingeschlagene Verfahren für verbesserungswür- fundament zu stellen. Aber es sollte nicht auch noch in dig; das ist klar. den Reformvertrag aufgenommen werden. Dort steht schon – das gebe ich zu – die eine oder andere Abstrusi- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten tät drin. Selbstverständlich ist der Reformvertrag in den der CDU/CSU) vergangenen Monaten nicht transparenter geworden. Es hat eine längere Diskussion darüber gegeben, wie wir Wenn wir aber Bilanz ziehen, stellen wir fest – das will die Vereinbarung zwischen Bundestag und Bundesregie- ich unterstreichen –, dass das Ergebnis auch für die 12212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Michael Roth (Heringen) (A) Freundinnen und Freunde eines vereinten sowie demo- jetzt vorliegt, Defizite auf, die wir in unserem Antrag be- (C) kratisch und sozial verfassten Europas akzeptabel ist. nannt haben. Wir wissen auch, dass er noch längst nicht Deswegen können wir zustimmen. in trockenen Tüchern ist. Deswegen möchte ich die Bun- desregierung von uns aus eindringlich bitten, in der Natürlich sehe ich mit Sorge, dass die Opt-outs und nächsten Woche, wenn der informelle Rat zusammen- Opt-ins, die auf Druck der Briten hineingekommen sind, tritt, auf jeden Fall standhaft zu bleiben, keine weiteren nicht gerade zur Klarheit beitragen. Wir müssen uns Abweichungen zuzulassen und keinen Versuchungen an- auch fragen, wo eigentlich die parlamentarische Kon- gesichts gewisser Wahltermine in anderen Ländern trolle gerade in dem sensiblen Bereich der Innen- und nachzugeben. Justizpolitik bleibt. Auch ich bin nicht mit allem einver- standen. Aber wir alle wissen: Wir sind nicht alleine in (Beifall bei der FDP) diesem Team. Umso wichtiger ist es, dass die Staats- und So erfreulich es ist, dass jetzt überhaupt ein Vertrags- Regierungschefs nicht noch einmal Zugeständnisse ma- werk vorliegt, so unerfreulich sind aus unserer Sicht ei- chen, dass die Zahl der Opt-outs nicht ausgeweitet wird, nige wirtschaftspolitische Weichenstellungen. Es geht dass die Ioannina-Regel nicht in den Vertrag aufgenom- um das Bekenntnis zu einem Kernstück der marktwirt- men wird und dass wir uns bei den notwendigen Über- schaftlichen Ordnung in Europa, und das ist der freie gangsregelungen auf eine möglichst parlamentsfreundli- und unverfälschte Wettbewerb. In dem Entwurf für die che Vereinbarung verständigen. Verfassung war dieser noch eines der Hauptziele der EU. (Beifall bei der SPD – Dr. Werner Hoyer Jetzt taucht er nur noch in einer Protokollnotiz auf. [FDP]: Das ist der Maßstab!) (Zuruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE Wir wissen, es dürfte einige Schwierigkeiten geben, LINKE]) wenn der Reformvertrag wirklich Anfang 2009 in Kraft tritt. Das wird vor den Wahlen zum Europäischen Parla- – Herr Kollege Dehm, ich weiß, dass Sie das nicht beun- ment sein. Wir haben die Neubenennung des Ratsvorsit- ruhigt, weil Sie in einem System des realen Sozialismus zenden und des Hohen Repräsentanten, des ehemals so- von Marktwirtschaft und Wettbewerb nicht viel halten. genannten europäischen Außenministers, und bestimmte (Lachen bei der LINKEN – Dr. Diether Dehm Regelungen eingeführt, die wir in dem Sinne interpretie- [DIE LINKE]: Genau!) ren sollten, – Aber jeden Anhänger der sozialen Marktwirtschaft muss dies beunruhigen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Roth! (Beifall bei der FDP) (B) (D) Der Vorstoß war nicht überraschend; denn er kommt Michael Roth (Heringen) (SPD): aus der Tradition eines Ludwig XIV. Genau dies ist aber – dass die Rechte des Europäischen Parlaments nicht besorgniserregend – Herr Kollege Krichbaum hat vorhin eingeschränkt werden und auch der Kommissionspräsi- von der Wettbewerbskraft Europas gesprochen, das ist dent im Lichte der Ergebnisse der Wahl des Europäi- genau der Punkt – dieser Angriff auf marktwirtschaftli- schen Parlaments bestallt wird. Auch das ist ein Stück che Prinzipien stößt in der Europäischen Union kaum Demokratie. auf Widerstand. Es geht ja immerhin um einen Grund- pfeiler, es geht um die Wettbewerbsphilosophie, die Sie, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Herr Kollege Dehm, nicht teilen, die aber 50 Jahre lang Herr Kollege Roth, kommen Sie bitte zum Schluss. eine strukturbestimmende (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Soziale Markt- Michael Roth (Heringen) (SPD): wirtschaft! Das ist ein Unterschied!) Ich wünsche der Bundesregierung alles Gute für die und sehr freiheitliche Funktion in der Europäischen Ge- nächste Woche, und ich hoffe auf ein gutes Ergebnis. meinschaft hatte. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]) Frau Merkel wurde noch im Februar 2007 mit dem schö- nen Satz zitiert: „Ich vertrete das Prinzip Wettbewerb mit großer Leidenschaft.“ Von dieser Leidenschaft war Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bei diesen Verhandlungen nichts zu spüren; denn die Ich gebe das Wort dem Kollegen Martin Zeil, FDP- Bundesregierung ist dieser doch sehr fundamentalen Än- Fraktion. derung überhaupt nicht entschieden entgegengetreten. (Beifall bei der FDP) Im Antrag der Koalitionsfraktionen – auch dies spricht Bände – wird das Thema überhaupt nicht erwähnt. Martin Zeil (FDP): Wir müssen grundsätzlich mit großer Sorge sehen, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und dass das Pendel ohne klare Position der Bundesregierung Kollegen! Ja, wir wollten die EU-Verfassung, weil wir von Marktwirtschaft in Richtung zu mehr Protektionis- wollen, dass Europa endlich effizienter und handlungsfä- mus und Staatswirtschaft ausschlägt. Diese Tendenz ha- higer wird. Gemessen daran weist dieser Vertrag, wie er ben wir ebenfalls bei den Verhandlungen über die EU- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12213

Martin Zeil (A) Dienstleistungsrichtlinie gesehen. Diese Bestrebungen will dabei den Blick nicht zurück richten, jedoch die Ge- (C) sind auch von der französischen Seite industriepolitisch legenheit nutzen, deutlich zu machen, wie meine Frak- motiviert: Die Kommission soll auch bei der Genehmi- tion diese Vereinbarung interpretiert: Dabei müssen gung von Fusionen Wettbewerbsaspekte zurückstellen. beide, Bundesregierung und Bundestag, zusammenwir- Aber – das muss uns einen – wenn sich Europa einmal ken. Aufgabe der Bundesregierung ist es nicht, den Bun- auf den Pfad des Protektionismus begibt, ist die Erosion destag bloß zu unterrichten, sondern wir erwarten ein der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht mehr aufzuhal- förmliches Ersuchen um Einvernehmen mit dem Mandat ten. einer Regierungskonferenz. Es ist auch wichtig festzu- stellen, dass die Bundesregierung nicht erst auf Wider- Es ist auch ein großes Problem, Herr Kollege, dass spruch seitens des Bundestags reagieren darf, sondern wir uns offensichtlich innerhalb der Europäischen Union von sich aus um dieses Einvernehmen ersuchen muss. über ein einheitliches europäisches Wirtschafts- und So- zialmodell nicht verständigen können. Die Debatte wird Dabei genügt es schließlich nicht, uns eine allgemeine nicht offen geführt. Die Regierungen sind in dieser Beschreibung des Mandats zu übermitteln, sondern uns Frage sehr stark zerstritten und schwanken zwischen der muss das vorliegende Mandat zur Verfügung gestellt Befürwortung freier Märkte und einem starken Interven- werden, auf dessen Grundlage wir überhaupt erst beur- tionismus hin und her. Von dort ist es dann nicht mehr teilen können, ob wir das Einvernehmen zu der Einberu- weit zu den Schutz- und Abschottungsmaßnahmen zur fung einer Regierungskonferenz erteilen werden. Gestaltung der Globalisierung: gegen ausländische In- (Beifall bei der CDU/CSU) vestoren, zur Beschränkung des Kapitalverkehrs. Den zweiten Part hat aber dieses Haus zu spielen. Der Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Deutsche Bundestag muss sich darauf verständigen Herr Kollege! – alle Fraktionen dieses Hauses –, dieses Einvernehmen vor Einsetzen einer Regierungskonferenz zu erteilen, und zwar in Form einer Entschließung, die wir hier ge- Martin Zeil (FDP): meinsam diskutieren. Wir sollten uns auch die Möglich- Ich komme zum Schluss. – Das hätte in der Tat fatale keit offen halten, während der laufenden Regierungskon- Folgen. Europa muss sich entscheiden. Es ist dringend ferenz weiterhin Stellungnahmen zu beschließen, sodass geboten, die marktwirtschaftlichen Prinzipien von Wett- die Bundesregierung im schlimmsten Fall sogar einen bewerb, Transparenz und Gegenseitigkeit weltweit zu Parlamentsvorbehalt in die Regierungskonferenz ein- exportieren, anstatt das Heil in immer mehr Protektionis- bringen und damit ihre eigene Verhandlungsposition mus zu suchen. stärken kann. (B) (D) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Das wäre der richtige Weg, mit der Zusammenarbeits- Nächster Redner ist Kollege Thomas Silberhorn von vereinbarung umzugehen. der CDU/CSU-Fraktion. Wir bringen mit unserem Antrag unser Einvernehmen (Beifall bei der CDU/CSU) mit dem Standpunkt der Bundesregierung zum Aus- druck. Es ist gelungen, die Substanz des Verfassungsver- Thomas Silberhorn (CDU/CSU): trages zu erhalten. Hin und wieder wird kritisiert, dass Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Abstriche vorgenommen worden sind, zum Beispiel bei Wenn ich das Klein-Klein im Verlauf dieser europapoli- Übergangsregelungen hinsichtlich der Stimmengewich- tischen Debatte betrachte, meine ich schon, wir laufen tung im Rat oder hinsichtlich der Grundrechte-Charta. Gefahr, in Themen abzugleiten, die eher das europapoli- Ich glaube, es ist wichtig, zu sehen, dass diese Sonderre- tische Alltagsgeschäft betreffen, und verkennen dabei, gelungen dazu beitragen sollen, dass das Vertragswerk vor welcher Herausforderung wir jetzt stehen. Wer hätte am Ende auch wirklich die Zustimmung in allen Mit- Anfang des Jahres gedacht, dass wir heute in der Lage gliedstaaten findet. Deswegen muss man mit der Hin- sein werden, über einen Reformvertrag zu diskutieren, nahme dieser Abstriche schon die klare Erwartung ver- der bereits am 18./19. Oktober von allen Mitgliedstaaten binden, dass alle Regierungen, die diesen Kompromiss unterzeichnet werden soll? eingehen wollen, in ihren Ländern konstruktiv daran Wir sollten unsere Kraft darauf richten, das, was die mitwirken, dass die Ratifikation zustande kommt. Das deutsche Ratspräsidentschaft vorbereitet hat, jetzt tat- gilt für alle Mitgliedstaaten, namentlich für Großbritan- sächlich zum Erfolg zu führen. Wir haben nach dem nien und Polen. Diese Erwartung muss man jetzt deut- Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrags die lich formulieren, bevor man am 18./19. Oktober einen große Chance, nun die Reform der Europäischen Union Kompromiss schließen kann. durchzusetzen. Das muss unser Hauptanliegen sein. Die Wünsche nach Sonderregelungen gehen aller- dings so weit, dass man versucht, das Mehrheitsverfah- (Beifall bei der CDU/CSU) ren im Rat – es wurde im Verlauf der Geschichte deut- Ich will gerne die Kritik aufgreifen, die im Hinblick lich ausgeweitet – zu konterkarieren, indem man durch auf unsere Zusammenarbeitsvereinbarung mit der Bun- einen besonderen Mechanismus faktisch ein Minderhei- desregierung verschiedentlich formuliert worden ist. Ich tenvotum einführt. Das würde dem Ziel des Reformver- 12214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Thomas Silberhorn (A) trags und auch den Reformen der letzten Jahre natürlich nach dem die Verteilung der Sitze auf die einzelnen Mit- (C) völlig widersprechen. Wir können keine Sonderregelun- gliedstaaten im Vorhinein festgelegt wird, sodass nicht gen hinnehmen, die unserer grundlegenden Ausrichtung mit jedem Erweiterungsschritt komplett neu darüber ver- völlig zuwiderlaufen. Wir treten deshalb dafür ein – das handelt werden muss, welcher Mitgliedstaat wie viele ist wichtig –, dass es im Zusammenhang mit den Bera- Sitze bekommt. Ich meine, dass wir auch dieses Thema tungen über den Ioannina-Mechanismus dabei bleibt, in unserem Interesse nochmals aufgreifen müssen. dass Polen dem Vertrag eine Erklärung anhängen kann; wir können uns aber nicht damit einverstanden erklären, Lassen Sie mich einen letzten Punkt ansprechen. Die dass diese Erklärung in den Vertragstext aufgenommen Kompetenzneuordnung in diesem Vertrag ist aus meiner wird. Sicht ein wesentlicher Fortschritt. Es gibt eine Reihe von Klarstellungen, dass die Europäische Union ausschließ- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lich Kompetenzen wahrnehmen darf, die ihr übertragen worden sind, und dass Kompetenzerweiterungen nicht Lassen Sie mich noch ein Thema ansprechen, das aus im Wege faktischer Vertragsänderungen, sondern nur deutscher Sicht meines Erachtens in den nächsten zwei durch förmliche Vertragsänderungen stattfinden dürfen. Wochen noch einmal diskutiert werden muss. Dieser Es ist auch ein Fortschritt, dass das Subsidiaritätsprinzip Vertrag sieht vor, dass die Anzahl der Sitze im Europäi- genauer gefasst wird und dass die Europäische Union schen Parlament auf insgesamt 750 und auf 96 pro Mit- nicht einfach dann tätig werden darf, wenn die europäi- gliedstaat begrenzt wird. Es soll ausdrücklich festge- sche Ebene selbst der Auffassung ist, dass sie es besser schrieben werden, dass die Sitze im Europäischen kann, sondern nur dann, wenn die Mitgliedstaaten eine Parlament degressiv proportional verteilt werden. Das Aufgabe nicht ausreichend bewältigen können. Und da- heißt – das ist neu –, je größer ein Mitgliedstaat ist, desto her – so die Klarstellung im Vertrag – besser die EU tätig weniger repräsentativ wird seine Bevölkerung im Euro- wird. Nur dann ist eine europäische Kompentenz be- päischen Parlament vertreten sein. Mit jeder neuen Er- gründet. weiterung wird diese Repräsentativität weiter abnehmen, und das geht natürlich zulasten der großen Mitgliedstaa- Vor diesem Hintergrund überrascht mich schon, was ten, namentlich zulasten Deutschlands. Kommissionspräsident Barroso zum Subsidiaritätsprin- zip gesagt hat. Natürlich ist es eine Schranke für die Diese Regelung steht in einem ganz klaren inneren Kompetenzausübung der Europäischen Union, aber es Zusammenhang mit der Errichtung der doppelten Mehr- ist nicht gegen die europäischen Einrichtungen gerichtet. heit im Rat. Doppelte Mehrheit bedeutet, dass für Ent- Es soll dazu beitragen, dass das, was auf europäischer scheidungen des Rats nicht nur die Mehrheit der Mit- Ebene beraten und beschlossen wird, tatsächlich auf Ak- gliedstaaten, sondern auch eine Bevölkerungsmehrheit zeptanz bei den Mitgliedstaaten trifft. Nur bei diesem (B) (D) vorhanden sein muss. Auf diese Weise kommt das Ge- Verständnis macht es Sinn, dass die nationalen Parla- wicht der Bevölkerungen im Rat zum Tragen. Wenn die mente stärker beteiligt werden und eine explizite Auf- Einführung des Mechanismus der doppelten Mehrheit gabe in der Kontrolle der Einhaltung des Subsidiaritäts- im Rat bis 2014 verschoben werden soll, dann sehe ich prinzips wahrnehmen sollen. keinen Grund, weshalb wir einer Verschlechterung der Repräsentativität im Europäischen Parlament schon ab Ich denke, dass wir diese Vorstellung vom Subsidiari- 2009 einseitig zustimmen sollten. Deswegen plädiere ich tätsprinzip in der laufenden Debatte noch einmal sehr dafür, dass wir die neue Sitzverteilung im Europäischen klar formulieren sollten und bei einem Erfolg des Ver- Parlament, der wir im Grundsatz zustimmen, erst dann handlungsprozesses in der Umsetzung der europäischen einführen, wenn das Gewicht der Bevölkerungen auch Rechtsetzung vertreten und einbringen müssen. im Rat tatsächlich stärker zum Tragen kommt, indem Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. 2014 das Prinzip der doppelten Mehrheit eingeführt wird. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich glaube, dass wir das in den Verhandlungen nochmals Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: auf den Tisch legen müssen. Ich gebe das Wort dem Kollegen Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen. Ich will gern das Verfahren der genauen Verteilung der Sitze – es wird zurzeit im Europäischen Parlament beraten – ansprechen. Der Vorschlag, der morgen wahr- Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): scheinlich eine Mehrheit finden wird, läuft darauf hi- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber naus, dass viele kleine und mittelgroße Staaten ganz gut Kollege Silberhorn, ich kann fast alles unterschreiben, bedacht werden. Er hat aber den großen Makel, dass die was Ihre Interpretation dessen betrifft, was notwendig Sitzverteilung im Europäischen Parlament bei jeder Er- ist, bevor diese Regierung bzw. Herr Steinmeier Ver- weiterung komplett neu verhandelt werden müsste. Ich handlungen beginnt. Er müsste nämlich um das Einver- meine, auch das müsste in unserem Interesse nochmals nehmen des Hauses bitten. diskutiert werden. Ich würde ein im Deutschen Bundes- (Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Die Regie- tag entsprechend angewandtes Verfahren bevorzugen rung insgesamt!) – die Abgeordneten der Union im Europäischen Parla- ment haben einen entsprechenden Vorschlag gemacht –, Das ist eine richtige Position. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12215

Jürgen Trittin (A) (Rainder Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE Rede zu kurz gekommen, lieber Diether Dehm. Wenn (C) GRÜNEN]: Genau!) ich mich mit diesem Vertragsentwurf zu beschäftigen habe, ist die Messlatte doch der jetzige Rechtszustand, Nur, was Sie hier nicht erwähnt haben, Herr Silberhorn die jetzige Verfasstheit der Europäischen Union. Ich bin – das macht Ihren Antrag so peinlich –, ist, dass es Ihr damit unzufrieden, dass wir nicht die Kraft hatten, das, Fraktionsvorsitzender gewesen ist, der diese richtige An- wofür wir in Europa stehen, nämlich für einen ambitio- forderung des Parlamentes abgeblockt hat, nierten Grundrechtekatalog – übrigens ausgestattet mit (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Richtig! – viel besseren sozialen Rechten, als sie im Grundgesetz Dr. Werner Hoyer [FDP]: So ist es! – Rainder stehen –, explizit in den Vertrag hineinzuschreiben. Steenblock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn ich aber einen Strich darunter ziehe und mich Das ist die Wahrheit!) frage, wer durch diesen Vertrag gestärkt worden ist, weswegen wir uns heute mit der absurden Situation he- stelle ich doch fest: Gestärkt worden ist das Europäische rumschlagen müssen, zu Verhandlungen über einen Ver- Parlament. Der gesamte Bereich der Justiz- und Innen- trag, der inzwischen sogar schon von den Sprachjuristen politik wird künftig in den Bereich der Mitentscheidung ausgearbeitet wird, nachträglich das Einvernehmen zu fallen. Da gibt es mehr Demokratie und nicht weniger erteilen. Demokratie. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der FDP sowie des Abg. Dr. Diether und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordne- Dehm [DIE LINKE]) ten der SPD) Das ist nicht mein Verständnis von parlamentarischem Gestärkt worden sind die nationalen Parlamente, die Selbstbewusstsein. Ich würde mir wünschen, lieber Herr künftig früher, wenn sie denn das Selbstbewusstsein von Silberhorn, dass Sie es bewerkstelligen, dass die Lern- Herrn Silberhorn und nicht das von Herrn Kauder haben, prozesse bei Herrn Kauder, was die Rechte des Parla- bei solchen Fragestellungen entsprechend eingreifen ments angeht, künftig schneller vonstatten gehen. können. Gestärkt werden schließlich die Rechte der Bür- gerinnen und Bürger in Europa. Wenn 1 Million Men- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schen in Europa eine Initiative ergreifen, wird die Kom- sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP] und mission darauf reagieren müssen. Das heißt, es gibt zum des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]) ersten Mal in der Geschichte der EU eine Art Volksbe- Zweite Bemerkung. Man soll in einer solchen Debatte gehren. keine Pappkameraden aufbauen. Es ist tatsächlich so, Ich finde, für dieses Mehr an Demokratie lohnt es (B) (D) dass die Frage des Wettbewerbs in Europa eine ganz sich, sich auf die schwierige Suche nach Kompromissen zentrale Rolle spielt. Die Sicherstellung des Wettbe- zu machen, die Ihnen, Herr Außenminister, ja noch be- werbs ist eine Schlüsselfrage für das Funktionieren der vorsteht. Europäischen Gemeinschaft. Das ist auch ein Stück weit ein Friedensansatz. Trotzdem bleibt der Satz richtig, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dass die Sicherstellung des unverfälschten Wettbewerbs sowie bei Abgeordneten der SPD) eine dauerhafte Aufgabe der Kommission, aber kein Ziel der Europäischen Gemeinschaft ist. Es ist ein Mittel zum Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Zweck. Deswegen ist die jetzige Positionierung, dies Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig, SPD- aufzunehmen und klarzustellen, dass die Kommission Fraktion. das Recht hat, auf einen unverfälschten Wettbewerb zu dringen, richtig. Das ist – an dieser Stelle muss ich Herrn (Beifall bei der SPD) Barroso recht geben – schon eine Mahnung an die Bun- desregierung. Kurt Bodewig (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Den Schlussausführungen des Kollegen Trittin kann ich Ihre Position ist, in der Energiepolitik beispielsweise mich nur anschließen. das Unbundling von Betrieb, Netzen und Produktion Ich glaube, wir sollten einmal kurz zurückblicken. nicht umzusetzen. Das behindert den Wettbewerb inner- Was war denn vor einem Dreivierteljahr? Da gab es eine halb Europas. Hier kommt die Kommission, gestützt Reflexionsphase, in der nicht reflektiert wurde, sondern auch auf die Bestimmungen des neuen Reformvertrages, in der das Verfassungsprojekt einfach zur Seite gelegt zu Recht ihrer Aufgabe nach. An dieser Stelle verhält wurde. Das war vor einem Dreivierteljahr. Es ist eine un- sich die sonst hochgelobte Bundesregierung, was geheure Leistung der deutschen Ratspräsidentschaft und Europafragen angeht, nicht im Geist des Vertrages, den der Bundeskanzlerin, aber auch des jetzt hier anwesen- wir heute hier in der Substanz begrüßen. den Bundesaußenministers – er hat in vielen, zum Teil (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nächtelangen Gesprächen über Wochen hinweg eben- sowie des Abg. Dr. Werner Hoyer [FDP]) falls dafür gesorgt –, dass Kompromisse gefunden wur- den. Letzte Bemerkung. Wenn man so etwas wie einen sol- chen Vertrag beurteilt, muss man immer schauen, was Es ist so, dass wir jetzt keinen Verfassungsvertrag, die Alternative ist. Das ist meines Erachtens in Ihrer sondern einen Reformvertrag haben. Aber die Substanz 12216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Kurt Bodewig (A) ist erhalten geblieben. Das ist eigentlich der entschei- Das ist dabei herausgekommen. Ich glaube der PDS (C) dende Punkt. Deswegen tut sich ja heute die Opposition bzw. der Linken nicht, wenn sie sagt, dass es ihr um die etwas schwer; sie spricht dann über Verfahren. Ich genannten beiden Kernfragen geht. Es geht ihr vielmehr glaube allerdings, dass wir mit der Entschließung vom darum, hier etwas abzulehnen und populistisch 14. Juni der Regierung ein deutliches Mandat erteilt ha- Meinungsmache gegen Europa zu betreiben. Ich habe ben. Wenn ich diese Entschließung mit dem abgleiche, generell etwas gegen Populisten, weil sie keine Verant- was nun herausgekommen ist, dann stelle ich fest, dass wortung zeigen und ihre politische Aufgabe nicht wahr- 90 Prozent erhalten geblieben sind. Das war ja die Auf- nehmen. gabe. Wenn wir mal ganz ehrlich sind, müssen wir uns doch eingestehen, dass viele im Juni anderer Meinung (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gewesen wären, wenn sie damals die berechtigte Erwar- FDP) tung gehabt hätten, dass dieses Ergebnis erreichbar ge- Ich will nur daran erinnern, dass wir über den jetzt wesen wäre. Wir sollten so ehrlich sein, uns einzugeste- eingeschlagenen Umweg die Arbeitsweise der Europäi- hen, dass wir mit diesem Erfolg nicht gerechnet haben. schen Union vertraglich festgeschrieben haben. So ist in Auch das sollte man einmal unterstreichen. Art. 136 der Sozialdialog enthalten. Es gibt ein eigenes (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Kapitel zur Sozialpolitik. Ich glaube, damit können wir argumentieren. Jetzt will ich einmal auf die sehr krude Konstruktion des Kollegen Dehm und seinen Popanz um den Milita- Zur Grundrechtecharta möchte ich sagen: Es handelt rismus eingehen. sich dabei um ein britisches Problem. Wenn eine Regie- rung ihren Bürgern Grundrechte verwehrt, muss sie die- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Nein! sen Konflikt im eigenen Land austragen. Ich sage aber Lohnt doch nicht!) auch, dass wir es über diesen Umweg sehr reell geschafft haben, die Grundrechtecharta in Europa verbindlich zu Ich habe noch nie von dem Konstrukt gehört, dass es ei- machen. Das ist das, was wir wollen. Das ist eine sehr nen Kriegsauftrag darstelle, wenn man Normierungen starke soziale Komponente. Man sollte das eine oder an- vornehme. Es gilt vielmehr das Gegenteil: Dank der dere Vorurteil wirklich aus der Diskussion herausneh- Gründung der Europäischen Union ist diesem Teil Euro- men. pas die längste Phase der Abwesenheit von Krieg, die wir je hatten, zuteilgeworden. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Ich will noch einen zweiten Punkt ansprechen. Ich BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- glaube, dass die polnische Regierung die Illusion hatte, (B) geordneten der FDP) Größe mit Sitzen zu verbinden. Wir haben uns mit der (D) Quadratwurzel beschäftigen müssen. Ich war ja ganz Dieser Frieden ist wirklich ein Resultat der Europäi- froh, dass sie nicht noch einen Zwillingsbonus gefordert schen Union. hat. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist im (Heiterkeit bei Abgeordneten der FDP und des Kosovo?) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Wenn man das nicht begreifen will, dann sollte man we- Und jetzt kommt der Ioannina-Kompromiss. Das ist ein nigstens nicht populistisch denen in die Hände arbeiten, Gentleman’s Agreement. Ich kann dazu nur sagen: Ich die die demokratischen Grundsätze dieser Gesellschaft glaube, dass die polnische Regierung mit dem Renom- infrage stellen. Genau das geschieht aber. mee ihres Landes spielt. Ich bin mir sicher, dass diese (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Regierung nicht für ihre Bevölkerung spricht. Denn alle Umfragen zeigen: Die polnische Bevölkerung ist pro- Dann komme ich zu der Ungeheuerlichkeit der Um- europäisch und will ein starkes Europa und nicht eines, deutung der Aussagen von Elmar Brok, der ja nicht ein- das zerfasert. mal meiner Partei angehört, die hier vorgenommen wor- den ist. Ich halte das für eine Unverschämtheit; (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich kann gut damit leben, dass wir darüber nachdenken, Nein, das hat er so gesagt! Das habe ich so ob eine Erweiterung nicht mehr Generalanwälte beim mitgeschrieben!) EuGH erforderlich macht; denn das ist ein allgemeiner Grundsatz. Aber Spezialforderungen, etwa Vetorechte an denn Elmar Brok hat im Ausschuss sinngemäß Folgen- jeder Stelle zu implementieren, um die Handlungsfähig- des – und das zu Recht – gesagt: Teile der französischen keit Europas einzuschränken, lassen bei dieser Regie- Linken, unterstützt von der extremen Rechten Frank- rung eine mangelnde Integrationsfähigkeit erkennen. reichs, haben das Referendum dazu benutzt, einen Ver- fassungsvertrag, der in sich schlüssig und kompakt war, Wir haben ein anderes Problem, nämlich dass manche infrage zu stellen. Das Ergebnis ist jetzt, dass Trans- Mitgliedstaaten – dabei schaue ich einmal über den Ka- parenz verloren gegangen ist. Statt 500 Seiten sind es nal – Europa nicht als Integrationsprojekt sehen, sondern 3 000 mit einer Vielzahl von Verweisen und einzelnen als eine große Freihandelszone. Ich glaube aber, Europa Abschnitten. ist stark und kann seine Funktion wahrnehmen, weil es Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12217

Kurt Bodewig (A) ein Integrationsprojekt ist. Deswegen hat Juncker etwas len könnten, dass die Formulierung, militärische Fähig- (C) unrecht, wenn er sagt, für 50 Prozent der Europäer sei in keiten schrittweise zu verbessern, auch in Richtung der Verfassung zu viel Europa gewesen und für Abrüstung und nicht in Richtung Aufrüstung gedeutet 50 Prozent zu wenig. Ich würde sagen, es ist für mindes- werden könnte. Wenn ja, warum schreibt man es dann tens 70 Prozent zu wenig und für 30 Prozent zu viel ge- nicht in den Vertrag hinein? wesen. Denn zwei Drittel der Mitgliedstaaten hatten rati- fiziert, und wir alle müssen diesen Prozess jetzt Kurt Bodewig (SPD): wiederholen. Ich habe nichts gegen Abrüstung; das wissen alle. Ich Deshalb fände ich es ganz gut, wenn wir im Sinne der glaube, dass Rüstung nicht unbedingt der produktivste Identifikation mit Europa, die sich in vielen Symbolen Wert einer Gesellschaft ist. Gegen Abrüstung hat in die- widerspiegelt – in der Flagge, der Hymne, dem Euro, der sem Hause wohl kein einziger Abgeordneter etwas ein- übrigens von den 300 Millionen betroffenen Menschen zuwenden. in Europa sehr wohl angenommen wird; darüber hinaus Zweitens. Ich habe davon gesprochen, dass in diesem haben wir das Problem, dass er auch anderswo äußerst Raum Europas die längste Phase der Abwesenheit von attraktiv ist; im Europatag, in einem Leitspruch –, dieje- Krieg herrscht. Deswegen – genau das zeigt das Beispiel nigen, die nicht Euroskeptiker, sondern Integrationsbe- Kosovo – sind die Länder im Westbalkan so daran inte- fürworter sind, vielleicht motivieren können, diese ressiert, Teil des europäischen Integrationsprojektes zu Symbole in jeweiligen nationalen Begleitgesetzen fest- werden. Allein eine weite Perspektive führt dazu, dass zusetzen. Wir sollten im Deutschen Bundestag beschlie- Kampfhandlungen dort minimiert worden sind und dass ßen, das in die nationale Gesetzgebung einfließen zu las- Zivilgesellschaften sich wieder neu errichten. Das ist die sen, um deutlich zu machen, dass neben der deutschen beste Argumentation dafür, dass das Konstrukt Europäi- Fahne zu Recht die europäische Fahne steht. Ich glaube, sche Union genau der Friedensgarant ist, den wir haben damit würde man ein bisschen Spreu vom Weizen tren- wollen. nen; dann ist man auch fairer in der europäischen Dis- kussion. (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ten der SPD)

Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Drittens. Ich möchte noch etwas zu den Ausführun- Herr Kollege Bodewig, der Herr Kollege Dehm gen von Elmar Brok sagen. Er hat sehr deutlich gemacht, würde gern eine Zwischenfrage stellen. dass es in Frankreich gar nicht um die europäische Frage ging. Einzelne haben dieses Thema aus innenpolitischen (D) (B) Gründen instrumentalisiert. Ich selber habe an Podiums- Kurt Bodewig (SPD): diskussionen in Frankreich teilgenommen und weiß da- Ja, eine nehmen wir. her, dass es da nicht um Europa, sondern um Chirac und (Zuruf von der CDU/CSU: Sonst leidet das andere Personen ging. Manche, die vorher in der Regie- Niveau wieder!) rungsverantwortung waren, haben sich eines Populismus befleißigt, den ich für nicht verantwortlich halte. Das war die Situation in Frankreich. Es hätte eine Phase der Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Reflexion geben sollen. Wir haben festgestellt, dass alle Es sind trotzdem zwei, wenn Sie gestatten; aber ich auf Deutschland geschaut haben, weil eine starke Präsi- mache es ganz kurz. dentschaft die letzte Chance war, den Verfassungspro- zess wieder in Gang zu bringen. Genau das ist gelungen. Kurt Bodewig (SPD): Darauf können wir stolz sein. Ich hatte es schon vermutet. Diese drei Punkte, die sich auf Ihre Fragen beziehen, weisen darauf hin, dass die EU für die Gesellschaften in Dr. Diether Dehm (DIE LINKE): Europa und für die globale Friedensentwicklung absolut Sie haben die Formulierung von Elmar Brok so ähn- notwendig ist. – Vielen Dank, für Ihre Fragen. Sie dürfen lich wiedergegeben, wie auch ich sie im Ohr habe. Als sich jetzt gerne wieder setzen. Ergebnis der gescheiterten Referenden in den Niederlan- den und Frankreich ist Transparenz aus der Verfassung (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) herausgenommen worden. Wäre nicht mehr Transparenz In den letzten anderthalb Minuten meiner Rede die richtige Antwort gewesen, und war das nicht auch möchte ich noch einige kritische Punkte ansprechen. Bei die Vorgabe durch die drei Ds, die in das Kommunika- allem Dank an die Rechtsexperten gibt es noch einige tionsverfahren aufgenommen werden sollten? Probleme, die nicht nur technischer Natur sind. Ich Zweitens. Weil ich nicht der Meinung bin, dass zum nenne nur ein einziges Beispiel. In der Gemeinsamen Beispiel das Deutsche Reich allein deswegen ein Kon- Außen- und Sicherheitspolitik geht es unter anderem um strukt des Friedens war – das war es ja nicht –, weil bei Fluggastdaten im Rahmen eines Abkommens zwischen seiner Gründung die Kriege zwischen einzelnen Ländern Europa und den USA. Die Situation ist so, dass es eine aufhörten, habe ich die Frage, ob Sie, wenn Sie von der parlamentarische Kontrolle nicht geben wird. Das EP Abwesenheit von Krieg in Europa sprechen, den Koso- und auch der EuGH können sich damit nicht befassen, vokrieg ausblenden und ob Sie sich zum anderen vorstel- weil es eine rein intergouvernementale Angelegenheit 12218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Kurt Bodewig (A) ist. Das halte ich für falsch. Ich möchte Sie daher bitten, nur 4 Prozent sein. Wir haben nur dann eine Chance, un- (C) darauf ein besonderes Augenmerk zu legen. sere Werte, unsere politische Kultur und unsere Lebens- weise zu bewahren, wenn wir zusammenrücken. Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ werden dies aber nicht schaffen, wenn wir uns innerhalb CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- der Europäischen Union, die zukünftig nur 4 Prozent der NEN) Weltbevölkerung ausmacht, das Leben schwer machen. Ich weiß, es wird in der Schlussphase noch schwie- Das ist die Legitimation, die für die europäische Eini- rige Verhandlungen geben. Aber ich denke, dass gungsbewegung notwendig ist. Deutschland aufgrund der während der Präsidentschaft Deswegen war es wichtig, nach der Schaffung des gewonnenen Erfahrungen die Portugiesen darin unter- Binnenmarktes, der Formulierung des Ziels einer Politi- stützen kann, dass das, was in Berlin erarbeitet worden schen Union und der Einführung des Euro das Verfas- ist, in Lissabon in einen anspruchsvollen Vertrag mün- sungsprojekt anzupacken. Mit dem Reformvertrag in der det. Wir wünschen uns das. Ihnen, Herr Außenminister, jetzigen Form haben wir natürlich weniger erreicht, als wünschen wir allen Erfolg. wir erreichen wollten. Das wird deutlich, wenn man die Vielen Dank. ursprüngliche Idee von einer Verfassung, die von einem Verfassungskonvent gestaltet wurde, zum Vergleich he- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) ranzieht. Aber trotzdem ist dieser Reformvertrag viel mehr als die jetzige Grundlage der Europäischen Union, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: der Vertrag von Nizza. Deshalb ist dieser Reformvertrag Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege ein Erfolg. Dr. Stephan Eisel, CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Ein ganz wesentlicher Punkt in diesem Reformvertrag ist das Subsidiaritätsprinzip, das zwei Seiten hat: Die Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU): eine Seite ist Dezentralisierung; nicht alles muss auf eu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ropäischer Ebene gemacht werden. Die zweite Seite des Wenn wir die Bürger für die europäische Idee weiter be- Subsidiaritätsprinzips ist aber, dass die Ebene, der eine geistern wollen, dann müssen wir uns immer wieder der Aufgabe zugewiesen wird, für die Erledigung dieser Frage zuwenden, warum die europäische Einigung not- Aufgabe gestärkt werden muss. Es gibt auf europäischer wendig bleibt. Denn wir haben es mit dem merkwürdi- Ebene Aufgaben, für die sie noch nicht stark genug ist. gen Phänomen zu tun, dass der Erfolg der europäischen Als Stichworte nenne ich nur die europäische Außenpo- (B) Einigung teilweise die Motivation der Bürger erschwert, litik und die europäische Sicherheits- und Verteidigungs- (D) weil dieser Erfolg als selbstverständlich erachtet wird. politik. Die Motivation der Gründergeneration „Nie wieder Lieber Herr Kollege Dehm von der zur Linkspartei Krieg! Nie wieder Diktatur!“ hat zum Erfolg der Euro- umgetauften PDS, die früher einmal SED hieß. päischen Union geführt. In diesen Wochen feiern die ers- ten Städtepartnerschaften ihr 60-jähriges Jubiläum. Ich (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Jetzt nenne nur die erste deutsch-englische Städtepartner- Linke!) schaft zwischen Oxford und Bonn. Ich glaube, wir kön- – Das hat Ihnen anscheinend gut gefallen. – Dass Sie nen heute gar nicht mehr ermessen, was es bedeutet hat, hier Europa und die Europäische Union als Hort des Mi- dass wenige Monate nach dem Zweiten Weltkrieg die litarismus bezeichnen, Kriegsgegner aufeinander zugegangen sind und sich die Hand gereicht haben. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) hat in etwa die dialektische Qualität, die dazu geführt hat, die Mauer zum antifaschistischen Schutzwall umzu- Das zweite große Ziel, nämlich Freiheit für ganz interpretieren. Europa, ist ebenfalls erreicht worden. Es gilt vielen heute als selbstverständlich. Es ist der jungen Generation (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wi- nur schwer zu vermitteln, was der Eiserne Vorhang war derspruch des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE und was Mauer und Stacheldraht bedeuteten. Es wird die LINKE]) Frage gestellt, warum es mit der Europäischen Union Da Sie das immer noch machen, kann ich Ihnen nur sa- und mit der europäischen Integration weitergehen muss, gen: Bei Ihnen gilt hinsichtlich der politischen Erkennt- da doch diese Ziele erreicht sind. nis offensichtlich der im Musikgeschäft verbreitete Satz: Uns Europäern wird in der Zeit der Globalisierung „Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert“. Sie immer klarer, dass wir nur ein kleiner Teil dieser Welt sollten endlich einen Schritt weitergehen. sind. Der Außenminister hat gesagt, dass die Welt nicht (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sehr ko- auf Europa wartet. Heute leben nur 7,5 Prozent der Welt- misch! Jetzt erbitte ich Gelächter!) bevölkerung in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union. 2050 werden es nach Angaben der UNO auf- Für mich ist der Reformvertrag eine Etappe – aller- grund des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums dings eine wichtige – und nicht das Ziel der europäi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12219

Dr. Stephan Eisel (A) schen Integration. Es muss weitergehen, und zwar nicht stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt (C) nur, weil es, wie ich vorhin gesagt habe, in unserem Inte- dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung resse liegt, dass wir Europäer uns enger zusammen- ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD, schließen müssen, sondern auch, weil wir ein Vorbild für der CDU/CSU und der FDP bei Gegenstimmen der die Welt sind. Wir und die Generationen vor uns in Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Europa haben gezeigt, dass es möglich ist, in Vielfalt zu- sammenzuleben und Konflikte ohne Gewalt und Krieg Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 a bis 7 c auf: zu lösen. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Afghanistan des Verfahrens in Familiensachen und in den und Kosovo!) Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbar- Wie sähe die Welt aus, wenn dieses Beispiel Schule ma- keit (FGG-Reformgesetz – FGG-RG) chen würde? – Drucksache 16/6308 – Herzlichen Dank. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bei Abgeordneten der SPD) b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Klä- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: rung der Vaterschaft unabhängig vom Anfech- Herr Kollege Eisel, Sie sind für den Kollegen tungsverfahren Paziorek in den Deutschen Bundestag nachgerückt. Sie haben heute zum ersten Mal in diesem Hohen Hause ge- – Drucksache 16/6561 – sprochen. Herzlichen Glückwunsch und alles Gute für Überweisungsvorschlag: Ihre politische und persönliche Zukunft. Rechtsausschuss (f) Innenausschuss (Beifall) Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ich schließe die Aussprache. c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Entwurfs eines Gesetzes über genetische Unter- schusses für die Angelegenheiten der Europäischen suchungen zur Klärung der Abstammung in Union auf Drucksache 16/6632. Der Ausschuss emp- der Familie (B) fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- (D) – Drucksache 16/5370 – sache 16/6632 die Annahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/6399 mit Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) dem Titel „Regierungskonferenz zur Änderung der ver- Innenausschuss traglichen Grundlagen der Europäischen Union und Un- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend terrichtung der Bundesregierung entsprechend Ziffer VI der Vereinbarung zwischen Deutschem Bundestag und Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Ange- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich legenheiten der Europäischen Union“. Wer stimmt für höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. Stimmen der Fraktionen der SPD und der CDU/CSU bei Gegenstimmen der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und Die Linke und Enthaltung der Fraktion der FDP an- genommen. Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion gen! Ich denke, wir sind uns alle einig: Wenn man das der FDP auf Drucksache 16/5882 mit dem Titel „EU-Re- Familienrecht ändert, gestaltet man die Gesellschaft. Das gierungskonferenz schnell zum Erfolg führen“. Wer hat nicht zuletzt die große Scheidungsreform gezeigt. stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt Wenn man das Verfahrensrecht ändert, gestaltet man – so dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung kann man meinen – nicht so recht. Aber man darf, ist mit den Stimmen der Fraktionen Die Linke, der SPD glaube ich, die Augen nicht davor verschließen, dass das und der CDU/CSU bei Enthaltung der Fraktion Bünd- Verfahrensrecht in vielen Fällen nicht nur dienende nis 90/Die Grünen und Gegenstimmen der Fraktion der Funktion hat, sondern – das gilt gerade für das Familien- FDP angenommen. recht – dazu angetan ist, dafür zu sorgen, dass die Rechte der Beteiligten tatsächlich durchgesetzt werden können. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- Denn wenn ein Vater erst einmal ein halbes Jahr keinen ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags Umgang mit seinem zweijährigen Kind hat, dann wird der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache diese Beziehung in solch einer Weise gestört, dass dies 16/5888 mit dem Titel „EU-Regierungskonferenz – Für kaum wieder aufgearbeitet werden kann. Deshalb ist es eine handlungsfähige und demokratische EU“. Wer so wichtig, dass gerade im Familienrecht besonders 12220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) schnell entschieden wird, insbesondere wenn es um das Der zweite Gesetzentwurf betrifft das Klärungsver- (C) Sorgerecht bzw. um das Umgangsrecht geht. fahren hinsichtlich der Vaterschaft. Dieses Thema be- schäftigt uns schon lange. Bereits vor knapp zwei Jahren Wir haben heute zwei Gesetzentwürfe der Bundesre- habe ich mich für ein Verbot heimlicher Vaterschaftstests gierung zu beraten, die beide mit dem familienrechtli- ausgesprochen. Das Bundesverfassungsgericht hat dies chen Verfahren zu tun haben, zumindest im weitesten jetzt bestätigt und festgestellt, diese Tests stellten einen Sinne. Der eine betrifft eine Neufassung des FGG; das tiefen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffe- ist ein richtig dickes Gesetzeswerk. Wir haben dabei ei- nen dar und seien daher nicht erlaubt. Auf der anderen nen einheitlichen allgemeinen Teil neu geregelt. Wir ha- Seite gibt es natürlich ein legitimes Interesse des Vaters ben die Verfahrensrechte und die Mitwirkungsrechte der bzw. des vermeintlichen Vaters, zu wissen, ob er wirk- Beteiligten erstmals umfassend geklärt. Das gilt nicht lich der Vater ist, und auch ein Recht des Kindes auf nur für familiengerichtliche Verfahren, sondern auch für Kenntnis der Abstammung. Betreuungssachen, Unterbringungssachen, Nachlass- sachen, Registerfragen oder die Freiheitsentziehung. Deshalb haben wir mit diesem Gesetzentwurf ver- Diesen ganzen Bereich regeln wir neu. Wir strukturieren sucht, einen neuen Weg zu gehen. Während das Recht das bis heute zersplitterte Rechtssystem neu und gestal- heute nur das Anfechtungsverfahren kennt, stellen wir ten es effizienter. mit dem neuen Gesetzentwurf, der Ihnen jetzt zur Bera- tung vorliegt, ein Verfahren vor, das nur die Feststellung Der größte Teil der sogenannten FGG-Reform, der der Abstammung regelt und nicht gleich mit einer Los- Reform des Verfahrens der freiwilligen Gerichtsbarkeit, sagung verknüpft ist. Es wird also die Möglichkeit geben, beschäftigt sich mit Familiensachen. Ich würde gern als festzustellen, ob jemand der Vater ist oder nicht; dieser Erstes die Schaffung des Großen Familiengerichts nen- wird auch dann, wenn er nicht der Vater ist, erklären kön- nen. Endlich wird es möglich, über alle Familiensachen nen, er wolle trotzdem die soziale Familie aufrechterhal- bei einem Gericht zu entscheiden. Die heute oft beklagte ten: Ich will mich nicht von meiner Familie lossagen, in Zersplitterung zwischen Familiengericht einerseits und der wir zehn Jahre lang gut zusammengelebt haben; das Amtsgericht andererseits tritt nicht mehr ein. will ich jetzt nicht zerstören, nur weil ich zwar der soziale, aber eben nicht der biologische Vater bin. Wir wollen mit diesem Gesetz regeln, dass Kind- schaftssachen künftig vorrangig und beschleunigt zu be- Wir zeigen hier einen Weg auf, der den Interessen der arbeiten sind. Ich habe eben gesagt, warum das erforder- Väter und der Kinder Rechnung trägt, auch wenn ich lich ist. Dies betrifft vor allem Kleinkinder. Wenn hier weiß, dass es Bedenken gibt, ob den Kindern nicht zu erst einmal lange Zeit kein Umgangsrecht besteht, dann viele Rechte gegeben werden. Wir geben den Kindern (B) wird etwas unwiederbringlich geschädigt, und es bedarf das Recht, dann, wenn es ihnen psychisch schlecht geht (D) vieler Verfahren oder Hilfen, um das zu bereinigen. – wenn sie beispielsweise in der Pubertät erhebliche Pro- bleme haben –, zu verlangen, dass der Vater oder der Wir wollen deshalb die einvernehmliche Lösung von vermeintliche Vater – also derjenige, der die Feststel- Verfahren in Kindschaftssachen stärken. Das heißt, wir lungsklage erheben will – die Vaterschaftsfeststellungs- wollen in gewissen Fällen quasi vorschreiben, dass es klage um ein Jahr verschiebt. Damit wollen wir die eine Art Mediation geben muss, eine Verständigung da- Rechte von Kindern schützen, zumal die Entscheidung rüber, ob man sich nicht doch noch einvernehmlich eini- des Bundesverfassungsgerichts eine solche Regelung gen kann. Wir wollen den Kindern für die Zukunft das nahelegt. Recht eines eigenen Verfahrensbeistandes geben. Sie Ich weiß, dass der Kollege Gehb diese doppelte Mög- sind diejenigen, die in diesen Verfahren am meisten be- lichkeit, die wir vorne und hinten eingezogen haben, als troffen sind und deshalb gegebenenfalls objektive Hilfe zu weit gehend ansieht. Das werden wir noch zu disku- brauchen. tieren haben. Hinsichtlich der Frage, ob dies nach der Die Entscheidung ist das eine. Die Frage, wie man eine Rechtsprechung aus Karlsruhe aus Verfassungsgründen solche Entscheidungen vollstreckt, ist das andere. Des- erforderlich ist, werden wir weiteren verfassungsjuristi- halb schlagen wir bei der Vollstreckung von Sorge- und schen Sachverstand im Rahmen von Anhörungen hinzu- Umgangsentscheidungen Verfahren vor, die das Ganze ziehen können. Ich freue mich auf die Beratungen. schneller und effektiver gestalten und mehr Druck aus- In einem bin ich mir ganz sicher: Wir haben mit bei- üben können. den Gesetzentwürfen einen richtigen Weg beschritten, Insgesamt ist es eine gute Reform. Die Tatsache, dass der dem Wohle von Kindern und der möglichst schnellen sie so lange gedauert hat, jetzt aber mit ihren über Beilegung von familiären Streitigkeiten dient. Dass es 800 Seiten allenthalben große Zustimmung erfährt, zu- im Einzelnen noch Korrekturen geben kann, das gehört zum Struck’schen Gesetz. mindest im Großen und Ganzen – natürlich gibt es Kritik im Einzelnen; das versteht sich von selbst –, zeigt mir, (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) dass wir hier auf dem richtigen Wege sind. Ich bin si- cher, dass der Deutsche Bundestag die teilweise vorhan- denen Monita der Verbände im Rahmen von Sachver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ständigenanhörungen noch diskutieren und dann im Ich gebe das Wort der Kollegin Sabine Leutheusser- Zweifel zu einem vernünftigen Ergebnis kommen wird. Schnarrenberger, FDP-Fraktion. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12221

(A) Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Uns liegt auch ein Vorschlag des Bundesrates vor. Wir (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- sind der Meinung, dass er von der Zielrichtung her in ei- nen und Kollegen! Wir begrüßen es, dass wir heute eine nem Punkt eher nicht zu unterstützen ist. Dieser Aspekt Debatte zum Familienrecht führen; denn es gibt Hand- hat mit der besonderen Lebens- und Entwicklungssitua- lungsbedarf. Auf der Tagesordnung stehen nun im Rah- tion, in der sich die Kinder befinden, zu tun. Es geht um men der verbundenen Debatte mit der großen Reform zweierlei: zum einen um das Grundrecht des Vaters, zu der Freiwilligen Gerichtsbarkeit und dem Verfahren zur wissen, ob er wirklich der biologische Vater ist, und zum Feststellung der Vaterschaft zwei wichtige Themen. Uns anderen um die Grundrechte des Kindes. Das kann in- fehlt aber ein ganz wichtiges Thema, nämlich die über- nerhalb einer Familie zu sehr schwierigen Situationen fällige abschließende Beratung des Unterhaltsrechts. führen. Ich sage ganz offen, dass wir vom Grundsatz bzw. vom Ansatz her eher die Richtung befürworten, die (Beifall bei der FDP) im Gesetzentwurf der Bundesregierung eingeschlagen Sie gehört hierher. Zeitungsberichten konnten wir vor wurde. kurzem entnehmen, dass es wieder einmal eine Einigung Dazu möchte ich noch eine ergänzende Bemerkung gegeben habe. Vor der Sommerpause hatten wir es auch machen. Frau Ministerin, vielleicht sollten wir im Rah- mit dem Versuch einer Einigung zu tun. Leider liegt men dieses Gesetzgebungsverfahrens, möglicherweise heute kein Ergebnis vor. Natürlich tragen Familienrecht in einer Anhörung im Rechtsausschuss zu den verschie- und Unterhaltsrecht zur Gestaltung unserer Gesellschaft denen familienrechtlichen Gesetzentwürfen, noch über- bei. Dass die Unterhaltsberechtigten hier Klarheit brau- prüfen: Was ist mit dem mutmaßlichen biologischen Va- chen und man das nicht weiter auf die lange Bank schie- ben sollte, auch das gehört, wie ich finde, in die heutige ter, der nicht der rechtliche Vater ist? Schließlich gibt es Debatte zum Familienrecht. auch den Fall, dass der rechtliche Vater seine Vaterschaft gar nicht anfechten möchte, dass aber jemand anders, der Frau Ministerin, wir begrüßen sehr, dass jetzt zwei sich nicht in einem rechtlichen Verhältnis zum Kind be- Gesetzentwürfe zu zwei Themen vorliegen; ich habe be- findet, meint, er sei der eigentliche biologische Erzeuger reits gesagt, dass wir sie für sehr wichtig halten. Es geht und Vater. Dieser Punkt ist in keinen der Gesetzentwürfe um die Feststellung der Vaterschaft, und zwar vor dem aufgenommen worden. Ich denke, diese Frage können ganz konkreten Hintergrund der Entscheidung des Bun- wir im Laufe der Beratungen im Rechtsausschuss erör- desgerichtshofs aus dem Jahre 2005 und vor dem Hinter- tern. grund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dieses Jahres. Ein wichtiger Bestandteil eines Familienrechts im 21. Jahrhundert ist ein angepasstes Verfahrensrecht. (B) (D) Dass heimliche Vaterschaftstests vorgenommen wer- Deshalb ist die vorgelegte Reform, die sehr umfangreich den, bewegt nicht nur sehr viele Menschen, sondern ist, für unsere Beratungen eine gute Grundlage. Frau Mi- diese Tests haben auch ziemlich große Dimensionen an- nisterin, es fällt mir besonders leicht, das zu sagen. Denn genommen. Im Jahre 2005 belief sich ihre Zahl auf ein strittiger Punkt, der immer unter dem Schlagwort 50 000. Damit wurde ein Umsatz von 40 Millionen Euro „Scheidung light“ bzw. „Notarielle Scheidung“ behan- gemacht. In 80 Prozent der Fälle wurde die biologische delt wurde, ist in Ihrem Gesetzentwurf nicht enthalten. Vaterschaft des rechtlichen Vaters bestätigt, in immerhin An dieser Regelung wurde auch aus dem Kreis der Ko- 20 Prozent der Fälle aber nicht. Es ist doch klar, dass die alitionsfraktionen schon im Vorfeld Kritik geäußert. Notwendigkeit besteht, etwas zu unternehmen, damit Umso leichter und vielleicht auch umso vorurteilsfreier diese Heimlichkeit aufhört. Wodurch die Väter veran- können wir jetzt in die Einzelberatungen zu diesem um- lasst werden, an ihrer biologischen Vaterschaft zu zwei- fangreichen Gesetzespaket gehen. feln, das muss uns hier im Bundestag nicht interessieren; das hat höchst persönliche Gründe, die im familiären Be- Viele der vorgelegten Regelungen unterstützen wir: reich liegen. Klar ist allerdings, dass diese Entwicklung die Einführung des Großen Familiengerichts, die Bestel- nicht weitergehen sollte. In rechtlicher Hinsicht darf sie lung eines Verfahrensbeistands und all die Maßnahmen, auch nicht weitergehen, weil die Verwertbarkeit der Er- durch die versucht wird, die Verfahren zu verbessern und gebnisse heimlicher Vaterschaftstests durch höchstrich- Kindschaftssachen Vorrang einzuräumen. terliche Rechtsprechung untersagt worden ist. Daher be- grüßen wir, dass zwei Gesetzentwürfe vorliegen. Aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion sehe ich Beratungsbedarf, wenn es um die Verhängung von Ord- An dieser Stelle erlaube ich mir, darauf hinzuweisen, nungsmitteln geht, um umgangsrechtliche Entscheidun- dass die FDP-Bundestagsfraktion im Januar 2005 einen gen durchzusetzen. Das ist ein hochsensibler Bereich. Antrag mit dem einfachen Titel „Verfahren der Vater- Bisher gab es Zwangsmittel. Jetzt sollen es Ordnungs- schaftstests vereinfachen und Grundrechte wahren“ in mittel werden. Ob das für das Kindeswohl das Richtige den Bundestag eingebracht hat, in dem wir genau den ist, wagen wir infrage zu stellen. Ich glaube, es wird gut Weg, den Sie jetzt gehen wollen, die Trennung der Ab- sein, sich auch über diese Punkte intensiv mit Experten stammung von der möglicherweise folgenden Anfech- zu unterhalten. tung, vorgeschlagen haben. Insofern hat die Bundesre- gierung die Gedanken, die wir schon damals in unserem Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Antrag niedergelegt haben, nun in ihren Gesetzentwurf aufgenommen. (Beifall bei der FDP) 12222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: mit Auslandsberührung gebündelt in diesem Allgemei- (C) Ich gebe das Wort der Kollegin Ute Granold, CDU/ nen Teil zusammengefasst. Das ist für die Praxis wirk- CSU-Fraktion. lich hervorragend. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann folgt das Herzstück, die Regelung der Familien- sachen, also Scheidung und alles, was daran hängt: Un- Ute Granold (CDU/CSU): terhalt, Kindschaftssachen, Güterrecht, Hausratsverord- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! nung, Versorgungsausgleich – auch da kommt ja noch Wir beraten heute zwei Gesetzentwürfe. Ich beschränke eine materielle Neuregelung –, Wohnungszuweisung mich auf die Reform des Verfahrens in Familiensachen und auch Gewaltschutzsachen. Im Rahmen der heutigen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichts- ersten Lesung möchte ich nur einige wenige Punkte an- barkeit und überlasse die Klärung der Vaterschaft unab- sprechen. Das vereinfachte Scheidungsverfahren, die so- hängig vom Anfechtungsverfahren sehr gerne meinem genannte Scheidung light, ist ja nun Gott sei Dank vom Kollegen Dr. Gehb, der zu diesem Verfahren nicht nur Tisch. Sie hat nicht nur in der Rechtspraxis, sondern eine sehr gefestigte Meinung hat, sondern geradezu prä- auch unter den Menschen für viel Verwirrung gesorgt, destiniert ist, dazu zu sprechen – wobei wir in der Union weil man dachte, man geht zum Notar und wird geschie- seine Meinung voll und ganz teilen. den, alles geht ganz schnell und einfach. So ist es nicht. Wir haben für Scheidungen schon derzeit ein sehr einfa- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ches und zügiges Verfahren. Das genügt vollkommen. Das zu betonen war notwendig!) Wir möchten aus dem Schutzgedanken der Ehe heraus Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, was die doch dafür sorgen, dass man sich das Ganze genau über- Unterhaltsreform angeht, kann ich Sie beruhigen. Ich legt, dass man gut beraten ist, weil eine Scheidung doch denke, wir sind da auf einem guten Weg und können die weitreichende Folgen für die Betroffenen hat. Aus die- Arbeit an dem Gesetzentwurf sicherlich noch in diesem sem Schutzgedanken der Ehe heraus sagen wir, es soll Jahr abschließen und das dann im nächsten Jahr auf den bei dem Verfahren bleiben, das bislang galt. Das Große Weg bringen, sodass das Gesetz für die Bürgerinnen und Familiengericht – es wurde bereits mehrfach angespro- Bürger zur Anwendung kommt. chen –, das die Trennungs- und Scheidungsangelegen- heiten regelt, wird kommen. Neu ist, dass das Vormund- Was die heutige Reform angeht, so muss ich sagen: schaftsgericht aufgelöst wird. Vormundschaftssachen, Wir sind sehr stolz, dass wir ein so großes Gesetzeswerk Pflegschafts- und Betreuungssachen, Adoptionen, Le- – 800 Seiten, Sie haben es ja gehört – auf den Weg brin- benspartnerschaften und auch die Gewaltschutzsachen gen können. Es ist eine gute Grundlage für die weiteren sind mit geregelt, wobei wir bei der Beratung noch ein- (B) Beratungen. Was das Familienverfahrensrecht angeht, mal über die Gewaltschutzsachen nachdenken sollten. (D) haben wir derzeit ein Sammelsurium von Rechtsvor- Es gibt ja auch Gewaltschutzverfahren und Verfahren zu schriften: die ZPO, das FGG-Verfahren, die Hausratsver- Stalking, die nicht im familiären Bereich liegen. Wir ordnung, also eine Vielzahl von Gesetzen mit verschiede- sollten noch einmal darüber reden, warum zum Beispiel nen Verhandlungsmaximen wie Beibringungsgrundsatz der Fall eines Filmstars, der bestalkt wird und ein Ge- und Amtsermittlungsgrundsatz. Selbst für die Praktiker waltschutzverfahren anstrengt und der Stalker mit ihm ist das Hin- und Herverweisen mühsam. Aber insbeson- gar nichts zu tun hat, es keine familiäre Bindung gibt, dere für die Menschen ist es sehr schwierig, da durchzu- am Familiengericht verhandelt werden soll. Das wurde blicken und Akzeptanz zu finden, gerade weil es den pri- in der Praxis auch schon reklamiert. vaten Bereich des Lebens betrifft, sollte alles für die Bürger praxisnah geregelt sein. (Beifall bei der CDU/CSU) Reformbestrebungen gibt es schon lange Zeit. Schon Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot wurde ange- Mitte der 50er-Jahre gab es eine Kommission zur Re- sprochen. Ein ganz wichtiger Punkt in dieser Reform ist, form des FGG; aber sie hat die Vorschläge nie so weit dass die Kindschaftssachen vorrangig zu behandeln sind, gebracht, dass sie ins parlamentarische Verfahren einge- weil die Kinder am ärgsten von einer solchen Tren- mündet sind. Jetzt ist ein Gesetzeswerk auf den Weg ge- nungs- und Scheidungssituation betroffen sind. Das bracht worden, das, denke ich, modern ist, das allgemein heißt also, innerhalb von vier Wochen ab Antragstellung verständlich ist und mit dem wir insbesondere dafür sor- bei Gericht soll ein erster Termin anberaumt werden. gen, dass das materielle Recht schnell und effektiv Das Jugendamt soll dabei sein, das Kind soll angehört durchgesetzt werden kann. werden. In streitigen Fällen soll auch ein sogenannter Verfahrensbeistand installiert werden, der ein eigenes Wir haben eine klare Gliederung in diesem Gesetzent- Antrags- und Beschwerderecht hat. Das ist eine gute Sa- wurf. Im Allgemeinen Teil gibt es erstmals eine klare che. Dabei muss vielleicht auch einmal hingenommen Definition des Beteiligtenbegriffes. Aufgrund der Viel- werden, dass ein anderes Verfahren, eine Unterhalts- zahl der Beteiligten ist es ganz wichtig, dass dieser Be- sache oder ein Wohnungszuweisungsverfahren, hinten griff normiert ist. Wir haben das Verfahren der einstwei- ansteht, weil das Kindeswohl für uns alle hier – ich ligen Anordnung einheitlich geregelt. Auch die denke, das ist unbestritten – sehr im Vordergrund steht. Rechtsmittel und die Fristen, die bislang sehr unter- schiedlich waren, sind vereinheitlicht. Wir haben erst- Der Einsatz des Umgangspflegers, der in der Praxis mals – das finde ich besonders gut, weil wir in Deutsch- derzeit schon sehr wichtig ist, soll in streitigen Um- land sehr viele binationale Ehen haben – die Verfahren gangsverfahren jetzt gesetzlich geregelt werden. Er ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12223

Ute Granold (A) sucht, zu koordinieren, weil der Kontakt des Vaters oder Dabei möchte ich es belassen. Ich hoffe auf gute Be- (C) der Mutter zum Kind sehr wichtig ist – unabhängig da- ratungen im Ausschuss. Das spannende Thema der Va- von, dass die Eltern auf einer ganz anderen Ebene viel- terschaftsanfechtung überlasse ich dem Kollegen Gehb. leicht erheblich streiten. Wenn die Kinder lange Zeit kei- Vielen Dank. nen Kontakt zu einem Elternteil haben, dann ist das eindeutig schädlich für sie. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: neten der SPD) Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich, Der Gesetzentwurf enthält auch einen Part zur Kon- Fraktion Die Linke. fliktlösung. Die Mediation, die außergerichtliche Streit- (Beifall bei der LINKEN) schlichtung, wurde angesprochen. Das ist eine gute Sa- che für die Scheidungsverfahren, aber noch besser für Jörn Wunderlich (DIE LINKE): die Kindschaftssachen. Man muss darauf hinwirken, Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Einvernehmen herzustellen, wenn es darum geht, das Kollegen! Nach acht Jahren steht nun erneut eine Re- Sorgerecht, das Umgangsrecht und die Herausgabe von form des FGG an. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, Kindern zu regeln. die wir uns vorgenommen haben. Das wird deutlich, wenn man sich die Zielstellung, die mit dem Reformvor- Weil es im Vorfeld bei den Verbänden ziemlich viel haben verbunden ist, anschaut: Ausbau des lückenhaften Irritation gegeben hat, ist es ganz wichtig, dass diese FGG zu einer zusammenhängenden Verfahrensordnung, Streitschlichtung, diese Mediation lediglich an Elemente rechtsstaatliche Ausgestaltung des Verfahrens, Koordi- des sogenannten Cochemer Modells angelehnt wird. Das nierung mit anderen Verfahrensordnungen, anwender- soll auch nur in den Fällen geschehen, die dafür geeignet freundlicher Gesetzesaufbau und anwenderfreundliche sind, dass man eine solche Streitschlichtung durchführt. Gesetzessprache, Stärkung der konfliktvermeidenden Es kann kein Zwang sein, weil man nicht immer mit- und konfliktlösenden Elemente im familiengerichtlichen einander reden kann. Dies gilt gerade dann, wenn Ge- Verfahren. walt im Spiel ist. Innerhalb eines Scheidungsverfahrens hat man es oftmals auch mit Gewaltdelikten zu tun. Es Grundsätzlich stimmt die Linksfraktion diesem An- kann dann nicht sein, dass man gezwungen wird, sich an sinnen zu, weil wir der Meinung sind, dass das Gesetz einen Tisch zu setzen. Man muss eine andere Regelung damit transparenter und bürgernäher wird. finden, notfalls auch eine gerichtliche Entscheidung her- (B) Wenn man sich diesen Gesetzentwurf jedoch einmal (D) beiführen. Auf freiwilliger Basis und in geeigneten Fäl- vornimmt und sich durch die Vorschriften und Angele- len also Ja, ansonsten sollte man damit etwas zurückhal- genheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit quält, dann tender sein. macht man eigentlich eine gegenteilige Erfahrung. Den ersten Entwurf habe ich damals noch als Familienrichter Wir wissen sehr wohl – die Länder haben das im Vor- auf den Tisch bekommen. Ein bisschen hat sich geän- feld kritisiert –, dass das Gesetz natürlich zu einem per- dert. Beim Lesen der einschlägigen Vorschriften wird sonellen Mehrbedarf führen wird. Gerade die Jugend- man aber doch arg gequält. ämter werden dann mehr gefordert. Wir brauchen eine bessere Sachausstattung dieser sogenannten Großen Fa- Der grundsätzliche Ansatz, die entsprechenden Vor- miliengerichte. Das soll es uns aber wert sein, weil das schriften der ZPO für Familiensachen in ein einheitli- ein ganz wichtiges Verfahren ist. Ich füge hinzu: Die ches Familienverfahrensgesetz zu überführen und nur Richter, Anwälte und alle anderen Betroffenen, also die die Besonderheiten in die jeweiligen Regelungsbereiche Professionen in diesem Verfahren, müssen immer gut außerhalb der vor die Klammer gezogenen allgemeinen geschult und weitergebildet sein, damit das, was wir auf Regelung zu stellen, ist jedoch zu begrüßen. den Weg bringen wollen, auch gut angewendet wird. Ebenso begrüßt meine Fraktion die vorgesehene Auf- lösung des Vormundschaftsgerichts und die Förderung Ganz am Schluss noch einige Sätze zum einstweili- der gerichtlichen und außergerichtlichen Streitbeilegung. gen Rechtsschutz. Es soll möglich sein, im summari- Großes Lob – ich glaube, das sehen wir fraktionsüber- schen Verfahren ohne Hauptsacheverfahren schnelle greifend so – verdient die Entscheidung zur Streichung Entscheidungen zu treffen. Weil es aber eben ein sum- der vereinfachten Scheidung, die im ersten Referenten- marisches Verfahren ist, muss die Möglichkeit bestehen, entwurf noch enthalten war; ich meine das sogenannte dass das Hauptsacheverfahren durchgeführt wird. Das Scheidung-light-Verfahren. Wenigstens in diesem Punkt geht nach dem Gesetzentwurf auf Antrag. Auf dem hat die Regierung eingesehen, dass der Schutz von Jus- Deutschen Familiengerichtstag wurde gesagt, es solle tizressourcen nicht zulasten der Rechtsuchenden gehen obligatorisch sein, wenn es um Kindschaftssachen geht. darf. Darüber und auch über die Frage, inwieweit Konsens Der Gesetzentwurf scheint aber in mancher Hinsicht mit den Ländern hergestellt werden kann, die hinsicht- die Philosophie des in der Praxis doch umstrittenen und lich der Kosten das eine oder andere noch einmal geklärt wissenschaftlich nicht unabhängig evaluierten Coche- haben wollen, sollten wir in der weiteren Beratung im mer Modells verwirklichen zu wollen; das ist gerade Einzelnen noch einmal sprechen. schon angesprochen worden. Die Frage ist, wie viel 12224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Jörn Wunderlich (A) Cochemer Modell im Sinne der Sorge- und Umgangsbe- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gert (C) rechtigten verträglich ist. Das wird von meiner Fraktion Winkelmeier [fraktionslos]) eben anders als vom Gesetzentwurf beantwortet. Es kann nicht unter allen Umständen erzwungen werden, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dass Eltern sich einigen. Insbesondere die Fälle der häuslichen Gewalt sind bei den Umgangsregelungen, Nächster Redner ist der Kollege Jerzy Montag, Bünd- wie sie jetzt vorliegen, nicht ausreichend berücksichtigt. nis 90/Die Grünen.

Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot in § 155 ist Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ebenso wie das Hinwirken auf Einvernehmen nicht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! grundsätzlich zu kritisieren. Aber die besondere Situa- In einem Punkt war das Gesetz über die freiwillige Ge- tion in den Fällen häuslicher Gewalt muss einen stärke- richtsbarkeit schon immer eine Mogelpackung: In wei- ren Niederschlag finden. Es fällt auf, dass der Gesetzent- ten Teilen der Regelungen hatte es mit Freiwilligkeit wurf ausdrücklich die Zusammenführung zerstrittener nichts zu tun. Ich denke nur an das gesamte Freiheitsent- Eltern und deren Versöhnung herbeizuführen versucht. ziehungsverfahren, an die Betreuungs- und Unterbrin- Situationen, in denen vorangegangene und angedrohte gungssachen und vieles andere, was mit Freiwilligkeit Gewalthandlungen jede Zusammenführung zum Risiko beileibe nichts zu tun hat. werden lassen und eine Versöhnung weder möglich noch anzuraten ist, wird an keiner Stelle explizit Rechnung Ganz im Gegenteil: Das Gesetz zur Regelung der An- getragen. gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit war von einem obrigkeitsstaatlichen Denken geprägt. Das Rechts- und vor allem familienpolitisch für verfehlt schreibt selbst die Bundesregierung in den einleitenden halte ich, dass anstelle freiwilliger Angebote immer wie- Formulierungen zu diesem Gesetz. Es war voller Lü- der unter Berufung auf das vorgebliche Kindeswohl cken. Die Rechtssprechung hat nach dem Zweiten Welt- Zwangsmaßnahmen ergriffen werden sollen. Dazu krieg jahrzehntelang versucht, grundrechtliche Überle- möchte ich ganz konkret einen besonders wichtigen gungen durch Ausgestaltungen im Richterrecht zur Punkt nennen. Ein Ordnungsmittel zur Vollstreckung – die Geltung zu bringen und die Lücken im Gesetz zu schlie- Frau Ministerin hat es angesprochen – der Herausgabe ßen. von Personen und zur Regelung des Umgangs ist in mei- nen Augen untragbar: nämlich die Ordnungshaft. Es Die Debatte über eine Reform des FGG – das ist geht nicht um einfache Verfahren, in denen ein normaler schon angesprochen worden – gibt es seit 50 Jahren. Seit Titel vollstreckt werden soll. Es geht um Menschen und mindestens 25 Jahren gibt es zudem eine Debatte über (B) um das Kindeswohl. Das Kindeswohl wird hier ja immer ein einheitliches Familienverfahrensrecht. Deshalb be- (D) an erster Stelle genannt. Frau Ministerin, Sie wollen mir grüßen die Grünen es ganz ausdrücklich, dass nun end- doch nicht allen Ernstes sagen, dass es für das Kindes- lich ein umfassender Gesetzentwurf zur Regelung all wohl förderlich ist, wenn ein Elternteil in Ordnungshaft dieser Angelegenheiten auf den Tisch gelegt wird. Der geht? Gesetzentwurf richtet sich im Grundsatz an den Grund- rechten der Bürgerinnen und Bürger und damit der Be- (Zuruf von der SPD: Wieso denn nicht?) teiligten aus und regelt in einem eigenen einheitlichen Familienverfahrensgesetz all das einheitlich, was bisher Es wird sehr schwer werden – das ist mir und meiner in der ZPO, im FGG, im BGB, in der Hausratsverord- Fraktion auch klar –, in diesem verfassungsrechtlich ge- nung und in vielen anderen Regelungen so lückenhaft, schützten und sehr sensiblen Bereich für alle Beteiligten widersprüchlich und schwerverständlich gefasst war, angemessene Lösungen zu finden. Daher schlage ich dass es für die Bürgerinnen und Bürger schier nicht zu vor, das neue familiengerichtliche Verfahren mit wenig verstehen war. Zwang und möglichst viel außergerichtlicher Schlich- tung und Beratung auszustatten. Die Erreichung der selbst gesetzten Ziele des Gesetz- entwurfs – nämlich eine zusammenhängende Verfah- Wir wollen, dass der Gesetzentwurf klare und eindeu- rensordnung zu entwickeln, eine vernünftige Koordinie- tige Regelungen formuliert, die den Kindern und ihrem rung mit den anderen Verfahrensordnungen zu erreichen Wohl in auffallend schwierigen Situationen und proble- und einen anwenderfreundlichen Gesetzesaufbau darzu- matischen Familienphasen Chancen für eine gute Ent- stellen – scheint uns in diesem Entwurf sehr wohl gelun- wicklung und Erziehung eröffnen. Zu den weiteren gen. Insbesondere weise ich wie meine Vorrednerinnen Entwürfen gibt es, denke ich, aufgrund der unterschiedli- und Vorredner auf die Einrichtung des Großen Familien- chen Interessenlagen – das ist hier schon angesprochen gerichts hin. Diese Forderung wird seit vielen Jahren er- worden – noch diversen Diskussionsbedarf in den Aus- hoben und ist sicherlich auch berechtigt. schüssen. Es handelt sich um die Umsetzung der verfas- sungsgerichtlichen Vorgaben. Aber auch diesbezüglich Ich will aber wie meine Vorrednerinnen und Vorred- ist es dem Gesetzgeber – mithin uns – in seinem Gestal- ner auch auf folgenden Punkt hinweisen: In der Begrün- tungsraum unbenommen, die Rechte von Frauen und dung der Vorlage heißt es auf Seite 352 unter anderem: Kindern entsprechend hoch anzusiedeln und zu schüt- zen. Der Schwerpunkt des familiengerichtlichen Verfah- rens liegt im Aspekt der Fürsorge des Gerichts für Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. die Beteiligten und in der erhöhten staatlichen Ver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12225

Jerzy Montag (A) antwortung für die materielle Richtigkeit der ge- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) richtlichen Entscheidung … Dies ist mein letzter Satz, Frau Präsidentin. Nach meiner Überzeugung verträgt sich eine solche rich- Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. tige Zielrichtung nicht mit der Idee einer Scheidung light. Deswegen finden auch wir es richtig, dass dieses (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Verfahren in dem Gesetzentwurf nicht weiterverfolgt sowie des Abg. Jörn Wunderlich [DIE wird. LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Raab [CDU/CSU]) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Lambrecht, Zwei Punkte der Kritik will ich schon an dieser Stelle SPD-Fraktion. anbringen. Die Auseinandersetzung im Einzelnen wer- den wir im Rechtsausschuss zu leisten haben. (Beifall bei der SPD) Die rechtsstaatliche Ausgestaltung des Verfahrens ist eine Kernaussage über die Zielrichtung des Gesetzent- Christine Lambrecht (SPD): wurfs. Zu einer rechtsstaatlichen Ausgestaltung des Ver- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und fahrens gehört auch ein ausreichender und dem System Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es freut mich, und dem einzelnen Bürger und der einzelnen Bürgerin dass weitgehende Einigkeit zum einen bei der Bewer- angemessener Rechtsschutz. Deswegen kritisieren wir tung der Scheidung light – dieser Begriff hat sich einge- ausdrücklich, dass die bisher vorhandene Nichtzulas- bürgert – und zum anderen darüber besteht, dass die Re- sungsbeschwerde in diesem Verfahren ersatzlos gestri- form des FGG-Verfahrens in die richtige Richtung geht. chen wird. Das wird dazu führen, dass es insbesondere in Sicherlich sind noch nicht alle dieser Meinung. Aber wir den Verfahren, in denen es um Freiheitsentziehungen werden bei den anstehenden Beratungen viel erreichen, geht – Abschiebeverfahren, Unterbringungs- und Be- und zwar im Hinblick auf die Transparenz für Bürgerin- treuungssachen, aber auch Freiheitsentziehungen in an- nen und Bürger, zügigere Entscheidungen in Familiensa- deren zivilrechtlichen Bereichen –, zu einer Uneinheit- chen und die Stärkung der Rechte der Kinder. Wenn man lichkeit der Rechtssprechung kommen kann und der sich heutzutage scheiden lassen will und es sind das Um- Rechtszug der Bürgerinnen und Bürger, der bisher mit gangsrecht und unterhaltsrechtliche Sachen zu klären, der Nichtzulassungsbeschwerde bis zum BGH eröffnet dann ist es für den Bürger bzw. die Bürgerin ein sehr war, verkürzt wird. schweres Unterfangen, herauszufinden, welches Gericht zuständig ist und welche Verfahrensgrundsätze gelten. (B) (D) Der zweite Kritikpunkt ist schon angesprochen wor- Das eine wird beim Familiengericht verhandelt und ent- den. Ich will es kurz machen. Die Grundzüge des soge- schieden. Manch andere Dinge, die mit einer Scheidung nannten Cochemer Modells werden von uns begrüßt. zusammenhängen, werden wiederum beim Amtsgericht Aber sie sind nicht für alle Familiensituationen ange- entschieden. Es werden unterschiedliche Akten geführt. messen. All das ist sehr schwer zu verstehen, und zwar nicht nur (Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE für die Bürgerinnen und Bürger, sondern auch für Juris- LINKE]) ten, die nicht selbst mit Familiensachen betraut sind. Deswegen begrüße ich die Einrichtung eines Großen Fa- Auch in diesem Zusammenhang darf ich aus dem Ge- miliengerichts sehr. Man weiß in Zukunft, dass dort alles setzentwurf zitieren. Auf Seite 356 steht: anhängig ist und dass man sich dorthin zu wenden hat. Das familiengerichtliche Verfahren ist wie keine So wird das Verfahren für die Betroffenen transparenter. andere gerichtliche Auseinandersetzung von emo- Das wird auch dazu führen, dass die Gerichte weniger tionalen Konflikten geprägt, die letztlich nicht justi- belastet werden; denn alles ist in einer Hand. ziabel sind, aber einen maßgeblichen Einfluss auf Das wird hoffentlich auch die Dauer der Familienver- das Streitpotenzial und die Möglichkeiten zur gütli- fahren verkürzen. Im Jahr 2005 zum Beispiel betrug die chen Beilegung einer Auseinandersetzung haben … Verfahrensdauer bei Streitigkeiten über das Umgangs- Der Verfahrensgesetzgeber muss ein geeignetes recht genau 6,8 Monate. Das ist zu lange. Zu diesem Instrumentarium zum Umgang mit diesen Konflik- Schluss kommt man, wenn man sich die Situation in ei- ten bereitstellen. ner Familie anschaut, die in Scheidung lebt. In der Zeit, Das ist bisher nicht ausreichend geschehen. Denn in Fäl- in der über das Umgangsrecht gestritten wird, haben len häuslicher Gewalt gilt es, Opfer und Täter nicht zu- Kinder keinen Kontakt zum anderen Elternteil. Dadurch sammenzubringen, sondern voneinander zu trennen. Das kann die Beziehung gefährdet werden. Deswegen freut muss noch im parlamentarischen Verfahren in die ent- es mich, dass der vorliegende Gesetzentwurf vorsieht, sprechenden Verfahrensbestimmungen des Familienver- dass über das Umgangsrecht schnell und vorrangig zu fahrensgesetzes eingearbeitet werden. entscheiden ist, das heißt, dass innerhalb eines Monats nach Antragseingang darüber zu beraten ist. Ich glaube, (Beifall des Abg. Martin Zeil [FDP]) das ist ein wichtiger Schritt, um die Beziehung des Kin- des zu dem Elternteil, mit dem es nicht mehr zusammen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: lebt, zu stärken, zu festigen oder gegebenenfalls über- Herr Kollege Montag. haupt aufrechtzuerhalten. 12226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Christine Lambrecht (A) (Beifall bei der SPD) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) NEN]: Dann rufen wir dazwischen!) Die Rechte der Kinder werden meines Erachtens wei- ter gestärkt, beispielsweise durch die Einführung eines noch etwas zur Anfechtung der Vaterschaft sagen. Mo- Verfahrensbeistandes, der im Gegensatz zum Verfah- mentan sind die Väter in einer schwierigen Situation, renspfleger auf das Verfahren aktiv Einfluss nehmen wenn sie die biologische Vaterschaft feststellen lassen kann. Herr Wunderlich, ich kann in vielen Fällen keine wollen, weil Zweifel aufgekommen sind; denn sie sind Bevormundung darin sehen, dass ein Verfahrensbeistand zu einem Verfahren gezwungen, in dem nicht nur die Va- beispielsweise die Möglichkeit hat, die Elternteile an ei- terschaft festgestellt wird, sondern in dem sie diese auch nen Tisch zu bringen und zusammen mit ihnen zu versu- ausdrücklich anfechten müssen. Sie haben keine Mög- chen, eine Umgangsrechtregelung zu vereinbaren. Selbst lichkeit, sich für einen Mittelweg zu entscheiden. Diese wenn die Parteien aufgrund der Scheidungssituation zer- Situation werden wir jetzt durch ein zweigliedriges Ver- stritten sind: Warum soll man sich nicht wenigstens in fahren entschärfen. Wenn der Vater Zweifel hat, hat er Bezug auf das Kind einigen können? Den Zwang, den die Möglichkeit, nur die Vaterschaft feststellen zu lassen. Sie beschrieben haben, sehe ich aufgrund meiner Erfah- Was er mit dieser Erkenntnis macht, also wenn er zu den rung als Scheidungsanwältin überhaupt nicht gegeben. 20 Prozent gehört, die nicht die biologischen Väter ihrer Kinder sind, ist ihm überlassen. Er kann auch sagen, (Beifall bei der SPD – Jörn Wunderlich [DIE dass die Bindung zu dem Kind mittlerweile so groß ist, LINKE]: Aus der Erfahrung des Gerichts dass er es weiterhin als sein Kind ansieht, auch wenn die kenne ich das aber auch anders!) biologische Vaterschaft geklärt und er nicht der Vater ist. Das war bisher nicht der Fall. Deswegen freut es mich, – Das mag sein. Vielleicht tauschen wir uns über unsere dass es zu dieser Zweiteilung kommt. unterschiedlichen Erfahrungen einmal aus. Aber Ihre strikte Unterstellung, dadurch würden Zwang und Be- Ich habe allerdings bei einem Punkt noch Bauch- vormundung ausgeübt, lehne ich ab; denn oft sind die schmerzen. Ich bitte, dass wir uns alle darüber Gedanken Parteien in einer solchen Situation hilflos. Da sie damit machen. Ich habe den Eindruck, dass die Hürde sehr nicht zurechtkommen, sind sie für einen Vorschlag von niedrig bzw. überhaupt nicht vorhanden ist, die der Vater außen sehr dankbar, mit dem ihnen eine Brücke gebaut zu überschreiten hat, wenn er ein solches Verfahren an- wird, die sie selbst gar nicht bauen könnten. Vielleicht strengen möchte. Er muss lediglich erklären, dass er sollten wir diesen Aspekt in den anstehenden Beratun- Zweifel hegt. gen berücksichtigen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich möchte noch etwas zur Kritik am Ordnungsgeld NEN]: Eigentlich nicht einmal das!) (B) (D) sagen. Wenn gegen Umgangsrechtsvereinbarungen ver- Viel mehr muss er nicht machen. Dann kommt es au- stoßen wird, kann das bislang mit Zwangsmitteln belegt tomatisch zu diesem Verfahren. Man muss bedenken, werden. Das erweist sich aber in vielen Fällen als stump- dass damit Rechte Dritter betroffen sind, nämlich das fes Schwert, weil die Frist abgelaufen ist, innerhalb derer Recht des Kindes und das der Mutter. Wir müssen uns solche Mittel verhängt werden können. Ein Beispiel: Es auch überlegen, ob wir es schaffen – ohne wieder Hür- ist festgelegt, dass das Kind über Weihnachten zum Va- den aufzubauen, also ohne sagen zu müssen: „Beim Fa- ter soll. Die Mutter lässt es aber nicht zum Vater. Es wird schingsfest 19sowieso mit dem und dem“; so ist das ja dann versucht, die Vereinbarung per Zwangsmittel momentan –, einen Mittelweg zu finden, um die Interes- durchzusetzen. Wenn aber Weihnachten bereits vorbei sen und Belange des Kindes und der Mutter zu gewähr- ist, ist das nicht mehr möglich. Dann ist das Zwangsmit- leisten. Vielleicht gelingt uns das in gemeinsamer An- tel ein stumpfes Schwert. Ein Ordnungsgeld könnte auch strengung. In diesem Sinne freue ich mich auf die im Nachhinein verhängt werden – in diesem Fall nach Zusammenarbeit und auf die Beratungen im Ausschuss. Weihnachten –, um der Mutter oder dem Vater aufzuzei- gen, dass man in Zukunft so nicht mehr verfahren darf Vielen Dank. und in erster Linie die Interessen des Kindes zu berück- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) sichtigen hat. Vielleicht ist ein Ordnungsgeld nicht aus- reichend. Aber ich glaube, dass ein vom Gericht ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: hängtes Ordnungsgeld für viele ein Appell ist, mehr Vernunft walten zu lassen. Deswegen, Frau Leutheusser- Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Schnarrenberger, lassen Sie uns noch einmal darüber re- Dr. Jürgen Gehb, CDU/CSU-Fraktion. den! Ich glaube, dass es im Hinblick auf den Umgang (Beifall bei der CDU/CSU) des Kindes mit dem betroffenen Elternteil durchaus von Interesse ist, dafür zu sorgen, dass das Umgangsrecht Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): durchgesetzt wird. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mutter (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat – der CDU/CSU) § 1591 BGB. Sie schauen ganz erstaunt, Herr Strässer. Das hört sich trivial an. Ich werde Ihnen gleich sagen, Lassen Sie mich zum Schluss – ich kann gar nicht auf dass das gar nicht so trivial ist. „Mater semper certa est“, die ambitionierte Rede des Kollegen Gehb, die wir haben schon die Römer gesagt. Ein Auseinanderfallen gleich zu hören bekommen, reagieren – zwischen biologischer Abstammung und rechtlicher Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12227

Dr. Jürgen Gehb (A) Mutterschaft kennt unser Recht nicht. Ich will im Mo- Ein Ehemann kann im Grunde genommen seine Vater- (C) ment die in Deutschland verbotene Leihmutterschaft und schaft nur anfechten, wenn er nach zwölf Monaten Ab- das damit zusammenhängende Problem ausblenden, wesenheit auf einer Bohrinsel in Alaska zurückkommt dass durch In-vitro-Fertilisation extrakorporal in der Pe- und seine Frau ihn mit einem dunkel pigmentierten trischale eine Eizelle befruchtet und dann einer anderen Säugling auf dem Arm empfängt. Alle anderen Hürden Frau implantiert wird. Gängigerweise kennen wir das sind viel zu hoch. Frau Lambrecht, Sie haben vorhin ge- Problem nicht. sagt, die Hürden sind viel zu niederschwellig. Jetzt sind sie viel zu hochschwellig. Ganz anders beim Vater. Da finden wir nicht etwa die Regelung: Vater ist der Mann, der das Kind gezeugt (Heiterkeit) hat. – Schön wär’s. Ich will Ihnen den Fall nennen, mit dem sich das Bun- (Heiterkeit) desverfassungsgericht befasst hat und der dazu geführt hat, dass wir aufgerufen sind, bis zum 31. März nächsten Vater kann nämlich erstens der Mann sein, der zum Zeit- Jahres eine neue Verfahrensart zu finden. Im Jahr 1994 punkt der Geburt des Kindes mit der Mutter verheiratet hat der Beschwerdeführer die Vaterschaft für ein Kind ist – § 1592 Nr. 1 BGB –, oder der Mann, der die Vater- seiner Lebenspartnerin, mit der er zusammengelebt hat, schaft anerkannt hat – § 1592 Nr. 2 BGB –, oder derje- anerkannt. 1997 kamen die ersten Zweifel. Ein Urologe nige, dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt worden hat ihm bescheinigt, dass seine Zeugungsfähigkeit auf ist. Nun gibt es aufgrund des wissenschaftlichen Fort- 10 Prozent reduziert ist. Der Bundesgerichtshof hat ihm schritts treffsicherere Methoden zur Vaterschaftsfeststel- erklärt: Eine 10-prozentige Zeugungsfähigkeit begründet lung als diejenige, die der als Literat auftretende Land- keinen durchgreifenden Zweifel gegen die Vaterschaft. gerichtsrat a. D. aus Freiburg Ingo Iltis in seinem legendären Werk Die Dritte Grazie. Ungraziöse Verse zu Derselbe Mann geht anschließend mit dem Kau- Lasten der Justiz wie folgt in einem Schüttelreim formu- gummi des Kindes zu einem privaten Genlabor und liert hat. Ich rezitiere die Ballade vom Schwängerer der macht den Test. Der Arzt sagt ihm: Ein jeder ist der Va- Frau L.: ter, du nicht. – Der Mann sagt sich: „Jetzt hab ich’s!“ und geht wieder zum Familiengericht. Diesmal sagt der Ein Dreierteam Frau Langer schwenkte, Bundesgerichtshof: Das mag ja alles sein. Nur, das Er- bis sie die Schritte schwanger lenkte. gebnis dieses Gutachtens können wir nicht zu Beweis- Der Richter erst des längern schwankte, zwecken verwerten. – Dafür hätte ich noch Verständnis. wem es denn wohl zum Schwängern langte. Aber es hat auch nicht gereicht, um die Plausibilität sei- Er fand das Schwängeren gelungen ner Darlegung, nicht der Vater zu sein, zu begründen. (B) dem, der den Längeren geschwungen. Die Figur des informationellen Selbstbestimmungs- (D) Der eben diesen Längern schwang, rechts, die vom Bundesverfassungsgericht im Volkszäh- bereute dann das Schwängern lang. lungsurteil in den 80er-Jahren erfunden worden ist und uns allenthalben begegnet, führt wieder einmal dazu, (Heiterkeit und Beifall) dass verhindert wird, dass dem materiellen Recht zum Warum trage ich diese Ballade vor? Durchbruch verholfen wird. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Deswegen haben nicht nur Sie, Frau Leutheusser- NEN]: Weil es sonst keiner kann! – Christine Schnarrenberger, im Januar 2005, sondern auch ich am Lambrecht [SPD]: Zugabe!) 11. März 2005 von dieser Stelle hier in der mir eigenen Bescheidenheit schon einmal gefordert: Wir brauchen Sie dient nicht nur dem Amüsement des Auditoriums neben dem Anfechtungsverfahren mit seinen formell und zugegebenermaßen auch meinem eigenen – ich hätte und prozedural hohen Anforderungen ein Verfahren, um mich nur schwer beherrschen können, Ihnen diese vor- einfach festzustellen, ob man der Vater ist. zuenthalten –, nein. Der Grund ist doppelt sinnvoll: Wenn nämlich die Va- (Heiterkeit) terschaft feststeht, ist Ende, und er sagt: Ich war mal wieder ein bisschen eifersüchtig. Gott sei Dank, alles in Mit der Schaffung etwa molekularbiologischer Untersu- Ordnung. – Wenn er erfährt, er ist nicht der Vater, kann chungen von Haaren, Speichel oder Blut – die klassische er sagen: Der Junge sieht zwar aus wie der Briefträger, DNA-Analyse – ist zwar eine Methode gewonnen. Aber aber er ist ein netter Kerl. was nützt es denn dem rechtlichen Vater, dem Zahlvater – manche würden auch sagen: dem Dukatenesel –, wenn (Heiterkeit) er das nicht geltend machen kann? Er ist mir irgendwie ans Herz gewachsen. Ich will unsere So ist es nach geltendem Recht. Versuchen Sie ein- soziale Bindung nicht kappen und verzichte auf ein An- mal, diese gesetzliche Vermutung – praesumptio iuris – fechtungsverfahren. – Dazu muss er aber die Möglich- zu erschüttern! Ich habe das schon mehrmals gesagt; das keit haben. kann man gar nicht oft genug sagen: (Heiterkeit) (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Zum Abschluss komme ich zu der nachdenklichen DIE GRÜNEN]: Sie haben es schon öfters Frage, ob mit der Schaffung dieses dualen Verfahrens- versucht!) wegs – einmal lediglich Feststellung der Vaterschaft und 12228 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Jürgen Gehb (A) zum anderen das sich eventuell anschließende Anfech- ner gesetzlichen Ermächtigung unschuldige Men- (C) tungsverfahren – der sogenannte heimliche Vaterschafts- schen, die sich wie die Besatzung und die Passa- test, der besser diskreter Vaterschaftstest heißen sollte, giere eines entführten Luftfahrzeugs in einer für sie obsolet wird. Das wage ich zu bezweifeln. Wie soll sich hoffnungslosen Lage befinden, gegebenenfalls so- der Vater, der sich mit Zweifeln über seine Vaterschaft gar unter Inkaufnahme solcher Unwägbarkeiten quält, einen sichereren Eindruck vermitteln, ohne es an vorsätzlich zu töten. die gerichtliche Glocke zu hängen? Er kann erst einmal zu einem privaten Labor gehen und fragen: Bin ich’s Dies ist eine – ich habe sie zitiert – der zentralen Aussa- oder bin ich’s nicht? – Wenn er nicht der Vater ist, ist au- gen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsge- ßer Spesen nichts gewesen. Aber wenn man erst in der richts vom 15. Februar 2006 zu § 14 Abs. 3 des damali- Familie den Zweifel anmeldet oder gar zum Familienge- gen Luftsicherheitsgesetzes. richt wieselt – da bin ich mir ziemlich sicher –, ist der Der Bundesverteidigungsminister hat in einem Inter- Familienfrieden ruiniert. Um das zu verhindern, muss view am 17. September 2007 zum Abschuss von Flug- man, glaube ich, mit diesem diskreten Vaterschaftstest zeugen mit unbeteiligten Passagieren gesagt – ich zitiere noch rechnen. aus dem Interview –: Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Wenn es kein anderes Mittel gibt, würde ich den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Abschussbefehl geben, um unsere Bürger zu schüt- zen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Mit dieser Aussage hat sich der Minister über die Ent- Ich schließe die Aussprache. scheidung und die Ausführungen des Bundesverfas- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf sungsgerichts hinweggesetzt. den Drucksachen 16/6308, 16/6561 und 16/5370 an die (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Jürgen Gehb schlagen. Zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Klärung [CDU/CSU]: Nein!) der Vaterschaft unabhängig vom Anfechtungsverfahren, Tagesordnungspunkt 7 b, liegt inzwischen auf Druck- Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil sache 16/6649 die Gegenäußerung der Bundesregierung ferner ausgeführt, dass im Rahmen der Gestaltungsmög- zu der Stellungnahme des Bundesrats vor, die wie der lichkeiten des Staates die Wahl immer nur auf solche Gesetzentwurf überwiesen werden soll. Sind Sie damit Mittel fallen kann, deren Einsatz mit der Verfassung in einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über- Einklang steht. Für die FDP-Bundestagsfraktion stelle (B) weisungen so beschlossen. ich fest: Der Abschuss entführter Passagierflugzeuge ge- (D) hört nicht dazu. Ich rufe den Zusatzpunkt 7 auf: (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Gert Beratung des Antrags der Abgeordneten Jürgen Winkelmeier [fraktionslos]) Koppelin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Birgit Homburger, weiterer Abgeordneter und der Diese Auffassung vertritt auch die für das Verfassungs- Fraktion der FDP recht mit zuständige Bundesjustizministerin. Sie hat er- klärt: Missbilligung der Äußerungen des Bundesmi- nisters der Verteidigung Dr. Franz Josef Jung Wir haben eine Verfassungsgerichtsentscheidung, zum Abschuss von in Terrorabsicht entführten die uns solcher Diskussionen völlig enthebt. Flugzeugen Über diesen Komplex haben wir, meine Kolleginnen – Drucksache 16/6490 – und Kollegen, am 19. September in einer Aktuellen Über den Antrag werden wir später namentlich ab- Stunde diskutiert. Nach Auffassung der FDP-Bundes- stimmen. tagsfraktion erlaubt es dieser Vorgang aber nicht, einfach zur Tagesordnung überzugehen; denn es geht um die Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Einhaltung des wichtigsten Grundsatzes unserer Verfas- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die sung, um die Einhaltung des Kerngrundsatzes der Unan- Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre tastbarkeit der Menschenwürde. An diesen Grundsatz keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. sind – wir sind alle froh darüber – alle staatlichen Or- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gane gebunden. Der Bundesverteidigungsminister ist gin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP-Fraktion. nach Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes an Recht und Ge- setz gebunden. Der Deutsche Bundestag ist als Gesetz- (Beifall bei der FDP) gebungsorgan an die verfassungsmäßige Ordnung ge- bunden. Deshalb ist es ein wichtiger und notwendiger Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): parlamentarischer Vorgang, Äußerungen, die damit nicht Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin- in Einklang zu bringen sind, hier in dieser Form anzu- nen und Kollegen! sprechen und sie zu missbilligen. ... ist es unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie schlechterdings unvorstellbar, auf der Grundlage ei- des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12229

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Das gehört zur Kontrollaufgabe des Parlaments. sondern auch viele folgende Randziffern dieser Ent- (C) scheidung des Bundesverfassungsgerichts. Es ist eine Das Grundgesetz und die Autorität des Bundesverfas- ganz große Selbstverständlichkeit, dass über die straf- sungsgerichts stehen ebenso wenig zur Disposition wie rechtliche Verantwortung eines Ministers, der einen sol- das Leben der Bürgerinnen und Bürger. Herr Bundesver- chen Befehl gibt, und eines Piloten, der in der Situation teidigungsminister, leider mussten wir erst vor kurzem, ist, ihn ausführen zu sollen, aber nach dem Soldatenge- am Wochenende, in einem Interview lesen, dass Sie an setz nicht ausführen zu dürfen, das Bundesverfassungs- der Position, die Sie im Interview mit dem Focus im gericht an dieser Stelle nichts sagen konnte. September formuliert haben, eindeutig festhalten. Sie haben auf eine Frage geantwortet, es gelte alles das, was (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Renate Sie dazu gesagt haben. Herr Minister Jung, Sie haben Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – hier im Bundestag bisher nicht die Gelegenheit genutzt, Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aha! – Renate klarzustellen, dass Sie nicht beabsichtigen, einen rechts- Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und widrigen Befehl zu erteilen. das ohne Randziffer! – Dr. Guido Westerwelle (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Volker Beck [FDP]: Es ist so! Den Unterschied sollte man [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) als Jurist kennen! Viertes Semester, Herr Kol- lege!) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Aber das Bundesverfassungsgericht musste natürlich Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des klar sagen, dass es eben nicht mit dem Grundgesetz in Kollegen Gehb? Einklang zu bringen ist, wenn für den Abschuss entführ- ter Passagierflugzeuge eine gesetzliche Grundlage – da- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): mals in § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ge- Bitte. schaffen werden soll. Dass es eine schwierige Situation ist, hat uns der Alt- Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): bundeskanzler Helmut Schmidt in vielen Ausführungen Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, Sie ha- deutlich gemacht. ben in Ihrer Rede wiederholt gesagt, das Bundesverfas- sungsgericht habe entschieden, dass der Abschuss von Aber hier geht es darum, Herr Gehb, dass es keine Zivilmaschinen verboten sei. Kennen Sie die Tenorie- Grundlage gibt und auch keine gesetzliche Grundlage rungsformel des Bundesverfassungsgerichts, und kennen dafür geschaffen werden kann, dass entführte Flugzeuge, Sie vor allen Dingen das obiter dictum – das ist eine Ent- die mit Passagieren oder mit Besatzungsangehörigen be- (B) (D) scheidung, die man so nebenbei trifft – in der setzt sind, abgeschossen werden dürfen. Randziffer 130? (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Erwachsene der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE Juristen!) GRÜNEN] und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie lautet: Das ist der Trugschluss!) Dabei ist hier nicht zu entscheiden, wie ein gleich- wohl vorgenommener Abschuss und eine auf ihn Ich mache allgemein weiter, Herr Gehb; vielen Dank. bezogene Anordnung strafrechtlich zu beurteilen Es ist so, dass nach dem Soldatengesetz ein rechts- wären … widriger Befehl mit einer Aufforderung zu einer Straftat In Klammern folgt ein Rattenschwanz von Fundstel- nicht befolgt werden darf, dass auch der übergesetzliche len aus Rechtsprechung und Literatur, die durchaus das Notstand ein solches Verhalten rechtswidrig bleiben lässt Phänomen betreffen, dass jemand in einer solchen Tri- und dass nur in dieser persönlich ganz schwierigen age-Situation, in einer unausweichlichen Situation, steht Situation, wenn ein solcher Fall tatsächlich eintreten und, wenn er handelt, dabei die Wahl zwischen Scylla sollte, eine Abwägung vorgenommen wird, wie weit und Charybdis hat. eine persönliche Verantwortung vorliegt und welche Konsequenzen ein Strafgericht daraus zu ziehen hat. Ist Ihnen diese Randziffer bekannt, und würden Sie vor dem Hintergrund dieses obiter dictums weiterhin Es kann nicht im Raum stehen bleiben, dass ein Bun- Ihre Behauptung aufrechterhalten, dass das Bundesver- desverteidigungsminister nicht nur bereit gewesen wäre, fassungsgericht verboten habe, Zivilflugzeuge dieserart einen rechtswidrigen Befehl zu erteilen, sondern dass er abzuschießen? damit große Verunsicherung in die Kreise der Bundes- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: wehr und ihrer Soldatinnen und Soldaten getragen hat. Es ist auch einfach verboten!) Es ist es die oberste Verantwortung und Pflicht eines Bundesverteidigungsministers, der ja der höchste Vorge- setzte aller Soldatinnen und Soldaten ist, sich nur im Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): Rahmen dessen zu bewegen, was nach unserer Verfas- Herr Gehb, genau diese Ausführungen haben Sie in sung geboten und möglich ist. der Aktuellen Stunde hier im Deutschen Bundestag ge- macht. Ich kenne natürlich nicht nur diese Randziffer, (Beifall bei der FDP) 12230 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Deshalb ist es auch ein einmaliger Vorgang, dass der (Beifall bei der CDU/CSU) (C) Bundeswehr-Verband die Kampfjetpiloten im Rahmen dieser Diskussion zur Befehlsverweigerung aufgefordert Ich möchte versuchen, mich sachlich mit dem Thema und aufgerufen hat. Es ist bis heute im Bundestag noch auseinanderzusetzen. keine Klarstellung hinsichtlich der Pressemitteilungen (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Die Verfas- erfolgt, die besagen, dass es schon eine Aufforderung sung ist kein Klamauk!) geben solle – ich formuliere im Konjunktiv: geben solle –, dass Kampfpiloten ausgesucht würden, die im Zweifel in – Aber die Schlussbemerkungen von Frau Leutheusser- einer solchen Situation, die wir heute nicht antizipieren Schnarrenberger waren das sehr wohl, Herr Vorsitzender können, bereit wären, einen Befehl auszuführen. Hier im der FDP und Herr Fraktionsvorsitzender. Bundestag muss klargestellt werden, dass das gar nicht erst versucht wird, es eine solche Anweisung nicht gibt, Die Debatte über den möglichen Abschuss eines von sodass insofern wieder Beruhigung bei den Soldatinnen Terroristen entführten Flugzeugs wurde in den vergange- und Soldaten einkehren kann. nen Wochen heftig und überaus emotional geführt, so- wohl hier als auch außerhalb dieses Parlaments. Das Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, halten dies alles für überrascht nicht, handelt es sich doch um ein Thema, das einen sehr gravierenden Vorgang. Das darf so nicht im man gerne verdrängen möchte. Gerade wir als Politiker Raum stehen bleiben. Wir dürfen nur über das reden, dürfen diesen Fragen aber nicht ausweichen, auch wenn was verfassungsrechtlich im Rahmen dessen, was das es vielleicht bequemer wäre. Wir sind nämlich in dieses Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung nie- Parlament gewählt worden, um auch auf solche unbe- dergelegt hat und unser Grundgesetz vorsieht, möglich quemen Fragen eine Antwort zu geben. ist. Deshalb bitten wir, unserem Missbilligungsantrag zuzustimmen. Bundesminister Dr. Franz Josef Jung hat dazu Stel- lung bezogen. Als Minister ist es sein Auftrag, Sicher- An die Adresse der Kolleginnen und Kollegen von heitsvorsorge zu betreiben. Sicherheitsvorsorge bedeu- der SPD-Bundestagsfraktion möchte ich sagen: Sie wer- tet, dass man im Voraus und nicht etwa im Nachhinein den frei entscheiden. Herr Kauder hat damals bei der Szenarien durchdenkt, die durchaus realistisch sind, wie Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden den Plenarsaal verlas- seit dem 11. September 2001 sicherlich allen zur Kennt- sen. Jetzt hat er Sie quasi über die Presse angewiesen, nis gebracht wurde, sehr, sehr schmerzlich übrigens. unseren Antrag abzulehnen. (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Aber diese Szenarien sind ja nicht mehr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: realistisch!) (B) Frau Kollegin. (D) Selbstverständlich bildet die Entscheidung des Bun- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): desverfassungsgerichts vom Februar 2006 die Grundlage Sie werden bestimmt in Abwägung aller Argumente aller weiteren Überlegungen. Daran hat Franz Josef Jung entscheiden. auch nie einen Zweifel aufkommen lassen. Es war also in der Tat grotesk und vermessen, einem Bundesminister Vielen Dank. zu unterstellen, wie Sie es leider eben wiederholt getan haben, er wolle bewusst gegen die Verfassung verstoßen. (Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Die rot-grüne Bundesregierung hatte ein Gesetz ver- abschiedet, weil es offensichtlich Regelungsbedarf gab. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dieser Regelungsbedarf besteht auch nach der Entschei- Das Wort hat der Kollege Bernd Siebert, CDU/CSU- dung des Bundesverfassungsgerichts fort. Verantwor- Fraktion. tung in der Politik, so wie ich sie verstehe, bedeutet nicht, nun achselzuckend zur Tagesordnung überzuge- (Beifall bei der CDU/CSU) hen. Vielmehr geht es darum, innerhalb der von den Ver- fassungsrichtern gesetzten Grenzen nach den möglichen, Bernd Siebert (CDU/CSU): angemessenen und verhältnismäßigen Maßnahmen und Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dem politisch Machbaren zu suchen. Nichts anderes Frau Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, in der Tat macht Franz Josef Jung. hatten wir nach der Aktuellen Stunde am 19. September Immerhin geht es um die zentrale Frage, welche erwartet, dass Sie hier einen Missbilligungsantrag ge- Handlungsoptionen unser Land in einer existenziellen genüber unserem Verteidigungsminister einbringen. Das Bedrohungslage besitzt. Die Aussage, ein entführtes haben Sie dann ja auch getan und eben noch einmal be- Flugzeug unter Umständen abzuschießen, stellt doch gründet. Ich will nicht verhehlen, dass ich während der keinen Automatismus dar. Daher gehen die gegenüber Diskussion der letzten Tage durchaus die Vermutung Minister Jung erhobenen Vorwürfe am Kern seiner Ab- hatte – diese haben Sie am Schluss Ihrer Rede auch be- sicht vorbei. Ihm geht es doch vielmehr darum, Men- stätigt –, dass es Ihnen gar nicht um eine sachliche De- schenleben zu retten und die Bevölkerung zu schützen. batte geht, sondern um politischen Klamauk. Das haben ja insbesondere Ihre letzten Bemerkungen deutlich ge- Das Luftsicherheitsgesetz – so wurde in der damali- macht. gen Debatte im Jahre 2004 hier vorgetragen – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12231

Bernd Siebert (A) regelt in sehr engen Grenzen auch die Zulässigkeit Gegenstand des Urteils. Hier hat das Bundesverfas- (C) eines Flugzeugabschusses. … In unserer Demokra- sungsgericht jedenfalls auch eine solidarische Einstands- tie kann nur die Politik eine derart schwere Verant- pflicht des Einzelnen bis hin zur Aufopferung des eige- wortung übernehmen. Wir dürfen diese Last nicht nen Lebens nicht ausgeschlossen. den Soldatinnen und Soldaten aufbürden. Dass heute Terroranschläge vorstellbar sind, die sich Dieses Zitat stammt aus der Rede des damaligen Innen- mit kriegerischen Angriffen gleichsetzen lassen, hat die ministers Schily, gehalten am 30. Januar 2004 hier in Bundesregierung einvernehmlich im Weißbuch festge- diesem Hause. Auch um diese Frage geht es. stellt. Die Schwierigkeit der Beurteilung, ab welchem Ausmaß eines Terroranschlages diese Voraussetzungen Der Notstand, auf den Minister Jung hinweist, ist im erfüllt werden, ist offenkundig. Allein deshalb jedoch Strafgesetzbuch normiert. Das Bundesverfassungs- vor Extremsituationen die Augen zu verschließen, würde gericht hat in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz weder der Schutzpflicht gegenüber den Bürgerinnen und gerade im Hinblick auf diese Bestimmungen die straf- Bürgern gerecht, noch entspräche es der Fürsorgever- rechtliche Seite des Abschusses eines Flugzeuges aus- pflichtung gegenüber den Angehörigen der Bundeswehr drücklich offengelassen. Wer sich im Falle des Miss- und der Sicherheitskräfte, die dringend klare Vorgaben brauchs eines entführten Flugzeuges als Terrorwaffe auf und Rechtssicherheit benötigen. den Notstand beruft, muss auf dieser Grundlage eigen- verantwortlich entscheiden und handeln. (Beifall bei der CDU/CSU) Kein politisch Verantwortlicher wünscht sich, in eine Wehrhafte Demokratie und Rechtsstaat bedeuten, solche Situation gestellt zu werden. Der damalige Minis- dass menschenverachtende Angriffe auf unser Gemein- ter Dr. Peter Struck hat einmal gesagt, es bliebe ihm da- wesen nicht außerhalb unserer Rechtsordnung, sondern nach nur die Entscheidung zum Rücktritt. Diese Aussage gerade mit den Mitteln der Rechtsordnung bekämpft verdeutlicht aber gerade, dass der Inhaber der Befehls- werden müssen. Das mag eine Weiterentwicklung unse- und Kommandogewalt allen Anlass hat, im Voraus eine rer Verfassung und unseres Verfassungsverständnisses rechtliche und politische Klarstellung zu fordern. Insbe- erfordern, ist aber besser, als sich zur Handlungsunfähig- sondere in einer Verfassungsordnung, in der staatliche keit zu verurteilen. Nichts stellt meiner Auffassung nach Sicherheitsorgane nur aufgrund klarer, vorhersehbarer unseren Rechtsstaat mehr infrage, als die Behauptung, und rechtlich einwandfreier Vorgaben eingesetzt werden man sei extremsten Formen terroristischer Angriffe können, müssen grundlegende Weichenstellungen recht- wehrlos ausgeliefert. zeitig im Vorfeld erfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU) (B) Die Akzeptanz eines generellen Abschussverbotes Hierzu auf der Basis des Urteils des Bundesverfas- (D) würde die Entscheidungshoheit über die Frage, wann sungsgerichts nach politischen Lösungen zu suchen, und wo Menschen zu Tode kommen, allein den Terroris- sollte Konsens in diesem Hohen Hause sein. Um nichts ten zubilligen. Der Staat muss jedoch die Initiative be- anderes hat Bundesminister Jung bei seinem Vorstoß ge- halten. Die Antwort auf die Frage, wem das Gesetz des worben. Ich appelliere deshalb an die Fraktionen und an Handelns zuzubilligen ist – Terroristen oder der demo- uns alle in diesem Hause, gemeinsam daran zu arbeiten, kratisch legitimierten Staatsgewalt, die sich für ihr Vor- die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger im Rah- gehen jederzeit politisch und rechtlich verantworten men des Machbaren zu erhöhen. muss –, dürfte eigentlich in diesem Hause einhellig aus- fallen. Der Antrag der FDP wird uns dabei nicht helfen. Des- wegen weisen wir ihn mit aller Entschiedenheit zurück. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar 2006 ist in jeder Hinsicht zu respektieren. Dies Herzlichen Dank. gebietet unsere Achtung vor dem höchsten Gericht, dem (Beifall bei der CDU/CSU) die verbindliche Interpretation des Grundgesetzes zu- kommt. Ein sorgfältiges Studium des Urteils zeigt je- doch, dass das Bundesverfassungsgericht Spielräume Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: aufzeigt Der Kollege Jan Korte hat jetzt das Wort für die Linke. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) – aber selbstverständlich! –, die wir politisch ausfüllen können und müssen. Das Urteil stellt insofern keine ab- Jan Korte (DIE LINKE): schließende Vorgabe für staatliches Handeln in extremen Bedrohungslagen dar. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist die Tragik solch unvorstellbarer Terrorangriffe, So hat das Gericht die juristische Behandlung be- dass sie letztendlich juristisch nicht hinlänglich zu be- stimmter Konstellationen offengelassen. Wie sich die handeln sind. Vielleicht wäre dieser Gesichtspunkt der Rechtslage bei kriegerischen Maßnahmen oder bei der richtige Ansatz für die Debatte gewesen. Es ist aber ge- Abwehr von Angriffen, die auf die Beseitigung des Ge- nau andersherum gelaufen; denn Sie, Herr Minister meinwesens und die Vernichtung der staatlichen Rechts- Jung, haben in einer Art Harter-Mann-Manier – offen- ordnung gerichtet sind, darstellt, war zum Beispiel nicht sichtlich frei von Zweifeln und ohne, dass Sie einmal in 12232 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Jan Korte (A) sich gegangen sind – genau gewusst, was in einem be- Solche Zustände sind im Kern immer antidemokratisch. (C) stimmten Fall, den man sich eigentlich gar nicht näher Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass all die de- ausmalen kann, zu tun ist. Ein Minister, der einen Abwä- mokratisch-rechtsstaatlichen Errungenschaften, über die gungsprozess bereits abgeschlossen hat, bevor überhaupt wir in den letzten Monaten gesprochen haben, in den etwas passiert ist, kann nicht seriös über eine Frage dis- letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten unter großen Op- kutieren, die nicht endgültig zu beantworten ist. fern erkämpft worden sind. Wir sollten daher etwas vor- sichtiger und sorgfältiger mit solchen Fragen umgehen. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Darum stimmen wir diesem Antrag selbstverständlich Winkelmeier [fraktionslos]) aus vollem Herzen zu. Ein Minister, der sich über die Rechtsprechung des (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert höchsten Gerichtes einfach hinwegsetzt – die Kollegin Winkelmeier [fraktionslos]) Leutheusser-Schnarrenberger hat das schon dargelegt –, ist nicht tragbar. Man stelle sich einmal vor, was hier los gewesen wäre, wenn ein Minister der Linkspartei so ge- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: redet hätte. Das muss man einmal klar sagen. Der Kollege Olaf Scholz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Man muss politisch bewerten, in welchem Zusam- menhang Sie Ihre Aussage über abzuschießende Flug- Olaf Scholz (SPD): zeuge getroffen haben. Parallel dazu hat ein anderer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Minister, nämlich Bundesinnenminister Schäuble, von Die Debatte, die wir hier führen, ist eine sehr ernsthafte, eventuellen nuklearen Anschlägen gesprochen. Die und sie sollte mit dem nötigen Ernst geführt werden. Ge- Frage ist, welchen Einfluss diese Äußerungen auf das statten Sie mir deshalb ein paar ernste Bemerkungen. gesellschaftliche Klima haben. Dass der Deutsche Bundestag im Januar 2005 ein Ge- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert setz beschlossen hat, das sich mit der Frage eines mögli- Winkelmeier [fraktionslos]) chen Abschusses von Flugzeugen beschäftigt, das Luft- sicherheitsgesetz, hat eine Ursache. Diese Ursache war Sie erzeugen mit solchen Horror- und Angstszenarien der 11. September 2001, waren die Terroranschläge auf eine Stimmung in der Bevölkerung, wie sie bei einem New York und andere Ziele in den Vereinigten Staaten. allgemeinen Ausnahmezustand herrscht. Die Menschen Wir alle erinnern uns sehr genau an diese Ereignisse. Ich (B) werden dadurch empfänglich für autoritäre Politik- glaube, in diesem Parlament oder anderswo sitzt nie- (D) ansätze, die wir grundsätzlich ablehnen. Das ist der Kern mand, der sich nicht präzise daran erinnern kann, was er der politischen Auseinandersetzung. machte, als ihn diese Nachricht erreichte, der die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert schrecklichen Bilder von den Menschen, die aufgrund Winkelmeier [fraktionslos]) des Anschlages dem Tode geweiht waren, nicht immer wieder vor Augen hat. Die entscheidende Frage in den Debatten ist, ob ange- sichts der inneren Militarisierung, die mit der von der Ich selbst verbinde damit noch sehr präzise andere Er- Großen Koalition verursachten äußeren Militarisierung innerungen. Ich war zu dieser Zeit Innensenator in Ham- zusammenhängt, die Verhältnismäßigkeit noch gewahrt burg und trug damit Verantwortung. Wir unternahmen ist und welche Ängste in der Bevölkerung dadurch aus- damals den Versuch, herauszufinden, ob sich in der Stadt gelöst werden. Wenn eine Bevölkerung Angst hat, dann oder anderswo in Deutschland weitere Terroristen befin- ist sie in der Folge nicht mehr mündig, dann lebt sie den; denn wir mussten damals lernen, dass sich drei der nicht mehr frei und artikuliert sich entsprechend. Attentäter ganz legal in Deutschland, in Hamburg auf- hielten. Eine ganze Nacht lang versuchte ich mit der (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Hamburger Polizei und allen anderen Sicherheitsbehör- Winkelmeier [fraktionslos]) den, mögliche Komplizen und andere Täter zu finden. In der Polizeizentrale waren immer wieder die Bilder der Die FDP hat heute einen Missbilligungsantrag einge- Anschläge zu sehen. Deshalb finde ich es nur richtig, bracht. Dies ist auch deswegen richtig, weil die Bundes- dass sich der Deutsche Bundestag sehr sorgfältig mit der kanzlerin, die eigentlich die Richtlinienkompetenz hat, Frage beschäftigt, was man tun kann. Deshalb fand und offensichtlich nicht in der Lage ist, dazu ein klares Wort finde ich es richtig, dass sich die letzte Bundesregierung zu sprechen. Es gibt heute in diesem Haus eine Mehrheit darüber Gedanken gemacht hat und einen entsprechen- für diesen Antrag. Ich würde mir wünschen – das ist un- den Gesetzentwurf auf den Weg gebracht hat. sere Aufforderung an die SPD –, dass die SPD zu ihren Worten steht und nun Taten folgen lässt. Debatten wie die, die wir heute führen, sind aber im- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- mer wieder auch Anlass, sich sorgfältig mit der Frage zu neten der FDP und des Abg. Gert Winkelmeier beschäftigen, was richtig ist. Im Nachhinein, nachdem [fraktionslos]) ich damals und jetzt und auch im Zusammenhang mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Gele- Ich glaube, dass wir in diesen Debatten mit Hysterie genheit hatte, mich mit dem Thema auseinanderzuset- und einer Haudrauf-Stimmung nicht weiterkommen. zen, muss ich sagen: Ich bin froh darüber, dass es Kläger Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12233

Olaf Scholz (A) gegen das Gesetz gegeben hat, das ich als Abgeordneter kunft treffen. Es muss der schicksalhafte Einzelfall blei- (C) mit beschlossen habe, und ich bin nach langer, sehr sorg- ben, in dem die Menschen, die die Verantwortung fältiger Überlegung sehr wohl der Überzeugung, dass tragen, entscheiden. Darum distanzieren wir uns von den die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts richtig Abwägungen, die der Bundesverteidigungsminister in ist. dieser Frage getroffen hat. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN) Wir sollten diese Debatte nutzen, um uns mit den Er- Ich bitte darum, diese Debatte zu nutzen, um wieder wägungen des Gerichts auseinanderzusetzen. Das Ge- auf den Einzelfall zurückzukommen. Ich habe den richt hat uns gesagt: Ihr dürft kein Gesetz machen, das Wunsch, dass der Minister, dessen Arbeit ich unterstütze den Abschuss eines Zivilflugzeuges mit unschuldigen – darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen –, Menschen, die dem Tod geweiht sind, regelt. – Wir dür- die Gelegenheit nutzt, dies zu tun. Das ist für ihn und fen das nicht legalisieren, das ist im Kern die Aussage seine Arbeit genauso wichtig wie für die Bundeswehr des Bundesverfassungsgerichts. und die Soldaten, die dort tätig sind. Wir müssen uns an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und, (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Keine Carte wie ich finde, aus Überzeugung an die Erwägungen des blanche!) Gerichts halten. Man kann verstehen, warum wir uns im Januar 2005 so (Beifall bei Abgeordneten der SPD) entschieden haben. Es ist aber richtig, dass uns das Bun- desverfassungsgericht zurückgerufen und gesagt hat: So Wir müssen zu Anträgen, die in diesem Parlament ge- könnt ihr das nicht machen; ihr könnt das nicht durch ein stellt werden, Stellung beziehen. Deshalb will ich Ihnen Gesetz regeln. an dieser Stelle ausdrücklich sagen: Die SPD-Bundes- tagsfraktion hat sich entschieden, den Missbilligungsan- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der trag abzulehnen; FDP sowie der Abg. Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, denn wir wollen, dass Herr Jung Verteidigungsminister dass die Situation, die entstehen kann, eine ganz außer- bleibt. ordentliche ist und es keine generellen Regelungen ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ben kann, nach denen man sich auf diese Situation vor- (B) (D) bereitet. Es hat nicht gesagt: Wenn man sich entscheidet, Niemand könnte verantworten, dass jemand Verteidi- die Verantwortung zu tragen und die Möglichkeiten der gungsminister ist, dem vom Bundestag eine solche Miss- Bundeswehr einzusetzen, bleibt man straffrei. Es hat nur billigung ausgesprochen wurde. Das ist für uns der gesagt: Es kann sein, dass es so ist. Das ist eine Frage, Grund, so zu entscheiden. Er soll weiter im Amt bleiben. die das Gericht nicht zu klären hatte. Das Gericht hat (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- niemandem, weder den Soldaten der Bundeswehr noch NEN]: Sie schreiben gerade Bundestagsge- dem Bundesverteidigungsminister, die Sicherheit gege- schichte mit dieser Argumentation!) ben, dass sie sich darauf verlassen können, dass das zwar illegal ist, aber straffrei bleibt. Er soll in dieser Regierung die Verantwortung für die Soldaten dieser Republik tragen, und er soll es gut ma- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das ist der chen. Deshalb gibt es von uns keine Zustimmung zu die- Punkt!) sem Antrag. Das ist nicht das Ergebnis der Verfassungsrechtspre- Ich will ein weiteres Thema ansprechen, das in die- chung. Dieser Spielraum ist durch das Urteil des Bun- sem Zusammenhang eine Rolle spielt. Wir haben mit desverfassungsgerichts nicht entstanden. dem damaligen Gesetz den Versuch unternommen, eine (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und Regelung zu treffen, die so nicht zu treffen war. Aber das des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bundesverfassungsgericht hat uns gesagt, dass wir selbstverständlich eine Regelung treffen können für den Insofern hat uns das Bundesverfassungsgericht damit al- Fall, dass es sich um unbemannte Flugzeuge oder leingelassen. Es hat richtigerweise darauf hingewiesen, Schiffe handelt, oder um Flugzeuge und Schiffe, in bzw. dass wir uns in einer ganz besonderen und außerordentli- auf denen sich nur Terroristen und Attentäter befinden. chen Situation unserer Verantwortung zu stellen haben. Ich glaube, es ist richtig, wenn wir sehr bald eine solche Es gibt nicht den Ausweg einer vorweggenommenen Regelung, die das Gericht ermöglicht hat, treffen. Abwägung. Da sind wir mit dem Bundesverteidigungs- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) minister nicht einer Meinung; denn es ist gewissermaßen wie ein Gesetz, wenn ich mir jetzt überlege, was ich in Übrigens ist das der wahrscheinlichere Fall. Aufgrund einer solchen Situation tun werde. Das Bundesverfas- all der Erkenntnisse, die wir aus der damaligen Katastro- sungsgericht hat uns gebeten, genau das zu unterlassen. phe gezogen haben, und all den zusätzlichen Sicherheits- Es hat gesagt: Wir können das nicht wie ein Gesetz re- maßnahmen ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass uns geln. Wir können keine abstrakte Regelung für die Zu- eine genaue Kopie der damaligen Anschläge droht; es 12234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Olaf Scholz (A) werden andere Situationen sein. Da wäre es hilfreich, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (C) wenn uns in dem zulässigen Rahmen eine gesetzliche bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Hilfe zur Verfügung stünde. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Was brauchen wir jetzt? Wir brauchen Maßnahmen und insbesondere der Vorstellungen der CDU/CSU- der Gefahrenabwehr, mit denen wir die Polizei der Län- Fraktion und dessen, was Herr Siebert gesagt hat. der bei den Aufgaben, die sie in diesem Zusammenhang Niemand aus der Opposition verkennt die Zwangs- haben, unterstützen können. Weil wir nicht wollen, dass lage, in der sich der Verteidigungsminister befindet, und sich unsere Polizei mit Kampfflugzeugen und U-Booten spricht ihm ab, dass das Horrorszenario an die Nerven ausrüstet, müssen wir gesetzlich ermöglichen, dass ihnen gehe, dass sich ein Flugzeug einem Fußballstadion oder in diesen Fällen die Bundeswehr hilft, aber eben nur in einem Atomkraftwerk nähert. Darüber hat er ja in der den Fällen, in denen das Gericht das für zulässig gehal- Hessenschau geredet. Allerdings gibt es ein großes ten hat, und nur auf diesen Bereich bezogen. Unser Vor- Aber: Auch diese Zwangslage kann nicht entschuldigen, schlag ist, dies im Rahmen von Art. 35 des Grundgeset- dass der auf die Verfassung vereidigte Minister so tut, als zes zu regeln. Wir planen aber in keiner Weise den habe es die Entscheidung des Bundesverfassungsge- Einsatz der Bundeswehr im Innern. Das brauchen wir richts nicht gegeben. Dies ist auf das Schärfste zu miss- nicht, und das ist auch nicht notwendig. billigen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und der LINKEN sowie der Abg. Renate bei der FDP und der LINKEN sowie des Abg. Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Gert Winkelmeier [fraktionslos]) Damit es keine Missverständnisse gibt: Wir haben Wir mussten als Grüne dieses Urteil auch zur Kennt- gute Gründe, den Einsatz der Bundeswehr zu beschrän- nis nehmen; es wurde schließlich gegen uns erlassen. ken. Ihre Instrumente sollen den Innen- und Sicherheits- Wir waren der Ansicht, dass die Verfassung den Ab- behörden zur Verfügung stehen; die Bundeswehr ist in schuss eines besetzten Passagierflugzeuges verbiete und solchen Fällen nur als Hilfe gedacht. Wir wollen eben es deswegen nicht nötig sei, dies ausdrücklich noch ein- nicht, dass über eine ausgeweitete Definition des Vertei- mal ins Gesetz zu schreiben. Das Bundesverfassungsge- digungsfalles eine Situation entsteht, in der die Bundes- richt hat den Kollegen Schily in der mündlichen Ver- wehr in immer mehr Fällen eingesetzt wird. Ich bitte handlung gefragt: Wenn Sie gar keine Maschine alle, die diesen Gedanken verfolgen, ihn schnell wieder abschießen wollen, weshalb schreiben Sie dann eine Be- fallen zu lassen und die Kurve zu kriegen; denn das kann fugnis ins Gesetz? Das war eine nur zu berechtigte nicht gutgehen. (B) Frage. Wir als Grüne haben verstanden; dies gilt auch für (D) Soziologisch und bei Betrachtung der internationalen die SPD. Meine Damen und Herren von der Union, Sie Politik kommen wir mit diesem Begriff sehr weit; man sollten endlich verstehen. Darauf warten wir. wundert sich, was alles Verteidigung sein kann. Leicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN könnten Fälle auftreten, die wir alle gemeinsam nicht sowie bei Abgeordneten der LINKEN) meinen. Deshalb sollte es bei der scharfen Trennung bleiben, die unser Grundgesetz vorgibt. In diesem Sinne Herr Kollege Siebert, da Sie ständig nach Wegen und sollten wir etwas Sinnvolles zustande bringen. Ich for- Auswegen suchen und denken, es müsse irgendwie doch dere daher alle auf, unseren Vorschlägen zu folgen, was noch gehen, zitiere ich aus der Entscheidung: die Grundgesetzergänzung anbetrifft, und ansonsten Eine solche Behandlung bitte ich nochmals, den Antrag abzulehnen. – der Abschuss – Schönen Dank. missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde (Beifall bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle und unveräußerlichen Rechten. Sie werden da- [FDP]: Ihr seid mir Helden! Selbstbewusste durch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung an- Parlamentarier! Das macht Parlamentsge- derer benutzt wird, verdinglicht und zugleich schichte, Herr Scholz! Sie missbilligen, und entrechtlicht; … wir dürfen nicht missbilligen!) Eine schlimmere und zugleich eindeutigere Aussage ist kaum möglich. Kein Minister darf entrechtlichen oder Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: verdinglichen. Weiter heißt es in diesem Satz, es werde Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege den „Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Wolfgang Wieland. Menschen um seiner selbst willen zukommt“. Hier ist Schluss mit allen anderen Überlegungen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bei der FDP und der LINKEN) nehme den Zwischenruf des Kollegen Westerwelle auf: Herr Kollege Scholz, Sie haben hier zwar erklärt, Sie Was Ihren wiederholten Hinweis auf eine Passage an- würden die Hand für die Missbilligung nicht heben; aber geht, in der von einem Angriff auf die Grundlagen des Ihr Beitrag war in der Sache nichts anderes als die Miss- Rechtsstaates die Rede ist, fordere ich Sie auf, zwei billigung des Verteidigungsministers Sätze weiter zu lesen. Da heißt es, dass die Szenarien ei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12235

Wolfgang Wieland (A) nes Flugzeugangriffes gerade nicht diese Kriterien erfül- dings“ ist an dieser Stelle ein Synonym für das Wort (C) len. Deswegen gibt es auch keinen Quasi-Verteidigungs- „völlig“. Aus dieser Situation kommen Sie nicht heraus, fall, von dem Herr Schäuble immer redet. Er kann seinen auch wenn Sie den kriminellen Akt, dass ein entführtes ganzen Otto Depenheuer und was er sonst immer holt, Flugzeug als Terrormittel benutzt wird, zur militärischen um einen Ausnahmezustand herbeizureden, vergessen; Angriffshandlung umdefinieren und versuchen, daraus es käme hier zu keinem anderen Ergebnis. Die Entschei- einen Verteidigungsfall zu konstruieren. Sie können sich dung des Bundesverfassungsgerichts war eindeutig. so viel drehen und winden, wie Sie wollen: Sie sind lei- der Ihrem Kollegen Schäuble auf den Leim gegangen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der sich schon als Student mit einem Grundsatzurteil des und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Bundesgerichtshofes hätte auseinandersetzen müssen. LINKEN) Vor 55 Jahren hat der BGH zwei Euthanasieärzte wegen Ein letzter Satz zum außergesetzlichen oder überge- Beihilfe zum Mord verurteilt. Als Rechtfertigung sagten setzlichen Notstand. Wie der Begriff schon sagt, ist es sie, sie hätten mitgemacht, um zumindest einen Teil der der Zustand außerhalb des Gesetzes. Aber ein Minister Kranken zu retten. Diese Argumentation hat der BGH steht doch nicht außerhalb des Gesetzes; er hat sich strikt verworfen, weil der Grundsatz des kleineren Übels nicht innergesetzlich zu bewegen. Der Bürger Jung mag das gilt, wenn es um Menschenleben geht. vorbringen, wenn er denn – behüte, dass es geschieht – Herr Minister, das Fatale an Ihrer Haltung ist nicht in einmal angeklagt wäre. Dann könnte er sich Schuld aus- erster Linie Ihr Starrsinn. Sie sind der Inhaber der Be- schließend oder entschuldigend darauf berufen. Aber er fehls- und Kommandogewalt. Damit ist Verantwortung kann doch als Minister keine staatsrechtliche Konstruk- verbunden. Sie haben Verantwortung für Ihre Untergebe- tion schaffen, nach der dies ein möglicher Weg wäre. nen, in diesem Fall für die Piloten der Jagdgeschwa- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der 71 und 74. Dieser Verantwortung werden Sie jedoch sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- nicht gerecht; denn einen Teil dieser Piloten haben Sie KEN) nach Ihren eigenen Aussagen bereits vor Jahresfrist, während der Fußballweltmeisterschaft, auf eine Straftat Ich komme zum Schluss. Der eine Teil des Kabinetts verpflichtet, nämlich auf einen glatten Verstoß gegen erklärt frank und frei, er wolle Passagiermaschinen ab- § 11 des Soldatengesetzes. Sie wollen aus dieser Angele- schießen lassen, selbst wenn es keine gesetzliche Rege- genheit straffrei herauskommen? Das ist ungeheuerlich lung dafür gibt, und zwar so lange, bis es sie gibt. Der und in der Geschichte der Bundesrepublik einmalig. andere Teil des Kabinetts ist darüber entsetzt. Es ist keine Daffke der Opposition, wenn sie fragt: Wie steht (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) dazu eigentlich die Person, die die Richtlinienkompetenz (B) In einer Demokratie muss der Bürger im Prinzip da- (D) hat? Warum schweigt sie an dieser Stelle? Wie so oft ist rauf vertrauen können, dass sich seine Politiker Recht sie nicht festgelegt. Ich denke, das Parlament sollte ihr und Verfassung nicht nach eigenem Gutdünken zurecht- eine Entscheidungshilfe geben, indem es diese Äuße- biegen. Wie können Sie erwarten, dass Ihre Soldaten, rung und dieses Verhalten von Minister Jung eindeutig zum Beispiel die in Afghanistan, bei einem solchen Vor- missbilligt. bild nach wie vor rechtstreu handeln? Ganz nebenbei: In (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Praxis würden Sie niemals die erforderliche Zahl von und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der Piloten zusammenbekommen, die an 365 Tagen im Jahr LINKEN) in zwei Geschwadern bereit wären, Ihre Abschussbe- fehle auszuführen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie haben sich völlig verrannt, Herr Minister. Weil Sie Zum Abschluss dieser Debatte spricht der Kollege da offensichtlich nicht mehr alleine herauskommen, Gert Winkelmeier. muss sich die Bundeskanzlerin endlich öffentlich von Ih- nen distanzieren und Ihnen eine Rüge aussprechen, Gert Winkelmeier (fraktionslos): (Beifall bei der LINKEN) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Entweder haben Sie, Herr Minister Jung, in Ihrem Haus auch wenn sie damit ihren Parteifreund Herrn Koch ver- grottenschlechte Juristen, oder Sie haben während Ihres grätzen sollte. Studiums ab und zu einmal geschlafen. Wie sonst ist es Vielen Dank. zu erklären, dass Sie bis heute darauf bestehen, Men- schenleben gegen Menschenleben abzuwägen, und da- (Beifall bei der LINKEN) mit gegen Art. 1 des Grundgesetzes verstoßen? Dafür wollen Sie sogar noch im Vorhinein Straffreiheit zugesi- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: chert bekommen. Sie stehen einfach mit dem Grundge- Ich schließe die Aussprache. setz auf Kriegsfuß. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/6490 mit dem Titel Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil „Missbilligung der Äußerungen des Bundesministers der zum Luftsicherheitsgesetz festgestellt, dass dies „schlech- Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, zum Abschuss von terdings unvorstellbar“ ist; der Ausdruck „schlechter- in Terrorabsicht entführten Flugzeugen“. Die Fraktion 12236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) der FDP verlangt namentliche Abstimmung. Ich bitte die (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Daniel (C) Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen Bahr [Münster] [FDP]) Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich jetzt die Abstimmung. Peter Friedrich (SPD): Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Stimme nicht abgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. und Kollegen! Alle, die noch hiergeblieben sind, um ein Dann schließe ich hiermit die Abstimmung. Ich bitte die wenig zuzuhören, lade ich sehr herzlich ein, dieser De- Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh- batte zu folgen, weil wir in der Tat über ein Thema spre- lung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Ab- chen, das eigentlich – dies erkennt man, wenn man die stimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.1) Debatten des heutigen Tages verfolgt hat – alles durch- zieht, was wir hier tun. Wir setzen unsere Beratungen fort. Ich rufe Tagesord- Wir haben heute über die Zukunft des Arbeitsmarktes nungspunkt 9 a und 9 b auf: und über die Kinderbetreuung debattiert. Auch, wenn es a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens um die äußere Sicherheit geht, kommt eigentlich kein Ackermann, Kerstin Andreae, Ingrid Arndt- Redner darum herum, darüber zu reden, dass es um eine Brauer und weiteren Abgeordneten eingebrachten nachhaltige Sicherung unseres Wohlstandes, unserer Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Freiheit und der Solidarität geht. Insofern durchzieht das Grundgesetzes zur Verankerung der Genera- Thema Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit tionengerechtigkeit sämtliche Debatten des Deutschen Bundestages immer (Generationengerechtigkeitsgesetz) wieder. Deswegen war es das Anliegen von über 100 Abgeordneten, das, was die Politik permanent be- – Drucksache 16/3399 – schäftigt, auch ins Grundgesetz aufzunehmen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Der Gesetzentwurf liegt Ihnen vor. Der Kernsatz lau- Innenausschuss tet: Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Der Staat hat in seinem Handeln das Prinzip der Ausschuss für Arbeit und Soziales Nachhaltigkeit zu beachten und die Interessen künf- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend tiger Generationen zu schützen. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Die Initiatorinnen und Initiatoren begehren, das ins Technikfolgenabschätzung Grundgesetz aufzunehmen. Haushaltsausschuss (B) Der Gedanke der Nachhaltigkeit ist bereits heute in (D) b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Diana Art. 20 a des Grundgesetzes angelegt. Dort ist er aber Golze, Katja Kipping, Jan Korte, weiterer Abge- auf den Bereich der Umwelt, der Ökologie, einge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE schränkt. Wir wollen, dass dieser Gedanke darüber hi- Soziale Gerechtigkeit statt Generationen- naus gilt. Ich werde einige Beispiele dafür nennen, in kampf – Für eine nachhaltige Politik des welchen Lebensbereichen der Gedanke der Nachhaltig- Sozialstaates im Interesse von Jung und Alt keit verankert werden müsste und worüber Politik disku- tieren sollte. – Drucksache 16/6599 – Wir haben uns der Frage zu stellen, ob die Formulie- Überweisungsvorschlag: rung eines solchen Staatszieles geeignet ist, der Politik Rechtsausschuss (f) die Selbstverpflichtung aufzulegen, dass sie die Interes- Innenausschuss Finanzausschuss sen künftiger Generationen und den Grundsatz der Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Nachhaltigkeit tatsächlich in allen Politikbereichen be- Ausschuss für Arbeit und Soziales herzigt. Dazu wird mein Kollege Carl-Christian Dressel Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend insbesondere die juristische Seite abdecken. Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Ich möchte einiges zu den verschiedenen Themenfel- Technikfolgenabschätzung dern sagen, um die es geht. Wir Initiatorinnen und Initia- Es ist verabredet, hierüber eine Dreiviertelstunde zu toren aus vier Fraktionen dieses Hauses sind uns in dem debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann Ziel einig, die Selbstverpflichtung der Politik zu errei- ist es so beschlossen. chen, bei allen Entscheidungen auch die Generationen- gerechtigkeit ins Auge zu fassen. Wir sind uns aber kei- Ich gebe zu, dass ich die Aussprache gerne eröffnen neswegs einig, wenn es um die Instrumente geht, die zu würde, wenn die meisten, die dieser Debatte nicht folgen benennen sind. Deswegen sind wir wahrscheinlich auch wollen, den Saal verlassen und sich die übrigen auf ihre in unterschiedlichen Parteien. Plätze begeben haben. (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Das stimmt!) Ich eröffne die Aussprache und gebe zuerst dem Kol- Nachdem es uns gelungen ist, über alle Generationen legen Peter Friedrich für die SPD-Fraktion das Wort. von Abgeordneten hinweg Initiatoren zu finden, finde ich es sehr bedauerlich, dass es uns nicht gelungen ist, 1) Ergebnis Seite 12238 C dies auch über alle Parteien hinweg zu erreichen. Ich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12237

Peter Friedrich (A) danke der Fraktion, die sich Die Linke nennt, dafür, dass sen zu gelangen. Ich glaube, da sollte es keinen Dissens (C) sie einen Antrag eingebracht hat, in dem sie auf der ers- geben, auch wenn einige Zwischenrufer sich darum be- ten Seite begründet, warum es des Teufels ist, über mühen. Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit zu reden, während sie auf der zweiten Seite acht Forderungen auf- Des Weiteren möchte ich ein Thema ansprechen, das, stellt, was jetzt dringend zu tun ist, um Generationenge- denke ich, alle umtreibt und auf das auch der zweite Teil rechtigkeit und Nachhaltigkeit herbeizuführen. Dieses des Antrags abhebt: Steuern und Staatsverschuldung. Verhalten ist äußerst schizophren. Für mich sind Vermögen- und Erbschaftsteuer ein origi- näres Thema auch der Generationengerechtigkeit. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Wi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) derspruch bei der LINKEN) In einer Situation, in der eine Gesellschaft demografi- Ich teile nicht alle Ziele, die dort genannt werden, aber schen Wandel bewältigen muss, muss sie auch von de- erst zu sagen, das Ganze sei nicht nötig und es sei falsch, nen Steuern verlangen können, die von diesem demogra- darüber zu reden, um dann zu sagen, dass man das alles fischen Wandel in besonderer Weise profitieren. Das bitte schön ändern muss, um die Ziele zu erreichen, ist sind unter anderem Erbinnen und Erben; das sind die nicht gerade eine konsequente Politik. Vermögenden. Ich möchte etwas zu einem der Hauptfelder sagen, auf Wir wollen, dass diejenigen, die ihren Unterhalt da- dem die Nachhaltigkeit, so glaube ich, eine stärkere durch bestreiten, dass ihr Geld für sie arbeitet, einen hö- Rolle spielen sollte, nämlich zur sozialen Sicherung. Die heren Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtaufgabe leis- letzte Bundesregierung, die letzte Koalition, hat es ge- ten als diejenigen, die mit ihrer eigenen Hände oder schafft, bei der Rente die Kapitaldeckung als eine wei- Köpfe Arbeit ihr Auskommen bestreiten müssen. Des- tere Säule einzuführen. Ich glaube, dass das ein großer wegen gehört das für mich dazu. Ich verstehe aber nicht, Fortschritt gewesen ist. Ich denke, wenn man sich an- dass die Staatsverschuldung im Antrag der Linken ne- schaut, wie die Menschen in diesem Land dieses Ange- giert wird. Die Bundesregierung dazu aufzufordern, bot aufnehmen, dann merkt man, dass es inzwischen auf nichts vorzulegen, was eine Verschuldungsbremse be- Akzeptanz stößt. deuten würde, hat, mit Verlaub, mit linker Politik über- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der haupt nichts zu tun. FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich glaube aber nicht – um das auch auszuführen und der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Unterschiede zu benennen –, dass es sinnvoll ist, das GRÜNEN – Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE (B) Element der Kapitaldeckung allen Formen sozialer Si- LINKE]) (D) cherung überzustülpen, insbesondere dort, wo es sich um Die größte Umverteilung in diesem Land findet dadurch Risikoversicherungen handelt. Das Motto „Spare in der statt, dass der Bund über Steuern insbesondere von den- Zeit, dann hast du in der Not!“ taugt aus meiner Sicht jenigen, die arbeiten, Geld einnehmen muss und es den- nicht für Risiken des Lebens, die immer in Solidarität jenigen in Form von Zinsen gibt, die von ihrem Vermö- abgesichert werden müssen. Es geht vielmehr darum: gen leben. Handele beizeiten, damit du nicht in Not gerätst! Das ist die Aufgabe. (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜND- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ NISSES 90/DIE GRÜNEN) DIE GRÜNEN) Deswegen ist es richtig, einen Grundsatz in die Verfas- Staatsverschuldung bewirkt eine Umverteilung von un- sung aufzunehmen, der die Politik darauf verpflichtet, ten nach oben. Deswegen ist es keine linke Politik, zu genau dies an die erste Stelle der Überlegungen zu set- sagen: Egal wie hoch die Schulden sind, irgendjemand zen. wird sie schon irgendwann bezahlen. Viele, die den Gesetzentwurf mit unterschrieben ha- Es geht darum, vernünftige Instrumente zu benennen. ben, sind im Gesundheitsausschuss, und wir wissen um Ich unterstütze ausdrücklich den Ansatz, der in Ihrem die demografischen Probleme, die auf uns zukommen. Antrag enthalten ist, dass zur Frage der Verschuldung Wenn wir darüber reden, wie wir im Hinblick auf die auch immer die Frage der öffentlichen Daseinsfürsorge Gesundheit Nachhaltigkeit erreichen können, ist die und -vorsorge gehört. Ich glaube, dass wir auch betonen erste Antwort „Prävention“. Zuerst geht es darum, wie müssen, dass der Zustand der öffentlichen Infrastruktur wir zukünftige Risiken vermeiden und es den Menschen und das, was wir in sie investieren, ein Beitrag zur Nach- ersparen können, in eine Notsituation zu geraten, krank haltigkeit und Generationengerechtigkeit sind. zu werden. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Deswegen glaube ich, dass wir die Investitionen in die- Das zeigt, dass Generationengerechtigkeit und Nach- sem Bereich zu Recht erhöhen müssen, auch wenn der haltigkeit nicht bedeuten, dass wir jetzt alle den Gürtel heutige Investitionsbegriff vielleicht nicht geeignet ist, enger schnallen und auf etwas verzichten müssen. Wir dies ordentlich abzubilden. können schon heute die Lebensqualität verbessern, um in Zukunft zu mehr Nachhaltigkeit im Gesundheitswe- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 12238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Peter Friedrich (A) Darüber, ob das vorgeschlagene Instrument das rich- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) tige ist, werden wir trefflich streiten können und streiten Ich komme zurück zum vorherigen Tagesordnungs- müssen. Aber der Ansatz, dass Generationengerechtig- punkt, der Abstimmung über den Antrag der FDP-Frak- keit und Nachhaltigkeit zu einem Grundsatz des Han- tion mit dem Titel „Missbilligung der Äußerungen des delns in allen Politikbereichen werden müssen, ist not- Bundesministers der Verteidigung Dr. Franz Josef Jung wendig. In diesem Sinne hoffe ich auf eine intensive zum Abschuss von in Terrorabsicht entführten Flugzeu- Debatte im weiteren Fortgang der Beratungen zu diesem gen“. Ich gebe das von den Schriftführerinnen und Antrag. Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Ab- stimmung bekannt: Es wurden 560 Stimmen abgegeben. Herzlichen Dank. Mit Ja haben gestimmt 149, mit Nein haben gestimmt (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP 405. Es gab 6 Enthaltungen. Der Antrag ist damit abge- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lehnt.

Endgültiges Ergebnis Detlef Parr Wolfgang Nešković Brigitte Pothmer Abgegebene Stimmen: 559; Cornelia Pieper Petra Pau Claudia Roth (Augsburg) davon Gisela Piltz Bodo Ramelow Elisabeth Scharfenberg Jörg Rohde Elke Reinke Christine Scheel ja: 149 Frank Schäffler Paul Schäfer (Köln) Irmingard Schewe-Gerigk nein: 404 Dr. Konrad Schily Volker Schneider Dr. Gerhard Schick enthalten: 6 Marina Schuster (Saarbrücken) Rainder Steenblock Dr. Hermann Otto Solms Dr. Herbert Schui Silke Stokar von Neuforn Ja Dr. Dr. Ilja Seifert Hans-Christian Ströbele Carl-Ludwig Thiele Dr. Petra Sitte Dr. Harald Terpe FDP Christoph Waitz Frank Spieth Jürgen Trittin Dr. Guido Westerwelle Dr. Kirsten Tackmann Wolfgang Wieland Jens Ackermann Dr. Claudia Winterstein Dr. Axel Troost Josef Philip Winkler Christian Ahrendt Dr. Volker Wissing Alexander Ulrich Margareta Wolf (Frankfurt) Daniel Bahr (Münster) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Jörn Wunderlich Uwe Barth Martin Zeil Sabine Zimmermann Fraktionsloser Rainer Brüderle Abgeordneter Angelika Brunkhorst DIE LINKE BÜNDNIS 90/ (B) Gert Winkelmeier (D) Ernst Burgbacher DIE GRÜNEN Hüseyin-Kenan Aydin Patrick Döring Karin Binder Kerstin Andreae Mechthild Dyckmans Nein Dr. Lothar Bisky Volker Beck (Köln) Jörg van Essen Heidrun Bluhm Cornelia Behm CDU/CSU Ulrike Flach Dr. Martina Bunge Birgitt Bender Otto Fricke Roland Claus Grietje Bettin Ulrich Adam Paul K. Friedhoff Sevim Dağdelen Alexander Bonde Ilse Aigner Horst Friedrich (Bayreuth) Dr. Diether Dehm Dr. Thea Dückert Peter Albach Dr. Edmund Peter Geisen Werner Dreibus Dr. Uschi Eid Peter Altmaier Dr. Wolfgang Gerhardt Klaus Ernst Hans-Josef Fell Dorothee Bär Miriam Gruß Wolfgang Gehrcke Kai Gehring Thomas Bareiß Joachim Günther (Plauen) Diana Golze Katrin Göring-Eckardt Norbert Barthle Heinz-Peter Haustein Dr. Gregor Gysi Anja Hajduk Dr. Wolf Bauer Elke Hoff Heike Hänsel Britta Haßelmann Günter Baumann Birgit Homburger Lutz Heilmann Bettina Herlitzius Ernst-Reinhard Beck Dr. Werner Hoyer Hans-Kurt Hill Winfried Hermann (Reutlingen) Michael Kauch Cornelia Hirsch Peter Hettlich Dr. Heinrich L. Kolb Inge Höger Priska Hinz (Herborn) Dr. Christoph Bergner Hellmut Königshaus Dr. Barbara Höll Ulrike Höfken Otto Bernhardt Gudrun Kopp Ulla Jelpke Dr. Anton Hofreiter Clemens Binninger Jürgen Koppelin Dr. Lukrezia Jochimsen Thilo Hoppe Renate Blank Heinz Lanfermann Dr. Hakki Keskin Ute Koczy Peter Bleser Sibylle Laurischk Katja Kipping Sylvia Kotting-Uhl Antje Blumenthal Harald Leibrecht Monika Knoche Fritz Kuhn Dr. Maria Böhmer Ina Lenke Jan Korte Renate Künast Jochen Borchert Sabine Leutheusser- Katrin Kunert Markus Kurth Wolfgang Börnsen Schnarrenberger Michael Leutert Monika Lazar (Bönstrup) Michael Link (Heilbronn) Ulla Lötzer Anna Lührmann Wolfgang Bosbach Horst Meierhofer Dr. Gesine Lötzsch Nicole Maisch Klaus Brähmig Patrick Meinhardt Ulrich Maurer Jerzy Montag Michael Brand Jan Mücke Dorothée Menzner Kerstin Müller (Köln) Helmut Brandt Burkhardt Müller-Sönksen Kornelia Möller Winfried Nachtwei Dr. Ralf Brauksiepe Dirk Niebel Kersten Naumann Omid Nouripour Monika Brüning Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12239

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Georg Brunnhuber Bernhard Kaster Johannes Röring Sören Bartol (C) Cajus Caesar Siegfried Kauder (Villingen- Kurt J. Rossmanith Sabine Bätzing Gitta Connemann Schwenningen) Dr. Norbert Röttgen Dirk Becker Leo Dautzenberg Volker Kauder Dr. Christian Ruck Uwe Beckmeyer Hubert Deittert Eckart von Klaeden Albert Rupprecht (Weiden) Klaus Uwe Benneter Thomas Dörflinger Jürgen Klimke Peter Rzepka Dr. Axel Berg Marie-Luise Dött Julia Klöckner Anita Schäfer (Saalstadt) Ute Berg Maria Eichhorn Jens Koeppen Hermann-Josef Scharf Petra Bierwirth Dr. Stephan Eisel Kristina Köhler (Wiesbaden) Dr. Wolfgang Schäuble Lothar Binding (Heidelberg) Anke Eymer (Lübeck) Manfred Kolbe Hartmut Schauerte Volker Blumentritt Georg Fahrenschon Norbert Königshofen Dr. Annette Schavan Kurt Bodewig Ilse Falk Dr. Rolf Koschorrek Dr. Andreas Scheuer Clemens Bollen Enak Ferlemann Hartmut Koschyk Karl Schiewerling Gerd Bollmann Ingrid Fischbach Thomas Kossendey Norbert Schindler Dr. Gerhard Botz Hartwig Fischer (Göttingen) Michael Kretschmer Georg Schirmbeck Klaus Brandner Dirk Fischer (Hamburg) Gunther Krichbaum Bernd Schmidbauer Willi Brase Axel E. Fischer (Karlsruhe- Dr. Günter Krings Christian Schmidt (Fürth) Bernhard Brinkmann Land) Dr. Martina Krogmann Andreas Schmidt (Mülheim) (Hildesheim) Dr. Maria Flachsbarth Johann-Henrich Ingo Schmitt (Berlin) Edelgard Bulmahn Klaus-Peter Flosbach Krummacher Dr. Andreas Schockenhoff Marco Bülow Herbert Frankenhauser Dr. Hermann Kues Dr. Ole Schröder Ulla Burchardt Dr. Hans-Peter Friedrich Dr. Karl A. Lamers Bernhard Schulte-Drüggelte Martin Burkert (Hof) (Heidelberg) Uwe Schummer Dr. Michael Bürsch Erich G. Fritz Dr. Norbert Lammert Wilhelm Josef Sebastian Christian Carstensen Jochen-Konrad Fromme Katharina Landgraf Horst Seehofer Marion Caspers-Merk Dr. Michael Fuchs Dr. Max Lehmer Kurt Segner Dr. Peter Danckert Hans-Joachim Fuchtel Paul Lehrieder Bernd Siebert Karl Diller Dr. Jürgen Gehb Ingbert Liebing Thomas Silberhorn Martin Dörmann Norbert Geis Eduard Lintner Johannes Singhammer Dr. Carl-Christian Dressel Eberhard Gienger Patricia Lips Jens Spahn Elvira Drobinski-Weiß Dr. Michael Luther Detlef Dzembritzki Ralf Göbel Stephan Mayer (Altötting) Christian Freiherr von Stetten Siegmund Ehrmann Josef Göppel Wolfgang Meckelburg Gero Storjohann Hans Eichel Peter Götz Dr. Michael Meister Andreas Storm Petra Ernstberger Max Straubinger (B) Dr. Wolfgang Götzer Dr. Angela Merkel Karin Evers-Meyer (D) Ute Granold Laurenz Meyer (Hamm) Thomas Strobl (Heilbronn) Annette Faße Reinhard Grindel Maria Michalk Hans Peter Thul Elke Ferner Hermann Gröhe Dr. h. c. Hans Michelbach Antje Tillmann Gabriele Fograscher Michael Grosse-Brömer Philipp Mißfelder Dr. Hans-Peter Uhl Rainer Fornahl Markus Grübel Dr. Eva Möllring Arnold Vaatz Gabriele Frechen Manfred Grund Marlene Mortler Volkmar Uwe Vogel Peter Friedrich Monika Grütters Hildegard Müller Andrea Astrid Voßhoff Martin Gerster Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Carsten Müller Gerhard Wächter Iris Gleicke Guttenberg (Braunschweig) Kai Wegner Günter Gloser Olav Gutting Stefan Müller (Erlangen) Peter Weiß (Emmendingen) Renate Gradistanac Holger Haibach Bernd Neumann (Bremen) Gerald Weiß (Groß-Gerau) Dieter Grasedieck Gerda Hasselfeldt Michaela Noll Ingo Wellenreuther Ursula Heinen Dr. Georg Nüßlein Karl-Georg Wellmann Kerstin Griese Uda Carmen Freia Heller Franz Obermeier Annette Widmann-Mauz Gabriele Groneberg Michael Hennrich Eduard Oswald Klaus-Peter Willsch Achim Großmann Jürgen Herrmann Henning Otte Willy Wimmer (Neuss) Wolfgang Grotthaus Bernd Heynemann Rita Pawelski Elisabeth Winkelmeier- Wolfgang Gunkel Ernst Hinsken Ulrich Petzold Becker Hans-Joachim Hacker Peter Hintze Dr. Joachim Pfeiffer Dagmar Wöhrl Bettina Hagedorn Robert Hochbaum Sibylle Pfeiffer Wolfgang Zöller Klaus Hagemann Klaus Hofbauer Beatrix Philipp Willi Zylajew Alfred Hartenbach Franz-Josef Holzenkamp Ronald Pofalla Michael Hartmann Joachim Hörster Ruprecht Polenz SPD (Wackernheim) Anette Hübinger Daniela Raab Dr. Lale Akgün Nina Hauer Susanne Jaffke Thomas Rachel Gregor Amann Dr. Peter Jahr Hans Raidel Gerd Andres Reinhold Hemker Dr. Hans-Heinrich Jordan Dr. Peter Ramsauer Niels Annen Rolf Hempelmann Dr. Franz Josef Jung Peter Rauen Ingrid Arndt-Brauer Dr. Barbara Hendricks Andreas Jung (Konstanz) Eckhardt Rehberg Rainer Arnold Gustav Herzog Bartholomäus Kalb Katherina Reiche (Potsdam) Ernst Bahr (Neuruppin) Petra Heß Hans-Werner Kammer Klaus Riegert Doris Barnett Gabriele Hiller-Ohm Steffen Kampeter Dr. Heinz Riesenhuber Dr. Hans-Peter Bartels Stephan Hilsberg Alois Karl Franz Romer Klaus Barthel Petra Hinz (Essen) 12240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Gerd Höfer Katja Mast Dr. Frank Schmidt Simone Violka (C) Iris Hoffmann (Wismar) Hilde Mattheis Ulla Schmidt (Aachen) Jörg Vogelsänger Eike Hovermann Markus Meckel Silvia Schmidt (Eisleben) Dr. Marlies Volkmer Klaas Hübner Petra Merkel (Berlin) Renate Schmidt (Nürnberg) Hedi Wegener Christel Humme Dr. Matthias Miersch Heinz Schmitt (Landau) Andreas Weigel Brunhilde Irber Ursula Mogg Carsten Schneider (Erfurt) Petra Weis Johannes Jung (Karlsruhe) Marko Mühlstein Olaf Scholz Gunter Weißgerber Josip Juratovic Detlef Müller (Chemnitz) Ottmar Schreiner Gert Weisskirchen Johannes Kahrs Franz Müntefering Reinhard Schultz (Wiesloch) Ulrich Kelber Dr. Rolf Mützenich (Everswinkel) Dr. Rainer Wend Christian Kleiminger Andrea Nahles Swen Schulz (Spandau) Lydia Westrich Astrid Klug Thomas Oppermann Ewald Schurer Dr. Margrit Wetzel Dr. Bärbel Kofler Holger Ortel Frank Schwabe Andrea Wicklein Walter Kolbow Heinz Paula Dr. Martin Schwanholz Heidemarie Wieczorek-Zeul Fritz Rudolf Körper Johannes Pflug Rolf Schwanitz Dr. Dieter Wiefelspütz Karin Kortmann Joachim Poß Rita Schwarzelühr-Sutter Engelbert Wistuba Rolf Kramer Christoph Pries Wolfgang Spanier Waltraud Wolff Nicolette Kressl Dr. Wilhelm Priesmeier Dr. Margrit Spielmann (Wolmirstedt) Volker Kröning Dr. Sascha Raabe Jörg-Otto Spiller Heidi Wright Dr. Hans-Ulrich Krüger Mechthild Rawert Dr. Ditmar Staffelt Uta Zapf Angelika Krüger-Leißner Steffen Reiche (Cottbus) Dieter Steinecke Manfred Zöllmer Jürgen Kucharczyk Maik Reichel Ludwig Stiegler Brigitte Zypries Helga Kühn-Mengel Dr. Carola Reimann Rolf Stöckel Ute Kumpf Christel Riemann- Christoph Strässer Dr. Uwe Küster Hanewinckel Dr. Peter Struck Enthalten Christian Lange (Backnang) Sönke Rix Joachim Stünker SPD Dr. Karl Lauterbach René Röspel Dr. Rainer Tabillion Waltraud Lehn Dr. Ernst Dieter Rossmann Jörg Tauss Sebastian Edathy Helga Lopez Michael Roth (Heringen) Jella Teuchner Angelika Graf (Rosenheim) Gabriele Lösekrug-Möller Ortwin Runde Dr. h. c. Wolfgang Thierse Dr. h. c. Susanne Kastner Dirk Manzewski Axel Schäfer (Bochum) Jörn Thießen Christine Lambrecht Lothar Mark Bernd Scheelen Franz Thönnes Gerold Reichenbach Caren Marks Dr. Rüdiger Veit Dr. Wolfgang Wodarg

(B) (D)

Wir kommen zurück zu unserer Debatte. Das Wort hat begrenzen und in ihren Entscheidungen auf Generatio- jetzt der Kollege Daniel Bahr für die FDP-Fraktion. nengerechtigkeit zu achten. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Daniel Bahr (Münster) (FDP): SES 90/DIE GRÜNEN) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Es war im Jahr 2003, als jüngere Abgeordnete aus Generationengerechtigkeit heißt, dass eine Genera- allen Fraktionen bei einer Veranstaltung über richtige tion nur so viel verbrauchen darf, dass auch nachfol- Konzepte in der Rentenpolitik, Umweltpolitik und Fi- gende Generationen noch genügend Freiheitschancen nanzpolitik gestritten haben. Aber obwohl wir unter- haben. Das gilt für die natürlichen Ressourcen genauso schiedlichen Parteien angehören, haben wir beschlossen, wie für die finanziellen Ressourcen, die unseren Hand- dass wir eine gemeinsame Initiative starten, und festge- lungsspielraum angesichts der Verschuldungssituation stellt, dass wir gemeinsam dafür sind, eine Politik zu be- immer mehr einengen. Wir können zwar darüber streiten enden, die allzu häufig die Lasten auf kommende Gene- – was wir immer wieder gerne tun –, wofür wir Geld rationen geschoben hat. Wir müssen selbstkritisch ausgeben wollen – ob im sozialen Bereich, für Bildung feststellen, dass wir alle – das gilt genauso für Sie von der oder Infrastruktur –, aber eines müssen wir als Faktum PDS, die Sie auch in Ländern Verantwortung haben – hinnehmen: Mittlerweile hat die Verschuldung ein so allzu häufig in unseren Parteien dafür Mitverantwortung großes Ausmaß angenommen, dass die Zinsen für die getragen haben. schon vorhandenen Schulden den zweithöchsten Posten im Bundeshaushalt ausmachen. Das nimmt uns den Deswegen wollen wir mit dieser Initiative, die von Spielraum, diese Gelder für andere Bereiche auszuge- Jüngeren ausgegangen ist, aber von allen Altersgruppen ben. aus den Fraktionen im Deutschen Bundestag getragen wird, der Politik Verpflichtungen auferlegen, nicht im- Allein in den 45 Minuten, die diese Debatte dauert, mer nur an den nächsten Tag oder den nächsten Wahlter- wird sich der Schuldenberg um 1 455 300 Euro erhöhen. min zu denken. Wir wollen vielmehr, dass sich die Poli- Dieses Geld steht uns nicht mehr für andere Ausgaben tik selbstverpflichtet, die Lasten, die immer weiter auf zu Verfügung. Wir müssen ein gemeinsames Interesse die nachfolgenden Generationen geschoben werden, zu daran haben, Wege zu finden, um das einzuschränken. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12241

Daniel Bahr (Münster) (A) Heute wurden viel zu häufig Wahlversprechen ge- weil in der Verfassung nicht bis ins kleinste Detail in- (C) macht, und zwar von allen Parteien im Deutschen Bun- haltlich geregelt ist, wie dieses Prinzip auszufüllen ist. destag. Die Vorhaben würden über Schulden finanziert, die wieder von den nachfolgenden Generationen getra- Es bestehen zwar in der Tat unterschiedliche Auffas- gen werden müssten. sungen darüber, wie dieses Ziel erreicht werden soll, aber mit dem Gesetzentwurf wird erreicht – das soll auch Mit unserem Gesetzentwurf wollen wir unter ande- mit der Staatszielbestimmung erreicht werden –, dass rem erreichen, dass wir verstärkt schon jetzt die Verant- wir uns alle gemeinsam dem Ziel verpflichten, einen ge- wortung für Entscheidungen tragen, die wir heute tref- rechten Ausgleich zwischen den Generationen zu schaf- fen. fen. Das gilt im Übrigen auch für uns. Ich werde 2050 70 Jahre alt sein. Dann gehöre ich zu den Alten, die sich (Beifall bei der FDP) mit Rücksicht auf Jüngere zu verhalten haben. Ein sol- Deswegen ist es mir sehr wichtig, dass eine breite De- ches Staatsziel ist nicht nur in der Gegenwart, sondern batte über den Gesetzentwurf stattfindet. Mir ist völlig auch in Zukunft bindend. klar, dass jeder aus den Fraktionen seine eigenen Vor- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der stellungen hat, wie unsere Ziele besser umgesetzt wer- SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE den könnten. Wir werden es nie leisten, dass alle Gene- GRÜNEN) rationen aus den verschiedensten Fraktionen in einem Gesetzentwurf zur Renten- und Umweltpolitik völlig Neben dem gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht übereinstimmen. In diesen Bereichen haben wir unter- wollen wir zum anderen die Interessen der nachfolgen- schiedliche Ansätze. Mit dem Gesetzentwurf haben wir den Generationen in der Finanzverfassung berücksich- aber eine Verpflichtung der Politik erreicht, sich in ihrem tigt wissen. Handeln generationengerechter zu verhalten. Das ist Ich gebe zu, dass uns die Föderalismuskommission II schon eine große Leistung. mit der Diskussion über eine Schuldenbremse ein Stück Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. weit eingeholt hat. Wenn die Ergebnisse vorliegen und sogar über das hinausgehen, was wir vorschlagen, wer- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ den wir gerne bereit sein, dem zu folgen. Im Kern geht DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der es darum, dass die bisherigen Instrumente und Regelun- CDU/CSU und der SPD) gen in der Finanzverfassung nicht verhindert haben, dass wir insgesamt 1,5 Billionen Euro explizite und implizite, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: also nicht ausgewiesene, Schulden – das gilt insbeson- (B) dere für die sozialen Sicherungssysteme – haben. Es ist (D) Jens Spahn spricht jetzt für CDU/CSU-Fraktion. bezeichnend, dass wir es wahrscheinlich zum nächsten (Beifall bei der CDU/CSU) Dekadenwechsel zum ersten Mal seit fast 40 Jahren schaffen werden – so lange gibt der Bund mehr aus, als er einnimmt –, einen ausgeglichenen Haushalt vorzule- Jens Spahn (CDU/CSU): gen. Offensichtlich sind zusätzliche Mechanismen not- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! wendig. Es ist gut, dass diese Debatte heute auch den Deutschen Bundestag erreicht und unser Gesetzentwurf es nach et- Denjenigen, die verfassungsrechtliche Bedenken ha- was längerer Zeit tatsächlich auf die Tagesordnung ge- ben und mahnen, wir sollten bei der Staatszielbestim- schafft hat. Worum geht es bei dem Gesetzentwurf? mung sehr zurückhaltend sein und die Verfassung nicht 105 Abgeordnete des Deutschen Bundestages aus vier unnötig aufblähen, stimme ich im Grundsatz zu. Wenn Fraktionen und im Übrigen aus allen Altersklassen – von man aber erkennt, dass die geltenden verfassungsrechtli- einer Seite des Hauses wird immer wieder auf den Ge- chen Mechanismen und Regelungen nicht geeignet sind, gensatz Alt gegen Jung abgestellt; dabei wurde der Ge- das angestrebte Ziel – etwa in der Finanzverfassung – zu setzentwurf von Abgeordneten im Alter von 24 bis erreichen, muss man über eine Verfassungsänderung 64 Jahren eingebracht – verfolgen mit dem Gesetzent- nachdenken. Auch die Interessen derjenigen, die sich wurf ein gemeinsames Ziel, das sich in zwei Bereiche heute nicht artikulieren können und die in 20, 30, 40 aufteilt. oder 50 Jahren Schulden und Zinsen zu zahlen und dann eventuell unter eingeschränkten Gestaltungsspielräu- Zum einen geht es um die Frage des Staatsziels Gene- men zu leiden hätten, müssen in der aktuellen Politik rationengerechtigkeit, also die Verpflichtung aller Staats- und in der Verfassung Berücksichtigung finden. Ich bin organe – des Bundestages, des Bundesrates, aber auch daher auf die Anhörung, die unter Beteiligung von Ver- des Bundespräsidenten und des Bundesverfassungsge- fassungsrechtlern stattfinden wird, sehr gespannt. Dabei richts –, die Ressourcen und Spielräume nachfolgender wird es um die Gestaltungsspielräume und die Berück- Generationen auch mit Blick auf das Handeln aktueller sichtigung der Interessen zukünftiger Generationen ge- Generationen mit zu berücksichtigen. Ich habe noch hen. keine Debatte erlebt, in der jemand etwa das Sozial- staatsprinzip als Staatsziel infrage gestellt hat, Ich möchte noch etwas zu dem Antrag der Linken sa- gen. Dieser Antrag wurde in den letzten Tagen vorge- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Doch! legt, während unser Gesetzentwurf seit vielen Monaten Das ist kein Staatsziel!) vorliegt. Wahrscheinlich ist er aus der Not geboren. Sie 12242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Jens Spahn (A) hätten besser einfach Nein gesagt. Sie setzen in Ihrem Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) Antrag die stärkste Waffe der Linken, den sozialistischen Es spricht für die Linke die Kollegin Sevim Schachtelsatz, ein. Dağdelen. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Das kommt bei (Beifall bei der LINKEN) euren Anträgen nie vor!) Er ist wirklich schwer zu verstehen. Das wäre noch zu Sevim Dağdelen (DIE LINKE): akzeptieren, wenn er inhaltlich gut wäre. Aber so ist er Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der einmal mehr ein Beleg für Ihre populistische Argumen- Rückbau und der Abbau von sozialen Errungenschaften tation, ein typisches Phänomen der Linkspartei. tarnen sich gern mit den schönsten Titeln. Der Genera- tionenvertrag zwischen Jung und Alt in unserem Land ist (Widerspruch bei der LINKEN) eine soziale Errungenschaft, und der Gesetzentwurf der jungen Parlamentariergruppe hat einen schönen Titel: – Lesen Sie doch einmal Ihre Forderungen! Sie wollen Generationengerechtigkeitsgesetz. mehr BAföG, höhere Renten, ein höheres Arbeitslosen- geld sowie mehr für das Gesundheitswesen und die Pfle- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geversicherung. Nur täuscht ein schöner Titel nicht darüber hinweg – klat- (Beifall bei der LINKEN) schen Sie nicht zu früh! –, dass es in diesem Gesetzent- wurf durchaus nicht um Gerechtigkeit, sondern um Sie erwähnen aber mit keinem einzigen Wort, wie das plumpen Egoismus geht. Ganze bezahlt werden soll. Das ist das Populistische an Ihrem Antrag. Das ist zu verurteilen. (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Wo? Eine Zeile!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es ist gewiss nicht leicht, zu ermitteln, was gerecht und was ungerecht ist. Im Zweifel erkennt man aber die Ge- Da Sie offenlassen, wie das Ganze bezahlt werden rechten daran, dass sie nicht zuerst an sich denken, son- soll, und im Zweifelsfall alles über Schulden finanzieren dern an die anderen. wollen, tun Sie nicht nur nichts im Interesse zukünftiger (Beifall bei der LINKEN) Generationen. Sie gehen vielmehr noch einen Schritt weiter und machen bewusst Vorschläge, die ganz klar im Für die Linke möchte ich an eine Tatsache erinnern, (B) Gegensatz zu den Interessen künftiger Generationen ste- die so offensichtlich ist, dass man dazu neigt, sie manch- (D) hen. Dass Sie die Verteilungswirkung neuer Schulden mal zu vergessen. Alles, was uns heute zur Verfügung nicht verstehen, dass Sie nicht verstehen, dass gerade steht, ist das Werk älterer Generationen. Alles, worüber Schulden für eine Umverteilung von unten nach oben wir heute verfügen, unsere Technik, unsere Kultur, un- sorgen, weil durch Zinszahlungen, die über Steuern ge- sere sozialen und politischen Erfolge, sogar alles, was leistet werden müssen, letztlich diejenigen, die Schuld- uns heute hier in diesem Saal an Einrichtung und Aus- verschreibungen kaufen – das sind meistens Menschen stattung umgibt, fußt auf dem Lebenswerk derer, die mit höherem Einkommen –, mehr Geld bekommen, ver- heute alt sind. Diese Generation hat in den Erfolg einer wundert mich jedes Mal aufs Neue. Zukunft nachhaltig investiert, die wir heute unsere Ge- genwart nennen. Es ist also völlig gerecht, dass diese äl- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP tere Generation am materiellen Wohlstand der gegen- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wärtigen Gesellschaft teilhaben darf, für die sie schließlich die Grundlagen geliefert hat. Ich kann mir nur wünschen, dass wir hier im Deut- schen Bundestag im Rahmen dieses parlamentarischen (Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr Verfahrens eine hoffentlich spannende und aufschluss- [Münster] [FDP]: Da widerspricht doch kei- reiche Anhörung erleben werden, in der es auch um die ner!) Frage geht, was man wie am besten im Sinne unseres Ziels in der Verfassung regeln kann. Am Ende sollten Der vorliegende Gesetzentwurf ist dagegen nicht nur wir gemeinsam, hoffentlich fraktionsübergreifend, unab- ungerecht, sondern auch noch schlicht beschämend. hängig davon, dass wir Generationengerechtigkeit fast (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – alle seit vielen Jahren in unseren Reden erwähnen, ver- Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Thema verfehlt! suchen, das, was wir uns vorgenommen haben, was aber Setzen, sechs!) in einer Demokratie nicht immer einfach umzusetzen ist, bindend in die Verfassung hineinzuschreiben. Ich jeden- Darin ist viel von Zukunft und Nachhaltigkeit die Rede. falls freue mich auf die Debatte und gegebenenfalls auf Der Begriff der Nachhaltigkeit war ursprünglich einmal eine sehr strittige Auseinandersetzung. positiv besetzt. Danke schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Kollegen Spahn zulassen? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12243

(A) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Vermittlung dieser Konflikte liegt aller Anfang für eine (C) Nein, im Moment nicht, vielleicht am Ende der Rede. – wirklich gerechte Gesellschaft für alle Generationen. Wie nun im Gesetzentwurf der jungen Parlamentarier zu Schaut man sich dagegen den Gesetzentwurf dieser jun- erkennen ist, machen sich diesen Begriff vermehrt dieje- gen Parlamentariergruppe an, möchte man sagen: Aller nigen zu eigen, denen es um die Nachhaltigkeit sozialer Anfang ist schwer. Missstände geht. Es sind aber nicht die Alten, die der Um den Startschwierigkeiten auf dem Weg in eine ge- Bewahrung der Lebensgrundlagen im Wege stehen, son- rechte Zukunft etwas abzuhelfen, hat Ihnen die Linke dern es ist die Logik einer Wirtschaft, deren höchstes heute einen Antrag vorgelegt. Mit der Verfassung geht Ziel der Profit ist, die den sozialen Frieden ebenso be- die Linke davon aus, dass das Sozialstaatsprinzip des droht wie die Lebensgrundlagen der zukünftigen Gene- Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz den Staat verpflichtet, dafür rationen. Sorge zu tragen, dass jeder Mensch in die Lage versetzt (Beifall bei der LINKEN) wird, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und sich selbst verwirklichen zu können. Der Gesetzentwurf liest sich so, als gäbe es eine wunder- bare Welt von morgen, die den Jüngeren gehört, und eine (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Auch die, die Welt von gestern, die von den Alten beherrscht wird und noch nicht geboren sind!) den Weg in die Welt von morgen versperrt. Wenn wir dieses Verfassungsprinzip endlich in die Tat (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann müssen umsetzen würden – so ist es nämlich nicht –, brauchten Sie einen anderen Gesetzentwurf gelesen ha- wir heute keine Debatte zu einem Unthema namens Ge- ben!) nerationengerechtigkeit. Dies ist ein infantiles Weltbild. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN – Jens Spahn [CDU/ Die Verfassung zeichnet uns das unverwirklichte Bild CSU]: Wo steht das im Gesetzentwurf? Haben einer Gesellschaft, in der der Mensch Maß aller Dinge Sie ihn überhaupt gelesen?) ist und nicht die Verwertungslogik des Kapitals. In die- ser Gesellschaft wird es dann auch eine Gerechtigkeit für Steht denn nicht jede Generation auf den Schultern der junge und alte Menschen geben. alten, um dort zu wachsen, bis sie neue Generationen zu schultern imstande ist? Ich danke Ihnen. Allem voran ist das Weltbild der jungen Parlamen- (Beifall bei der LINKEN) tariergruppe aber unvollständig. Es bleiben darin die (B) wirklichen Konflikte unbeachtet, die uns den Weg in Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (D) eine gerechte Gesellschaft tatsächlich versperren. Für Bündnis 90/Die Grünen spricht Anna Lührmann. (Jens Spahn [CDU/CSU]: Ins Paradies!) Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die wahre Konfliktlinie in unserer Gesellschaft verläuft Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und nicht zwischen Jung und Alt. Sie verläuft auch nicht Kollegen! Liebe Frau Dağdelen, wenn Sie den Antrag zwischen denen, die Arbeit haben, und denen, die keine gelesen hätten, wäre Ihnen aufgefallen, dass darin die Arbeit haben. Sie verläuft nicht zwischen den Kulturen, junge Generation mit keinem Wort vorkommt, sondern und sie hat auch nichts mit der staatsrechtlichen Her- von der künftigen Generation die Rede ist. kunft der Menschen zu tun. Nein, die echten Konfliktli- nien verlaufen zwischen denen, die für ihre Arbeitsleis- Es geht uns mit diesem Antrag darum, die Interessen tung gerade einmal einen mäßigen Lohn bekommen, und künftiger Generationen, also derjenigen, die noch nicht denen, die sich an der Arbeit ihrer Mitmenschen hem- geboren sind, in den Fokus der Politik zu stellen. Dieser mungslos bereichern. Antrag enthält also keine Spur von Egoismus. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Die Linie verläuft zwischen – es ist bemerkenswert, dass das gerade die FDP moniert – denen, die nur ihre Ar- Unser Ziel ist, dass die künftig lebenden Generatio- beitskraft am Markt anbieten können, nen mindestens die gleichen Lebenschancen haben wie wir, die heute leben. Das heißt, es geht uns darum, dass (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Schwarz-weiß wir alle, Jung und Alt, daran arbeiten, unseren Nach- ist die Welt!) kommen eine intakte Umwelt und niedrigere Schulden- und jenen, die diesen Markt mit reichlich Kapital steu- berge zu hinterlassen. ern. Die echte Konfliktlinie verläuft zwischen solchen jungen Menschen von heute, die schon ab der Wiege Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ausgesorgt haben, und jenen, die sich ein ganzes Leben Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage der lang ohne wirkliche Chancen plagen werden. Kollegin Katja Kipping zulassen? Die Konfliktlinie verläuft zwischen denen, die ohne Arbeit leben und bleiben, und jenen, die ihren Beschäf- Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tigten Überstunden und Mehrarbeit abverlangen. In der Ja. 12244 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Anna Lührmann (A) (Zuruf von der CDU/CSU: Es sind nicht alle ner finanziellen oder anderen Unterstützung – über jedes (C) so intolerant! – Weiterer Zuruf von der CDU/ Wort und jedes Komma dieses Gesetzentwurfs Gedan- CSU: Jetzt kommt Kompetenz!) ken zu machen und darüber zu reden. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig! Katja Kipping (DIE LINKE): Wir können das nämlich auch allein!) Liebe Kollegin, wir haben nicht nur Ihre parlamenta- rische Initiative gelesen, sondern auch die Papiere zur Es geht uns mit diesem Gesetzentwurf eindeutig darum, Generationengerechtigkeit, die Sie bereits in der vergan- die Interessen künftiger Generationen, die bisher zu we- genen Legislatur mit unterzeichnet haben. Da gab es nig geschützt werden, in den Mittelpunkt der Politik zu eine sehr interessante Fußnote, nämlich den Vermerk, rücken. dass dieses Papier, das von jungen Abgeordneten in die Öffentlichkeit getragen wurde, im Wesentlichen von der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Initiative „Neue Soziale Marktwirtschaft“ mit erarbeitet und bei der FDP sowie bei Abgeordneten der wurde. CDU/CSU und der SPD) (Zuruf von der FDP: Das stimmt doch über- Ich will hier noch einmal erwähnen, dass sich unser haupt nicht!) Gesetzentwurf von der Stoßrichtung anderer Vorlagen, die auf die Ergänzung von Staatszielen ausgerichtet sind, Das ist eine Initiative – Sie haben gerade gesagt: von grundsätzlich unterscheidet. Uns geht es eben nicht um Egoismus keine Spur –, die sehr wohl für Interessen und einen Politikbereich wie Sport oder Kultur, sondern da- Egoismus steht, weil sie von den sogenannten Arbeitge- rum, dass Menschen, die noch nicht geboren sind, zu bern finanziert wird. Deswegen möchte ich Sie fragen: Rechtssubjekten gemacht werden. Wir wollen uns auch Wie verträgt sich dieses Aufgreifen von ganz klaren um die Interessen dieser Menschen kümmern. Wirtschaftslobbygruppen mit dem Anspruch eines freien Abgeordneten und vor allen Dingen eines selbstbewuss- Wir wollen die Spielregeln unserer Demokratie dahin ten demokratischen Diskurses? gehend ändern, dass der politische Wettbewerb nicht mehr zulasten derjenigen ausgetragen wird, die noch Anna Lührmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht wählen gehen dürfen. Wir wollen also mehr Fair- ness in der politischen Auseinandersetzung. Es soll in Frau Kipping, ich weiß, auf welches Papier Sie an- Deutschland künftig unanständig sein, in Wahlkämpfen spielen. Das wurde übrigens nicht von der Initiative etwas zu versprechen, was für künftige Generationen „Neue Soziale Marktwirtschaft“ eine Last sein wird. Wir wollen, dass stattdessen immer (B) (Zuruf der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE]) wieder kritisch hinterfragt wird, welche Auswirkungen (D) politische Konzepte auch nach dem Ablauf einer Wahl- – ich darf jetzt antworten –, sondern von einem Think periode haben. tank namens „Berlin Police“ erarbeitet. Ich habe daran mitgewirkt, bevor ich wusste, woher sie finanzielle Un- Dass diese Fairness gegenüber künftigen Generatio- terstützung bekommen. Ich habe das hinterher selber – – nen fehlt, wird besonders beim Thema „Umweltschutz“ (Lachen bei der LINKEN – Zurufe von der deutlich: Schmelzende Eisberge, strahlender Atommüll LINKEN) und aussterbende Arten sind die Konsequenz nicht korri- gierbarer Fehler, mit der wir unsere Kinder belasten. – Man darf doch Fehler auch einmal zugeben. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Was hat das mit (Erneute Zurufe von der LINKEN) Haushaltspolitik zu tun?) Das sollte in einer Demokratie auch einmal möglich – Um genau dieses Thema geht es bei unserem Gesetz- sein. Das scheint einigen Ihrer Parteikollegen eindeutig entwurf. Ihre intellektuellen Fähigkeiten überfordert das schwerzufallen. anscheinend. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – DIE GRÜNEN und der FDP) Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wir können das auch allein! Wir haben das auch allein ge- Ich möchte auf das Thema „Klimawandel“ zurück- schafft! Keine Sorge, wir kriegen das hin!) kommen. Die Ergebnisse der ranghöchsten Klimafor- scher der UN sprechen eine klare Sprache: In den nächs- Wir reden hier aber über etwas ganz anderes: Wir re- ten hundert Jahren wird sich die Erde wahrscheinlich den hier über einen interfraktionellen Gesetzentwurf, der zwischen 1,8 und 4 Grad Celsius erwärmen; der Meeres- darauf abzielt, das Grundgesetz im Interesse künftiger spiegel wird ansteigen; Wetterextreme wie Dürren und Generationen zu ergänzen. An diesem Punkt kann ich Unwetter werden krass zunehmen. Liebe Kolleginnen nun wirklich keinen Egoismus entdecken. und Kollegen, wir haben längst den Zug verpasst, den Sie fragen, wie das mit dem Selbstverständnis von Klimawandel aufzuhalten. Die heutige Politik kann den Parlamentariern in Einklang zu bringen ist. Ich kann Ih- Klimawandel nur noch abbremsen und dafür sorgen, nen zusichern: Viele Kolleginnen und Kollegen – auch dass es nicht noch schlimmer kommt. Diesen Fehler solche, die hier heute anwesend sind – haben viele Stun- sollten wir nicht wiederholen. Stattdessen sollte in Zu- den damit zugebracht, sich – unabhängig von irgendei- kunft folgendes Motto den Staat in seinem Handeln lei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12245

Anna Lührmann (A) ten: Wir haben die Erde von unseren Kindern nur ge- (Zuruf von der LINKEN: Nie! Darunter ver- (C) borgt. steht jeder etwas anderes!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bei dem uns vorliegenden Gesetzentwurf handelt es sowie bei Abgeordneten der FDP) sich zweifelsohne um den Versuch, grundlegenden ge- sellschaftlichen Veränderungsprozessen Rechnung zu Anhand dieses Beispiels sollte selbst den Kolleginnen tragen, die bestimmte Fragen aufwerfen. Die Frage ist und Kollegen von der Linkspartei klar geworden sein, natürlich: Ist eine Änderung des Grundgesetzes die rich- dass Generationengerechtigkeit soziale Gerechtigkeit in tige Antwort hierauf? Diesen Diskurs müssen wir mei- der Zukunft ist. Denn wer wird denn am schlimmsten nes Erachtens mit dem größten Respekt und auch mit al- unter den Folgen des Klimawandels zu leiden haben? ler Sensibilität für die Generationen führen, die dieses Das werden nicht die Reichen sein, die sich von vielen Land mit aufgebaut haben. Problemen freikaufen können. Die ärmeren Bevölke- rungsschichten in Europa, vor allem aber in Afrika und Ich unterstelle niemandem, die Solidarität zwischen in Asien werden unter den krassen Unwettern, unter dem den Generationen infrage zu stellen. Für uns alle muss Mangel an Trinkwasser und Lebensmitteln zu leiden ha- klar sein: An der Solidarität zwischen den Generationen ben. darf kein Weg vorbeiführen. Was für die Umweltpolitik gilt, gilt auch für die (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Staatsverschuldung und für die sozialen Sicherungssys- CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE teme. Politikerinnen und Politiker können heute GRÜNEN) schmerzhafte Verteilungskonflikte mittels implizierter und explizierter Verschuldung bequem auf die Zukunft Es darf nicht darum gehen, Verteilungsgerechtigkeit ge- abschieben. Es ist aber ungerecht, wenn wir uns soziale gen Generationengerechtigkeit auszuspielen. Beide be- Gerechtigkeit heute auf Kosten von sozialer Ungerech- dingen einander. Wir haben in der Diskussion, auch in tigkeit in der Zukunft erkaufen. der Öffentlichkeit, leider teilweise einen unsensiblen und despektierlichen Umgang mit dem Thema erlebt. Bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den Sprüchen Salomos steht geschrieben – ich weiß, sowie bei Abgeordneten der FDP) dass Sie bei der PDS das Buch nicht kennen –: Wenn wir immer mehr Geld für Schuldendienst und (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und für andere Verpflichtungen aus der Vergangenheit ausge- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ben, dann hat der Staat immer weniger Mittel etwa für Bildung und für soziale Sicherung zur Verfügung, und Gerechtigkeit erhöht ein Volk, aber die Sünde ist (B) das trifft vor allem die, die den Staat brauchen, nämlich der Leute Verderben. (D) die sozial Schwachen. Diese absehbare Ungerechtigkeit muss verhindert werden. (Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Sünde ist Ihr Stichwort; da haben Sie recht. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Wir hätten über das Thema Generationengerechtig- SPD und der FDP) keit und über zukünftige Generationen weniger zu disku- Ich würde mich sehr freuen, liebe Kolleginnen und tieren, hätten wir nicht in der Gegenwart die Probleme, Kollegen, wenn Sie unseren Gesetzentwurf in den fol- die uns vergangenes Regierungshandeln Ihrer Partei ein- genden Beratungen wohlwollend prüfen und wir am gebrockt hat. Ende eine Zweidrittelmehrheit für mehr Generationen- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gerechtigkeit, für mehr Nachhaltigkeit hier im Plenum bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- zustande bringen würden. Ihre Enkelkinder, deren Kin- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Ilja Seifert der und Kindeskinder werden es Ihnen sicherlich dan- [DIE LINKE]: Euer Regierungshandeln, mein ken. Lieber!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Sie möchten das Thema Generationengerechtigkeit im- SPD und der FDP) mer wieder für Ihre eigene Profilierung instrumentalisie- ren. Ich sage Ihnen einmal: Ihr Handeln ist genauso sün- dig wie das derjenigen aus der Generation von Ichlingen, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: die ein asymmetrisches Verständnis von Solidarität ha- Der Kollege Dr. Carl-Christian Dressel hat jetzt das ben und die den Generationenvertrag aufkündigen. Wort für die SPD-Fraktion. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Frank Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Spieth [DIE LINKE]: So altklug, wie Sie da- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der herreden, kann ich mit 80 nicht sein!) heutigen Debatte geht es um einen Gesetzentwurf, der die generationenübergreifende Gerechtigkeit zum Ziel – Das alles ist eine Frage des gefühlten Alters, Herr Kol- hat. Meines Erachtens ist das ein ehrenwertes Ziel, und lege. Ich fühle mich noch jung genug, um Ihnen Kontra ich denke, dass jeder von uns es für erstrebenswert hält. zu geben. 12246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Carl-Christian Dressel (A) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD, der CDU/CSU Generationen 2 Billionen Euro oder gar noch mehr, (C) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wenn Ihre Vorschläge berücksichtigt würden, an Schul- den zu hinterlassen, würde ich nämlich antworten: Wir Da wir schon zum Thema Alter sprechen: Die Älteren sollten über diesen konkreten Punkt diskutieren, statt vertrauen darauf, Solidarität von denjenigen erfahren zu Programmsätze ins Grundgesetz zu schreiben. können, die sie selbst in die Welt gesetzt haben und de- nen sie durch ihre Beiträge zum Aufbau dieses Landes Wir müssen unsere Diskussion mit Respekt und Sen- und unserer Gesellschaft ein vernünftiges Leben ermög- sibilität führen. Und um festzustellen, dass Verfassung licht haben. kein Klamauk ist, brauchen wir weder Zitate aus der Wir haben jetzt das gesellschaftliche Problem: Der Bibel noch solche von bedeutenden Rechtsphilosophen. Generationenvertrag beginnt zu bröckeln; zu wenig Kin- Ganz im Gegenteil: Dazu reicht sogar der entsprechende der werden geboren. Wir müssen darauf reagieren. Ist Zwischenruf des Kollegen Westerwelle beim letzten Ta- eine Antwort darauf, das Grundgesetz zu ändern? Aus gesordnungspunkt aus. verfassungsrechtlicher Sicht habe ich damit Probleme. Ich danke Ihnen und freue mich auf eine ausgiebige (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ge- Diskussion. nau!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU – Zu- Diese verfassungsrechtliche Sicht teilen auch viele juris- ruf von der SPD: Was war das für ein Zwi- tische Kollegen. Das Problem der Gerechtigkeit, schenruf? – Gegenruf des Abg. Dr. Carl- Christian Dressel [SPD]: „Die Verfassung ist (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sozialstaatsge- kein Klamauk“!) bot!)

zu dem es nicht nur das Buch Eine Theorie der Gerech- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tigkeit von John Rawls gibt, ist ein sehr abstraktes. Der Michael Kauch spricht jetzt für die FDP-Fraktion. Begriff der Gerechtigkeit lässt sich nur schwer definie- ren. Wer artikuliert die Bedürfnisse einer noch nicht existierenden Generation? Ich sehe das Problem, dass Michael Kauch (FDP): die Verfassung durch die Aufnahme dieses Problems Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der weiter ausfranst und dass die Werteordnung des Grund- Tat, die Verfassung ist kein Klamauk. Genau darum geht gesetzes verwässert wird. es hier aber nicht. Vielmehr geht es darum, hier darüber (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dann hätten Sie zu diskutieren, ob die Staatszielbestimmungen des (B) auch gegen den Tierschutz sein müssen!) Grundgesetzes, die wir ja schon haben, ausreichend sind, (D) damit die Rechte der Menschen berücksichtigt werden, Wie ist eine faire Lastenverteilung zu definieren? Ist die heute noch nicht geboren sind. Das ist genau der es gerecht, Herr Kollege Bahr, dass der durchschnittliche Punkt, um den es hier geht. Menschen, die heute schon Deutsche im Jahr 2004 nominal doppelt so viel verdient geboren sind, haben Grundrechte. Deshalb besteht zum hat wie der durchschnittliche Deutsche im Jahr 1960? Beispiel ein Unterschied zwischen dieser Debatte und Müssen demzufolge die heute Jungen einen Sondergene- der über Kinderrechte. Da geht es ja um Kinder, die rationenausgleich an die Älteren überweisen? Der Ge- heute schon Grundrechtsträger sind. rechtigkeitsbegriff lässt sich schwer bestimmen ebenso wie der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff der Wir müssen uns auch vergegenwärtigen, dass wir das Nachhaltigkeit. Grundgesetz in den 90er-Jahren bereits um weitere Staatszielbestimmungen erweitert haben. Es erschließt Wir brauchen in der Verfassung keine Erklärungen zur sich mir nicht, warum beispielsweise die Staatszielbe- Selbstverpflichtung, wie Sie, Herr Bahr, es vorhin ausge- stimmung des Schutzes der Tiere vom Bundestag mit führt haben. Wir brauchen in der Verfassung Normen, die Zweidrittelmehrheit beschlossen wurde, aber die künfti- dem Bundesverfassungsgericht als Grundlage für Ent- gen Generationen, die, die nach uns kommen, nicht den scheidungen dienen können. Das gilt zum Beispiel auch gleichen Schutz in Form einer Staatszielbestimmung be- für den hier häufig missbräuchlich angeführten Begriff kommen sollen. des Sozialstaates. Die politischen Entscheidungen, die wir treffen, müssen das Thema Generationengerechtig- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ keit stets berücksichtigen. Die Entscheidungen über DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der politische Maßnahmen, die diesbezüglich zu treffen CDU/CSU) sind, sollten allerdings nicht in Form einer Staatszielde- finition an Karlsruhe delegiert werden, sondern wir soll- Ich denke in diesem Zusammenhang, meine Damen ten diese Entscheidungen selbst treffen und selbst be- und Herren, immer an die Verteidigung der Habilita- gründen können. tionsschrift eines meiner Professoren zurück, der sich darüber habilitiert hat, dass das Grundgesetz keine Ein Bereich, in dem wir das zurzeit tun, ist der Be- Schranken gegen die dynamische Ausbeutung der jun- reich der Föderalismusreform II. Hier tut sich zurzeit gen Generation enthält. Genau darum geht es. Es geht wirklich die Chance auf, bei den öffentlichen Finanzen um die dynamische Ausbeutung, die dadurch entsteht, zu mehr Nachhaltigkeit und Chancengerechtigkeit zu dass unsere heutigen Politikprozesse so organisiert sind, kommen. Auf die Frage, ob es gerecht ist, den künftigen dass die Lasten auf die Zukunft verschoben werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12247

Michael Kauch (A) Wenn die Linke mit ihrem von Karl Marx stammen- Vielen Dank. (C) den Ausbeutungsbegriff nicht im 19. Jahrhundert stehen geblieben wäre, dann würde sie einen solchen Antrag (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten wie den heute vorliegenden nicht stellen. Der Altmarxis- der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- mus, den Sie über Ihren Antrag in den Deutschen Bun- SES 90/DIE GRÜNEN) destag einzubringen versuchen, ist absolut peinlich. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie Ich gebe das Wort zu einer Kurzintervention der Kol- bei Abgeordneten der SPD und des BÜND- legin Katja Kipping. NISSES 90/DIE GRÜNEN)

Sie negieren die gesellschaftliche Realität, weil nicht Katja Kipping (DIE LINKE): sein kann, was nicht sein darf. Sie stellen Verschwö- Uns ist vorgeworfen worden, dass wir bei unserer rungstheorien bezüglich des Vordringens des Neolibera- Analyse von Ausbeutung im 19. Jahrhundert, bei Karl lismus in den Deutschen Bundestag auf. Das ist die Fik- Marx, stehen geblieben sind. Ich finde, darauf muss man tion, von der Sie ausgehen. Damit wollen Sie die reagieren. Ich persönlich bin der Meinung, dass man Menschen aufwiegeln. Das hat aber nichts mit den Zu- eine Analyse mittels Marx um postmarxistische Ansätze kunftsproblemen künftiger Generationen in diesem Land – etwa um den Ansatz von Judith Butler oder um radikal- zu tun. demokratische Ansätze wie den von Chantal Mouffe – er- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gänzen sollte. der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Ich muss ehrlich sagen: Wenn hier Vertreter von der FDP so knallhart und so trivial nur Wirtschaftsinteressen vertreten, bleibt einem bei der Analyse Ihres Handelns Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: manchmal gar nichts anderes übrig, Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Dağdelen zulassen? (Jens Spahn [CDU/CSU]: Hören Sie über- haupt manchmal zu?) Michael Kauch (FDP): als zu sagen, dass Karl Marx damals tatsächlich recht Die Kollegin hat gerade keine Zwischenfrage zuge- hatte. lassen. Deshalb werden wir, denke ich, keine Zwischen- frage dieser Kollegin zulassen. (Beifall bei der LINKEN) (B) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kauch, bitte schön. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Möchten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Kipping zulassen? Michael Kauch (FDP): Frau Kipping, während Sie hier auf die marxistische Michael Kauch (FDP): Theorie und auf postmarxistische Theorien eingehen, Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfragen zulas- möchte ich auf den real existierenden Sozialismus einge- sen. hen, und zwar auf die Frage, was Ihre Vorgängerpartei, die SED, in der DDR an Nachhaltigkeitspolitik geleistet (Lachen bei der LINKEN) hat. Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwick- (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Das ist die- lung, den dieses Parlament nun in der zweiten Wahl- selbe Partei mit neuem Namen!) periode eingesetzt hat, beschäftigt sich sehr ausführlich mit den Veränderungen, die sich durch den demografi- Ich möchte darauf verweisen, was in Ihrem Antrag steht: schen Wandel ergeben. Dabei geht es zum einen um die Es gebe nur die Klassenauseinandersetzung und die Aus- Frage, wie wir unsere Infrastruktur an kommende Ent- einandersetzung zwischen Arm und Reich. Wenn wir wicklungen anpassen müssen. Es geht aber auch um die einmal konzedieren, dass es das in der DDR nicht gab, Frage, wie wir Transparenz schaffen, welche Leistungen weil Sie ja so eine gute sozialistische Politik gemacht die alte und die junge Generation sowie künftige Gene- haben, rationen erbringen und welche Lasten sie tragen müssen. (Katja Kipping [DIE LINKE]: Sie wissen sehr Das, was mit dem vorliegenden Antrag verfolgt wird, wohl, dass wir uns mit der SED auseinander- fügt sich sehr gut in die Nachhaltigkeitspolitik ein, die setzen!) ansonsten in diesem Parlament betrieben wird. Ich habe so möchte ich doch darauf hinweisen, dass die DDR und mich sehr gefreut, dass im Parlamentarischen Beirat au- ihre real existierende Politik dazu geführt haben, dass ßer bei den Linken ein sehr großes Wohlwollen gegen- die Umwelt in der DDR am Boden lag. über einer Grundgesetzänderung erkennbar war. Ich würde mich freuen, wenn dies auch in der weiteren Be- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem ratung in den zuständigen Fachausschüssen zum Tragen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- käme. geordneten der SPD) 12248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Michael Kauch (A) Wir haben dort eine Situation erlebt, in der das, was die (Jens Spahn [CDU/CSU]: Zuhören!) (C) Vorsitzende des Parlamentarischen Beirats in der ver- gangenen Wahlperiode gesagt hat – man müsse nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: vom Kapital, sondern von den Zinsen leben –, nir- Jetzt hat das Wort der Kollege Grosse-Brömer für die gendwo so stark missachtet wurde wie in Ihrem sozialis- CDU/CSU-Fraktion. tischen System. Deshalb sollten Sie aus meiner Sicht ganz ruhig sein, wenn es um Nachhaltigkeit geht. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): geordneten der SPD) Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, wie man klassen- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kämpferische Töne in die Debatte über Generationenge- Es folgt noch eine Kurzintervention, und zwar des rechtigkeit hineinbringen kann. Kollegen Heilmann, der darauf rekurriert, dass der Parla- (Widerspruch bei der LINKEN) mentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung ange- sprochen worden ist. – Bitte schön. Es wäre in der Tat besser gewesen, Sie hätten zu diesem (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Thema nachhaltig geschwiegen. Das wäre der richtige Schweigen Sie nachhaltig! Das wäre für alle Weg gewesen. Beteiligten das Beste!) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Lutz Heilmann (DIE LINKE): Wir debattieren über die Generationengerechtigkeit. Ich möchte deutlich machen, dass der angesprochene Da stellt sich die Frage, was das ist. Wir haben vorhin Beirat keine Position zum hier vorliegenden Gesetzent- sehr unterschiedliche Interpretationen gehört. Aber man wurf verabschiedet hat. muss feststellen, dass diese Debatte die Diskussion über (Jens Spahn [CDU/CSU]: Hat auch keiner be- Generationengerechtigkeit befördert. Deswegen ist es hauptet! Hören Sie eigentlich zu?) gut, dass wir diese Debatte führen. Sie, Herr Kauch, haben einen gegenteiligen Eindruck er- Politik macht – unabhängig davon, welche Partei sie weckt; den Eindruck möchte ich als Obmann der Frak- gestaltet – sehr häufig das, was kurzfristig populär ist, tion Die Linke von mir weisen. und nicht das, was langfristig notwendig ist. Das liegt (B) vielleicht ein Stück weit im Wesen der Demokratie. Das (D) (Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- muss ich aber keinem erzählen; denn alle in diesem NEN]: Erst könnt ihr nicht hören, jetzt könnt Hause haben schon mehrere Wahlkämpfe hinter sich. ihr nicht lesen! Was könnt ihr eigentlich?) Im Übrigen möchte ich Sie, Herr Kauch, darauf ver- Richard von Weizsäcker hat aus meiner Sicht das Pro- weisen, was nachhaltige Entwicklung bedeutet: der Aus- blem ganz zutreffend beschrieben. Er hat gesagt, dass gleich von Ökologischem, Sozialem und Ökonomi- das Strukturproblem der Demokratie in der Verherrli- schem. Gerade Ihre Fraktion hier im Deutschen chung der Gegenwart und in der Vernachlässigung der Bundestag macht deutlich, dass sie zumindest zwei we- Zukunft liegt. Insofern ist es gut, wenn wir darüber nach- sentliche Säulen ständig vernachlässigt, nämlich die so- denken, was zukünftige Generationen von der aktuellen ziale und die ökologische Frage. Politik zu erwarten haben. Ich danke. (Michael Kauch [FDP]: Notwendig!) (Beifall bei der LINKEN) Auch ich finde diese Diskussion notwendig. Es ist gut, wenn man sich in weiten Teilen fraktionsübergreifend für dieses Thema einsetzt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kauch, möchten Sie nochmals erwidern? Ich will noch auf einen Punkt hinweisen, den der Kol- lege Dr. Dressel vorhin angesprochen hat. Es stellt sich Michael Kauch (FDP): die Frage, ob das, was in dem Gesetzentwurf vorgeschla- Da ich als einziger Vertreter des Beirats gesprochen gen wird, der richtige Weg ist, um zu erreichen, dass zu- habe und der Vorsitzende hier leider keine Redezeit be- künftige Generationen von den aktuell handelnden Poli- kommen hat, möchte ich mich lediglich darauf beschrän- tikern gerecht behandelt werden. Wir müssen feststellen: ken, darauf hinzuweisen, dass wir im Parlamentarischen Wenn Generationengerechtigkeit wichtig ist – das ist un- Beirat für nachhaltige Entwicklung darüber diskutiert bestritten der Fall; deshalb ist es gut, dass die Debatte haben, dass es diesen Antrag gibt. Es wurde überlegt, stattfindet –, dann sind wir gehalten, sie politisch zu ge- wie man ihn befördern kann. Es wurde in der Tat nicht stalten. darüber abgestimmt, und es gibt daher keine formale (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das findet Position des Gremiums. Ich habe deswegen auch gesagt, nicht statt!) dass es mit Ausnahme Ihrer Fraktion große Sympathien für die Annahme dieses Antrags gab. – Natürlich findet das nicht immer statt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12249

Michael Grosse-Brömer (A) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Problem!) neten der SPD) Aber wird das Problem dadurch gelöst, dass wir Genera- Ich glaube, diese Ziele sind wichtig; aber die prakti- tionengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetz auf- schen Notwendigkeiten sind gefragt. Verfassungsrecht- nehmen? Das ist die spannende Frage. Wir müssen poli- lich gibt es nun einmal erhebliche Bedenken. Wenn Sie tisch gestalten und sollten nicht glauben, dass wir mit etwas in die Verfassung schreiben, was sich letztlich der Aufnahme in das Grundgesetz die Probleme gelöst nicht realisieren lässt, enttäuschen Sie die Leute und hätten. schwächen die Verfassung. Das ist doch logisch. Der Wir müssen einmal fragen, worin das Interesse zu- Glaube, wir könnten mit Gesetzen die Welt verbessern künftiger Generationen besteht. Zu diesem Punkt wird es – darüber kann man ja nachdenken; ein Stück weit muss nach wie vor einen Meinungsstreit geben. Dieser Ge- das vielleicht auch unser Ziel sein –, ist doch ein Grund setzentwurf reiht sich ein in die Flut gutgemeinter Vor- für die Politikverdrossenheit in Deutschland. In dem schläge, was denn alles als Staatsziel ins Grundgesetz Moment, wo wir ein Gesetz erlassen, mit dem das Be- aufgenommen werden kann. Es ist gut, dass wir trotz un- absichtigte nicht erreicht wird, oder wir Generationenge- terschiedlicher Auffassungen fraktionsübergreifend da- rechtigkeit in die Verfassung schreiben, das aber nicht rüber diskutieren. Sie werden mir als Rechtspolitiker dazu führt, dass Generationengerechtigkeit hergestellt nicht verübeln, wenn ich frage, ob es wirklich sinnvoll wird, enttäuschen wir all diejenigen, die das für eine ist, Kultur, Sport, Kinderschutz, Verschuldungsverbot kluge Sache gehalten und unterstützt haben. und Generationengerechtigkeit als Staatsziel in das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Grundgesetz aufzunehmen. Ich bitte jede und jeden von neten der SPD) Ihnen, durch Handzeichen anzuzeigen, wer gegen den Sport ist, wer Kultur für überflüssig hält und wer der Die Verfassungsgeschichte zeigt, dass das ursprüng- Meinung ist, dass Kinderschutz und Generationenge- lich nicht gewollt war; denn ich glaube nicht, dass Na- rechtigkeit in unserer Gesellschaft nicht wichtig sind. turschutz oder Tierschutz damals als völlig unwichtig er- (Michael Kauch [FDP]: Und der Tierschutz?) achtet wurden. Die Väter des Grundgesetzes – ich glaube, es hat auch drei Mütter gegeben – haben sich da- – Zu argumentieren, dass wir andere Ziele ins Grundge- mals bewusst gegen Staatsziele entschieden. Sie haben setz aufnehmen müssen, weil dies beim Tierschutz schon gesagt: Das Grundgesetz soll kein Warenhauskatalog, der Fall ist, ist vergleichbar mit der Aussage: Bei jeman- kein Wunschkatalog sein, sondern es sollen nur die dem mit einer Grippe kommt es auf einen Herzinfarkt Dinge aufgenommen werden, die sich auch tatsächlich (B) auch nicht mehr an. umsetzen lassen. Das ist zum Beispiel bei den Grund- (D) rechten der Fall, die ganz konkrete Abwehrrechte des (Lachen des Abg. Michael Kauch [FDP]) einzelnen Bürgers gegen den Staat darstellen. Im Gegen- Ich stimme Ihnen zu, dass es nicht gut ist, dass der satz dazu sind und bleiben Staatsziele unverbindliche Tierschutz als Staatsziel in der Verfassung steht. Denn Absichtserklärungen und begründen keine einklagbaren dies ergibt keinen Sinn. Kein Tier ist besser geschützt im Rechte. Vergleich zu der Zeit, als der Tierschutz kein Staatsziel war. Vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig (Jens Spahn [CDU/CSU]: Dann können wir wurde 2006 in einem Urteil entschieden: „Sozialstaat“ ja streichen!) Die Aufnahme des Tierschutzes als Staatsziel … Deswegen bin ich dafür, dass wir die Verfassung nicht schließt es nicht aus, einem muslimischen Metzger dadurch beeinträchtigen – aus meiner Sicht wäre das eine Ausnahmegenehmigung … zum betäubungslo- eine Beeinträchtigung –, dass das Vertrauen der Men- sen Schlachten (Schächten) von Rindern und Scha- schen in diese rechtliche Grundlage unserer Gesellschaft fen zu erteilen … durch Aufnahme von immer mehr Staatszielen belastet wird; denn eines ist ja klar: Sobald wir Staatsziele auf- So viel zur Wirksamkeit von Staatszielbestimmungen im nehmen – Herr Kauch, das dokumentiert Ihr Einwand –, Grundgesetz. gebiert dies den Wunsch nach weiteren. Jeder von uns Da sich von Ihnen gerade niemand gemeldet hat, weil hat natürlich noch die eine oder andere hehre Absicht, er Sport für völlig überflüssig und Kultur weiß Gott die ins Grundgesetz aufgenommen werden könnte. nicht für unterstützenswert hält, darf ich feststellen: Wir Mein Fazit zum Schluss: Ich glaube, es ist richtig, sind uns alle über die Notwendigkeit dieser wichtigen über Generationengerechtigkeit zu reden. Es ist wichtig, politischen Ziele einig. Es liegt doch an uns, das poli- dass wir darüber debattieren. Man sollte aber nicht glau- tisch zu gestalten. Glauben Sie etwa, dass die Politik da- ben, dass wir das Problem durch die Aufnahme von Ge- durch, dass wir das ins Grundgesetz schreiben, besser nerationengerechtigkeit als Staatsziel ins Grundgesetz würde? Wir werden gleichwohl über den besten Weg, lösen könnten. Kinder, Kultur und Sport sind wichtig, diese Ziele in konkrete Politik umzusetzen, nachdenken der Schutz der Verfassung aber auch. und streiten müssen. Ich weiß, das ist nicht populär, aber man muss zwischendurch auch einmal das machen, wo- Herzlichen Dank. rauf es ankommt, und nicht immer nur das, was an- kommt. Das ist eine alte Geschichte. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 12250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE (C) Ich schließe die Aussprache. GRÜNEN]: Das verstehe ich nicht!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Denn diese Regierung und die sie tragende Koalition den Drucksachen 16/3399 und 16/6599 an die Aus- handeln an dieser Stelle. Das werde ich gleich erklären. schüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tagesordnung fin- Zum anderen Antrag sage ich: Er ist typisch und den. Die Vorlage auf Drucksache 16/3399 soll federfüh- zeigt, was eine sachliche Diskussion mit der Linken rend an den Rechtsausschuss überwiesen werden. Sie schwer macht. Ihr Antrag ist überschrieben mit sind damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die „Zwangsverrentung stoppen …“. Man unterstellt also, Überweisung so beschlossen. dass es Zwangsverrentung gibt, dass Menschen massen- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: haft aus dem Arbeitslosengeld-II-Bezug herausgedrängt werden und ihre Rente zwangsweise in Anspruch neh- Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- men müssen. richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Ja, natürlich ist das so!) – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker Schneider (Saarbrücken), Klaus Ernst, Genau diese Unseriosität passiert der Linken auf solch Dr. Lothar Bisky, weiterer Abgeordneter und wichtigen Politikfeldern immer; Sachverhalte werden der Fraktion DIE LINKE immer wieder falsch dargestellt. Das sind reiner Populis- mus und der Versuch, den Menschen Angst zu machen. Zwangsverrentung stoppen – Beschäfti- Das ist überhaupt keine Frage. Das wird an solchen Un- gungsmöglichkeiten Älterer verbessern terschiedlichkeiten sehr deutlich. – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Schewe-Gerigk, Brigitte Pothmer, Kerstin CDU/CSU) Andreae, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Also: Problem erkannt. Über die Frage, welcher sinn- vollen Lösung man es zuführen kann, wird zurzeit in der Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen Koalition, aber auch im Ministerium nachgedacht. In der ausschließen Tat kann es sein, dass der eine oder andere der Akteure – Drucksachen 16/5902, 16/5429, 16/6625 – vor Ort das Instrument der Nachrangigkeit tatsächlich nutzt. Das stimmt. Wobei ich sage: Für uns muss Prä- (B) Berichterstattung: misse sein, dass derjenige, der Arbeit haben will, der (D) Abgeordneter Anton Schaaf sich bereit erklärt, auf Jobsuche zu gehen und sich dabei Zwischen den Fraktionen ist verabredet, hierüber eine unterstützen lässt, nicht zwangsverrentet wird. Diese halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi- Frage stellt sich für uns überhaupt nicht. Man muss Me- derspruch. Dann ist so beschlossen. chanismen einführen, die dies verhindern. Ich eröffne die Aussprache und gebe zunächst das Das Nachrangigkeitsprinzip an der Stelle infrage zu Wort dem Kollegen Anton Schaaf für die SPD-Fraktion. stellen, und zwar in Gänze, halten wir für völlig falsch. Das muss man in aller Deutlichkeit sagen. Von daher (Beifall bei der SPD) halten wir es für falsch, die Nachrangigkeit herauszu- nehmen und schlichtweg Luft zu machen. Vielmehr Anton Schaaf (SPD): brauchen wir klare Mechanismen und Regeln, damit Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwangsverrentung verhindert wird bei denen, die bereit Wie unterschiedlich, wie seriös und sachlich man sich sind, zu arbeiten. Das ist für uns der entscheidende einem Thema nähern kann, können wir an diesen beiden Punkt. Wir werden bis zum Ende des Jahres mit Auslau- unterschiedlichen Anträgen erkennen. fen der 58er-Regelung mit Sicherheit vernünftige Lösun- gen gefunden haben und sie hier entsprechend zur Dis- In der Tat ist es so – da gibt es nichts zu diskutieren –, kussion und zur Abstimmung stellen. Dessen können Sie dass sich mit dem Auslaufen der 58er-Regelung unter alle durchaus versichert sein. Umständen eine Lücke auftun wird. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir sie vor dem Hintergrund des grund- Einen Punkt aus dem Antrag der Linken will ich auf- sätzlich richtigen Sozialstaatsprinzips der Nachrangig- greifen. Denn ich glaube, man muss mit Missverständ- keit schließen können. Es geht um die Frage, ob Men- nissen und Unklarheiten ein Stück weit aufräumen. Die schen, die in erster Linie Arbeitslosengeld II beziehen, Linken haben gefordert, die gesetzlich geförderte Alters- nicht vorrangig – vor der sozialstaatlichen Leistung – er- teilzeit über 2009 hinaus zu verlängern. Man sollte sich worbene Rentenansprüche in Anspruch nehmen müssen. die Altersteilzeit einmal genau anschauen – ich sehe hier im Saal den geschätzten Kollegen Ernst; er ist Gewerk- Wir reden da über ein sachliches Problem. Die Grü- schafter –: Hierbei geht es um die gesetzlich geförderte nen haben es als solches erkannt. Über Ihren Antrag ist Altersteilzeit, in dessen Rahmen Zuschüsse der BA ge- durchaus auch so zu diskutieren, wobei, liebe Irmingard zahlt werden. Die Förderung soll man bitte schön fort- Schewe-Gerigk, ich gleich noch darauf zurückkommen setzen. Jetzt ist es allerdings in der Realität so, Herr werde, warum man ihn trotzdem ablehnen kann. Ernst, dass es sich da, wo Altersteilzeit in Anspruch ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12251

Anton Schaaf (A) nommen wird, in drei Viertel aller Fälle nicht um die ge- lerdings auch immer die Nachrangigkeit als einen (C) setzlich geförderte Altersteilzeit handelt. Grundpfeiler unserer Sozialstaatlichkeit beachten – dies sollten wir uns alle auf die Fahnen schreiben –: Wer Das hat einen sachlichen Hintergrund. Denn mit der wirklich Hilfe braucht, soll Hilfe von der Allgemeinheit, gesetzlich geförderten Altersteilzeit haben wir eines ver- vom Sozialstaat, von uns allen bekommen. Diejenigen, bunden: Der Arbeitsplatz darf nicht wegfallen. Ein Teil die sich selber helfen können, sollen es zunächst einmal der Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben, ein Teil tun. Dass wir da auch besondere Risiken abdecken oder der Gewerkschafter, aber natürlich auch ein Teil der Ar- verringern müssen, ist überhaupt keine Frage. Wie wir beitgeber – das muss man an dieser Stelle sagen – nutzt dies in Bezug auf die auslaufende 58er-Regelung ma- das Instrument der Altersteilzeit nach wie vor, um Ar- chen werden, werden wir in den nächsten Wochen noch beitsplätze zu vernichten, und zwar in drei Viertel aller beantworten. Fälle. Das muss man schlichtweg so sagen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. Von daher halte ich es zumindest vor dem Hinter- grund dieser Praxis für eine ziemlich gewagte Forde- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rung, jetzt einfach plakativ zu sagen, dass die Förderung fortgesetzt werden soll. Man sollte sie zumindest auf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Stichhaltigkeit überprüfen. Ich bin der Meinung, dass Dem Kollegen Dr. Heinrich Kolb gebe ich jetzt das man Förderinstrumente beibehalten sollte. Das kann Wort für die FDP-Fraktion. man tun; aber man muss sie auf ihre Wirksamkeit über- prüfen und darauf, ob sie in der Praxis tatsächlich ge- (Beifall bei der FDP) nutzt werden. Bei der Altersteilzeit gibt es, wie ich finde, ein eklatantes Missverhältnis. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über die Frage der flexiblen Übergänge und der so- Mit Ende dieses Jahres läuft die sogenannte 58er-Rege- zialen Absicherung von Menschen, die vor allen Dingen lung aus. Mithilfe dieser Regelung konnten bisher für ar- auch im Alter in Notlagen geraten, ist permanent zu dis- beitslose Versicherte Rentenabschläge vor dem Regel- kutieren. Aber wir müssen natürlich auch die Anpas- eintrittsalter regelmäßig vermieden werden. Mit dem sungsmechanismen überprüfen. In der Tat ist es so, dass Wegfall der Regelung müssen grundsätzlich ab dem die Beschäftigungsquote älterer Arbeitnehmerinnen und 1. Januar 2008 Arbeit suchende Frauen ab dem 60. Le- Arbeitnehmer in den letzten Jahren deutlich gestiegen bensjahr und langjährig Versicherte mit 35 Beitragsjah- ist. Man kann auch nicht anders darüber diskutieren. ren ab dem 63. Lebensjahr ihre Rentenanwartschaften Heute Morgen in der Debatte zur Regierungserklärung unter Hinnahme von Abschlägen einsetzen, bevor sie (B) (D) des Arbeitsministers sind die Zahlen eindeutig und klar Leistungen nach Arbeitslosengeld II bekommen können. formuliert worden. Ältere haben in unserem Land am Es stellt sich die Frage, ob dies sinnvoll ist. Damit habe Arbeitsmarkt deutlich bessere Chancen als noch vor ei- ich durchaus Probleme. Ich werde darauf zurückkom- nigen Jahren. Dies betrifft die Vorruhestandspraxis und men, will aber zuvor noch zwei Bemerkungen machen. all das, was Frühverrentung ausmacht. Sie haben jetzt deutlich bessere Chancen am Arbeitsmarkt. Erstens. Das, was hier durch die Antragsteller viel- leicht etwas überzogen als Zwangsverrentung der Versi- In der Praxis haben wir die gut qualifizierten Älteren cherten bezeichnet wird, ist bei näherem Hinsehen die aus den Betrieben gedrängt, weil sie teuer waren. Wir Beachtung des Nachrangigkeitsgrundsatzes, also der Re- haben immer gehofft, Herr Ernst, dass das über den Vor- gel, dass derjenige, der die Leistungen der Gemeinschaft ruhestand läuft: Alte raus, Junge rein. in Anspruch nehmen möchte, jenseits von Schongrenzen (Wolfgang Meckelburg [CDU/CSU]: Sieben vorrangig eigenes Vermögen und eigenes Einkommen zu eins!) einsetzen muss. Wie war die Realität? Da müssen wir uns alle an die Zweitens. Mit den vorliegenden Anträgen würde das eigene Nase fassen. Die Realität war: zehn Alte raus, ein auftretende Problem in keiner sinnvollen Weise gelöst. Junger rein. Eine richtige Bewegung auf dem Jugendar- Die Linken fordern, die Altersteilzeit über das Jahr 2009 beitsmarkt haben wir damit überhaupt nicht bewirkt; hinaus zu verlängern und die 58er-Regelung fortzufüh- vielmehr haben wir auf Kosten der Steuerzahler und der ren. Wir lehnen dies ab, weil diese Maßnahmen nach al- sozialen Sicherungssysteme den Unternehmen ermög- len Erkenntnissen der Wissenschaft der Grund dafür licht, die teuren älteren Arbeitnehmer aus den Betrieben sind, dass ältere Menschen aus dem Arbeitsmarkt he- herauszudrängen. Das war die Praxis, und eine solche rausgedrängt werden, was einen entsprechenden negati- Praxis können und wollen wir uns nicht mehr leisten. ven Einfluss auf die Beschäftigungsquote Älterer hat. Diese Maßnahmen dürfen nicht verlängert, sondern (Beifall bei der SPD) müssen so schnell wie möglich abgeschafft werden. Ältere haben in diesem Land eine Chance; wir sollten (Beifall bei der FDP) ihnen die Chance bewahren. Das Problem ist erkannt. Der Antrag der Grünen, Frau Schewe-Gerigk, greift Deswegen haben wir auch dem Antrag der Grünen nicht schlicht und ergreifend zu kurz. zugestimmt. Im Ministerium und in den Regierungsfrak- tionen wird daran gearbeitet; wir werden dieses Problem (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ einer sinnvollen Lösung zuführen. Dabei werden wir al- DIE GRÜNEN]: Ach!) 12252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Heinrich L. Kolb (A) Die Betroffenen vor Zwangsverrentung – ich bleibe jetzt Klar muss sein, dass die Grenzen der Solidargemein- (C) einmal bei diesem Begriff – zu schützen, genügt allein schaft nicht überreizt werden dürfen. Wenn es keinen nicht. Die Frage ist, wo die echte Perspektive für ältere Zwang zur Rente mit Abschlägen geben soll, dann muss Arbeitslose ist, die eine neue Beschäftigung anstreben. derjenige, der seine Rente ohne Abschlag in Anspruch nehmen will, dies auch tun können. Das heißt, nach dem Ich bringe hier noch einmal in Erinnerung, dass die heutigen Stand wird die Rente mit spätestens 65 Jahren FDP-Bundestagsfraktion, um echte Perspektiven zu er- vorrangig vor der Transferleistung der Gemeinschaft öffnen, schon im Frühjahr dieses Jahres das Modell ei- zum Tragen kommen. nes flexiblen Renteneintritts unter Wegfall aller Zuver- dienstgrenzen vorgelegt hat. Nach diesem Konzept Das ist der Lösungsansatz, den ich für möglich halte, besteht unter Voraussetzung der Grundsicherungsfreiheit wenn man auf die konsequente Anwendung des Nach- ein Wahlrecht zur Rente ab dem 60. Lebensjahr bei Weg- rangigkeitsgrundsatzes verzichten möchte. Das ist eine fall aller Zuverdienstgrenzen. sinnvolle und intelligente Lösung, die den Interessen der Betroffenen gerecht wird und vor allen Dingen dazu bei- Dieses Konzept ist auch geeignet, für Arbeitsuchende trägt, dass ältere Menschen ein nachhaltiges Interesse einen flexiblen Übergang in die Rente zu schaffen und daran haben, so lange wie möglich am Arbeitsleben teil- gleichzeitig Anreize zur Weiterarbeit zu setzen. Einen zuhaben und integriert zu sein. Zwang, in Rente zu gehen, gibt es in unserem Konzept nicht. Der systematisch richtige Grund dafür ist, dass die Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik darauf ausgerichtet sein muss, Menschen auch im höheren Alter in den Arbeits- (Beifall bei der FDP) markt zu integrieren. Wer sie darauf verweist oder gar zwingt, Rente in Anspruch zu nehmen, der reduziert zu- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mal bei den derzeit engen Zuverdienstgrenzen den An- Der Kollege Karl Schiewerling hat jetzt für die CDU/ reiz zum Arbeiten. Dann gilt: Wer einmal raus ist, ist CSU-Fraktion das Wort. auch auf Dauer raus. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich habe, wie gesagt, Bedenken, was die konsequente Anwendung des Nachrangigkeitsgrundsatzes angeht. Karl Schiewerling (CDU/CSU): Das Recht, früher in Rente zu gehen, darf sich nicht ge- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe gen die insofern Privilegierten wenden. Besonders be- Kolleginnen und Kollegen! Sie werden wahrscheinlich troffen von einer Zwangsverrentung wären Frauen ab 60, nicht gerade überrascht sein, wenn ich Ihnen sage, dass die nicht mehr in Rente gehen könnten, sondern in Rente unsere Fraktion beide Anträge ablehnt. Wir lehnen sie (B) gehen müssten, sowie langjährig Versicherte mit mehr ab, weil sie in der Tat dem Grundsatz der Nachrangigkeit (D) als 35 Beitragsjahren. Weder das eine, die Diskriminie- widersprechen – nicht nur dem Grundsatz des Sozialgesetz- rung von Frauen, noch das andere, die Benachteiligung buches II, sondern auch dem des Sozialgesetzbuches XII – derjenigen, die mehr als andere vorgesorgt haben, ist und weil wir einer Verlängerung der 58er-Regelung nach meiner Auffassung zu akzeptieren. nicht zustimmen wollen, da wir dies für ein falsches (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Klaus Signal halten. Würden Ihre Anträge konsequent umge- Ernst [DIE LINKE]) setzt, wäre letztlich nämlich genau das die Folge. Herr Kollege Schaaf, ich will deutlich sagen: Nach Lassen Sie mich eine Anmerkung machen: Seit zwei meinen Berechnungen entsteht der Gemeinschaft auch Jahren habe ich die Ehre und das Vergnügen, in diesem bei einem Verzicht auf die Zwangsverrentung kein wirk- Haus insbesondere über das SGB II und Hartz IV zu dis- licher Schaden. Zumindest was die Personen betrifft, kutieren. Mir ist bis auf eine Ausnahme nicht ein einzi- deren Rentenanspruch unterhalb des Niveaus der Grund- ger Antrag der Fraktion der Linken bekannt, in dem sicherung im Alter liegt, gilt, dass bei einer Verrentung Ideen entwickelt wurden, wie im normalen wirtschaftli- mit 60 Jahren der fünfjährigen Ersparnis in Höhe von chen Leben Arbeitsplätze geschaffen werden können. 82 Prozent der Rentenanwartschaft ein notwendiger zu- Das, was Sie machen, ist Bewirtschaftung von Arbeitslo- sätzlicher Transfer in Höhe von 18 Prozent der Renten- sigkeit. Ich sage Ihnen: Wir wollen keine Bewirtschaf- anwartschaft für die gesamte Rentenbezugsdauer nach tung von Arbeitslosigkeit, sondern wir wollen Leben in dem Regelrenteneintrittsalter gegenübersteht. Wenn Sie der Wirtschaft, damit die vorhandenen Arbeitsplätze er- das durchrechnen, stellen Sie fest, dass sich das in etwa halten und neue geschaffen werden können, insbeson- ausgleicht. Ein Vorteil für den Staat ergibt sich daraus dere für Ältere. nicht. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Für Personen, deren gesamte Altersvorsorge oberhalb neten der SPD) des Niveaus der Grundsicherung im Alter liegt, dürfte Ich habe großes Verständnis für die Menschen, die sich bei Abwägung aller Umstände, auch des Einsatzes 30 Jahre und länger in die Rentenkasse eingezahlt haben eigenen Vermögens, die vorzeitige Inanspruchnahme der und nun aufgrund der wirtschaftlichen Lage erwerbslos Rente ohnehin regelmäßig als günstiger erweisen, jeden- geworden sind. Diese Menschen müssen, wenn sie in falls dann, wenn die Zuverdienstgrenzen, wie im FDP- keine andere Stelle vermittelt werden können, mit Ab- Konzept vorgesehen, vollständig abgeschafft würden. schlägen vorzeitig in Rente gehen. Ich gestehe zu: Das (Beifall des Abg. Jörg Rohde [FDP]) ist im Einzelfall problematisch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12253

Karl Schiewerling (A) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein, das ist Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein älterer Arbeit- (C) generell problematisch!) nehmer freiwillig Arbeitslosengeld II bezieht, wenn seine Rente trotz Abschlägen immer noch höher liegt als Aber ich kenne viele Menschen, die sehr froh sind, wenn das Arbeitslosengeld II und er die Möglichkeit hat, ei- sie nicht mehr Hartz IV beziehen müssen, sondern in gene Schritte zu gehen und etwas hinzuzuverdienen. Rente gehen bzw. Rente in Anspruch nehmen können. Entscheidend ist allerdings, dass wir ältere Arbeitneh- (Beifall bei der CDU/CSU) merinnen und Arbeitnehmer gar nicht erst arbeitslos Auf das Prinzip der Nachrangigkeit hatten sich bei werden lassen. Unser Ziel muss es sein, Ältere in Arbeit der Umsetzung der sogenannten Hartz-Reformen, wie zu bringen. Genau daran arbeitet die Große Koalition. Sie betonen, alle verständigt. Unser oberstes Ziel ist und (Beifall bei der CDU/CSU) bleibt, Menschen nicht in der Grundsicherung zu belas- sen, sondern sie aus dem Bezug von Leistungen des Dass das bereits gelingt, belegen die Zahlen: Die Be- Staates herauszuholen. Doch was hier gefordert wird, ist schäftigungsquote der über 55-Jährigen lag im zweiten de facto eine unbefristete Verlängerung der 58er-Rege- Quartal 2007 bei 52 Prozent. Damit hat sich diese Be- lung. Diese Regelung wäre am 31. Dezember 2005 aus- schäftigungsquote seit dem Jahr 2000 um 10 Prozent- gelaufen. Wir haben sie noch einmal um zwei Jahre ver- punkte erhöht. Ich will daran erinnern: In Lissabon hat längert. Ende dieses Jahres, haben wir verbindlich sich die Europäische Union zum Ziel gesetzt, bis zum geregelt, ist damit Schluss. Denn wir wollen keine An- Jahre 2010 50 Prozent zu erreichen. Ich freue mich und reize für eine Frühverrentung. Diese Frühverrentung be- wir können froh darüber sein, dass wir dieses Ziel nicht lastet die sozialen Sicherungssysteme. Das bezahlen die nur schon erreicht, sondern sogar schon übertroffen ha- Beitragszahler, das bezahlen die kleinen und mittelstän- ben. dischen Betriebe. Vorteile davon haben allein die gro- ßen, kapitalintensiven Konzerne. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr richtig!) Die Beschäftigungsquote der über 50-Jährigen lag so- Wir wollen, dass die Menschen möglichst lange in gar bei 61,7 Prozent. Im Vergleich zu anderen europäi- Beschäftigung bleiben. Mit Ihren Anträgen hebeln Sie schen Ländern liegen wir damit im oberen Mittelfeld. das Prinzip der Nachrangigkeit aus. Das wundert uns bei Das ist ein erster beachtlicher Erfolg. Doch wir wollen den Linken offen gestanden nicht, aber bei den Grünen mehr: Wir wollen uns an Staaten wie Schweden messen, schon; denn Sie haben dieses richtige Prinzip mit be- bei denen die Quote bei etwa 70 Prozent liegt. Das kön- (B) schlossen. nen wir und das wollen wir auch erreichen. (D) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt entwi- Wir hebeln es auch nicht aus!) ckelt sich zunehmend günstiger. Im September 2007 wa- Für unsere Fraktion gilt weiterhin der Grundsatz, dass ren 191 000 ältere Menschen weniger als noch vor ei- jeder Einzelne seinen Beitrag leisten muss, bevor er ei- nem Jahr arbeitslos gemeldet; das entspricht einem nen Anspruch auf Transferleistungen des Staates hat. Rückgang von etwa 17,6 Prozent. Natürlich belasten uns Schafft er es aus eigener Kraft nicht, hat er ein Recht auf die insgesamt 908 000 arbeitslos gemeldeten Menschen Unterstützung; das nennen wir Subsidiarität. Danach ist über 50 Jahre. Doch wir sind auf einem guten Weg, die Hilfe des Staates nachrangig. Das bedeutet auch, auch viele von ihnen in Arbeit zu vermitteln. Bei den dass, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, aus dem über 55-Jährigen konnten 110 000 Menschen vermittelt Bezug von Hilfe herauszukommen, als Ultima Ratio die werden. Das sind immerhin 20 Prozent Arbeitslose we- Rente mit Abschlägen hingenommen werden muss. Das niger als im Vorjahr. Vom aktuellen Wirtschaftsauf- mag im Einzelfall hart sein – das ist klar –; aber die schwung profitieren auch die älteren Arbeitnehmerinnen Rente mit Abschlag bedeutet ja nicht, dass man insge- und Arbeitnehmer. samt weniger Rente bekommt. Man bekommt monatlich Auch die aktuellen Integrationserfolge im Rahmen weniger; aber man hat eine längere Rentenlaufzeit. des Bundesprogramms „Perspektive 50 plus“ zeigen, (Zurufe von der LINKEN: Oh!) dass sich die Berufschancen Älterer verbessert haben. Rund 81 Prozent sind in sozialversicherungspflichtige Das heißt, dass das vom Einzelnen eingezahlte Geld Beschäftigungsverhältnisse und mehr als 57 Prozent nicht verloren geht. Ich halte das in der Rentensystema- davon in unbefristete Beschäftigungsverhältnisse über- tik für richtig und für zu bedenken. nommen worden. Ich will auch auf einen anderen Punkt hinweisen: Es (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gibt nicht wenige, die frühverrentet sind, mit 63 in Rente gegangen sind, die die Möglichkeit, die der Gesetzgeber Mit der Fortführung des Bundesprogramms sollen die ihnen eingeräumt hat, nämlich Geld hinzuzuverdienen, Beschäftigungschancen der älteren Langzeitarbeitslosen nutzen, übrigens steuer- und abgabenfrei, und dabei weiter verbessert werden. Es ist zu erwarten, dass mit- nicht schlechter fahren, als das vorher der Fall war. Ich hilfe dieses Bundesprogramms in den nächsten Jahren kenne das aus dem Kreise meiner Bekannten und weiß, 50 000 ältere Langzeitarbeitslose in den allgemeinen Ar- dass viele das in Anspruch nehmen. beitsmarkt integriert werden können. 12254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Karl Schiewerling (A) Daneben haben wir weitere Initiativen ergriffen, näm- (Beifall bei der LINKEN) (C) lich die Initiative „50 plus“ und seit dem 1. Oktober 2007 die Jobperspektive für Menschen über 55 Jahre. Klaus Ernst (DIE LINKE): Niemand kann sagen, die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen würden nicht alles unternehmen, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- um ältere Menschen im Arbeitsverhältnis zu halten oder gen! Herr Schiewerling, eines müssen Sie mir jetzt er- neu in Beschäftigung zu bringen. klären, weil ich die Logik einfach nicht verstehe. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Sie verstehen neten der SPD) keine Logik!) Angesichts des demografischen Wandels und des dro- Sie stellen sich hier hin und sagen, Sie seien gegen die henden Fachkräftemangels werden die Betriebe das Frühverrentung von Menschen. Gleichzeitig sind Sie Potenzial älterer Fachkräfte zunehmend nutzen. Davon aber dafür, dass man Menschen mit 63 Jahren – Frauen bin ich überzeugt. In meinem eigenen Wahlkreis im gegebenenfalls mit 60 Jahren – in die Rente zwingt. Was Münsterland kenne ich Betriebe, die gerade diese Poten- ist das anderes als eine Frühverrentung? Es werden doch ziale der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Menschen in die Rente geschickt, ohne dass sie das wol- schätzen. Mit Motivation, Erfahrung, Engagement und len. Das hat keine Logik mehr. Disziplin punkten sie bei den Arbeitgebern zunehmend. Im Übrigen zu Ihrer Rechnung: Ich weiß nicht, wie (Jörg Tauss [SPD]: Nicht nur dort!) Sie rechnen, aber ich kann Ihnen sagen, wie wir rechnen, Voraussetzung ist allerdings – das gilt für alle –, dass die und ich glaube, diese Rechnung ist nicht zu widerlegen. Wirtschaft läuft. Schauen Sie sich einmal an, was ein 63-jähriger Emp- Wir wollen, dass die Fallmanager vor Ort mit den Be- fänger von Arbeitslosengeld II erhält. Es sind 670 Euro. troffenen entscheiden, was das Beste für sie ist. Diese Wenn er im Vergleich dazu Rente in Höhe von 1 000 Euro gezielte Einzelfallprüfung ist der Schlüssel zum Erfolg. erhält, hat er tatsächlich natürlich mehr. Selbst bei einem Dazu brauchen wir verbindliche Kriterien für die Träger Abschlag von 7,2 Prozent hätte er noch 928 Euro. Inso- der Grundsicherung. Es geht darum, präzise festzulegen, fern stimmt es natürlich, dass er mehr hätte. Er ist aber dass zunächst alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, länger Rentner; das hoffen wir zumindest. Herr um eine Beschäftigung im normalen Arbeitsmarkt zu si- Schiewerling, wenn er zehn Jahre lang Rentner ist, dann chern oder zu ermöglichen, bevor jemand, der Arbeitslo- schaut die Rechnung anders aus. Dadurch, dass er Ab- sengeld II bezieht, in die Rente geschickt wird. Es geht schläge hinnehmen muss, erhält er in zehn Jahren (B) nicht darum, jemanden aus der Statistik zu drängen. Es 8 640 Euro weniger. Demgegenüber stehen die 6 192 Euro, (D) geht darum, Leute in Beschäftigung zu bringen. die er vorher mehr hatte, wenn er früher in Rente geht. Insgesamt hat er also weit über 2 000 Euro weniger. Noch eines, weil das immer wieder diskutiert wird: Der Einstieg in die Rente mit 67 erfolgt erst 2013, und Ich sage Ihnen: Genau das machen Sie mit den Bezie- sie wird sich erst 2029 voll entfalten. Bis dahin haben hern von Arbeitslosengeld II. Es wundert mich natürlich, wir alle Chancen, Ältere möglichst lange zu beschäfti- dass der vorliegende Gesetzentwurf ausgerechnet von gen und sie durch Prävention, Arbeitsschutz und Ge- den Sozialdemokraten mit verursacht wurde. sundheitsvorsorge auf diesen Schritt und diese Entwick- (Zurufe von der SPD: Oh!) lung vorzubereiten. Der Blick auf heute sagt noch nichts über die Wirklichkeit von morgen. Dieser Gesetzentwurf führt dazu, dass Empfänger von Ich sage Ihnen aber auch: Die Grundsicherung ist ein Arbeitslosengeld II, die schon dadurch benachteiligt lernendes System. Das haben wir in den letzten Jahren sind, dass sie keinen Job haben und dass ihr Vermögen festgestellt. angerechnet wird – Sie kennen das –, insbesondere dann, wenn sie lange versichert waren – 35 Jahre –, in die Rente gezwungen werden, ohne dass sie das wollen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Kollege Schaaf, man kann jetzt natürlich über den Titel Kommen Sie bitte zum Ende, Herr Kollege. streiten. Aber es ist faktisch Zwangsverrentung, wenn Leute, ohne dass sie es wollen, in Rente geschickt wer- Karl Schiewerling (CDU/CSU): den. Was ist das anderes als Zwangsverrentung? Freiwil- Ich komme jetzt zum Schluss. – Das heißt, dass die lig ist das nicht, Kollege Schaaf. Bereitschaft zu Korrekturen immer gegeben sein muss und auch gegeben ist. Die Grundsätze, durch die dieses (Beifall bei der LINKEN) System getragen wird, müssen aber klar sein. Eines möchte ich auch noch einmal deutlich machen. Herzlichen Dank. Ich freue mich ja, dass die Sozialdemokratie zurzeit da- rüber nachdenkt, was an ihrer Agenda falsch war. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) freue mich, dass sie über die Verlängerung der Bezugs- dauer des Arbeitslosengeldes I nachdenkt. Ich freue Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: mich auch, dass sie über die Rente mit 67 nachdenkt. Ich Klaus Ernst hat jetzt das Wort für die Fraktion Die frage mich nur immer, wozu das Nachdenken bei euch Linke. führt. Ihr denkt ja nicht allein nach; auch euer Minister Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12255

Klaus Ernst (A) denkt nach, und er denkt leider immer in die andere (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es kommt aber (C) Richtung. immer darauf an, wie man es macht!) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Wider- Deshalb finde ich die Signale, die das Bundesministe- spruch bei der SPD) rium für Arbeit und Soziales nun auf einmal aussendet, Ich hoffe, dass ihr diesbezüglich eine Einigung in der so- wirklich irritierend. Sie bedeuten: Wer nicht mehr ge- zialdemokratischen Partei findet – braucht wird, wird ausgesteuert. Dadurch wird die Ar- beitslosenstatistik geschönt; ältere Langzeitarbeitslose (Rolf Stöckel [SPD]: Populismus!) werden aus dem Leistungsbezug entfernt. Dafür verlan- gen Sie von den älteren Langzeitarbeitslosen, dass sie – ja, das, was wir sagen, ist immer Populismus, und ihr zum frühestmöglichen Zeitpunkt eine Rente beantragen, seid die blühende Weisheit; das ist ja bekannt – und we- und zwar auch dann, wenn das mit Abschlägen verbun- nigstens diesen einen Punkt – da fällt euch ja kein Za- den ist. Massive Rentenkürzungen nehmen Sie dabei bil- cken aus der Krone – so regelt, dass ihr wieder ein wenig ligend in Kauf. Ansehen bei den Bürgern dieses Landes habt. Wenn ihr euch eure Umfragen anschaut, dann seht ihr, dass sie im Herr Kollege Schaaf, wenn Sie sagen, das Ministe- Keller sind. rium solle einmal überlegen, (Wolfgang Grotthaus [SPD]: Schön, dass ihr (Anton Schaaf [SPD]: Das habe ich nicht ge- euch Sorgen darüber macht!) sagt!) Ich habe Verständnis dafür und es ist richtig, dass ihr dann mache ich Ihnen einen Vorschlag – da brauchen Sie jetzt darüber nachdenkt, was an der Agenda 2010 falsch das Ministerium gar nicht zu bemühen –: Sie müssen war; das ist in Ordnung. Aber dann nehmt doch, bitte einfach nur im SGB II den Satz einfügen, dass der Nach- schön, die Punkte, die wirklich nicht so besonders teuer rangigkeitsgrundsatz dann nicht angewendet werden sind, in Angriff. Weniger als 200 000 Leute zwischen 60 darf, wenn Rentenabschläge die Folge sind. In allen an- und 65 Jahren haben im Sommer 2007 Arbeitslosen- deren Fällen bleibt es so, wie es ist; nur wenn Abschläge geld II bezogen. Wenn ihr euch jetzt entschließt, diese die Folge sind, ist das nicht der Fall. Das ist eine ganz kleine Gruppe von Menschen, die von dieser Regelung einfache Sache. Vielleicht kann das Ministerium das ja unmittelbar negativ betroffen ist, ohne Abschläge in auch übernehmen. Rente gehen zu lassen, dann habt ihr innerhalb von zwei Jahren wenigstens einmal etwas Vernünftiges gemacht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der LINKEN – Rolf Stöckel Guter Vorschlag!) (B) [SPD]: Unsinn!) (D) Wenn die Bundesregierung es den Argen so einfach Ich gehe aber davon aus, dass dieses Denken nicht au- macht, ältere Langzeitarbeitslose zwangsweise in Rente tomatisch zum richtigen Ergebnis führt. Wir werden zu schicken, dann ist doch auch nicht zu erwarten, dass euch daran messen. Nur wenn es eine starke Linke gibt, sie in Qualifizierung oder bessere Vermittlung investie- wird die Sozialdemokratie wieder ansatzweise sozialde- ren. Glauben Sie wirklich, Herr Kollege Schaaf, dass die mokratisch werden. Argen für einen 63-Jährigen große Anstrengungen unter- (Beifall bei der LINKEN) nehmen, wenn sie beim Abschieben in die Rente auch noch viel Geld einsparen können? Das glauben Sie doch Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: nicht wirklich! Ich erteile das Wort Kollegin Irmingard Schewe- Ihre aufgeregten Reaktionen in der gestrigen Aus- Gerigk, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. schusssitzung haben gezeigt, dass Sie diese Pläne jetzt durchziehen wollen, dabei aber Ihre Schwierigkeiten ha- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE ben; das akzeptiere ich. GRÜNEN): (Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sie werden sich Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mir bewegen, Frau Schewe-Gerigk!) kam es gerade so vor, als wären wir hier auf einem Marktplatz. – Das glaube ich auch. – Sie wissen genau, dass Sie die Glaubwürdigkeit der Rente mit 67 dadurch infrage stel- Aber in der Tat war uns damals bei der Debatte über len. Denn Ihr Rezept für die älteren Menschen, die von die Rente mit 67 allen klar, dass die Frühverrentungspra- Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, heißt immer xis in den Betrieben erheblich zur geringeren Erwerbs- noch: Sie werden gezwungen, mit 63 vorzeitig die Rente beteiligung von älteren Beschäftigten beigetragen hat. zu beantragen, obwohl das Renteneintrittsalter – wenn Sie entwertet nicht nur das Erfahrungswissen älterer Be- auch abgestuft – gerade auf 67 erhöht wurde. schäftigter, sondern ist auch volkswirtschaftlich nicht zu vertreten. Die Grünen stehen zu dieser Verantwortung. Das heißt, Menschen müssen für diese vier Jahre einen Ab- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- schlag von mehr als 14 Prozent in Kauf nehmen. Je- SES 90/DIE GRÜNEN) mand, der bei einem Renteneintritt mit 67 Jahren Wir schienen uns so weit einig zu sein, dass die Beschäf- 800 Euro Rente pro Monat bekäme, bekommt dann tigungsquote der Älteren deutlich erhöht werden muss. 684 Euro. Wenn man bedenkt, dass dieser Mensch dann 12256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Irmingard Schewe-Gerigk (A) vielleicht noch 20 Jahre lebt – was nicht ungewöhnlich Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ (C) ist –, dann können Sie das einmal hochrechnen. Das ist CSU, SPD und FDP bei Stimmenthaltung der Fraktion eine massive Rentenkürzung für eine Gruppe, die größ- Die Linke und gegen die Stimmen der Fraktion Die Grü- tenteils nur kleine Rentenanwartschaften aufbauen kann. nen angenommen. Damit spielen Sie im Übrigen denjenigen in die Hände, die die Rente mit 67 immer als massive Kürzung be- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf: zeichnen. Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes SPD, so diskreditiert man das notwendige Vorhaben zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts „Rente mit 67“. Trotz der positiven Entwicklung für äl- – Drucksache 16/3655 – tere Arbeitslose, die Arbeitslosengeld I beziehen, ist die Situation von älteren Langzeitarbeitslosen nach wie vor Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- prekär und keineswegs geeignet, sich zurückzulehnen. schusses (6. Ausschuss) Betroffen sind davon vor allem Geringqualifizierte; denn – Drucksache 16/6634 – sie erreichen sehr viel seltener als andere Ältere das Ren- tenalter aus einer Erwerbsarbeit heraus. Berichterstattung: Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb Doch Sie setzen auf Aussteuern statt auf Vermitteln Christoph Strässer und Qualifizieren. Wir brauchen aber deutliche Verbes- Mechthild Dyckmans serungen bei der Vermittlung und Qualifizierung der äl- Jörn Wunderlich teren Beschäftigten. Ihnen fehlen jedoch offensichtlich Jerzy Montag der Mut und der Ehrgeiz für eine Korrektur der bisheri- gen Politik. Sie gehen stattdessen lieber den einfachen Es liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Weg, indem Sie die älteren Langzeitarbeitslosen gegen Linke vor. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist ihren Willen – das ist der entscheidende Punkt; es wäre für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich etwas anderes, wenn man es ihnen freistellen würde – höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. und mit Abschlägen vorzeitig in Rente schicken. Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Parlamen- Die Linke wendet sich in ihrem Antrag nicht nur ge- tarischen Staatssekretär Alfred Hartenbach das Wort. gen die Zwangsverrentung – das unterstützen wir –, son- dern sie möchte auch die Programme zur Altersteilzeit Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- und die 58er-Regelung wieder aufleben lassen. Diese desministerin der Justiz: beiden Forderungen unterstützen wir nicht, weil sie we- (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Präsidium! (D) sentlich zur Frühverrentung beigetragen haben. Die Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Bei der Re- 1,26 Milliarden Euro, die die BA 2006 zur Förderung form des Rechtsberatungsrechts geht es nicht nur um die der Altersteilzeit aufwenden musste, wollen wir für ak- allseits begrüßte Abschaffung des alten, historisch belas- tive Arbeitsmarktpolitik einsetzen. Deshalb können wir teten Rechtsberatungsgesetzes aus dem Jahre 1935 und dem Antrag der Linken insgesamt nicht zustimmen. die längst überfällige Freigabe der unentgeltlichen kari- Ich danke Ihnen. tativen Rechtsberatung. Das ist übrigens ein sehr wichti- ger und von vielen karitativen Einrichtungen lang erwar- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – teter Teil der Reform. Vielmehr geht es zugleich darum, Anton Schaaf [SPD]: Der Schluss war gut!) ob man heutzutage überhaupt noch ein Gesetz zur Regu- lierung außergerichtlicher Rechtsberatung braucht. An- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: dere Länder in Europa zeigen uns, dass das nicht unbe- Ich schließe die Aussprache. dingt notwendig ist. Allerdings haben diese Länder – ich nenne als Beispiel die nordischen Staaten oder die Nie- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Ausschus- derlande – eine ganz andere Rechtstradition und eine ses für Arbeit und Soziales auf Drucksache 16/6625. Der Struktur des Rechtsberatungsmarktes, die mit der unse- Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussemp- ren nicht vergleichbar ist. fehlung auf Drucksache 16/6625 die Ablehnung des An- trags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/5902 Die Bundesregierung hat sich deshalb schon ganz mit dem Titel „Zwangsverrentung stoppen – Beschäfti- früh gegen eine radikale Liberalisierung des Rechtsbera- gungsmöglichkeiten Älterer verbessern“. Wer stimmt für tungsmarktes in Deutschland ausgesprochen. Qualifi- diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthal- zierte Rechtsdienstleistungen sollen und werden auch tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- künftig unter Geltung des neuen Rechtsdienstleistungs- men des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die gesetzes grundsätzlich durch Rechtsanwältinnen und Linke angenommen. Rechtsanwälte erbracht werden. Eine Freigabe oder auch nur die Einführung eines Rechtsdienstleistungsberufes Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt unterhalb der Anwaltschaft ginge letztlich zulasten der der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion rechtsuchenden Bevölkerung, aber auch unseres gesam- Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5429 mit ten Rechtssystems, in dem Anwältinnen und Anwälte als dem Titel „Zwangsverrentung von Langzeitarbeitslosen Organe der Rechtspflege eine besondere Stellung haben. ausschließen“. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12257

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Das bedeutet aber nicht, dass Anwälte in Deutschland Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) vor jedem Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck – auch in Ich erteile das Wort Kollegin Mechthild Dyckmans, dem Grenzbereich zwischen rechtlicher und wirtschaftli- FDP-Fraktion. cher Betätigung – geschützt werden müssten oder dürf- ten. Das alte Rechtsberatungsgesetz ist jahrelang benutzt worden, um einen solchen Schutzraum rund um die An- Mechthild Dyckmans (FDP): waltschaft zu rechtfertigen. Das Bundesverfassungsge- Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle- richt hat dies bereits seit einigen Jahren nicht mehr mit- gen! Rechtsberatung ist heute eine Tätigkeit, die alle ge- getragen und immer wieder Nichtanwälten die Befugnis sellschaftlichen Gruppen und alle thematischen Bereiche zugestanden, im Zusammenhang mit ihrer eigentlichen erfasst. Insgesamt ist der Beratungsbedarf in den vergan- beruflichen Tätigkeit rechtliche Angelegenheiten zu er- genen Jahren immer mehr angestiegen. Ursache dafür ledigen. An diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben ist, dass beinahe alle Lebensbereiche und Lebenssach- orientiert sich das neue RDG, ohne allerdings, wie es verhalte rechtlich komplizierter werden und für den sich viele Nichtanwälte gewünscht haben, darüber hi- Laien oft nur schwer zu durchdringen sind. Die Nach- nauszugehen. Der zentrale Erlaubnistatbestand des RDG, frage nach fachkundigem Rechtsrat ist daher heute grö- die Regelung über die als Nebenleistung im Zusammen- ßer denn je. hang mit einer anderen Tätigkeit zulässigen Rechts- Das geltende Rechtsberatungsgesetz bedurfte aus dienstleistung, erlaubt allerdings die Entwicklung neuer mehrerlei Gründen einer Generalüberholung. Herr Berufsbilder und ist damit zukunftsfest ausgestaltet. Staatssekretär Hartenbach hat es schon angesprochen. Zukunftsorientiert war auch der Vorschlag im Regie- Wir haben es daher grundsätzlich begrüßt, dass die Bun- rungsentwurf, die Regelungen der Bundesrechtsanwalts- desregierung diese Reform angestoßen hat. Dabei ordnung über die berufliche Zusammenarbeit von An- musste sowohl auf die Rechtsprechung des Bundesver- wältinnen und Anwälten mit Angehörigen anderer fassungsgerichts – insbesondere zur unentgeltlichen Be- Berufe zu erweitern und Anwälten die Sozietät etwa mit ratung – als auch auf die Deregulierungsbestrebungen Unternehmensberatern, Betriebswirten, Wirtschaftsjuris- der Europäischen Kommission im Bereich des freien ten oder nichtanwaltlichen Mediatoren zu gestatten. Eine Dienstleistungsverkehrs reagiert werden. solche Öffnung beruflicher Zusammenarbeitsformen Im ursprünglichen Gesetzentwurf der Bundesregie- wäre nicht nur für die Absolventen juristischer Fach- rung waren die Begriffe der Rechtsdienstleistung und hochschulstudiengänge – ich nenne als Beispiel nur die der Nebenleistung im Zusammenhang mit einer anderen Diplomwirtschaftsjuristen – eine Alternative zur abhän- Tätigkeit derart schwammig formuliert, dass erhebliche gigen Beschäftigung in Wirtschaftsunternehmen gewe- Auslegungs- und Abgrenzungsschwierigkeiten in der (B) (D) sen. Sie böte gerade auch jungen Rechtsanwältinnen und Praxis zu erwarten waren. Der Gesetzentwurf enthielt Rechtsanwälten auf unserem übersättigten Anwalts- zudem verschiedene Regelungen über die Zusammen- markt neue Chancen und Ausrichtungsmöglichkeiten. arbeit mit anderen Personen oder Angehörigen vereinba- Aber die Anwaltschaft hat signalisiert, dass sie in diesem rer Berufe. Diese Regelungen ließen mehr Fragen offen, Punkt noch Gesprächsbedarf sieht. Ich bin allerdings si- als sie abschließende Lösungswege aufzeigten. Insbe- cher, dass wir uns angesichts einer wachsenden anwaltli- sondere im Bereich der Verschwiegenheitspflichten von chen Zustimmung zu den Vorschlägen im Regierungs- Rechtsanwälten sah der Entwurf erhebliche Regelungs- entwurf, die nach einer Studie zuletzt bei mehr als lücken vor. Unbeantwortet blieb zum Beispiel die Frage, 44 Prozent der Anwaltschaft lag, schon sehr bald mit wie zu verfahren ist, wenn Anwälte mit Angehörigen diesen Vorschlägen befassen werden. von Berufsgruppen zusammenarbeiten, die keiner ge- Das gilt erst recht, wenn deutsche Anwälte in Europa setzlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegen. Zu konkurrenzfähig sein wollen. In England, also auf dem Recht, wie ich meine, haben wir diese Regelungen erst wichtigsten europäischen Rechtsmarkt, steht eine grund- einmal aus dem Gesetzentwurf gestrichen. Sie waren un- legende Liberalisierung anwaltlicher Geschäftsstruktu- ausgereift und undurchdacht. Die Bundesregierung ist ren unmittelbar bevor. Vor diesem Hintergrund ist die jetzt aufgefordert, praktikable und sauber ausgearbeitete Reform des Rechtsberatungsrechts, über die wir heute zu Vorschläge zu diesem Thema vorzulegen. Ich gehe da- entscheiden haben, nur ein neues, aber sicher tragfähiges von aus, dass die Anwaltschaft wie bisher auch bei die- Gerüst für weitere Entwicklungen des Rechtsberatungs- ser Aufgabe konstruktiv mitarbeiten wird. marktes, der sich auch in Deutschland rasant weiterent- Der Gesetzentwurf, so wie er heute zur Abstimmung wickeln wird. vorliegt, enthält an entscheidenden Stellen Änderungen Ich darf mich abschließend bei Ihnen, den Mitglie- und Verbesserungen gegenüber dem Ursprungsentwurf. dern des Rechtsausschusses, für die sehr guten, sehr in- Es ist aus Sicht der FDP sehr zu begrüßen, dass der Ent- tensiven und zielführenden Beratungen sowie bei den wurf sicherstellt, dass die qualifizierte und professio- Mitarbeitern des Bundesministeriums der Justiz, die nelle Rechtsberatung erhalten bleibt. Es ist richtig, auch manchmal sehr darunter gelitten haben, dass es nicht so künftig daran festzuhalten, dass die Vertretung von Man- gehen konnte, wie sie wollten, für die gute Zusammenar- danten vor Gericht bis auf wenige Ausnahmen nur durch beit herzlich bedanken. Ich wünsche, dass dieses Gesetz Rechtsanwälte erfolgen darf. Der Gesetzentwurf schafft ein voller Erfolg wird. auch Klarheit bei der unentgeltlichen Rechtsberatung. In Übereinstimmung mit dem Bundesverfassungsgericht (Beifall bei der SPD) soll unentgeltliche Rechtsberatung, die außerhalb des 12258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Mechthild Dyckmans (A) Familien- und Bekanntenkreises angeboten wird, nur Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): (C) durch eine juristisch qualifizierte Person oder jedenfalls Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zweimal unter deren Anleitung erbracht werden können. Es muss am Tag kann man die Ballade vom Schwängerer der sich dabei übrigens nicht um einen Rechtsanwalt han- Frau L. nicht erzählen, und auch die Rechtsanwälte ha- deln. Entscheidend ist, dass die Person die Befähigung ben verdient, dass man das Thema mit dem gebotenen zum Richteramt besitzt, das heißt, dass sie Volljurist ist. Ernst angeht. Das habe ich heute Nachmittag gemacht, Im Hinblick auf den großen Bedarf nach sozialer und ka- und das tue ich auch heute Abend. ritativer Rechtsberatung, die von vielen Vereinen und Organisationen angeboten wird, halte ich die jetzt gefun- Wir bringen heute ein rechtspolitisch außergewöhn- dene Regelung für sachgerecht. Aber auch bei unentgelt- lich bedeutsames Gesetzgebungsverfahren zum parla- mentarischen Abschluss. Das Gesetz zur Neuregelung lich erbrachter Beratung muss die Qualität stimmen. des Rechtsberatungsrechts ist notwendig geworden, weil Deshalb lehnt meine Fraktion den Antrag der Linken, die Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht, der sich hauptsächlich mit der unentgeltlichen Rechtsbe- Bundesgerichtshof und Bundesverwaltungsgericht ver- ratung befasst und diese vollständig freigeben will, ab. schiedene Lockerungen des grundsätzlichen Rechtsbera- Nicht unproblematisch sind aus Sicht der FDP die tungsverbots im Rechtsberatungsgesetz für Personen, fortschreitende Abkehr vom Anwaltszwang in der Beru- die nicht Volljuristen sind, bewirkt hat. Die Gerichte ha- fungsinstanz in der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie ben dabei das Rechtsberatungsverbot im Lichte der die allgemeine Erweiterung der Vertretungsbefugnis von Grundrechte ausgelegt und den Begriff der erlaubnis- Behörden. So sind künftig vor den Oberverwaltungs- pflichtigen Rechtsberatung in diesem Lichte einschrän- gerichten zum Beispiel Vertreter von Gewerkschaften in kend definiert. allen Rechtsfragen und auf allen Rechtsgebieten vertre- Ich freue mich sehr, dass es im Laufe des Gesetzge- tungsbefugt, selbst wenn sie keine Juristen sind. bungsverfahrens gelungen ist, wesentliche rechtspoliti- sche Anliegen der Union zur Geltung zu bringen. Ich be- (Dr. Werner Hoyer [FDP]: Abenteuerlich!) danke mich ausdrücklich bei unserem Koalitionspartner Bisher konnten diese nur in Verfahren tätig werden, die und unserer Ministerin – lieber Staatssekretär Alfred einen Bezug zu einem Beschäftigungsverhältnis hatten. Hartenbach, ich bitte, den Dank weiterreichen zu wollen –, Auch der nichtjuristische Vertreter einer berufsständi- dass Sie alle bereit waren, die von uns insoweit unter- schen Vereinigung der Landwirtschaft kann demnächst breiteten und auch von großen Teilen des Koalitionspart- sein Mitglied zum Beispiel in einem Atomstreitverfah- ners originär von Anfang an geteilten Vorschläge im We- ren vor dem OVG vertreten. Hier hat man gerade nicht sentlichen mitzutragen. (B) die bisherigen Regelungen übernommen, sondern die Wir haben von Anfang an betont, dass die oberste (D) nichtjuristische Vertretung ausgeweitet. Maxime der Neuregelung der Verbraucherschutz sein muss. Die hohe Qualität der Rechtsberatung in Deutsch- Ich bin skeptisch, ob sich Behörden einen Gefallen land muss erhalten werden. Umfassende und vollwertige tun, wenn sie sich nicht anwaltlich vertreten lassen, und Rechtsberatung soll deshalb auch weiterhin nur von ich bin noch skeptischer, ob es der Rechtsfindung dient, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten geleistet werden wenn in Zukunft Nichtjuristen Anträge auf Berufungszu- können. Nur diese Berufsgruppe ist sowohl von ihrer lassung vor den Oberverwaltungsgerichten stellen. Ich Ausbildung als auch von der berufsrechtlichen Anforde- halte hier eine Evaluierung in spätestens zwei Jahren für rung her in der Lage, den Belangen der Rechtsuchenden absolut notwendig. Es sollte geprüft werden, welche in adäquater Weise gerecht zu werden. Auswirkungen die vorgeschlagenen Änderungen in den Verfahrensordnungen in der Praxis tatsächlich haben. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Das Rechtsberatungsgesetz hat in der Vergangenheit gute Dienste geleistet. Ich glaube, dass das Rechtsdienst- Nur Anwälte unterliegen einer Schweigepflicht. Sie leistungsgesetz genauso gute Dienste leisten wird. Ich genießen im Hinblick auf ihre Mandatsverhältnisse zum bin zuversichtlich, dass das heute zu verabschiedende Schutz ihrer Mandanten umfassende Zeugnisverweige- Gesetz zu einem nicht unerheblichen Teil zur Funktions- rungsrechte, sie haften für Fehler, durch die ihren Man- fähigkeit unserer Justiz beitragen wird. danten ein Schaden entsteht, und sie müssen, um diese Haftungsverpflichtung auch erfüllen zu können, eine Danke schön. ausreichende Haftpflichtversicherung unterhalten. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Wie richtig dieses grundsätzliche Festhalten am an- der SPD) waltlichen Beratungsmonopol war, haben nicht zuletzt die gestrigen Beratungen im Rechtsausschuss gezeigt. Mein Blick bleibt bei Ihnen, Herr Wunderlich, hängen. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Es ist nicht verwunderlich, dass Sie gestern einen Ände- Ich erteile das Wort Kollegen Jürgen Gehb, CDU/ rungsantrag gestellt haben. Da werden wir sicherlich CSU-Fraktion. gleich noch einige Argumente von Ihnen hören. Ich will Ihnen nur sagen: Die von den Linken geforderte völlige (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Freigabe der unentgeltlichen Rechtsberatung lehnen wir Joachim Stünker [SPD]) entschieden ab. Auch in anderen Bereichen sind aus gu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12259

Dr. Jürgen Gehb (A) ten Gründen berufsrechtliche Erfordernisse für die Aus- tung entscheidend präzisiert worden. Dadurch haben wir (C) übung einer Tätigkeit erforderlich. erreicht, dass die relevanten Fälle der Besorgung frem- der Rechtsangelegenheiten hinreichend erfasst werden. Es käme doch niemand auf die Idee, eine notwendige Operation von einem durchaus handwerklich geschick- Auch die ursprünglich vorgesehene komplette He- ten Metzger durchführen zu lassen. Da vertraut man rausnahme der Mediation aus dem Begriff der Rechts- auch lieber auf den Chirurgen. Ebenso käme man nicht dienstleistung konnte deshalb so nicht stehen bleiben. auf die Idee, sich von jemandem, der einen Segelflieger Hier ist klargestellt worden, dass eine Mediation, die gut beherrscht, mit einem Jumbojet in den Urlaub flie- durch rechtliche Regelungsvorschläge in die Gespräche gen zu lassen. Auch Ihr gestriges Beispiel, dass jemand, der Beteiligten eingreift, durchaus als erlaubnispflichtige der einen sozialrechtlichen Rat haben will, vielleicht bei Rechtsdienstleistung anzusehen ist. einem Fachanwalt für Strafrecht nicht so gut aufgehoben Ein weiterer wesentlicher Punkt der Beratungen wa- ist wie bei jemand anderem, ist klar. Wenn jemand mit ren die Regelungen der Rechtsdienstleistung im Zusam- einem Augenleiden zum Ohrenarzt kommt, sagt der menhang mit einer anderen Tätigkeit, die sogenannten auch: Gehen Sie lieber zum Augenarzt! – Ebenso wird Nebenleistungen. Diese Tätigkeiten sollten nach dem ur- der Strafverteidiger natürlich demjenigen, der ein sozial- sprünglichen Gesetzentwurf erlaubnisfrei sein. Hier ist rechtliches Anliegen hat, sagen: Gehen Sie zu einem es gelungen, klarzustellen, dass die Nebenleistung im Fachanwalt für Sozialrecht! – Das ist doch ganz klar. Verhältnis zur nicht rechtsdienstleistenden Hauptleistung Wir fangen hier an, die Scheibe nach dem Schuss zu immer nur dienende Funktion haben kann. Ein klassi- hängen. sches Beispiel: Der Architekt kann selbstverständlich prüfen, ob das Bauvorhaben im Außenbereich zulässig (Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU und ist. Dagegen soll der Kfz-Mechaniker zwar den Kotflü- der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: gel ausbeulen; er soll aber nicht noch die Schadenersatz- Gutes Bild!) ansprüche, den merkantilen Minderwert oder vielleicht Unsere Qualitäten werden immer niedriger. Wir haben sogar die Schmerzensgeldansprüche geltend machen. schon den Großen Befähigungsnachweis abgegeben. Ir- Das sollte man den Anwälten überlassen. gendwann kommt es so weit, dass, wie gesagt, der Metz- Schließlich sind die vorgesehenen Änderungen bei ger die Operationen durchführt, der Schornsteinfeger die den Regelungen zur Zusammenarbeit von Rechtsanwäl- Schweine schlachtet und die Friseuse anschließend den ten mit Vertretern anderer Berufe entfallen. Nach dem Opfern Rechtsberatung erteilt. So weit darf und kann es Gesetzentwurf sollte jedermann die Erbringung von in diesem Land nicht kommen. Rechtsdienstleistungen erlaubt sein, wenn er sich hierfür (B) (Beifall bei der CDU/CSU) nur eines Anwalts bedient. Die Mandatsbeziehung wäre (D) in diesen Fällen lediglich durch die Vermittlung von Deshalb sind der Slogan des Deutschen Anwaltver- Dritten zustande gekommen. Diese Konstruktion war eins „Vertrauen ist gut. Anwalt ist besser“ oder die Er- schon vom Ansatz her problematisch, weil sich unwei- klärung der Bundesrechtsanwaltskammer „Anwälte – gerlich der Eindruck aufgedrängt hätte, dass der Anwalt mit Recht am Markt“ nicht lediglich Werbung für einen hier als Diener zweier Herren auftritt. Also wäre der An- honorigen Beruf. Die Anwaltschaft sorgt mit einem An- walt im Hinterzimmer von Banken und Versicherungen, gebot an sachkundiger rechtlicher Beratung und Vertre- der gegenüber dem Mandanten überhaupt nicht persön- tung dafür, dass unser im Grundgesetz postulierter lich in Erscheinung tritt, die Folge gewesen. Das wollten Rechtsstaat im alltäglichen Leben für die Bürger auch wir nicht. erlebbar wird. In diesem Zusammenhang mussten auch die im Ge- Kernpunkt des Gesetzentwurfs der Bundesregierung setzentwurf vorgesehenen Änderungen in Bezug auf So- ist das neue Rechtsdienstleistungsgesetz, mit dem das zietäten von Rechtsanwälten mit Vertretern anderer Be- bisherige – mittlerweile in die Jahre gekommene – rufe entfallen. Lieber Alfred, ich weiß, das ist auch von Rechtsberatungsgesetz abgelöst wird. Das Gesetz behält dir persönlich ein Lieblingskind. Wir haben das hier zu- konsequenter- und richtigerweise die bisherige Systema- nächst einmal gestrichen. Wir prüfen, ob man das viel- tik eines Verbots mit Erlaubnisvorbehalt bei. Das heißt, leicht an anderer gesetzlicher Stelle allozieren kann. Rechtsberatung darf grundsätzlich nur mit einer entspre- chenden Erlaubnis angeboten werden. Die Ausnahmen Ich will nur sagen: Schon jetzt ist es Rechtsanwälten sind eben fast erschöpfend genannt worden: karikative erlaubt, sich mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Vereine, Mietervereine oder andere. Mit all dem gehe ich Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zu einer d’accord. Das haben wir schön geregelt; darüber gibt es Sozietät zusammenzuschließen. Ob das in Zukunft auch gar keinen Streit. mit Taxifahrern oder sogar Zuhältern möglich sein muss, sollte man wirklich trefflich überlegen, weil eine ge- Jetzt kommen ein paar Knackpunkte. Die in dem ur- meinsame Berufsausübung von Rechtsanwälten und sprünglichen Gesetzentwurf vorgesehenen Öffnungen Vertretern sogenannter vereinbarer Berufe sicherlich des Rechtsberatungsrechts für andere Berufsgruppen nicht präzise genug ist. Sie hätte insbesondere unter dem gingen uns ein bisschen zu weit. Im Hinblick auf die Aspekt des anwaltlichen Berufsgeheimnisses dem Qualitätssicherung der Rechtsberatung waren Verbesse- Schutz des rechtsuchenden Bürgers nicht genügt. Außer- rungen notwendig, die wir auch erreicht haben. Zum dem hätte eine solche Regelung zu einer ufer- und Beispiel ist die Begriffsdefinition der Rechtsdienstleis- grundlosen Ausweitung von Zeugnisverweigerungsrech- 12260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Jürgen Gehb (A) ten geführt, die aus gutem Grunde ausschließlich den Man hätte im Gesetz auch anders formulieren können. (C) Rechtsanwälten zustehen sollen. Es hätte heißen können: Unentgeltliche Rechtsberatung ist grundsätzlich verboten. Es gelten folgende Ausnah- Letztlich ist noch darauf hinzuweisen, dass wir unter men: Die Beratung erfolgt innerhalb familiärer, nachbar- dem Aspekt eines wirksamen Verbraucherschutzes im schaftlicher oder ähnlich enger Beziehungen, oder sie er- Laufe der Gesetzgebungsberatungen die unerlaubte folgt durch eine Person mit Befähigung zum Richteramt Rechtsberatung wieder als Ordnungswidrigkeitentatbe- oder unter Anleitung und Aufsicht einer solchen Person. stand ausgestaltet haben. Ich glaube, dass wir mit der jet- zigen Fassung des Gesetzes insgesamt ein gelungenes, Das ist natürlich eine Benachteiligung kleiner karita- zeitgemäßes und modernes Rechtsberatungsrecht vorle- tiver Vereine und Selbsthilfegruppen, wobei es keinerlei gen. Erhebungen gibt, die zeigen, dass dort schlecht beraten wird. Wieso, frage ich mich, soll der Diplomjurist – der Das zeigt auch der Umstand, dass alle Fraktionen mit wird ausdrücklich ausgenommen –, welcher sich auf Ausnahme der Linken dem Gesetzentwurf zustimmen Ausländer-, Asyl- und Verwaltungsrecht spezialisiert werden. Diesen Umstand, Herr Wunderlich, verstehe ich hat, schlechter beraten als der Allround-Jurist mit Zwei- allerdings immer noch mehr als Qualitätsmerkmal denn tem Staatsexamen – das Thema hatten wir gestern schon – als Makel. oder die pensionierte Mitarbeiterin aus dem Sozial- Herzlichen Dank. Einen guten Abend! rechtsbereich in sozialrechtlichen Fragen? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ihre Vergleiche, Herr Gehb, hinken. Wenn Sie zum Fleischergeschäft gehen, zahlen Sie beim Meister den Preis für die Wurst, und beim Gesellen, der nebenan die Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wurst verschenkt, kaufen Sie nicht. Das Wort hat nun Kollege Jörn Wunderlich, Fraktion Die Linke. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie haben den Vergleich nicht verstanden, Herr Wunderlich! (Beifall bei der LINKEN – Dr. Carl-Christian Ich habe ihn so leicht gemacht!) Dressel [SPD]: Jetzt wird es wunderlich!) Wenn ein Asylsuchender zur Johanniter-Unfall-Hilfe geht, wird die ihn nicht beraten, sondern ihn zu Pro Asyl Jörn Wunderlich (DIE LINKE): schicken. Ihre Vergleiche hinken also. Untersagungs- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die gründe gibt es ebenfalls. Linke begrüßt die Aufhebung des Rechtsberatungsgeset- Was soll der Zweck sein? Schutz des Verbrauchers, (B) zes – das vorweggeschickt –, fordert in diesem Kontext (D) – Herr Gehb hat es schon gesagt – aber eine kostenfreie Schutz des Rechtsanwalts vor Konkurrenz, Sicherung Rechtsberatung – kostenfrei! Es geht um die kostenfreie der Reibungslosigkeit der Rechtspflege? altruistische Rechtsberatung, welche nicht den Volljuris- Zum Verbraucherschutz wird in der Begründung des ten vorbehalten sein soll. Gesetzes ausgeführt – ich zitiere –: In der Problemschilderung des Gesetzentwurfs wird Das im geltenden Recht angelegte Verbot unent- angekündigt, das alte Gesetz durch eine zeitgemäße ge- geltlicher Rechtsberatung ist nicht zeitgemäß und setzliche Regelung abzulösen, wobei insbesondere steht mit dem Gedanken von bürgerschaftlichem – jetzt kommt es – der Verbraucherschutz und die Stär- Engagement nicht mehr im Einklang. kung des bürgerschaftlichen Engagements im Vorder- grund stehen sollen. Deregulierung soll auch erfolgen. (Beifall bei der LINKEN) Das klingt gut und ist von der Idee her begrüßenswert, Weiter heißt es: wobei insbesondere zu beachten ist, dass – wie erwähnt – Verbraucherschutzinteressen haben dieses umfas- im Rahmen der Stärkung des bürgerschaftlichen sende Verbot unentgeltlicher Rechtsberatung nie Engagements – so wird es auch vom Ministerium ver- gerechtfertigt … breitet – der unentgeltliche Rechtsrat grundsätzlich von jedermann erbracht werden kann. So wird es gesagt: (Christoph Strässer [SPD]: Richtig! Lesen Sie grundsätzlich von jedermann. Jedermann? Natürlich: so- einmal die dazugehörigen Entscheidungen des lange dieser Jedermann selbst Richter ist, die Befähi- Bundesverfassungsgerichts! – Jerzy Montag gung zum Richteramt hat oder eben ein solcher Jeder- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb wird mann beteiligt ist. Also doch nicht jedermann, sondern es jetzt geöffnet!) nur ein solcher. Konkurrenzschutz dürfte wohl nicht mit Art. 12 Grund- (Joachim Stünker [SPD]: Oje!) gesetz zu vereinbaren sein; das ist so auch nicht gemie- den. – Ja, das ist so. Da kann man nur stöhnen. – Im Rahmen der Familie oder enger Nachbarschaft kann jedermann Sicherung der Reibungslosigkeit der Rechtspflege. Rechtsrat oder, wie es jetzt heißt, diese Rechtsdienstleis- Das bedeutet – so muss man es leider sagen –: Natur- tung erbringen, aber alles darüber hinaus wird reglemen- schutzparkjustiz ohne störende Einwirkung von Nichtju- tiert, verbürokratisiert, sodass von Aufhebung und Ablö- risten. Anders lässt sich der Ausschluss von Personen sung nicht die Rede sein kann. nicht erklären. Im Gesetzentwurf heißt es: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12261

Jörn Wunderlich (A) Das Gericht weist Bevollmächtigte, die nicht nach Unterkunft. Er war jüdischer Rechtsanwalt. Er war zu (C) Maßgabe des Absatzes 2 vertretungsbefugt sind, diesem Zeitpunkt entehrt, aller Mandanten beraubt, aus durch unanfechtbaren Beschluss zurück. seiner Kanzlei geworfen. All das geschah auf Grundlage des nationalsozialistischen Rechtsberatungsgesetzes, das Es gibt noch nicht einmal eine Beschwerdemöglichkeit. heute zu Grabe getragen wird. Ich bin froh darum, dass Weiter heißt es – jetzt kommt der Knackpunkt –: dies heute mit der großen Mehrheit dieses Hauses ge- Das Recht darf als höchstrangiges Gemeinschafts- schieht. gut grundsätzlich nicht in die Hände unqualifizier- ter Personen gelangen, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) – Diplom-Juristen sind nicht unbedingt unqualifiziert – Ich will an dieser Stelle auch an jemanden erinnern, da es als „gelebtes Recht“ maßgeblich durch die der mit seinem zivilen Engagement und auch mit seinem Personen beeinflusst und fortentwickelt wird, die zivilen Mut dazu beigetragen hat, dass das alte Rechts- Recht beruflich anwenden. beratungsgesetz durch das neue Rechtsdienstleistungs- (Christoph Strässer [SPD]: Die es beruflich an- gesetz heute ersetzt wird. Es handelt sich um den ehema- wenden!) ligen Richter am Oberlandesgericht Braunschweig Helmut Kramer, der nach seiner Pensionierung Kriegs- Dies ist eine Verhinderung der Kommunikation und dienstverweigerer beraten hat. Er hat sogar am Amtsge- des solidarischen Vorgehens zwischen Bürgern, die sich richt Braunschweig mit Zulassung des Amtsgerichts nicht mit der von Juristen produzierten herrschenden Braunschweig als Verteidiger gearbeitet. Das gleiche Meinung abfinden wollen, zumal die herrschende Mei- Amtsgericht Braunschweig hat ihn später trotz dieser zu- nung in der Regel die Meinung der Herrschenden ist. gelassenen Verteidigungstätigkeit wegen verbotener (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Nennen Sie Rechtsberatung bestraft, eine Entscheidung, die das mal den Urheber des Zitats!) Bundesverfassungsgericht später aufhob. Es geht um den Schutz von Herrschaftswissen. Die die In seiner Aufhebungsentscheidung sagt das Bundes- Justiz dominierenden Juristen verzweifeln an ihrer Kom- verfassungsgericht, dass jedes Gesetz einem Alterungs- petenz. All dies soll zeitgemäß, verbraucherfreundlich prozess unterworfen ist. Ich fand diese Formulierung und das bürgerschaftliche Engagement stärkend sein? äußerst interessant; wir sollten sie uns auch in anderen Zusammenhängen noch einmal vergegenwärtigen. Der Stimmen Sie unserem Entschließungsantrag zu, auch Alterungsprozess des Rechtsberatungsgesetzes jeden- dem Teil zum Ausbau der Rechtsberatung! (B) falls hat dazu geführt, dass wir heute ein neues, ein fort- (D) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- schrittliches, ein auch von uns Grünen getragenes NEN]: Wirklich nicht! – Dr. Jürgen Gehb Rechtsdienstleistungsgesetz beschließen werden. Das [CDU/CSU]: Den spaßigen Teil der Debatte halte ich für eine gute Sache. hatten wir heute Nachmittag schon! – Zuruf von der SPD: Jetzt erleben wir nichts als Kla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mauk!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Dann bieten Sie auch den sozial Schwachen den ihnen Ich will zum Schluss noch auf die Argumentation der zustehenden Zugang zu Informationen mit Ausweich- Linken eingehen. Ich meine, dass es ein Zeichen für ei- möglichkeiten. Halten Sie den Bürgern und Bürgerinnen nen gelebten Rechtsstaat ist, wenn qualifizierter Rechts- nicht vor, dass deren Recht in den Händen der unentgelt- rat grundsätzlich aus der Hand von Volljuristen und lichen Rechtsberatung nicht gut aufgehoben sei. So kön- Rechtsanwälten erteilt wird. Die Entscheidung darüber, nen wir dem Gesetzentwurf jedenfalls nicht zustimmen. liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, ob man die Erteilung von unentgeltlichem Rechtsrat tatsächlich Danke schön. jedermann erlaubt, (Beifall bei der LINKEN – Dirk Manzewski (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Niemals!) [SPD]: Das hätte uns auch gewundert!) stellt den Lackmustest dafür dar, ob man das ganze Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Rechtsdienstleistungsrecht als eine Pfründe für Anwälte Ich erteile das Wort Kollegen Jerzy Montag, Fraktion ansieht oder dieses mit richtigem, nach vorne gerichte- Bündnis 90/Die Grünen. tem Verbraucherschutz verbinden will. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! CDU/CSU) Charlotte Knobloch, Präsidentin des Zentralrats der Ju- den in Deutschland, erzählt auch in öffentlichen Veran- Wenn Sie die unentgeltliche Rechtsberatung in jeder- staltungen immer wieder, wie sie in der Nacht des manns Hände geben wollen, dann bleiben Sie die Ant- 9. November 1938 als kleines Mädchen an der Hand ih- wort schuldig, warum Sie eigentlich die entgeltliche res Vaters durch das nächtliche München irrte. Der Vater Rechtsberatung nur in die Hände der Rechtsanwälte ge- war auf der Flucht und auf der Suche nach irgendeiner ben wollen. 12262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Jerzy Montag (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und zunächst einmal zurückgestellt haben. Ich habe Ver- (C) der SPD) ständnis dafür, dass man gesagt hat: Man kann das nicht nebenbei regeln; das ist in Ordnung. Dafür gibt es dann nur noch ein Argument: Da, wo es ums Geld geht, sollen die Rechtsanwälte verdienen. Ich wünsche mir aber – und darum bitte ich das BMJ –, Nein, wir sagen, es soll genau umgekehrt sein: Auch die dass so schnell wie möglich hierzu Entwürfe vorgelegt unentgeltliche Rechtsdienstleistung muss ein Mindest- werden; denn das, was uns vorliegt, ist zwar ein Fort- maß an Qualität haben. Dies wird durch das Anleitungs- schritt im Hinblick auf die deutsche Rechtslage, aber modell, das wir im Gesetz gewählt haben, erreicht; hier noch kein Schritt in Richtung Europa und der Konkur- ist alles richtig austariert. renzsituation, in der sich Juristinnen und Juristen hier (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Bravo!) befinden. Wir müssen sehr schnell handeln, damit wir nicht deutlich ins Hintertreffen geraten. Deshalb werden Deswegen finden wir diese Lösung richtig und Ihren wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, das Antrag falsch. Wir werden dem Gesetz zustimmen und Haus sehr unterstützen, wenn in absehbarer Zeit ein Ent- Ihrem Entschließungsantrag nicht. wurf auf den Tisch kommt. Danke. Ich möchte Ihnen unsere Auffassung zur karitativen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Rechtsberatung deutlich machen. Ich möchte nicht so bei der SPD und der CDU/CSU – Dr. Jürgen drastische Beispiele wie der Kollege Gehb nennen. Ich Gehb [CDU/CSU]: Herr Montag, Sie bessern möchte aber schon – auch im Hinblick auf die Diskus- sich!) sion über familienrechtliche Fragen, die wir heute Nach- mittag geführt haben – zum Ausdruck bringen: Es macht keinen Sinn, im Bereich der karitativen Rechtsberatung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: so etwas wie eine Rechtsberatung light einzuführen. Nun hat Kollege Christoph Strässer, SPD-Fraktion, das Wort. An dieser Stelle möchte ich zwei Hinweise geben: (Beifall bei der SPD) Erstens. Ich darf darauf verweisen, dass das alte Rechtsberatungsgesetz ein klares Verbot jeder privaten Christoph Strässer (SPD): Rechtsberatung jenseits der juristisch ausgebildeten Be- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe rufe beinhaltete. Dieses Verbot wird mit dem vorliegen- Kolleginnen und Kollegen! Auch ich glaube, dass am den Gesetzentwurf hinfällig. § 6 des neuen Gesetzes heutigen Tag ein Durchbruch erzielt wird bei der lange spricht eine deutliche Sprache. Es ist völlig falsch, so zu (B) Jahre andauernden Diskussion über die Frage, in wel- tun, als sei da gar nichts passiert. Wir müssen zur Kennt- (D) cher Form wir endlich dieses alte Rechtsberatungsgesetz nis nehmen, dass es hier eine Änderung gibt. aufheben und welche Instrumente an seine Stelle treten (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sollen. Viele haben dafür gekämpft, viele haben sich da- FDP) mit beschäftigt. Ich bin sehr froh darüber, dass es nach einer immerhin dreijährigen Diskussion nun gelungen Zweitens. § 6 Abs. 1 des neuen Gesetzes beinhaltet ist, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der beiden Interes- das auch von Ihnen angesprochene Recht der einschrän- sen gerecht wird: den Interessen der Rechtsuchenden, kungslosen Beratung in privaten Verhältnissen, in Nach- aber auch den Interessen derjenigen, die juristische Be- barschaftsverhältnissen – und das ist auch gut so. Denn rufe ergriffen haben und – so sage ich es einmal – von jeder Rechtsuchende, der sich einen solchen Rat holt, ihrer beruflichen Qualifikation her berufen sind, Rechts- weiß, welches Risiko er eingeht. Aber gerade Sie müss- probleme zu lösen, Menschen zu beraten und diesen ten doch eigentlich akzeptieren, dass die Menschen, die auch eine gesicherte Stellung vor den Gerichten – wir ha- zu Beratungsvereinen, zu Sozialvereinen oder zu Asyl- ben ja auch viele Richterinnen und Richter hier sitzen – zu beratungsstellen gehen, keinen Rechtsschutz zweiter verschaffen. Das ist eine der Quintessenzen dieses Klasse bekommen sollten. Vielmehr sollten sie dort eine Gesetzentwurfs. Der hier gewählte Ansatz ist überwie- Rechtsberatung erhalten, die der Rechtsberatung desje- gend positiv. Wenn wir das Gesetz mit großer Mehrheit nigen entspricht, der diese bezahlen kann. Deshalb finde verabschieden, bedeutet das einen wichtigen Schritt für ich es richtig, dass wir entsprechende Anforderungen in die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Rechtsschutz das Gesetz aufgenommen haben. suchen. Deshalb ist dies ein sehr gutes Gesetzesvorha- ben. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Das kann und muss so bleiben. GRÜNEN) Das, was wir hier beschließen, folgt einer langen Tra- Ich teile allerdings die Überzeugung des Parlamenta- dition – ich bleibe dabei –: Diejenigen, die eine volle ju- rischen Staatssekretärs – ich bitte die Bundesregierung, ristische Ausbildung haben, sollten weiterhin an erster dies auch zu tun –: Das kann nicht der letzte Schritt sein. Stelle Rechtsberatung vornehmen. Als Tribut an die gute Es ist in Ordnung, dass wir § 59 a der Bundesrechtsan- Zusammenarbeit mit dem Kollegen Gehb nehme ich da- waltsordnung – er betrifft die Bildung von Sozietäten von Abstand, Roy Black, den deutschen Volksphiloso- mit Personen, die nicht volljuristisch ausgebildet sind – phen, zu zitieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12263

Christoph Strässer (A) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Ich hätte es ge- Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (C) sungen!) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich gehe aber etwas in die Vergangenheit zurück, etwa in Rechte der Verbraucherinnen und Verbrau- das Jahr 370 vor Christus. Da gab es einen leider Gottes cher beim Verkauf von Immobilienkrediten nicht mehr sehr bekannten griechischen Maler namens stärken Apelles. Er hat ein Bild gemalt und es einem Schuhma- cher gezeigt. Dieser Schuhmacher hat gesagt: Das, was – Drucksache 16/5595 – du am Fuß gemalt hast, ist kein Schuh. Der Maler hat es Überweisungsvorschlag: dann korrigiert. Dann hat der Schuhmacher aber gesagt: Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Pass mal auf; der Oberschenkel des Gemalten ist auch Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nicht in Ordnung. Da sagte Apelles – ich zitiere jetzt Verbraucherschutz nach Plinius dem Älteren in der altphilologischen Spra- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung che des Kollegen Gehb –: Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Aber Roy Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Black kenne ich auch!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- Sutor, ne ultra crepidam! – Allen anderen sage ich es auf schlossen. Deutsch: Schuster, bleib bei deinem Leisten! Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ Gerhard Schick, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das DIE GRÜNEN]: Das wusste ich nicht!) Wort. Ich glaube, das ist ein guter Rat an all diejenigen, die nicht juristisch vorgebildet sind und gute Berufe haben; Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sie sollten diese weiter ausüben. NEN): Herzlichen Dank. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Thema, das wir jetzt beraten, haben sich die Fraktionen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten aufgrund einer Reihe von Anfragen schon im Frühjahr der CDU/CSU und des Abg. Jerzy Montag im Ausschuss und im Rahmen einer Anhörung befasst. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Die Schlussfolgerung der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen ist, dass das Vertragsrecht, wie es sich heute dar- (B) Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: stellt, nicht mehr zu der wirtschaftlichen Realität, die (D) Ich schließe die Aussprache. sich deutlich verändert hat, passt. Wir glauben deswe- gen, dass es an der Zeit ist, nach dem Sammeln von In- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- formationen und entsprechenden Beratungen konkrete desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur gesetzgeberische Maßnahmen einzuleiten. Deswegen le- Neuregelung des Rechtsberatungsrechts. Der Rechtsaus- gen wir einen Antrag dazu vor. schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6634, den Gesetzentwurf der Bundesre- Um was geht es konkret? Die Beziehung zwischen gierung auf Drucksache 16/3655 in der Ausschussfas- dem Kreditgebenden, häufig einer Bank, und dem Kre- sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz- ditnehmer, Verbrauchern oder Unternehmern, zeichnet entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um sich dadurch aus, dass der Kredit selber zu einem Han- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- delsgut geworden ist. Der Kredit kann also weiterver- gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit kauft und verbrieft und somit an den Kapitalmärkten ge- den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der Frak- handelt werden. tion Die Linke angenommen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat aber Dritte Beratung auch Vorteile!) und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem – Ich komme gleich noch darauf. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent- Es ergeben sich drei Probleme, die nach meiner An- wurf ist mit gleicher Mehrheit wie zuvor angenommen. sicht in der Anhörung deutlich herausgearbeitet worden sind. Das erste Problem behandelt die Frage, wie mit den Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs- Daten umgegangen wird. Denn aufgrund der Beziehung antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/6635. zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer werden Daten Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer offengelegt, die man nicht jedem an die Hand geben stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs- würde. Wenn der Kredit verkauft wird – es gibt sehr un- antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stim- terschiedliche Formen, dies zu tun –, dann können die men der Fraktion Die Linke abgelehnt. Daten weitergereicht werden. Das ist eine Sorge, die Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 12 auf: nicht nur Privatpersonen, sondern auch Unternehmerin- nen und Unternehmer betrifft. Ich denke, in diesem Be- Beratung des Antrags der Abgeordneten reich muss über das BGH-Urteil hinaus eine Klarstel- Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Cornelia lung erfolgen. 12264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Gerhard Schick (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den, dass es eben nicht nur um den Verkauf von notlei- (C) denden Krediten geht –, müssen wir die Verbraucherin- Das zweite Problem ist, dass es sich bei denjenigen, nen und Verbraucher schützen. die diese Kredite kaufen, nicht mehr notwendigerweise um Banken handelt. Deswegen ist nicht immer die Mög- Ich will an dieser Stelle eines ganz deutlich machen: lichkeit einer Anschlussfinanzierung gegeben. Auf diese Wir sprechen in unserem Antrag insbesondere von Ver- Situation muss sich aber der Kreditnehmer frühzeitig braucherinnen und Verbrauchern. Das zeigt, dass wir einstellen können. Außerdem wird der Kredit aus dem hier ein besonderes Schutzbedürfnis sehen. Wir wollen beaufsichtigten in den nichtbeaufsichtigten Bereich die Befassung mit der Materie aber nicht explizit auf die- übertragen. Da es sich hier um Transaktionen in einer sen Bereich beschränken, sondern den Unternehmensbe- Milliardengrößenordnung handelt, ist dies durchaus pro- reich einschließen. In der Anhörung ist sehr deutlich ge- blematisch. worden, dass auch diesbezüglich Handlungsbedarf besteht. Das dritte Problem ist – nach dem, was wir in den ge- meinsamen Beratungen inzwischen herausgefunden ha- Ich denke, es liegt im Interesse aller Beteiligten, dass ben, ist das der schwerwiegendste Punkt –, dass die Inte- auf diesem Gebiet schnell Rechtsklarheit geschaffen ressenlage des Kaufenden eine andere ist als die der wird. Ich bitte, dass wir gemeinsam an die Arbeit gehen. Bank, die den Kredit ursprünglich vereinbart hat. Insbe- Wir fordern die Bundesregierung auf, nach den Anhö- sondere kann es Unterschiede beim Umgang mit der Ab- rungen, die stattgefunden haben, einen Entwurf vorzule- sicherung des Kredites und in der Behandlung der Frage gen, damit für diesen Geschäftsbereich wieder Klarheit geben, wie das Kreditverhältnis weiterläuft. Wir müssen und Sicherheit geschaffen werden können. dabei beachten, dass Menschen beispielsweise die Un- Danke schön. terwerfung unter die sofortige Zwangsvollstreckung ver- einbaren, was sie nicht jedem gegenüber tun würden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dieses Recht darf also nicht einfach weiterverkauft wer- den. Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Wir müssen deswegen Konsequenzen ziehen. Es ist Ich erteile das Wort Kollegen Carl-Ludwig Thiele, wichtig, eine Linie zu finden, die es sowohl ermöglicht, FDP-Fraktion. dass Kredite aus der Bilanz verkauft und verbrieft wer- (Beifall bei der FDP) den können, als auch den Schutz der Kreditnehmer si- cherstellt. Wir wollen die Verbriefung nicht unmöglich Carl-Ludwig Thiele (FDP): machen; denn das würde bedeuten, dass die Kreditver- (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten (D) gabe in Zukunft erschwert oder unmöglich gemacht Kolleginnen und Kollegen! In dem Antrag der Grünen, wird. der am 13. Juni 2007 in den Bundestag eingereicht (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das wird auch wurde, wird auf umfassende Befragungen der Bundes- ein Preisproblem sein!) regierung Bezug genommen. Diese Befragung der Bun- desregierung wurde in einem Fall von der Fraktion der Wir müssen deswegen gesetzgeberisch tätig werden. In Linken und in zwei anderen Fällen von der Fraktion der unserem Antrag kommt sehr gut die Abschichtung zum FDP durchgeführt. Sie stammen aus dem Herbst des Ausdruck, was man in jedem Fall machen kann und wo letzten Jahres. Insofern kann man nur sagen: Hallo, ihr man genauer hinschauen muss. Grünen, seid ihr auch endlich da, seid ihr auch endlich Eine Forderung, die, wie ich glaube, allgemein geteilt aufgewacht, um euch mit diesem Thema zu beschäfti- wird, ist ganz zentral – man sollte diesbezüglich zügig gen? vorgehen –: die Forderung nach mehr Transparenz. Vor Der Antrag beginnt damit, dass der Bundestag fest- Vertragsschluss muss Transparenz darüber herrschen, ob stellen möge: der Kredit verkauft werden kann oder nicht. Nach Über- gang eines Kreditvertrags muss es mehr Transparenz ge- Seit mehreren Monaten häufen sich die Berichte ben, damit die Kunden wissen, ob der Kredit übergegan- über Immobilienbesitzerinnen und -besitzer, die gen ist oder nicht, ob er verkauft worden ist oder nicht. nach dem Verkauf ihrer Kredite von ihrer Bank an Und es muss eine klare Information darüber gegeben Finanzinvestoren in große finanzielle Probleme ge- werden, ob der Käufer zu einem Anschlussangebot be- raten sind. fugt und bereit ist. Ich glaube, diese drei Punkte sollten Es ist festzustellen, dass es diese Berichte nicht erst seit unstrittig sein. Darauf sollten wir uns schnell verständi- einigen Monaten, sondern seit mehr als einem Jahr gege- gen können. ben hat. Das Problem ist also schon erheblich länger be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kannt. (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE Darüber hinaus geht es um die Frage, ob es nicht eine GRÜNEN]: Zur Sache, Herr Thiele! – Gegen- Verpflichtung für einen Sanierungsversuch gibt. Wenn ruf des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Menschen in ihrem eigenen Haus wohnen und die Inte- Das muss der Wahrheit wegen gesagt werden!) ressenlage dazu führen kann, dass die Sicherung mögli- cherweise verwertet wird, obwohl der Kredit normal Ich freue mich, dass vor allem Vertreter meiner Frak- bedient worden ist – in der Anhörung ist deutlich gewor- tion sehr frühzeitig im Interesse vieler Eigenheimbesit- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12265

Carl-Ludwig Thiele (A) zer tätig geworden sind – das gilt insbesondere für Zweitens. Bei Auslaufen der Festzinsvereinbarung (C) Mechthild Dyckmans, die das Thema für uns im Rechts- halte ich es für nachdenkenswert, dass der Schuldner mit ausschuss bearbeitet –, um diesen Sachverhalt aufzuklä- einem gewissen Vorlauf vom Kreditinstitut im Sinne ei- ren. Die öffentliche Sensibilität für diesen Sachverhalt ner Warnfunktion auf das Auslaufen der Festzinsverein- muss geschärft werden. Das ist erfolgt. Durch öffentli- barung hingewiesen wird. Dies dient nicht nur dem chen Druck ist bewirkt worden, dass einzelne Geschäfts- Schuldner. praktiken, von denen sich die überwiegende Zahl der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der Kollege Banken deutlich distanziert, die in sittenwidrigem Ver- hat unsere Presseerklärung gelesen!) halten gipfelten, unterbunden wurden. Insofern haben wir durch die Befassung mit diesem Thema bereits eine – Ich habe das schon öffentlich erklärt. Wir sind jetzt Menge erreicht. hier im Bundestag, und das ist noch eine ganz andere Öf- fentlichkeit, Herr Kollege Dautzenberg. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/CSU]) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut, Herr Kollege!) Die FDP hat immer darauf hingewiesen, dass zwi- Es ermöglicht aber auch dem Gläubiger, frühzeitig in schen den Krediten, die ordnungsgemäß bedient wurden, Gespräche und Verhandlungen über neue Kreditkondi- und den Krediten, die nicht ordnungsgemäß bedient tionen mit dem Schuldner einzutreten. wurden, zu unterscheiden ist. Die Kredite, die ordnungs- gemäß bedient wurden, genießen aus unserer Sicht einen Drittens. Es ist darüber nachzudenken, ob die Befrei- deutlich höheren Schutz als die Kredite, bei denen der ung vom Bankgeheimnis durch allgemeine Geschäftsbe- Schuldner seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht dingungen ausgeschlossen werden kann. Ich könnte mir nachgekommen ist. persönlich vorstellen, dass dies zukünftig nicht mehr durch eine Reglung in den allgemeinen Geschäftsbedin- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo gungen möglich ist, sondern ausdrücklich im Vertrag Dautzenberg [CDU/CSU]) enthalten sein muss. Die ganze Diskussion führte dazu, dass wir im Fi- Viertens. Aus meiner Sicht wäre es zu begrüßen, nanzausschuss interfraktionell beschlossen haben, ein wenn der Kunde die Möglichkeit bekommt, beim Ab- Fachgespräch in Form einer nichtöffentlichen Anhörung schluss eines Kreditvertrages eine Abtretung vertraglich durchzuführen. Sie fand am 19. September statt. Das auszuschließen. Es wäre sinnvoll, eine entsprechende Protokoll liegt leider noch nicht vor. Das ist kein Vor- Formulierung in den Vertrag aufzunehmen, die eine wurf; das gehört zum Verfahren. Wir werden uns mit Warnmöglichkeit gegenüber dem Kunden darstellt. Kre- (B) dem Protokoll beschäftigen, es auswerten und versu- ditinstitute können dies machen, aber sie müssen es (D) chen, die notwendigen Schlüsse zu ziehen. nicht. Ein Kunde kann dann abschließen oder er kann die Passage streichen. Diese Vertragsfreiheit stellen wir uns Herr Schick, ich muss Ihnen sagen, dass mich der An- an dieser Stelle vor. trag der Grünen in einem Punkt überrascht hat, nämlich (Beifall bei der FDP) dass zukünftig vor Einleitung einer Zwangsvollstre- ckung in eine vom Schuldner bewohnte Immobilie ein Abschließend: Wir dürfen nicht vergessen, dass ins- obligatorischer Sanierungsversuch durchzuführen ist. besondere für viele Eigenheimbesitzer der Kauf und die Das würde doch erhebliche Änderungen von Rechtsnor- Finanzierung einer Immobilie nur einmal im Leben statt- men bedeuten, die juristisch fragwürdig sind. Aus mei- finden. Ein Großteil des Vermögens und auch der Alters- ner Sicht sind sie allerdings auch wirtschaftlich fragwür- vorsorge steckt in dieser Immobilie. Dies sollte bei ent- dig, weil gegenüber denjenigen Schuldnern, die ihren sprechenden Überlegungen berücksichtigt werden. Pflichten nicht nachgekommen sind, nicht entsprechend Wir müssen aber auch feststellen, dass die Funktions- vorgegangen werden kann. fähigkeit des Finanzplatzes sichergestellt sein muss. In- (Beifall bei der FDP) sofern müssen Abtretungen von Forderungen von Kredit- instituten grundsätzlich möglich sein. Insofern ist zu fragen: Wie soll so ein obligatorischer Sa- So werden wir als FDP die Diskussion weiterführen. nierungsversuch aussehen? Er müsste im BGB verankert Wir warnen an dieser Stelle ausdrücklich vor übereilten sein. Dazu kann ich nur sagen: Viel Spaß mit den For- Schnellschüssen. mulierungen an dieser Stelle. Herzlichen Dank. Vor einer abschließenden Bewertung der Anhörung möchte ich für meine Person einige Punkte aufführen, (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Leo die ich für wichtig halte und die geändert werden sollten. Dautzenberg [CDU/CSU]) Darüber konnten wir in der Fraktion noch nicht diskutie- ren. Deshalb trage ich sie hier als persönliche Meinung Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: vor. Das Wort hat nun Kollege Otto Bernhardt, CDU/ CSU-Fraktion. Erstens. Wenn eine Forderung abgetreten wird, dann sollte eine Transparenz bezüglich dieser Abtretung beim (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Schuldner erfolgen. neten der SPD) 12266 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Otto Bernhardt (CDU/CSU): Schreiben – vielleicht noch in englischer Sprache – zu (C) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und bekommen, dass jemand den Kredit gekauft hat, führt Herren! Noch vor wenigen Jahren konnte man sicher schon zu ziemlich heftigen Verärgerungen. sein, dass man, wenn man sein Haus bei einer Bank (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Mit Recht, finanzierte oder wenn eine Firma einen Investitionskre- ja!) dit bei einer Bank aufnahm, mit dieser Bank im Geschäft blieb, bis der Kredit zurückgezahlt war. In den letzten Mancher Mittelständler, der plötzlich feststellt, dass sein Jahren hat sich das stillschweigend grundlegend verän- Kredit von einer Bank verwaltet wird, die weit weg ist, dert. sagt natürlich: Meine Güte, mit meiner Bank vor Ort kann ich in kritischen Situationen ins Gespräch kom- Wir haben zwar keine exakten Zahlen, aber die Deut- men, aber mit einer anderen Bank, die ich gar nicht sche Bank hat veröffentlicht, über wie viele Kreditver- kenne und die weit weg ist, weniger. Deshalb ist es rich- käufe man aus den Bilanzen informiert ist. Sie nennt tig, dass wir jetzt angesichts des Ausmaßes, das dieser zwei Zahlen. Im Jahre 2003 waren Kreditverkäufe in Handel angenommen hat, zumindest die Transparenz er- Höhe von 1,5 Milliarden aus den Bilanzen ersichtlich. höhen. Es war auch richtig, dass der Finanzausschuss Im letzten Jahr waren es mehr als 7,5 Milliarden. Das einmal ein Fachgespräch geführt hat. Ich habe inzwi- heißt, in vier Jahren hat sich dieses Geschäft verfünf- schen mehrere Gespräche mit Vertretern der Banken und facht. insbesondere mit Gesellschaften geführt, die solche Kre- Es ist nicht richtig, wie viele glauben, dass nur notlei- dite kaufen. Ich sage ganz offen: Sie stellen sich darauf dende Kredite verkauft werden. Sie sind zwar ein ein- ein, dass sich hier etwas ändert. deutiger Schwerpunkt, und vor drei, vier Jahren ging es Ich bin ziemlich sicher, dass wir zu Veränderungen nur um notleidende Kredite, aber inzwischen werden kommen werden. Bei uns gibt es zwei Überlegungen. durchaus auch voll bediente Kredite veräußert. Es ist Aber unsere Überlegungen sind ähnlich wie die bei der auch nicht mehr richtig, dass nur Kredite aus Immobi- FDP noch nicht abgeschlossen; wir brauchen noch wei- lienfinanzierungen verkauft werden. Sie spielen zwar tere Informationen. Die eine Überlegung läuft darauf eine ganz besondere Rolle, aber es werden auch typische hinaus, dass man einem Kunden, wenn er einen Kredit mittelständische Kredite verkauft. aufnimmt, nicht unter Punkt 36 bei den sonstigen Bedin- Wir müssen jetzt natürlich die Frage stellen: Warum gungen, sondern sehr deutlich sagen muss, dass dieser hat dieses Phänomen so an Bedeutung zugenommen? Kredit verkauft werden kann und die Rechtslage diesbe- Wir werden zunächst einmal erkennen, dass es für eine züglich klar ist. Die meisten wissen dies nicht; deshalb Reihe von Kreditinstituten betriebswirtschaftliche die Überraschung. (B) Gründe gibt, dies zu tun. Sie wissen: Jeder Kredit, den (D) Ich gehe sogar so weit, zu sagen, dass die Banken den ein Institut vergibt, bindet ein Stück Eigenkapital. Wenn Kunden relativ schnell einen Kredit anbieten werden, man Kredite verkauft, bekommt man wieder freies den sie verkaufen dürfen, und daneben einen Kredit, den Eigenkapital für neue Kredite. sie nicht verkaufen dürfen. Ob wir dafür eine rechtliche Aber es gibt auch die Situation, dass einige Kredit- Regelung brauchen oder ob wir das dem Markt überlas- institute Risiken in bestimmten Bereichen konzentriert sen können, müssen wir diskutieren. Vieles spricht na- haben, etwa, weil sie nur örtlich tätig sind, wie es bei türlich dafür, dass der Kredit, den sie nicht verkaufen Sparkassen und Genossenschaftsbanken in der Regel der dürfen, ein bisschen teurer werden dürfte. Aber ich kann Fall ist. Sie wollen durch den Verkauf zur Risikostreu- mir vorstellen, dass ein Mittelständler angesichts einer ung kommen. – Dies sind die entscheidenden Motive. Differenz von 0,2 oder 0,3 Prozent sagt, er nehme lieber einen Kredit, den seine Sparkasse oder Volksbank nicht Schließlich gibt es noch ein weiteres Motiv, das sich verkaufen kann. Es ist nämlich ein Irrtum, zu glauben, allerdings nur auf sogenannte notleidende Kredite be- wie viele es tun, dass nur die Großbanken so etwas ma- zieht. Es gehört ein ziemlich großes Know-how dazu, chen. Nein, alle drei Säulen haben das gemacht, um das diese Kredite einzuziehen und zu bearbeiten. Viele Kre- sehr deutlich zu sagen. ditinstitute scheuen diesen Teil und verkaufen deshalb notleidende Kredite an jemanden, der ein Profi in der (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Und machen Bearbeitung solcher Kredite ist. es noch!) Ich sage dies, um zunächst einmal darauf hinzuwei- Sparkassen haben verkauft. sen, dass es für den Kreditverkauf gute betriebswirt- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: schaftliche Gründe und auch volkswirtschaftliche Über- Die Landesbanken!) legungen im Hinblick auf Risiken gibt. – Ja, vor allem über Landesbanken. Auch im genossen- Meine Damen und Herren, auf der anderen Seite gibt schaftlichen Bereich sind Kredite verkauft worden, und es den Verbraucher. Im Mittelpunkt der Überlegungen, natürlich auch von den anderen. Man kann also Klarheit die jetzt von den Grünen und von der FDP vorgestellt schaffen, wenn man gleich bei der Kreditvergabe damit wurden und sicherlich auch in den anderen Fraktionen beginnt, dieses Problem zu lösen. angestellt werden, steht natürlich die Frage, wie hier der Verbraucher zum Zuge kommt. Der Gedanke, sein Haus Einen zweiten Punkt halten wir für sehr wichtig: Wer über eine örtliche Bank zu finanzieren und den Kredit einen Kredit verkauft, muss den Kreditnehmer rechtzei- immer planmäßig zu bedienen, dann aber plötzlich ein tig informieren, damit er versuchen kann, wenn bei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12267

Otto Bernhardt (A) spielsweise die Sparkasse ihn verkauft, bei der Volks- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: (C) bank eine Anschlussfinanzierung zu finden. Das Wort hat nun Kollege Hans-Ulrich Krüger, SPD- (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Fraktion. Vernünftig!) Dr. Hans-Ulrich Krüger (SPD): Ich sage dies sehr deutlich. Das wird mit Sicherheit dazu kommen, und das ist gut so. Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Schick, erfreut nehme ich Es gibt eine Art des Verkaufs, bei der vielleicht nicht den Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen informiert werden muss: Ich bin im Zuge meiner Be- zur Kenntnis, die sich inzwischen ebenfalls des Themas schäftigung mit diesem Thema darauf gestoßen, dass es „Handel mit Kreditforderungen“ angenommen und es Kredite gibt, die verkauft werden, bei denen aber die auf die Agenda gesetzt hat. Ohne Ironie – ich bitte Sie, verkaufende Sparkasse voll in der Bearbeitung bleibt. mir das abzunehmen – sage ich Ihnen: Willkommen im Dann merkt der Kunde das nicht, und dann ist ein Infor- Klub! mationsrecht vielleicht auch nicht zwingend. (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ Wir müssen uns auch ein bisschen die europäische CSU]) Entwicklung angucken; das sage ich hier ebenfalls sehr deutlich. Nach meinen Informationen ist eine EU-Richt- Schwarz-Rot beschäftigt sich seit vielen Monaten linie in Vorbereitung, die in etwa in die Richtung der bei- sehr intensiv mit den durch den Kredithandel aufgewor- den Überlegungen geht, die ich eben vorgetragen habe. fenen Problemen. Seien Sie versichert: Dieses Thema ist bei uns in den richtigen Händen. Wir sind darauf be- Es gibt noch eine andere Überlegung, die auch in mei- dacht, die unerwünschten Auswirkungen des Kredithan- ner Fraktion einige anstellen. Sie sagen: Bei einem Ver- dels sehr sorgfältig zu analysieren und Lösungen zu erar- kauf muss es ein außerordentliches Kündigungsrecht un- beiten, um die betroffenen Kreditnehmer, Verbraucher ter Verzicht auf die Vorfälligkeitsentschädigung geben. wie Unternehmer, umfassend zu schützen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das geht!) Worum geht es? In den letzten Jahren – Kollege Das mag populär sein. Aber damit könnte der Markt für Bernhardt hat das schon angeführt – den Verkauf tot sein. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut hat er (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) das sogar gemacht!) (B) Denn eines müssen wir berücksichtigen: Gott sei Dank ist nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland ein ver- (D) gibt es in Deutschland die Kultur, Immobilien mit lang- stärkter Handel mit Immobilienkrediten und sonstigen fristiger Zinsbindung zu finanzieren. Krediten zu beobachten. Dieser Handel hat fast explo- (Frank Schäffler [FDP]: Ja! Das gibt es am sionsartig zugenommen. Vor allen Dingen bei sogenann- Markt auch!) ten notleidenden Krediten, also dann, wenn der Kredit- nehmer seine Rate nicht oder nur verzögert zahlt, Um es klar zu sagen: Das wird in anderen Ländern nicht entledigen sich Banken gerne des Risikos und veräußern gemacht. Einer der Gründe für die Immobilienkrise in ihre Forderungen, häufig an einen Finanzinvestor oder, den Vereinigten Staaten ist die Tatsache, dass Immobi- ebenso häufig, an eine Investmentbank. lien dort nur mit kurzfristiger Zinsbindung finanziert werden. Wir wollen bei unserer bewährten Finanzierung Ein solcher Verkauf ist für die kreditgebende Bank bleiben. aus ökonomischer Sicht durchaus von Vorteil, da sie da- durch neue finanzielle Mittel für weitere Kreditvergaben Meine Damen und Herren, abschließend sage ich: erhält. Grundsätzlich ist festzustellen, dass auch zivil- Hier besteht Handlungsbedarf. Die Frage, ob wir das im rechtlich nichts gegen den Verkauf von Immobilien- Gesetz zur Risikobegrenzung regeln, ob wir eine Verän- oder Kreditforderungen einzuwenden ist, solange die derung bzw. Ergänzung des Kreditwesengesetzes vorneh- Rechte der Schuldner angemessen berücksichtigt wer- men oder ob wir das vielleicht sogar in das Bürgerliche den. Gesetzbuch aufnehmen, müssen wir noch ausdiskutie- ren. Das ist leider nicht mehr durchgängig der Fall. Viel- mehr ist zu beobachten, dass in der jüngeren Praxis – ich Ich stimme der FDP zu: Schnellschüsse brauchen wir erwähne das erneut, allerdings nur Pars pro Toto – bei nicht. Wir brauchen Lösungen, die einen Kompromiss Immobilienkrediten Konstellationen aufgetaucht sind, zwischen den betriebswirtschaftlichen bzw. volkswirt- bei denen von einer angemessenen Berücksichtigung der schaftlichen Notwendigkeiten und dem Schutz der Ver- Schuldnerinteressen keine Rede sein kann. braucher darstellen. Ich habe den Eindruck, es gibt gute Chancen, in diesem Hause kurzfristig zu einvernehmli- Es wird geschätzt, dass allein die deutschen Banken chen Lösungen zu kommen. und Kreditinstitute notleidende Kredite in einem Volu- Danke schön. men von 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr veräußern. Es gibt keine fixen Zahlen, sie schwanken zwischen 7,5 (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. und 10 bis 12 Milliarden Euro pro Jahr; auf jeden Fall Dr. Werner Hoyer [FDP]) handelt es sich um eine nennenswerte Größenordnung. 12268 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Dr. Hans-Ulrich Krüger (A) Dass ein Verkauf notleidender Kredite für den Kredit- cherinteressen, Unternehmerinteressen bei Kreditver- (C) nehmer in aller Regel nichts Gutes bedeutet, liegt auf der käufen zu wahren. Hier ist die Politik gefragt. Hand. Die Käufer solcher Forderungen, meistens auf schnelle und größtmögliche Rendite zielende Finanzin- Der Strauß der Möglichkeiten ist groß und muss sorg- vestoren, haben naturgemäß in erster Linie ein Interesse sam komponiert werden. Zum einen – da habe ich bei daran, die Immobilie zu veräußern und unmittelbar die meinem Vorredner schon ein großes Maß an Überein- Zwangsvollstreckung zu betreiben. An personalintensi- stimmung konstatieren können – sollen die Banken ver- ver Betreuung, an der Suche nach Wegen aus der Schul- pflichtet werden, den Kreditnehmer vor jedweder Zes- denfalle haben sie hingegen nur geringes Interesse. Für sion zu informieren, das heißt, die stille Zession soll die privaten Haus- und Wohnungsbesitzer kann dies den nicht mehr existieren. Ferner kann auch über ein Zes- Verlust ihres Eigentums bedeuten, ohne dass sie die sionsverbot zu diskutieren sein: dass eine Abtretung zu- Chance haben, über alle vernünftigen und problemorien- mindest von Verbraucherkrediten an Nichtbanken – al- tierten Lösungen zu diskutieren. lerdings unter Berücksichtigung der Vorschriften des Handelsgesetzbuches – ausgeschlossen wird. Ich weiß Dass sich Banken in zunehmendem Maße der Verant- natürlich, dass § 354 a HGB insofern Schranken setzt; wortung gegenüber ihren Kunden entziehen und an einer das muss berücksichtigt werden. Lösung mit den in Schwierigkeiten geratenen Kreditneh- mern immer weniger Interesse haben, zeigt die Infobro- Last, not least darf ich sagen, dass unsere Fraktion schüre einer großen deutschen Bank mit dem Titel über ein – möglicherweise befristetes – Sonderkündi- gungsrecht nachdenkt, das, um den Verbraucher, den „Notleidende Kredite“ – eine etablierte Assetklasse Unternehmer nicht übermäßig zu belasten, mit Regelun- vom 5. April dieses Jahres. Dort heißt es auf den gen bezüglich Vorfälligkeitsentschädigungen einherge- Seiten 7 und 8: hen muss bzw. einräumt, dass man bei der Wahl von Dis- agiovarianten eine anteilige Rückzahlung des Disagios Während Banken im Allgemeinen und vorwiegend vorziehen kann. Ob nun – um darauf zurückzukommen, regional tätige Institute im Besonderen Rücksicht Herr Schick – im Bereich der privaten Immobilie Sanie- auf ihren Ruf nehmen und deshalb bei der Abwick- rungsvorschläge zu machen sind und wie diese auszuse- lung von Krediten behutsamer vorgehen, können hen haben und ob man Beispiele aus der Insolvenzord- Abwicklungsgesellschaften ihre bzw. die Interessen nung heranzieht, das wird dem Verfahren zu überlassen ihrer Auftraggeber bei den Verhandlungen und – im bleiben. Darüber müssen wir noch nachdenken und uns Falle des Scheiterns – bei der Zwangsvollstreckung abstimmen. Aber eines ist klar: Der Traum von den eige- offener durchzusetzen versuchen. nen vier Wänden darf bei Kreditverkäufen nicht zum (B) Entkleidet man diese Sätze der bankenüblichen Vor- Albtraum werden. (D) nehmheit, weiß man, welches brutale Marktgeschehen Seien Sie daher versichert: Wir als Koalition befassen sich hinter ihnen verbirgt. Eine solche Entwicklung kann uns intensiv mit dem Problem des Kredithandels und von uns Sozialdemokraten nicht hingenommen werden. werden Standards setzen, wodurch wir Rechtssicherheit Wird ein Immobilienkredit an einen Dritten verkauft, für die forderungsveräußernden Banken, für die forde- sieht sich der Kreditnehmer mit einem neuen Gläubiger rungskaufenden Investoren und primär – obwohl ich es konfrontiert, den er bei der Wahl seiner kreditgebenden als Drittes nenne – für die Verbraucherinnen und Ver- Bank gar nicht wollte. Er hat sich nämlich in der Regel braucher sowie mittelständischen Unternehmen schaffen gezielt für ein bestimmtes Kreditinstitut entschieden und werden. vertraut darauf, dass dieses Institut sein Vertragspartner bleibt. Er war unter Umständen sogar bereit, für eine Ich freue mich schon auf die Vorschläge aus den be- Vor-Ort-Betreuung einen höheren Darlehenszins zu ak- teiligten Häusern, dem Bundesjustizministerium und zeptieren, als er bei einer ausschließlich im Internet täti- dem Bundesministerium der Finanzen. Ich weiß, dass gen Bank hätte akzeptieren müssen. Die meisten Kredit- die Thematik dort angekommen ist. Es wird fleißig und nehmer sind sich gar nicht bewusst, dass ihre Kredite intensiv darüber nachgedacht. Ich denke, aufgrund der von ihrer Hausbank an Investoren veräußert werden kön- entsprechenden Qualität in beiden Häusern werden wir nen. Sie werden von ihrem Kreditinstitut zweckmäßiger- hier zeitnah gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten dis- weise darüber gar nicht informiert; ich bitte, dies als Iro- kutieren. Ich wünsche uns allen eine gute gemeinsame nie zu verstehen. Beratung im Interesse der betroffenen Kreise, sprich, der Kreditnehmer und der betroffenen Unternehmer. Ein weiteres Problem aus Verbrauchersicht ist für mich die Wahrung von Datenschutz und Bankgeheimnis. Herzlichen Dank. Es gibt zwar ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom Fe- bruar dieses Jahres, in dem es heißt: Die Zession von (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der Kreditforderungen ist nicht deshalb unwirksam, weil sie FDP) gegen das Bundesdatenschutzgesetz verstößt und das Bankgeheimnis verletzt. Dies begründet allenfalls einen Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: Schadensersatzanspruch. Nur, das Schwert ist stumpf; Das Wort hat nun Kollege Axel Troost, Fraktion Die denn wo kein Schaden nachgewiesen werden kann, fällt Linke. dieser Anspruch ins Bergfreie. Hier besteht meines Er- achtens Regelungsbedarf. Ziel muss es sein, Verbrau- (Beifall bei der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12269

(A) Dr. Axel Troost (DIE LINKE): gehört die Finanzpolitik der letzten Jahre grundlegend (C) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Be- auf den Prüfstand. reits vor über einem Jahr hieß es im Spiegel: Tausenden (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Da müssen Hausbesitzern droht auch in Deutschland der GAU. Tau- Sie die Tobin-Steuer beachten!) sende Immobilienkredite sind von Banken an Finanz- investoren weiterverkauft worden, und nun drohen bei Kein Zweifel: Wir brauchen wirkungsvolle Maß- kleinsten Störungen die sofortige Zwangsvollstreckung nahme zum Thema Kreditverkauf. Die Linke wird dazu und horrende Zinssprünge. – Es ist völlig klar: Das Vorschläge vorlegen, nachdem die Diskussionen mit den bringt natürlich kurzfristige Renditen für die Finanz- Verbraucherschützerinnen und Verbraucherschützern so- investoren. Kollege Krüger hat darauf ja hingewiesen. wie den kritischen Finanzjuristinnen und Finanzjuristen ausgewertet worden sind. Wir wollen diese Vorschläge Insofern ist für uns, die Linke, völlig klar: Hier kön- so rechtzeitig einbringen, dass sie in die Diskussionen nen wir als Parlament nicht tatenlos zusehen. Wir müs- über das Risikobegrenzungsgesetz einfließen. Denn das sen die Verbraucherinnen und Verbraucher, aber eben Thema der Kreditverkäufe ist auch aus unserer Sicht so auch die Unternehmerinnen und Unternehmer wirksam wichtig, dass man in der Tat nicht mit einem parlamenta- schützen. Dabei betone ich „wirksam schützen“. Ich rischen Schnellschuss reagieren darf. glaube, Bündnis 90/Die Grünen greift mit ihrem Ansatz Danke schön. hier noch zu kurz. Aus meiner Sicht unterschätzen Sie das Problem gleich doppelt. (Beifall bei der LINKEN) Erstens unterschätzen Sie das Problem verbraucher- politisch, weil Sie Ihre konkreten Forderungen aus- Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: schließlich auf mehr Transparenz und Information be- Ich schließe die Aussprache. schränken. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/5595 an die in der Tagesordnung aufge- Nehmen wir Ihre erste Forderung. Sie wollen, dass führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Kreditnehmer künftig vor Vertragsschluss ausdrücklich verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung darauf hingewiesen werden, dass der Kredit während der so beschlossen. Laufzeit verkauft oder nicht verkauft werden kann. Glauben Sie denn im Ernst, dass die Verbraucherinnen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: und Verbraucher so wirksam vor milliardenschweren Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Finanzinvestoren geschützt werden können? Nein, ich richts des Ausschusses für Bildung, Forschung glaube, damit fallen wir insgesamt hinter das zurück, und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) (B) was die Verbraucherzentralen und die kritischen Finanz- (D) juristinnen und -juristen in der Anhörung des Finanzaus- – zu dem Antrag der Abgeordneten Marcus schusses kürzlich gefordert haben. Ich glaube, wir fallen Weinberg, Ilse Aigner, Michael Kretschmer, damit sogar hinter das zurück, was die Bundesregierung weiterer Abgeordneter und der Fraktion der hinsichtlich des Risikobegrenzungsgesetzes insgesamt CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Ernst möglicherweise prüft. Das ist hier in den Reden – auch Dieter Rossmann, Jörg Tauss, Nicolette Kressl, vom Kollegen Bernhardt – angedeutet worden. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Sie unterschätzen das Problem in Ihrem Antrag aus Bildungsberichterstattung fortführen und unserer Sicht aber nicht nur verbraucherpolitisch, son- weiterentwickeln dern zweitens auch finanzpolitisch. Sie ignorieren die Bedeutung von Kreditverkäufen für die Finanzmarktsta- – zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia bilität vollkommen. Auch das ist hier vom Kollegen Pieper, Patrick Meinhardt, Uwe Barth, weiterer Bernhardt durchaus angesprochen worden. Abgeordneter und der Fraktion der FDP Natürlich haben Sie den Antrag gestellt, bevor die Bildungsberichterstattung in Deutschland US-Hypothekenkrise nach Europa geschwappt ist. Wir und deren Weiterentwicklung können heute aber nicht mehr so tun, als existierte die – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz Krise nicht. Heute wissen wir doch: Kreditverkäufe wa- (Herborn), Kai Gehring, Krista Sager, weiterer ren ein zentraler Mechanismus, über den sich die Krise Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ nach Europa ausgebreitet hat. Dadurch wurden die Poli- DIE GRÜNEN tik und auch wir als Finanzausschuss – ich denke, das kann man so sagen – sowie die Aufseher doch kalt er- Bildungsforschung und Bildungsbericht- wischt. Ich glaube, mit diesen Ausmaßen haben wir alle erstattung stärken nicht gerechnet. – Drucksachen 16/5415, 16/5409, 16/5412, 16/6614 – Allein in den USA beläuft sich der Bestand an ver- Berichterstattung: brieften Krediten heute auf über 7 Billionen Dollar. Der Abgeordnete Marcus Weinberg Handel mit Kreditverbriefungen und Kreditderivaten hat Dr. Ernst Dieter Rossmann zu einem riesigen, fast unüberschaubaren Spekulations- Patrick Meinhardt markt geführt. Hier kann man aus unserer Sicht nicht Cornelia Hirsch mehr nur mehr Transparenz fordern. Nein, stattdessen Priska Hinz (Herborn) 12270 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Ernst Berichterstattung: (C) Dieter Rossmann, Cornelia Pieper, Cornelia Hirsch, Abgeordnete Monika Grütters Priska Hinz und des Parlamentarischen Staatssekretärs Dr. h. c. Wolfgang Thierse Andreas Storm sind zu Protokoll gegeben worden.1) Hans-Joachim Otto (Frankfurt) Dr. Lukrezia Jochimsen Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Aus- Katrin Göring-Eckardt schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung auf Drucksache 16/6614. Der Ausschuss emp- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Drucksache 16/6614 die Annahme des Antrags der Frak- keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. tion der CDU/CSU und der SPD auf Drucksache 16/5415 Ich eröffne die Aussprache. Als einziger Redner, da mit dem Titel „Bildungsberichterstattung fortführen und alle anderen ihre Reden zu Protokoll gegeben haben, weiterentwickeln“ Wer stimmt für diese Beschlussemp- spricht Kollege Otto für die FDP-Fraktion. fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen! – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ (Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen CSU und SPD bei Stimmenthaltung der FDP gegen die [Bönstrup] [CDU/CSU]: Zu diesem Zeitpunkt Stimmen der Linksfraktion und der Fraktion Bündnis 90/ eine völlig unnötige Debatte! – Christian Die Grünen angenommen. Lange [Backnang] [SPD]: Muss das sein?)

Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der der FDP auf Drucksache 16/5409 mit dem Titel „Bil- zentralste Bauplatz dieser Republik sollte uns doch auch dungsberichterstattung in Deutschland und deren Wei- um 20 Uhr noch fünf Minuten Plenarzeit wert sein. terentwicklung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- fehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die (Beifall bei der FDP – Wolfgang Börnsen Beschlussempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. [Bönstrup] [CDU/CSU]: Aber auf einer ande- ren Grundlage!) Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Es ist zwar schon spät am Tage, aber hoffentlich noch Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/5412 nicht zu spät, um den Ausschreibungstext des Architek- mit dem Titel „Bildungsforschung und Bildungsbericht- tenwettbewerbs für das Berliner Schloss, der in diesen erstattung stärken“. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Tagen abgeschlossen wird, zu beeinflussen. Wir halten es für wichtig und notwendig, dass der Deutsche Bun- (B) fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die (D) Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ destag gerade in dieser entscheidenden Phase noch ein- CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Grünen bei mal öffentlich über den Bau des Berliner Schlosses de- Stimmenthaltung der Linksfraktion angenommen. battiert. (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Abgelehnt! – Er wird beteiligt über seine Ausschüsse!) Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Wir haben dage- gen gestimmt!) Was wir derzeit über den Entwurf des Ausschreibungs- textes lesen und hören, erfüllt uns mit großer Sorge. – Zuletzt hat die Linksfraktion auch abgelehnt, in Ord- nung. Davor allerdings – da muss ich mich korrigieren – (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: haben Sie auch zugestimmt. Das hat Herr Tiefensee anders gesehen!) (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Da haben wir Uns liegt der Ausschreibungstext zwar nicht im Original zugestimmt!) vor, aber bereits ein kleiner Auszug, der kürzlich in ei- nem Bericht des Bundesbauministeriums veröffentlicht – Jawohl. worden ist, zeigt deutlich, wohin die Reise geht. Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Da müssen alle Unterlagen auf den Tisch! Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Dann lohnt sich die Debatte erst!) richts des Ausschusses für Kultur und Medien Ich zitiere aus dem Entwurf des Bundesbauministe- (22. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne- riums: Die Einbeziehung eines Raumes in der Größe des ten Hans-Joachim Otto (Frankfurt), Christoph Volkskammersaales sowie die Teilrekonstruktion seiner Waitz, Dr. Karl Addicks, weiterer Abgeordneter Ausstattung ist möglich. – Das ist also möglich. An an- und der Fraktion der FDP derer Stelle heißt es dagegen: Eine Rekonstruktion von Klare Konzepte für den Bau des Berliner Innenräumen nach historischem Vorbild, bis auf die Schlosses Kunstkammern, ist nicht vorgesehen. Weder das eine noch das andere ist im Beschluss des – Drucksachen 16/5961, 16/6595 – Bundestages enthalten. Es ist eine absolut freie Interpre- tation der Verfasser der Auslobung und vollkommen 1) Anlage 3 willkürlich. Warum steht in dem Auslobungstext nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12271

Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (A) das Gegenteil? Zum Beispiel: Eine Rekonstruktion von Wenn die Bundesregierung die private Initiative tatsäch- (C) Innenräumen nach historischem Vorbild ist möglich. lich desavouieren möchte, dann wird ihr das zwar gelin- Eine Rekonstruktion des Volkskammersaales ist nicht gen; ich erwarte aber von der Bundesregierung und dem vorgesehen. Deutschen Bundestag genau das Gegenteil, nämlich dass sie dieses großartige zivilgesellschaftliche Engagement (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: anerkennt und nach Kräften fördert und ermutigt. Alles ungelegte Eier!) (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Diese Aussagen werden genauso wenig vom Bundes- Das ist ja geschehen!) tagsbeschluss gedeckt wie die jetzt darin enthaltene For- mulierung. Das macht die Tendenz und den Unterton Die Tatsache, dass der Förderverein bisher bereits dieser Ausschreibung deutlich. Ich bin sicher, dass diese knapp 14 Millionen Euro an Spenden bzw. Zusagen ge- Tendenz nicht dem Willen der Mehrheit des Bundestages sammelt hat, ohne dass bisher das Geld des Bundes be- entspricht. Ich bin der Überzeugung, dass wir Parlamen- willigt ist und die konkreten Bauplanungen begonnen tarier aller Fraktionen des Bundestags eine solche Umin- haben, sehe ich als ein durchaus beruhigendes Zeichen terpretation nicht zulassen dürfen. dafür, dass die 80 Millionen Euro zu erbringen sein wer- Ich sehe an dieser Stelle durchaus eine Verantwortung den. Schließlich sprudelten auch bei der Frauenkirche der Bundeskanzlerin, nachzufragen, mit welcher Ten- die Spenden erst, als die ersten Steine aufeinandergesetzt denz die Jury zusammengesetzt wird. Wenn sie den Vor- wurden. schlägen entsprechend überwiegend mit Personen be- setzt wird, die kaum über internationale Erfahrung und (Beifall bei der FDP – Reinhard Grindel [CDU/ Reputation verfügen, dafür aber bekannte Schlossgegner CSU]: Das hat das ZDF erreicht!) sind, dann braucht man wenig Fantasie, um sich das Wettbewerbsergebnis vorzustellen. – Das mag sein. Das ZDF macht manchmal auch etwas Gutes. Wer glaubt, mit den Bundestagsbeschlüssen von 2002 und 2003 zur Wiedererrichtung der barocken Fassade – Vor diesem Hintergrund halte ich es für dringend er- forderlich, dass der Förderverein, der ungefähr ein (Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Sechstel der Bausumme beisteuern wird, endlich in alle Die bleibt auch!) wichtigen Entscheidungsprozesse einbezogen wird.

– Wolfgang, bleib doch mal ruhig! Du bist ja heute rich- Wir, der Deutsche Bundestag, haben noch wenige (B) tig nervös – sei das Bauvorhaben nun in trockenen Tü- Tage – vielleicht auch wenige Wochen – Gelegenheit, (D) chern, der ignoriert, dass der Auslobungstext und die Zu- die Ausschreibung und den Bau des Schlosses so zu be- sammensetzung der Jury von mindestens ebenso großen einflussen, dass er ein großer Erfolg wird. Wir dürfen Auswirkungen auf die spätere Gestalt des Gebäudes ist diese Chance nicht verstreichen lassen. wie der Beschluss selbst. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Wir fordern die Bundesregierung auf, sicherzustellen, dass ein Beschluss, den der Bundestag nach langer und (Beifall bei der FDP) reiflicher Überlegung wohlbedacht und von einer großen fraktionsübergreifenden Mehrheit getragen gefasst hat, nicht von einzelnen Ministerialbeamten konterkariert Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse: wird. Die Kollegen Renate Blank, Wolfgang Thierse, Petra Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zur Finanzie- Weis, Gesine Lötzsch und Peter Hettlich haben ihre Re- rung der Schlossfassade. Ich halte es für ein enormes den zu Protokoll gegeben.1) und beachtenswertes Angebot des Fördervereins Berli- ner Schloss, 80 Millionen Euro für die Finanzierung der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Schlossfassade zu sammeln. Es steht in der besten Tradi- der SPD) tion zivilgesellschaftlichen Engagements und hat in der Finanzierung der Dresdner Frauenkirche ein leuchtendes Wir kommen damit zur Beschlussempfehlung des Vorbild. Es ist übrigens auch ein Beleg dafür, dass die Ausschusses für Kultur und Medien zu dem Antrag der Versprechungen des Fördervereins durchaus realisierbar FDP-Fraktion mit dem Titel „Klare Konzepte für den sind. Bau des Berliner Schlosses“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/6595, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) den Antrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/5961 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Ich finde es in diesem Zusammenhang ungeheuerlich, lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die dass sich manche Personen – auch in den Ministerien – Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/ die Argumentation der Linkspartei, die bekanntermaßen CSU, SPD und Linksfraktion gegen die Stimmen der den Schlossbau torpedieren will, zu eigen macht und die FDP bei Enthaltung der Grünen angenommen. Seriosität des Fördervereins in Zweifel zieht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das geht nicht!) 1) Anlage 4 12272 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b so- Pau, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und (C) wie Zusatzpunkt 8 auf: der Fraktion DIE LINKE 17 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Bleiberecht als Menschenrecht gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde- rung der betrieblichen Altersversorgung – Drucksachen 16/3912, 16/4827 – – Drucksache 16/6539 – Berichterstattung: Abgeordnete Reinhard Grindel Überweisungsvorschlag: Rüdiger Veit Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Finanzausschuss Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ulla Jelpke Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Josef Philip Winkler Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten geben: Reinhard Grindel, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, 2) Dr. Heinrich L. Kolb, Christian Ahrendt, Daniel Ulla Jelpke und Josef Philip Winkler. Bahr (Münster), weiterer Abgeordneter und der Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss- Fraktion der FDP empfehlung des Innenausschusses zu dem Antrag der Abgabenfreie Entgeltumwandlung über 2008 Fraktion Die Linke mit dem Titel „Bleiberecht als Men- hinaus fortführen und ausbauen schenrecht“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/4827, den Antrag – Drucksache 16/6433 – der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3912 abzu- Überweisungsvorschlag: lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss- Finanzausschuss empfehlung ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Stimmen der Fraktion Die Linke angenommen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b: Haushaltsausschuss ZP 8Beratung des Antrags der Abgeordneten a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt Bender, Britta gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- (B) Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- nisierung des Rechts der landwirtschaftlichen (D) tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sozialversicherung (LSVMG) Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Erst prü- – Drucksache 16/6520 – fen, dann entscheiden Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) – Drucksache 16/6606 – Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie b) Beratung der Unterrichtung durch den Präsiden- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ten des Bundesrechnungshofes Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss Bericht nach § 99 der Bundeshaushaltsord- nung über die Umsetzung und Weiterentwick- Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge- lung der Organisationsreform in der landwirt- geben: Peter Weiß, Gabriele Hiller-Ohm, Heinrich Kolb, schaftlichen Sozialversicherung Volker Schneider, Irmingard Schewe-Gerigk und der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres.1) – Drucksache 16/6147 – Überweisungsvorschlag: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) den Drucksachen 16/6539, 16/6433 und 16/6606 an die Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- Verbraucherschutz schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Haushaltsausschuss Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: geben: Marlene Mortler, Waltraud Wolff, Edmund Peter Geisen, Kirsten Tackmann, Cornelia Behm, Gitta Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Connemann und der Parlamentarische Staatssekretär richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu Gerd Andres.3) dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Petra

2) Anlage 6 1) Anlage 5 3) Anlage 7 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12273

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur (C) den Drucksachen 16/6520 und 16/6147 an die in der Ta- Abstimmung vorlegen gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann – Drucksache 16/6431 – sind die Überweisungen so beschlossen. Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Tagesordnungspunkt 18: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Nachtwei, Alexander Bonde, Jürgen Trittin, wei- NIS 90/DIE GRÜNEN terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN Kooperation und Koordination im Europäi- schen Forschungsraum verbessern Angepassten Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa ratifizieren – Drucksache 16/6454 – – Drucksache 16/6605 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Überweisungsvorschlag: Technikfolgenabschätzung (f) Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Verteidigungsausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und geben: Carsten Müller, René Röspel, Cornelia Pieper, Entwicklung Petra Sitte und Krista Sager.1) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Theodor Freiherr zu Guttenberg, Eckart von Drucksache 16/6454 an die in der Tagesordnung aufge- Klaeden, Anke Eymer (Lübeck), weiterer Abge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- der Abgeordneten Dr. Rolf Mützenich, Gert schlossen. Weisskirchen (Wiesloch), Niels Annen, weiterer Tagesordnungspunkt 21: Abgeordneter und der Fraktion der SPD (B) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Die Krise des KSE-Vertrages durch neue (D) gebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes Impulse für konventionelle Abrüstung und zur Änderung des Versicherungsaufsichts- Rüstungskontrolle in Europa beenden gesetzes – Drucksache 16/6603 – – Drucksache 16/6518 – Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen Freiherr zu Guttenberg, Rolf Mützenich, Elke Hoff, Paul Die Kollegen Klaus-Peter Flosbach, Lothar Binding, Schäfer und Winfried Nachtwei.3) Frank Schäffler, Barbara Höll und Gerhard Schick haben ihre Reden zu Protokoll gegeben.2) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 16/6431, 16/6605 und 16/6603 an die Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- wurfs auf Drucksache 16/6518 an die in der Tagesord- schlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es sind die Überweisungen so beschlossen. dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Tagesordnungspunkt 23: Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b sowie Zusatz- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- punkt 9: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und 20 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elke anderer Gesetze Hoff, Dr. Werner Hoyer, Dr. Karl Addicks, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 16/6540 – Überweisungsvorschlag: Deutschland muss rüstungskontrollpolitische Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Glaubwürdigkeit beweisen – Angepassten Ausschuss für Gesundheit Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

1) Anlage 8 2) Anlage 9 3) Anlage 10 12274 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Die Kollegen Michael Hennrich, Anton Schaaf, Gradistanac, weiterer Abgeordneter und der (C) Heinz-Peter Haustein, Katja Kipping, Markus Kurth und Fraktion der SPD der Parlamentarische Staatssekretär Gerd Andres haben Messen und Geschäftsreisen als Chance für ihre Reden zu Protokoll gegeben.1) den Tourismusstandort Deutschland Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- – Drucksache 16/5958 – wurfs auf Drucksache 16/6540 an die in der Tagesord- Überweisungsvorschlag: nung aufgeführten Ausschüsse und zusätzlich an den Ausschuss für Tourismus (f) Ausschuss für Gesundheit vorgeschlagen. Gibt es dazu Innenausschuss anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann Finanzausschuss ist die Überweisung so beschlossen. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Haushaltsausschuss Tagesordnungspunkt 22: Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden Klaus Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Brähmig, Anita Schäfer, Brunhilde Irber, Ernst richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- Burgbacher, Ilja Seifert und Bettina Herlitzius.3) schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, Drucksache 16/5958 an die in der Tagesordnung aufge- Bärbel Höhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- GRÜNEN verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Dem Verlust an Agrobiodiversität entgegen- Tagesordnungspunkt 24: wirken Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- – Drucksachen 16/5413, 16/5752 – richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag Berichterstattung: der Abgeordneten Horst Friedrich (Bayreuth), Abgeordnete Dr. Max Lehmer Michael Kauch, Jan Mücke, weiterer Abgeordne- Dr. Gerhard Botz ter und der Fraktion der FDP Dr. Christel Happach-Kasan Cornelia Behm Oldtimer von Feinstaub-Fahrverboten aus- Dr. Kirsten Tackmann nehmen (B) – Drucksachen 16/4060, 16/6327 – (D) Folgende Kollegen haben ihre Reden zu Protokoll ge- geben: Johannes Röring, Gerhard Botz, Gabriele Berichterstattung: Groneberg, Edmund Peter Geisen, Kirsten Tackmann Abgeordnete Rita Schwarzelühr-Sutter 2) und Cornelia Behm. Zu Protokoll gegeben wurden die Reden von den Kol- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- legen Andreas Scheuer, Rita Schwarzelühr-Sutter, 4) schusses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- Patrick Döring, Lutz Heilmann und Winfried Hermann. cherschutz zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- Grünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agrobiodiversi- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zu dem tät entgegenwirken“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner FDP-Antrag mit dem Titel „Oldtimer von Feinstaub- Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/5752, den An- Fahrverboten ausnehmen“. Der Ausschuss empfiehlt un- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- ter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/5413 abzulehnen. Wer stimmt für diese sache 16/6327, den Antrag der Fraktion der FDP auf Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent- Drucksache 16/4060 abzulehnen. haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- men von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Ungeheuerlich!) Grünen angenommen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- probe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist Tagesordnungspunkt 25: mit den Stimmen des Hauses gegen die Stimmen der FDP-Fraktion angenommen. Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Jürgen Klimke, Dr. Hans-Peter (Hans-Joachim Otto [Frankfurt] [FDP]: Ihr Friedrich (Hof), weiterer Abgeordneter und der habt keinen Sinn für Oldtimer! – Gegenruf des Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Abg. Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Wir kön- Annette Faße, Brunhilde Irber, Renate nen uns keine leisten!)

1) Anlage 11 3) Anlage 13 2) Anlage 12 4) Anlage 14 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12275

Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse (A) Unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung auf Druck- Heidrun Bluhm, Markus Kurth und die Parlamentarische (C) sache 16/6327 empfiehlt der Ausschuss, eine Entschlie- Staatssekretärin Karin Roth.1) ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die wurfs auf Drucksache 16/6543 an die in der Tagesord- Beschlussempfehlung ist mit der gleichen Mehrheit wie nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es zuvor angenommen. anderweitige Vorschläge dazu? – Das ist nicht der Fall. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: Dann ist die Überweisung so beschlossen. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- Schluss unserer heutigen Tagesordnung. gelung des Wohngeldrechts und zur Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vorschriften Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf morgen, Freitag, den 12. Oktober 2007, – Drucksache 16/6543 – 9 Uhr, ein. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ich wünsche Ihnen einen freundlichen Abend. Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Die Sitzung ist geschlossen. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO (Schluss: 20.39 Uhr) Zu Protokoll gegeben haben ihre Reden die Kollegen Gero Storjohann, Sören Bartol, Joachim Günther, 1) Anlage 15

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12277

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 11.10.2007 Strothmann, Lena CDU/CSU 11.10.2007 Marieluise DIE GRÜNEN Toncar, Florian FDP 11.10.2007 Bellmann, Veronika CDU/CSU 11.10.2007 Wanderwitz, Marko CDU/CSU 11.10.2007 von Bismarck, Carl CDU/CSU 11.10.2007 Eduard * für die Teilnahme an der 117. Jahreskonferenz der Interparlamenta- rischen Union Deligöz, Ekin BÜNDNIS 90/ 11.10.2007 DIE GRÜNEN Anlage 2 Dr. Faust, Hans Georg CDU/CSU 11.10.2007 Antwort Dr. Happach-Kasan, FDP 11.10.2007 Christel des Parl. Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Frage des Abgeordneten Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Kasparick, Ulrich SPD 11.10.2007 DIE GRÜNEN) (117. Sitzung, Drucksache 16/6571, Frage 11): Kramme, Anette SPD 11.10.2007 Welche Bundesministerien nebst nachgeordnetem Bereich speichern von Besuchern ihrer Internetseiten deren IP-Adres- Lämmel, Andreas G. CDU/CSU 11.10.2007 sen, abgefragte Dateien oder Zugriffszeiten über die Dauer des jeweiligen Besuchs hinaus, wie etwa das Bundeskriminal- (B) amt es bei 417 Interessenten für die „militante gruppe“ allein (D) Lafontaine, Oskar DIE LINKE 11.10.2007 binnen drei Wochen im März/April 2007 tat, und wird die Bundesregierung derartige Fangschaltungen sowie etwaige si- Dr. Lippold, Klaus W. CDU/CSU 11.10.2007 cherheitsbehördliche Nachermittlungen über die Besucher – wie im genannten Fall des Bundeskriminalamts – nun kurz- Merten, Ulrike SPD 11.10.2007 fristig und vollständig unterbinden, nachdem das Landgericht Berlin mit Berufungsurteil vom 6. September 2007 (Az. 23 S 3/07) dem Bundesministerium der Justiz derlei rechtskräftig Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 11.10.2007 verboten hat? Müller (Düsseldorf), SPD 11.10.2007 Die überwiegende Zahl der Ressorts und, soweit dies Michael in der Kürze der Zeit ermittelt werden konnte, deren nachgeordnete Behörden speichern die IP-Adressen der Nitzsche, Henry fraktionslos 11.10.2007 Besucher ihrer Internetseiten bzw. lassen diese durch be- auftragte Unternehmen speichern. Dies geschieht grund- Dr. Paech, Norman DIE LINKE 11.10.2007 sätzlich nur temporär und ausschließlich aus IT-sicher- heitstechnischen und/oder statistischen Gründen. BMBF, Pflug, Johannes SPD 11.10.2007* BMAS, der Bundesrechnungshof und das BKA nehmen keine generelle Speicherung der IP-Adressen vor. Bei Riester, Walter SPD 11.10.2007 dem Bundesministerium der Justiz werden weder die IP- Adressen noch andere personenbezogene Daten der Per- Roth (Esslingen), Karin SPD 11.10.2007 sonen protokolliert, die die Internetseite des Bundesmi- nisteriums der Justiz aufrufen. Im Geschäftsbereich des Rupprecht SPD 11.10.2007 Bundesministeriums der Justiz werden IP-Adressen bei (Tuchenbach), dem Bundesgerichtshof, dem Bundesfinanzhof, dem Marlene Bundesverwaltungsgericht, dem Bundespatentgericht und dem Deutschen Patent- und Markenamt für Zwecke Schauerte, Hartmut CDU/CSU 11.10.2007 der Abrechnung kostenpflichtiger Internetangebote und/ Schily, Otto SPD 11.10.2007 oder für statistische Zwecke protokolliert. In welcher Weise sich das Urteil des LG Berlin vom Dr. Schwall-Düren, SPD 11.10.2007 6. September 2007 (Az. 23 S 3/07) auf diese Speiche- Angelica rungspraxis auswirkt, wird zurzeit geprüft. Die Bundes- regierung nimmt keine Fangschaltungen vor (vergleiche 12278 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Antwortteil 1). Eine abschließende Bewertung des Ur- gewesen ist und dass es nach meinem Wissen bisher gar (C) teils und den daraus zu ziehenden Konsequenzen hat in keine Debatte in Länderparlamenten gegeben hat. Dieses der Mehrzahl der Ressorts noch nicht stattgefunden. muss mit dem 2008 vorzulegenden zweiten Bildungsbe- BMBF und BMJ haben die Erhebung von IP-Adressen richt grundlegend verändert werden. Wir erwarten, dass infolge des Urteils gestoppt. sich die Bundesbildungsministerin mit diesem Bericht der Diskussion im Parlament stellt, dass dieser nationale Bildungsbericht eine seiner Bedeutung entsprechende Anlage 3 Position im Parlamentsbetrieb bekommt und über die Einbringung und die Debatte in der Sache auf einen in Zu Protokoll gegebene Reden das Land hineinreichenden Impuls für eine kritische und zur Beratung der Beschlussempfehlung und des weiterführende Bestandsaufnahme gesetzt wird. Als Berichts zu den Anträgen: dringende Bitte an die Bundesbildungsministerin gilt, ein solches Verfahren bereits mit der Erstellung des – Bildungsberichterstattung fortführen und zweiten Bildungsberichtes zu vereinbaren und die Bil- weiterentwickeln dungsminister der Länder wie die Bundesregierung ins- – Bildungsberichterstattung in Deutschland gesamt hierauf einzuschwören. Nationale Bildungsbe- und deren Weiterentwicklung richte, die zu nachtschlafender Zeit im Parlament unter „ferner liefen“ abgehandelt werden, entwerten sich – Bildungsforschung und Bildungsbericht- selbst, schädigen den gerade angestrebten notwendigen erstattung stärken Impuls und verschenken im Übrigen die große Chance, (Tagesordnungspunkt 15) die von allen eingeforderte nationale Bildungsoffensive tatsächlich voranzubringen. Wo kommen wir eigentlich hin, wenn die Nachricht von einem angestrebten Bil- Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Der erste natio- dungsgipfel mehr Aufmerksamkeit findet als die fun- nale Bildungsbericht und die Maßstäbe und Erwartungen dierte wissenschaftliche Ausarbeitung und die Empfeh- der Fraktionen an die Fortsetzung dieses neuen Instru- lungen einer unabhängigen Expertenkommission, die ments der Bildungspolitik sind offensichtlich ein Gegen- dann noch einmal von den Ländern wie dem Bund auf stand der „indirekten Rede“. So war es bereits bei der einen Konsens in der Sache gebracht worden sind? Und ersten sogenannten Aussprache hierzu am 24. Mai 2007, das erstmals für alle Bereiche des Lernens im Sinne der übrigens fast ein Jahr nach Vorlage dieses ersten nationa- neuen Philosophie des lebenslangen Lernens! len Bildungsberichtes im Juni 2006. Das parlamentari- sche Instrument, Reden zu Protokoll geben zu können, Zweitens. Bildungsberichterstattung und Bildungsfor- (B) sorgt aber immerhin dafür, dass man, bei allen Nuancen, schung gehören in der Sache zusammen. Als Sozialde- (D) wechselseitig davon lesen konnte, dass diese Initiative mokraten begrüßen wir es, dass die nationale Bildungs- der damaligen SPD-geführten Bundesregierung und ih- forschung ausgebaut werden soll. Trotz der gestiegenen rer Bildungsministerin Edelgard Bulmahn in allen Frak- Anforderungen in der Forschung an Bildungszusammen- tionen des Parlaments breit akzeptiert ist und für die Zu- hängen bestehen weiterhin deutliche Lücken. Die nach kunft weiter fruchtbar gemacht werden soll. Diese der Föderalismusreform noch bestehenden Möglichkei- „indirekte Rede“ über den ersten nationalen Bildungsbe- ten des Bundes in diesem Bereich sollten dazu genutzt richt setzen wir jetzt mit der abschließenden Beratung werden, diese Lücken zu schließen. Die wissenschaftli- der vorgelegten Anträge zur Bildungsberichterstattung che Beobachtung im Bereich der frühkindlichen Bildung in der gleichen Weise fort: Wir geben zu Protokoll. muss sich auch im Bildungsforschungsprogramm der Bundesregierung niederschlagen. Wir stehen hier voll zu Auf nochmalige Auseinandersetzung mit den vorge- den Vorschlägen, die die Gewerkschaft Erziehung und legten Anträgen möchte ich hier deshalb verzichten. Wissenschaft in Bezug auf ein Gesamtkonzept zur Erfor- Dieses kann nachgelesen werden in der zu Protokoll ge- schung der frühkindlichen Bildung erst kürzlich gemacht gebenen Debatte vom 24. Mai 2007. Wir haben uns hat. Zudem wird sich die SPD-Bundestagsfraktion dafür hierzu im Übrigen auch in der Ausschusssitzung ausge- einsetzen, die wissenschaftliche Begleitforschung zum tauscht. Mit ihrem Antrag, „Bildungsberichterstattung Ganztagsschulprogramm im Rahmen der Bildungsfor- fortführen und weiterentwickeln“ legen die Koalitions- schung fortzusetzen, über das Ende des Investitionspro- fraktionen ein Konzept vor, das die mit dem ersten natio- gramms im Jahr 2009 hinaus. Unseres Erachtens hat sich nalen Bildungsbericht gemachten Erfahrungen positiv hier eine Form von Handlungsforschung aufgebaut, die aufgreift und den Regierungen des Bundes und der Län- wir – im engen Zusammenwirken von wissenschaftli- der zusätzliche Forderungen mit auf den Weg gibt, die in cher Analyse und handlungsorientierter Beratung – für der Fortführung dieser Arbeit Berücksichtigung finden das, was wir auch in anderen Bereichen der Erneuerung müssen. unseres Bildungssystems leisten müssen, dringend brau- Zur abschließenden Beratung unserer Anträge über chen. Einen Beitrag zur Handlungsorientierung verspre- die Bildungsberichterstattung möchte ich darüber hinaus chen wir uns auch von dem Großprojekt des Bildungs- die folgenden Punkte zu Protokoll geben: Erstens. Es panels. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine solche war schon ein Dilemma, dass der gemeinsam von Bund Langzeitstudie nicht kurzfristig Erkenntnisse bringen und Ländern herausgegebene nationale Bildungsbericht kann. Mittelfristig sollte sie dies aber schon; denn gerade erst ein Jahr nach seiner öffentlichen Vorstellung Gegen- Verbesserungen an den Schnittstellen im Prozess des le- stand der Parlamentsdebatte im Deutschen Bundestag benslangen Lernens dulden keinen Aufschub. Unsere Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12279

(A) Bemühungen gehen deshalb dahin, nicht nur ein grund- dem Weg. Wir sind zuversichtlich, dass die nächsten (C) ständiges Bildungspanel, sondern zum Prozess des Ausgaben des nationalen Bildungsberichtes hierzu die lebenslangen Lernens auch Sonderpanels zu den konkre- entsprechenden kritischen, aber wegweisenden weiteren ten Umbruchphasen respektive Schnittstellen aufzule- Zwischenschritte und Perspektiven dokumentieren kön- gen. nen. Drittens. Auch wenn wir im Parlament nicht in die Viertens. Als Sozialdemokraten treten wir sehr enga- sachliche Aussprache zu den Ergebnissen des ersten vor- giert dafür ein, mit Blick auf den nationalen Bildungs- gelegten Bildungsberichtes eingestiegen sind, sollen hier bericht die internationale Perspektive nicht auszublen- dennoch ein paar grundsätzliche Erkenntnisse angespro- den. So wichtig es ist, eine umfassende, breit anerkannte chen werden. Für uns Sozialdemokraten ist von beson- nationale Bestandsaufnahme zu machen, so wenig kön- derem Interesse, dass Grundbildung für alle im Sinne nen wir darauf verzichten, in den internationalen Ver- von Mindestbildung und Chancengleichheit stärker in gleich in Bezug auf die Leistungsfähigkeit unseres den Blick genommen wird. Wir haben in Deutschland Bildungssystems im Sinne des lebenslangen Lernens noch einen zu hohen Grad von funktionalem Analphabe- einzutreten. Wir müssen nun einmal anerkennen, dass tismus. Ein Anteil von über 10 Prozent der jungen Men- die entscheidende Bewegung auch in der deutschen Bil- schen ohne Schulabschluss ist für ein hochentwickeltes dungsdebatte nicht durch den Vergleich der Bundeslän- Land nicht hinnehmbar. Die Zahl der jungen Menschen, der, sondern durch den PISA-Vergleich der Kompe- die ohne Berufsabschluss bleibt, ist erschreckend hoch. tenzentwicklung im Rahmen der OECD und speziell im 40 Prozent an sogenannten Studienabbrechern werfen europäischen Vergleich entstanden ist. An dieser Stelle die Frage nach der Leistungsfähigkeit unseres Hoch- treten wir als Sozialdemokraten sehr engagiert dafür ein, schulsystems bei der Vermittlung von wissenschaftlicher nicht vor weiteren Vergleichen mit neuen Aufgabenfel- Berufsqualifikation auf. Eine rückläufige Weiterbil- dern zurückzuschrecken. Das gilt unseres Erachtens für dungsbeteiligung im Widerspruch zu den Tendenzen in den Vergleich von Lehrerausbildung wie Lehrerqualifi- den erfolgreichen Bildungsnationen Europas wird schon kation und es gilt auch für das sogenannte Hochschul- mittelfristig massive Auswirkungen auf die Leistungsfä- PISA. Der internationale Vergleich heißt gerade nicht, higkeit der Wirtschaft und die Innovationsfähigkeit un- von besonderen nationalen Bedingungen und Kulturen serer Gesellschaft insgesamt haben. Auf diese Fragen abzusehen, aber sich diesen kritisch zu stellen und im müssen sich Bildungsforschung, Bildungsberichterstat- Vergleich Ansprüche, Konzepte und Handlungsmöglich- tung und vor allem Bildungsreform unseres Erachtens keiten zu überprüfen. Auch deshalb haben wir von der konzentrieren. SPD-Seite nicht verstanden, mit welcher Mischung aus Bigotterie und Hartnäckigkeit zum Beispiel konservative (B) Wir wollen gerne anerkennen, dass es durchaus hoff- (D) Kräfte die Hinweise des UN-Bildungsberichterstatters nungsvolle Entwicklungen gibt. Die Anerkennung des Muñoz abgewehrt haben. Es hätte uns doch in der Sache Rechtsanspruchs jedes Kindes auf frühkindliche Bildung und vom Prinzip her gut angestanden, sich offen, selbst- ist von Renate Schmidt als Bundesfamilienministerin in kritisch, aber auch selbstbewusst mit einer solchen Sicht der rot-grünen Regierungszeit eingeleitet worden. Wir von außen auseinanderzusetzen. Um es noch einmal können uns nur darüber freuen, dass die Nachfolge- deutlich zu sagen: Nationale Bildungsberichterstattung ministerin aus dem konservativen Bereich diese Ideen darf gerade den Blick nicht nur auf sich selbst richten, aufgenommen hat und wir auch hier einen Konsens ge- sondern muss die gesamte Bestandsaufnahme der Ent- funden haben. Was vor einiger Zeit noch unvorstellbar war, verdichtet sich auch im schulischen Bereich zu ei- wicklung in Deutschland so vornehmen, dass Stärken ner raumgreifenden Bildungsreform: Nicht mehr die und Schwächen im internationalen Vergleich, positive frühe Trennung in der weltweit fast einmaligen Mehr- und negative Entwicklungen, zukünftige Problemlagen gliedrigkeit unseres Schulsystems, sondern das längere und Vorbilder zu deren Bewältigung im nationalen Rah- gemeinsame Lernen werden zu Bildungsphilosophie und men aus dem internationalen Kontext heraus besser ver- Praxis in Deutschland. Nicht zuletzt das Ganztagsschul- standen, zielgerechter entwickelt und erfolgreicher um- programm des Bundes, das von Gerhard Schröder und gesetzt werden können. Edelgard Bulmahn gegen härteste Widerstände der kon- Wir sind zuversichtlich, dass die von Edelgard servativen Seite eingeführt worden ist, ist mittlerweile Bulmahn und den damaligen Regierungskräften aus SPD breiter Konsens. Wenn selbst Hessens Extremföderalist und Grünen angestoßene Entwicklung, hierzu auch Koch sich, wie kürzlich auf dem Ganztagsschulkongress durch eine nationale Bildungsberichterstattung beizutra- des Bundes geschehen, zum Fürsprecher des Programms gen, nicht mehr angehalten werden kann, sondern im zum Aufbau von Ganztagsschulen macht, ist schon vie- Konsens wie im konstruktiven Streit in Deutschland für les erreicht. Und mit dem ersten Integrationsgipfel, der die Zukunft zu fruchtbaren Ergebnissen führen wird. ein breites Handlungsprogramm speziell zur Förderung von zugewanderten Kindern und Jugendlichen gebracht hat, haben sich alle politischen und gesellschaftlichen Cornelia Pieper (FDP): Mit dem nationalen Bil- Kräfte vieles vorgenommen, was unter der Lebenslüge, dungsbericht „Bildung in Deutschland“ erfolgte im Jahr Deutschland sei kein Einwanderungsland, von konserva- 2006 erstmalig eine eingehende Darstellung des Bil- tiver Seite viel zu lange zugedeckt wurde. Auch hier sind dungssystems Deutschlands. Diesem echten Meilen- also offensichtlich Reformen im besten Sinne, nämlich stein auf dem Weg zu mehr Transparenz gingen jedoch für mehr Chancengleichheit und Bildung für alle auf mühsame und langwierige Verhandlungen voraus. 12280 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Mit dem Antrag „Vorlage eines nationalen Bildungs- Forschung und Technologiefolgenabschätzung nicht. (C) berichts“ (Drucksache 14/7078) forderte die FDP-Frak- Dadurch wird die Chance vertan, wichtige Hinweise der tion schon im Jahr 2001 die damalige rot-grüne Bundes- Sachverständigen für die künftige Ausgestaltung des Be- regierung dazu auf, das deutsche Bildungswesen unter richts aufzunehmen. Das ist unser hauptsächlicher Kri- die Lupe zu nehmen. Dem liberalen Antrag folgten ähn- tikpunkt. lich lautende Initiativen der CDU und der Koalition von SPD und Grünen. Der Antrag der Grünen geht auf die Auswirkung und Bedeutung des Ausbaus der Bildungsforschung und die Offensichtlich wurde, nachdem jahrelang die Augen Umsetzung der Ergebnisse in bildungspolitischen Ent- vor der bittereren Realität verschlossen wurden, die drin- scheidungen von Bund und Ländern im Rahmen des gende Notwendigkeit einer umfassenden empirischen Artikels 91 b GG ein. Im Großen und Ganzen teilen wir Bestandsaufnahme von allen Seiten erkannt und dies die ausführliche Darstellung der veränderten Rahmenbe- auch per Antrag dokumentiert. dingungen und der sich hieraus ergebenden Notwendig- Tatsächlich ist der Bericht „Bildung in Deutschland“ keiten. Allerdings belassen es die Grünen nicht hierbei, den hohen Erwartungen gerecht geworden. Er informiert sondern ziehen mit der Forderung, den Autoren des Bil- über die Wirklichkeit in deutschen Kindertagesstätten, dungsberichtes Handlungsempfehlungen abzuverlan- Klassenzimmern und Hörsälen. Mit dem ihm zugrunde gen, die falschen Konsequenzen. Denn die Berichterstat- liegenden problemorientierten Ansatz und der Möglich- tung lebt gerade von der politischen Neutralität – sie soll keit, verlaufsbezogene Fragestellungen zu erörtern, ist die Bildungsrealität transparent machen. Man kann den der Bildungsbericht ein wertvolles Instrument zur Quali- verantwortlichen Wissenschaftlern nicht zumuten, die tätsverbesserung von Bildung. politischen Entscheidungen vorwegzunehmen. Die Poli- tik ist gefordert, die richtigen Entscheidungen auf der Vor allem in einem föderalen Bildungsraum, wie wir Grundlage der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu tref- ihn in Deutschland haben, bedarf es einer kontinuierli- fen. chen Beleuchtung der Prozesse und Entwicklungen – be- sonders auf Ebene der Länder. Wir können und dürfen es Im Unterschied zum Antrag der Koalition geht unser nicht zulassen, dass das Licht, welches seitens der ver- Antrag auf die Folgerungen und Empfehlungen der An- gleichenden Bildungsstudien (hier wäre beispielsweise hörung im Ausschuss ein. Wir wollen die, insbesondere PISA-E zu nennen) die haarsträubenden Differenzen und von den Sachverständigen, als extrem wichtig erachteten das Bildungsgefälle zwischen Nord und Süd, Ost und Themen mit aufnehmen. Dementsprechend hält die West beleuchtet, einfach wieder ausgeknipst wird. Insbe- FDP-Fraktion die Erörterung von Fragen der Lehreraus- sondere der Bildungsföderalismus nötigt uns dazu, Ver- und Weiterbildung, des Lernumfeldes und Lernverhal- (B) gleiche zur Orientierung und Beförderung des Wettbe- tens, Pro-Kopf-Ausgaben für Bildung für sehr brisant. (D) werbs anzustrengen. Ohne die öffentlichkeitswirksame Auch die Entwicklung der Angebote im Rahmen des le- Dokumentation der länderspezifischen Leistungsniveaus benslangen Lernens sollten stärker fokussiert werden, da würde das deutsche Bildungswesen wieder im Dunkel wir hierbei durch große Defizite im internationalen Be- der Vor-PISA-Ära versinken. Wer Wettbewerb zwischen reich auffällig geworden sind. Nicht vergessen werden den Bildungseinrichtungen will, muss auch für Transpa- sollte die Analyse übergreifender Entwicklungen, wie renz der Leistungsergebnisse sorgen. Vor allem sollte die zum Beispiel die Untersuchung der Bedeutung und Ent- KMK ihrem neuen Auftrag nach der Föderalismusre- wicklung der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie form als gesamtstaatlicher Koordinator von Bildung ge- oder die enorme Resonanz von Schulen in freier Träger- recht werden und für bundesweit vergleichbare Schulab- schaft im deutschen Bildungsraum. schlüsse und eine bundeseinheitliche Lehrerausbildung Gerade in der vor kurzem eingegangenen Antwort der sorgen. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion wird genau das von uns abverlangen. FDP über „Entwicklung der Schulen in Freier Träger- Betrachtet man die Anträge der Koalition und von schaft in Deutschland“ (Drucksache 16/6480) wurde die Bündnis 90/DIE GRÜNEN, so kommt man zu dem mangelhafte Kenntnis der Verantwortlichen über die Si- Schluss, dass die Bedeutung der Bildungsforschung und tuation freier Schulen deutlich. Dementsprechend leitete Bildungsberichterstattung erkannt worden ist. die Bundesregierung die erste Frage mit dem Satz ein: „In der deutschen Schulforschung wird den Privatschu- Dem Antrag der Koalition und den darin enthaltenen len bisher kaum Aufmerksamkeit geschenkt; insbeson- Aussagen und Forderungen könnte man sich in wesentli- dere fehlen aussagekräftige Schulleistungsvergleiche chen Teilen anschließen. Insbesondere die Betonung der zwischen staatlichen und privaten Schulen.“ Zu Bezu- Notwendigkeit einer politischen Unabhängigkeit bei der schussung, Förderung, Schulgeld, rechtlichen Rahmen- Bildungsberichterstattung erscheint mir sehr wichtig. bedingungen konnte die Bundesregierung auch keine Wenn wir tatsächlich mit dem Bildungsbericht ein In- Aussage treffen. Ein Indiz dafür, wie wichtig es ist, dass strument der bildungspolitischen Steuerung, auch als wir uns diesem Thema widmen. Orientierungsrahmen für die Länder, entwickeln, dann dürfen hier ideologiegestützte und unfundierte Forderun- Wir begrüßen die Absicht, die Bildungsberichterstat- gen keinen Raum finden. Andernfalls wäre der Bericht tung fortzuführen und weiterzuentwickeln. Dabei müs- nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt ist. Leider sen wir jedoch darauf drängen, dass wesentliche Fragen thematisiert der Antrag von CDU/CSU und SPD die Er- im Rahmen der Erstellung des Berichts mit aufgenom- gebnisse der Anhörung des Ausschusses für Bildung, men werden. Andererseits warnen wir vor einer Politi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12281

(A) sierung der Dokumentation. Mit dem FDP-Antrag wer- Doch selbst mit solchen punktuellen Verbesserungen (C) den die wesentlichen Probleme fokussiert, ohne dabei könnte das Instrument der Bildungsberichterstattung der Berichterstattung den politischen Stempel aufzudrü- nicht über seine Begrenztheit hinwegtäuschen. Die cken. Deswegen bitte ich um Zustimmung zu unserer Linke hält weiterhin daran fest, dass die Föderalismus- Initiative. reform I insbesondere aus bildungspolitischer Perspek- tive ein fataler Schritt war. Wir begrüßen, dass das mitt- lerweile bis ins Bundesministerium für Bildung und For- Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Vor über einem Jahr wurde die Föderalismusreform verabschiedet. Die dort schung hinein erkannt wird und auf mehr Einheitlichkeit beschlossene Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsbericht- im Bildungssystem gedrungen wird. erstattung“ steckt aber immer noch in den Kinderschu- Umso wichtiger ist deshalb, dass die Föderalismus- hen. Die Veröffentlichung des ersten Bildungsberichtes reform II das Bildungssystem erneut in den Blick nimmt. konnte keine wesentlichen Impulse zur Weiterentwick- Grundlegende Fehler müssen hier korrigiert und darüber lung des Bildungssystems erbringen. Die Vorbereitung hinaus müssen auch neue Vorschläge diskutiert werden. des zweiten Bildungsberichtes wird nicht zu einer öf- Die Linke fordert, dass bei der Föderalismusreform II fentlichen Debatte über Probleme und Herausforderun- zum Ziel gesetzt wird, eine bessere finanzielle Ausstat- gen des Bildungssystems genutzt. So darf das nicht wei- tung für alle Bildungsphasen zu erreichen. Notwendig tergehen. Die Misere unseres Bildungssystems ist viel zu hierfür ist, dass eine neue Gemeinschaftsaufgabe „Bil- groß. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass – wie es der dungsfinanzierung“ geschaffen wird. Nur wenn Bund UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, und Länder zukünftig gemeinsam die Möglichkeit ha- Vernor Muñoz, festgestellt hat – das Recht auf Bildung ben, bildungspolitische Maßnahmen zu finanzieren, kön- missachtet und zum Teil mit den Füßen getreten wird. nen durch die Bildungsberichte aufgezeigte Probleme Wenn die Bildungsberichterstattung dazu beitragen soll, auch gelöst werden. Ansonsten läuft die Bildungsbe- Missstände im deutschen Bildungssystem zu beseitigen, richterstattung ins Leere. Denn nur, wenn sich Vorhaben dann muss sie grundlegend anders ausgerichtet werden. und Programme auch finanziell untersetzen lassen, wer- Im Zentrum der Bildungsberichterstattung muss die den sie mehr als nur unverbindliche Ankündigungen. öffentliche Debatte stehen. Mit der Erarbeitung und Ver- öffentlichung der Bildungsberichte muss diese befördert Der Antrag der Koalitionsfraktionen greift all diese werden. Gemeinsam mit den Betroffenen aus Kitas, Fragen und Probleme nicht auf. Er schlägt ein reines Schulen und Hochschulen müssen sich Wissenschaftle- „Weiter so!“ vor. Auf diese Weise lässt sich die Misere rinnen und Wissenschaftler sowie Politikerinnen und Po- des Bildungssystems nicht verbessern. Die Linke lehnt den Antrag aus diesem Grund ab. (B) litiker darüber verständigen, welche Ziele sie sich im (D) Bildungssystem setzen und wie sie die vor ihnen liegen- den Herausforderungen angehen wollen. Dazu ist es un- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- erlässlich, dass zukünftige Bildungsberichte klare und NEN): Meine heutige Rede zur Bildungsberichterstat- konkrete Empfehlungen an die Politik beinhalten. tung erscheint mir wie ein Déjà-vu: Alle Kritikpunkte, die ich bei der ersten Lesung äußerte, sind bis jetzt nicht Der erste Bildungsbericht machte deutlich, dass eine ausgeräumt. Der Koalitionsantrag zur Bildungsbericht- reine Darstellung der Fakten zu so gut wie keinen politi- erstattung stellt uns nicht zufrieden. Wir freuen uns schen Handlungen führt. Damals verweigerte die Bun- zwar, dass auch die Große Koalition eingesehen hat, desregierung den Autorinnen und Autoren, konkrete dass sie den nationalen Bildungsbericht nicht erst auf Handlungsoptionen aus den Analysen zum Bildungssys- Antrag der Opposition behandeln kann, sondern ihn dem tem abzuleiten. Bundestag vorlegen muss. Bei regelmäßiger Befassung Daneben muss der zweite Bildungsbericht einige we- mit diesem Thema würde die Koalition dann ja vielleicht sentliche inhaltliche Lücken schließen, die im ersten Be- auch erkennen, dass einige ihrer Behauptungen nach den richt noch zu konstatieren waren. Zum einen fehlt eine empirischen Ergebnissen nicht haltbar sind. So heißt es Darstellung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung. Außer- im Koalitionsantrag, der Bildungsstand in der Bevölke- dem muss die Situation chronisch kranker und behinder- rung sei kontinuierlich gestiegen. Leider stimmt dies für ter junger Menschen durchgängig und im Gesamten be- Deutschland nicht mehr, wie die jüngste OECD-Studie leuchtet werden. „Bildung auf einen Blick“ zeigt: Zum einen stagniert im Vergleich mit anderen OECD-Staaten der Anteil der Hinzu kommt das Thema „Privatisierung der Bil- Akademiker insgesamt, so dass wir hier von Rang 10 auf dung“. In den vergangenen Tagen und Wochen wurden Rang 22 zurückgefallen sind. Zum anderen hat in der vermehrt Zahlen zu den Entwicklungen an Privatschulen jüngeren Generation ein kleinerer Anteil der Menschen veröffentlicht. Aber nicht nur institutionell ist eine mas- einen tertiären Bildungsabschluss als in der älteren Ge- sive Zunahme privatwirtschaftlich organisierter Bildung neration. festzustellen. Neben verstärkter Werbung an Schulen, dem sogenannten Schulsponsoring, gewinnt auch die Geradezu lächerlich ist die Forderung der Koalitions- private Nachhilfe an Bedeutung. Die Bundesregierung fraktionen, die neue Gemeinschaftsaufgabe weiterzuent- darf sich dieser Entwicklung nicht versperren und muss wickeln. Erst sorgen Sie mit Ihrer völlig verfehlten Fö- die Gefahr der zunehmenden sozialen Ungleichheit er- deralismusreform dafür, dass dem Bund nahezu forschen lassen. sämtliche Bildungskompetenzen entzogen wurden, dann 12282 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) wollen Sie im Nachhinein wieder mehr Einwirkungs- nannten Sinne wirken, wenn in ihrem Rahmen Hand- (C) möglichkeiten. Das ist unglaubwürdig. lungsoptionen aufgezeigt werden, eine öffentliche De- batte stattfindet und die Aufarbeitung sowie der Transfer Wir Grünen meinen, dass nach wie vor ein Konstruk- der Forschungsergebnisse sichergestellt werden. Folg- tionsfehler des nationalen Bildungsberichts nicht beho- lich: Wer Bildungsberichterstattung will, darf weder vor ben ist. Er besteht darin, dass Empfehlungen nicht er- Handlungsempfehlungen noch vor Reformen Angst ha- wünscht sind und Ergebnisse des Berichts nicht ben. debattiert werden. Geht es nach dem Willen der Großen Koalition ist dies auch in Zukunft nicht vorgesehen. Dem können wir nicht zustimmen. Wer wie die Bil- Dr. Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der dungsministerin immer gerne das Wort der wissensba- Bundesministerin für Bildung und Forschung: Die Bun- sierten Steuerung vor sich her trägt, sollte sich anstren- desregierung setzt auf die Potenziale der Menschen in gen, den nationalen Bildungsbericht zu einem echten Deutschland. Kluge Köpfe und hervorragend qualifi- Instrument der Steuerung zu machen. Dann darf man zierte Fachkräfte sind die Grundlage für Wohlstand und aber den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wirtschaftliche Stärke. Dynamische Aufholprozesse bei nicht den Mund verbieten. der Bildungsbeteiligung etwa in den asiatischen Schwel- lenländern, der demografische Wandel in Deutschland Auch setzen wir uns dafür ein, dass die Schwerpunkt- und ein sich abzeichnender Fachkräftemangel insbeson- setzung des jeweiligen Bildungsberichts nicht im stillen dere in den sogenannten MINT-Berufen machen deut- Kämmerlein festgelegt wird, sondern aus der Debatte lich: Alle Begabungen und Talente in unserem Land mit den Akteurinnen und Akteuren im Bildungsbereich werden gebraucht. Niemand darf zurückgelassen wer- – also aus Wissenschaft, Parlamenten, Bildungsverwal- den, jeder braucht eine Chance auf Einstieg in Bildung tung und -einrichtungen etc. – entsteht. Der nationale und Aufstieg durch Bildung. Dies gilt in besonderer Bildungsbericht muss außerdem dem Deutschen Bun- Weise für diejenigen, die aus den unterschiedlichsten destag zeitnah zur Auswertung vorgelegt werden. Die Gründen Schwierigkeiten haben und Defizite abbauen Länder sollten dieses Verfahren gegenüber den Landta- müssen. Wir können es uns nicht leisten, vorhandene Po- gen ebenfalls anwenden; aber das können wir hier nicht tenziale für Bildung und Qualifizierung nicht zu nutzen. beschließen. Bund und Länder sollten dann gemeinsam Umsetzungsstrategien zu den im Bericht gemachten bil- Deshalb hat die Bundesregierung auf ihrer Klausurta- dungspolitischen Empfehlungen erarbeiten. gung in Meseberg wichtige Impulse für eine bessere Über den Bildungsbericht hinaus ist noch einiges zur Ausschöpfung aller Begabungsreserven beschlossen. Sie Bildungsforschung insgesamt zu sagen. Seit der missra- werden in einer Nationalen Qualifizierungsinitiative ge- (B) tenen Föderalismusreform lobt die Bundesbildungsmi- bündelt, die das gesamte Spektrum unseres Bildungswe- (D) nisterin die Bundes(rest)kompetenz der Bildungsfor- sens umfasst: angefangen von der frühkindlichen Bil- schung in den Himmel. Dann erwarten wir aber auch, dung über die Schule, die berufliche Bildung und das dass endlich das für den Herbst angekündigte Rahmen- Studium bis hin zur kontinuierlichen Weiterbildung programm zur Bildungsforschung vorgelegt wird. Ich während des gesamten Berufslebens. bin gespannt, ob es der Herbst 2007 sein wird. Alle Beteiligten – Länder, Unternehmen, Sozialpart- Wir Grüne wollen die Bildungsforschung stärken und ner, Verbände – sind aufgefordert, sich an diesem Pro- hierbei folgende Schwerpunkte setzen: Unterrichtsquali- zess zu beteiligen. Auf der Grundlage des Kabinettsbe- tät an Schulen und pädagogische Konzepte bei der Ent- schlusses zur Nationalen Qualifizierungsinitiative wicklung von Halbtags- zu Ganztagsschulen; Lehreraus- streben wir eine gemeinsame Strategie von Bund und und -fortbildung sowie der Umgang mit heterogenen Ländern an, die auf einem Qualifizierungsgipfel der Re- Lerngruppen. Mehr Forschung brauchen wir auch in den gierungschefs im Herbst 2008 auf den Weg gebracht Bereichen informelles Lernen, Weiterbildung, Umset- werden soll. zung des Bologna-Prozesses sowie Bildungszugang und Bildungserfolg von Menschen mit Migrationshinter- Um gemeinsame Zielsetzungen für die Weiterent- grund und aus sozial benachteiligten Familien. Aus grü- wicklung unseres Bildungswesens zu formulieren, müs- ner Sicht sollte sich Deutschland auch auf jeden Fall am sen wir uns zunächst vergewissern, wo wir stehen. Der sogenannten Lehrer-PISA der OECD beteiligen. Wir erste nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutsch- halten es außerdem für notwendig, zu evaluieren, wie die land“, der im Juni 2006 im Auftrag des Bundesbildungs- noch nicht abgeschlossenen Projekte der Bund-Länder- ministeriums und der Kultusministerkonferenz durch un- Kommission, BLK, in den Bundesländern weitergeführt abhängige Experten vorgelegt wurde, liefert hierfür eine wurden. Auch würden wir gerne wissen, welche neuen unverzichtbare Grundlage. Zwei Merkmale des Berichts Modellversuche aus den Kompensationsmitteln für die sind in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen: Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung“ auf Länder- Zum einen erfolgt mit dem nationalen Bildungsbe- ebene finanziert werden. richt erstmals ein systematischer indikatorengestützter Bildungsforschung und Bildungsberichterstattung sind Überblick über alle Bereiche des deutschen Bildungswe- wichtig, sowohl als Grundlage für bildungspolitische sens, von der frühkindlichen Bildung bis hin zur Weiter- Entscheidungen als auch für die Weiterentwicklung der bildung. Diese Betrachtung des Lernens im Lebenslauf, Praxis in den Bildungseinrichtungen. Bildungsforschung entlang der gesamten Bildungsbiografie, kennzeichnet und Bildungsberichterstattung können aber nur im ge- auch die Nationale Qualifizierungsinitiative. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12283

(A) Zum anderen ist der nationale Bildungsbericht beibehalten. Die umfassende Darstellung des Bildungs- (C) – ebenso wie internationale Leistungsvergleiche – ein wesens über die jeweiligen Institutionen und Verant- zentrales Element der neuen Gemeinschaftsaufgabe von wortlichkeiten hinweg verdeutlicht, dass die Nahtstellen Bund und Ländern. Eine gute Bildungsberichterstattung und Übergänge im Bildungssystem besondere Aufmerk- bietet den Verantwortlichen in Bund und Ländern eine samkeit verdienen. BMBF und KMK haben sich deshalb verbesserte Grundlage für bildungspolitische Entschei- darauf verständigt, den Schwerpunkt des nächsten Bil- dungen und für die Überprüfung ihrer tatsächlichen Aus- dungsberichts dem Thema „Übergänge Schule – Berufs- wirkungen. Bildungsmonitoring muss letztlich auch in bildung/Hochschulbildung – Arbeitsmarkt“ zu widmen. bildungspolitisches Handeln münden. In anderen Bereichen wollen wir die Bildungsbericht- Genau dies ist nach der Vorlage des nationalen Bil- erstattung weiterentwickeln: Die Autoren streben für den dungsberichts auch geschehen. Bund und Länder haben kommenden Bericht eine stärkere Problemorientierung noch im Jahr des Erscheinens des ersten nationalen Bil- und die verstärkte Berücksichtigung aktueller Bezüge dungsberichts gemeinsame Schlussfolgerungen aus der an. Sie greifen damit Ergebnisse der Anhörung des Aus- Analyse gezogen, die Maßnahmen in ihren jeweiligen schusses für Bildung, Forschung und Technikfolgen- Zuständigkeiten umfassten. Die Bundesregierung hat in abschätzung Anfang dieses Jahres auf. Die Weiterent- ihrer Stellungnahme zum Bildungsbericht dem Schwer- wicklung der Indikatoren wird außerdem durch ein punktthema „Migration“ besondere Aufmerksamkeit ge- flankierendes Forschungsprojekt des BMBF gefördert, schenkt. Besonders hervorzuheben sind darin Maßnah- das insbesondere die Indikatorisierung von Bildungsver- men innerhalb des Ausbildungspakts, in Programmen läufen und die Darstellung der Übergänge im Bildungs- der beruflichen Bildung und Nachqualifizierung sowie wesen verbessern soll. die Unterstützung der Länder bei der individuellen Sprachförderung durch Bildungsforschung. Darüber hi- Die Bildungsberichterstattung markiert als Teil eines naus haben wir konkrete Aktivitäten im Hochschul- und umfassenden Monitoringsystems die Hinwendung zu ei- Weiterbildungsbereich in Angriff genommen. Beispiele ner neuen bildungspolitischen Steuerungsphilosophie. dafür sind der Hochschulpakt zur Sicherung der Ausbil- Über die Kernelemente dieses Paradigmenwechsels be- dungschancen der jungen Generation und die Entwick- steht weitgehend Einigkeit: Im Wesentlichen handelt es lung einer Gesamtstrategie „Lernen im Lebenslauf“ mit sich um ein sinnvoll aufeinander abgestimmtes System Unterstützung des Innovationskreises Weiterbildung, die von regelmäßigen Schulevaluationen, von nationalen durch das neue Finanzierungsinstrument des Weiterbil- und internationalen Leistungsuntersuchungen, einer un- dungssparens flankiert wird. abhängigen und wissenschaftlichen Bildungsbericht- erstattung. All dies setzt eine hoch leistungsfähige empi- Ein falscher Weg wäre es hingegen, wenn die Verfas- (B) rische Bildungsforschung voraus. Das BMBF wird (D) ser des Bildungsberichtes gleichzeitig Handlungsemp- deshalb die empirische Bildungsforschung durch ein fehlungen aussprechen sollten. Hier bin ich ebenso wie Rahmenprogramm strukturell stärken und die verschie- die Autoren des Berichtes der Auffassung, dass es guter denen Handlungsoptionen des BMBF im Bereich der in- wissenschaftlicher Praxis entspricht, Beobachtung und Berichterstattung von Schlussfolgerungen und Empfeh- stitutionellen Förderung, der Ressortforschung, der Pro- lungen zu trennen. Der Sprecher des Konsortiums hat in jekt- und Programmförderung – auch mit den Ländern – der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Bildung, so bündeln, dass ein kontinuierlich wachsendes Potential Forschung und Technikfolgenabschätzung nachdrück- entsteht. lich für eine Unterscheidung beider Aufgaben, also für Zur strukturellen Stärkung der empirischen Bildungs- eine Trennung zwischen Monitoring und Handlungsvor- forschung werden Schwerpunkte gesetzt bei der Quali- schlägen, plädiert. tätsentwicklung und -sicherung der vom BMBF – bzw. Bei der Erstellung des Berichts wurde in vielerlei gemeinsam vom BMBF und von den Ländern – geför- Hinsicht – etwa bei der disziplinübergreifenden Koope- derten Bildungsforschung. Gezielte Maßnahmen zur ration und im methodischen Bereich – Neuland beschrit- Nachwuchsförderung sind sowohl im Kontext Bund- ten. Im Schwerpunktkapitel des Berichtes erlaubt das Länder-geförderter Projekte als auch – in Abstimmung neue Erfassungskonzept zum Migrationshintergrund mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft – durch spe- eine erheblich aussagekräftigere Darstellung der Situa- zielle Stipendienprogramme vorgesehen. Ein besonderes tion von Migrantinnen und Migranten. Der Bericht 2006 Augenmerk werden wir zudem der Förderung des inter- zeigt, dass Bildungsbeteiligung und Bildungsstand der nationalen Austausches sowie der Verbesserung der Da- Bevölkerung insgesamt zugenommen haben; er belegt tengrundlagen und der Datenverfügbarkeit für die For- aber auch, dass andere Länder bei der Verbesserung ih- schung widmen. res Bildungssystems weiter sind. Ein Hauptproblem in Deutschland ist nach wie vor der enge Zusammenhang Das Bundesministerium für Bildung und Forschung zwischen sozialer Herkunft bzw. Migrationshintergrund wird ebenfalls in weiterhin enger Abstimmung mit den und Bildungserfolg. Ländern und der DFG die Voraussetzungen für die Eta- blierung eines wissenschaftsgetragenen, nationalen Bil- Beim nächsten Bildungsbericht, der 2008 erscheint, dungspanels schaffen, das uns erlaubt, empirisch tragfä- können Auftraggeber und Autoren nun schon auf einigen hige Erkenntnisse über Bildungsverläufe unter je Erfahrungen aufbauen. Die Orientierung am Konzept spezifischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen des „Lernens im Lebenslauf“ hat sich bewährt und wird zu generieren. 12284 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) All diese Maßnahmen werden letztlich auch die Da- vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge- (C) tenbasis für die Berichterstattung über „Bildung im rechtfertigt. Lebenslauf“ deutlich verbessern. Mit den Kooperations- möglichkeiten im Rahmen der neuen Gemeinschaftsauf- Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab- gabe und mit den bereits erreichten Fortschritten beim gelehnt. Monitoring unseres Bildungssystems sind wir auf einem guten Weg, den wir mit der Nationalen Qualifizierungs- Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Worüber reden initiative konsequent weiter beschreiten werden. wir eigentlich? Und ist diese Debatte überhaupt notwen- dig?

Anlage 4 Der Bundestag hat 2002 und 2003 zwei Beschlüsse gefasst, und zwar mit großer Mehrheit. Diese Beschlüsse Zu Protokoll gegebene Reden sind eindeutig und sie bleiben verbindlich für alle Betei- ligten und für den auszuschreibenden Wettbewerb. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts zu dem Antrag: Klare Konzepte für Diese Beschlüsse haben zwei wesentliche Inhalte: den Bau des Berliner Schlosses (Tagesord- nungspunkt 14) Erstens. Das Projekt „Humboldt-Forum“: Es ist eine faszinierende Idee, die außereuropäischen Kulturen in die Mitte der deutschen Hauptstadt zu holen und in eine Renate Blank (CDU/CSU): Als Berichterstatterin Beziehung des Dialogs zur europäischen Kultur auf der meiner Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Ber- Museumsinsel zu bringen. Dieses Projekt ist von exzep- liner Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums tionellem Rang, es dürfte einzigartig in der Welt werden. mit dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst Deswegen ist es gut und konsequent, dass Minister dann für sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau einen Realisierungsvorschlag vor- und Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat. gelegt hat, der die allein öffentliche Finanzierung des Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia- Projektes vorsieht. Diese Finanzierung, dieser Vorschlag lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an- sind dem außerordentlichen Projekt angemessen, ich be- gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be- grüße sie sehr. schäftigt haben wird. Zweitens. Das zu errichtende Gebäude soll Ge- Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta- schichte vergegenwärtigen: Der Bundestag hat beschlos- ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit und sen, dass die drei Barockfassaden des Schlosses an der (B) (D) sind Grundlage des weiteren Verfahrens. Nord-, West-, Südseite und ebenso der Schlüterhof wie- dererrichtet werden, das ganze Gebäude soll in der Ku- Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe- batur des Schlosses erbaut werden. derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo- Das sind die beiden wesentlichen Punkte unserer dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine Bundestagsbeschlüsse. vorzeitige Debatte des FDP-Antrages sachlich nicht ge- Und nun zitiere ich aus dem Entwurf des Auslobungs- rechtfertigt. textes zum Realisierungswettbewerb für das Projekt: Der FDP-Antrag wird daher von meiner Fraktion ab- Aufgabe des Wettbewerbs ist es, eine überzeugende gelehnt. städtebauliche und architektonische Gesamtkonzeption zur Unterbringung des Nutzungskonzepts Humboldt- Petra Weis (SPD): Als Berichterstatterin meiner Forum in einem Gebäude zu schaffen. Das Humboldt- Fraktion zum Thema „Wiederaufbau des Berliner Forum Berlin/Stadtschloss ist Ort für die Bildung im Schlosses“ erachte ich eine Befassung des Plenums mit Sinne der Vermittlung und Auseinandersetzung von und dem vorliegenden Antrag der FDP-Fraktion erst dann für mit der außereuropäischen Kunst und Kultur. Der Bau sinnvoll, wenn der Ausschuss für Verkehr, Bau und hat sich am Grundriss und den Höhenmaßen des ehema- Stadtentwicklung diesen Antrag beraten hat. ligen Berliner Schlosses unmittelbar vor dessen Zerstö- rung, 1950, zu orientieren. Dabei ist die Wiedererrich- Zudem ist eine sachgerechte Befassung aus kollegia- tung der barocken Fassaden auf der Nord-, West- und lem Respekt vor dem Haushaltsausschuss erst dann an- Südseite sowie innerhalb des Schlüterhofes vorzusehen. gezeigt, wenn sich auch dieser Ende Oktober damit be- Die Stereometrie des ehemaligen Schlosses ist mit Aus- schäftigt haben wird. nahme der Ostseite und des ehemaligen Eosanderhofes Die eindeutigen Beschlüsse des Deutschen Bundesta- einzuhalten. Der Bereich des ehemaligen Apothekerflü- ges aus den Jahren 2002 und 2003 haben Gültigkeit und gels ist hiervon ausgenommen und bleibt, wie der nach sind Grundlage des weiteren Verfahrens. Osten zur Spree gelegene Bereich, frei gestaltbar. Die ar- chitektonische Gestaltung des auf dem Schlossareal ge- Der für die städtebaulichen Aspekte des Projekts fe- planten Gebäudes, insbesondere das Verhältnis von Nut- derführend zuständige Ausschuss für Verkehr, Bau und zung und Innengestaltung, muss der kulturellen Nutzung Stadtentwicklung wird sich in Kürze auch mit den Mo- des Humboldt-Forums ebenso wie der historischen Be- dalitäten des Wettbewerbs beschäftigen. Insofern ist eine deutung des Ortes gerecht werden. Der Entwurf soll die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12285

(A) geschichtlichen Brüche und Zeitschichten des Ortes Schloss gibt es noch nicht einmal eine seriöse Planung, (C) Schlossareal erfahrbar machen. da explodieren schon die Kosten. Herr Tiefensee will plötzlich 72 Millionen Euro für die Erstausstattung des Des Weiteren wird mehrfach betont, dass die Wie- Gebäudes haben. Davon war bisher nie die Rede. dererrichtung der barocken Fassaden verbindliche Vor- gabe der Auslobung sei, dass es darum gehe, die Rekon- Der Haushaltsausschuss hat die Finanzplanung für struktion barocker Schlossfassaden mit einem Gebäude das Schloss als mangelhaft zurückgewiesen. Das Schloss kultureller Nutzung zu verbinden, ja, dass auch eine soll – nach Aussagen der Bundesregierung – Kuppel im Bereich des ehemaligen Hauptportals berück- 480 Millionen Euro kosten. Das ist eine Luftbuchung für sichtigt werden solle. ein Luftschloss. Die Bundesregierung und die FDP ge- hen zum Beispiel davon aus, dass 80 Millionen Euro Was ist daran zu kritisieren? Was ist daran unklar? Spenden gesammelt werden. Wozu also die Aufregung, werte Kollegen von der FDP? Sie sehen doch, dass im Auslobungstext der Auftrag un- Ich zitiere Ihren Antrag: serer Bundestagsbeschlüsse sich auf eindeutige Weise wiederfindet. Diese Summe wird vom Förderverein Berliner Schloss e.V. erbracht werden, der bereits knapp Wir haben ein gemeinsames, jedenfalls mehrheitli- 14 Mio. Euro Spenden bzw. verbindliche Spenden- ches Interesse daran, dass dieser eindeutige Auftrag auf zusagen gesammelt hat. Die Baukosten der architektonisch, auf ästhetisch überzeugende Weise re- Schlossfassade werden erforderlicherweise vom alisiert wird. In diesem Sinne hoffen wir, dass der Wett- Bund vorfinanziert. bewerb baldmöglichst ausgeschrieben werden kann, dass auch manch skeptischer Haushaltspolitiker von der Ich frage, woher wissen Sie, dass der Verein bereits Faszination dieses Projektes ergriffen wird. Bleibt die 14 Millionen Euro Spenden gesammelt hat? Haben Sie Frage nach der Besetzung der Fachjury. Ich höre: Es ist Einsicht in die Bücher des Vereins bekommen? Ich habe nicht ganz leicht, diese Fachjury zu besetzen. Einerseits die Bundesregierung gefragt, ob sie Einsicht in das gibt es Ablehnung oder Skepsis gegenüber der Aufgabe, Spendenkonto des Fördervereins Berliner Schloss e. V. Historisches zu rekonstruieren und mit Modernem zu genommen hat. Die Antwort war: Nein. Ich kenne kei- verbinden. Andererseits gibt es Respekt, ja vielleicht so- nen Menschen, der seriöse Belege über die bereits ge- gar Angst vor der Größe und Schwierigkeit dieser Auf- sammelten Spenden des Vereins vorweisen könnte. gabe. Das ist ja durchaus verständlich. Ich höre aber auch: Manche prominente Architekten wollen nicht in Wenn Sie ein Haus bauen wollen und gehen zur Bank die Jury, weil sie sich am Wettbewerb beteiligen wollen. und können keinen Nachweis erbringen, dass Sie Ihren (B) Das ist doch ein wahrlich erfreulicher Ablehnungsgrund. Eigenanteil erbringen können, dann schickt Sie der (D) Trotz dieser Besetzungsschwierigkeiten gilt: Die Jurybe- Bankangestellte wieder nach Hause. So ist das in der setzung darf nicht von Schlossgegnern dominiert wer- freien Marktwirtschaft. Die Bundesregierung legt dem den. Das halte ich für schlicht selbstverständlich. Bundestag ein Finanzierungskonzept vor, in dem 80 Mil- lionen Euro Spenden fest eingeplant sind, ohne je Ein- Wenn immer wieder Zweifel an der Spendenbereit- sicht in die Unterlagen des Vereins genommen zu haben, schaft für die Schlossfassaden geäußert werden, Zweifel der diese Spenden akquirieren soll. Das ist doch ein daran, dass die angekündigten 80 Millionen Euro auch schöner Fall für den Bund der Steuerzahler. Bemerkens- tatsächlich erreicht werden, sage ich: Erst wenn das fas- wert ist auch die Vorstellung der FDP, dass, wenn die zinierende Projekt wirklich in Gang gekommen ist, kann Spendengelder nicht kommen, der Staat einspringen soll. und wird seine Faszination auch ansteckende Wirkung entfalten können! Blicken wir nach Dresden: Beim Be- Die Linke lehnt den FDP-Antrag aus vielen Gründen ginn des Wiederaufbaus der Frauenkirche waren längst ab, ich lehne ihn ab, weil wir jetzt nicht über die Anbrin- nicht alle notwendigen Spendengelder gesammelt. Im gung von Gardinen im Schlafzimmer des Königs nach- Gegenteil: Erst nach Baubeginn nahm die Spenden- denken müssen, bevor wir nicht ein sauberes Finanzkon- freude zu. Warum sollte das in Berlin ganz anders sein? zept haben. Wir haben also keinen Grund zur Miesepetrigkeit, zu übertriebenem Misstrauen, zu hysterischer Aufregung. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Als Deswegen ist der FDP-Antrag überflüssig. Berichterstatter meiner Fraktion zum Thema „Wieder- aufbau des Berliner Schlosses“ erachte ich eine Befas- sung des Plenums mit dem vorliegenden Antrag der Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Als Haushälterin FDP-Fraktion vom 4. Juli 2007 ebenfalls erst dann für will ich mich nur auf einen Punkt des Antrages konzen- sinnvoll, wenn auch der Ausschuss für Verkehr, Bau- trieren, um deutlich zu machen, wie die FDP gedenkt, und Stadtentwicklung dazu beraten hat. mit Steuergeldern umzugehen. Dieser Punkt ist deshalb so bemerkenswert, weil die FDP in den Haushaltsbera- Zudem liegt ein Antrag der Fraktion Die Linke vom tungen sonst immer sehr akribisch darauf achtet, dass 4. Juli 2007 mit dem Titel „Humboldtforum statt Fassa- kein Cent zu viel für soziale Aufgaben des Staates aus- denschloss – Schlossplatz mit Zukunftsorientierung“ gegeben wird. Jedoch geht die FDP in der Schlossfrage vor, der bislang ebenfalls noch nicht im Ausschuss für ausgesprochen spendabel – besser gesagt: verschwende- Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung beraten werden risch – mit dem Geld der Steuerzahler um. Für das konnte. 12286 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Ich halte es für darüber hinaus für angeraten, darauf cherung anzubieten, was besonders für kleinere (C) zu warten, bis die Kolleginnen und Kollegen des Haus- Unternehmen von Interesse ist. haltsausschusses dieses wichtige Thema Ende Oktober ebenfalls beraten haben. Der Gesetzgeber hat die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung ursprünglich bis Ende 2008 befris- Auch wenn meine Fraktion die Beschlüsse aus den tet, weil man nur einen Anstoß für den Aufbau betriebli- Jahren 2002 und 2003 durchaus kritisch bewertet, so cher Altersvorsorgesysteme geben wollte. Im Koali- verbietet uns der Respekt vor parlamentarischen Be- tionsvertrag hatten CDU/CSU und SPD vereinbart: „Im schlüssen, diese immer wieder infrage zu stellen. Jahr 2007 wird geprüft, welchen Verbreitungsgrad die betriebliche und private Altersvorsorge erreicht hat und Inhaltlich gäbe es dagegen viel zu der irritierenden wie die weitere Entwicklung des Ausbaus einzuschätzen und unvollständigen Informationspolitik des Bundes- ist. Wenn sich zeigt, dass durch die Förderung mit den ministeriums für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung, bisherigen Instrumenten eine ausreichende Verbreitung zu den drohenden Mehrkosten und zu den Anträgen der der zusätzlichen Altersvorsorge nicht erreicht werden FDP und der Linken zu sagen. Dazu sollten wir uns je- kann, ist über geeignete weitere Maßnahmen zu ent- doch mehr Zeit nehmen und uns diese vorzeitige Debatte scheiden.“ Grundlegende Zielsetzung der Regierungs- ersparen. fraktionen ist, die Altersvorsorge der Arbeitnehmerinnen Meine Fraktion wird sich bei der Abstimmung über und Arbeitnehmer auf mehrere Säulen zu stellen und so- den Antrag der FDP-Fraktion der Stimme enthalten. mit sicherer zu gestalten. Um die positive Entwicklung bei der betrieblichen Altersvorsorge zu unterstützen, ha- ben sich mittlerweile sowohl der Deutsche Gewerk- Anlage 5 schaftsbund als auch die Bundesvereinigung der Deut- schen Arbeitgeberverbände für eine Fortführung der Zu Protokoll gegeben Reden Sozialversicherungsfreiheit ausgesprochen. Heute schlägt die Koalition mit ihrem Gesetzentwurf zur Förderung zur Beratung: der betrieblichen Altersversorgung vor, dass die steuer- – Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der und beitragsfreie Entgeltumwandlung über das Jahr betrieblichen Altersversorgung 2008 hinaus unbefristet erhalten bleibt und dass zudem die Unverfallbarkeit für arbeitgeberfinanzierte Betriebs- – Antrag: Abgabenfreie Entgeltumwandlung rentenanwartschaften von 30 auf ein Alter von 25 Jahren über 2008 hinaus fortführen und ausbauen abgesenkt wird. – Antrag: Beitragsfreie Entgeltumwandlung – Die Ansprüche an die Sicherheit der betrieblichen Al- (B) (D) Erst prüfen, dann entscheiden tersvorsorge im Zuge der Entgeltumwandlung sind zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer be- Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- wusst hoch angesetzt worden. Eine vom Arbeitnehmer nungspunk 8) durch Entgeltumwandlung finanzierte Direktversiche- rung darf nicht durch den Arbeitgeber verpfändet, abge- Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Seit 2002 treten oder beliehen werden. Die Alterssicherung muss haben alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer grund- durch den Arbeitnehmer auch dann fortgeführt werden sätzlich einen Rechtsanspruch darauf, Teile ihres Ge- können, wenn er das Unternehmen verlässt. Die Anwart- halts im Zuge der sogenannten Bruttoentgeltumwand- schaften können mit direkter Wirkung nach der Einzah- lung in die Altersvorsorge zu investieren. Außer Teilen lung nicht verfallen und bleiben auch bei Kündigung er- des laufenden Gehalts können sie dafür auch Sonderzah- halten. Damit unterscheidet sich die Entgeltumwandlung lungen wie das Urlaubs- oder Weihnachtsgeld und Ge- deutlich von Modellen, in denen der Arbeitgeber die Be- haltserhöhungen verwenden, die sie dann in Anwart- triebsrente finanziert (sogenannter interner Durchfüh- schaften auf Betriebsrenten umwandeln. Diese für die rungsweg). Dort erlangt der Arbeitnehmer die Unverfall- Altersvorsorge umgewandelten Entgelte sind Steuer- barkeit seiner Anwartschaften erst, wenn er mindestens und sozialabgabenfrei. In kürzester Zeit hat diese für Ar- fünf Jahre in dem Unternehmen beschäftigt und mindes- beitnehmerinnen und Arbeitnehmer und auch für die Ar- tens 30 Jahre alt ist. beitgeber finanziell attraktive Regelung zu einem deutli- chen Anstieg bei der Nutzung der betrieblichen In kurzer Zeit ist die Entgeltumwandlung zu einem Altersvorsorge geführt. Renner bei der betrieblichen Altersvorsorge, der dritten Säule der Rente neben gesetzlicher und privater Renten- Den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern muss versicherung, geworden. 2002 haben nur 38 Prozent der durch ihren Betrieb die Möglichkeit gegeben werden, bis Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Privatwirt- zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge- schaft in einem System betrieblicher Altersversorgung setzlichen Rentenversicherung umzuwandeln. Dem Ar- vorgesorgt, 2004 waren es bereits 46 Prozent, mittler- beitgeber bleibt überlassen, in welchem Durchführungs- weile sind es über 50 Prozent. Rechnet man die Zusatz- weg die Entgeltumwandlung stattfindet. Möglich ist dies versorgungssysteme im öffentlichen Dienst hinzu, haben in einer Pensionskasse oder einem Pensionsfonds, wie über 65 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- sie häufig bereits in den Betrieben bestehen. Der Arbeit- mer eine Betriebsrentenanwartschaft. Dieser Anstieg be- geber hat aber auch die Möglichkeit, die Entgeltum- ruht zum Großteil auf der Teilnahme an der Bruttoentgelt- wandlung als Betriebsrente in Form einer Direktversi- umwandlung. Die Beteiligung an der Entgeltumwandlung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12287

(A) zeigt zudem, dass Geringverdiener und Frauen hierdurch erhoben werden. Würde künftig doppelt verbeitragt wer- (C) in hohem Maße angesprochen werden, eine betriebliche den, ist die Entgeltumwandlung für den Aufbau einer Altersvorsorge aufzubauen. Altersvorsorge finanziell völlig uninteressant. Die Perso- nalchefs der Betriebe wären sogar verpflichtet, dann ihre Würde – gemäß der derzeit noch gültigen Gesetzes- Beschäftigten ausdrücklich auf diesen Umstand hinzu- lage – die Sozialabgabenpflicht der Entgeltumwandlung weisen. ab 2009 wieder eingeführt werden, wäre zu befürchten, dass die positive Entwicklung der betrieblichen Alters- Mein Fazit ist: Die von der Sozialabgabenfreiheit der versorgung wieder ins Stocken gerät. Zudem gibt es erste Entgeltumwandlung ausgehende Dynamik für den not- Anzeichen aus den Betrieben, dass es dann zu einer Stor- wendigen weiteren Aufbau einer zusätzlichen Altersver- nierungswelle von Entgeltumwandlungsverträgen kom- sorgung ist evident. Die finanziellen Risiken für die So- men könnte. Eine solche Entwicklung liefe völlig konträr zialversicherungen sind beherrschbar. Daher handelt die zu der politischen Zielsetzung, zusätzlich zur gesetzli- Große Koalition konsequent und richtig, indem die Bei- chen Rente die zweite und dritte Säule der Alterssiche- tragsfreiheit über 2008 hinaus verlängert wird. rung in Deutschland kontinuierlich aufzubauen. Ein Rückschritt wäre politisch unverantwortlich. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): In Deutschland haben Der für die Einführung der Sozialabgabenpflicht der zur Zeit über 17 Millionen Beschäftigte Ansprüche auf Entgeltumwandlung ins Feld geführt Einwand, dass die eine Betriebsrente. Von diesen 17 Millionen sind rund Sozialversicherungen die Einnahmeausfälle nicht ver- 9 Millionen Menschen aktive „Entgeltumwandler“ und kraften könnten, ist in dieser pauschalen Form nicht damit direkt von dem vorliegenden Gesetzentwurf be- stichhaltig: Für die Rentenversicherung gilt, dass den troffen. Sie können schon bald erleichtert aufatmen; Einnahmeausfällen keine Rentenansprüche gegenüber denn mit der unbefristeten Verlängerung der Beitrags- stehen, das heißt, hier ergeben sich keine zusätzlichen fi- freiheit der Entgeltumwandlung bleibt diese Form der nanziellen Probleme. Allerdings führt die sozialabga- zusätzlichen Altersvorsorge vor allem für Beschäftigte benfreie Entgeltumwandlung dazu, dass aus dem für die mit kleinen und mittleren Einkommen attraktiv. zusätzliche Altersvorsorge abgezweigten Einkommen keine Ansprüche in der gesetzlichen Rente erwachsen. Ich bin sicher, dass sich die Gesetzesinitiative auf den Für die Kranken- und Pflegeversicherung bestehen Bei- Verbreitungsgrad betrieblicher Rentenanwartschaften tragsausfälle nur für eine Übergangszeit, da die Leistun- unter den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten po- gen aus der betrieblichen Altersversorgung dann in vol- sitiv auswirken wird. Er ist unter der rot-grünen Koali- lem Umfang beitragspflichtig sein werden. Die tion von 2001 bis Ende 2006 bereits von 52 auf 65 Pro- (B) Einnahmeausfälle in Kranken- und Pflegeversicherung zent gestiegen. Der heute in den Bundestag eingebrachte (D) betrugen übrigens im Jahr 2005 nur circa 2 Promille der Gesetzentwurf stellt sicher, dass die „Erfolgsgeschichte Gesamtbeitragseinnahmen. Aktuell würden die Kran- betriebliche Altersvorsorge“ weitergeht. ken- und die Pflegeversicherung etwas geringere Ein- nahmen haben. Die Entgeltumwandlung bietet Potenzial Unter Rot-Grün haben wir mit der Stärkung der be- für den Auf- und Ausbau kapitalgedeckter Altersversor- trieblichen Altersvorsorge als zusätzlichem Standbein gung und führt langfristig zu einem höheren Gesamtver- neben der gesetzlichen Rente begonnen, in der Großen sorgungsniveau, aus welchem dann auch höhere Sozial- Koalition führen wir dies fort. Unter Rot-Grün haben wir versicherungsbeiträge gezahlt werden, sodass Kranken- ein Recht auf Entgeltumwandlung eingeführt und die und Pflegeversicherung mit steigenden Einnahmen aus Mitnahmemöglichkeiten für Betriebsrentenanwartschaf- den Zahlungen der Rentnerinnen und Rentner rechnen ten von einem Arbeitgeber zum nächsten deutlich erwei- können. tert. In der Großen Koalition haben wir den Insolvenz- Die Abschaffung der Sozialversicherungsfreiheit der schutz der Betriebsrentenanwartschaften entscheidend Entgeltumwandlung würde nicht nur zu Vertragskündi- verbessert und wollen mit dem heutigen Gesetzentwurf gungen seitens der Arbeitnehmer führen, sondern auch zwei weitere Pflöcke einschlagen: Wir verlängern ers- zu Ausweichreaktionen der Arbeitgeber. Diese werden tens die Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwandlung verstärkt von der Entgeltumwandlung auf eine zulasten in eine betriebliche Kasse und bestimmen zweitens, dass der Lohnentwicklung gehende rein arbeitgeberfinan- zukünftig schon ab einer Altersgrenze von 25 Jahren Be- zierte Altersversorgung umsteigen, die dann weiterhin triebsrentenansprüche unverfallbar sind, statt bisher erst sozialversicherungsfrei bleibt. Würde diese Option ver- ab 30 Jahren. stärkt genutzt, dürften sich die erwarteten Zusatzeinnah- Dies ist vor allem für junge Eltern wichtig. Mit dem men für die Sozialversicherungen, die bei der Abschaffung Vorziehen der Altersgrenze wird eine Kinderpause in der Sozialversicherungsfreiheit der Entgeltumwandlung Zukunft seltener negative Auswirkungen auf den Erwerb erwartet werden, ohnehin nicht einstellen. eines Betriebsrentenanspruches haben. Damit setzen wir Der Einwand, dass sich jeder auf das Auslaufen der in Deutschland um, was auf EU-Ebene bisher leider Sozialversicherungsfreiheit 2008 einstellen konnte, nicht möglich war. Eine entsprechende Richtlinie fand übersieht, was sich in der Gesetzgebung in der Zwi- nicht die ausreichende Zustimmung der Mitgliedstaaten. schenzeit geändert hat. Die Situation ist grundlegend da- Deutschland kann hier jetzt Vorreiter sein, genau zur durch verändert worden, dass mittlerweile auf eine Be- rechten Zeit, da seit dieser Woche ein überarbeiteter Vor- triebsrente volle Krankenkassen- und Pflegebeiträge schlag der EU-Kommission vorliegt. 12288 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Kommen wir zurück zu Beitragsbefreiung. Wie er- Beiträge statt in die gesetzliche in eine betriebliche Al- (C) wähnt gibt es in Deutschland nach Schätzungen rund tersvorsorge investiert, natürlich auch entsprechend we- 9 Millionen aktive „Entgeltumwandler“. Sie können bis niger Ansprüche an die gesetzliche Rente im Alter er- zu 4 Prozent der Beitragsbemessungsgrenze in der ge- wirbt. Das bedeutet, dass die gesetzliche Kasse zu einem setzlichen Rentenversicherung, also bis zu 2 520 Euro späteren Zeitpunkt entlastet wird. Genau genommen im Jahr, steuer- und sozialabgabenfrei in eine betriebli- müssten also die heute fehlenden Einnahmen der Ren- che Rentenkasse einzahlen. Rund ein Drittel von ihnen tenkasse gegengerechnet werden mit den nicht in An- ist seit der Einführung des Rechtes auf Entgeltumwand- spruch genommenen Rentenansprüchen in der Auszah- lung 2001 neu dazugekommen. lungsphase. Die aktuelle Studie von TNS-Infratest aus dem Juni Abgesehen von diesen Fakten sind die vom Sozial- dieses Jahres spricht eine deutliche Sprache: Die Attrak- verband befürchteten Fehlbeträge für die gesetzlichen tivität der betrieblichen Altersvorsorge und ihr in den Sozialkassen strittig. Denn niemand weiß, wie sich die letzten Jahren wachsender Verbreitungsgrad lag sehr Beschäftigten, die heute Entgeltumwandlung betreiben, stark in der Sozialabgabenfreiheit der Entgeltumwand- bei einem Wegfall der Beitragsfreiheit verhalten würden. lung begründet. Der Bericht des Institutes verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass diese Dynamik sich Eines ist sicher: Bei einer Verteuerung dieser Anlage- 2006 – wohl im Hinblick auf das nahende Ende der Bei- form um 21 Prozent werden sich sehr viele der Betroffe- tragsfreiheit – stark abgeschwächt habe. So nahm die nen um Alternativen bemühen. Möglicherweise stellen Zahl der Anwartschaften bei den Pensionskassen von sie ihre Verträge auf rein arbeitgeberfinanzierte Betriebs- 2004 auf 2005 um rund 830 000 zu, von 2005 auf 2006 renten um, die ja weiterhin abgabenfrei bleiben, oder sie waren es hingegen nur noch rund 170 000. wechseln in eine private Altersvorsorge. Schlimmsten- falls verzichten sie ganz und gar auf eine zusätzliche Um die weitere Ausbreitung der betrieblichen Alters- Vorsorge. Die von Kritikern genannten jährlichen 2 Mil- vorsorge nicht zu gefährden oder gar einen Rückgang liarden Euro Ausfälle für die Sozialkassen sind also mit einzuleiten, ist es deshalb richtig, dass wir jetzt die Wei- großer Skepsis zu betrachten. chen für eine unbefristete Sozialabgabenfreiheit stellen. Und aus eben diesem Grund ist es auch nicht vertretbar, Problematisch bleibt allerdings, dass das Gesamtrenten- weiter mit der Verlängerung der Sozialabgabenfreiheit niveau durch die Beitragsausfälle sinkt. Bei denjenigen, zu warten, wie es etwa die Grünen in ihrem Antrag zur die in Form einer betrieblichen Altersvorsorge sparen, heutigen Debatte fordern. Die Beschäftigten brauchen wird dieser Verlust allerdings mehr als ausgeglichen. Für Planungssicherheit, und zwar so schnell wie möglich. diejenigen, die keine betriebliche Altersvorsorge anspa- (B) ren können, müssen zum einen andere ergänzende Ange- (D) Neben der Steuer- und Beitragsfreiheit sprechen wei- bote, wie zum Beispiel der „Grund-Riester“, weiter aus- tere Vorteile für eine starke Förderung der betrieblichen gebaut werden. Dies gilt insbesondere für niedrig Altersvorsorge: Sie ist eine einfache Form der zusätzli- verdienende Selbstständige. Auch der Ausbau der Bei- chen Vorsorge, da die Arbeitgeber alle Formalitäten ab- tragsgrundlage der gesetzlichen Rentenkasse ist zu dis- nehmen. Sie ist finanziell attraktiv, da durch Gruppen- kutieren. Hier – und da gebe ich den Grünen recht – verträge eine Senkung der Verwaltungskosten erreicht müssen weitere Maßnahmen folgen, die unsere Gesell- wird und sich Arbeitgeber oft mit zusätzlichen Beiträgen schaft nachhaltig vor Altersarmut schützen. beteiligen. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Es gibt also viele gute Gründe, diese Förderung der spielt bei der Befürwortung der Beitragsfreiheit ein Fak- betrieblichen Altersvorsorge über 2008 hinaus aufrecht- tor eine ganz entscheidende Rolle: Von der Sozialabga- zuerhalten. Trotzdem wurde auch Kritik laut. Sie wird benfreiheit profitieren besonders Beschäftigte mit klei- zum Beispiel vom Sozialverband Deutschland daran nen und mittleren Einkommen. Ihnen nützt eine festgemacht, dass eine Befreiung von den Sozialabgaben Befreiung von der Steuer in der Regel wenig, da sie ja die gesetzlichen Sozialkassen rund 2 Milliarden Euro keine oder aber nur sehr geringe Steuern zahlen. Die So- pro Jahr kosten würde. zialabgabenfreiheit bringt ihnen hingegen einen Vorteil Dies ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Außerdem von 21 Prozent. sind die Vorteile, die aus einer weiteren Förderung der betrieblichen Altersvorsorge entstehen, größer als die Auch die Gewerkschaften begrüßen deshalb in selte- von den Kritikern aufgeführten Nachteile. Es ist nur die ner Einigkeit mit den Arbeitgeberverbänden den vorlie- halbe Wahrheit, weil bereits heute Sozialabgaben gezahlt genden Gesetzentwurf. Der Deutsche Gewerkschafts- werden. Nicht in der Einzahlungsphase, aber in dem Au- bund betont, dass durch das von Rot-Grün eingeführte genblick, in dem die Betriebsrente ausgezahlt wird. Seit Recht auf Entgeltumwandlung eine immer stärkere Co- 2004 bzw. 2005 werden hier die vollen Beitragssätze in Finanzierung von Betriebsrentenansprüchen durch die Kranken- und Pflegeversicherung fällig. Arbeitgeber stattfindet. In einem Arbeitspapier des DGB-Bundesvorstandes heißt es: „So konnten in Berei- Anders sieht es bei den Beiträge in Arbeitslosen- und chen wie zum Beispiel dem Einzelhandel, wo bislang Rentenkasse aus. Hier gibt es tatsächlich Ausfälle. Dabei betriebliche Altersversorgung bestenfalls für wenige ist jedoch zu berücksichtigen: Weniger Beiträge ziehen Führungskräfte vorgesehen war, inzwischen auch die weniger Ansprüche nach sich. In Bezug auf die Renten- ‚Normalarbeitnehmer‘ Anspruch auf vom Arbeitgeber versicherung bedeutet dies, dass derjenige, der seine mitfinanzierte betriebliche Altersversorgung haben.“ Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12289

(A) In einem gemeinsamen Statement der Gewerkschaft darüber hinaus, dass die staatliche Förderung der Alters- (C) Nahrung-Genuss-Gaststätten und der Arbeitgeberverei- vorsorge für alle Bürger – und nicht nur für Beamte und nigung Nahrung und Genuss e. V. wird die beitragsfreie Pflichtversicherte – gewährt wird. Entgeltumwandlung als „wesentlicher Bestandteil für die Attraktivität der betrieblichen Altersvorsorge vor al- Die bisherige Obergrenze der abgabefreien Entgelt- len Dingen für Arbeitnehmer mit kleineren Einkommen“ umwandlung in Höhe von 4 Prozent wird von der FDP gewürdigt. Rund 60 Prozent der Beschäftigten im Ernäh- als grundsätzlich ausreichend erachtet. Wünschenswert rungsgewerbe hätten deshalb heute eine betriebliche Al- wäre darüber hinaus aber eine flexiblere Lösung für die tersvorsorge. abgabefreie Umwandlung auch von Gewinnbeteiligun- gen von Arbeitnehmern. Gerade weil Gewinnbeteiligun- Ich fasse zusammen: Mit dem Recht auf Entgeltum- gen unregelmäßiges Einkommen sind, sind sie – anders wandlung hat die rot-grüne Bundesregierung die betrieb- als das laufende Einkommen – nicht für laufende Kosten liche Altersvorsorge aus der Nische geholt und für die verplant, sondern bieten echten Spielraum für zusätzli- breite Arbeitnehmerschaft attraktiv gemacht. Heute sind che Altersvorsorge. Allerdings müsste für diesen Fall die bereits zwei Drittel aller sozialversicherungspflichtig bislang geltende Obergrenze von 4 Prozent des Brutto- Beschäftigten Anwärter auf eine betriebliche Altersvor- lohns aufgehoben werden, da Gewinnbeteiligungen we- sorge. Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deshalb gen des unregelmäßigen Anfalls mit einer konstanten verlängern wir die Sozialabgabenfreiheit und sorgen da- Obergrenze nur schwer vereinbar sind. Deshalb möchten für, dass die Einzahlung in eine Betriebsrente auch nach wir die Möglichkeit einräumen, in Jahren, in denen Ge- 2008 attraktiv bleibt. winnbeteiligungen zusätzlich genutzt werden sollen, von der 4-Prozent-Grenze abzuweichen. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Erstens. „Besser spät Drittens. Die FDP lehnt den Antrag der Grünen ab, als nie!“ Die Fähigkeit, Falsches zu korrigieren, ist der und zwar aus folgenden Gründen: Großen Koalition anscheinend noch nicht vollkommen abhanden gekommen. Dazu gratuliere ich den Koali- Erstens. Der Gesetzgeber muss jetzt deutlich machen, tionsparteien! Noch im Frühjahr beharrte die Regierung dass er die abgabenfreie Entgeltumwandlung auf Dauer darauf, die Betriebsrentenförderung auslaufen zu lassen. fortführen will. Eine erneute zeitliche Begrenzung bringt Nun, nach nicht einmal einem halben Jahr, hat sie die neue Unsicherheiten mit sich, und diese Unsicherheiten 180-Grad-Wendung vollzogen. machen das Instrument der Entgeltumwandlung un- attraktiv und verhindern eine weitere Ausbreitung der Weil die Regierung damit auf eine seit langem von betrieblichen Altersvorsorge. Denn wenn in Zukunft der FDP erhobene Forderung eingegangen ist, freue ich – nach Ablauf einer neuen Befristung – die Beiträge der (B) mich, für die FDP-Bundestagsfraktion sagen zu können: Entgeltumwandlung doch wieder aus verbeitragtem Ein- (D) Wir unterstützen den hier in erster Lesung vorliegenden kommen gezahlt werden müssten, dann zahlen die Ent- Gesetzentwurf nachdrücklich. geltumwandler wieder doppelte Krankenversicherungs- beiträge, und zwar zunächst in der Beitragsphase und Die betriebliche Altersvorsorge muss weiter ausge- danach in der Auszahlungsphase. baut werden, weil sie bei sinkendem Leistungsniveau der gesetzlichen Rente in unserer alternden Gesellschaft Zweitens. Natürlich gibt es keinen vernünftigen eine zentrale Rolle für die Lebensstandardsicherung im Grund, warum nicht die Verbreitung der betrieblichen Alter hat. Die abgabenfreie Entgeltumwandlung ist das Altersvorsorge untersucht und auch nach Möglichkeiten erfolgreichste und am besten angenommene Instrument gesucht werden soll, sie für Geringverdiener attraktiv zu der betrieblichen Altersvorsorge. Dies wurde seinerzeit gestalten. Aus unserer Sicht ist es besonders wichtig, die auch vom Sozialbeirat so gesehen, der daher in seinem großen Vorteile, die die betriebliche Vorsorge den Versi- Gutachten zu Recht explizit gefordert hatte, dass die ab- cherten durch die Abgabenfreiheit bietet, noch besser als gabenfreie Entgeltumwandlung nicht 2008 auslaufen bisher deutlich zu machen. darf. Die FDP-Bundestagfraktion beobachtet im Übrigen Auch der zweite Kernpunkt des Gesetzentwurfes, das sehr genau, ob die bestehenden Instrumente zur Förde- Unverfallbarkeitsalter von 30 Jahren auf 25 Jahre abzu- rung der betrieblichen und privaten Altersvorsorge für senken, wird von uns unterstützt, weil diese Änderung Geringverdiener ausreichend attraktiv sind. Wir haben gerade jungen Frauen und jungen Familien zugute- dazu gerade erst eine Kleine Anfrage an die Bundesre- kommt. Viele arbeitgeberfinanzierte Rentenanwartschaf- gierung gestellt. ten gehen derzeit noch verloren, weil junge Frauen we- gen der Kindererziehung vor dem 30. Lebensjahr aus Drittens. Was die Wirkungen der Abgabenfreiheit auf dem Unternehmen ausscheiden und damit ihre Anwart- die gesetzliche Rentenversicherung angeht, gilt, dass schaften verlieren. durch die Inanspruchnahme der Entgeltumwandlung in den nächsten Jahren weniger gesetzliche Rentenanwart- Zweitens. Was muss darüber hinaus geschehen? Wir schaften aufgebaut werden. Wenn die gesetzliche Ren- müssen den Menschen, insbesondere der doppelt belas- tenversicherung dann um das Jahr 2030 in der stärksten teten Sandwichgeneration, den Spielraum verschaffen, demografischen Belastungsphase ist, wirken sich die re- zusätzlich eine private und betriebliche Vorsorge aufzu- duzierten Anwartschaften der Versicherten, die Entgelt- bauen. Und die betriebliche Altersvorsorge sollte über umwandlung betrieben haben, grundsätzlich entlastend die Opting-out-Klausel zur Regel werden. Wir fordern auf die Rentenversicherung aus. 12290 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Umgekehrt gilt: Wer keine abgabenfreie Entgeltum- Ich habe die Bedingungen für die Förderung gründ- (C) wandlung betreibt, der baut auch weiterhin seine vollen lich geprüft. Ich meine, wir sollten uns für sie ent- gesetzlichen Anwartschaften auf. Daher stimmt das Ar- scheiden. gument so pauschal nicht, dass unter der abgabenfreien Entgeltumwandlung sich die Anwartschaften aller Ver- Gründlich geprüft? Wirklich? Da muss man gar nicht sicherten gleichermaßen reduzieren. Zwar wird die Ent- Mathematiker sein, da reicht Volksschule Sauerland, um wicklung des Rentenwerts in bestimmtem Umfang ge- zu wissen: Kann nicht hinhauen; um Herrn Münteferings bremst. Dies aber führt zu einer Entlastung der eigene Worte mal aufzugreifen. Die unbefristete Förde- Beitragszahler, die gerade in den Jahren ab 2030 sehr rung der betrieblichen Altersvorsorge kann nun wirklich wichtig sein wird, wenn eine Beitragshöhe von 22 Pro- nicht hinhauen, nicht für die Rentenversicherung, nicht zent Realität werden könnte. für die Arbeitslosenversicherung, nicht für die Pflege- versicherung, nicht für die Krankenversicherung und schon gar nicht für die Versicherten und Rentnerinnen Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): In und Rentner in unserem Land. dem im März 2006 von der Bundesregierung vorgeleg- ten Alterssicherungsbericht habe ich zur Frage der wei- Da wundert es auch nicht, dass im Alterssicherungs- teren Förderung der Sozialabgabenfreiheit der Entgelt- bericht ebenfalls zu lesen ist, dass rund 53 Prozent der umwandlung auf Seite 208 eine interessante Passage Befragten auf die Frage, warum sie noch keine betriebli- gefunden. Darin stellt die Bundesregierung zur sozialab- che Altersvorsorge abgeschlossen haben, angeben, dass gabenfreien Entgeltumwandlung Folgendes fest: sie dem Staat oder der Regierung nicht trauen, weil sich die Gesetze so oft ändern. Und ich kann nur sagen: Zu Bei gleich bleibender Dynamik wie in den letzten Recht. Zwar wird gerade die Entfristung, also die Ände- Jahren dürfte die Zahl der „Entgeltumwandler“ bis rung der Gesetzesgrundlage, gelobt, weil hierdurch nun 2008 noch erheblich anwachsen. Bei einer unbefris- Verlässlichkeit geschaffen werde, doch in Hinblick auf teten Beitragsfreistellung käme es folglich zu einer die gesetzliche Rentenversicherung sind derartige Forde- deutlichen Erosion auf der Einnahmeseite der So- rungen nach Verlässlichkeit nicht zu hören. Dort werden zialversicherung mit Druck auf die Beitragssätze. tiefgreifende Änderungen beschlossen, die nun das Ar- Es ist aber ausdrückliches Ziel der Bundesregie- gument für sogenannte kompensierende Maßnahmen lie- rung, die Lohnnebenkosten möglichst zu senken. fern. Außerdem ist zu bedenken, dass eine dauerhafte Förderung in der Sozialversicherung zu ungerech- Aber gerade das Argument der kompensierenden ten Verteilungseffekten führt: Die aufgrund der Ent- Maßnahmen ist bei der sozialabgabenfreien Entgeltum- wandlung nicht aufrechtzuerhalten; denn die sozialabga- (B) geltumwandlung in der Rentenversicherung fehlen- (D) den Beiträge führen dazu, dass die Renten auch benfreie Entgeltumwandlung führt bei allen Versicherten derjenigen Versicherten niedriger ausfallen, die zu einer zusätzlichen Versorgungslücke im Alter, also während ihres Erwerbslebens keine Entgeltum- auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, wandlung betrieben haben (z. B. Geringverdiener) die Entgeltumwandlung im Rahmen der betrieblichen bzw. keine Entgeltumwandlung betreiben konnten Altersvorsorge betreiben. In ihrer Studie zur Ver- (Rentner). teilungswirkung der Entgeltumwandlung stellt die Ren- tenversicherung zu Recht fest, dass gerade bei Frauen Dem wäre fast nichts mehr hinzuzufügen, zumal auch die Beitragsfreiheit schon bei Verträgen ab dem 30. Le- der Bundesarbeitsminister noch am 20. März dieses Jah- bensjahr zu niedrigeren Alterseinkünften führen. Und: res gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Wer älter als 40 Jahre ist, muss sich ebenfalls auf gerin- großspurig erklärte: gere Einkünfte im Alter einstellen. Von einem sogenann- ten Nullsummenspiel, wie von der Bundesregierung Wir verhalten uns gesetzestreu, denn wir haben bei gerne behauptet wird, kann also keine Rede sein. der Rentenreform 2001 angekündigt, dass im De- zember 2008 die Sozialabgabenfreiheit für die Ein- Gleichzeitig schmälert die Entgeltumwandlung nicht zahlung per Entgeltumwandlung enden wird. nur die ohnehin kläglichen Rentenanpassungen der heu- tigen Rentnerinnen und Rentner, sondern auch die der Und weiter: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die sich auf den Voraussetzung dafür sei, dass die neue Regelung Betriebsrentenkuhhandel einlassen. Niedrigere Ren- nicht zu Lasten der Sozialkassen gehe. tenanpassungen und ein geringeres Rentenenniveau, treffen aber vor allem, Erwerbslose, Selbstständige oder Nun ist Herr Müntefering für plötzliche Sinneswandel Geringverdiener, die ohnehin rechtlich und faktisch von leider nicht gerade unbekannt. Insbesondere an Monta- der sozialabgabenfreien Entgeltumwandlung keinen Ge- gen – ich erinnere mich da an die Vorziehung der Rente brauch machen können bzw. dürfen. Damit verschärfen mit 67 um sechs Jahre – überrascht er auch schon mal sie nicht nur die Einkommensungleichheit im Alter, weil die eigenen Fachpolitiker mit neuen und nicht abgespro- gerade diejenigen mit vergleichsweise hohen Ansprü- chenen Einfällen. Da frage ich mich, ob ihm solche chen aus der GVR aufgrund ihres höheren Einkommens Ideen bevorzugt sonntags in der Badewanne einfallen. auch die Entgeltumwandlung stärker nutzen, sie beför- Jedenfalls diktierte er nur drei Monate später, am dern auch noch zugunsten eines kleinen Teils von Privi- 25. Juni, einem Journalisten des Handelsblatts in den legierten bewusst das Risiko steigender Altersarmut von Notizblock: Millionen von Menschen. Selbst der Kollege Brauksiepe Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12291

(A) von der CDU hat bei der Sozialabgabenfreiheit seine Be- der gesetzlichen Rentenversicherung, zu finanziellen (C) denken angemeldet. So war im Tagesspiegel vom 2. Juli Mehrbelastungen in der Arbeitslosen-, Kranken- und 2007 zu lesen: Pflegeversicherung, zu geringeren Rentenleistungen für alle Versicherten, benachteiligt Geringverdiener – und Die Tatsache, dass eine Förderung zugleich das all- hier insbesondere Frauen und Erwerbslose. Gerade die gemeine Rentenniveau der kommenden Jahre senkt, Fachpolitiker der Großen Koalition wissen dies natürlich ist ein gewichtiges Gegenargument allzu gut. Beweisen Sie deshalb einmal Rückrat und fol- Und weiter: gen Sie Ihrem Fachwissen, statt zähneknirschend von oben nach unten durchgestellte Konzepte abzusegnen. Je stärker wir die betriebliche Vorsorge fördern, Die Legislative sitzt in diesem Haus. Nehmen Sie die desto geringer wird auf der anderen Seite das ge- Gewaltenteilung einmal ernst. setzliche Rentenniveau ausfallen, und umgekehrt. Da liegt der Kollege Brauksiepe ausnahmsweise voll- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜ- kommen richtig. Wenn Sie hier also der Attraktivität der NEN): 2002 wurde, zeitlich befristet bis 2008, die Möglich- betrieblichen Altersvorsorge das Wort reden, können Sie keit einer sozialabgabenfreien Gehaltsumwandlung einge- eigentlich nur die Attraktivität für die Versicherungs- führt. Damit sollten vorübergehende Anreize für eine wirtschaft meinen, die mit Vertragsabschlüssen für Be- Ausweitung der betrieblichen Altersvorsorge geschaffen triebsrenten gutes Geld verdient, oder Sie können für die werden. Versicherte und Betriebe sollten sich in dieser Zeit Arbeitgeber sprechen, denen Sie auf Kosten der Solidar- darauf einstellen könnten, dass mehr Eigenverantwortung gemeinschaft den Beitrag zur Rentenversicherung nied- zur Erreichung eines auskömmlichen Alterseinkommens rig halten. Damit aber nicht genug. Viel perfider ist die erforderlich ist. Am 20. März wurde Bundesminister Franz eigentliche Strategie, die hinter der Verlängerung der so- Müntefering im Handelsblatt mit der Bemerkung zitiert: zialabgabenfreien Entgeltumwandlung steckt: Die Höhe der Beitragsausfälle führt nicht nur in der Rentenversi- Um die Entgeltumwandlung zur betrieblichen Al- cherung zu Beitragsausfällen, sondern auch, wie Sie im tersvorsorge auch nach dem Auslaufen der Abga- Alterssicherungsbericht richtig festgestellt haben, in al- benfreiheit attraktiv zu halten, könne man über ein len anderen sozialen Sicherungssystemen zu weiteren „Äquivalent“ reden, das aber nicht zulasten der So- Belastungen und somit zu höheren Beitragssätzen. zialversicherungen gehen dürfe. Die Bundesregierung selbst spricht in ihrem Ge- Weitere Überlegungen, wie bestimmte Versicherten- setzesentwurf von Beitragsausfällen von bisher 2,2 bis gruppen wie Familien mit Kindern gezielter gefördert 2,4 Milliarden Euro für die Sozialkassen. Allein hiervon werden könnten, fanden auch unsere Unterstützung. Nur (B) entfallen 1,2 Milliarden Euro auf die gesetzliche Renten- ein Vierteljahr später war das alles Schnee von gestern. (D) versicherung, welche die Sozialabgabenfreiheit bei der Ohne eine wirklich substanzielle Begründung verkün- betrieblichen Altersvorsorge in den letzten Jahren verur- dete Minister Müntefering, dass die beitragsfreie Ent- sacht hat. Zudem gehen Sie, ohne dabei rot zu werden, geltumwandlung unbefristet fortgesetzt werden soll frei von einem jährlichen Zuwachs der Beitragsausfälle in nach dem Motto „Was kümmert mich mein dummes Ge- Höhe von 200 Millionen Euro aus. Sind Sie nicht mit schwätz von gestern.“ dem Ziel angetreten, die sogenannten Lohnnebenkosten Was war geschehen? Einfach ausgedrückt: Die Koali- zu senken? Ein Blick in ihren Koalitionsvertrag sollte da tion und das Arbeitsministerium sind vor der geballten genügen. Macht der Lobbyisten aus Arbeitgeberverbänden, der Die für die Kranken- und Pflegeversicherung verant- Mehrheit des DGB und der Versicherungswirtschaft ein- wortliche Ministerin, Kollegin Ulla Schmidt, hat ja be- geknickt. reits zusätzliche Steuermittel als Kompensation für die Die Ausweitung der Betriebsrenten wurde öffentlich Beitragsausfälle eingefordert. Die Haushälter der Koali- als Erfolgsmodell verkauft. Tatsächlich sind die Erfolge tion werden es mit Schrecken vernommen haben. der beitragsfreien Gehaltsumwandlung mit zusätzlich Der Bremer Ökonom und ehemalige Vorsitzende des rund 2,5 Millionen Verträgen seit Anfang 2002 eher mä- Sozialbeirats der Bundesregierung, Winfried Schmähl, ßig. Denn schließlich haben sowohl Arbeitgeber als auch kommt in seiner Studie deshalb zum Ergebnis, dass die Beschäftigte Vorteile, wenn sie einen Teil ihres Gehaltes Entgeltumwandlung zu beitragssatzsteigernden Effek- sozialabgabenfrei umwandeln und damit eine betriebli- ten von 0,4 bis 0,8 Prozentpunkten führt. Damit verju- che Altersvorsorge aufbauen können. Die Kehrseite der beln Sie eben mal so die 0,3 bis 0,5 Prozentpunkte Ein- Medaille sind regelmäßige Einnahmeverluste der Sozial- sparung, die Ihnen gereicht haben, um gegen alle kassen. 2006 wurden dadurch den Sozialversicherungen Widerstände aus der Bevölkerung die Rente mit 67 Einnahmen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro entzogen. durchzusetzen. Experten gehen von Beitragsausfällen in 2030 von 5 bis 20 Milliarden Euro jährlich aus. Die Bundesregierung Das Fazit Ihres Gesetzentwurfs ist aus unserer Sicht, macht Geschenke an Kernbelegschaften, die sie aber dass die Weiterführung der beitragsfreien Entgeltum- nicht aus ihrer eigenen Tasche bezahlt, sondern zulasten wandlung über das Jahr 2008 hinaus aus sozialpoliti- der Sozialversicherten. schen und systematischen Gründen falsch und in keiner Weise zu rechtfertigen ist. Die sozialabgabenfreie Ent- Die Senkung des Rentenniveaus infolge der unbefris- geltumwandlung führt zu steigenden Beitragssätzen in teten Entgeltumwandlung hat die Bundesregierung ge- 12292 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) flissentlich ignoriert. Es wird interessant sein, wie sie die Wir haben die Argumente sorgsam abgewogen. Rich- (C) dauerhafte Senkung des gesetzlich vorgeschriebenen Ni- tig ist, dass die Beitragsfreiheit zu Einnahmeausfällen in veausicherungsziels im nächsten Rentenversicherungs- der Sozialversicherung führt. Richtig ist aber auch, dass bericht mit Maßnahmevorschlägen ausgleichen wird. ein Ende der Beitragsfreiheit in keinem Fall zu entspre- Bevor Sie dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes- chenden Mehreinnahmen bei den Sozialversicherungen regierung zustimmen, frage ich die Abgeordneten aus führen würde. Vielmehr ist es realistisch, dass die Bei- den Koalitionsfraktionen: Mit welchen Maßnahmen tragsausfälle wegen der bestehenden Ausweichmöglich- wird diese Regierung das sinkende Rentenniveau von keiten dauerhaft bestehen bleiben würden. Und wichtig Geringverdienenden und Menschen mit unsteten Er- ist: Weder in der gesetzlichen Renten- noch in der Ar- werbsverläufen ausgleichen? Diese Gruppen sind die beitslosenversicherung kommt es infolge der Beitrags- Verlierer Ihrer Geschenke an Kernbelegschaften. Zu den ausfälle zu einem Anstieg des Beitragssatzes. Bei der ge- Verliererinnen zählen explizit auch Frauen. setzlichen Kranken- und Pflegeversicherung muss berücksichtigt werden, dass die Betriebsrenten bei Aus- Ich fasse zusammen: Der Sinneswandel der Bundes- zahlung der vollen Beitragspflicht unterliegen und damit regierung ist weder nachvollziehbar noch durch detail- die Systeme langfristig stützen. lierte Analyse zur Alterssicherung für die verschiedenen Einkommensgruppen begründet. Sie ignoriert nach wie Bei der Abwägung haben wir selbstverständlich auch vor die Gefahr von Altersarmut einzelner Bevölkerungs- berücksichtigt, dass die Beitragsfreiheit die Rentenan- gruppen. Das steigende Altersarmutsrisiko von Gering- passung dämpft. Dieser Effekt ist aber vergleichsweise verdienenden und von Menschen mit Lücken in der Er- gering. Im Verhältnis zu den mit der Entgeltumwandlung werbsbiografie wird vernachlässigt, trotz qualifizierter verbundenen Vorteilen kann und muss er in Kauf ge- Hinweise der OECD und des Instituts für Arbeitsmarkt nommen werden. und Beschäftigungspolitik. Die steigenden Steuereinnah- men werden nicht dazu genutzt, um hier gezielt Korrek- Noch ein zweiter Regelungsbereich des Gesetzes ist turen vorzunehmen. wichtig: Die Absenkung des Unverfallbarkeitsalters bei den Betriebsrenten von 30 auf 25 Jahre. Mit dieser Rege- Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Koali- lung unterstützen wir nicht nur den frühzeitigen Aufbau tion, Verbesserungen für die betriebliche Altersvorsorge einer Zusatzrente, sondern wir geben auch ein gleichstel- erreichen wollen, müssen Sie zuerst die Rahmenbedin- lungspolitisches Signal: Denn heute gehen viele arbeit- gungen verbessern. geberfinanzierte Betriebsrentenanwartschaften verloren, weil junge Frauen wegen der Kindererziehung vor dem Bündnis 90/Die Grünen wird dieser sozial unausge- 30. Lebensjahr aus den Unternehmen ausscheiden. Das (B) wogenen Maßnahme nicht zustimmen, die Frauen, wollen wir künftig verhindern. (D) Langzeitarbeitslose und Geringverdienende belastet und Gutverdienende, dauerhaft Beschäftigte belohnt. Die Altersvorsorge in Deutschland ruht auf den stabi- len Säulen – gesetzlich, betrieblich, privat. Zur Stärkung der betrieblichen Altersvorsorge stellt das vorliegende Gerd Andres (Parl. Staatssekretär beim Bundesmi- Gesetz die Weichen richtig. nister für Arbeit und Soziales): Mit dem Gesetzentwurf zur Förderung der betrieblichen Altersversorgung schreiben wir die Sozialabgabenfreiheit bei der Entgelt- umwandlung über das Jahr 2008 fort, und zwar unbefris- Anlage 6 tet und dauerhaft. Das ist das Ergebnis einer intensiven Zu Protokoll gegebene Reden Prüfung. Dabei hat die Bundesregierung auch die Wech- sel- und Folgewirkungen sorgsam abgewogen. zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Bleiberecht als Menschenrecht (Ta- Neue Untersuchungen zeigen: Ende des vergangenen gesordnungspunkt 16) Jahres verfügten 17,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über eine Betriebsrentenanwartschaft. Das entspricht einem Verbreitungsgrad von rund 65 Prozent Reinhard Grindel (CDU/CSU): Ich habe bei unserer bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. letzten Debatte im Bundestag über das Thema „Bleibe- Dazu kommt: Auch die dritte Säule der Altersvorsorge recht“ betont, dass die Große Koalition eine Regelung wird immer stabiler. Es gibt heute schon über neun Mil- finden wird, die Humanität und Rechtsstaatlichkeit mit- lionen private Riester-Verträge. Das ist eine Erfolgsge- einander verbindet, die eine Zuwanderung in die Sozial- schichte, an die vor drei, vier Jahren noch niemand ge- systeme vermeidet und die für mehr und nicht weniger glaubt hätte. Integration sorgt. Die von uns angestrebte Flächendeckung der Zusatz- Dies alles haben wir erreicht: Mit dem neuen Aufent- rente ist aber – trotz der sehr positiven Zahlen – noch haltsgesetz und § 104 a haben wir ein gesetzliches Blei- nicht erreicht. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir berecht beschlossen, das vielen Ausländern in unserem sichere und langfristig geltende Rahmenbedingungen. Land eine faire Zukunftsperspektive anbietet und das Diese Planungssicherheit brauchen vor allem auch die insbesondere dafür sorgt, dass Kinder und Jugendliche, Tarifvertragsparteien. Schon in über 400 Tarifverträgen für die Deutschland längst Heimat geworden ist, Bil- finden sich Regelungen zur Entgeltumwandlung. dungschancen nutzen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12293

(A) Dieses gesetzliche Bleiberecht ist eine richtige Fort- etwa die Beschaffung von Passersatzpapieren vereitelt (C) entwicklung der vorläufigen Altfallregelung, die die In- hat, der dadurch hohe Sozialleistungen kassiert hat, dass nenministerkonferenz im November 2006 getroffen hat. solch ein Ausländer obendrein auch noch mit einem Bleiberecht für seine Gesetzesverstöße prämiert werden Dieses gesetzliche Bleiberecht verlangt Integrations- soll, das ist mit uns nicht zu machen. leistungen von den Ausländern, die sich darauf berufen wollen, und es verlangt Achtung vor geltendem Recht. Gerade bei der Bleiberechtsregelung kam es darauf Kurzum: Unsere Bleiberechtsregelung stellt eine ge- an, dass sie auch auf Akzeptanz in unserer heimischen rechte Abwägung zwischen den Interessen unserer aus- Bevölkerung stößt, dass sie Integrationsbereitschaft ländischen Mitbürger und den Interessen unseres frei- nicht gefährdet. Deshalb war es richtig, dass wir in § 104 a heitlichen Rechtsstaats dar, und wir werden als Große Aufenthaltsgesetz vorsehen, dass derjenige kein Bleibe- Koalition uns diese Bleiberechtsregelung von der Op- recht erhält, der die Ausländerbehörde vorsätzlich über position nicht schlechtreden lassen. aufenthaltsrelevante Umstände getäuscht oder die Auf- enthaltsbeendigung vorsätzlich behindert hat. Weil Grundlage dieser Debatte ein Antrag der Linken ist, können wir auch einmal schauen, wie das Bleibe- Ich finde auch, dass wir die Mitarbeiter der Auslän- recht in der Praxis angewandt wird. derbehörden nicht demotivieren dürfen. Sie versuchen In Bayern sind zum Stichtag 30. Juni 2007 – wir ha- unter schwierigen Bedingungen, im Interesse unseres ben bisher nur Zahlen für den IMK-Bleiberechtsbe- freiheitlichen Rechtsstaats Abschiebungen durchzuset- schluss – von 3 000 Anträgen 1 123 positiv beschieden zen. Ihnen würden wir als Gesetzgeber in den Rücken worden – da gab es gleich eine Aufenthaltserlaubnis –, fallen, wenn wir denjenigen ein Bleiberecht geben wür- und in 1 197 Fällen ist die Duldung erstmal verlängert den, die diese Beamten der Ausländerbehörden manch- worden. Nur 337 Anträge – 13 Prozent – wurden abge- mal jahrelang zum Narren gehalten haben. Was die lehnt. In Baden-Württemberg, in Hessen und Nieder- Linksfraktion da will, ist völlig unvertretbar. sachsen ist das Bild ganz ähnlich. Das gilt auch noch für einen anderen Punkt: Sie will In Berlin, wo die Linkspartei mitregiert, sind auch das Bleiberecht, das ihr vorschwebt, auch nicht von Inte- 3 000 Anträge gestellt worden. Nur in 404 Fällen gab es grationsleistungen abhängig machen. Sie verzichtet auf eine Aufenthaltserlaubnis, aber in 420 Fällen – das sind Deutschkenntnisse, sie verzichtet auf den Nachweis ei- über 50 Prozent der bisher entschiedenen Anträge – ist nes Arbeitsplatzes und sie verzichtet darauf, dass Aus- das Bleiberecht abgelehnt worden. Die anderen Anträge länder ihre Kinder auf eine Schule schicken. Damit ze- sind möglicherweise mit Blick auf die gesetzliche Rege- mentiert sie Parallelgesellschaften. Damit verhindert sie (B) lung noch gar nicht bearbeitet worden. ein Miteinander von Deutschen und Ausländern. Damit (D) vereitelt sie Integration. Damit dient sie niemandem: we- Insgesamt haben bereits 43 000 Ausländer entweder der den Deutschen noch den Ausländern. eine Aufenthaltserlaubnis oder zumindest eine Duldung zur Arbeitsplatzsuche erhalten. Über die Anträge von Aber es geht ihr in Wahrheit auch nicht um Bleibe- weiteren 25 000 Geduldeten ist bisher noch nicht ent- recht und Integration. Das zeigt sich daran, dass sie schieden worden. keine Altfallregelung mit einem festen Stichtag will, sondern eine permanente, ungesteuerte Zuwanderung Die Linkspartei hat keinen Grund, irgendjemandem durch Täuschen und Tricksen. Darauf läuft das hinaus, außerhalb Berlins Hartherzigkeit vorzuwerfen, übrigens was sie hier vorschlägt: Sie weiß ganz genau, dass schon gar nicht Bayern. Schlepper und Schleuser darauf sofort reagieren, dass Wahr ist auch, dass die Überschrift im Antrag der diese jede gesetzliche Neuregelung ausnutzen, die eine Linksfraktion falsch ist. Das Bleiberecht ist kein Men- ungesteuerte Zuwanderung ermöglicht. Das ist doch die schenrecht. Weder in UNO-Konventionen oder der Eu- Erfahrung, die in Spanien und Italien nach den Legali- ropäischen Menschenrechtskonvention werden sie ein sierungskampagnen gemacht wurde. Ihr Antrag ist eine Recht darauf finden, dass ein Ausländer von sich aus Einladung, eine Begünstigung für Schlepper und Schleu- entscheiden dürfte, in welchem Staat er gerade leben ser. Ihr geht es nicht um Bleiberecht, ihr geht es um un- möchte. gesteuerte Zuwanderung. Das lehnen wir nicht nur ab, sondern die Intentionen, die hinter ihrem Antrag stehen, Ein Bleibrecht – so haben wir es geregelt – ist nur verurteilen wir. dann vertretbar, wenn einem Ausländer und insbeson- dere seinen Kindern aus Gründen, die er selbst nicht zu vertreten hat, eine Rückkehr in sein ursprüngliches Her- Rüdiger Veit (SPD): Der Antrag der Fraktion Die kunftsland aus humanitären Gründen nicht zuzumuten Linke stammt vom 18. Dezember des letzten Jahres und ist. Das muss der Maßstab für das Bleiberecht sein. damit aus einer Zeit, als die Koalitionsfraktionen inten- siv über die Frage einer gesetzlichen Bleiberechtsrege- Genau gegen diese Grundsätze verstößt der Antrag lung verhandelt haben. Diese haben wir dann in Gestalt der Linksfraktion. Sie schreibt sogar ganz offen in ihrem der § 104 a und 104 b des Aufenthaltsgesetzes in der Antrag, dass ein Bleiberecht auch bei Täuschungen nicht Bundestagssitzung am 26. April 2007 verabschiedet. Ich ausgeschlossen sein soll. Da sagen ich: dass ein Auslän- kann mich zur Bewertung weitgehend auf meinen dama- der, der jahrelang getrickst und die Behörden getäuscht ligen Redebeitrag beziehen, den ich wie folgt noch ein- hat, der gegen seine Mitwirkungspflichten verstoßen und mal zusammenfasse: 12294 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Dass es überhaupt zu einer gesetzlichen Bleiberechts- Innenministerkonferenz vom 17. November 2006 knapp (C) regelung gekommen ist, ist meines Erachtens schon für 15 000 Menschen eine Aufenthaltserlaubnis und rund sich betrachtet ein großer Fortschritt. Denn wir sind da- 28 000 eine Duldung zum Zwecke der Arbeitsaufnahme mit nicht mehr allein abhängig vom Einvernehmen sämt- erhalten. licher Innenminister der Länder, die in der Vergangen- heit mit ihren Konferenzen mehr oder eher weniger Ich hoffe sehr, dass es gelingt, mit der weitergehenden wirksame Bleiberechtsregelungen beschlossen haben – gesetzlichen Regelung noch wesentlich mehr von unse- zuletzt in der Sitzung am 17. November 2006, auf die ja ren ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern – und auch der Antrag der Fraktion Die Linke Bezug nimmt. vor allem den Kindern und Jugendlichen – eine dauer- hafte Perspektive durch einen gesicherten Aufenthalt in Mit dieser gesetzlichen Regelung haben wir vor allem Deutschland zu bieten. auch den bisherigen Teufelskreis für Geduldete durch- brochen. Denn früher hieß es: „Hast du keine Arbeit, be- kommst du keine Aufenthaltserlaubnis, hast du keine Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Die Umsetzung Aufenthaltserlaubnis, darfst du gar nicht erst arbeiten.“ aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäi- Nach diesen Vorschriften kann bisher lediglich gedulde- schen Union durch die Bundesregierung und der Kom- ten ausländischen Mitbürgern eine Aufenthaltserlaubnis promiss der Innenministerkonferenz zum Bleiberecht ist auch dann erteilt werden, wenn sie in der Zeit bis zum in vielerlei Hinsicht problematisch. Die Zuwanderung 31. Dezember des Jahres 2009 ihren Lebensunterhalt insgesamt bedarf der Erörterung. Ein umfassendes Kon- – jedenfalls überwiegend – durch eigene Erwerbstätig- zept zur Zuwanderungssteuerung fehlt nach wie vor. keit sicherstellen können. Vor allem in diesem Punkt geht die beschlossene gesetzliche Regelung deutlich Allerdings hilft es nicht weiter, wenn die Fraktion Die weiter als die bisherigen Beschlüsse der Innenminister- Linke nun fordert, auf jegliche Zuwanderungssteuerung konferenzen. zu verzichten. Die Linke lehnt in ihrem vorliegenden Antrag Sprachkenntnisse als Einreisebedingung ab. Sie Ich will aber auch bei dieser Gelegenheit nicht ver- verlangt, dass die Täuschung deutscher Behörden über hehlen, dass ich mir durchaus eine noch großzügigere die persönliche Identität den Betreffenden nicht vorge- Bleiberechtsregelung hätte vorstellen können. Dies gilt worfen werden darf. Die Linke spricht sich dafür aus, vor allem für die meines Erachtens zu langen Mindest- dass durch Migration und Integration entstehende Kos- aufenthaltszeiten von acht für Einzelpersonen bzw. sechs ten für die Gesellschaft nicht mehr thematisiert werden Jahren bei Familien, dies gilt für die zu niedrig gewählte sollen. Ein Arbeitsplatz soll keine Voraussetzung für die Grenze beim Ausschlusskriterium der Strafbarkeit (50 Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung sein. Die Linke (B) bzw. 90 Tagessätze), dies gilt für den Regelausschluss möchte, dass über „Zuwanderung in Sozialsysteme“ (D) aller Familienmitglieder, wenn nur ein Familienmitglied nicht einmal mehr gesprochen werden darf. solche Straftaten begangen hat. Dies gilt vor allem auch für die viel zu lange Mindestaufenthaltsdauer von sechs Die Linke erweist damit den Bemühungen um Aus- Jahren für Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern min- länderintegration einen Bärendienst. Nachdrücklicher derjährig nach Deutschland eingereist sind. als durch diesen Antrag können ausländerfeindliche Vor- urteile kaum bekräftigt werden. Der Antrag würde an je- Was uns mit diesem Gesetz leider auch nicht gelungen dem Stammtisch zu der Parole führen: Das haben wir ja ist, ist die generelle Abschaffung der sogenannten Ketten- schon immer gewusst. Wer im Kontext mit dem deut- duldungen beispielsweise durch eine entsprechende schen Ausländerrecht wiederholt von „Entrechtung“ Neufassung des § 25 Abs. 4 und Abs. 5 AufenthG. spricht, muss sich vorwerfen lassen, die deutsche Sie sehen also – dies gilt auch und gerade für die Rechtsordnung systematisch zu diffamieren. Das passt Fraktion der Antragsteller –, bei den von Ihnen ange- sehr gut zur Alt-Stasi-Partei „Linke“. sprochenen Problemen sind wir als Sozialdemokraten Die Linke tut so, als müsse nur der Zugang zu den durchaus sensibel und hätten selbst gerne mehr erreicht. Geldquellen des deutschen Sozialsystems geöffnet wer- Mehr war nun allerdings mit unserem derzeitigen Ko- den, dann wären alle Probleme gelöst. Ein solches Men- alitionspartner – leider – nicht möglich. schenbild ist nicht einmal im 19. Jahrhundert aktuell ge- wesen. Aber ich will selbstkritisch auch einmal daran erin- nern, dass wir das, was uns jetzt mit den Kolleginnen Aus Sicht der FDP ist Arbeit viel mehr als nur die und Kollegen von der CDU/CSU und mit Innenminister Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdie- Schäuble gelungen ist, in der früheren rot-grünen Koali- nen. Arbeit ist ein entscheidender Integrationsfaktor. Sie tion nicht zustande gebracht haben. ermöglicht den Zuwanderern, finanziell auf eigenen Bei- Nunmehr gilt es abzuwarten, wie sich dieses Gesetz, nen zu stehen, fördert so das Selbstwertgefühl nicht nur das ja erst seit dem 27. August dieses Jahres in Kraft ist, des Berufstätigen, sondern auch der Familienangehöri- in der Praxis bewährt. Die dazugehörigen vorläufigen gen. Sie ermöglicht soziale Kontakte und schafft Akzep- Anwendungshinweise des Bundesministeriums des In- tanz in der Bevölkerung. Dies ist auch im Interesse der neren liegen gerade erst vor. Gesellschaft als Ganzes. Allerdings muss die Arbeitser- laubnis ohne Restriktion mit dem Bleiberecht gekoppelt Nach den letzten mir zugänglichen Zahlen per erteilt werden bzw. müssen im Vorfeld die Hürden für 30. Juni 2007 haben durch die Bleiberechtsregelung der den Arbeitsmarktzugang beseitigt werden. Ansonsten ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12295

(A) das Erfordernis, selbst für den Lebensunterhalt sorgen zu Integrationspolitik muss werteorientiert sein. Zuwan- (C) können, nicht praktikabel. derer sind zu fördern, aber selbst auch klar gefordert. Die deutsche Sprache, Demokratie und Rechtsstaat, die Der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt muss ge- Grund- und Menschenrechte sind das für alle geltende währleistet sein und darf nicht durch Überbürokratisie- Fundament unserer Gesellschaft. Sie sind aber auch eine rung verhindert werden. Hier bleibt die Bundesregierung attraktive Zielsetzung für Integration. Hier bedarf es so- weit hinter dem Nötigen und Möglichen zurück. Die wohl deutlich ausgeweiteter Angebote und Anreize sei- Möglichkeit für langjährig Geduldete, den eigenständi- tens des Staates als auch verständlicher Richtsätze, um gen Lebensunterhalt zu bestreiten, ist deshalb sehr wohl ein klares Erwartungsbild an die Migranten aufzuzeigen. ein wichtiges Kriterium der Bleiberechtsregelung. Dies dient der Sicherstellung, dass keine Überinanspruch- Die Linke will das Gegenteil. Sie will die Akzeptanz nahme der Sozialleistungen oder Missbrauch erfolgt; es von Ausländern in Deutschland erschweren, die Sozial- dient aber auch der Integration. systeme sprengen, die inneren Spannungen erhöhen und die deutsche Gesellschaft desintegrieren, indem sie fal- Unseres Erachtens ist es zudem sehr wohl relevant, sche Erwartungen weckt und statt Engagement nur An- dass geduldete Ausländer die Behörden nicht täuschen spruchsdenken fördert. oder behindern, was ihren aufenthaltsrechtlichen Status Wir Liberalen wollen dagegen Chancen eröffnen: Wir anbelangt. Rechtstreue und die erfolgreiche Integration wollen eine neue Kultur des Willkommens, die nicht fal- müssen die entscheidenden Kriterien für die Erteilung sche Versprechungen auf Kosten anderer Leute macht, eines Bleiberechts sein, nachgewiesen unter anderem sondern Chancen und Perspektiven eröffnet. Wir wollen, durch eigenständig gesicherten Lebensunterhalt, deut- dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre Zu- sche Sprachkompetenz und Akzeptanz im persönlichen, kunft selbst erarbeiten können. Wir wollen, dass sie hier sozialen Umfeld. Ebenso wie für die Frage der Rechts- willkommen sind. treue und die der Integration in den Arbeitsmarkt gilt das Mitwirkungserfordernis auch für die deutsche Sprach- Der Antrag der Linken würde genau das Gegenteil kompetenz. bewirken. Wir lehnen ihn klar und nachdrücklich ab.

Die Linke tut so, als wäre es für Menschen, die in Ulla Jelpke (DIE LINKE): Den vorliegenden Antrag Deutschland bleiben wollen, eine Zumutung, die deut- haben wir im Frühjahr eingebracht, um für eine humane sche Sprache zu lernen. Tatsächlich ist es umgekehrt. Bleiberechtsregelung im Aufenthaltsgesetz zu sorgen. Wer wirklich hier bleiben will, wird selbstverständlich auch die deutsche Sprache lernen wollen, müssen und Die Koalitionsfraktionen haben unterdessen beides (B) können. Dabei ist immer auch darauf hinzuweisen, dass verhindert: Die nun geltende Regelung im § 104 Aufent- (D) das auch ohne Betreuung in staatlichen Kursen möglich haltsgesetz ist nicht human, und sie ist keine Bleibe- ist – und dafür gibt es viele gute Beispiele. rechtsregelung. Sie konnten sich nur zu einer inhumanen Altfallregelung durchringen. Generell denke ich, dass wir Integration nicht zu- nächst als eine Bringschuld des Staates ansehen sollten, Sie ist inhuman, weil sie nur solchen Geduldeten ein sondern die aktive Mitwirkung der Zuwanderer einfor- Aufenthaltsrecht gewähren will, die ökonomisch nütz- dern. Fördern und Fordern, klare Vorgaben und Perspek- lich sind und den repressiven Integrationsvorstellungen der Bundesregierung entsprechen. Deshalb wurden Be- tiven sind wesentlicher Bestandteil einer abgewogenen dingungen gestellt, ohne die es kein Bleiberecht gibt: Ausländerpolitik. Die Linken erwecken mit ihrem An- Erstens. Der bisher geduldete Aufenthalt muss mindes- trag den Eindruck, Geduldete könnten sich allein da- tens sechs bzw. acht Jahre lang gewesen sein. Dadurch durch, dass sie sich fünf oder gar nur drei Jahre hierzu- sind 100 000 Geduldete von vornherein ausgeschlossen. lande aufgehalten haben, ohne aktiv etwas für ihre Zweitens. Nach jahrelangem Arbeitsverbot müssen die Integration zu tun, einen Anspruch auf ein Bleiberecht Betroffenen auf einmal ein Haushaltseinkommen erzie- erwirken. Das weckt falsche Hoffnungen. len, das über den Sätzen für Hartz IV liegt. Drittens müs- Bundespräsident Köhler hat sich im Sommer aus- sen die Antragsteller die Mitwirkungspflichten bei Iden- drücklich für eine Öffnung des deutschen Ausländer- titätsfeststellung und Passbeschaffung erfüllt haben. rechts ausgesprochen – zu Recht. Die FDP teilt die Auf- Damit haben Sie einen Gummiparagrafen geschaffen, fassung des Bundespräsidenten, dass unser Land mit denn nirgendwo ist eindeutig definiert, wann Verstöße Weltoffenheit besser fährt. Deutschland ist darauf ange- gegen die Mitwirkung nun definitiv ein Ausschlussgrund wiesen, als Standort für ausländische Mitarbeiter, For- sind und wann nicht. Viertens haben Sie all jene vom scher und Entwickler sowie Unternehmer attraktiv zu Bleiberecht ausgeschlossen, die sich geringfügige Straf- bleiben. Die Einstellung von ausländischen Hochqualifi- taten haben zuschulden kommen lassen oder unter Gene- ralverdacht stehen, Bezüge zu extremistischen oder ter- zierten sorgt für weitere Investitionen in Arbeitsplätze roristischen Gruppen zu haben. Per Sippenhaft sind die und ist für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unterneh- Familien der Betroffenen ebenfalls ausgeschlossen. men essentiell. Um die Arbeitsmigration sinnvoll zu steuern, hat die FDP hier konkrete Vorschläge gemacht, Dennoch haben Sie sich in der Öffentlichkeit als Sa- die auch von den Gewerkschaften und den Unternehmen mariter gegeben. Doch um die Geduldeten und ihre Be- dringend angemahnt werden. Wir brauchen eine Zuwan- dürfnisse und Interessen geht es Ihnen gar nicht. Die derungssteuerung mit nachvollziehbaren Kriterien. Union hat ohne jeden nachvollziehbaren Sachzusam- 12296 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) menhang die Altfallregelung mit Verschärfungen im Eine Reihe von Voraussetzungen für die Erlangung (C) Asyl- und Aufenthaltsrecht verknüpft. Ein Beispiel: Der eines Aufenthaltstitels nach der Altfallregelung sind Bezug um 40 Prozent verminderter Sozialleistungen ist überdies so unpräzise – und damit auch rechtsstaatlich von drei auf vier Jahre verlängert worden. Wie diese bedenklich formuliert – dass kaum prognostiziert wer- Menschen leben müssen, ist unzumutbar! den kann, wann es zu positiven Entscheidungen kom- men wird und wann nicht. Überdies wird das Problem Beschämend in diesem Zusammenhang ist aber auch dadurch verschärft, dass die vorgeschlagenen Regelun- das Verhalten der SPD-Fraktion und ihres Verhandlungs- gen extrem unübersichtlich sind. Schließlich ist es ganz führers Rüdiger Veit. Sie haben eine völlig unzurei- besonders bedenklich, dass im geänderten Zuwande- chende Altfallregelung mit Zugeständnissen erkauft, die rungsgesetz das Bestehen einer nach Art. 6 Grundgesetz die Lebenslage vieler Zehntausend Menschen extrem schützenswerten Familie nicht primär zum Anlass für verschlechtert. Damit meine ich nicht nur die Änderung positive Regelungen genommen wurde, sondern Fami- am Asylbewerberleistungsgesetz, sondern auch die Neu- lienmitglieder in völlig unangemessener Weise in eine regelung des Familiennachzugs. Dem Bundestag lagen Form der Sippenhaft genommen werden. Hier möchte qualifizierte Vorschläge für eine wirkliche Bleiberechts- ich insbesondere auf die Regelung in § 104 b Aufent- regelung vor, die von Flüchtlingsorganisationen unter- haltsgesetz hinweisen, nach der der Jugendliche bleiben stützt werden und an denen Sie sich hätten orientieren kann, die Eltern aber ausreisen müssen. Eine wirklich können. Aber stattdessen haben wir nun eine Altfallrege- humanitäre Lösung und eine Beendigung des Zustandes lung, die wieder nur einem kleinen Teil der langjährig der Kettenduldung lassen sich damit mit dem Regie- Geduldeten hilft. rungsvorschlag nicht erreichen. Daher lehnen wir ihn ab. Die Skepsis der Linksfraktion ist wohl begründet. Die Angesichts der Erfahrungen mit der Anwendung der letzten Zahlen zur Umsetzung der IMK-Altfallregelung den Bleiberechtsbeschluss umsetzenden Länderanord- sprechen eine deutliche Sprache. Zum 30. Juni haben nungen besteht die ernsthafte Gefahr, dass das Ziel des über 71 000 Personen einen Antrag auf Aufenthaltser- Entwurfs, langjährig im Bundesgebiet geduldeten und laubnis gestellt, von 170 000 Geduldeten insgesamt. We- integrierten Ausländern eine dauerhafte Perspektive im niger als 15 000 haben eine Aufenthaltserlaubnis erhal- Bundesgebiet zu eröffnen, durch intensive Anwendung ten. Das freut mich für diese 15 000, aber das ist deutlich der Ausschlussgründe in sein Gegenteil verkehrt wird. zu wenig! Weitere 30 000 haben eine Duldung erhalten, Ein Beleg für diese Befürchtung ist der Bericht des Bun- um sich einen Arbeitsplatz suchen zu können. desinnenministeriums zur Umsetzung des Bleiberechts- Sie werden nun eine sogenannte „Aufenthaltserlaub- beschlusses vom 7. Mai 2007, wonach von den 58 259 nis auf Probe“ erhalten. Damit verbessert sich ihr Status gestellten Anträgen 5 004 positiv entschieden, jedoch (B) nur unwesentlich. Wohnsitzbeschränkende Auflagen 3 402 überwiegend aufgrund von Ausschlussgründen (D) gelten weiter, solange sie keinen Arbeitsplatz haben. Der zurückgewiesen wurden. Es sollte der Koalition zu den- Druck auf die Betroffenen ist also weiter enorm hoch. ken geben, dass die Zahl der zurückgewiesenen Anträge Gleichzeitig sind die Aussichten auf einen niedrigquali- nicht deutlich unterhalb der der positiven Entscheidun- fizierten Job, mit dem sich eine Familie ohne ergänzende gen liegt, obwohl es sich in beiden Fällen um faktisch in- Sozialhilfe ernähren lässt, enorm schlecht. Falls sie eine tegrierte Personen handelt, deren rechtliche Integration solche Arbeit bekommen, haben die Arbeitgeber ein Ziel des Bleiberechtsbeschlusses ist. dauerndes Druckmittel in der Hand – den drohenden Unsere Kritikpunkte an den Bedingungen der gesetz- Verlust der Aufenthaltserlaubnis bei Kündigung. lichen Bleiberechtsregelung nochmals zusammenge- Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Von fasst: den beiden bestehenden Altfallregelungen werden viel Die geforderte Mindestaufenthaltszeit – acht Jahre zu wenig Betroffene begünstigt. Die Hürden sind zu bzw. sechs Jahre bei Familien mit Kindern – ist zu lang hoch, für alte und kranke Menschen unerreichbar. Und und wird von fast der Hälfte der Geduldeten nicht erfüllt. vor allem: Das Versprechen, das Problem der Kettendul- dungen aus der Welt zu schaffen, haben Sie damit nicht Darüber hinaus gibt es einen langen Katalog von Be- eingelöst. Dafür hätte es weitreichender und mutiger dingungen: von Deutschkenntnissen über den Grundsatz Schritte bei der Reform des humanitären Aufenthalts- der Erwerbstätigkeit bis zur Straflosigkeit. Beim letzten rechts gebraucht. Zu diesen Schritten waren Sie politisch Punkt sieht die Bundesregierung sogar eine Art Sippen- nicht willens. Eine Lösung im Sinne der Betroffenen haft vor: Hat ein Familienmitglied Straftaten begangen, steht weiterhin aus. werden auch alle anderen vom Bleiberecht ausgeschlos- sen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Besonders problematisch: Die Ausländerbehörde darf NEN): Auch bei einer erneuten Beratung des Themas nicht „getäuscht“ worden sein und Mitwirkungspflichten bleibe ich dabei: Die von der Koalition im Rahmen des bei der eigenen Aufenthaltsbeendigung dürfen nicht ver- EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes beschlossene Alt- letzt worden sein. Beides unterstellen viele Ausländerbe- fallregelung ist deutlich zu restriktiv. Denn sie hat im hörden bei fast allen langjährig Geduldeten und sie ver- Wesentlichen die einschränkenden Bedingungen des Be- stehen unter „vorsätzlicher Verzögerung“ nicht selten schlusses der Innenministerkonferenz übernommen. Da- bereits die Beschreitung des Rechtsweges. Ausländerbe- mit wurde das Problem der Kettenduldungen nicht gelöst hörden erhalten mit der vorgesehenen Regelung also die und Integrationschancen vertan. Möglichkeit, nahezu jeden Antrag abzulehnen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12297

(A) Erwerbsunfähige – Kranke, Behinderte – und Alte der Empfänger steigt überproportional. Damit wächst (C) werden faktisch vom Bleiberecht ausgeschlossen, denn die Kostenbelastung der aktiv wirtschaftenden Land- für sie müssen Lebensunterhalt, Betreuung und Pflege wirte und ihre Sorge. Denn gerade die die Sicherheit der ohne staatliche Hilfe sichergestellt sein. Das ist praktisch Versorgung im Alter ist für unsere Bäuerinnen und Bau- unerfüllbar, weil sich kaum eine Krankenkasse finden ern, die Altenteiler, ein hochsensibles Thema, das mit wird, die bereit ist, sie aufzunehmen. Ängsten verbunden ist. Gut integrierten Schülerinnen und Schülern im Alter Es besteht Handlungsbedarf. Für diese Feststellung von 14 bis 18 Jahren bietet die Bundesregierung ein ei- brauchte es nicht des aktuellen Berichts des Bundesrech- genständiges Aufenthaltsrecht an – unter der Bedingung, nungshofes. Ich bin dankbar, dass sich die Bundesregie- dass die Eltern ausreisen. Das ist zynisch, familienfeind- rung unter Führung von Herrn Minister Seehofer der lich und zudem unrealistisch. Aufgabe gestellt hat, die landwirtschaftliche Sozialversi- cherung zukunftsfest zu machen. Die Länder können entscheiden, dass diejenigen, die eine Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitssuche erhalten ha- Nach vielen Jahren, in denen einerseits die Bundes- ben, weiterhin nur Lebensmittelpakete nach dem Asyl- mittel, etwa für die landwirtschaftliche Unfallversiche- bewerberleistungsgesetz erhalten. rung, gekürzt worden sind und andererseits systemsi- chernde Vorschläge des Berufsstandes außer Acht Aus unserer Sicht ist zweierlei erforderlich, um dem gelassen worden sind, kann dieser Kraftakt nicht hoch Problem der Kettenduldung zu begegnen. Zum einen genug bewertet werden. Es besteht Einigkeit: Das Ge- brauchen wir eine großzügige Altfallregelung mit Bedin- setz zur Modernisierung des Rechts der landwirtschaftli- gungen, die der Großteil der Geduldeten tatsächlich er- chen Sozialversicherung muss 2008 in Kraft treten. füllen kann. Zum anderen brauchen wir grundsätzliche Verbesserungen bei der Ermöglichung des Aufenthalts Mit dem jetzt vorgelegten Gesetzentwurf wollen wir aus humanitären Gründen, damit auch in Zukunft – jen- erreichen, dass die agrarsozialen Sicherungssysteme sta- seits von Stichtagen – der Übergang von der Duldung bilisiert und an den nach wie vor anhaltenden Struktur- zur Aufenthaltserlaubnis erreicht werden kann. Zu bei- wandel angepasst werden. Nur so lassen sich stabile Bei- den Ansätzen hat die grüne Bundestagsfraktion frühzei- träge erreichen. Der Gesetzentwurf sieht zahlreiche tig Anträge eingebracht, die aber – entgegen mancher Maßnahmen vor, die organisatorische Änderungen in der Äußerungen in der Presse – dann bei den entscheidenden landwirtschaftlichen Sozialversicherung beinhalten. Auch Abstimmungen von den Koalitionsabgeordneten abge- im Leistungs- und Beitragsbereich der landwirtschaftli- lehnt wurden. chen Unfallversicherung wird es zu Änderungen kom- men. (B) Letztere Änderungen werden vom landwirtschaftli- (D) Anlage 7 chen Berufsstand mitgetragen, dem ich an dieser Stelle Zu Protokoll gegebene Reden höchstes Lob zollen und Dank sagen möchte. Ich kenne keine andere Branche, die schon so frühzeitig betrieblich zur Beratung: durchaus schmerzhafte Änderungen des Leistungsrechts – Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung angemahnt hat, um mittelfristig spürbare finanzielle Ein- des Rechts der landwirtschaftlichen Sozial- sparungen im Bereich der landwirtschaftlichen Unfall- versicherung (LSVMG) versicherung zu erreichen. Bereits im Februar 2004 ha- ben Deutscher Bauernverband und Gesamtverband der – Unterrichtung: Bericht nach § 99 der Bun- Deutschen Land- und Forstwirtschaftlichen Arbeitgeber- deshaushaltsordnung über die Umsetzung verbände Maßnahmen gefordert, die jetzt zum überwie- und Weiterentwicklung der Organisations- genden Teil in dieses Gesetz mit eingeflossen sind. Über reform in der landwirtschaftlichen Sozial- weitere Vorschläge – etwa über den Vorschlag einer ren- versicherung tenentschädigungspflichtigen Minderung der Erwerbsfä- (Tagesordnungspunkt 19 a und b) higkeit erst ab 30 Prozent anstelle von bisher 20 Prozent und den Wegfall des Rentenbezuges ab Erreichen der Regelaltersrente – wird im Lauf des Gesetzgebungsver- Gitta Connemann (CDU/CSU): Soziale Sicherheit fahrens zu sprechen sein. Der Berufsstand hat damit frü- für die Menschen im ländlichen Raum – dafür steht die her als alle anderen seine Hausaufgaben gemacht. landwirtschaftliche Sozialversicherung, über die wir heute debattieren. Sie ist das berufsständische Siche- Die Landwirtschaft, die sich so vorbildlich einge- rungssystem, das unsere Land- und Forstwirte, unsere bracht hat, hat verdient, dass sich der Bund seiner Ver- Gärtner und ihre Familien gegen Unfall, Krankheit, Ge- antwortung ihr gegenüber bekennt. Und das hat er mit brechen und Alter absichert. Die landwirtschaftliche seinen Haushaltsplanungen für 2008 getan. Sozialversicherung hat sich in der Vergangenheit hervor- ragend bewährt. Zugleich konnte ein rasanter Struktur- Denn im Entwurf für den Haushalt des Bundesminis- wandel bislang sozial abgefedert werden. teriums für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher- schutz für das Jahr 2008 sind einerseits 100 Millionen Die Herausforderungen werden aber größer. Mit Aus- Euro als Beitragszuschuss für die landwirtschaftliche nahme des Gartenbaus nimmt die Zahl der landwirt- Unfallversicherung vorgesehen. Gleichzeitig sollen ins- schaftlichen Betriebe von Jahr zu Jahr ab. Die Zahl der gesamt 400 Millionen Euro zusätzlich aus Vermögens- versicherten Beitragszahler wird geringer und die Zahl verkäufen zur Verfügung gestellt werden, um die Emp- 12298 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) fänger von kleineren Unfallrenten im Rahmen einer Berechnungen nicht bekannt sind. Modellberechnungen (C) zeitlich begrenzten Aktion abzufinden. Weitere 250 Mil- durch das BMELV, aus dem sich die Auswirkungen des lionen Euro sind von den landwirtschaftlichen Berufsge- mit den derzeitigen Parametern vorgesehenen Aus- nossenschaften aus dem Vermögen aufzubringen. Ziel ist gleichsverfahrens ergeben – es geht um die Frage, ob die es, den Rentenaufwand dauerhaft um 100 Millionen Euro Zielsetzung des Gesetzgebers damit erreicht wird –, zu senken. wurden bisher nicht vorgelegt. Das Interesse an dieser Abfindung ist zu Recht hoch. Es fehlt die nachvollziehbare Definition des Eigenan- Denn bei vielen wird sich, quer durch alle Altersgrup- teils einer jeden landwirtschaftlichen Berufsgenossen- pen, die Abfindungsregelung rechnen. Allerdings ist die schaft sowie auch die Parameter der Altlastverteilung, Feststellung immer für den Einzelfall unter entsprechen- eines Ausgleichsverfahrens im engeren Sinne. Analog der Flankierung von landwirtschaftlichen Berufsverbän- der Bestrebungen im Bereich der gewerblichen Berufs- den und Berufsgenossenschaften zu treffen. Damit es genossenschaften sollte dies der Selbstverwaltung des nicht zu Schlechterstellungen kommt, ist im Verlauf des LSV-Spitzenverbandes unter Setzung einer angemesse- Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob die parallele nen Frist überlassen werden. Das wäre nun wirklich eine Weitergeltung der Abfindungsregelungen des SGB VII wichtige und zentrale Aufgabe eines bundesweit zustän- dazu führen kann, dass die Abfindungssumme insbeson- digen Gremiums. dere in den ersten 15 Jahren nach dem Unfall nach den Es darf nicht dabei bleiben, dass die Verteilung der Regeln der Sonderaktion niedriger ausfällt als nach Nor- Altlast nach beitragsbelastbaren Flächenwerten erfolgt, malrecht. Zum anderen beziehen sich die Werte der Ab- die auf die Lage jeder einzelnen Parzelle abstellt. Dies findungstabellen auf Sterbetafeln der 60er-Jahre. Für den ist nämlich mit den derzeit vorhandenen Daten der LSV- Fall, dass im Rahmen einer Reform des Rechts der ge- Verwaltungsgemeinschaften nicht möglich. Hierzu wäre setzlichen Unfallversicherung dann aktuelle Sterbetafeln die aus wirtschaftlichen Gründen bisher stets zurückge- und damit zwangsläufig bessere Kapitalisierungsfakto- wiesene Einführung eines Flurstückkatasters erforder- ren zur Anwendung kämen, müsste gegebenenfalls auch lich. über die Aufnahme einer einschlägigen Vorbehaltsklau- sel nachgedacht werden. Vor allem scheint mir die Festlegung der von den ein- zelnen LBGen zu tragenden Neulast mit dem zweifachen Aus meiner Sicht ist es absolut begrüßenswert, dass der Jahresrenten der letzten 5 Jahre eher willkürlich zu die landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften ver- sein; sie überstrapaziert den solidarischen Altlastenaus- pflichtet werden sollen, ihre Beitragsmaßstäbe, wohlge- gleich. merkt bei regionaler Festsetzung, flächendeckend am (B) Unfallrisiko zu orientieren. Die Landwirtschaftlichen Ich möchte dies am Beispiel des Gartenbaus beispiel- (D) Berufsgenossenschaften Niedersachsen-Bremen und Nord- haft deutlich machen. Die Situation dort unterscheidet rhein-Westfalen haben diesen Schritt schon vollzogen. sich erheblich von der in der übrigen Land- und Forst- Andere, zum Beispiel die Landwirtschaftlichen Berufs- wirtschaft. Dies gilt nicht nur für den Kreis der Versi- genossenschaften Schleswig/Holstein und Hamburg, cherten, sondern auch für die Zahl der versicherten Hessen-Rheinland-Pfalz und Saarland, Niederbayern/ Unternehmen. So ist die Zahl der versicherten Unterneh- Oberpfalz und Schwaben sowie Baden-Württemberg men in den letzten zehn Jahren entgegen der sonstigen werden in absehbarer Zeit folgen. Entwicklung erheblich gestiegen. Im Übrigen sind bei den Sozialversicherungsträgern für den Gartenbau er- Diese Anwendung risikoorientierter Beitragsmaß- heblich mehr Arbeitnehmer als Unternehmer versichert. stäbe in ganz Deutschland ist aus meiner Sicht eine we- Viele der jetzt debattierten Änderungen sind bereits um- sentliche Gerechtigkeitsvoraussetzung für den geplanten gesetzt. Es gibt einen bundeseinheitlichen Träger sowie partiellen Lastenausgleich zwischen den landwirtschaft- einen bundesweit einheitlichen Beitragsmaßstab. Der lichen Berufsgenossenschaften. Strukturell benachtei- Gartenbau soll nun nach dem vorliegenden Entwurf wie ligte landwirtschaftliche Berufsgenossenschaften, die ein regionaler Träger in den innerlandwirtschaftlichen hohe Kosten für Altrenten tragen müssen, sollen entlas- Solidaritätsausgleich einbezogen werden. Angesichts tet werden. der zu erwartenden erheblichen finanziellen Zusatzlast, die sich zwingend auf die Beiträge niedergeschlagen Grundsätzlich ist es richtig, mithilfe einer Lastenver- muss, wird diese Einbeziehung abgelehnt. Ich kann dies teilung unter den landwirtschaftlichen Berufsgenossen- persönlich nachvollziehen. Denn hier kann der Eindruck schaften bundesweite Solidarität herzustellen. Solidarität entstehen, dass die Gartenbaubetriebe nach Vorleistung bedeutet aber immer auch, Lastenverschiebungen inner- erneut zur Kasse gebeten werden sollen. halb des Systems vorzunehmen. Innerhalb des Systems würde dies zu Lastenverschiebungen beispielsweise vom Es gibt also durchaus noch Klärungs- und Abstim- Norden und vom Osten in den Süden. Die Selbstverwal- mungsbedarf. Die Betroffenen müssen die Möglichkeit tung hat hier sicherlich einen hohen Grad an solidari- haben, sich zu äußern. Deshalb ist es auch gut und ver- scher Verantwortung. Auch die landwirtschaftlichen Be- nünftig, wie geplant eine Anhörung durchzuführen. rufsgenossenschaften im Norden sind aufgrund der Denn so können offene Fragen, auch strittige Punkte er- bundespolitischen Forderung nach mehr innerlandwirt- örtert werden. Die Große Koalition zeigt damit mehr schaftlicher Solidarität nicht grundsätzlich abgeneigt. Weisheit und auch Demokratieverständnis als die dama- Über die inhaltliche Ausgestaltung muss jedoch schon lige Bundesministerin Renate Künast. Unter ihrer Ägide allein deswegen noch beraten werden, weil verlässliche wurde 2001 eine Organisationsreform in der landwirt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12299

(A) schaftlichen Sozialversicherung beschlossen – hemdsär- Last – um 100 Millionen von 400 auf 300 Millionen (C) melig, ohne vorherige Anhörung. Das ist nicht unser Euro reduziert werden. Stil. Wir setzen auf den konstruktiven Dialog mit unse- rem Berufsstand, seinen Verbänden, den Sozialversiche- Damit diese Aktion voll und schnell greifen kann, ist rungsträgern und ihren Mitarbeitern. Denn wie schon es wichtig, dass das Gesetz zum 1. Januar 2008 pünkt- Joseph Joubert wusste: Nicht Sieg sollte der Sinn der lich in Kraft tritt. Denn die Abfindungsaktion ist auf die Diskussion sein, sondern Gewinn. Jahre 2008 und 2009 begrenzt. Nur für diesen Zeitraum und nur in diesen beiden Jahren gibt es mehr Geld vom Bund, in Höhe von jeweils 200 Millionen Euro. Marlene Mortler (CDU/CSU): Die landwirtschaftli- che Unfallversicherung muss dringend reformiert wer- Das ist nicht selbstverständlich. Ich danke an dieser den. Das war unsere langjährige Forderung als Union in Stelle Horst Seehofer ein zweites Mal. Er ist der Bundes- der Opposition. Nun ist es soweit. Heute haben wir die minister, der die Bundesmittel für die landwirtschaftli- erste Lesung. Aber bis hierhin war es ein langer Weg. che Unfallversicherung in seiner Amtszeit nicht gekürzt Die ersten Eckpunkte wurden in der Koalitionsvereinba- hat. Im Gegenteil: Er nimmt zusätzliches Geld in die rung von Schwarz-Rot gelegt. Die wichtigsten Ziele sind Hand für eine tragfähige Reform. Aber nicht nur der eine angemessene Beitragsbelastung der landwirtschaft- Bund nimmt zusätzliches Geld in die Hand, sondern lichen Betriebe und innerlandwirtschaftliche Solidarität. auch die regionalen Berufsgenossenschaften sind gefor- Uns ist klar, dass diese beiden Punkte am besten durch dert. die Schaffung eines Bundesträgers erfüllt werden könn- Wird zum Beispiel eine Unfallrente mit 16 250 Euro ten. Schon im Koalitionsvertrag haben wir darauf hinge- abgefunden, dann stammen 10 000 Euro vom Bund und wiesen: Sollte die Schaffung eines Bundesträgers nicht 62,5 Prozent – in diesem Fall 6 250 Euro – muss die je- möglich sein, ist ein anderer Mechanismus zur Stärkung weilige Unfallversicherung drauflegen. Uns ist bewusst, der innerlandwirtschaftlichen Solidarität erforderlich. dass es der einen Berufsgenossenschaft sehr leicht fallen wird und der anderen Berufsgenossenschaft sehr, sehr Ich danke an dieser Stelle Horst Seehofer. Er hat mit schwer fallen wird weiteres, eigenes „freies“ Geld auf- beispielhaftem Geschick dieses Gesetz auf den Weg ge- zubringen. bracht. Und ich sage ausdrücklich: Diese Reform hat ih- ren Namen auch wirklich verdient. Trotzdem wird bis Deshalb ist die nächste entscheidende Frage: Was zum heutigen Tag über Vorteile, über Nachteile, über müssen wir tun, damit die neue alte Last nicht wieder an- mehr Einfluss, über mehr Gerechtigkeit, über mehr wächst und der positive Effekt der Abfindungsaktion Geld, über mehr Kontrollen diskutiert. Wir haben uns schon nach ein paar Jahren verpufft ist? Das heißt, wir (B) nicht beirren lassen und immer wieder das große Ganze brauchen weitere Stellschrauben, um Einsparungen in (D) im Blick behalten. Zunächst mussten viele grundsätzli- der Unfallversicherung zu erzielen. Hier gibt es zwei che Fragen geklärt werden, zum Beispiel: Kann das Sys- Möglichkeiten. Zum einen im Leistungsbereich und zum tem nicht auf eine private Versicherungsbasis gestellt anderen bei den Verwaltungskosten. Aus meiner Sicht werden? Die Antwort der privaten Versicherungswirt- reichen die Stellschrauben im Leistungsbereich längst schaft lautet: Mit der alten Last können wir es nicht billi- nicht aus. Wir werden zwar die Selbstbeteiligung bei der ger machen und ohne alte Last nicht besser. Betriebs- und Haushaltshilfe einführen. Wir werden au- ßerdem die Wartezeit bei Unfallrenten von derzeit 13 auf Die zweite Frage: Welche finanziellen Auswirkungen 26 Wochen erweitern. Aber zu einer ehrlichen Diskus- hätte die Umstellung des LUV-Systems auf ein kapital- sion gehört es, aufzuzeigen, dass zum Beispiel über ein gedecktes Sicherungssystem? Das Ergebnis eines aus- Drittel des jährlich entstehenden Neurentenvolumens auf führlichen wissenschaftlichen Gutachtens war: Es wird Altenteilerrenten entfallen. für beide, für den Bund, aber insbesondere auch für die Versicherten sehr teuer. Ein kostenentlastender Effekt Wollen wir also auf Dauer zu einer echten Kostenent- stellt sich zudem nur äußerst mittel- bis eher langfristig lastung kommen, müssen wir den Vorschlag intensiv auf ein. Also schied auch diese Möglichkeit aus. den Ausgabenblock mit dem größten Einsparpotential schauen. Was spricht also dagegen, dass man Altentei- Dritte Frage – und damit waren wir wieder am Aus- lern, die bereits über Altersrenten und Austragsleistun- gangspunkt –: Wie können wir unser umlagenfinanzier- gen abgesichert sind, bei einem neu eintretenden Berufs- tes Versicherungssystem zukunftsfest machen? Wie kön- unfall keine Rente mehr gewährt? Ich will aber nen wir es sinnvoll reformieren? Sinnvoll heißt für mich: klarstellen: In bestehende Rentenverhältnisse soll kei- Wie können die landwirtschaftlichen Betriebe beitrags- nesfalls eingegriffen werden. Andererseits erhalten Al- mäßig entlastet werden? Denn Jahr für Jahr gibt es im- tenteiler schon nach geltendem Recht eine deutlich redu- mer weniger Beitragszahler auf der einen und immer zierte Unfallrente. Damit wird auch nur noch der mehr Leistungsempfänger auf der anderen Seite. abstrakte Gesundheitsschaden ausgeglichen. Der entscheidende Kern unserer Reform ist eine Ab- Zum Lastenausgleich. Bei diesem Punkt gibt es nach findungsaktion von Unfallrenten. Das heißt, jeder Bezie- meiner Meinung die größten Missverständnisse. Fakt ist: her einer Unfallrente, auch Arbeitnehmer deren MDE Seit 1963 erhalten landwirtschaftliche Berufsgenossen- unter 50 Prozent liegt, kann einen Antrag auf einmalige schaften jährlich Bundesmittel zur Beitragssenkung. Abfindung stellen. Durch das Herauskaufen der Unfall- 1980 hat man mit Zustimmung aller Berufsgenossen- renten soll der Rentenbestand – also die sogenannte alte schaften den sogenannten 79er-Schlüssel eingeführt. Auf 12300 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Heute übertragen heißt das: Von den zurzeit gewährten Wir wollen die landwirtschaftliche Sozialversiche- (C) Bundesmitteln in Höhe von 200 Millionen Euro werden rung für die Zukunft erhalten. Das geht aber nur, wenn 14 Millionen umverteilt. Sie werden deshalb umverteilt, alle ihre Hausaufgaben machen. Der Bund hat seine Ver- weil es regional unterschiedliche Strukturen gibt. Ob antwortung immer wahrgenommen. Sie wissen, dass wir kleinere Betriebe, größere Betriebe, mehr Strukturwan- in der Vergangenheit erhebliche Anstrengungen dazu ge- del, weniger Strukturwandel: Unterbelastete LBGen leistet haben. Ich will nur darauf verweisen, dass wir werden also belastet und überbelastete LBGen werden zweimal Bundesvermögen veräußert haben, um die Bei- entlastet. Das ist bis heute so gewollt und akzeptiert. träge stabil zu halten. Und wir stehen dazu, dass der Bund seine finanzielle Unterstützung fortsetzen wird, al- Spätestens ab 2010, wenn es nur noch 100 Millionen lerdings nur, wenn diese Mittel sparsam und wirtschaft- Bundesmittel gibt, kann dieser Mechanismus nicht mehr lich verwendet werden. Eine Blockade von Trägern oder voll greifen. Das heißt, wir brauchen eine Anschlussre- von den Ländern gefährdet den Bundeszuschuss. gelung für den sogenannten 79er-Schlüssel. Denn statt 14 Millionen hätten wir nur noch 7 Millionen Euro Um- Ich weiß, dass manche Länder die Position vertreten, verteilungsmasse. Das LSVMG sieht deshalb rund eigentlich passe ja alles, nur der Bundeszuschuss sei zu 3,2 Prozent des gesamten Umlagevolumens für die soli- niedrig. Es gibt auch immer noch Menschen, die glau- darische Umverteilung vor. ben, die Welt sei eine Scheibe. Es ist endlich einmal an der Zeit, dass die Länder anerkennen, dass sie in der Noch eines muss ich klarstellen: Die Einführung des Pflicht sind. Lastenausgleichs hat mit der Umstellung der Beitrags- Wir müssen nicht nur unserem Haushaltsausschuss maßstäbe überhaupt nichts zu tun. Das ist alleine Sache begründen können, warum wir in den nächsten zwei Jah- der regionalen Träger. Ein Bundesträger hätte viel gra- ren 400 Millionen Euro zusätzlich für die Abfindungsak- vierendere Auswirkungen. Allerdings begrüße ich es, tion ausgeben wollen, sondern besonders allen Steuer- dass der Gesetzentwurf vorsieht, dass die einzelnen zahlern. Schauen Sie in den Bundesrechnungshofbericht, LBGen ihre Beitragsmaßstäbe verändern. Es soll zwar er lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Bundesmittel wird kein bundeseinheitlicher Beitragsmaßstab geschaffen es in Zukunft nur geben, wenn wir eine effektive Organi- werden, aber die Berufsgenossenschaften müssen zwin- sation hinkriegen. gend dafür sorgen, dass sie ihre Maßstäbe wesentlich ri- sikogerechter ausgestalten. Ich fordere alle Berufsgenos- Wir brauchen einen deutlichen Schritt nach vorne. senschaften auf, ihre Hausaufgaben bis spätestens Ende Das, was dem Bundesrat an Empfehlungen vor seiner des Jahres 2008 zu machen. Sitzung morgen vorliegt, ist ein Schritt zurück. Die Län- der, die eine effektive Organisation verhindern, müssen (B) Ein Bundesträger muss nicht automatisch besser und sich über eines klar sein: Sie müssen dann aber auch die (D) wirtschaftlicher arbeiten. Aber im Bericht des Bundes- Scherben zusammenkehren. rechnungshofs zur Organisationsreform in der LSV vom 17. Juli 2001 wird klar: Keiner der verbliebenen Träger Wir haben mit dem LSV-Modernisierungsgesetz ei- hat seine Aufgaben so gut gemacht, dass wir zufrieden nen Vorschlag auf dem Tisch liegen, der gerade für die sein könnten. Deshalb ist unsere Antwort: Wenn kein Unfallversicherung eine deutliche Stabilisierung für die Bundesträger durchzusetzen ist, brauchen wir einen ge- Zukunft bringen kann. Die Abfindungsaktion wird die meinsamen Spitzenverband, auf den weitere Aufgaben Kosten für die Zukunft nachhaltig reduzieren. Dasselbe konzentriert werden müssen. Das sind vor allem Zentral- gilt für die Veränderungen im Leistungsbereich, die aus und Querschnittsaufgaben. Und der Nutzen der ange- meiner Sicht tragbar sind. strebten Synergieeffekte muss am Ende den landwirt- Weitere Vorschläge zum Leistungsrecht sind an uns schaftlichen Betrieben zugute kommen. herangetragen worden. Wir werden dies in der Anhörung und in den Ausschussberatungen prüfen. Aber auch hier Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Der Bundes- liegen Vorschläge auf dem Tisch, die eine Kostenverla- rechnungshofbericht über die Umsetzung der Organisa- gerung auf den Bund bedeuten. Ich bin für vieles offen, tionsreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherung aber solchen Vorschlägen werden wir nicht zustimmen. zeigt einen deutlichen Handlungsbedarf auf. Mit dem Handlungsbedarf besteht auch wegen der eklatanten Gesetz zur Modernisierung des Rechts der landwirt- Beitragsunterschiede zwischen den verschiedenen Trä- schaftlichen Sozialversicherung ziehen wir die Konse- gern für vergleichbare Betriebe. Auch dazu enthält unser quenzen daraus, soweit es uns möglich ist. Ich betone: Gesetzentwurf Vorschläge, die wir sicher noch ausführ- soweit es uns als Bund möglich ist. lich diskutieren werden. Es gibt also die Notwendigkeit und den Spielraum für mehr Solidarität innerhalb der Notwendig wäre eine weitreichende Reform. Es ist ja Landwirtschaft – die Notwendigkeit vor allem deshalb, kein Geheimnis, dass ich weiterhin einen Bundesträger weil erst dann, wenn diese Spielräume genutzt sind, die als die beste Lösung ansehe. Es gab dazu sowohl von Solidarität der Steuerzahler eingefordert werden kann. den Ministerien als auch von uns Abgeordneten etliche Gespräche. So gut es ist, dass wir hier auf Bundesebene Wir werden auch über die Organisation weiter disku- alle an einem Strang ziehen, so bedauerlich ist es, dass tieren müssen. Wir wollen die Interessen des Bundes, die Länder sich einfach querstellen und sogar Vorschläge der betroffenen Landwirte und Gärtner sowie des Perso- im Bundesrat auf den Tisch legten, die hinter die Reform nals wahren. Dazu sind Änderungen möglich. Aber eines von 2001 zurückfallen. wird sich nicht ändern: Wir haben ein Paket vorliegen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12301

(A) das nicht aufgeschnürt wird. Die Abfindungsaktion und Selbstverständlich ist die FDP gerne bereit, konstruk- (C) den Lastenausgleich gibt es nur mit der Organisationsre- tiv an notwendigen Anpassungen bei der Organisation, form. der Beitragsbemessung oder dem Leistungskatalog mit- zuarbeiten. Nur, den Landwirten Sand in die Augen zu Wir wollten eigentlich eine weitergehende Reform streuen und dies als Lösung für die strukturbedingten machen. Das ist leider nicht möglich. Politik ist die Probleme zu präsentieren, das geht nicht. Da macht die Kunst des Möglichen. Das Mögliche machen wir. FDP nicht mit. Die Reformschwäche von Minister Seehofer geht so- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Gerne hätte ich wohl zulasten der Landwirte als auch zulasten des Haus- mit Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regie- halts – und damit aller Steuerzahler. Die Abfindungsak- rungskoalition, heute hier zur normalen Tageszeit über tion für Kleinstrenten ist aus meiner Sicht reine den Gesetzentwurf zur Modernisierung der landwirt- Geldverschwendung. In den nächsten beiden Jahren sol- schaftlichen Sozialversicherung, LSV, diskutiert. Ich len 800 Millionen Euro in ein längst nicht mehr finan- nehme an, es war Absicht, die Tagesordnung so zu ge- zierbares System gesteckt werden, und danach wundern stalten, dass keine direkte Aussprache stattfindet. Denn: sich alle, wenn sie 2010 erneut vor leeren Kassen stehen. Betrachtet man das Meinungsbild innerhalb der Koali- Selbst der agrarpolitische Sprecher der CDU/CSU-Ko- tionsfraktionen oder zwischen Bund und Ländern zum alition schließt ein Scheitern nicht mehr aus. Die FDP Thema LSV, so könnte es dissonanter nicht sein. Nur setzt sich stattdessen mit ihrem Vorschlag für einen eins ist allen gemeinsam: die Unzufriedenheit mit dem nachhaltigen, zukunftsfesten Umgang mit Steuermitteln vorliegenden Entwurf. ein. Die versprochene grundlegende Reform wird zur Wie brisant das Thema inzwischen ist, zeigt nicht zu- Scheinreform, ausgekungelt und möglichst hinter ver- letzt der umfangreiche Empfehlungskatalog der Bundes- schlossenen Türen auf den Weg gebracht, damit der Ko- ratsausschüsse, der 48 Änderungsvorschläge bzw. Emp- alitionsfrieden nicht leiden möge. Selbst die verfas- fehlungen umfasst. Drei konkrete Punkte möchte ich sungsrechtliche Frage der „Zustimmungspflichtigkeit“ aufgreifen: wird zum politischen Spielball. Und am Ende will keiner Erstens: fehlende Planungssicherheit. Die Länder for- für diesen Murks verantwortlich gewesen sein. So sieht dern die gesetzliche Verankerung der zugesagten jährli- schwarz-rote Agrarsozialpolitik unter dem „Obersozial- chen Bundesmittel für die landwirtschaftliche Unfallver- politiker“, Zitat Bild-Zeitung, Horst Seehofer aus. sicherung. Zwei Jahre sind vorbei. Es ist ein Trauerspiel, mit an- (B) Zweitens: fehlender Vertrauensschutz. Die Länder for- (D) sehen zu müssen, wie diese schwarz-rote Koalition mit dern, die Diskriminierung der landwirtschaftlichen Kran- groß angekündigten Reformvorhaben umgeht. Verläss- kenkassen bei der Teilhabe an Bundesmitteln für versiche- lichkeit und Planungssicherheit sind Fremdworte. Ge- rungsfremde Leistungen aufzuheben. genseitige Blockade und Handlungsunfähigkeit prägen das Bild. Drittens: fehlende Verfassungsmäßigkeit. Die Länder fordern, ihre Belange und Interessen ausreichend zu be- Die FDP-Fraktion plädiert seit Anbeginn der Legisla- rücksichtigen und einzuarbeiten. Andernfalls sei die An- turperiode für ein echtes Reformkonzept: die Umstel- rufung des Vermittlungsausschusses unausweichlich. lung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung auf ein Auf Anregung der FDP-Fraktion wird eine Anhörung kapitalgedecktes Finanzierungssystem. Sie hat dafür zu diesem Gesetzentwurf stattfinden. Wir sind es leid, zwar Kritik seitens aller anderen Fraktionen einstecken dass die Landwirte unter Schwarz-Rot immer wieder mit müssen, gleichzeitig aber von den Betroffenen und deren faulen Kompromissen leben müssen. An diesem ver- Verbänden viel Unterstützung erfahren. gleichbar kleinen Reformvorhaben zeigt sich die ganze Schwäche der sogenannten Großen Koalition. Noch ist Man muss sich in dieser Debatte einmal die Frage dieses Gesetz nicht verabschiedet. Am besten wäre, es stellen, um was es eigentlich bei diesem Gesetz geht. Es ganz einzustampfen. geht eben nicht in erster Linie darum, ob der Bund oder die Länder mehr Einfluss erhalten, ob Bundesträger oder Spitzenkörperschaft, ob Lastenausgleich 2010 oder Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Für die Frak- 2011. Das sind doch reine Ablenkungsmanöver einer tion Die Linke sind auch im Zusammenhang mit der Koalition, die handlungsunfähig ist. landwirtschaftlichen Sozialversicherung zwei Fragen entscheidend: Es geht ganz einfach darum, die landwirtschaftliche Erstens. Leistet sie die Absicherung, die gebraucht Sozialversicherung zukunftsfest zu machen. Und das er- wird? Zweitens. Sind die Beiträge auch für die bezahl- reichen Sie angesichts des dramatischen Strukturwan- bar, die auf diese Leistung angewiesen sind? dels in der Landwirtschaft weder mit einer 20-prozenti- gen Reduzierung der Verwaltungsausgaben noch mit Im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung einer teuren ineffektiven Abfindungsaktion und schon geht es aber zunächst leider eben nicht darum, wie diese gar nicht mit einer Minireform im Leistungskatalog. Das wichtigen Fragen geregelt werden, sondern wie so oft erreichen Sie nur, wenn Sie wirklich reformieren und werden zunächst „nur“ Strukturfragen geregelt. Aber konsequent das gesamte System umstellen. über solche Strukturentscheidungen werden natürlich 12302 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Züge auf die Schiene gestellt. Deshalb lohnt es sich Das heißt aus meiner Sicht, dass die angepeilte 100-Mil- (C) schon zu prüfen, wo die Reise hingehen soll. lionen-Euro-Senkung des Bundeszuschusses eben nicht zum alleinigen politischen Mantra werden darf. Der Zunächst wird die Errichtung eines gemeinsamen Strukturwandel, die sehr unterschiedlichen Betriebsfor- Spitzenverbandes für die gesamte landwirtschaftliche men und -größen und die Spezialisierungen der Land- Sozialversicherung als Körperschaft des öffentlichen wirtschaftsbetriebe machten es nicht einfacher. Die da- Rechts vorgeschlagen, weil das eigentliche Ziel eines mit verbundenen sehr unterschiedlichen Risiken müssen bundeseinheitlichen Trägers nicht erreicht wurde. Da- besser berücksichtigt werden, ohne die Solidarität mit für gibt es durchaus auch triftige Gründe. Die bisherige denen aufzukündigen, die auf diese soziale Absicherung Anzahl der Träger der LSV von neun bleibt erhalten. angewiesen sind. Das ist jedenfalls für Die Linke ein we- Die bisherigen Erfahrungen mit der Umorganisation sentliches Kriterium in der Debatte. der landwirtschaftlichen Sozialversicherung sind er- nüchternd. Bundesrechnungshof und Bundesregierung Das trifft übrigens auch auf die Personalvertretungs- stimmen in der Bewertung des ersten Gesetzes zur Or- rechte der Beschäftigten der Versicherungsträger zu. Sie ganisationsreform in der landwirtschaftlichen Sozial- müssen in alle ihre Belange betreffenden Entscheidun- versicherung vom 17. Juli 2001 überein: Diese Reform gen frühzeitig und selbstverständlich wirkungsvoll ein- bezogen werden. Dazu haben sie Vorschläge gemacht, ist gescheitert. Der Bundesrechnungshof hatte übrigens die ernsthaft diskutiert werden müssen. daraus schlussfolgernd eine radikale Verminderung der Träger auf nur noch vier bundesweit zentral organi- Und um es zum Schluss noch einmal klar zu sagen: sierte vorgeschlagen. Die Bundesregierung schafft da- Eine Strukturreform, die sich am Ende auf ein Arbeits- gegen eine zusätzliche Struktur, den Spitzenverband. platzabbauprogramm bei den Trägern reduziert, wie zum Wie damit die Wirtschaftlichkeit und Effektivität des Beispiel auch in der Agrarressortforschung, werden wir Systems verbessert werden kann, muss zumindest hin- auf keinen Fall mitmachen. Solche Reformen lösen terfragt werden! Ich gehe davon aus, dass wir in eini- keine Probleme, sondern schaffen nur neue, wenn auch gen Jahren erneut ein Gesetz zur Organisationsreform vielleicht an anderer Stelle. Der Politik dürfen sie nir- diskutieren, weil dieses Zwischengesetz nicht zum Ziel gendwo gleichgültig sein. führt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Zentralisie- rungsidee des Bundesrechnungshofes ist nicht wirklich Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es innovativ und ob sie der Komplexität der Probleme ge- ist ein richtiges Trauerspiel, dass Minister Seehofer und recht wird, darf ebenso bezweifelt werden. Solange wir die schwarz-rote Koalition entgegen ursprünglichen An- Strukturfragen als Alibidebatte diskutieren, weil wir an kündigungen auf die Einführung eines Bundesträgers für (B) die eigentlichen Probleme wie Beitragsgerechtigkeit die acht regionalen Träger der drei LSV-Zweige verzich- (D) nicht konsequent genug herangehen, werden wir keine ten. Denn der Bundesträger ist angesichts des fortgesetz- tragfähige Lösung finden. ten Strukturwandels in der Landwirtschaft und der steti- gen Abnahme an Versicherten unbedingt notwendig, um Dabei gibt es gute Beispiele dafür, wie es gehen eine effiziente Sozialversicherung gewährleisten zu kön- könnte. Eine bundesweite vergleichsweise effiziente und nen. funktionierende Unfallversicherung im Agrarsektor existiert zum Beispiel mit der Gartenbau-Berufsgenos- Aus demselben Grund macht die Errichtung des ge- senschaft. Ihre Bezuschussung durch den Bund ist sogar meinsamen Spitzenverbandes sicher Sinn. Aber dies vergleichsweise gering! Lösungen, die vom Bundesrech- kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dies nur eine nungshof angemahnt wurden, sind dort schon umgesetzt. Minimallösung ist, die den Bundesträger nicht ersetzen Die Gartenbau-Berufsgenossenschaft hat sich in jünge- kann! Außerdem kommt bei dieser Lösung der Garten- rer Zeit mit eigenen Vorschlägen in die Debatte um die bau unzumutbar schlecht weg. Denn die in der Garten- Reform der Sozialversicherung eingebracht. Sicher hat bau-BG versicherten Betriebe, die etwa ein Drittel der auch sie nicht den Königsweg zur Reform zu bieten, Versicherten in der LUV stellen, sind in den Gremien aber es finden sich einige Aspekte in der Organisation deutlich unterrepräsentiert! Das kann nicht so bleiben. und Arbeit der Gartenbau-BG, die es wert sind, in die Außerdem muss der Gartenbau zukünftig im Namen des Debatte um die LSV insgesamt Eingang zu finden. Spitzenverbandes auftauchen, damit wahrgenommen Meine Fraktion ist jedenfalls für eine sorgfältige Prüfung wird, dass auch der Gartenbau Teil der LSV ist. Eine dieser Erfahrungen. Vor allem die Fragen zur Zentrali- Möglichkeit wäre die Bezeichnung „Spitzenverband der sierung von Teilaufgaben, zur Beitragsgerechtigkeit für Sozialversicherung für Landwirtschaft und Gartenbau“. die Mitglieder und zur Risikoorientierung sind aus unse- Das Angebot zur Abfindung von Bestandsrenten rer Sicht von Bedeutung. In der Unfallprävention sind tragen wir im Grundsatz mit. Was in diesem Zusammen- dabei ebenfalls Fortschritte zu erreichen, die weiter ge- hang aber sehr zu kritisieren ist, ist die Art der Finan- hen als wir sie aus der Landwirtschaft kennen. Und Prä- zierung. Es ist eine grobe Missachtung der Haushalt- vention ist meistens allemal billiger als Schadensregula- wahrheit und -klarheit, dass die vorgesehenen Zuschüsse tion. Eine umfassende Evaluierung der existierenden von 400 Millionen Euro im Bundeshaushalt nur als Fuß- Berufsgenossenschaften wäre dringend erforderlich, note vermerkt werden, aber nicht bei den Ausgaben mit denn der Bundesrechnungshof hat vorwiegend aus be- einberechnet werden. Außerdem ist es nicht in Ordnung, triebswirtschaftlichem Blickwinkel evaluiert – wir brau- dass sich die LUVen zwar mit 250 Millionen Euro an der chen aber den volkswirtschaftlichen Blickwinkel. Finanzierung beteiligen sollen, der Bund die erhofften Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12303

(A) Einsparungen aber ab 2010 komplett selber einstreichen setz zur Organisationsreform in der landwirtschaftlichen (C) will. Hier sollten die LUVen entsprechend ihrem Finan- Sozialversicherung aus 2001 erreichen: zierungsanteil beteiligt werden! Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Rechts der Was die Weiterentwicklung der Beitragsmaßstäbe be- landwirtschaftlichen Sozialversicherung (LSVMG) trifft, so ist es sinnvoll, das Unfallrisiko im Beitragsmaß- übertragen wir einem neuen gemeinsamen Spitzenver- stab zu berücksichtigen. Darüber hinaus wäre es aber nö- band die Befugnis, verbindliche Entscheidungen für die tig, eine einheitliche Beitragsbemessung auf Grundlage Träger zu treffen. Daneben erledigt der neue Spitzenver- des kalkulatorischen Arbeitskräftebedarfs einzuführen. band originäre Verbandsaufgaben. Dadurch können wir Damit würde eine Voraussetzung zur Schaffung eines die Wirtschaftlichkeit des Systems deutlich steigern. Das Bundesträgers in der LUV geschaffen! Ergebnis soll messbar sein: Die LSV-Träger sollen bis zum Jahr 2014 20 Prozent der Verwaltungskosten ein- Auch die Einführung eines Lastenausgleichs zwi- sparen. schen den LUVen ab 2010 ist grundsätzlich sinnvoll. Al- Doch eine Stabilisierung des Systems kann nicht nur lerdings gilt auch hier: Es wäre erheblich wirksamer und durch effektive und moderne Organisationsstrukturen er- einfacher, die regionalen Träger zu einem Bundesträger folgen. Deshalb setzen wir auch im Leistungsrecht den zu fusionieren, um das Ziel des Lastenausgleichs zu er- Hebel an, indem wir die Ausgabenstruktur der landwirt- reichen. schaftlichen Berufsgenossenschaften neu ausrichten. Außerdem ist es nicht in Ordnung, die Gartenbau-BG Nur so schaffen wir die notwendigen Spielräume auf der an diesem Lastenausgleich zu beteiligen, da es sich hier Einnahmeseite und vermeiden Beitragserhöhungen für nur zu einem geringen Teil um landwirtschaftliche Be- die Landwirte. triebe handelt. In der Gartenbau-BG ist der Lastenaus- Den Kernpunkt der Maßnahmen bildet die Abfin- gleich bereits hergestellt. dungsaktion für die Altrenten. Ziel ist die dauerhafte Ab- findung von Kleinrenten. Hierfür sollen zusätzliche Noch ein paar Worte zur Forderung des DBV nach Bundesmittel in einem Umfang von 2 mal 200 Millionen gesetzlicher Absicherung der Zuschüsse an die LUV: Euro – verteilt auf zwei Jahre – zur Verfügung gestellt Diese Forderung ist im Grunde berechtigt. Warum sollen werden. Wichtig ist: Wir reden dabei nicht von einer die Zuschüsse zur LUV nicht wie die zur LKV und zur Zwangsabfindung, sondern von einem Angebot, das für AdL auf Basis gesetzlicher Regelungen gezahlt werden? alle Beteiligten von Vorteil ist. Vorteilhaft für die Versi- Allerdings müssen wir nüchtern feststellen, dass bisher cherten: Denn ihnen bietet sich die Möglichkeit, mit dem die kalkulatorischen Grundlagen fehlen, um beziffern zu Abfindungsbetrag betriebliche Investitionen zu tätigen können, wie hoch dieser Zuschuss zur Finanzierung des oder sonstige Entscheidungen zur Stärkung ihrer wirt- (B) überdurchschnittlichen Rentenbestandes denn sein schaftlichen Existenz zu treffen. Vorteilhaft ist es für die (D) müsste. Deswegen ist eine gesetzliche Absicherung bis- Landwirte als Beitragszahler: Denn über 60 Prozent der her nicht möglich. Es wäre Aufgabe der Bundesregie- Ausgaben für Renten entfallen auf Kleinrenten. Mit der rung, diese Grundlagen zu schaffen. Auch das hat Minis- Abfindungsaktion können wir die Ausgabenstruktur ter Seehofer bisher nicht geleistet! Seine Bilanz in nachhaltig verändern. Dies wirkt sich günstig auf die Sachen Agrarsozialversicherung ist bisher äußerst be- Beitragsbelastung aus. Und vorteilhaft ist es auch für die scheiden! Versicherungsträger: Denn sie werden von der jahrzehn- telangen Verwaltung der Renten entlastet. Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Zugleich wollen wir mit dem Gesetzentwurf die Soli- minister für Arbeit und Soziales: Die landwirtschaftliche darität innerhalb der landwirtschaftlichen Unfallversi- Sozialversicherung ist ein wichtiger Bestandteil der So- cherungsträger stärken. In der Landwirtschaft bestehen zialversicherung in Deutschland und von grundlegender regional unterschiedliche strukturelle Gegebenheiten, Bedeutung für die betroffenen Versicherten. Wir wollen und auch der Strukturwandel verläuft nicht einheitlich. das eigenständige System erhalten. Darauf haben wir Dem wurde bisher bei der Verteilung des Bundeszu- uns im Koalitionsvertrag verständigt. schusses Rechnung getragen. Dies reicht nicht mehr aus. Klar war aber auch: Aufgrund des Strukturwandels in Wir wollen daher ein partielles Lastenausgleichsver- der Landwirtschaft stehen wir vor der Aufgabe, das Sys- fahren einführen. Das bedeutet: Wer deutlich stärker als tem zu stabilisieren. Der Bund hat zurzeit auch zu ge- andere belastet ist, erhält für einen Teil dieser Last die ringe Einwirkungsmöglichkeiten auf die Träger der Unterstützung der Solidargemeinschaft aller landwirt- landwirtschaftlichen Sozialversicherung, obwohl er er- schaftlichen Träger. Auch damit leisten die Unfallversi- hebliche finanzielle Mittel an die landwirtschaftliche So- cherungsträger einen eigenen Beitrag zur Stabilisierung der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. zialversicherung gibt. Eines will ich noch feststellen: Ein solidarischer Las- Bereits im Jahr 2001 haben wir die Organisation der tenausgleich innerhalb der landwirtschaftlichen Unfall- landwirtschaftlichen Sozialversicherung reformiert. Jetzt versicherungsträger ist für mich das Pendant zur solida- hat sich gezeigt: Der Lösungsansatz war richtig, aber rischen Unterstützung von außen durch Bundeszuschuss. nicht ausreichend. Das hat auch der Bundesrechnungs- hof bestätigt. Dem Vorschlag des Bundesrechnungshofes Das LSVMG steht im Gesamtkontext der Reform der – Schaffung eines Bundesträgers – wollen wir aber nicht sozialen Sicherungssysteme. Wir machen damit die folgen. Die Ziele können wir weitgehend auch mit der landwirtschaftliche Sozialversicherung zuverlässig und Weiterentwicklung des Instrumentariums aus dem Ge- zukunftsfest. 12304 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Anlage 8 Hierzu würde ich sehr gerne einmal ein entsprechen- (C) des und fundiertes Beispiel kennenlernen. Oder wird der Zu Protokoll gegebene Reden vermeintliche Nutzen für die Industrie direkt von den zur Beratung des Antrags: Kooperation und Grünen mit der ihnen eigenen marktwirtschaftlichen Be- Koordination im Europäischen Forschungs- trachtungsweise definiert? raum verbessern (Tagesordnungspunkt 18) Die Erreichung der Lissabon-Ziele macht, auch wenn es noch nicht alle begriffen haben, enorme Anstrengun- Carsten Müller (Braunschweig) (CDU/CSU): Das gen auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene not- mit der Überschrift des vorliegenden Antrages formu- wendig. Besonders wichtig sind hierbei die Stärkung des lierte Ziel begrüße ich ausdrücklich. Die Bereiche Wis- Erkenntnis- und Technologietransfers und der Übergang senschaft, Forschung und Innovation bilden das Funda- von Forschungsergebnissen in die anwendungsorien- ment für Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit im tierte Wertschöpfungskette. Unmittelbar nach der Regie- globalen Umfeld. Allerdings muss ich den Antragstel- rungsübernahme ist die unionsgeführte Bundesregierung lern mitteilen, dass der Antrag selbst nichts wirklich diese Herausforderung offensiv angegangen. Darüber hi- Neues oder Revolutionäres enthält. Das hatte ich ehrlich naus müssen zusätzlich die Versäumnisse der Vorgänger- gesagt auch nicht erwartet. regierung aufgeholt werden. Insbesondere bleibt völlig unklar, was Bündnis 90/ Die Grünen während ihrer Zeit in der Regierungsverant- Wie im Antrag ausgeführt, hat sich die EU schon im wortung gemacht haben. In den Bereichen Wissenschaft, Jahr 2000 auf die Schaffung des Europäischen For- Forschung und Entwicklung, offensichtlich nicht allzu schungsraumes zur besseren Kooperation und Koordina- viel. Denn anders ist kaum erklärlich, wie zum Beispiel tion der nationalen Forschungspolitiken verständigt. Es der Abschnitt über das Erreichen der Lissabon-Ziele hin- geht hierbei jedoch nicht nur um verbesserte Koopera- sichtlich privater Investitionen für Forschung in den An- tion und Koordination, sondern ebenfalls um die Erhö- trag kommt. Es wird dargestellt, dass die privaten Aus- hung der finanziellen Aufwendungen für Forschung und gaben, die immerhin zwei Drittel des 3-Prozent-Ziels Entwicklung in Europa. Diese sollen gemäß der Lissa- ausmachen sollen, seit dem Jahr 2000 stagnieren. Die bon-Strategie bis zum Jahr 2010 auf 3 Prozent des BIP Zahlen sprechen für sich und gegen die Leistungen von steigen. Rot-Grün. Zugegebenermaßen ist dies ein sehr ehrgeiziges, aber Zur Frage nach der Verantwortung muss nichts weiter durchaus erreichbares Ziel. Insbesondere vor dem Hin- ausgeführt werden. Es reicht eben einfach nicht aus, tergrund der Ausgaben anderer großer Wirtschaftsnatio- (B) wortreiche Programme und Initiativen zu entwerfen, die nen für Forschung und Entwicklung ist es notwendig, in (D) für die Realität jedoch nicht geeignet sind bzw. keinerlei Europa Schritt zu halten. Die unionsgeführte Bundesre- Nutzen für private Geldgeber und die Wirtschaft haben. gierung hat sich diesem Ziel ebenfalls verschrieben. Nur mit dieser realitätsfernen Wahrnehmung lässt sich Dies wird auch deutlich, wenn man sich die von der eine ganz besonders erwähnenswerte Forderung des An- Regierungskoalition auf den Weg gebrachten, finanziell trages erklären. Ich zitiere: hervorragend ausgestatteten, sinnvoll ausgestalteten und Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie- vor allem am Bedarf orientierten nationalen Programme rung auf, Strategien zu entwickeln, wie private im Rahmen der Hightechstrategie ansieht. Alles in allem Finanzierungsbeteiligungen oder Nutzungsentgelte sind dies wichtige Impulse für den Standort für große europäische Forschungsinfrastrukturpro- Deutschland, aber auch für den Europäischen For- jekte erschlossen werden können, ohne dass die schungsraum. Unternehmen wesentlichen Einfluss auf die Aus- Zudem hat sich Deutschland während der Ratspräsi- richtung der Forschungseinrichtung gewinnen. dentschaft als auch davor, im Rahmen des 7. For- Zu dieser Forderung muss eigentlich nichts gesagt schungsrahmenprogramms – 7. FRP –, besonders stark werden, außer dass sie eben nicht umsetzbar und fast in die Themenbereiche Wissenschaft, Forschung und schon unanständig ist. Auf diese Art funktioniert eine Entwicklung eingebracht. Dies zeigt sich zum einen an fruchtbare Zusammenarbeit von Wissenschaft und For- der finanziellen Ausstattung des 7. FRP und an der Aus- schung mit privaten Geldgebern auf jeden Fall nicht. Ich wahl der diesbezüglichen Themen. Die Schwerpunkte in lasse mich aber natürlich vom Gegenteil überzeugen und den Bereichen Wissenschaft und Forschung stehen also würde mir gerne denjenigen zeigen lassen, der große bereits fest und müssen nicht noch, wie im außerge- Summen so selbstlos, ohne Einfluss auf die Verwendung wöhnlich ausführlichen Vorspann des Antrages ausge- zu haben, zur Verfügung stellt. führt, in ausufernden Diskussionen festgelegt werden. Die erstmalige Etablierung des Europäischen For- Nicht nachvollziehbar ist in diesem Zusammenhang schungsrates nimmt hierbei eine besonders herausra- zudem folgende im Antrag getroffene Aussage. Ich zi- gende Stellung ein. Zum anderen erkennt man das En- tiere: gagement der unionsgeführten Bundesregierung an den Besonders bedenklich ist es, dass sich die Industrie großen Fortschritten, was die Planungen bezüglich der bisher selbst dann nicht engagiert, wenn die ent- Einrichtung eines Europäischen Technologieinstitutes sprechenden Einrichtungen für sie von unmittelba- – ETI – angeht. Gerade in diesem Bereich konnte die rem Nutzen sind. Bundesregierung während der deutschen Ratspräsident- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12305

(A) schaft, unterstützt vom Deutschen Bundestag, wichtige zent und bei den Ingenieurwissenschaften ein Plus von (C) Weichenstellungen vornehmen. 4 Prozent. Mit ihren Initiativen, beispielsweise in der Begabten- und Talentförderung, dem Hochschulpakt, der Entgegen der Annahme in diesem Antrag von Bünd- Exzellenzförderung oder auch der bundesweiten Initia- nis 90/Die Grünen, zielt gerade die von der Bundesregie- tive „Tectoyou“ hat die Bundesregierung daran großen rung gewünschte Ausgestaltung des ETI auf eine verbes- Anteil. serte Kooperation und Koordination im Europäischen Forschungsraum. Das die Innovationsfähigkeit des EFR Hinsichtlich der Anzahl weiblicher Absolventen sind durch die vorgesehenen exzellenten Forschungs- und In- jedoch noch weitere Verbesserungen notwendig, um novationsnetzwerke verbessert wird, ist zu begrüßen. Es auch hier, trotz bereits steigender Zahlen, höhere Absol- ist mir deshalb unverständlich und vor allem ist es wi- ventinnenzahlen zu erreichen. Eine richtige, weil bereits dersprüchlich, im Antrag auf der einen Seite verbesserte früh ansetzende Maßnahme ist der jährlich stattfindende Kooperation und Koordination zur fordern und auf der „Girls´ Day“, der speziell Mädchen und junge Frauen für anderen Seite das ETI, welches genau dies befördern technische und naturwissenschaftliche Berufe motivie- soll, kategorisch abzulehnen. Eine langfristige und sinn- ren soll. Vor allem technische Unternehmen, Betriebe volle Strategie für den Europäischen Forschungsraum mit technischen Abteilungen und Ausbildungen, Hoch- sieht meiner Ansicht nach anders aus. schulen und Forschungszentren öffnen am „Girls´ Day“ ihre Türen für Schülerinnen der Klassen 5 bis 10. Die Ich würde deshalb den Antragstellern empfehlen, sich stetig steigenden Veranstaltungs- und Teilnehmerinnen- einmal das von der Bundesregierung vorgelegte Kom- zahlen machen dessen Erfolg sichtbar. Im Jahr 2007 ha- promisspapier sowie den entsprechenden Antrag von ben bereits 8 113 Unternehmen und Organisationen und CDU/CSU und SPD anzusehen. Von einer Parallelstruk- 137 489 Teilnehmerinnen daran teilgenommen. tur kann in diesem Fall keine Rede sein. Vielmehr soll die Einrichtung des ETI gerade die derzeit bestehenden Die Antragsteller fordern ebenfalls eine Öffnung des Kooperationsstrukturen ergänzen. Damit kommen wir Arbeitsmarktes für Wissenschaftler aus den mittel- und auch dem maßgeblichen Anliegen des Europäischen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten, ohne dass es aller- Forschungsraumes nach, der Schaffung europäischer dings zum Ausbluten des dortigen Wissenschaftsberei- Forschungsinfrastrukturen sowie der Vernetzung beste- ches kommt. Wie das funktionieren soll, erschließt sich hender Einrichtungen. Dadurch werden auch grenzüber- nicht ohne Weiteres. Zum einen haben die entsprechen- schreitende Netzwerke und Forschungsverbünde ge- den Staaten wie auch wir großen Bedarf an Wissen- stärkt werden. schaftlern, zum anderen ist der Unterschied der Lebens- verhältnisse in vielen Fällen noch zu groß, sodass es Wie die Antragsteller in diesem Zusammenhang da- (B) automatisch zu einer Wanderungsbewegung kommen (D) rauf kommen, dass bestehende Initiativen und Pro- würde. gramme geschwächt werden würden, kann ich nicht nachvollziehen. Wie schon erwähnt, das Lesen des Re- Selbstverständlich müssen wir auch darüber sprechen, gierungsvorschlages sowie ein Studium des Koalitions- wie wir die verhältnismäßig hohen Abbrecherquoten an antrages könnten hier für die nötige Klarheit sorgen. Zu- unseren Universitäten und Fachhochschulen in den Griff mindest wird daraus deutlich, dass die jetzige bekommen. Allerdings darf dies auf keinen Fall, wie oft Bundesregierung, im Vergleich zur Vorgängerregierung aus gewissen Richtungen mehr oder weniger offen ge- beispielsweise mit der Antidiskriminierungsrichtlinie fordert, zu Gleichmacherei und zur Vernachlässigung oder der Feinstaubrichtlinie, eine fachlich durchdachte des Leistungsprinzips führen. Auch während der Quali- und praxisnahe Initiative auf europäischer Ebene startet. fikation existiert bereits das Exzellenzprinzip. Einige Anmerkungen möchte ich noch zu dem eben- Alles in allem muss ich festhalten, dass sich falls umschweifend angesprochenen Themenbereich des Bündnis 90/Die Grünen diesen ausschweifenden Antrag Wissenschaftlernachwuchses machen: aufgrund der weitgehenden Inhaltsleere durchaus hätte sparen können. Zu begrüßen wäre es gewesen, wenn die- Fakt ist, dass in Europa in den kommenden Jahren ser Antrag zum Beispiel im Jahr 1999 oder 2000 einge- rund 700 000 Forscherinnen und Forscher fehlen wer- bracht worden wäre. Damals hätte man ihm mit Sicher- den. Um jedoch unseren Forschungsstandort zu sichern, heit eine gewisse Innovationsfreudigkeit nicht muss dieser dringend notwendige Bedarf an Nachwuchs- absprechen können. Heute jedoch kann die CDU/CSU- kräften, insbesondere in den Technik- und Naturwissen- Bundestagsfraktion diesem überholten Antrag nicht zu- schaften, offensiv gewonnen werden. Dazu muss bereits stimmen. frühzeitig in der Schule angesetzt werden. Nur dann ist die Begeisterung des Nachwuchses für Technik und die Naturwissenschaften und somit auch für eine berufliche René Röspel (SPD): Vor der diesjährigen Sommer- Karriere in diesen Bereichen zu wecken. Ein Beginn erst pause haben wir im Ausschuss für Bildung und For- während des Studiums, wie von Bündnis 90/Die Grünen schung das Grünbuch der Europäischen Kommission gefordert, ist bei Weitem zu spät. „Der Europäische Forschungsraum: Neue Perspektiven“ diskutiert. Dabei ging es um die Frage, wie man den Eu- Die Maßnahmen der unionsgeführten Bundesregie- ropäischen Forschungsraum, der Teil der Lissabon-Stra- rung waren bisher erfolgreich. Bei den naturwissen- tegie von 2000 ist, vertiefen und erweitern kann. Die schaftlichen Abschlüssen gab es im Jahr 2006 ein Plus Hauptaussagen des Grünbuchs werden nicht nur von uns von 9 Prozent, im Bereich Informatik sogar von 13 Pro- Politikern, sondern auch in der Wissenschaft debattiert. 12306 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Denn die Anmerkungen sollen später in ein Weißbuch Umfang und mit welchen Grenzen in Deutschland (C) münden, welches in der ersten Hälfte 2008 in Brüssel ethisch problematische Forschung möglich sein sollte. verabschiedet werden soll. Das Weißbuch wird die Mal davon abgesehen, dass bereits die Auswahl der Ver- Grundlage für das 8. Forschungsrahmenprogramm dar- treter der deutschen Position sehr kompliziert werden stellen. Im Grünbuch werden die Mitgliedstaaten aufge- würde. Welche Aufgabe hätte denn der Bundestag in fordert „[…] breit angelegte Erörterungen auf nationaler ethischen Grundsatzdebatten noch? Beim Deutschen und regionaler Ebene [zur Stärkung des Europäischen Ethikrat haben die Grünen noch vor einer Entparlamen- Forschungsraumes] einzuleiten“. (Seite 27) Den Antrag tarisierung gewarnt, nun kann man den Eindruck bekom- der Grünen können wir als weitere Gelegenheit wahr- men, sie forderten selbst eine Verschiebung der Debatte nehmen, dieser Aufforderung nachzukommen. auf die EU-Ebene. Beim Thema Ethik ist es bereits auf Die europäische Forschungslandschaft ist komplex. nationaler Ebene schwierig, einen Kompromiss zu fin- Auf zehn Seiten versucht der Grünen-Antrag alle we- den. Eine klare ethische Positionierung aller EU-Staaten sentlichen Aspekte und Strukturen der Europäischen und nationaler Öffentlichkeiten kann ich mir deshalb Forschungslandschaft anzureißen. Viele Punkte des An- derzeit beim besten Willen nicht vorstellen. Wir haben trages kann man begrüßen, sind schon Regierungshan- und werden uns bei ethischen Fragen in der Forschung deln oder sicher in diesem Haus unstrittig. Andere noch lange nicht auf eine gemeinsame europäische Posi- Punkte müssten aber noch einmal diskutiert werden. Auf tion verständigen können. diese werde ich jetzt kurz eingehen. In dem uns vorlie- genden Antrag wird das Europäische Technologieinstitut Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen möchte, betrifft (EIT) abgelehnt. Über diese Institution haben wir bereits die stärkere europäische Koordinierung von nationalen öfters im Ausschuss und Plenum gesprochen, zuletzt vor Forschungsprogrammen. Als Ziel wird dazu im Antrag der Sommerpause. Grundsätzlich teile ich viele der Be- genannt „[…] dass es dabei aus europäischer Perspektive denken gegen das EIT. Doch wie ich bereits bei meiner weder zu unsinnigen Doppelungen noch zu Lücken in den letzten Rede zum EIT am 21. Juni dargelegt habe, war jeweiligen Forschungsbemühungen kommt“. Gegen Dop- dieses europäische Projekt nicht mehr aufzuhalten. Die pelungen anzugehen macht sicherlich Sinn. Aber was ge- Bundesregierung hat in der Zeit Ihres EU-Vorsitzes mit nau sind „unsinnige“ Doppelungen? Es kann durchaus ihrem damaligen Kompromissvorschlag eine für alle sinnvoll sein, parallel Forschungen durchzuführen. Die Mitgliedstaaten akzeptable Lösung gefunden. Das Euro- diesjährige Vergabe des Nobelpreises für Physik an den päische Parlament hat mittlerweile am 26. September Deutschen Peter Grünberg und den Franzosen Albert Fert den Kommissionsvorschlag für die Schaffung des EIT ist sicherlich das beste Beispiel für positive Doppelung ebenfalls gebilligt. Insofern stimmt Ihre Aussage, das von Forschung! Beide haben unabhängig voneinander, der (B) Europäische Parlament würde das Projekt ablehnen, eine in Jülich, der andere in Paris, am Magnetoeffekt ge- (D) nicht. Auch wenn die Finanzierung immer noch auf tö- forscht. Das Ergebnis dieses Wettstreits findet sich mitt- nernen Füßen steht und die Sinnhaftigkeit der Institution lerweile in Form von Festplatten in jedem Computer wie- sich erst noch zeigen muss, so ist die Entscheidung für der. „Doppelungen“ können also Ansporn sein im Sinne ein EIT endgültig gefallen. Das entbindet uns nationale von belebender Konkurrenz oder auch der Versuch, das Parlamentarier aber nicht von der weiteren kritischen gleiche Ziel auf anderem Wege zu erreichen. Begleitung. Spätestens die Evaluierung bis 2012 wird zeigen, ob das EIT die Erwartungen des signifikanten Lassen Sie mich noch ein paar weitere Worte zum Be- Mehrwerts erfüllen kann. Der Forderung der Grünen reich der europäischen Koordinierung von nationalen aber kann die Bundesregierung nicht entsprechen. Forschungsprogramme sagen. Es macht natürlich Sinn zu wissen, wo die Schwerpunkte der anderen nationalen Ein weiterer Abschnitt in Ihrem Antrag beschäftigt Forschungsprogramme liegen, in welchen Bereichen sich mit Ethik und Forschung auf europäischer Ebene. eine Kooperation möglich ist und welche Bereiche viel- Sie schreiben auf Seite zwei des Antrages „Eine ethisch leicht europaweit vernachlässigt werden. verantwortliche europäische Forschung braucht die of- fene gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Na- Eine prinzipielle Öffnung der einzelnen nationalen tionalstaaten hinweg.“ Prinzipiell ist eine gesellschaftli- Forschungsprogramme für alle Mitglied Staaten er- che Debatte über Grenzen hinweg, ob nun national oder scheint mir dabei aber problematisch. Nicht nur die Ko- anderer Art, immer zu begrüßen. Die Darstellung und ordination könnte dadurch, wie im Antrag erwähnt, Konfrontation verschiedener Positionen und der Ver- schwieriger werden. Ich sehe viel mehr – und mit dieser such, zu mehrheitsfähigen Problemlösungen zu gelan- Meinung stehe ich nicht allein – die Gefahr von „Tritt- gen, ist immer bereichernd. Debatten werden aber nor- brettfahrern“. Denn es existieren leider große Unter- malerweise nicht nur der Debatte wegen geführt – sie schiede zwischen den staatlichen Ausgaben für For- sollen Konsequenzen haben. Bleiben sie hingegen fol- schung und Entwicklung in den einzelnen europäischen genlos, stellen sich Politikverdrossenheit und Enttäu- Mitgliedsstaaten. Dass sich einzelne Länder ihre For- schung ein. Für den Bereich der ethischen Fragen bedeu- schungsanstrengungen durch deutsche Programme be- ten Konsequenzen dann aber, dass Kompromisse auf zahlen lassen, kann nicht das Ziel eines vereinigten Eu- europäischer Ebene für alle Mitgliedstaaten bindend sein ropäischen Forschungsraumes sein. Vielmehr müssen müssten. die einzelnen Mitgliedsstaaten eigene Anstrengungen Ich kann mir nicht vorstellen, dass beispielsweise ein unternehmen, mehr in Forschung und Entwicklung zu europäisches Gremium darüber entscheidet, in welchem investieren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12307

(A) Eine weitere Forderung der Grünen sind die verstärkte men. Das ist außerordentlich bedauerlich, zumal der Zu- (C) Bereitstellung von Mitteln für wissenschaftliche Infra- wachs nicht einmal reicht, um den Status quo herzustel- struktur in den neuen EU-Mitgliedsländern. Die östlichen len. Ich habe schon sehr oft gesagt, dass wir auch auf EU-Neumitglieder mögen aufgrund ihrer Historie eine Regierungsseite unsere Schlagkraft stärken müssen. Und schlechter ausgebaute Forschungsinfrastruktur haben. das geht eben doch besser, wenn die Verantwortung in Langfristig muss es deshalb das Ziel sein, dass exzellenten einem Innovationsministerium liegt. Köpfen, egal aus welchem EU-Land, die passende Infra- struktur zur Verfügung steht. Entscheidend für die Überle- Die Schlüsselzahlen 2007 zu Wissenschaft, Technolo- gungen zur Ansiedlung neuer Forschungsinfrastruktur gie und Innovation in der EU zeigen, dass die FuE-Inten- darf dabei aber nicht die Geografie, sondern der wissen- sität – Ausgaben für Forschung und Entwicklung als schaftliche Nutzen des Standortes sein. Und dieser muss Prozentanteil des BIP – in Europa, trotz des Lissabon- nicht zwangsläufig in den neuen Mitgliedstaaten liegen. Prozesses, seit Mitte der 90er-Jahre unverändert bei Das muss aber nicht automatisch bedeuten, dass man nur 1,84 Prozent des BIP geblieben ist. Und das, obwohl in Bestehendes investiert, sondern auch offen ist für die Frankreich – plus 1,02Prozent–, Deutschland – plus Entwicklung von Potenzialen. 0,76 Prozent – und Großbritannien – plus 0,7 Prozent – ihre FuE-Ausgaben steigern konnten. Dagegen haben al- Soweit einige Anmerkungen zum Antrag. Lassen Sie lein die USA – plus 1,08 – ihr Engagement im Bereich mich als Fazit aber noch sagen: Es ist eindeutig, dass wir FuE deutlich verstärkt und damit zur Entstehung einer auf die forschungspolitischen Fragen des 21. Jahrhun- Welt beigetragen, in der das Wissen gleichmäßiger ver- derts nicht mehr allein nationalstaatlich antworten kön- teilt ist als jemals zuvor. Europa konnte auch das Investi- nen. Großprojekte wie der X-FEL bei Hamburg oder tionsdefizit im Bereich FuE gegenüber den Vereinigten Forschungsbereiche wie die Klimaforschung können nur Staaten in den vergangenen Jahren nicht abbauen. gemeinsam erfolgreich angegangen werden. Als logi- sche europäische Konsequenz daraus führt an einem ge- Sie können das auch im FuE-Bericht der Europäi- meinsamen europäischen Forschungsraum kein Weg schen Kommission nachlesen. Europäische Unterneh- vorbei! Bis zur Vollendung haben wir aber noch viele men geben nicht einmal halb soviel Geld für Forschung Schritte vor uns! Im Forschungsland Deutschland – ich aus wie ihre Konkurrenten in anderen Teilen der Welt. denke, bei zwei von drei diesjährigen Nobelpreisträgern Die 1 000 größten europäischen Investoren gaben im in naturwissenschaftlichen Kategorien darf man dies vergangenen Jahr 121,1 Milliarden Euro für Forschung wohl voller Überzeugung sagen – tun wir gut daran, uns und Entwicklung aus. Bei den 1 000 größten außerhalb auch weiterhin an diesen Diskussionen und der Gestal- der EU waren es 250,5 Milliarden Euro. Der Bericht tung aktiv zu beteiligen. Der uns jetzt vorliegende An- kommt zu dem Schluss, dass sich die Kluft zwischen der (B) trag der Grünen bietet uns dafür, bei all seinen Defiziten, EU und anderen Weltregionen weiter vergrößert. Immer- (D) eine gute Diskussionsgrundlage. hin, wenn auch um einen Platz abgeschlagen, gehört Daimler auf Platz fünf zu den größten in FuE investie- renden Unternehmen. Innerhalb Europas nimmt Daimler Cornelia Pieper (FDP): Ich teile die Auffassung Platz eins ein. Deutsche Unternehmen belegen Platz drei meiner Kollegen aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- – Siemens –, Platz fünf – VW –, Platz sieben – Bosch – nen, die eine Verbesserung der Kooperation und Koordi- und Platz acht – BMW. nation im europäischen Forschungsraum fordern. Seit- dem in der sogenannten Lissabon-Strategie das Ziel In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das formuliert wurde, Europa bis zum Jahr 2010 zur dyna- Grünbuch zum Europäischen Forschungsraum, EFR, mischsten wissensbasierten Wirtschaftsregion der Welt verweisen. Es hat eine breite Debatte über die künftigen zu entwickeln, sind nunmehr sieben Jahre vergangen. Orientierungen für den EFR in Gang gesetzt. Die Ent- Heute, im Landeanflug sozusagen, ist es durchaus rich- wicklung macht deutlich, dass aus mindestens fünf tig, danach zu fragen, ob uns eine Punktlandung in drei Gründen dringender Handlungsbedarf besteht: Jahren gelingen wird. Ich gebe zu, damals wie heute ver- Die EU ist Teil einer globalisierten Welt, in der das folgen wir ein ambitioniertes Ziel, das aber die Zustim- Wissen gleichmäßiger verteilt ist als jemals zuvor. Der mung aller im Bundestag vertretenen Parteien fand. Ich starke Wettbewerb auf dieser Ebene verlangt von der stellte gestern im Ausschuss Frau Dr. Schavan die zen- EU, dass sie sich anpasst und dass sie den EFR für den trale Frage, ob sie glaubt, dass wir bei weiter steigendem Rest der Welt attraktiver macht. Wirtschaftswachstum das 3-Prozent-Ziel erreichen wer- den. Die Kollegen im Ausschuss haben es gehört. Frau Im Jahr 2005 wurden in der EU der 27 lediglich Schavan ist der Auffassung, dass die Bundesregierung in 1,84 Prozent des BIP für FuE aufgewendet, womit das ihren einzelnen Forschungshaushalten dieses Ziel bis Ausgabenniveau nach wie vor unter dem in den USA, in 2010 realisieren wird. Japan oder in Südkorea liegt. Die neuen, aufstrebenden Volkswirtschaften wie China holen rasch auf. Sollten Heute, nach sieben Jahren, müssen wir feststellen: sich die derzeitigen Trends fortsetzen, wird China – was Europa hat mit anderen Wirtschaftsräumen der Welt die FuE-Intensität anbelangt – bis 2009 zur EU aufge- nicht Schritt halten können. Die FuE-Wachstumsraten schlossen haben. Auch Deutschland ist dem 3-Prozent- bleiben hinter denen Asiens oder der USA zurück, die Ziel immer noch nicht näher gekommen. Beschäftigungsziele werden nicht erreicht, und dem Ziel, 3 Prozent des BIP in Forschung und Entwicklung Mehr als 85 Prozent der Differenz zwischen der FuE- zu investieren, sind wir immer noch nicht näher gekom- Intensität in der EU und der FuE-Intensität bei ihren 12308 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) wichtigsten Wettbewerbern hat ihren Grund in den Un- der Grünen Gentechnik; es gibt keinen Durchbruch bei (C) terschieden in der FuE-Finanzierung durch die Unter- der Stammzellenforschung durch den Abbau gesetzli- nehmen. Die im Vergleich zu den USA geringe Höhe der cher Hemmschwellen. Jeder zweite Student in höheren FuE-Ausgaben des privaten Sektors in Europa ist in ers- Semestern sieht seine Zukunft heute im Ausland. So- ter Linie auf Unterschiede in der Industriestruktur und lange das im EU-Ausland ist, mag es ja noch in die auf die geringere Größe der Hightechindustrie in der EU Lissabon-Strategie passen, aber immer mehr sehen ihre zurückzuführen. Chancen in den USA, in den Staaten Osteuropas und in Asien. Was die Forschungsexzellenz anbelangt, ist festzu- stellen, dass obwohl die EU weltweit der größte Produ- Wie sehen wichtige Leitlinien überhaupt aus? Es geht zent von wissenschaftlichem Wissen ist, die Wirkung der um die Einrichtung innovationsfreundlicher Bildungs- europäischen Wissenschaft geringer ist, als die der Wis- systeme. Davon sind wir noch weit entfernt. Es geht um senschaft der USA. In allen wissenschaftlichen Diszipli- die Gründung eines Europäischen Technologieinstituts, nen hinkt Europa hinter den Vereinigten Staaten her, so- das europaweit Forschungsnetzwerke bildet, und es wird wohl was die Zitationshäufigkeit, als auch was die Zahl ja jetzt auch kommen. der häufig zitierten Publikationen anbelangt. Auch sind die Universitäten der EU stark unterrepräsentiert in der Der Antrag der Grünen will aber genau das verhin- Spitzengruppe eines Rankings, das auf der Grundlage bi- dern. bliometrischer Indikatoren der weltweit größten Univer- Es soll ein gemeinsamer Arbeitsmarkt für Forscher sitäten erstellt wurde. Ferner ist die Verknüpfung zwi- aufgebaut werden. Gerade hier war die Gesetzgebung schen Technologie – patentierten Erfindungen – und der dieser Bundesregierung – ich denke da in erster Linie an Wissenschaftsbasis in der EU wesentlich schwächer als die Zuwanderung – nicht gerade förderlich. Die Verbin- in den USA. Europa tut sich schwer damit, sich in den dungen zwischen Forschung und Wirtschaft sollen inten- neuen Hightechindustrien gut zu positionieren. siviert werden. Hier wurde der zaghafte Versuch einer Wenngleich Investitionen des privaten Sektors für kleinen Lösung für die Forschungsprämie unternommen Forschung und Entwicklung von zentraler Bedeutung und nach Anmahnung durch die FDP noch um die Kom- sind, sollte dem öffentlichen Sektor künftig eine wich- ponente „gemeinnützige Forschungseinrichtungen“ er- tige Rolle zufallen. Die öffentliche Hand muss in der EU weitert. Wir brauchen aber den großen Wurf für alle for- weiter in FuE investieren, damit sich die FuE-Aktivitä- schenden Unternehmen in Deutschland. Überarbeitete ten der Privatwirtschaft weiterentwickeln. Andererseits Regeln zu staatlichen EU-Beihilfen für Forschung und müssen wir das enge Zusammenwirken von Wissen- Entwicklung sowie für Innovationen bessere FuE-Steu- eranreize müssen Realität werden. Hier scheint ja Bewe- (B) schaft und Forschung durch Public-Private-Partnership (D) deutlich besser im Auge behalten Hier gibt es noch gung in die Diskussion gekommen zu sein, zumal einige große Spielräume. europäische Länder diesen Weg schon erfolgreich be- schreiten. Die Konkurrenzfähigkeit unserer Forschungs- und Entwicklungskompetenzen können wir nur durch eine Die Zukunft ist nur mit und nicht gegen Europa zu ge- Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des gesamten FuE- stalten. Systems erhöhen. Das setzt voraus, dass wir den Mut zu einem Wissenschaftsfreiheitsgesetz haben. Das könnte Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Seit dem sogenannten die Voraussetzungen für eine enge FuE-Zusammenarbeit Millenniumsgipfel im März des Jahres 2000 in Lissabon zwischen Wirtschaft und Hochschulen, der Schaffung werden in der Europäischen Union Wissenschaft, For- von Wissenschaftsclustern und letztendlich auch für ei- schung und Entwicklung sowie Wissenstransfer über ei- nen Wissenschaftstarifvertrag schaffen. nen gemeinsamen Nenner definiert und strukturiert. Bis Im Rahmen der erneuerten Lissabon-Strategie sind 2010 soll der „wettbewerbsfähigste und dynamischste die Mitgliedstaaten neue, weit reichende Verpflichtun- wissensbasierte Wirtschaftsraum der Welt“ entstehen. gen eingegangen, indem sie Zielvorgaben für die künf- Alles, was nicht dieser Zielstellung dient, ist nachrangig tige FuE-Intensität gemacht haben. und wird auch so behandelt. Die Linke hat diesen kon- zeptionellen Ansatz bereits mehrfach als einseitig kriti- Der für Unternehmens- und Industriepolitik zustän- siert. dige Vizepräsident der Kommission Günter Verheugen betonte in diesem Zusammenhang, es sei wichtig, den Im Mittelpunkt dieses maßgeblich aus öffentlichen strukturellen Wandel nicht als Bedrohung, sondern als Mitteln gespeisten Forschungsförderrahmens, dessen Möglichkeit zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu Bestandteile das rund 50 Milliarden Euro schwere sehen: In Europa muss sich eine wirklich wissensba- 7. Forschungsrahmenprogramm (FP7) und die Schaf- sierte und innovationsfreundliche Gesellschaft heraus- fung eines Europäischen Forschungsraums sind, steht bilden, die die Innovation nicht fürchtet, sondern will- nahezu ausschließlich wirtschaftliches Verwertungsinte- kommen heißt, sie nicht behindert, sondern fördert. resse. Welche Forschung eine Gesellschaft braucht, um Verheugen rief dazu auf, Innovation als gesellschaftli- Menschen bessere Lebens- und Beschäftigungsbedin- chen Grundwert zu etablieren. gungen zu sichern und damit auch als Gesellschaft zivili- satorischen und kulturellen Fortschritt zu erhalten, Die Realität bei uns zu Lande zeigt jedoch: Das Gen- taucht immer nur dann auf, wenn es Schnittmengen mit technikgesetz behindert nach wie vor die Entwicklung wirtschaftlichen Interessen gibt. Dabei muss gerade For- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12309

(A) schung wesentliche Beiträge leisten, wie man langfristig Diese wenigen Beispiele zeigen, dass es zwangsläufig (C) den großen globalen Konflikten und Herausforderungen zu einer dramatischen Ausblendung von Themen aus sowie gesellschaftlichen Widersprüchen begegnen dem geistes-, kultur- und sozialwissenschaftlichen Be- könnte. reich kommen muss. Diese Wissenschaftsdisziplinen werden häufig auf Akzeptanzforschung zur Einführung Eine entsprechende öffentliche Forschungsförderung und Umsetzung von umstrittenen Technologien redu- sollte sich diesem Anspruch selbstbewusst stellen. Die ziert. So stellt das Sicherheitsforschungsprogramm die „Freiheit von Forschung und Lehre“ muss im Mittel- Entwicklung von Detektionstechnologien zur Bekämp- punkt stehen und nicht die Ausrichtung auf Themen, die fung von Terrorangriffen in den Vordergrund. Ängste sich ökonomisch verwerten lassen. So melden sich vor einem aufgeweichten Datenschutz oder einge- gegenwärtig mehr und mehr Wissenschaftler und Wis- schränkten Bürgerrechten werden hier als zu überwin- senschaftlerinnen zu Wort; die diese Entwicklung kriti- dende Hürden definiert, für die Konzepte zum „Dialog sieren. Sie wenden sich ausdrücklich gegen eine Ökono- mit den Bürgern“ präsentiert werden sollen. misierung der Wissenschaftslandschaft und gegen das Konzept, sich bei der Hochschulsteuerung an Unterneh- Dass Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften in men zu orientieren. der europäischen Forschungsförderung ins Hintertreffen geraten ist zumindest insoweit widersprüchlich, als die Das Grünbuch „Der Europäische Forschungsraum: Kommission zwischen April und August 2007 ausge- Neue Perspektiven“ und der zuständige EU-Kommissar sprochen interessante Handlungsrichtlinien veröffent- für Wissenschaft und Forschung, Jan Potocnik, stehen licht hat, die auf ethische Spannungsfelder in verschie- allerdings ganz klar für die in Lissabon definierte denen Forschungsfeldern Bezug nehmen. Vor diesem Grundausrichtung, einen europäischen Binnenmarkt für Hintergrund hält es die Linke für notwendig, eine eigen- die Forschung zu schaffen. Die Linke hält diese strategi- ständige und unabhängige Forschungskritik zu entwi- sche Ausrichtung für einen gravierenden Fehler. ckeln und diese Risikobegleitforschung auch angemes- sen zu finanzieren. Daraus leitet sich ab, und das kritisieren wir Linke gleichermaßen, dass sich europäische Forschungs- und Die Linke kann die Europäische Kommission daher Technologieförderung vor allem aus einem Block- und nur nachdrücklich auffordern, die eigene Position umzu- Konkurrenzdenken gegen andere Wissenschafts- und setzen und sowohl in der Spitze als auch der Breite der Systeme zu fördern. Auch die Einbindung von gesell- Technologieregionen und -mächte definiert. Häufig ge- schaftlichen Akteuren bei der Auswahl forschungspoliti- nannt werden in diesem Zusammenhang die USA oder scher Schwerpunkte muss offensiver verfolgt werden. die aufholenden Asiaten wie China oder Indien. Ein ko- Bisher werden in der Europäischen Gemeinschaft parti- (B) operativer globaler Ansatz wird ausdrücklich nicht ver- (D) zipative Verfahren nur am Rande aufgeworfen. folgt. Es geht in jedem Falle um einen maximalen Mehr- wert für die europäische Wirtschaft. Sieht man einmal von der Grundkritik an der Ausrich- tung des europäischen Forschungsraumes ab, wirft das So ist es wenig verwunderlich, wenn die Optimierung Grünbuch aber auch wichtige und richtige Probleme auf. der Forschungsprioritäten – beispielsweise bei den im Dazu gehören unzureichende Forschungsinvestitionen, 7. Forschungsrahmenprogramm geförderten gemeinsa- die Fragmentierung der Forschung, die Kritik an den men Technologieplattformen – den Schwerpunkt auf Mobilitätshindernissen für Forscher und Forscherinnen, Themen legt, die sich aus den Interessen der Industrie er- ihre schlechten Arbeitsbedingungen und sehr begrenzten geben. Dazu gehören unter anderem die „Technologie- Laufbahnaussichten sowie nicht zuletzt die Unterreprä- initiative Clean Sky“ oder auch ARTEMIS – die „Tech- sentanz von Frauen in der Wissenschaft. nologieinitiative für eingebettete IKT-Systeme“. Die EU lässt sich mit „Clean Sky“ die Luft- und Raumfahrtfor- Vergleicht man nun diese Überlegungen aus dem schung in den nächsten Jahren rund 800 Millionen Euro Grünbuch mit der nationalen Forschungsförderung in kosten; die eingebetteten Computersysteme werden von Deutschland, dann zeigt sich eine ganze Reihe von Wi- der öffentlichen Hand mit rund 420 Millionen Euro sub- dersprüchen. ventioniert. Alle Technologieinitiativen werden aber von Offensichtlich versuchen punktuell nicht nur 16 Bun- Unternehmen geleitet. desländer Alleinstellungsmerkmale gegen das EU-Kon- Auch die Entwicklung und Stärkung von Forschungs- zept zu realisieren, sondern auch die Forschungspolitik der Bundesregierung erschwert unnötig eine Harmoni- einrichtungen richtet sich vorrangig nach ihrer themati- sierung der Forschungsbedingungen in Europa. Das zei- schen, materiellen, personellen und finanziellen Dienst- gen zum Beispiel die Föderalismusreform, die angekün- leistungsfunktion gegenüber der Industrie und dem digte Abschaffung des Hochschulrahmengesetzes, das daraus abgeleiteten spezifischen Bedarf an Wissens- Wissenschaftszeitvertragsgesetz und das jüngst von der transfer. Ein Beispiel dazu: Zum Fahrplan des Europäi- Kanzlerin gelobte Wissenschaftsfreiheitsgesetz, das im schen Strategieforums zu Forschungsinfrastrukturen, kommenden Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll. ESFRI, gehört das Projekt IFMIF, International Fusion Material Irradiation Facility. Es soll Materialforschung Doch eine leistungsfähige Forschung wird in Deutsch- für zukünftige Fusionsreaktoren, sprich nukleare Ener- land und Europa auf lange Sicht nur zu sichern sein, gieforschung, betreiben. Erwartete Kosten: Rund 850 Mil- wenn den Beschäftigten nicht nur Mitsprache in betrieb- lionen Euro. lichen, sondern auch in wissenschaftlichen Fragen ein- 12310 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) geräumt wird. Rechtliche Mindeststandards sollten im sich mit der Errichtung von Großprojekten zu profilie- (C) Rahmen eines sektoralen sozialen Dialogs europaweit fi- ren, in europäisch koordinierte Bahnen gelenkt werden xiert werden. Die Linke unterstützt daher alle Forderun- und so ineffiziente Doppelungen und Lücken der Infra- gen, die die „Empfehlungen der Europäischen Kommis- struktur vermieden werden. Hinzu kommt, dass vorbild- sion zur Charta für Forscher und einen Verhaltenscodex hafte paneuropäische Infrastrukturen auch die Öffnung für die Einstellung von Forschern“ aus dem Jahre 2005 des europäischen Forschungsraumes zur Welt befördern, als verbindliche Grundlage bestimmen wollen. weil sie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Teilen der Welt anziehen. Allerdings ist bisher Die Bundesregierung sollte mit den Bundesländern bei vielen Vorhaben der neuen „ESFRI-Roadmap“ noch vereinbaren, das attraktivere Nachwuchsmodell der EU nicht klar, wie sie finanziert werden können. Besonders umzusetzen und damit die Promotion durchgängig als bedenklich ist es, dass sich die Wirtschaft bisher selbst erste Phase wissenschaftlichen Arbeitens anzuerkennen. dann nicht engagiert, wenn die entsprechenden Einrich- Deutsche Sonderwege auf nationaler, bundesstaatlicher tungen für sie von unmittelbarem Nutzen sind. und hochschul- bzw. wissenschaftseinrichtungsbezoge- ner Ebene erschweren zusätzlich die Begründung trans- Zweitens sind die Forschungsrahmenprogramme ein parenter und attraktiver Beschäftigungsbedingungen für zentrales Element zur Verwirklichung eines europäi- alle beteiligten Beschäftigungsgruppen – nicht nur für schen Forschungsraumes. Mit dem inzwischen gestarte- Spitzenwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen. Diese ten 7. Forschungsrahmenprogramm sind die finanziellen sind ohne Engagement ihrer Mitarbeiter gar nicht in der Mittel erhöht worden, wenn auch nicht so deutlich, wie Lage, Spitzenforschung zu realisieren. es wünschenswert gewesen wäre. Außerdem sind wei- Die Linke betrachtet es zudem als entscheidenden tere innovative Maßnahmen eingeführt worden, zum Rückschritt, dass innerhalb des 7. Forschungsrahmen- Beispiel der Europäische Forschungsrat, mit dem exzel- programms kein Gender-Action-Plan integriert wurde. lente Grundlagenforschung eine echte gesamteuropäi- Diesbezüglich ist einiges in Deutschland im letzten Jahr sche Ausrichtung erhält. positiv in Bewegung gekommen, gerade bei den großen Es geht in der Zukunft darum, sicher stellen, dass wir Forschungsorganisationen. Die Bundesregierung sollte für eine kontinuierliche Verbesserung und den Ausbau daher die verbindliche Erfüllung von Gleichstellungskri- der Forschungsrahmenprogramme Sorge tragen. Außer- terien an die Vergabe von Forschungsmitteln knüpfen. dem muss es gelingen, den bürokratischen Aufwand bei Abschließend sei betont: Die Linke hält das Grün- der Beantragung von Mitteln weiter zu reduzieren, so buch für eine wichtige Chance, europäische Forschungs- dass auch kleine Hochschulen, kleinere Forschungsein- förderung kritisch zu überprüfen. Lassen Sie uns nun richtungen und kleine und mittelständische Unterneh- (B) endlich die Weichen für eine verbesserte Forschungspo- men bessere Chancen auf eine erfolgreiche Beteiligung (D) litik und damit für künftige Rahmenprogramme der EU haben. stellen. Drittens muss sich der europäische Forschungsraum durch die Mobilität der Forscherinnen und Forscher aus- Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die zeichnen. Ein besonders schwerwiegendes Hindernis für grüne Fraktion ist der Ansicht, dass wir uns in der For- die Mobilität von Forscherinnen und Forschern ist die schungspolitik in stärkerem Maße, als dies bisher der Tatsache, dass häufig die Portabilität von Sozialversi- Fall ist, mit der europäischen Ebene beschäftigen müs- cherungsansprüchen nicht gegeben oder sehr unüber- sen und die europäische Koordinierung und Kooperation sichtlich und schwierig ausgestaltet ist. Ziel muss es zu stärken haben. sein, hier zu vernünftigen europäischen Regelungen zu Deshalb debattieren wir heute unseren Antrag, mit gelangen, um der besonderen Bedeutung des Wissen- dem wir in die Debatte um die Weiterentwicklung des schaftssektors und den erhöhten Mobilitätsanforderun- europäischen Forschungsraumes einsteigen wollen. Die gen an die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ge- Europäische Kommission hat zu diesem Thema ein recht zu werden. Wie dies gelingen kann, ist derzeit noch Grünbuch vorgelegt, das vielfältige Anforderungen und nicht klar, und hier wird sicherlich noch einiges an Ar- Handlungsbedarfe identifiziert. Ich möchte hier nur auf beit und Beratungsbedarf auf uns zukommen. wenige zentrale Aspekte eingehen – wir werden das Es ist uns aber auch wichtig, zu betonen, dass der eu- Thema in der Folge im Ausschuss dann noch erschöp- ropäische Forschungsraum keineswegs eine Angelegen- fend behandeln. heit sein soll, die alleine von der Kommission betrieben Am offensichtlichsten zeigt sich der Mehrwert einer wird. An einigen Stellen des Grünbuches hat man aber europäischen Dimension wahrscheinlich bei der Schaf- den Eindruck, dass die Kommission zu stark auf einen fung einer leistungsfähigen Forschungsinfrastruktur im „top down“-Ansatz setzt. Nach unserer Überzeugung Bereich von Großanlagen. Gerade bei deren Einrichtung wäre es zum Beispiel kontraproduktiv, wenn man natio- hat die Planung auf europäischer Ebene den Vorteil, dass nale Forschungsförderungsprogramme grundsätzlich für mehrere Länder ihre Mittel bündeln können und so ein Bewerber aus anderen europäischen Staaten öffnen effizienterer Einsatz der Mittel und letztlich bessere und würde. Stattdessen sollte man hier lieber auf dezentrale vielfältigere Möglichkeiten für die Forscherinnen und Koordinierung und freiwillige Kooperation der Mit- Forscher eröffnet werden. Eine gesamteuropäische Pla- gliedstaaten und der Forschungsinstitute setzen, wie dies nung bietet den Vorteil, dass einzelstaatliche Versuche, ja auch von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12311

(A) schaftlern in ihren Reaktionen auf das Grünbuch geäu- Punkt verhandelt, allerdings dann doch zurückgestellt. (C) ßert wird. Nun steht er wieder auf der Tagesordnung. Die größten deutschen Unternehmen, also alle DAX-30-Unterneh- Im Übrigen sollte nach Auffassung der grünen Frak- men und ein bedeutender Teil der größten mittelständi- tion ein Markenzeichen des europäischen Forschungs- schen Unternehmen, planen Folgendes: Sie wollen die raumes in einer starken Präsenz von Forschung und For- betriebliche Altersvorsorge ihrer Mitarbeiter in eigen- schungspolitik in der europäischen Gesellschaft liegen. ständige Pensionsfonds auslagern und absichern. Die Ein wirklicher europäischer Forschungsraum kann nur Basis war das von der rot-grünen Regierung im Jahr gelingen, wenn sich eine demokratische europäische Öf- 2001 verabschiedete Altersvermögensgesetz. Allerdings fentlichkeit mit den Richtungen, Zielen und Bedingun- haben nur vier Betriebe bisher überhaupt Pensionsfonds gen von Forschung auseinandersetzt. Zentral sind dabei gegründet. Das spricht nicht unbedingt für die aktuellen offene Debatten über die wissenschaftlichen Schwer- Regelungen. In der Tat beurteilen die Unternehmen das punkte, über Chancen aber auch Normen und Grenzen geltende Recht als zu einschränkend. Daher weicht ein für die Forschung. Eine erfolgreiche und verantwor- Großteil von ihnen momentan auf Treuhandgesellschaf- tungsvolle europäische Forschung braucht die offene ge- ten aus, die sogenannten CTAs, Contractual Trust Arran- sellschaftliche Debatte über die Grenzen der National- gements. Das Problem hierbei ist aber, dass diese Gesell- staaten hinweg. schaften weder einer Aufsicht noch einer Absicherung Wir treten dafür ein, dass das nationale Parlament unterliegen. sich sehr entschieden in den weiteren Entscheidungspro- Pensionsfonds hingegen sichern Betriebsrentenan- zess einbringt und die Weiterentwicklung des europäi- sprüche dreifach ab: schen Forschungsraumes konstruktiv und kritisch be- gleitet. Ich freue mich deshalb auf unsere weiteren Erstens. Sie sind zu 100 Prozent durch Fondskapital Beratungen auf der Grundlage des Grünbuches und un- gedeckt. seres Antrages. Zweitens. Eine zeitweilige Unterdeckung, beispiels- weise bei großen Schwankungen am Aktienmarkt, ist Anlage 9 über den Pensionssicherungsverein, PSV, abgesichert. Zu Protokoll gegebene Reden Drittens. Für alle Fälle müssen die Trägerunterneh- men haften. Dies wurde mit der Siebten VAG-Novelle zur Beratung des Entwurfs eines Neunten Ge- eingeführt. setzes zur Änderung des Versicherungsauf- Es gibt hier nur einen strittigen Punkt: Die Deckungs- (B) sichtsgesetzes (Tagesordnungspunkt 21) (D) regeln sind zu rigide. Das benachteiligt eindeutig die Unternehmen, die in Deutschland einen Pensionsfonds Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Das Bun- gründen möchten. Aktuell kann die Unterdeckung dieser desverfassungsgericht erklärte im Juli 2005 Teile des Fonds bei nur maximal 5 Prozent liegen, Das bedeutet, bestehenden Versicherungsaufsichtsgesetzes für ver- wenn die Differenz zwischen Pensionsansprüchen und fassungswidrig. Neu geregelt werden sollte die Be- Fondsvermögen die Grenze von 5 Prozent überschreitet, standsübertragung durch Versicherungsvereine auf Ge- so muss die Trägergesellschaft sofort einspringen und genseitigkeit und die Überschussbeteiligungen in der ausgleichen. Besonders diese Ausgleichspflicht erfordert Lebensversicherung. Unabhängig von diesem Urteil des von den Trägerunternehmen kurzfristig eine sehr hohe Bundesverfassungsgerichts war es notwendig, die Versi- Liquidität. Mehr noch, sie sind sogar gezwungen, per- cherungsaufsicht an internationale Standards anzupas- manent Liquidität bereitzustellen. Findet sich kein Kom- sen. Als Ergebnis liegt nun der Gesetzesentwurf der promiss, so besteht die Gefahr, dass die hier gewünsch- Neunten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz vor. ten Pensionsfonds nicht hier, sondern im Ausland Wir als Unionsfraktion bewerten den Gesetzesent- aufgelegt werden. Unsere europäischen Nachbarländer wurf grundsätzlich positiv. Das Versicherungsaufsichts- stehen auch schon in den Startlöchern und bieten sich gesetz wird im Sinne des Bundesverfassungsgerichts ge- ganz offen als künftige Standorte für Pensionsfonds an. ändert. Des Weiteren wird die Versicherungswirtschaft Wollten wir nicht gerade die großen, international täti- auf die kommenden Aufsichtsstandards im Rahmen der gen Unternehmen bewegen, ihre gesamten Betriebsren- europäischen Solvency-II-Regelungen vorbereitet. Da- tenansprüche über deutsche Pensionsfonds zu decken, bei werden erhöhte Anforderungen an Entscheidungs- um damit den Standort Deutschland zu stärken? prozesse und das Risikomanagement in Versicherungs- unternehmen gestellt. Der Übergang von bisher zu Ich bin der Meinung, dass die Unterdeckungsgrenze starren Regelungen zu einer prinzipienbasierten Aufsicht in Pensionskassen auf 10 Prozent angehoben werden gibt den Unternehmen jetzt größeren Handlungsspiel- sollte. Auch ein sofortiger Ausgleich wird von den Ex- raum und steigert die Wettbewerbsfähigkeit. Das stärkt perten, auch der Bundesanstalt für Finanzdienstleis- den Versicherungsstandort Deutschland nachhaltig! tungsaufsicht, als nicht unbedingt zwingend erachtet. Ein Korridor von 10 Prozent der Rückstellungen ent- Einen Punkt in der Novelle sehen wir in der Union al- spricht internationalen Regelungen. Im Falle einer Un- lerdings kritisch. Die Regelungen für deutsche Pensions- terdeckung und einer Gefährdung der Erfüllbarkeit des fonds sind nach wie vor zu eng. Schon in der Siebten Pensionsplans müsste mit der Bundesanstalt für Finanz- Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz wurde dieser dienstleistungsaufsicht ein konkreter und realisierbarer 12312 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Sanierungsplan erstellt und durchgeführt werden. Dies Diese Klarstellungen liegen im Interesse der Verbrau- (C) würde auch der EU-Pensionsfondsrichtlinie entsprechen, cherinnen und Verbraucher, die auf klare Vorschriften die bereits im Rahmen der Siebten VAG-Novelle umge- für die Produkte der Versicherungswirtschaft, deren setzt wurde. Vertrieb und Übertragung sehr großen Wert legen, um ihre privaten Vermögensverhältnisse eigenverantwort- Das Bundesministerium für Finanzen bringt im Zu- lich und mit hoher Rendite gestalten zu können. sammenhang mit einer Lockerung der Bedeckungsre- geln immer wieder das Argument von möglichen Steuer- Auch die Versicherungswirtschaft, die nach der Kre- ausfällen. Ich kann dem aber nicht zustimmen: Warum? ditwirtschaft das zweitgrößte Kapitalsammelbecken un- Jede Zuführung zu Rückstellungen für die betriebliche serer Volkswirtschaft darstellt, braucht Klarheit hinsicht- Altersvorsorge ist eine Verbindlichkeit des Trägerunter- lich der aufsichtsrechtlichen Anforderungen an ihre nehmens. Sie mindert somit den Gewinn und folglich Produkte. Klarheit und Kalkulierbarkeit in den Detailre- auch die Steuern, genau wie die Bewertungsdifferenz, gelungen des Versicherungsvertrages können dazu bei- die durch Übertragung von Pensionsansprüchen auf Pen- tragen, attraktive Produkte anzubieten und die starke sionsfonds entsteht und über zehn Jahre abgeschrieben Stellung der deutschen Versicherungswirtschaft im euro- werden muss. Auch die rigide Nachschusspflicht wird päischen Wettbewerb zu verteidigen und auszubauen. natürlich nur durch steuerabzugsfähige Nachschüsse er- Denn es kann im Wettbewerb mit anderen Unternehmen füllt. Die Steuerfrage kann hier also keine Rolle spielen. einen großen Vorteil darstellen, wenn man potenziellen Insgesamt muss deutlich werden: Wir wollen flexib- Kunden klare Informationen über wichtige Rahmenda- lere Deckungsregeln im Aufsichtssystem. Wir wollen ten eines Versicherungsvertragsverhältnisses geben aber keine Änderungen oder besondere Vorteile im Steu- kann, beispielsweise über Bestandsübertragungen, Prä- errecht. mienberechnung oder Überschussermittlungsverfahren. Lassen sie mich abschließend noch kurz einen Punkt Die vorliegende Novelle trägt mit den Neuregelungen vorbringen: Es geht um die sogenannten Rückstellungen zu Bestandsübertragungen und Überschussermittlungen für Beitragsrückerstattungen. Die Bildung dieser Rück- zur Etablierung eines voll entwickelten Finanzdienstleis- stellungen ist nur zulässig, wenn sie ausschließlich für tungsmarktes im europäischen Rechtsraum mit einem die Beitragsrückerstattung verwendet wird. Das Han- funktionierenden Aufsichtsregime und einem Höchst- dels- und das Steuerrecht verlangen dies. Ich kann mir maß an Rechtssicherheit für die Kundinnen und Kunden vorstellen, dass in bestimmten Fällen jedoch eine Ent- der Versicherungsunternehmen bei. Sie schließt dabei nahme aus diesen Rückstellungen gerechtfertigt er- noch bestehende Regelungslücken in diesen Bereichen, scheint. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Ver- wie wir dies schon im Bereich der Rückversicherung, (B) sicherer zu erhöhten garantierten Leistungen verpflichtet beim Schutz der Versicherten im Falle von Unterneh- (D) wird, die er an die Versicherten zu zahlen hätte. So kann menskrisen und für die Aufsicht über Versicherungshol- eine Verlustabdeckung abgesichert werden. Die aus- dinggesellschaften getan haben. schließliche Verwendung dieser Rückstellungen für Leistungen an Versicherte bleibt schließlich gewahrt. Folgende Maßnahmen haben wir im Einzelnen vorge- Darüber hinaus muss auch immer die Bundesanstalt für sehen, um unser Ziel der Wahrung der Belange der Ver- Finanzdienstleistungsaufsicht zustimmen. Ich halte das sicherten und der Erfüllbarkeit der Verträge sicherzustel- für eine sinnvolle Ergänzung zur Novelle des Versiche- len: rungsaufsichtsgesetzes. Das Bundesverfassungsgericht hat strenge Vorschrif- ten vorgegeben, nach denen ein Versicherungsunterneh- Lothar Binding (Heidelberg) (SPD): Das Bundes- men alle oder einen Teil seiner Versicherungsverträge verfassungsgericht hat in einem Urteil vom 26. Juli 2005 auf ein anderes Versicherungsunternehmen übertragen § 14 des Versicherungsaufsichtsgesetzes, VAG, für ver- kann. Solche Bestandsübertragungen müssen durch die fassungswidrig erklärt. Mit der vorliegenden Novellie- zuständige Aufsichtsbehörde BaFin genehmigt werden. rung des Versicherungsaufsichtsgesetzes kommen wir Allein ausschlaggebendes Kriterium für eine Genehmi- dem Auftrag des Bundesverfassungsgerichts nach, bis gung war bislang die Frage, ob die finanzielle Sicherheit zum 31. Dezember 2007 eine verfassungsmäßige Neure- der Versicherungsverträge gewahrt blieb. gelung der Übertragung von Versicherungsbeständen zu erarbeiten. Dieses Kriterium entwickeln wir mit dem vorliegen- den Entwurf weiter, indem wir die aufsichtsrechtliche Im Zuge der vorgelegten Novellierung der Versiche- Genehmigung der Bestandsübertragung nur dann erlau- rungsaufsicht unterziehen wir das Verhältnis der Auf- ben, wenn die Belange der Versicherten in vollem Um- sichtsbehörde zu den Versicherungsunternehmen einer fang gewahrt bleiben – ein wichtiger Beitrag zur Kon- kritischen Revision und weiteren Verbesserungen. Dabei kretisierung unseres Ziels des Verbraucherschutzes. Bei passen wir es an Veränderungen internationaler Stan- Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sichern wir dards für die Finanzaufsicht an, insbesondere hinsicht- beispielsweise im Falle einer Bestandsübertragung den lich des internen Risikomanagements der Unternehmen. Anspruch der Mitglieder auf Zahlung eines angemesse- Unsere Neuregelung sieht darüber hinaus vor, das Ver- nen Entgelts. fahren der Mindestüberschussbeteiligung der Versicher- ten in der Lebensversicherung im Interesse des Verbrau- Soweit erforderlich, übertragen wir diese Maßstäbe cherschutzes zu vereinfachen. auch auf andere Versicherungsverträge mit Überschuss- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12313

(A) beteiligung, beispielsweise die Altersrückstellung in der Unternehmens gegenüber Änderungen des Umfeldes so- (C) Krankenversicherung. wie eine realistische Beurteilung der aus derartigen Än- derungen erwachsenden neuen Risikosituation und er- Die Vermögenswerte, die durch die Prämienzahlun- möglicht so der Geschäftsleitung, gegebenenfalls eine gen der Versicherten entstanden sind und der Erwirt- Änderung der Geschäftspolitik oder andere geeignete schaftung von Überschüssen dienen, müssen auch bei ei- Korrekturmaßnahmen, zum Beispiel zur Risikominde- nem Übergang eines Versicherungsvertrages auf ein rung, einzuleiten. anderes Versicherungsunternehmen in gleichem Umfang erhalten bleiben. Diese gesetzliche Regelung der Über- Um eine praktikable Umsetzung zu ermöglichen und schussbeteiligung in der Lebensversicherung wird be- insbesondere kleinere Versicherungsunternehmen von gleitet durch das Gesetz zur Reform des Versicherungs- bürokratischen Pflichten zu entlasten, gelten für Pen- vertragsrechts, das wir am 5. Juli 2007 beschlossen sionskassen und kleinere Versicherungsvereine verein- haben. fachte Kontrollanforderungen. Zudem eröffnen wir die Der Schutz der Verbraucher stand auch bei einem As- Möglichkeit, sich von bestimmten Anforderungen, wie pekt im Vordergrund, den wir im Versicherungsvertrags- der Ausfertigung eines Risikoberichts, freistellen zu las- gesetz im Sinne der Versicherten geregelt haben. Viele sen, wenn der Aufwand für die betroffenen Unterneh- Versicherungsunternehmen hatten Prämienzahlung und men unverhältnismäßig groß wäre. Vertragsabschlusskosten – die sogenannte Zillmerung – sowie negative Erträge und Überschüsse verrechnet, Vorteil einer Regelung zu diesem frühen Zeitpunkt ist zum Nachteil der Versicherungskunden, deren Prämien- es, dass damit die Versicherungswirtschaft Zeit erhält, zahlungen sich dadurch reduzierten. sich auf die kommenden Aufsichtsstandards des euro- päischen Solvency-II-Regimes vorzubereiten. Damit Die Vorschriften zur Ermittlung der Mindestüber- machen wir einen weiteren Schritt zur Entwicklung und schussbeteiligung regeln wir hingegen mit dem vorlie- Vollendung eines europäischen Binnenmarktes für Fi- genden Gesetzentwurf neu. Im Laufe der Zeit ergaben nanzdienstleistungen. sich Unterschiede in der Berechnung der Mindestüber- schussbeteiligung für „regulierte“ Verträge, denen ein Wir hoffen, dass wir mit den vorgesehenen Neuerun- genehmigter sogenannter Technischer Geschäftsplan zu- gen unsere Ziele der Neuregelung der Übertragung von grunde liegt, und „deregulierte“ Verträge. Dies führte Versicherungsbeständen, des internen Risikomanage- dazu, dass einzelne Verträge zulasten anderer systema- ments der Versicherungsunternehmen sowie der Min- tisch und einseitig mit Risiken anderer Verträge belastet destüberschussbeteiligung erreichen. Damit nutzen wir werden. Diese unterschiedlichen Verfahren wollen wir unsere aufsichtsrechtlichen Gestaltungsspielräume, um (B) vereinheitlichen. wirksame Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen, die die (D) Kunden der Versicherungsunternehmen schützen. In Ge- Künftig können Verluste nur noch begrenzt mit Ge- sprächen mit Bürgerinnen und Bürgern mache ich aller- winnen verrechnet werden. Die Bundesanstalt für Fi- dings auch immer deutlich, dass staatliche Aufsichtsre- nanzdienstleistungsaufsicht verfügt mit den von den Ver- gelungen persönliche Verantwortlichkeit nur ergänzen, sicherungsunternehmen vorzulegenden Berichten über nicht aber ersetzen können. das geeignete Kontrollinstrument, um die Einhaltung dieser „Saldierungsbegrenzung“ seitens der Unterneh- Denn unsere Regelungen entheben sie nicht der men zu überwachen. Wir versprechen uns davon eine Pflicht, im eigenen Interesse die Risikowahrscheinlich- deutliche Vereinfachung der bislang geltenden Regelun- keiten zu kalkulieren und zur Ordnung ihrer Vermögens- gen der Berechnung der Mindestüberschussbeteiligung verhältnisse die richtigen Versicherungsprodukte zu der Versicherten. wählen. Wachsame Aufsichtsbehörden und kluges Risi- Auch die international zu beobachtende Entwicklung komanagement seitens der Unternehmen bedeuten nicht, von der regelbasierten hin zu einer stärker prinzipienba- dass sich Risiken komplett ausschalten oder versiche- sierten Finanzaufsicht bilden wir mit der Novellierung rungsrechtlich auffangen lassen. Ihnen und allen Bürge- des Versicherungsaufsichtsrechts ab. Dieser Übergang rinnen und Bürgern wünsche ich gute Entscheidungen, weg von einem regelgebundenen Aufsichtsregime er- um das Verhältnis von Risiko und Chancen auch in Zu- höht auch in der Versicherungswirtschaft die Anforde- kunft zu optimieren. rungen an die Entscheidungsprozesse innerhalb der Unternehmen. Um eine ordnungsgemäße Geschäftsorga- Frank Schäffler (FDP): Die Große Koalition ist in nisation innerhalb der Unternehmen der Versicherungs- der Finanzmarktgesetzgebung eine Koalition der ver- wirtschaft zu gewährleisten, sieht die Neuregelung die passten Chancen. Dies sieht man in allen abgeschlosse- Entwicklung einer Risikostrategie sowie interne Steue- nen bzw. laufenden Gesetzgebungsverfahren. Ob REITS, rungs- und Kontrollsysteme einschließlich einer internen ob Private Equity oder Investmentgesetz, um nur einige Revision vor. Dies gilt natürlich auch für Unternehmens- zu nennen: Immer machen Sie nur einen halben Schritt, gruppen, deren Risikomanagement Aufschluss darüber nie geben Sie dem Finanzplatz Deutschland die Chance, geben muss, wie sich die Verteilung der Risiken auf Gruppenebene darstellt. im internationalen Wettbewerb den Platz einzunehmen, der ihm gebührt. Stattdessen misstrauen Sie dem Markt, Die interne Berichterstattung erlaubt eine Einschät- beschließen staatliche Eingriffe und werfen der Finanz- zung des Risikos der Unternehmen, der Sensibilität des branche Steine in den Weg. 12314 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Das vorliegende Gesetzgebungsverfahren bildet da Bundesregierung erst auf den letzten Drücker tätig (C) keine Ausnahme. Natürlich setzt der Gesetzentwurf die wurde. Denn immerhin wurde dieser Passus bereits Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu Bestands- Mitte 2005 für verfassungswidrig erklärt. Spätestens mit übertragungen und zur Überschussbeteiligung in der Le- der Achten Novelle des VAG hätte bereits die Möglich- bensversicherung um; dagegen ist nichts zu sagen. Ent- keit bestanden diese Rechtsunsicherheit für die Versi- scheidend ist jedoch, was wiederum nicht im Gesetz cherten zu beenden. steht. Sie haben seitens der Koalition – auch wenn der Gesetzentwurf im Bundesfinanzministerium erarbeitet Desgleichen unterstützen wir die Festlegung der An- wurde, so ist er ja doch vom Kabinett insgesamt abge- forderungen an das Risikomanagement der Versiche- segnet worden – das Thema „Flexibilisierung der Bede- rungsunternehmen, womit die zu erwartenden Solven- ckungsvorschriften für Pensionsfonds“ erneut nicht auf- cy-II-Regeln vorweg in nationales Recht umgesetzt wer- gegriffen. Dies ist umso bedauerlicher, als wir in den den sollen. Maßnahmen, wie die Pflicht zur Vorlage des Ausschussberatungen zur achten VAG-Novelle festge- internen Risikoberichts und die Ausdehnung anderer Be- halten hatten, dass das Thema bei der neunten Novelle richtspflichten gegenüber der staatlichen Aufsicht oder aufgegriffen werden sollte. die Sicherstellung der bevorzugten Behandlung von An- sprüchen der Versicherten im Insolvenzfall finden ohne Da der Regierungsentwurf eine Flexibilisierung nun Zweifel unsere Unterstützung. nicht vorsieht, ist es unsere Aufgabe im parlamentari- schen Verfahren, diese Regelung noch ins Gesetz einzu- Wenn Ihre Politik des Rentenklaus in der gesetzlichen fügen. Ich bin zuversichtlich, dass der in der Anhörung Rentenversicherung schon diejenigen, die es sich leisten zur Verfügung stehende Sachverstand uns erneut über- können (!) in die Arme der Versicherungskonzerne deutlich machen wird, dass wir hier im Interesse der in- treibt, dann muss wenigstens ausreichend dafür Sorge ternationalen Wettbewerbsfähigkeit der inländischen getragen werden, dass der Umgang mit den Geldern der Pensionsfonds handeln müssen. Die Union hat hier ent- Versicherten nicht völlig den kurzfristigen Renditeinte- sprechende Bereitschaft signalisiert; es wäre nun an der ressen der Versicherer überlassen wird. Zeit, dass sie auch die SPD davon überzeugt. Lassen Sie seitens der Union den Finanzplatz Deutschland nicht Allerdings gilt es, in Anbetracht der Komplexität, die länger „links“ bei der SPD liegen, sondern geben Sie das das gesamte Solvency-II-Regelwerk mit sich bringen Tempo vor. wird, auch darauf zu achten, dass damit kleine Versiche- rungsunternehmen, wie etwa regionale Haftpflichtversi- Die zuständigen Bundesratsausschüsse haben sich in cherer, nicht überfordert werden. Solvency II darf kein ihren Empfehlungen übrigens ebenfalls für eine entspre- Beitrag zur weiteren Monopolisierung des Versiche- (B) chende Änderung des Gesetzentwurfs ausgesprochen, rungsmarktes sein! Daher begrüßen wir es, dass Versi- (D) um Wettbewerbsnachteile für inländische Pensions- cherungsunternehmen, die nur in Teilbereichen des Ver- fonds zu beseitigen. sicherungsmarktes tätig sind, nicht die ganze Bürde der Beim Thema Solvency II gibt es einen Punkt, bei dem Anforderungen aufgezwungen wird. sich alle Fraktionen einig sind. Soweit wir uns mit den Auswirkungen von Solvency II beschäftigen, darf es Gebetsmühlenartig bemühen die Finanzpolitiker von nicht dazu kommen, dass kleinere Unternehmen einem CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen im- unverhältnismäßigen Aufwand ausgesetzt werden. Da- mer wieder die Floskel von der Sicherung und dem Aus- rauf sollten wir gemeinsam achten. Darüber hinaus soll- bau des Finanzplatzes Deutschland, um neue Finanz- ten wir bei der Rückstellung für Beitragsrückerstattung instrumente und Anlageformen hier zu Lande zu eine Konkretisierung vornehmen, wann Mittel entnom- etablieren. Deren volkswirtschaftlicher Nutzen ist oft men werden können, um die gegenüber den Versiche- mehr als fragwürdig und die Staatseinnahmen werden rungsnehmern ausgesprochenen Garantien sicherzustel- dadurch in Milliardenhöhe belastet (Zulassung von len. Dies ist deshalb so wichtig, weil die Rückstellungen Hedge-Fonds, REITs, Steuergeschenke für Private für Beitragsrückerstattung mit 42 Milliarden Euro mehr Equity Fonds etc.). Geht es hingegen um das Setzen von als 80 Prozent der Eigenmittel der deutschen Lebensver- aufsichtsrechtlichen Standards, die tatsächlich das Ver- sicherungsunternehmen umfassen. Die Branche und die trauen von Anlegern, vor allem aber von Versicherten Bundesratsausschüsse haben hierzu im Einklang mit stärken, dann tut sich manch einer von Ihnen doch recht dem Solvency-II-Richtlinienentwurf entsprechende Vor- schwer damit. So habe ich während der gestrigen Sit- schläge gemacht, die wir aufgreifen sollten. zung des Finanzausschusses doch mit einiger Verwunde- rung vernommen, dass aus den Reihen von CDU/CSU und FDP Stimmen laut wurden, Pensionsfonds eine Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): Der vorliegende Ge- deutlich größere Unterdeckung ihrer Verpflichtungen zu setzentwurf der Bundesregierung zur Neunten Novelle ermöglichen. Da müssen Sie sich schon die Frage gefal- des Versicherungsaufsichtsgesetzes findet im Grundsatz len lassen, weshalb sich die Attraktivität deutscher Pen- die Unterstützung meiner Fraktion. sionsfonds für Versicherte erhöhen soll, wenn zugleich So sehen wir in der Neuregelung des § 14 einen das Risiko für die Fondseinlagen erhöht wird? Welche Schritt, der die Rechte der Versicherten stärkt. Aller- Lehren ziehen Sie eigentlich aus den seit Monaten an- dings bedurfte es erst eines Urteils des Bundesverfas- haftenden Turbulenzen auf dem Finanzmarkt und dem sungsgerichtes, das die Bundesregierung zwang hier tä- Beinahe-Kollaps des britischen Versicherers „Equitable tig zu werden. Zu kritisieren ist auch, dass die Life“? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12315

(A) Die Linke wird sich jedenfalls für eine wirksame Ver- winnen für die Überschussberechnung obliegt aber der (C) sicherungsaufsicht und gegen jegliche Ausweitung spe- Aufsichtsbehörde und unterliegt daher dem Versiche- kulativen Agierens auf den Versicherungs- und Finanz- rungsaufsichtsänderungsgesetz. Einer geäußerten Kri- märkten aussprechen. Nur so kann das Vertrauen der tik, die die Bestandsübertragung bei Verträgen mit Über- Versicherten gewahrt, die Finanzmarktstabilität gewähr- schussbeteiligung betrifft, ist unseres Erachtens leistet und – wenn Sie so wollen – dem Finanzplatz Rechnung zu tragen. Bei Versicherungsverträgen mit Deutschland auf mittlere und lange Sicht Vertrauen ver- Überschussbeteiligung ist bei Übertragung sicherzustel- schafft werden. Wir fordern die Bundesregierung auf, len, dass der Wert der Überschussbeteiligung des auf- sich auf EU-Ebene bei der Umsetzung von Solvency II nehmenden und des abgebenden Versicherungsunterneh- an den Interessen der Versicherten zu orientieren und da- mens jeweils gleich bleibt. Dabei sollen auch die den für Sorge zu tragen, dass Versicherungsunternehmen die Verträgen bereits zugewiesenen Bewertungsreserven Anlage der ihnen anvertrauten Gelder in Hedge-Fonds nach dem Zeitwert einbezogen werden. und anderen hochspekulativen Anlagegeschäften ver- wehrt bleibt. Interessant bei der Neunten Novelle ist auch der Übergang zu einer mehr prinzipienbasierten Aufsicht Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): über die Versicherungswirtschaft, gerade im Hinblick Das Versicherungsaufsichtsgesetz beschäftigt uns kurz auf die geplanten europäischen Aufsichtsstandards für nach der Achten Novelle erneut. Hauptinhalt der Neun- die Versicherungswirtschaft Solvency II. Da wird die ten Novelle zum Versicherungsaufsichtsgesetz ist eine Entwicklung, wie sie mit Basel II bei den Banken statt- Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom gefunden hat, auf den Versicherungssektor übertragen. 26. Juli 2005. In diesem Urteil wurden die Übertragun- Hierbei möchten wir die Zusammenhänge von der durch gen von Versicherungsbeständen, wie sie bislang im Ver- das Versicherungsaufsichtsänderungsgesetz veranlass- sicherungsaufsichtsgesetz geregelt wurden, für verfas- ten Änderungen in Betracht auf Solvency II näher disku- sungswidrig erklärt. tieren. Die weiteren Verhandlungen zu Solvency II fin- den auch erst nach Abschluss der Neunten VAG-Novelle Das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die Be- statt, so dass wir die Debatte zu dem Versicherungsauf- lange der Versicherten von der Aufsichtsbehörde umfas- sichtsgesetz auch vor dem Hintergrund der europäischen send festzustellen und ungeschmälert in die Entschei- Harmonisierungsbestrebungen führen können. dung über die Genehmigung und die dabei vorzunehmende Abwägung einzubringen sind. Bei Le- Ein wichtiger Punkt bei der prinzipienbasierten Auf- bensversicherungen muss gesichert sein, dass die durch sicht ist, wie die Aufsichtsbehörde durch die neu formu- Prämienzahlungen der Versicherungsnehmer beim Versi- (B) lierten Anforderungen an das Risikomanagement der (D) cherer geschaffenen Vermögenswerte im Fall von Be- Versicherungsunternehmen das Risikoergebnis kontrol- standsübertragungen als Quellen für die Erwirtschaftung lieren kann. In dem jetzt vorliegenden Regierungsent- von Überschüssen erhalten bleiben und den Versicherten wurf wird die Implementierung eines angemessenen in gleichem Umfang zugute kommen wie ohne Aus- Risikomanagementsystems bzw. einer angemessenen tausch des Schuldners. Bei Versicherungsvereinen auf Risikosteuerung verlangt. Allerdings stellt der Entwurf Gegenseitigkeit muss auch der Anspruch der Mitglieder der Bundesregierung nur auf die Implementierung der auf Zahlung eines angemessenen Entgelts gewahrt blei- Risikosysteme und ihrer Funktionsfähigkeit ab, verlangt ben. aber keine explizite Nennung des Risikoergebnisses. Grundsätzlich befürworten wir die vorgeschlagenen Hier stellt sich die Frage, ob dies genügt, um den beauf- Änderungen in dem Regierungsentwurf. Wichtig ist aber sichtigenden Institutionen einen effektiven Überblick zu nun, bei der Bestandsübertragung zu überprüfen, wie der verschaffen. Übergang der Rechte und Pflichten des übertragenden Unternehmens auf das übernehmende Unternehmen Im Rahmen der Diskussion um die Achten Novelle vollzogen wird. Besonders vor dem Hintergrund der des Versicherungsaufsichtsgesetzes wurde bereits über Diskussion über den Verkauf von Immobilienkrediten ist die Frage der Unterdeckung bei Pensionsfonds gespro- eine sehr genaue Überprüfung der gesetzlichen Regelun- chen. Damals wurde zugesichert, dass dies im Rahmen gen zur Wahrung der Verbraucherinteressen notwendig. der Neunten Novelle überprüft werden soll. Neben den bereits im Gesetz enthaltenen Punkten werden wir uns Wenn nun ein Versicherungsnehmer ein Produkt ab- also mit dieser Thematik befassen. Das ist auch richtig geschlossen hat, das besondere Anlagestrategien ver- so. Als eine wichtige Säule der Altersvorsorge sollte die folgt, wie beispielsweise besonders ethische, ökologisch betriebliche Altersvorsorge durch Pensionsfonds erleich- oder soziale Kapitalanlagen und das zu übernehmende tert werden, und zwar auch mit Standort in Deutschland. Unternehmen diese nicht anbietet; dann sollte nach einer Das entsprechende Altersvermögensgesetz trat am 1. Ja- Lösung gesucht werden, die auch gegebenenfalls ein nuar 2002 in Kraft. Pensionsfonds sind in Deutschland Sonderkündigungsrecht für die Versicherungsnehmer aber noch nicht verbreitet. Wichtig wird es für diese Dis- vorsieht. kussion sein, dass wir klären, ob und wenn ja, in welcher Das Urteil der verfassungsrechtlichen Anforderun- Höhe eine Neuregelung Steuerausfälle verursachen gen an die Lebensversicherer ist zum Großteil schon in würde, und wie die Interessen der Verbraucherinnen und dem Versicherungsvertragsgesetz umgesetzt worden. Verbraucher an Sicherheit bei ihrer Altersversorgung ge- Die Berechnung, die Saldierung von Verlusten und Ge- währleistet werden können. 12316 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Anlage 10 Auch um die abrüstungspolitischen Kooperation zwi- (C) schen der NATO und Russland ist es tatsächlich äußerst Zu Protokoll gegebene Reden schwierig, aber weniger desaströs bestellt, wie dies teil- zur Beratung der Anträge: weise suggeriert wird. Dies gilt übrigens auch für die ab- rüstungspolitischen Bemühungen zwischen Russland – Deutschland muss rüstungskontrollpoliti- und den USA. Die weitgehend unbeachtet gebliebene sche Glaubwürdigkeit beweisen – Angepass- Tatsache, dass Russland und die USA beim bilateralen ten KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag Gipfel von Kennebunkport die baldige Aufnahme von zur Abstimmung vorlegen Gesprächen über eine Nachfolgeregelung des Ende 2009 auslaufenden START-I-Vertrages vereinbart haben, darf – Angepassten Vertrag über Konventionelle in diesem Kontext genannt werden. Ziel dieser Gesprä- Streitkräfte in Europa ratifizieren che soll es sein, die Anzahl der strategischen Atomwaf- – Die Krise des KSE-Vertrages durch neue fen auf das tiefstmögliche Maß zu verringern. Auch in Impulse für konventionelle Abrüstung und Fragen der Nichtverbreitung findet nach wie vor umfas- Rüstungskontrolle in Europa beenden sende Kooperation statt. Anzeichen für eine unüber- windbare Krise sind demnach trotz des russischen Thea- (Tagesordnungspunkt 20 a und b, Zusatztages- terdonners faktisch noch nicht festzustellen. Soviel ordnungspunkt 9) Nüchternheit sollten wir uns trotz aller Sorge um die hier zu behandelnde Thematik gönnen. Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/ Präsident Putins Ankündigung, die Verpflichtungen CSU): Zweifelsohne hat sich der unmittelbar nach dem des bisherigen KSE-Vertrages ab dem 12. Dezember Ende des Kalten Krieges allgemein herrschende abrüs- auszusetzen, verändert nicht die Sicherheitslage in Eu- tungspolitische Enthusiasmus in den letzten Jahren in ropa, sie verändert nicht die strategische Lage, aber sie gewissem Maße erschöpft. Dachte man in den Jahren berührt doch in gewisser Weise das besondere fragile nach dem Fall der Berliner Mauer, nun sei entsprechen- Vertrauensverhältnis zwischen Russland und der NATO, der Raum gegeben für umfassende und globale abrüs- welches durch den KSE-Vertrag und die Nachfolgever- tungspolitische Initiativen, so mussten wir in den folgen- handlungen über den angepassten KSE-Vertrag geschaf- den Jahren feststellen, dass die Welt durch den fen wurde. Untergang des Kommunismus zwar ein bedeutendes Stück freier, aber nicht in jeder Hinsicht stabiler gewor- Es ist aber in diesem Zusammenhang äußerst bedenk- den ist. lich, dass das grundlegende Vertragswerk über konven- (B) tionelle Abrüstung, Sicherheit und Rüstungskontrolle in (D) Nun finden wir uns wieder auf dem knarzenden Bo- den der Tatsachen. Neue Bedrohungen und ein damit Europa von russischer Seite zur Disposition gestellt verbundenes anhaltendes Gefühl von asymmetrischer wird. Trotz aller Mängel und Unzulänglichkeiten kommt Gefahr und Unsicherheit in den internationalen Bezie- dem bisherigen KSE-Vertrag doch eine hohe Symbol- hungen haben unter anderem dazu geführt, dass die Staa- kraft zu und es muss in unserem Interesse liegen, dass er ten in ihrer Gesamtheit, aber vor allem die alten und in Kraft bleibt und weiterentwickelt wird. neuen aufstrebenden Großmächte nicht bereit sind, in Putin muss sich allerdings an der Erwartbarkeit der dem Sinne auf den Erhalt und Aufbau ihrer Waffenarse- eigenen russischen Schritte messen lassen. Nicht erst seit nale in dem Maße zu verzichten, wie wir es uns in die- der Münchner Sicherheitskonferenz sendet der Kreml sem hohen Hause vielleicht wünschten. unmissverständlich missverständliche Signale aus, die in Der Staatengemeinschaft sind zudem neue abrüs- unterschiedlichen, nicht immer homöopathischen Dosen tungspolitische Herausforderungen entstanden: Die Pro- auf die wohlberechneten Befindlichkeiten der unter- liferation waffentauglicher Nukleartechnologie an Staa- schiedlichen NATO-Staaten einwirken. Die von Moskau ten wie an nichtstaatliche terroristische Akteure ist in verfolgte Politik der rhetorischen Eskalation legt zudem diesem Zusammenhang hervorzuheben. Die Ambitionen den Verdacht nahe, dass Russland den hohen Eigenwert Irans, den gesamten Brennstoffkreislauf zu beherrschen des KSE-Prozesses unterschätzt und stattdessen den Ver- und die damit verbundenen Möglichkeit, atomare Waf- trag ganz offensichtlich als taktische Masse benutzt, um fensysteme zu entwickeln, stellen in diesem Zusammen- europäische Friktionspotenziale zu wecken und weiter- hang mit Sicherheit die dringendste Herausforderung für gehende, sachfremde Interessen zu verfolgen. die Weltgemeinschaft dar. Unterschwellig vorhandene, diffuse Bedrohungs- Lediglich angesichts der Diskussionen um die von ängste – dies gilt wiederum im besonderen Maße für Russland angedrohte Aussetzung des KSE-Vertrages von Deutschland – sollen durch wolkige Einlassungen und einer erschütternden Krise der internationalen Abrüs- Drohungen unterfüttert werden. In diesem Sinne ent- tungs- und Rüstungskontrollregime zu reden, wäre – bei spricht auch das von mir eingangs kritisierte allzu leicht- aller berechtigten Sorge – doch etwas pathetisch. Interna- fertige Reden über sicherheitspolitische Krisen und ein tionale Kooperation mit Russland ist teilweise schwieri- neues Wettrüsten mutmaßlich durchaus dem Kalkül der- ger geworden, doch sie besteht im Interesse aller Betei- jenigen, die den KSE-Vertrag zur Disposition stellen. ligten fort. Eher führt das rüstungskontrollpolitische Dieses Verhalten sehe ich nach wie vor als durchsichtig Gesamtbild zum Krisenszenario. und als nicht akzeptabel an. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12317

(A) Gleichwohl und erneut: Der KSE-Prozess befindet herigen KSE-Vertrages wie auch die Erfüllung der Istan- (C) sich in einer kritischen Phase. In dieser Situation ist bul-Commitments. Der Bundesregierung kommt daher Deutschland als wichtiger Förderer und Impulsgeber des auch die Aufgabe zu, Moskau auch im Rahmen des in- KSE-Prozesses besonders gefordert, den Ratifizierungs- tensiven deutsch-russischen Dialoges von der langfristi- prozess nach Kräften zu unterstützen und zu befördern. gen und allseitigen Bedeutung des A-KSE-Prozesses für das bilaterale Verhältnis der beiden Länder zu überzeu- Wir begrüßen die bisher erfolgten Anstrengungen der gen. Bundesregierung, den Dialog innerhalb der KSE-Unter- zeichnerstaaten voranzutreiben. Deutschland kann und muss den KSE-Prozess mit kreativen Ansätzen und ho- Dr. Rolf Mützenich (SPD): Das KSE-Regime befin- hem Engagement befördern. Um dieses Ziel zu verfol- det sich in einer tiefen Krise, nachdem der russische Prä- gen gilt es nun, insbesondere den offenen und zielfüh- sident Wladimir Putin am 14. Juli 2007 die Aussetzung renden Dialog mit Russland weiterzuverfolgen. Hierin des Vertrags ab dem 12. Dezember 2007 angekündigt liegt eines der Kernanliegen dieses Antrages, aufwei- hat. Zuvor blieben sowohl die Dritte Überprüfungskon- chen ich hier eingehen will. ferenz vom 30. Mai bis 2. Juni 2006 wie eine auf Antrag Russlands einberufene außerordentliche Konferenz aller Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Fraktionen KSE-Vertragsstaaten vom 12. bis 15. Juni 2007 in Wien von CDU/CSU und SPD ein deutliches Bekenntnis zum ohne Ergebnis. KSE-Vertrag und dessen Nachfolgeregelungen ablegen. Dieses Bekenntnis schließt allerdings das in Istanbul Mit seiner Drohung, das KSE-Vertragssystem notfalls vereinbarte Junktim über den russischen Abzug aus Mol- gänzlich infrage zu stellen, bringt Wladimir Putin die dawien und Georgien ein. Ein Abrücken von eingegan- westlichen Staaten in Zugzwang. Sie müssen nun ent- genen internationalen Verpflichtungen oder eine weitere scheiden, was ihnen dieser „Eckpfeiler der europäischen Instrumentalisierung des Vertragswerkes für das Errei- Sicherheit“ und die vertraglich vereinbarte Rüstungs- chen anderer Ziele durch einzelne Vertragsstaaten muss kontrolle insgesamt künftig wert sind. Der russische hingegen ausgeschlossen werden. Die Bundesregierung Vorstoß kam dabei nicht überraschend, sondern kündigte muss verdeutlichen, dass sich der wichtige KSE-Vertrag sich schon seit längerem an. Schon seit Jahren kritisiert nicht als Verhandlungsmasse eignet. Je deutlicher und Russland die westliche KSE-Politik. Dennoch: Rüs- einmütiger dies insbesondere gegenüber der russischen tungskontrollpolitik darf nicht zum Spielball national- Führung kommuniziert wird, desto besser und zielfüh- staatlicher Interessen gemacht werden. render. Worum geht es? Der KSE-Vertrag legt Obergrenzen In diesem Sinne muss auch die angedachte Möglich- für die Zahl der Waffensysteme vom Ural bis zum Atlan- (B) keit eines schrittweisen parallelen Ratifizierungsprozes- tik fest. Ziel war es zunächst, das Ungleichgewicht kon- (D) ses des A-KSE, den wir begrüßen würden, an die konse- ventioneller Streitkräfte der Vertragspartner abzubauen quente Erfüllung der genannten Bedingungen gebunden und Überraschungsangriffe unmöglich zu machen. In sein. Russland hat auch diesen Vorschlag reserviert aufge- dem am 19. November 1990 unterzeichneten KSE-Ver- nommen, obwohl dieser ein wesentliches Entgegenkom- trag einigten sich die Staaten des damaligen Warschauer men bedeutet. Moskau wäre gut beraten, die Initiative Paktes und der NATO auf Grenzen für Waffenpotenziale aufzugreifen und seinerseits Zeichen der Konstruktivität wie Kampfpanzer, Artilleriesysteme oder Kampfhub- zu setzen. Um den Lösungsansatz zu ermöglichen ist die schrauber. Über 60 000 schwere Waffen wurden unter russische Seite zudem aufgefordert, umgehend von ihrer internationaler Aufsicht zerstört. angekündigten Aussetzung der Anwendung des gültigen Die veränderte Sicherheitslage nach Ende des War- KSE-Vertrages Abstand zu nehmen. Der konstruktive schauer Pakts und der NATO-Erweiterung führte dann und von den USA mitgetragene Vorschlag eines schritt- 1999 in Istanbul zu einem „angepassten KSE-Vertrag“, weisen Prozesses darf nicht als Carte blanche für Russ- A-KSE, mit insgesamt 30 Vertragsstaaten. Kern der An- land missverstanden werden. passung waren nationale und territoriale Truppenober- Wir würdigen die hohe Symbolkraft des KSE-Vertra- grenzen, die nur nach Konsultationen mit den Partnern ges und sehen ihn auch weiterhin und ungeachtet aller geändert werden können. Alle KSE-Mitglieder unter- Schwierigkeiten als zentrales Instrument an, um die rüs- zeichneten zwar den A-KSE-Vertrag 1999, doch in Kraft tungspolitische Vertrauensbildung in Europa zu befesti- getreten ist er bis heute nicht. Nur vier der 30 KSE-Staa- gen und weiterzuentwickeln. Die Bundesregierung ten – Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Uk- bleibt aufgefordert, auf alle Mitgliedstaaten des KSE- raine – haben ihn ratifiziert. Vertrages einzuwirken, ein Scheitern des KSE-Prozesses Die NATO-Staaten binden ihre Ratifizierung an die zu vermeiden. Als Förderer des KSE-Prozesses und Einhaltung der sogenannten „Istanbuler Verpflichtun- wichtiger NATO-Staat muss Deutschland ein hohes Inte- gen“, die besagen, dass Russland seine Truppen aus Ge- resse daran haben, langfristig auch die NATO-Mitglieder orgien und dem Gebiet Transnistrien in Moldawien voll- in das Vertragswerk miteinzubeziehen, die bisher noch ständig abziehen müsse. Russland hingegen akzeptiert nicht zu den Unterzeichnerstaaten gehören. diese Argumentation nicht. Dem zeitlichen Junktim hat Letztlich gilt es jedoch in erster Linie auf die russi- Russland nie zugestimmt. Zudem hat Moskau den Ab- sche Seite einzuwirken, ihren eingegangenen internatio- zug zwar politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu ei- nalen Verpflichtungen nachzukommen. Dies betrifft nem bestimmten Termin zugesagt. Darüber hinaus hat es ebenso die Wahrnehmung der Vertragspflichten des bis- seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten 12318 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Teil erfüllt. So hat sich die russische Seite mit Georgien flüge erlaubt, und für die Wiener Vereinbarungen zum (C) auf einen Stationierungsvertrag und den Abzug seiner jährlichen Austausch militärischer Daten unter den Truppen bis Ende 2008 geeinigt und diesen bereits groß- OSZE-Staaten. teils umgesetzt. In Moldawien gebe es nur noch wenige Hundert Soldaten, die ein Munitions- und Waffendepot Es liegt deshalb im Interesse Deutschlands und Euro- bewachen, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleiben pas, dass Russland auch weiterhin in das KSE-System könne. eingebunden und der KSE-Vertrag als Eckpfeiler euro- päischer Sicherheit erhalten bleibt. Die Verhandlungen Diese Argumentation lässt sich nicht vollständig von sollten darüber hinaus durch weitere abrüstungspoliti- der Hand weisen. Ich finde, dass man die Bemühungen sche Initiativen ergänzt werden. Angesichts der weitge- Russlands um die Umsetzung der in Istanbul eingegan- henden inhaltlichen Deckungsgleichheit der Anträge genen Verpflichtungen und die bislang erzielten Ergeb- zum KSE-Regime möchte ich zum Schluss zu überlegen nisse durchaus würdigen sollte. Man sollte auch andere geben, die Anträge zu einem gemeinsamen interfraktio- Befürchtungen Moskaus ernst nehmen. Die Debatte um nellen Antrag zusammenzufassen. einen NATO-Beitritt von Georgien und der Ukraine trägt ebenso dazu bei wie das geplante US-Raketenabwehr- Elke Hoff (FDP): Am 12. Dezember 2007 soll die system in Polen und Tschechien. Dabei ist klar: Der Vor- russische Suspendierung des Vertrages über Konventio- stoß Putins stellt eine unzulässige Vermengung zwischen nelle Streitkräfte in Europa in Kraft treten. Sollte diese der Raketenabwehr und dem KSE-Vertrag dar. Das eine Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin hat mit dem anderen nichts zu tun und sollte getrennt nicht doch noch abgewendet werden können, steht die voneinander behandelt werden. konventionelle Rüstungskontrolle in Europa vor dem Ich bin der festen Überzeugung, dass es gelingen Aus. Denn eine russische Suspendierung wäre de facto kann, den A-KSE zu ratifizieren und das KSE-Regime auch das Ende des KSE-Vertrages. zu retten. Dies erfordert allerdings Bewegung auf beiden Ein Wegfall dieses tragenden Pfeilers der Stabilität Seiten. Ich appelliere deshalb an die russische Regie- und Sicherheit in Europa steht im vollkommenen Wider- rung, dass sie den diplomatischen Bemühungen den not- spruch zu den sicherheitspolitischen Interessen der Bun- wendigen Raum gibt und die angekündigte Suspendie- desrepublik und aller anderen Mitgliedstaaten. Deshalb rung des KSE-Vertrages überdenkt. Ich fordere aber ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Vertrags- auch von den USA und den NATO-Partnern, auf die rus- staaten gemeinsam einen Kompromiss finden, der den sische Regierung einzuwirken und miteinander in einen Ausstieg Moskaus aus der konventionellen Rüstungs- konstruktiven Dialog für ein rasches Inkrafttreten des kontrolle noch abwenden kann. A-KSE einzutreten. Dabei muss im NATO-Russland-Rat (B) (D) auch über die rüstungskontrollpolitischen Folgen des Doch ich habe wenig Hoffnung, dass dies ohne ein US-Raketenschirms diskutiert werden. glaubwürdiges und belastbares Signal vonseiten der NATO-Mitgliedstaaten gelingen kann. Denn selbst nach Ein Ausweg aus der festgefahrenen Situation könnte der von Bundesaußenminister Steinmeier erst vor zwei darin liegen, dass auf westlicher Seite bereits jetzt eine Wochen so eifrig wie informell in Bad Saarow einberu- Gruppe von Staaten den A-KSE-Vertrag auf Vorrat rati- fenen Konferenz mit Vertretern aus 33 KSE-Mitglied- fiziert, um die Hinterlegung der Ratifikationsurkunden staaten, tritt die Vertragsgemeinschaft weiter auf der bei weiteren Fortschritten schnell vornehmen zu können. Stelle. Nichts war zu hören von substanziellen Fort- Gleichzeitig müsste die russische Seite die noch offenen schritten oder gar einem Durchbruch in Sachen KSE- Istanbuler Verpflichtungen zügig umsetzen und das an- Vertrag. Die Zeit für die Rettung der konventionellen gekündigte Moratorium aussetzen. Darüber muss drin- Rüstungskontrolle in Europa läuft damit langsam, aber gend diskutiert und verhandelt werden. sicher ab. Wir dürfen hier nicht länger zusehen. Deutsch- Ich bin deshalb Außenminister Frank-Walter land muss als wichtiger NATO-Staat in dieser Krise end- Steinmeier sehr dankbar, dass er vor wenigen Tagen in lich Vorreiter und Brückenbauer sein. Bad Saarow alle KSE-Vertragsstaaten sowie die balti- Wladimir Putin hat seine Entscheidung zur Suspen- schen Staaten und Slowenien zu einem informellen Tref- dierung des KSE-Vertrages immer wieder mit Verweis fen zum Erhalt und Fortbestand des KSE-Regimes ein- auf die Stationierung einer US-Raketenabwehr auf euro- geladen hat, um über diese Fragen zu diskutieren. Dabei päischem Boden begründet. Aber in Wirklichkeit hat die konnten ein erster Überblick gewonnen, bestehende Dif- Debatte um den US-Raketenabwehrschirm dem russi- ferenzen benannt und mögliche Lösungsansätze disku- schen Präsidenten nur ein zweites Mal – nach der Dro- tiert werden. hung, den INF-Vertrag zu kündigen – als Vorwand ge- Konventionelle Rüstungskontrolle hat sicherlich in dient, um der russischen Unzufriedenheit mit Europa nicht mehr die Bedeutung, die ihr während des internationalen Abrüstungsvereinbarungen nachhaltig Ost-West-Konflikts zukam. Gleichwohl wäre ein Schei- wie eindrucksvoll Ausdruck zu verleihen. Denn tatsäch- tern des KSE-Regimes verhängnisvoll und ein schwerer lich schwelt der Konflikt um die ausstehende Ratifizie- Rückschlag für die Vertrauensbildung in Europa. Es gibt rung des angepassten KSE-Vertrages schon seit dem Jahr aus deutscher und europäischer Sicht viele gute Gründe, 2000: Die NATO-Mitgliedstaaten machten vor dem Hin- am KSE-Regime festzuhalten. Es beschränkt effektiv die tergrund des Tschetschenienkrieges die von Moskau Militärpotenziale, es ist Grundlage für den Vertrag über 1999 parallel zum A-KSE-Vertrag unterzeichneten soge- den „Offenen Himmel“, der gegenseitige Inspektions- nannten Istanbuler Verpflichtungen – besonders den rus- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12319

(A) sischen Truppenabzug aus Georgien und Moldau – zur gen russischen Truppenabzug aus Georgien die Ratifika- (C) Vorbedingung für ihre Ratifizierung des A-KSE-Vertra- tionsurkunden zu hinterlegen und den A-KSE-Vertrag ges. Russland hat diese Vorbedingung nie anerkannt. umgehend in Kraft treten zu lassen. Eine solche „wei- Seitdem steht der Ratifizierungsprozess still. testgehende Vorbereitung“ der Ratifizierung des A-KSE- Vertrages schafft eine konkrete Zukunftsperspektive für Die Entscheidung von Präsident Putin zum De-facto- das KSE-Regime. Deshalb fordere ich die Bundesregie- Ausstieg aus dem KSE-Vertrag hat nun die konventio- rung auf, unserem Antrag zu folgen und dem Deutschen nelle Rüstungskontrolle in eine existenzielle Krise ge- Bundestag den A-KSE-Vertrag endlich zur Abstimmung stürzt und die NATO-Mitgliedstaaten unter Zeitdruck vorzulegen und bei den NATO-Partnern für einen eben- gesetzt. Eine Rettung des Vertragswerks kann nur er- solchen Schritt zu werben. reicht werden, wenn die NATO-Staaten mit Russland zu einem konstruktiven, lösungsorientierten Dialog zurück- finden. Hierfür bedarf es eines glaubwürdigen Signals, Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Die Deregulie- dass die NATO-Staaten auch weiterhin am A-KSE-Ver- rung der internationalen Beziehungen schreitet voran. trag festhalten und dass ihre harte Haltung bei den Istan- Am sichtbarsten wird dies sicherlich am Krieg gegen buler Verpflichtungen keine Verzögerungstaktik gegen- den Terrorismus der USA, der fast vorbehaltlos von den über einem unliebsamen Rüstungskontrollinstrument ist. NATO-Staaten und auch der Bundesregierung unter- Besonders die Vereinigten Staaten müssen hier von der stützt wird. Allenthalben werden völkerrechtliche Bundesregierung an ihre Verantwortung und Leitbild- Schranken abgebaut, werden internationale Verträge auf- funktion erinnert werden. Dies muss aber geschehen, gekündigt oder nach Gutdünken der Mächtigen umdefi- ohne den russischen Muskelspielen – die hier zweifellos niert. Vertrauensbildende Maßnahmen, einst Grundpfei- eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen – zu sehr entge- ler friedlicher Diplomatie, werden durch das Recht des genzukommen. Stärkeren abgelöst. Auch wenn Russland die Istanbuler Verpflichtungen Statt Rüstungskontrolle und Abrüstung bestimmen bislang nicht erfüllt hat, ist mit dem russisch-georgi- heutzutage Rüstungsmodernisierung und Aufrüstung die schen Abkommen vom 31. März 2006 über den Abzug Agenda. Das NATO-Bündnis, allen voran die USA, ist der russischen Streitkräfte aus Georgien ein wichtiger für mehr als zwei Drittel der weltweiten Rüstungsausga- Schritt zur Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen ge- ben verantwortlich. Die NATO-Mitgliedstaaten exportie- tan worden. Denn in Moldau wird lediglich nur noch ren modernstes Kriegsgerät im Wert mehrerer Milliarden über den Abtransport alter russischer Munition gestrit- an andere Staaten und treiben die Aufrüstungsspirale ten. Daher sollten die NATO-Mitgliedstaaten ihrerseits weiter an. Führende Mitgliedstaaten betreiben nach wie vor dem Hintergrund des drohenden russischen Aus- (B) vor eher eine Konfrontationspolitik und nehmen dafür (D) stiegs aus dem KSE-Regime Beweglichkeit und Kom- die Aushöhlung und Schwächung bestehender Kontroll- promissbereitschaft demonstrieren. regime in Kauf. So ist die NATO in keiner Weise bereit, Die FDP-Bundestagsfraktion fordert deshalb mit dem die Vorgaben des Nichtverbreitungsvertrags zu befolgen. vorliegenden Antrag die Bundesregierung auf, den A- Die USA, aber auch die NATO wollen nach einer sym- KSE-Vertrag dem Deutschen Bundestag zur Abstim- bolischen Ruhepause nach der Aufkündigung des ABM- mung vorzulegen und damit ein starkes glaubwürdiges Vertrags nun den Raketenabwehrschirm aufbauen, um Signal setzen, dass Deutschland weiterhin – trotz dieser sich vor den negativen Konsequenzen ihrer Aufrüstungs- Krisensituation – am A-KSE-Vertrag festhält. Eine Zu- politik zu schützen. Hier muss die Reißleine gezogen stimmung des Deutschen Bundestages ermöglicht es, werden. Wir brauchen einen neuen tragfähigen Ansatz in dass die Ratifizierungsurkunde für den A-KSE-Vertrag der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Es muss bereits ausgestellt und die Ratifizierung damit weitestge- um den Abbau der Rüstungspotenziale gehen. Den ver- hend vorbereitet werden kann. So kann die deutsche Ra- trauensbildenden Maßnahmen muss wieder mehr Raum tifizierung umgehend durch die Hinterlegung der Ratifi- gegeben werden; sie müssen wieder verstärkt gefördert zierungsurkunde wirksam werden, wenn Russland die werden. letzten Truppen aus Georgien abzieht. Ein solches Vor- Vor diesem Hintergrund ist die Sorge der Bundesre- gehen von Deutschland, als Vorreiter unter den NATO- gierung um den Fortbestand des KSE-Vertrags und ihre Mitgliedstaaten, kann den Spagat schaffen, der wieder Empörung über die Ankündigung der russischen Regie- Bewegung in den Ratifizierungsprozess des A-KSE-Ver- rung im Juli, den KSE-Vertrag zum 12. Dezember auszu- trages bringt: setzen, geradezu verlogen. Wo war die Bundesregierung, Dieser Spagat bedeutet, ein glaubwürdiges Signal zu als es acht Jahre lang darum ging, im Westen für eine senden, dass am A-KSE-Vertrag festgehalten wird, und Unterzeichnung des Anpassungsvertrags zum KSE-Ver- darüber hinaus den Konsens der NATO-Staaten zu wah- trag zu werben? Es ist ein Zeichen mangelnder Weitsicht ren, nicht vor Erfüllung der Istanbuler Verpflichtungen der Bundesregierung, dass nicht bereits nach der Unter- den A-KSE-Vertrag zu ratifizieren. Sollten die anderen zeichnung des Anpassungsvertrages wenigstens dem NATO-Mitgliedstaaten dem Beispiel der Bundesregie- Deutschen Bundestag ein Ratifikationsgesetz vorgelegt rung folgen, könnte dies der Schritt zur Rettung des wurde. KSE-Regimes sein. Die Liste der Versäumnisse der Bundesregierung Mit dem von der FDP-Fraktion vorgeschlagenen Vor- ließe sich für andere Rüstungskontroll- und Abrüstungs- gehen ist es möglich, unverzüglich nach einem endgülti- bereiche durchdeklinieren: das Verhalten in der Nuclear 12320 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Suppliers Group angesichts des Nukleardeals zwischen damit auch das Zeichen, dass für ihn die Zeit der koope- (C) den USA und Indien, das Festhalten an der nuklearen rativen Sicherheitspolitik ausläuft. Das kann und darf Teilhabe oder die Duldung einer Modernisierung der nicht im Interesse Russlands und Europas sein. amerikanischen Atomsprengköpfe. Wo war die Bundes- regierung 2003, als es darum ging, die Pläne für eine Wenn Putin, wie jüngst geschehen, von der „Wieder- Ausweitung des US-amerikanischen Raketenabwehrsys- auferstehung“ der russischen Armee redet, mag man das tems nach Europa zu unterbinden? als Innenpolitik oder Wahlkampfmanöver abtun. Wir fürchten, das ist mehr. Die politische und militärische „Zu spät, zu wenig“, so kann man die Rüstungskon- Führung Russlands hat in den vergangenen Monaten trollpolitik der Bundesregierung beschreiben. Außenmi- wiederholt Signale gesendet, dass sie gewillt ist, zu einer nister Steinmeier betont zwar bei jeder sich ihm bieten- konfrontativeren Politik gegenüber dem Westen zurück- den Gelegenheit, wie zuletzt auch im Bundestag, wie zukehren. Die verbale und ideologische Aufrüstung ist wichtig ihm Abrüstung und Rüstungskontrolle sind – al- vor dem Hintergrund der geplanten Stationierung ameri- lerdings vor allem der anderen Staaten. kanischer Raketenabwehrsysteme in Polen und Tsche- chien sowie dem immer weiteren Heranrücken der Natürlich darf das Verhalten der russischen Regierung NATO an Russland in vollem Gange. Auch im militäri- nicht beschönigt werden. Der grundfalsche Kurs der schen Bereich hat die russische Führung in den vergan- NATO-Staaten, Russland bei den strategischen militäri- genen Wochen die Muskeln demonstrativ spielen lassen. schen rüstungskontrollpolitischen Entscheidungen für Europa nicht auf Augenhöhe in die Diskussion einzubin- Solche Drohgebärden sind kontraproduktiv. Sie kön- den und Rücksicht auf russische Bedenken zu nehmen, nen das fragile Gebäude der Rüstungskontrolle und Ab- hat zu ebenso falschen Entscheidungen der russischen rüstung weiter zum Einsturz bringen. Es ist kein Ge- Seite geführt. Fakt ist, die Auseinandersetzung um den heimnis, dass es in den USA, bei europäischen NATO- KSE-Vertrag ist vor allem ein Symptom der allgemei- Partnern und in der Bundesregierung durchaus Kräfte nen, vom Westen mitverschuldeten Krise in der Rüs- gibt, die die vertragliche Rüstungskontrolle und Abrüs- tungskontrolle. tung als Fessel empfinden und abstreifen wollen. Die im Um die eigentliche strukturelle Krise der Rüstungs- Dezember 2001 erfolgte ersatzlose Aufkündigung des kontrolle zu überwinden, muss man allerdings vermei- ABM-Vertrags vonseiten der Bush-Administration war den, den KSE-Vertrag zu mystifizieren. Die Realität dabei ein Dammbruch. Putin hat sich diesem Ansinnen sieht längst anders aus. Die im Anpassungsvertrag neu nicht widersetzt. Im 2002 geschlossenen Moskauer Ver- vereinbarten Truppenobergrenzen stellen keine Ein- trag über den Abbau strategischer Offensivwaffen haben schränkung für die NATO dar. Die globale militärische Bush und Putin auf ein Verifikationssystem verzichtet. (B) Interventionsfähigkeit der USA bzw. der NATO wird Die USA haben im Mai dieses Jahres angekündigt, den (D) durch die Regelungen in keiner Weise berührt. Den US- 1991 unterzeichneten START-Vertrag 2009 auslaufen zu Truppen reichen permanente Materiallager als Sprung- lassen. Russland hat signalisiert, dass es damit keine brett in die Kriegsgebiete aus. Wir brauchen stattdessen nennenswerten Probleme hat und sich mit einem weni- ein weiterführendes und den geänderten Bedingungen ger formalisierten Folgeabkommen abfinden könnte. angepasstes Konzept zur konventionellen Rüstungskon- Die Drohungen aus Russland, gegebenenfalls auch trolle in Europa, welches auch die qualitative Dimension den Mittelstreckenraketenvertrag aus dem Jahr 1987 zu berücksichtigt und neue Rüstungstechnologien mit ein- kündigen, haben auf amerikanischer Seite niemanden bezieht. beeindruckt. Dort ist man anscheinend bereit, die Auf- Gleichzeitig gilt aber auch: Die für den Weltfrieden kündigung dieses historischen Vertrages in Kauf zu neh- wichtige Rüstungskontrolle kann keine weiteren Krisen men. Das Risiko für die USA wäre – im Gegensatz zu gebrauchen. Der KSE-Vertrag schaffte eine weltweit ein- Europa – minimal. Abrüstungspolitisch bewegen wir uns malige Transparenz über die Stationierung von Streitkräf- damit in Richtung der Vor-Gorbatschow-Ära. Dies kann ten in einer Region und zählt aufgrund des Verifikations- nicht das Interesse Deutschlands und der EU sein. Wir systems zu einem der wichtigsten vertrauensbildenden dürfen nicht zulassen, dass die multilaterale Rüstungs- Maßnahmen. Es ist wichtig, dass beim KSE-Vertrag der kontrolle an die Wand gefahren wird. Schalter doch noch umgelegt wird. Dies sollte zudem das Der Antrag der Regierungsfraktionen verspricht, die Startsignal für weitergehende Verhandlungen über kon- Krise des KSE-Vertrages durch neue Impulse beenden ventionelle Abrüstung im OSZE-Rahmen sein. zu wollen. Diese Impulse bleiben Sie schuldig. Sie schieben den Schwarzen Peter Russland zu. Wir sollten Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nicht so tun, als wäre der KSE-Vertrag erst per Dekret Der russische Präsident Putin hat am 14. Juli angekün- aus Moskau in die Krise geraten. Wir sollten nicht so digt, dass Russland mit Wirkung vom 12. Dezember die- tun, als hätte es die NATO-Erweiterung 2004 nicht gege- ses Jahres die Anwendung des KSE-Vertrages und des ben und als würden Georgien und die Ukraine nicht an Flankendokuments von 1996 aussetzen werde. Unsere der Pforte der NATO auf Einlass warten. Wir sollten Fraktion bedauert das zutiefst und fordert Russland auf, auch nicht so tun, als würden Militärbasen in Rumänien auf eine Aussetzung des KSE-Vertrages zu verzichten. und Bulgarien oder die Stationierung von Raketenab- Der KSE-Vertrag ist eines der zentralen Instrumente der wehrsystemen in Europa russische Sicherheitsinteressen Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung in Europa. nicht berühren. Der Westen hat durch das Verschleppen Wer die Anwendung des KSE-Vertrages aussetzt, setzt der A-KSE-Ratifizierung an der Krise des KSE-Regimes Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12321

(A) eine nicht unwesentliche Mitverantwortung. Wir müssen Der angepasste KSE-Vertrag schafft bessere Verifika- (C) einen wesentlichen Teil der Kritik Russlands ernst neh- tionsbedingungen, senkt die Obergrenzen und ermög- men und nach Wegen suchen, wie wir zu einer vertrau- licht zum Beispiel auch den überfälligen Beitritt anderer ensvollen Zusammenarbeit zurückkehren können. europäischer Staaten. Die Ratifizierung des angepassten KSE-Vertrages war in Russland 2004 nicht unumstritten. Es mag im Jahr 2000 gute Gründe gegeben haben, Sie war ein Vertrauensvorschuss an den Westen, den wir warum man bei der NATO auf die vorherige Erfüllung jetzt, in dieser kritischen Phase, erwidern sollten. Gehen der sogenannten Istanbul-Verpflichtungen beharrt hat. wir einen großen Schritt auf Russland zu. Stärken wir Die Lage hat sich in den vergangenen sieben Jahren, dem deutschen Außenminister bei dieser schwierigen zum Beispiel durch den 11. September oder durch die Mission den Rücken. Lassen Sie uns in Deutschland den NATO-Erweiterung in vielfacher Hinsicht substanziell A-KSE-Vertrag unverzüglich ratifizieren und damit auch verändert. Russland hat Schritte zur Erfüllung der Istan- ein Zeichen für andere NATO-Partner setzen. Sorgen wir bul-Verpflichtungen in die Wege geleitet. Die müssen dafür, dass das System der konventionellen Rüstungs- umgesetzt und abgeschlossen werden. Die grundsätzli- kontrolle in Europa erhalten und weiter ausgebaut wird. che Blockadehaltung der NATO ist für uns nicht mehr Dafür werben wir in unserem Antrag. nachvollziehbar.

An der restlichen Implementierung der Istanbul-Ver- Anlage 11 pflichtungen darf die Ratifizierung des A-KSE-Vertrages nicht scheitern. Wir sind der Auffassung, der Vertrag Zu Protokoll gegebene Reden muss jetzt unverzüglich ohne Wenn und Aber ratifiziert zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur werden. Gleichzeitig sollte ein Prozess in die Wege ge- Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch leitet werden, wie die seit 1999 neu hinzugekommenen und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 23) Fragen der konventionellen Rüstungskontrolle im ge- genseitigen Einvernehmen gelöst werden können. Wir können die Rüstungsobergrenzen ohne Sicherheitsver- Michael Hennrich (CDU/CSU): Heute findet die lust weiter senken und auf andere Waffenkategorien aus- erste Lesung des Gesetzes zur Änderung des Vierten Bu- weiten. Der NATO-Russland-Rat und die OSZE haben ches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze statt. Der ihr Kooperationspotenzial im Rüstungskontrollbereich Gesetzentwurf zielt vor allem auf Veränderungen in drei Problembereichen: noch nicht ausgeschöpft. Zum einen gehen wir mit den vorgesehenen Änderun- Wir haben zur Kenntnis genommen, dass Außenmi- gen im Verfahrensrecht weitere Schritte auf eines der (D) (B) nister Steinmeier in den vergangenen Monaten Schritte Ziele unserer Koalition zu, den Bürokratieabbau. Damit unternommen hat, um den Streit um die Ratifizierung tragen wir zu vereinfachten Arbeitsabläufen für alle Be- des A-KSE-Vertrags zu entschärfen und den Dialog in troffenen bei. Gang zu halten. Wir haben den Eindruck: Dem Außen- minister und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Des Weiteren sollen offene Fragen in Bezug auf die ist es ernst. Sie sind daran interessiert, den A-KSE zum Verwaltungspraxis der Träger der Rentenversicherung Erfolg zu führen. Unsere Unterstützung haben Sie. geklärt werden. Schließlich setzen wir mit dem Gesetzentwurf die Ka- Gleichzeitig haben wir Zweifel, ob die Unionsfraktio- binettsentscheidung vom 13. Dezember 2006 um und nen tatsächlich an einem Erfolg des Außenministers in- verteilen die Erstattungslasten zwischen dem Bund und teressiert sind. Zum wiederholten Male versagt die den fünf „neuen“ Ländern aus dem Anspruchs- und An- Union dem Außenminister und dem Koalitionspartner in wartschaftsüberführungsgesetz neu. Abrüstungsfragen die Unterstützung. Wer die Bundesre- gierung nicht dabei unterstützt, unverzüglich den Ratifi- Die Bundesregierung arbeitet für die Änderung des zierungsprozess einzuleiten, nimmt das Scheitern des Sozialversicherungsgesetzes eng mit den Vertretern der KSE-Regimes billigend in Kauf. Was die Regierungs- Arbeitgeberverbände und der Sozialversicherungsträger koalition als Antrag vorlegt, ist daher ein Armutszeug- zusammen. Damit wird sichergestellt, dass das Recht auf nis. Viel deutlicher kann man den Außenminister nicht der Höhe der Zeit bleibt, also dass die Änderungen auf im Regen stehen lassen. die derzeitigen Erfordernisse in den Betrieben und bei den Sozialversicherungsträgern zugeschnitten sind. Die- Der Vorschlag der FDP, den Vertrag in Deutschland ser Dialog trägt wesentlich dazu bei, dass das Sozialver- zu ratifizieren, die Ratifizierungsurkunde aber nicht zu sicherungsänderungsgesetz ein Erfolg wird, indem hinterlegen, ist nicht neu. Vor sieben Jahren wäre das Arbeitsabläufe passgenau vereinfacht oder zusammen- eine gute, vor sieben Monaten eine noch denkbare Op- gefasst werden. Dafür möchte ich den Arbeitgeberver- tion gewesen. Heute, so befürchte ich, hilft uns dieser bänden und den Sozialversicherungsträgern an dieser Trippelschritt nicht mehr weiter. Für solche Spielchen ist Stelle herzlich danken. Danken für die gute und kon- keine Zeit mehr. Entweder wird der A-KSE-Vertrag struktive Zusammenarbeit, die keine Selbstverständlich- schnellstmöglich ratifiziert und weiterentwickelt, oder keit ist, sondern Beharrlichkeit und Ausdauer erfordert das KSE-Regime wird in wenigen Monaten der Ge- und ein kontinuierliches Aufeinanderzugehen um der schichte angehören und zu Grabe getragen – mit allen Sache willen. Der Normenkontrollrat spricht in diesem Unwägbarkeiten für die Rüstungskontrolle insgesamt. Zusammenhang sogar davon, dass dieser kontinuierliche 12322 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Dialog der Bundesregierung mit den Arbeitgeberverbän- der Zusammenarbeit mit dem Zentralverband des Deut- (C) den und Sozialversicherungsträgern richtungweisend ist. schen Handwerks und anderen sowie des kontinuierli- Lassen Sie uns daran auch in Zukunft festhalten! chen Einsatzes der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für dieses Ergebnis. Bisher haben die Familienangehörigen Um die drei angesprochenen Ziele des Gesetzent- in Handwerksbetrieben zwar meist Sozialversicherungs- wurfs zu erreichen, haben wir neben all den technischen beiträge in die gesetzliche Rentenversicherung einge- Veränderungen viele kleine Anpassungen vorgenom- zahlt, damit jedoch nicht automatisch einen Anspruch men. Diese Kleinarbeit auf dem Weg zu unserem Ziel auf Leistungen erhalten. Begründet liegt das in der Ein- Bürokratieabbau ist nicht populistisch verkäuflich, da sie stufung der Familienangehörigen durch die Sozialversi- von der Allgemeinheit nicht hoch angesehen wird. Sie cherungsträger als Unternehmer und nicht als Arbeitneh- werden selten jemanden finden, der Ihnen dafür dankbar mer. Bereits mit dem Vierten Gesetz für moderne auf die Schulter klopfen wird. Und dennoch ist diese Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) konnte Kleinarbeit wichtig, da die Ergebnisse der in diesem Ge- hier ein Teilerfolg errungen werden: Für diejenigen, die setzentwurf vorgenommenen Änderungen konkrete Ver- ab dem 1. Januar 2005 erstmalig der Einzugsstelle als besserungen für die jeweils Betroffenen mit sich brin- Arbeitnehmer gemeldet wurden, wurde das automati- gen. Auf einige davon gehe ich im Folgenden genauer sche Feststellungsverfahren durchgeführt. Damit findet ein. für diese zugleich auch die leistungsrechtliche Bindung Die Zusammenfassung der Vorschriften im Bereich der anderen Sozialversicherungsträger statt. Es blieb je- des Sozialversicherungsausweises und die Aufhebung doch dabei, dass Altfälle nur durch Klagen und langwie- der Sozialversicherungsausweisverordnung begrüße ich rige Verfahren zu ihrem Recht kommen konnten, und bei ausdrücklich. Diese Neuerungen tragen wesentlich zu ei- den Neufällen waren nur die Ehegatten automatisch be- ner größeren Übersichtlichkeit und damit vor allem zu rücksichtigt, für Kinder musste ein gesonderter Antrag einer Entlastung der Arbeitgeber bei. Auch der Bundes- gestellt werden. verband der Arbeitgeber und der Zentralverband des Mit dem hier vorliegenden Gesetzentwurf kommt es Deutschen Handwerks stimmen hier mit uns überein und für die Familienangehörigen von Handwerkern nun zu begrüßen die geplanten Änderungen. weiteren Verbesserungen: Ein besonders zukunftsträchtiges Zeichen sehe ich in Zum einen wird das automatische Feststellungsver- der Vollautomatisierung des Melde- und Beitragsverfah- fahren ausgeweitet und damit auf Ehegatten und Kinder rens sowie der vollautomatischen Rückmeldung an die zugleich angewendet. Die Prüfung wird dabei über die Arbeitgeber. Diese technischen Neuerungen stellen we- Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung erfol- sentliche Erleichterungen dar, kann die Information doch gen. Damit erhalten dann endlich alle im Handwerksbe- (B) (D) einmal eingegeben und ohne weiteren Aufwand weiter trieb angestellten Familienangehörigen für ihre Zahlun- verwendet werden. An sich wurde das Verfahren schon gen in die Sozialversicherung im Bedarfsfall auch die zum 1. Januar 2006 eingeführt, aber erst mit dem Sozial- damit verbundenen Leistungen. versicherungsänderungsgesetz wird durch die verbindli- che Genehmigung von entsprechenden Datensätzen die Zum anderen wurde die Regelung hinsichtlich der be- Voraussetzung für eine komplette Umstellung der Ar- reits gezahlten Beiträge von Familienangehörigen zur beitgeber vom Papier- auf das elektronische Verfahren gesetzlichen Rentenversicherung geändert. Diese gelten geschaffen. Schätzungen des Bundesministeriums für in Zukunft als zu Recht entrichtete Pflichtbeiträge, wo- Arbeit und Soziales zufolge können mit dieser Maß- durch eine Schlechterstellung der in Handwerksbetrie- nahme rund 7 Millionen Euro jährlich eingespart wer- ben angestellten Familienangehörigen gegenüber dem den. tatsächlich Pflichtversicherten verhindert wird. Eine Er- stattung der gezahlten Beiträge zur gesetzlichen Renten- Durch die zum 1. Januar 2009 geplante zentrale Mel- versicherung findet zwar nicht statt, aber die Beiträge destelle für alle berufsständischen Versorgungseinrich- bleiben zukünftig als solche erhalten. tungen müssen die Unternehmen die Unterlagen zukünf- tig auch nicht mehr in Papierform an mehr als 80 Auch an dieser Stelle ist der Dialog hervorzuheben, verschiedene Einrichtungen schicken. Damit sollte der der hier mit dem Zentralverband des Deutschen Hand- Bearbeitungsaufwand sowohl für die Arbeitgeber als werks, den Unternehmerfrauen des Handwerks und an- auch für die Versorgungseinrichtungen reduziert werden. deren geführt wurde und letzten Endes zu mehr Rechts- Das Ministerium spricht hier daher von Einsparungen in sicherheit durch diese für die Betroffenen in der Praxis Höhe von rund 45,36 Millionen Euro. relevanten Verbesserungen führen wird. Daher auch an dieser Stelle herzlichen Dank an all diejenigen, die zu Diese und weitere Änderungen der Informations- diesem Ergebnis beigetragen haben. Ein Ergebnis, das pflicht werden daher auch ausdrücklich vom Normen- eine erhebliche und nachhaltige Verbesserung für Hand- kontrollrat gelobt, und es wird von einer Entlastung ge- werkerfamilien bringt, da nun endlich ein automatisches sprochen. Feststellungsverfahren durchgeführt wird und somit die soziale Absicherung rechtssicher geregelt wird. Und Die für mich zentrale Verbesserung des hier vorlie- auch hier die Aufforderung: Weiter so! genden Entwurfs des Sozialversicherungsänderungsge- setzes sind die Änderungen in Bezug auf die Familienan- Auf zwei weitere konkrete Beispiele aus dem Gesetz gehörigen im Handwerk. Endlich kam es hier zu einer möchte ich noch eingehen, zwei für die Allgemeinheit Klärung des Status derselben. Dies ist ein Ergebnis aus wohl nur kleine Beispiele, die für die jeweils Betroffe- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12323

(A) nen jedoch wichtige Veränderungen mit sich bringen: zu gesonderten Vergütungsvereinbarungen laut § 14 (C) Für gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen eine Bes- JVEG haben. serstellung und für Unternehmen eine weitere Vereinfa- chung. Zum anderen wurde die Verhängung von Säumniszu- schlägen mit der Begründung abgelehnt, dass mit den Im Sozialversicherungsänderungsgesetz ist vorgese- Änderungsvorschlägen nichts geregelt wird, was nicht hen, dass gehörlose bzw. hörbehinderte Menschen bei der bereits durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ab- Inanspruchnahme von Sozialleistungen einen Dolmet- gedeckt wäre. Das Bundessozialgericht sprach sich be- scher beanspruchen können. Damit wird es in Zukunft reits in einem Urteil aus dem Jahr 2004 grundsätzlich für über die Kostenübernahme keinen Streit mehr geben, da Säumniszuschläge aus und sieht auch die säumniszu- diese in Höhe der Sätze des Justizvergütungs- und -ent- schlagsfreie Dreimonatsfrist als angemessen an. Letztere schädigungsgesetzes (JVEG) vorgenommen werden soll. entspricht auch der seit Jahren üblichen Verwaltungspra- Konkret heißt das, dass für einen Dolmetschereinsatz bei xis, welcher zu insgesamt 85 Prozent bzw. 95 Prozent der Ausführung von Sozialleistungen die Kosten dafür bei Schuldnern auf Bundesebene mit steigender Tendenz mindestens in der Höhe erstattet werden, die bei einem nachgekommen wird. vorgelagerten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren ent- Geprüft werden sollen noch die Vorschläge zur Anhe- stehen würden. Damit werden gehörlose und hörbehin- bung der Hinzuverdienstgrenze für Rentner und die Aus- derte Menschen beim Dolmetschereinsatz anlässlich der weitung der Vertrauensschutzregelung für Versicherte Ausführung von Sozialleistungen in Zukunft genauso ge- mit einer Vorruhestandsversicherung. Bei beiden Punk- stellt wie in Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren. Die ten stehen wir mit unserem Koalitionspartner im Ge- Regelung dient dabei sowohl der Gleichbehandlung als spräch und werden in den nächsten Wochen die Ände- auch dem Abbau von Bürokratie und damit der Reduzie- rungsmöglichkeiten und -wünsche veröffentlichen. rung von Kosten. Als Reaktion auf die vielen konstruktiven Vorschläge Das andere Beispiel, auf das ich eingehen wollte, sind des Bundesrates und zahlreiche weitere Anregungen die Krankengeldzuschüsse – ein kleines, aber oft leidi- wird die Bundesregierung daher voraussichtlich dem- ges Thema für Unternehmen. Leidig vor allem dann, nächst einen Änderungsantrag im Bundestag einbringen. wenn durch Tarifverträge vereinbart wurde, das Kran- Hierzu werden noch viele offene Gespräche stattfinden, kengeld durch einen Arbeitgeberzuschuss auf 100 Pro- und es ist klar, dass auch beim Entwurf des Sozialversi- zent des vorherigen Nettoentgelts aufzustocken. Denn cherungsänderungsgesetz gilt, dass noch kein Gesetz schon allein die Fortzahlung von Kleinstbeträgen, wie den Bundestag so verlassen hat, wie es als Entwurf ein- die Erstattung von Kontoführungsgebühren oder Zu- gebracht wurde. In der nächsten Sitzungswoche wird der (B) schüssen zu vermögenswirksamen Leistungen, war bis- Gesetzentwurf zunächst im Ausschuss für Arbeit und (D) her beitragspflichtig. Der dadurch entstehende Berech- Soziales beraten. Es ist geplant, dass die zweite und nungs-, Melde- und Nachweisaufwand steht jedoch zur dritte Lesung des Sozialversicherungsänderungsgesetzes Beitragshöhe oft in keinem vertretbaren Verhältnis. Mit vor dem 16. November stattfinden wird, damit das Ge- dem vorliegenden Gesetzentwurf soll daher künftig eine setz pünktlich zum 1. Januar 2008 in Kraft treten kann. Bagatellgrenze von 50 Euro pro Monat laut § 23 c Mit diesem Gesetzentwurf werden viele Einzelpro- SGB IV eingeführt werden. Schätzungen des Ministe- bleme gelöst und wird in Kleinarbeit Abhilfe durch Ver- riums für Arbeit und Soziales gehen dabei von einer Ent- einfachungen geschaffen. Daher freue ich mich für alle lastung der Arbeitgeber von rund 32,4 Millionen Euro betroffenen Personengruppen, so vor allem über die aus. Klarstellung für Familienangehörige von Handwerkern Der heute zum ersten Mal ins Plenum eingebrachte hinsichtlich ihrer sozialen Sicherung und auch über die Hilfen für gehörlose und hörbehinderte Menschen, je- Gesetzentwurf ist, wie Sie an der von mir vorgenomme- doch auch generell über die Verbesserungen für unsere nen Auswahl sehen, eine Ansammlung von vielen klei- Unternehmen. nen Änderungen. Der hier vorliegende Entwurf des Sozialversiche- Der Bundesrat hat sich mit diesem Gesetzentwurf be- rungsänderungsgesetzes ist ein wesentlicher Beitrag zum reits am 21. September 2007 in erster Lesung befasst Bürokratieabbau. Besonders bemerkenswert ist hierbei, und stimmte dem Entwurf grundsätzlich zu. Die Bundes- dass unsere Unternehmen durch den geplanten Bürokra- regierung hat die Übernahme der meisten Anregungen tieabbau voraussichtlich Kosten in Höhe von rund zugesagt. Kritisch gesehen wurden zwei Vorschläge des 200 Millionen Euro einsparen können. 200 Millionen Bundesrates: Euro, die auf Erleichterungen und Vereinfachungen be- ruhen und damit keine Abschöpfung darstellen, sondern Zum einen wurde die vorgeschlagene Streichung zur eine wirkliche Einsparung. Und daher auch 200 Millio- Regelung der Kommunikationshilfegewährung abge- nen Euro, die für Wachstum und Beschäftigung genutzt lehnt, da durch den damit einhergehenden Bürokratieab- werden können, auf dass auch in Zukunft die Wirtschaft bau Kosten gespart werden und nicht eine große finan- weiter wächst und die Arbeitslosigkeit weiter sinkt. ziellen Mehrbelastung für die Länder, wie vom Bundesrat geäußert, erwartet wird. Außerdem ist anzu- Dieser Gesetzentwurf zeigt deutlich, dass man mit merken, dass der Bedarf an sich gering ist und die Län- vielen kleinen Schritten einiges erreichen kann und dass der – sollte der Bedarf doch ansteigen – die Möglichkeit wir dabei auf einem guten Wege sind. 12324 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Anton Schaaf (SPD): Der vorliegende Gesetzent- auf 120 Millionen Euro Einkommens- und Umsatz- (C) wurf ist ein typisches Beispiel für ein sogenanntes Om- steuer. nibusgesetz. In einem solchen Gesetz werden Regelun- gen untergebracht, die für die Verfahren und Die entgangenen Beiträge müssen letztendlich von Arbeitsabläufe der jeweiligen Verwaltungen und Unter- der Versichertengemeinschaft aufgebracht werden, denn nehmen wichtig sind, aber dennoch – wegen des hohen die Ansprüche aus den Versicherungen – insbesondere Aufwands – jeweils keinen eigenen Gesetzentwurf der Rentenversicherung – bleiben für die Versicherten rechtfertigen. selbstverständlich bestehen. Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Vierten Dies kann im Extremfall zu der paradoxen Situation Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze beinhaltet führen, dass einer langen Erwerbsbiografie keine ent- daher zahlreiche Regelungen zum Verfahrensrecht der sprechenden Beiträge an die Rentenversicherung gegen- Sozialversicherung. Es erfolgen Anpassungen an die be- überstehen. Dies gilt auch für die anderen Zweige der triebliche Praxis in den Unternehmen und bei den So- Sozialversicherung. zialversicherungsträgern. Arbeitsabläufe werden verein- Die einschlägigen Interessenverbände warnen davor, facht und zusammengefasst. Überflüssig gewordene eine gesetzliche Änderung vorzunehmen. Sie wollen Vorschriften werden aufgehoben. Das gesamte Maßnah- verfügbare finanzielle Mittel – die Sozialversicherungs- menpaket entlastet die Unternehmen von Bürokratie und beiträge gehören nach dieser Argumentation dazu – zur damit von Kosten in einer Höhe von rund 190 Millionen Abwendung des Konkurses verwenden. Demnach be- Euro. drohen nicht zurückgeforderte Sozialversicherungsbei- Darüber hinaus sieht der Gesetzentwurf Änderungen träge die Existenz der betroffenen Unternehmen. Belast- im Rentenversicherungsrecht und anderen Bereichen des bare Statistiken, die diesen Zusammenhang bestätigen, Sozialversicherungsrechts vor, mit denen Klarstellungen konnten bisher allerdings nicht vorgelegt werden. Zu- für die Verwaltungspraxis erfolgen. Diese betreffen unter meist jedoch werden die entsprechenden Verfahren oh- anderem das Auslandsrentenrecht für Hinterbliebene, nehin mangels Masse eingestellt. Die zurückgeflossenen den Zeitpunkt der Rentenauskunft, das Rentensplitting Sozialversicherungsbeiträge dienen deshalb eher dazu, sowie die Alterssicherung der Landwirte. Ferner werden die Gebühren für die Insolvenzverwaltung zu decken. in Zukunft bei der Altersteilzeit die Erstattung für Auf- Die jetzt gefundene Regelung ist nicht optimal, kann stockungsleistungen für arbeitslos Gemeldete und Emp- aber einen Teil des Schadens für die Sozialversicherung fänger von ALG II vereinheitlicht. abwenden. Wünschenswert aus meiner Sicht ist aller- Ich möchte allerdings auf jene Neuerungen eingehen, dings eine Lösung, die auch von den Arbeitgebern ge- (B) die mir politisch wichtig sind: leistete Sozialversicherungsbeiträge in Zukunft vor ei- (D) nem Zugriff schützt. Erstens werden in Zukunft bereits gezahlte Arbeit- nehmerbeiträge zur Sozialversicherung vor einer nach- Des Weiteren soll die finanzielle Entlastung der träglichen Rückforderung durch einen Insolvenzverwal- neuen Bundesländer durch den vorliegenden Gesetzent- ter geschützt. wurf nicht unerwähnt bleiben. Bisher tragen die neuen Länder zwei Drittel und der Bund zu einem Drittel die Zweitens werden die finanziellen Ausgaben der Lasten, die für die Rentenversicherung durch Aufwen- neuen Länder für die Zusatz- und Sonderversorgungs- dungen für die Zusatzversorgungssysteme (Zusatz- und systeme der Rentner deutlich gesenkt. Sonderversorgungssysteme der DDR) entstehen. In § 15 Drittens prüft die Bundesregierung Vorschläge, die Abs. 2 des Anspruchs- und Anwartschaftsüberfüh- der Bundesrat zum vorliegenden Gesetzentwurf gemacht rungsgesetz (AAÜG) wird nun festgelegt, dass eine hat. Die Aufnahme dieser Vorschläge ist zu begrüßen, stufenweise Anhebung des Finanzierungsanteils des weil sie deutliche Verbesserungen für Rentenversicherte Bundes im Jahr 2008 auf 36 Prozent, im Jahre 2009 auf und Rentenbezieher mit sich bringen. Dazu gehören die 38 Prozent und ab 2010 auf 40 Prozent vorgesehen ist. Anpassung der Hinzuverdienstgrenze bei einer vorge- Dies führt zu Mehrbelastungen des Bundes in Höhe von zogenen Rente an die Entgeltgrenze für geringfügige ca. 65 Millionen Euro im Jahr 2008, circa 113 Millio- Beschäftigung in Höhe von 400 Euro und ergänzende nen Euro im Jahr 2009 und circa 162 Millionen Euro Regelungen zum Sozialversicherungsschutz für Vorru- jährlich ab dem Jahr 2010. Die neuen Bundesländer hestandsgeldbezieher. müssen dann entsprechend weniger ausgeben und wer- den damit deutlich entlastet. Der Gesetzentwurf stellt mit einer Ergänzung des § 28 e Abs. 1 SGB IV klar, dass Arbeitnehmerbeiträge Darüber hinaus erscheint im Anschluss an die Anhe- zur Sozialversicherung im Insolvenzfall zum Vermögen bung des Rentenalters durch das RV-Altersgrenzenan- des Arbeitnehmers gehören und damit bei den Sozialver- passungsgesetz eine bessere Einbeziehung des Vorruhe- sicherungsträgern verbleiben. stands in das Regelwerk notwendig. Ursprünglich sollte das Rentenalter für langjährig Versicherte von 63 auf Bisher können im Insolvenzfall Beiträge für einen 62 Jahre abgesenkt werden. In Anlehnung daran sehen Zeitraum von bis zu zehn Jahren von den Sozialversiche- die bis dahin abgeschlossenen Vereinbarungen einen rungsträgern zurückgefordert werden. Geschätzte Vorruhestandsgeldbezug bis zum Alter von 62 Jahren 800 Millionen Euro jährlich gehen damit den Sozialver- vor. Der mit dem RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz sicherungen verloren. Zusätzlich verzichtet der Fiskus beschlossene Verbleib der Altersgrenze bei der Rente für Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12325

(A) langjährig Versicherte bei 63 Jahren stellt die Versicher- Vielzahl der in Rede stehenden Regelungen und Vor- (C) ten deshalb vor ein Problem. schriften verbietet an dieser Stelle eine abschließende Behandlung. Auf einige wenige Sachverhalte möchte ich Durch die neue Regelung kann in Zukunft eine Ver- jedoch gezielt eingehen. sorgungslücke von bis zu einem Jahr zwischen Vorruhe- stand und Rente entstehen. Besonders gravierend wäre Zunächst offeriert der Entwurf etliche aus unserer Sicht der Wegfall der Versicherungspflicht in der Renten-, unproblematische Regelungen: So ist die Streichung der Kranken- und Pflegeversicherung durch das Ende des Übergangsvorschriften im sogenannten Statusfeststellungs- Vorruhestandsgeldbezugs. verfahren ebenso richtig wie die Zusammenfassung der Vorschriften zum Sozialversicherungsausweis, der nun von Die Bundesregierung lehnt es allerdings ab, den im der Rentenversicherung ausgestellt werden soll, unter RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz verankerten Vertrau- Genehmigungsvorbehalt des Ministeriums. Auch die ensschutz für die Altersteilzeit auf Vorruhestandsverein- Klarstellung zum Melde- und Beitragsverfahren, in dem barungen, die vor dem 1. Januar 2007 abgeschlossen die Rückmeldungen an die Arbeitgeber künftig ebenfalls wurden, auszudehnen. Sie prüft aber Möglichkeiten, vollautomatisiert abgewickelt werden sollen, ist aus un- auch in Zukunft den Sozialversicherungsschutz nach serer Sicht ein sinnvoller Schritt. Auslaufen eines Vorruhestandsgeldbezugs zu gewähr- leisten. Eine denkbare Lösung ist der Verbleib der Al- Auch das Meldeverfahren für Versicherte in den be- tersgrenze bei 62 Jahren für eine klar einzugrenzende rufsständischen Versorgungseinrichtungen soll laut dem Personengruppe – in Abhängigkeit von Geburtsjahrgang Entwurf zukünftig richtigerweise in das Meldeverfahren und Zeitpunkt der Vorruhestandsvereinbarung. zur Sozialversicherung integriert werden. Die Festle- gung eines einheitlichen Zeitpunktes zur Übermittlung Zwar können Arbeitnehmer und Arbeitgeber heute der Beitragsnachweise, der nun als Kompromiss zwi- mit der neuen Rechtslage die Vorruhestandsvereinbarun- schen Arbeitgebern und Einzugsstellen auf „zwei Ar- gen an die neue Altersgrenze von 63 Jahren anpassen. beitstage vor Fälligkeit“ fixiert werden soll, ist so hin- Für bereits abgeschlossene Vereinbarungen muss es aber nehmbar. eine verbindliche Regelung geben, um die Rechts- und Planungssicherheit für die Versicherten zu gewährleis- Dies alles und andere der vorgesehenen Regelungen ten. – ich will und kann hier nicht den ganzen Entwurf abar- beiten – sind aus Sicht der FDP völlig unstrittig. Noch Der Bundesrat empfiehlt ebenfalls eine prüfenswerte einmal sorgfältig überdenken sollte man jedoch unserer Verbesserung des Hinzuverdienstes bei Bezug einer vor- Meinung nach insbesondere zwei der beabsichtigten gezogenen Rente. Meines Erachtens ist eine solche Re- Neuerungen: (B) gelung wünschenswert und längst überfällig. Denn die (D) Festsetzung der gültigen Hinzuverdienstgrenze bei Be- Zum Ersten sollen laut dem Gesetzentwurf künftig zug einer vorgezogenen Altersvollrente oder einer vollen die zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichteten Erwerbsminderungsrente auf ein Siebtel der Bezugs- Beiträge nur noch für die jeweils letzten vier Jahre an größe – in 2007 sind dies 350 Euro – ist für viele Rent- den Beitragszahler rückerstattet werden, falls sich he- nerinnen und Rentner kaum nachvollziehbar. Sie orien- rausstellen sollte, dass dieser gar nicht versicherungs- tieren sich an der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro pflichtig war. Der Status quo hingegen sieht für den Fall und gehen davon aus, dass sie neben der Rente eine ge- der Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht vor, ringfügige Beschäftigung ausüben dürfen. Was bisher dass die Beiträge umfassend rückerstattet werden. Zwar zur Folge hat, dass bei mehrmaligem Überschreiten der besteht bei der Arbeitslosenversicherung im Falle der 350-Euro-Grenze die Rente in der Regel ganz oder teil- Feststellung der fehlenden Versicherungspflicht bereits weise zurückgefordert wird. heute lediglich die Verpflichtung zur Rückerstattung der Beiträge der letzten vier Jahre. Das dies jedoch ein Prä- Mit der Vereinheitlichung der Hinzuverdienstgrenze judiz dafür sein soll, in der gesetzlichen Rentenversiche- werden in Zukunft solche von niemandem ernsthaft ge- rung ebenso zu verfahren und nicht eine Angleichung in wollten Ergebnisse vermieden. Und sie bedeutet auch anderer Richtung vorzunehmen, sollte nicht ohne jede eine erhebliche Verwaltungsvereinfachung für die Ren- weitere Diskussion so stehengelassen werden. tenversicherungsträger, weil aufwendige Überprüfun- gen und Rückforderungen entfallen. Gerade vor dem Hintergrund der Streitfälle der Ver- gangenheit bei im Betrieb mitarbeitenden Familienange- Wir entwickeln unser Sozialrecht weiter. Das vorlie- hörigen und hinsichtlich der für den Einzelnen erhebli- gende Gesetz trägt dazu bei und dokumentiert unser Be- chen Summen, die über Jahre bei fehlerhafter mühen, auch in Zukunft mit den gesellschaftlichen und Beitragszahlung zusammenkommen können, sollte noch ökonomischen Entwicklungen Schritt zu halten und einmal darüber nachgedacht werden, in welcher Rich- mehr noch diese auch in unserem Sinne zu gestalten. tung man hier eine Angleichung der Verfahren vorneh- men möchte. Wir müssen eine Antwort auf die Frage fin- Heinz-Peter Haustein (FDP): Der vorliegende Ge- den, ob wir jemandem, der nicht der Versicherungspflicht setzentwurf zielt darauf ab, eine ganze Reihe von Rege- unterliegt und keinerlei Anspruch auf Versicherungsleis- lungen im Sozialversicherungsrecht zu ändern, um Ver- tungen hat, wirklich erklären wollen, dass er möglicher- fahren und Abläufe zu vereinfachen und anzupassen. weise über Jahre hinweg Beiträge gezahlt hat, von denen Insofern begrüßt die FDP den Schritt der Regierung, mit er nicht mit einem Cent etwas hat, weder bezüglich eines der vorliegenden Initiative aktiv geworden zu sein. Die Versicherungsanspruchs noch in Form einer Rückerstat- 12326 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) tung. Da selbst die zurückgezahlten Beiträge ohne Ver- jährungsfrist von vier Jahren diese Beiträge als Pflicht- (C) zinsung erstattet werden, besteht schon darin eine Be- beiträge gewertet werden. Eine Erstattung ist nicht mehr nachteiligung der Betroffenen, die gegenüber einer möglich. kapitalgedeckten Altersvorsorge deutliche Nachteile hat. Zweitens. Es wird klargestellt, dass im Insolvenzfall Es ist zu klären, inwieweit die Sozialversicherungs- die Arbeitnehmerbeiträge als Besitzstand des Arbeitneh- träger die Folgen und Konsequenzen von Irrtümern bei mers gelten. der Feststellung der Versicherungspflicht legitimerweise einseitig auf die Betroffenen abwälzen dürfen. Aus unse- Außerdem werden weitere 18 Änderungen in anderen rer Sicht ist in dieser Frage mit äußerster Sensibilität Gesetzen vollzogen, die teilweise den redaktionellen vorzugehen. Die FDP hat bereits in der letzten Legisla- Charakter oder Verfahrensfragen klären bzw. vereinfa- turperiode einen Antrag in den Bundestag eingebracht, chen sollen. Als bedeutsam erachte ich hier folgende As- der vorsah, dass Betroffene, die jahrelang im Glauben an pekte: die Sozialversicherungspflicht Beiträge zahlten und bei Erstens. Nach dem Anspruchs- und Anwartschafts- denen sich dann herausstellte, dass keine Versicherungs- überführungsgesetz übernehmen der Bund und die neuen pflicht gegeben ist, ein Wahlrecht erhalten. Die Betroffe- Länder die vollständige Erstattung von Rentenkosten, nen müssen die Möglichkeit haben, zu wählen zwischen die auf der Überführung von Zusatz- und Sonderversor- der Inanspruchnahme der Versicherungsleistung einer- gungssysteme in der DDR beruhen. Die Aufteilung der seits, derer sie sich jahrelang sicher waren, und der Kosten zwischen Bund und neuen Ländern wird zuguns- Rückerstattung der Beiträge andererseits. Im Sinne einer ten der neuen Länder geändert. Der Bund trägt derzeit Angleichung der Verfahren könnte durchaus in der ande- ein Drittel der Kosten und steigert seinen Anteil stufen- ren Richtung verfahren werden. Die Festlegung auf die weise auf 40 Prozent im Jahr 2010. Lösung zuungunsten der Betroffenen sollten wir noch einmal überdenken, wie ich meine. Zweitens. Bei einer Anpassung des Auslandsrenten- rechts bei Hinterbliebenenrenten wird die großzügigere Zum Zweiten muss die beabsichtigte Neuverteilung Regelung des EU-Gemeinschaftsrechts übernommen. der Erstattungslasten des Bundes nach dem Anwart- Bislang wurden Renten für Hinterbliebene bei gewöhnli- schafts-Überführungsgesetz betrachtet werden. Bislang chem Aufenthalt im Ausland für drittstaatsangehörige trugen die Länder zwei Drittel der Lasten, der Bund trug Hinterbliebene nur in Höhe von 70 Prozent ausgezahlt, ein Drittel. Die stufenweise Erhöhung des Bundesanteils während das EU-Gemeinschaftsrecht die volle Leis- auf 40 Prozent im Jahr 2010 zieht die Frage nach sich, tungsgewährung vorsieht. warum es hier zu einer Entlastung der Länder kommen Drittens. Die Prüfrechte zur Prüfung von Erstattungs- (B) soll. Darüber hinaus kritisiert der Bundesrat in seiner (D) Stellungnahme eine Reihe anderer Neuregelungen, zum ansprüchen von Werkstätten für behinderte Menschen Beispiel, dass auch die Landesaufsichtsbehörden die und ähnliche Einrichtungen werden auf Ersuchen des aufbereiteten Gesamtdaten von den Rentenversiche- Bundesrechnungshofs ausgeweitet. rungsträgern erhalten sollen. Auch die vorgesehene Viertens. Im landwirtschaftlichen Bereich ist die Hof- Übernahme von Kosten für gehörlose und hörbehinderte übergabe immer die Voraussetzung für den Rentenbe- Menschen im Sozialleistungsverfahren bemängelt die zug. Nunmehr soll die Möglichkeit der Hofabgabe unter Länderkammer angesichts der Tatsache, dass bislang je- Ehegatten erleichtert werden, mit dem Ziel ein früheres der ausdrückliche Hinweis auf die Höhe der zu erstatten- Renteneintrittsalter zu ermöglichen. Eine Hofabgabe an den Kosten im SGB I fehlt. Es wird also im weiteren den anderen Ehegatten soll – schon – dann möglich sein, Verlauf des parlamentarischen Verfahrens noch genug wenn der den Hof übernehmende Ehegatte ein Lebensal- über den vorgelegten Gesetzentwurf zu reden sein. ter erreicht hat, ab dem er frühestens eine vorzeitige Al- tersrente beziehen könnte, nach Ablauf der Übergangs- Katja Kipping (DIE LINKE): Das Sozialgesetz- zeit wäre dies das 57. Lebensjahr. buch IV enthält gemeinsame Vorschriften für die Sozial- versicherungen und regelt insbesondere Verfahren, die Für mich ist klar erkennbar, dass ein Großteil der Än- für alle Zweige der Sozialversicherung gelten. Mit dem derungen vor allem dazu dient, Vereinfachung und Kos- neuerlichen Gesetzentwurf der Bundesregierung sollen tenminimierung bei Verwaltungsabläufen herbeizufüh- diese zunächst an „Erfordernisse der betrieblichen Pra- ren. Das ist prinzipiell zu begrüßen, ebenso wie der xis“ sowie bei den Trägern der Sozialversicherungen an- Insolvenzfall oder die stärkere Kostenbeteiligung des gepasst werden. Bundes an Rentenansprüchen nach dem Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz, auch wenn natürlich Insgesamt sind für das SGB IV 14 Änderungen vor- der Aspekt Rentenüberleitung ausführlicher und grund- gesehen. Zum Teil dienen die Vorschriften der Klarstel- sätzlicher in Bezug auf das Leistungsrecht behandelt lung von gewünschten Verfahrensabläufen, die entweder werden sollte. Ob negative Auswirkungen auf die Versi- Vereinfachung für die Arbeitgeber oder die Sozialver- cherten eintreten, das bleibt allerdings abzuwarten. sicherungsträger darstellen. Für die Versicherten sind folgende Neuregelungen relevant: Zudem sehe ich die beabsichtigte Änderung des § 73 SGB IV zu über- und außerplanmäßigen Ausgaben kri- Erstens. Zu Unrecht geleistete Beiträge zur gesetzli- tisch. Es ist vorgesehen, diese Entscheidung dem Ver- chen Rentenversicherung konnten bislang rückwirkend waltungsrat zu übertragen. Das widerspricht in meinen erstattet werden. Nunmehr sollen nach Ablauf einer Ver- Augen einer flexiblen und situationsgerechten Handha- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12327

(A) bung des Haushaltsrechtes. In der Regel tagen Verwal- les hat den höheren Sachbezug zu den Themen der Men- (C) tungsräte in recht großen zeitlichen Abständen, sodass schen mit Behinderungen. Ganz ausdrücklich warne ich zusätzliche Treffen anberaumt werden müssten, die für jedoch davor, die Zuständigkeiten des Behinderten- die Krankenkassen natürlich einen erheblichen zusätzli- gleichstellungsgesetzes zu einseitig auf das Bundesmi- chen Verwaltungsaufwand sowie Mehrkosten verursa- nisterium für Arbeit und Soziales zu konzentrieren. Bar- chen. Deutlich günstiger wäre es, auch diese Bewilligun- rierefreiheit betrifft fast alle Ressorts der einzelnen gen beim Vorstand zu belassen, da diesem ohnehin die Ministerien und muss im Sinne eines Disability Main- finanzrelevanten Aufgaben obliegen. streaming ministeriumsübergreifend mitgedacht werden. Aus den genannten Gründen kann meine Fraktion Finanzpolitisch fragwürdig sind außerdem die ge- diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. planten Änderungen zu den Kostenerstattungsregelun- gen des Anspruchs- und Anwartschaftsrechtes zwischen Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Bund und neuen Bundesländern. Hierzu ist festzustellen, Gesetzentwurf enthält eine Vielzahl verfahrenstechni- dass die finanzielle Lage des Bundes auch nicht besser scher Regelungen und rechtlicher Anpassungen, die im als die der Länder ist. Im Gesetzentwurf findet sich Sinne einer Harmonisierung des Sozialrechts zu begrüßen keine Erläuterung zur Grundlage dieser Entscheidung. sind. Problematisch sind solche Verfahrensänderungen, Verwiesen wird lediglich auf eine Kabinettsentscheidung wenn sie die Selbstbestimmungs- und Widerspruchs- vom 13. Dezember 2006. Wir fordern die Bundesregie- rechte der betroffenen Leistungsempfänger beschneiden. rung auf, die Gründe für diese Änderung offenzulegen. Deshalb kritisieren Bündnis 90/Die Grünen ausdrück- lich die Pläne der Bundesregierung, Rentenversicherten Gerd Andres, Parl. Staatssekretär beim Bundes- das Recht auf Erstattung von zu Unrecht entrichteten Bei- minister für Arbeit und Soziales: Mit dem Gesetz zur trägen zu nehmen. Durch die geplante automatische Um- Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und an- wandlung zu Unrecht gezahlter Beiträge in Anwartschaf- derer Gesetze geht die Bundesregierung konsequent wei- ten nach Ablauf der Verjährungsfrist von vier Jahren wird ter den Weg, bürokratische Hemmnisse für die deutsche den Antragstellern außerdem ihr Widerspruchsrecht ge- Wirtschaft im Bereich der Sozialversicherung abzu- nommen. Denn Bescheide, die die Unrechtmäßigkeit der bauen. Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werden Beiträge feststellen, werden durch diese Regelung hinfäl- die Kosten für die deutsche Wirtschaft um rund 200 Mil- lig. Auf diese Weise hebelt die Bundesregierung elemen- lionen Euro pro Jahr reduziert. Der Standort Deutsch- tare Verfahrensrechte für viele Millionen Versicherte aus. land wird weiter gestärkt. (B) Wir vermissen außerdem Erläuterungen seitens der Dabei werden die Möglichkeiten moderner Datenver- (D) Bundesregierung über die finanziellen Auswirkungen arbeitung für die Übermittlung von Daten konsequent dieser Regelung sowohl für die Versicherten als auch für genutzt, zum Beispiel für die Beitragsabrechnung der die Rentenversicherung. Versicherten in berufsständischen Versorgungswerken. Kein Verständnis haben wir für die Ablehnung der Bisher senden die Unternehmen für ihre Versicherten an Bundesländer zu den Plänen der Bundesregierung, die 85 Versorgungseinrichtungen umfangreiche Daten auf Kostenberechnung von Gebärdensprachdolmetschern und Papier. Zukünftig werden nun alle notwendigen Daten Kommunikationshelfern bei der Ausführung von Sozial- automatisiert an eine Annahmestelle der Versorgungs- leistungen auf festere Füße zu stellen. Diese sollen an einrichtungen übermittelt. Von dort werden die Daten an die Regelungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren die zuständige Versorgungseinrichtung weitergeleitet. angepasst werden. Ich begrüße ganz ausdrücklich dieses Genutzt werden dabei Techniken, die sich auch im Vorhaben der Bundesregierung. Gehen Menschen mit Melde- und Beitragsverfahren für die Sozialversiche- Hörbehinderungen heute zum Arzt, so ist die Kostener- rung bewährt haben. stattung bzw. Refinanzierung für eine Gebärdensprach- dolmetschung alles andere als unproblematisch. Auch Ein weiteres Beispiel ist die Vereinheitlichung des die Rahmenvereinbarungen mit den Krankenkassen ent- Abgabezeitpunktes für die Beitragsmeldungen zur So- sprechen bei Weitem nicht dem Standard, den wir schon zialversicherung. Gab es bisher für die Übermittlung in anderen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens er- eine Frist von vier bis zwei Tagen je nach Satzung der reicht haben. Das Behindertengleichstellungsgesetz ge- Einzugsstelle, ist zukünftig die Frist auf spätestens zwei bietet einen barrierefreien Zugang für Menschen mit Tage vor Fälligkeit der Beiträge gesetzlich festgelegt. Behinderungen zu den Sozialleistungen sowie eine aus- Dadurch werden in erheblichem Umfang Mahnverfahren kömmliche Vergütung der Dolmetschung. Die geplante und Säumniszuschläge für verspätete Übermittlungen Änderung durch die Bundesregierung ist daher unum- bzw. zusätzliche Meldungen eingespart. gänglich. Über diese direkten Entlastungen der Wirtschaft hi- Die vorgesehene Änderung der Zuständigkeit für die naus, werden mit dem Gesetz auch zahlreiche kleinere Verordnungsermächtigungen des Behindertengleichstel- Maßnahmen umgesetzt, die für die betroffenen Personen lungsgesetzes vom Bundesministerium des Innern auf wichtig sind. Ich nenne hier beispielhaft die Meldung das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist ein von im eigenen Unternehmen beschäftigten Kindern zur richtiger und nachvollziehbarer Schritt in die richtige Feststellung ihres Versichertenstatus – ein Anliegen, das Richtung. Das Bundesministerium für Arbeit und Sozia- besonders den Handwerksbetrieben am Herzen liegt. 12328 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Außerdem wird klargestellt, dass in Insolvenzfällen damals im Gegensatz zu heute existierte, und klagen da- (C) die Insolvenzverwalter die Meldepflichten des Arbeitge- bei die über Probleme der Nutzung durch den Menschen. bers zu übernehmen haben. Damit wird sichergestellt, Dabei scheinen Sie vergessen zu haben, dass viele Tier- dass den entlassenen Versicherten zumindest in Bezug und Pflanzenarten erst durch menschliches Handeln in auf ihre Zeiten im Versichertenkonto keine Nachteile Deutschland heimisch geworden sind. Bei Ausbleiben mehr entstehen. einer menschlichen Nutzung würde die Zusammenset- zung der Tier- und Pflanzengesellschaften dagegen im Diese Beispiele machen deutlich: Das Gesetz zur Än- Wesentlichen von Boden und Klima bestimmt. Wäre derung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und ande- also in der Vergangenheit keine landwirtschaftliche Nut- rer Gesetze ist mehr als ein Artikelgesetz mit vielen zung durch den Menschen erfolgt, dann würde in weiten technischen Einzelregelunge. Sondern: Es handelt sich Teilen Deutschlands bis heute ein vergleichsweise arten- dabei um ein Gesetz, das mit seinen vielen Einzelrege- armer Eichen- und Buchenwald vorherrschen. Erst durch lungen die tägliche Arbeit in den Unternehmen bei den die Nutzung der Flächen, durch Rodung, Beweidung und Sozialversicherungsträgern spürbar erleichtern wird und Ackerbau, sind neue Lebensräume entstanden, die von darüber hinaus die Rechte von Arbeitnehmerinnen und weiteren, vielfach auch gebietsfremden Arten besiedelt Arbeitnehmern spürbar schützt, um ein Gesetz, das gut werden konnten. In vielen Teilen des Landes würden zu einer modernen sozialen Marktwirtschaft passt. heute noch Schafe über sumpfige Moorlandschaften zie- hen und die Menschen dort verhungern, wenn man nicht aktiv die Natur um- und mitgestaltet hätte. Anlage 12 Wir leben in einer Welt, in der sich das Bevölkerungs- Zu Protokoll gegebene Reden wachstum in besorgniserregender Weise erhöht, wir also zur Beratung der Beschlussempfehlung und des auf den vorhandenen Flächen mehr anbauen müssen, um Berichts: Dem Verlust an Agrobiodiversität ent- immer mehr Menschen satt machen zu können. Diese gegenwirken (Tagesordnungspunkt 22) Entwicklung ist schon seit langem bekannt, weshalb ich auch gerne aus den offiziellen Dokumenten der Verein- ten Nationen zur Agenda 2010 der Rio-Konferenz von Johannes Röring (CDU/CSU): Der vor uns lie- 1992 zitieren möchte: gende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur Agrobio- diversität ist geprägt von Wunschvorstellungen und Im Jahr 2025 werden 83 Prozent der Weltbevölke- Träumereien, die mit der Realität allerdings nichts zu tun rung, die bis dahin auf voraussichtlich 8,5 Milliar- haben. Um Irritationen zu vermeiden, lassen Sie mich den gestiegen sein wird, in den Entwicklungslän- zunächst konstatieren, dass es auch für mich eine wich- dern leben. Es ist allerdings fraglich, ob die (B) (D) tige Rolle spielt, wie wir mit der Natur umgehen, dass Kapazität der vorhandenen Ressourcen und Tech- biologische Vielfalt und Naturschutz eine große Bedeu- nologien ausreichen wird, um die Bedürfnisse die- tung bei der Arbeit in der Natur haben. Die Menschen ser ständig weiter wachsenden Bevölkerung in und Beschäftigten in der Agrarbranche wissen dies und bezug auf Nahrungsmittel und andere landwirt- handeln nach den Vorgaben der guten fachlichen Praxis, schaftliche Produkte zu befriedigen. Die Landwirt- um die Interessen von Natur und Mensch zu achten. schaft muß dieser Herausforderung in erster Linie dadurch begegnen, daß sie die Produktion auf be- Doch lässt der aktuelle Antrag tatsächlich eher den reits bewirtschafteten Flächen steigert; … Vorrang Schluss zu, dass von den Grünen Fakten ignoriert wer- muß dabei die Erhaltung und die Steigerung der den und man eher Träumereien hinterherläuft, die mit Leistungsfähigkeit der ertragreicheren landwirt- den aktuellen Gegebenheiten nicht in Einklang zu brin- schaftlichen Nutzflächen haben, denn nur so kann gen sind. Zugespitzt kann man auch sagen, dass dieser eine wachsende Bevölkerung ausreichend versorgt Antrag eine Generalkritik an der zukunftsgerichteten, werden. modernen Landwirtschaft und dem Industriestandort Deutschland ist. In Anbetracht der dramatischen Entwicklung der Zunächst sollte man sich die Frage stellen, was über- Weltbevölkerung von 1,6 Milliarden Menschen im Jahr haupt Biodiversität ist und inwieweit sie konkret be- 1900, über circa 2,5 Milliarden 1950 und aktuell etwa schreib- und messbar ist. Wissenschaftlich gesprochen 6,5 Milliarden mussten vielfältige Anstrengungen unter- ist unter dem Begriff Biodiversität zum einen die Vielfalt nommen werden, die Produktivität der Agrarflächen zu unterschiedlicher Tier- und Pflanzenarten zu fassen, zum steigern. Durch die damit verbundenen Eingriffe – Ent- zweiten gehört die Vielfalt innerhalb der Arten, also die wässerung, Bewässerung, Bodenbearbeitung, Nährstoff- genetische Unterschiedlichkeit innerhalb der Arten und zufuhr, Pflanzenschutz, Konzentration auf ertragreiche ihrer Populationen dazu, und den dritten Aspekt der Bio- Sorten – ist es möglich geworden, dass heute effizienter diversität bildet die Vielfalt der Lebensräume und Lebens- und effektiver als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts gemeinschaften. Schließlich zählen auch alle zwischen gearbeitet werden kann. Aktuelle Daten bestätigen, dass den genannten Ebenen auftretenden Wechselwirkungen die optimale Ressourceneffizienz und Nettoenergiege- dazu. winne nur dann erzielbar sind, wenn nicht etwa extensiv, sondern mit bedarfsgerechter Düngung und ebensol- In Ihrem Antrag wagen Sie nun einen Vergleich mit chem Pflanzenschutz gewirtschaftet wird. Man kann nur der Biodiversität des 19. Jahrhunderts und sprechen da- noch einmal betonen: Eine nachhaltige Landwirtschaft bei von der unglaublichen Fülle an Arten und Sorten, die ist geprägt durch ihre Intensivität. Die im Antrag vorge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12329

(A) brachten Kritikpunkte an der Düngung und dem Pflan- Weltbevölkerung, der Aufholprozesse der Entwicklungs- (C) zenschutz sind damit als obsolet zu betrachten. länder und des ständig steigenden Bedarfs an Rohstoffen und Lebensmitteln ist das wahrlich keine einfache Auf- Abschließend möchte ich betonen, dass es nicht nur gabe. Doch wenn wir uns dieser Aufgabe nicht stellen, angesichts der weiter wachsenden Weltbevölkerung, wer dann? Heute stehen wir nicht nur vor der Frage, wie sondern auch durch die zunehmende Nachfrage nach wir die Biodiversität erhalten wollen, sondern, wie wir nachwachsenden Rohstoffen und der ebenso steigenden sie überhaupt erhalten können. Denn mit dem Klima- weiteren Beanspruchung der Fläche durch Versiegelung wandel wird sich eine Änderung der Biodiversität ein- und sonstige Nutzungen kein Ziel sein kann, die vom stellen, auf die wir keinen Einfluss mehr haben. Be- Menschen verursachte damalige Artenvielfalt auf Pro- stimmte Pflanzen- und Tierarten werden einfach duktionsflächen heute zum Ziel von Visionen zu ma- aussterben, weil sie die dann herrschenden klimatischen chen. Eine solche Zielstellung missachtet nicht nur die Verhältnisse nicht mehr vertragen. Noch haben wir es in Entstehung und Herkunft dieser „Vielfalt“, sondern auch der Hand, etwas zu unternehmen. die heutigen grundlegenden Anforderungen einer insge- samt nachhaltigen Entwicklung. Denn folgen wir den Il- Der Begriff Agrobiodiversität grenzt den Begriff der lusionen dieses vorliegenden Antrags hinsichtlich der Biodiversität auf den Bereich der Land-, Forst- und Nah- Ausweitung des Ausbau der ökologischen Landwirt- rungsgüterwirtschaft ein. Er steht hauptsächlich für Er- schaft müssten wir feststellen, dass beispielsweise beim nährungssicherheit. Eine Möglichkeit, positiven Einfluss Anbau von Weizen die mehr als doppelt so große An- auf die Agrobiodiversität zu nehmen, die Vielfalt der baufläche wie bei der konventionellen Landwirtschaft Pflanzen- und Tierarten zu erhöhen und ökologische notwendig wäre und damit neue Flächen erschlossen Dienstleistungen zu vollbringen, ist der Anbau von Bäu- werden müssten, auch jetzige Naturschutzflächen. men auf landwirtschaftlichen Nutzflächen, die soge- nannte Agroforstwirtschaft. Pflanzungen mit Wertholz- Die Forderungen nach einer Extensivierung der land- bäumen, Nutztierhaltung oder ackerbauliche Nutzung wirtschaftlichen Produktionsmethoden ist folglich ein- zwischen Baumreihen sind Formen der Agroforstwirt- hergehend mit einem erhöhten Anbauflächenbedarf, der schaft, die für den Naturschutz und die Agrobiodiversität bei den uns nur begrenzt verfügbaren Flächen zwangs- einen besonders wertvollen Beitrag liefern. läufig und unausweichlich zulasten der Flächen gehen muss, die heute noch uneingeschränkt als Naturschutz- Es wird nicht nur die Biodiversität erhöht, sondern es gebiete existieren. Unsere Aufgabe muss folgerichtig werden auch die Folgen von Wind- und Wassererosion nicht eine weitere Extensivierung, sondern eine Effi- gemindert. Das CO2-Bindevermögen der landwirtschaftli- zienzsteigerung sein. chen Nutzfläche wird gesteigert und die Humusproduk- (B) tion des Bodens verbessert, wodurch eine Reduzierung (D) Wir sehen also, dass dieser Antrag inhaltlich an allen des Düngemitteleinsatzes möglich ist. Durch verbesserte Realitäten vorbeigeht und wir daher guten Gewissens Schattenwirkung innerhalb der Schläge ergeben sich posi- diesen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ablehnen tive Auswirkungen auf Bodenwasserhaushalt und Ertrag. können. Dies alles kann einen besonders vielschichtigen und lang- fristigen Ansatz zur Agrobiodiversität liefern. Dr. Gerhard Botz (SPD): Das Thema Biodiversität – einfacher gesagt: die Grundlage und Vielfalt unseres Die Agroforstwirtschaft ist also in der Lage, eine menschlichen Daseins – steht nicht oft im Mittelpunkt Schlüsselrolle für eine nachhaltige Landwirtschaft zu unserer Reden. Wenn man sich einmal die Zeit nimmt übernehmen. Sie kann auch eine sichere Versorgung und intensiv darüber nachdenkt, wie Prozesse auf unse- nachfolgender Generationen mit Lebensmitteln und rer Erde vonstatten gehen, erkennt man die Bedeutung landwirtschaftlichen Rohstoffen ermöglichen, ohne die des Themas als lebensnotwendig und lebenserhaltend Aspekte der Agrobiodiversität aus den Augen zu verlie- und die Verpflichtung und Verantwortung, die wir bei ren. Die wachsende Nachfrage nach Biomasse für die diesem Thema haben. energetische Nutzung wird zurzeit hauptsächlich über Raps oder Mais realisiert. Es besteht daher die berech- Die Gefährdung der biologischen Vielfalt ist nicht tigte Befürchtung, dass Monokulturen unsere landwirt- einfach nur ein Verlust an Arten von Pflanzen und Tie- schaftlichen Nutzflächen dominieren. Im Vergleich dazu ren, sondern über diesen Verlust gerät auch unser ganzes leistet der Anbau von Energieholz in Kurzumtriebsplan- Ökosystem ins Wanken; dessen sollten wir uns bewusst tagen durch längere Umtriebszeiten einen wesentlich sein. Über die biologische Vielfalt werden solche Öko- größeren Beitrag zur Agrobiodiversität. Forschungsar- systemleistungen wie Bestäubung, Bodenbildung, Nähr- beiten und Modellvorhaben müssen sich in diese Rich- stoff- und Wasserkreisläufe, Klimaregulierung etc. ent- tung orientieren. scheidend gesteuert. Wir sind abhängig von den Dienstleistungen der Natur – von sauberer Luft, reinem Den heute vorliegenden Antrag der Fraktion Bünd- Trinkwasser, fruchtbaren Böden –, und wir gefährden nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Dem Verlust an Agro- unsere eigene Existenzgrundlage, wenn wir den Reich- biodiversität entgegenwirken“ werden wir ablehnen. tum der Arten, deren Lebensräume und die genetischen Zwar ist er inhaltlich tragbar, an einigen Stellen jedoch Ressourcen zu stark einschränken. überholt. Bereits im Mai dieses Jahres wurde im Bun- destag ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der Darum ist es richtig, den Schutz der Artenvielfalt ein- SPD zu Maßnahmen zur Erhaltung der Artenvielfalt ver- zufordern. Vor dem Hintergrund der stetig steigenden abschiedet. Der darin geforderte nationale Strategieplan 12330 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung steht kurz tät und Armutsbekämpfung. All dies wird auch in dieser (C) vor dem Abschluss. Er enthält ein breites Spektrum an Strategie dargelegt. Maßnahmen und Instrumenten zum Schutz und Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland und für entspre- Vor dem Hintergrund des ersten Millenniumsentwick- chende Schritte auf europäischer und globaler Ebene. lungsziels, die Anzahl der Menschen, die Hunger leiden Die Große Koalition hat auch an dieser Stelle ihre Haus- in der Welt, bis 2015 zu halbieren, sehen wir den Schutz aufgaben gemacht und wird diese wichtige Zielstellung und die nachhaltige Nutzung der Biodiversität als inte- weiter verfolgen. grale Bestandteile einer wirtschaftlich, sozial und ökolo- gisch nachhaltigen Entwicklungspolitik an. Gabriele Groneberg (SPD): Wenn wir uns heute Wir brauchen eine enge Kooperation mit den Ent- mit dem Verlust der Agrobiodiversität beschäftigen, wicklungsländern, um eine gemeinsame Lösung zu erar- dann handelt es sich hier um ein Problem von zentraler beiten. Angesichts unserer Rolle als Gastgeber für die entwicklungspolitischer Bedeutung. neunte Vertragsstaatenkonferenz zum Schutz der biolo- gischen Vielfalt in Bonn im nächsten Jahr wäre es wün- Circa 80 Prozent der biologischen Vielfalt, des natür- schenswert, wenn Sie sich dazu entscheiden könnten, die lichen Vorkommens an genetischen und biologischen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesregierung, Ressourcen weltweit liegen in Entwicklungsländern. Die die wir entwickelt haben, offensiv mitzuvertreten. landwirtschaftliche Vielfalt von Nutztieren und -pflan- zen ist Teil dieser biologischen Vielfalt. Der Erhalt die- ses Artenreichtums ist für die Entwicklungsländer exis- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Die Landwirt- tenziell; denn Agrobiodiversität dient direkt der schaft ist unverzichtbarer Partner für den Erhalt der Bio- Ernährungssicherung. Es ist wichtig, die natürliche Ar- diversität in Deutschland. Eine besondere Rolle spielt tenvielfalt, aber auch die Ergebnisse jahrtausendealter dabei die Agrobiodiversität. Zu ihrer Sicherung ist eine Züchtungsarbeit in Entwicklungsländern sowie das tra- ökologisch, ökonomisch und sozialverträgliche Nut- ditionelle Wissen im Nutzpflanzenbereich zu erhalten. zung unabdingbar. In engem Zusammenhang zur Agro- Landwirtschaftlich nutzbarer Artenreichtum wird die biodiversität steht die Vielfalt von Bewirtschaftungs- Entwicklungsländer weniger verletzlich machen gegen- und Produktionsformen. Anders als bei der biologischen über den Folgen des Klimawandels und erhöht ihre An- Vielfalt, sind viele Bestandteile der Agrobiodiversität passungsfähigkeit gegenüber sich verändernden Um- ausschließlich auf menschliche Aktivität angewiesen. weltbedingungen. Die Agrobiodiversität ist der Grundstein für die Siche- rung der menschlichen Ernährung und trägt gleichzeitig Was ich damit meine, möchte ich an einem Beispiel zum Erhalt der Ökosysteme bei. Das bedeutet, dass eine (B) erläutern: Das für seine formschönen Hörner bekannte hohe Agrobiodiversität die zukünftigen Lebensgrundla- (D) Ankole-Rind in Uganda könnte innerhalb der nächsten gen des Menschen sichert, unter anderem dadurch, dass Jahrzehnte aussterben, weil die Bauern lieber auf Rin- ein breiter Genpool erhalten bleibt. Von den vorkom- derarten mit höheren Milcherträgen zurückgreifen. Wäh- menden rund 340 000 Pflanzenarten werden derzeit nur rend einer Dürreperiode stellte sich allerdings der Vorteil 7 000 vom Menschen genutzt. des einheimischen Rinds heraus. Die Bauern konnten mit den widerstandsfähigen Ankole-Rindern weite Stre- Weltweit gesehen brauchen wir beides: Wir brauchen cken bis zur nächsten Wasserquelle zurücklegen. Die den Naturschutz, den Schutz von biologisch bedeutsamen Bauern mit den importierten Rindern haben ihre gesamte Flächen, Biotopen und Nationalparks. Wir brauchen aber Herde verloren. auch die Landwirtschaft zur Produktion unserer Nah- rungsmittel sowie zur Produktion nachwachsender Roh- Dass in dem vorliegenden Antrag dieser Aspekt be- stoffe für die stoffliche und inzwischen insbesondere für tont wird, kann ich zwar als Entwicklungspolitikerin be- die energetische Produktion. grüßen. Dies habe ich auch in meiner Stellungnahme am 24. Mai 2007 deutlich zum Ausdruck gebracht. Aller- Jede Strategie zum Erhalt der biologischen Vielfalt dings frage ich mich, warum Sie sich nicht mit der natio- muss die Ursachen für das Aussterben von Arten be- nalen Strategie zur biologischen Vielfalt der Bundesre- kämpfen und artenreiche Regionen schützen. 3 Prozent gierung auseinandergesetzt haben. Im Übrigen haben wir der weltweit beschriebenen Arten kommen in Deutsch- mit der Verabschiedung des Koalitionsantrages im Mai land vor. Das klingt sehr wenig, ist aber sehr viel. Es ist 2007 zu Maßnahmen gegen den Artenrückgang und das eine große Aufgabe, diesen Schatz zu schützen. Arten- Artensterben im Grunde dazu das Wesentliche gesagt, vielfalt bedeutet Informationsvielfalt. und auch deshalb hätten Sie Ihren Antrag zurückziehen können. Das Aussterben des Mammuts in Europa war eine Folge des Klimawandels. Es war unvermeidlich. Der Wenn Sie sich mit der Strategie zur biologischen Viel- Klimawandel ist allgegenwärtig und ist keine Erfindung falt der Bundesregierung beschäftigen, werden Sie des 21. Jahrhunderts. Der vom Menschen verursachte schnell feststellen, dass die Große Koalition durchaus Anteil des Klimawandels muss weiter bekämpft werden, begriffen hat, dass das Thema Biodiversität in dieser muss gemindert werden. Aber die durch den Klimawan- Vielschichtigkeit zu erfassen ist und anspruchsvolle und del hervorgerufene Veränderung des Artenspektrums auch umsetzbare Ziele zu definieren sind. Dies gilt so- werden wir nicht aufhalten können. Wir können höchs- wohl für den Erhalt der biologischen Vielfalt in allen tens versuchen, frühzeitig durch Anpassungsstrategien Agrarökosystemen als auch für den Bereich Biodiversi- die Folgen zu mildern. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12331

(A) Es gibt einen Rückgang an Arten, der über diese un- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Bereits Ende (C) vermeidbare Änderung des Artenspektrums hinausgeht. Mai haben wir uns mit der Agrobiodiversität befasst. Wir haben in Deutschland 48 000 Tierarten und Leider ging der gute Antrag der Kolleginnen und Kolle- 28 000 Pflanzenarten. 520 Tierarten sowie 512 Pflanzen- gen der grünen Fraktion während der Debatte zum und Pilzarten sind ausgestorben. Der Präsident des Um- schwarz-roten Placebo-Antrag zur Biodiversitätsstrate- weltbundesamtes hat recht: Der Wandel des Artenspek- gie etwas unter. Das ist schade, denn die Artenvielfalt trums in Deutschland ist nicht dramatisch. Für Deutsch- auf und neben dem Acker sowie in den Ställen ist min- land können wir verzeichnen, dass wir bei dichter destens genauso wichtig wie die Biodiversität in der Na- Besiedlung und hoher Intensität der landwirtschaftlichen tur. Und mindestens ebenso gefährdet! Bewirtschaftung keinen großen Artenschwund haben. Im Antrag wird auf das in der Öffentlichkeit kaum be- Der öffentliche Eindruck eines Artenrückgangs geht mit achtete Problem des Artenrückgangs bei Nutzpflanzen der Entfremdung der Menschen von der Natur einher. und Nutztieren hingewiesen. Dabei hat dieser Verlust der Wer nur Unter den Linden spazieren geht, weiß eben Artenvielfalt schwerwiegende Konsequenzen: Er bedeu- nicht, wie artenreich unsere Wälder sind. tet Verlust an genetischem Anpassungspotenzial. Damit Die Zerstörung von Lebensräumen ist Hauptursache wird unter anderem die Ernährungssicherung unserer für den Rückgang der Artenzahl. Angesichts der Tatsache, Zukunft gefährdet. Wir brauchen eine große Vielfalt der dass die Weltbevölkerung 1800 bei 1 Milliarde Menschen Rassen, Sorten und Ökosysteme, um die zukünftigen lag und nun 6 Milliarden beträgt, ist es normal und rich- Herausforderungen der Land- und Forstwirtschaft be- tig, dass wir Flächen verstärkt landwirtschaftlich nutzen wältigen zu können. Die Herausforderungen werden und die Intensität der landwirtschaftlichen Nutzung er- durch den Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Agrarökosysteme eher größer als kleiner. höht haben. 1800 wurden in Deutschland 7 Doppelzent- ner Weizen auf 1 Hektar geerntet. Nun sind es über Doch dieser Rückgang an Agrobiodiversität passiert 90 Doppelzentner. Auf diese Intensivierung der Land- nicht so einfach von allein. Schauen wir also genauer wirtschaft können wir nicht verzichten. hin: Er ist vor allem die Folge eines rücksichtslosen Kampfes um eine weltweite Konzentration von Wirt- Von daher können wir auch dem Antrag der Grünen schaftsmacht in immer weniger Händen, und es geht um nicht zustimmen. Denn er steht im krassen Widerspruch Marktanteile! zur Forderung einer weltweit ausreichenden Nahrungs- mittelversorgung und einer weitreichenden Energiepro- Wir als Linke haben dabei ein besonders kritisches duktion aus nachwachsenden Rohstoffen zugunsten des Auge auf die Machenschaften der weltweit agierenden Klimaschutzes. Agrarkonzerne. Der Saatgutmarkt wird zum Beispiel un- (B) terdessen von fünf großen Unternehmen beherrscht. (D) Auf Deutschland bezogen können wir sagen: Vieles Diese interessieren sich für den Erhalt der Sortenvielfalt ist auf einem guten Weg. Probleme bereiten die zuneh- nur dann, wenn es ihren eigenen Interessen entspricht – mende Flächeninanspruchnahme, das Zerschneiden von als Ressource für noch mehr Profit und noch mehr Naturräumen und das Eindringen fremder Arten. Marktmacht! Ein freier Zugang aller Bäuerinnen und Bauern zum Saatgut ist in ihrer Welt nicht wichtig. Ein- Aber weltweit betrachtet ist die Situation dramatisch zig die profitorientierte Vermarktung weniger Sorten ist anders. Die Bedrohung der Artenvielfalt wächst: Das an- von Bedeutung und wird durch das Patentrecht gesi- haltende Bevölkerungswachstum erfordert vermehrte chert. Anstrengungen bei der Armutsbekämpfung und damit auch eine vermehrte und intensivere Flächennutzung. Patente auf Tiere und Pflanzen schützen aber nur die Zunehmend mehr Menschen haben keinen Zugang zu Interessen der Agrarkonzerne. Sie eignen sich privat den gesundem Trinkwasser. Die Übernutzung der Fischbe- natürlichen Reichtum an. Er gehört aber uns allen! Da- stände bedroht die Biodiversität in den Meeren. Und her ist der Patentschutz nicht im Interesse der Bäuerin- selbst wir in der EU schaffen es noch nicht einmal, den nen und Bauern, der Landwirtinnen und Landwirte und illegalen Fischfang in der Ostsee einzuschränken. Der der Verbraucherinnen und Verbraucher! weitere Verlust von Wäldern, unter anderem bedingt Deshalb ist für meine Fraktion Die Linke ganz klar: durch den fortgesetzten illegalen Holzeinschlag, hat Patente auf Lebewesen sind absurd, und wir lehnen sie Auswirkungen auf das Klima. Das gilt auch für die zu- ab! Der öffentliche Zugang zu den natürlichen Ressour- nehmende Flächenkonkurrenz zwischen Nahrungsmit- cen muss gewährleistet bleiben. Das dient gleichzeitig telproduktion und Erzeugung von Biomasse für die ener- auch dem Schutz der Artenvielfalt in Natur und Land- getische Nutzung. wirtschaft! Wie diesen Herausforderungen international begegnet Agrobiodiversität und die Debatte darüber dürfen aus werden kann, ist noch weitgehend offen. Die FDP for- Sicht meiner Fraktion auf keinen Fall dazu führen, dass dert die Bundesregierung auf, schnellstens Lösungsan- nun die Agrogentechnik hoffähig gemacht wird. Diese sätze zu erarbeiten, wie sie dem Verlust der Agrobio- erhöht nicht, sondern gefährdet die Artenvielfalt! Beson- diversität gedenkt entgegenzuwirken. Die FDP wird sich ders problematisch ist die Nutzung dieser Risikotechno- diesbezüglich mit einer Kleinen Anfrage zur Wildpflan- logie in der Nähe von Genbanken, in denen Sorten durch zen-Gendatenbank in die parlamentarische Debatte ein- Anbau konserviert werden. Daher tritt Die Linke auch bringen. konsequent gegen die Nutzung der Agrogentechnik in 12332 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) der Nähe der Genbank für Kulturpflanzen in Gatersleben Landwirtschaft aber ist gefährdet. Schädlinge und (C) ein. Darüber gab es in diesem Jahr ja schon mehrere De- Krankheiten haben auf diese Weise ein leichtes Spiel. batten. Man kann vielleicht über die Höhe des Kontami- Schädlingskalamitäten und Seuchenzüge, die große wirt- nationsrisikos streiten. Aber es ist nicht zu verstehen, schaftliche Schäden verursachen, gehören heute zum warum es ausgerechnet an diesem Ort überhaupt einge- Alltag der „modernen“ Landwirtschaft. Es gehört nicht gangen werden muss. Denn zumindest den Risikofaktor viel Fantasie dazu, um zu erkennen, wie leicht dieses „menschliches Versehen“ wird man niemals ausschlie- sensible Gefüge überdehnt und die Ernährung der Welt- ßen können. bevölkerung in Gefahr geraten kann. Die Grünen führen in ihrem Antrag aus, die Aufhe- Im Agrarausschuss haben uns die Kollegen von der bung der obligatorischen Flächenstilllegung könnte ein Union entgegengehalten, die Agrobiodiversität zu erhal- weiteres Artensterben der Agrarökosysteme zu Folge ha- ten hieße, so zu wirtschaften wie im 19. Jahrhundert. So ben. Diese Gefahr sehen wir in der Tat auch. Allerdings könne man die Welt heute nicht mehr ernähren. Diese muss diese Diskussion auch im Zusammenhang mit dem Polemik zeigt, dass Sie das Anliegen unseres Antrages aktuell steigenden Bedarf an nachwachsenden Rohstof- – den Erhalt des Genreservoirs zur Absicherung zukünf- fen, insbesondere für die energetische Nutzung, geführt tiger Ernten – nicht wirklich verstanden haben. werden. Der damit verbundene steigende Flächenbedarf ist unbestritten. Außerdem ist der Anbau von Biomasse Staatssekretär Müller ist da schon weiter. Er ließ im nicht automatisch, aber eben in vielen Fällen energie- Oktober letzten Jahres erklären: „Unsere Verantwortung und klimapolitisch sinnvoll. Andererseits ist auch nicht gegenüber den nach uns folgenden Generationen gebie- jede Flächenstilllegung automatisch naturschutzfachlich tet es, den großen Reichtum und die unermessliche Viel- wertvoll. falt der Nutzpflanzen, wie sie von Generationen von Bauern und Züchtern weltweit über Jahrhunderte aus Daher begrüßt Die Linke das Aussetzen der obligato- Wildpflanzen entwickelt worden sind, als Nutzungs- rischen Flächenstilllegung. Gleichzeitig machen wir uns potenzial für weitere züchterische Fortschritte und neu- Gedanken um den Ersatz der damit wieder reduzierten artige Verwendungen von Pflanzen zu erhalten.“ Tref- Rückzugsräume für bedrohte Pflanzen- und Tierarten im fender kann man es nicht ausdrücken. Agrarökosystem. Wir fordern, das Aussetzen der Flä- chenstilllegung durch eine Verstärkung anderer Agrar- Ja, wir brauchen neue Sorten, die standortangepasst umweltmaßnahmen und ökologisch sinnvoller Markt- gute Erträge bringen, um die Welt mit Nahrung und anreizprogramme zu begleiten. Ziel muss unter anderem nachwachsenden Rohstoffen zu versorgen. Es besteht der Erhalt oder die Verbesserung der Agrobiodiversität auch gar kein Widerspruch zwischen der Züchtung er- (B) sein. Darüber haben wir gestern im Agrarausschuss ja tragreicher Sorten und dem Erhalt der Agrobiodiversität. (D) bereits gesprochen. Es wäre zum Beispiel denkbar, die Vielmehr ist die Agrobiodiversität mit ihren großen Gen- ökologisch sinnvolle Gestaltung von Ackerseitenrändern pools Voraussetzung für die Züchtungsforschung. als gesellschaftlich sinnvolle Arbeit der landwirtschaftli- chen Betriebe zum Erhalt der Kulturlandschaft noch Aber es geht nicht nur darum, die Arten- und Sorten- konsequenter zu fördern. vielfalt in Saatgutbanken zu erhalten. Wir wollen, dass sie auch angebaut und zur Bereicherung unseres Speise- Die Agrobiodiversität ist öffentlich kaum beachtet, zettels genutzt werden. Und das ist kein Zurück ins Ges- obwohl sie im Interesse der gesamten Gesellschaft liegt. tern, sondern wir sind gut beraten, wenn wir die Zahl der Sie bietet unsere genetische Rückversicherung für zu- genutzten Kulturpflanzenarten und -sorten vergrößern. künftige Herausforderungen in der Landwirtschaft – ich Das gibt den Landwirten die Möglichkeit, die Fruchtfol- nenne hier beispielhaft Tierseuchen, Trockenheit, Kälte, gen auszuweiten, was sowohl unter phytosanitären As- Standortangepasstheit – und ist andererseits Zeugnis un- pekten als auch im Interesse des Erhalts der Boden- serer jahrhundertealten landwirtschaftlichen Geschichte. fruchtbarkeit nur sinnvoll sein kann. Damit ist die Artenvielfalt unserer Nutztiere und -pflan- zen auch ein Wert an sich – ökologisch und kulturhisto- Wenn wir über Agrobiodiversität reden, dürfen wir risch gleichermaßen. In diesem Sinne stimmen wir dem nicht nur Kulturpflanzen im Blick haben, sondern müs- grünen Antrag zu, auch wenn wir nicht jeden einzelnen sen wir auch die Ackerbegleitflora und -fauna sehen. Die Vorschlag mit der gleichen Vehemenz unterstützen. EU hat sich zum Ziel gesetzt, den Artenrückgang bis 2010 zu stoppen. Dazu gehört auch die Artenvielfalt in Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ar- unseren Agrarökosystemen, einschließlich Ackerkraut- tenvielfalt ist Ernährungssicherheit. Dies ist der Leitge- diestel, Brauner Bär und Rebhuhn. Zu erreichen ist das danke unseres Antrages zur Agrobiodiversität. nur durch den Ausbau von Agrar- und Waldumweltmaß- nahmen, eine bessere Förderung des Ökolandbaus, die Heute beruht ein Großteil der Welternährung nur noch Verminderung chemisch-synthetischer Pestizide und ei- auf einer kleinen Zahl von Kulturpflanzenarten. Die nen verbindlichen Anteil an Strukturelementen anstelle Zahl der Nutztierrassen ist auf einen Bruchteil der aus der Flächenstilllegung. Auch qualifizierte Cross-Com- dem vorletzten Jahrhundert bekannten Vielfalt zurückge- pliance-Regelungen und eine mittelständische Züch- gangen. Die Fruchtfolgen konzentrieren sich auf immer tungsforschung, die ihre Kraft nicht auf wenige gentech- weniger ertragsstarke Sorten. Diese ertrags- und leis- nisch veränderte Sorten, sondern auf Vielfalt und die tungsstarken Sorten und Rassen werden zudem intensiv Herausforderungen der Zukunft konzentriert, können ei- angebaut und in Großanlagen gehalten. Eine solche nen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität leisten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12333

(A) Die vielfältigen, artenreichen Kulturlandschaften, die Reisen in Deutschland. Geschäftsreisende geben dabei (C) mit diesen Maßnahmen entstehen, sind genau diejeni- durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine Ur- gen, die die Menschen in unserem Land schätzen. Kein laubsgäste. Dabei profitiert der Einzelhandel enorm. Mensch liebt ausgeräumte Agrarlandschaften, in denen Doch stellen Geschäftsreisen nicht nur eine wirtschaftli- die Schläge fast bis zum Horizont reichen. Auch dies che Notwendigkeit dar, sondern auch einen Kostenfak- sollte für Sie ein Grund sein, unseren Antrag zu unter- tor. Es besteht hinsichtlich der verwaltungstechnischen stützen. Abläufe bei der Organisation von Dienstreisen ein er- hebliches Effektivitäts- und Einsparpotenzial.

Anlage 13 Mit unserem Antrag möchten wir die Rahmenbedin- gungen für Messen und Geschäftsreisen weiter verbes- Zu Protokoll gegebene Reden sern, um den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutschland weiter zu entwickeln und weiter wettbe- zur Beratung des Antrags: Messen und Ge- werbsfähig, in der immer stärker werdenden internatio- schäftsreisen als Chance für den Tourismus- nalen Konkurrenz zu etablieren. Deshalb fordern wir standort Deutschland (Tagesordnungspunkt 25) insbesondere den Abbau bürokratischer Hemmnisse und die Vereinfachung bürokratischer Abläufe. Statistik-, Klaus Brähmig (CDU/CSU): Deutschland verfügt Nachweis-, Dokumentations- und Buchführungspflich- im internationalen Bereich über ein hohes Ansehen als ten, denen Unternehmen bei Geschäftreisen unterliegen, Kongress- und Tagungsziel. Durch seine Professionali- müssen geprüft werden. Zudem fordern wir die Überprü- tät, seine Zuverlässigkeit, der Gewährleistung eines si- fung der aktuelle Situation im Hinblick auf die Bearbei- cheren Umfeldes sowie durch die gute Tagungs- und tung von Visa-Anträgen für Aussteller und Geschäftrei- Verkehrsinfrastruktur kann sich Deutschland an vorders- sende im Rahmen der Schengen-Regelung und ter Stelle der attraktiven Tourismusstandorte behaupten. inwieweit diese Bedingungen praktikabler gestaltet wer- Auch das große Potenzial von über 1 000 außergewöhn- den können. lichen Tagungsstätten wie etwa Schlösser, Burgen, Mu- seen, Industriedenkmäler, Freizeitparks und modernste Die Bewerbung Deutschlands als Kongress- und Ta- Tagungszentren wird immer stärker genutzt. So liegt gungsstandort muss von der Deutschen Zentrale für Tou- Deutschland nach einer Studie des International Asso- rismus, DZT, stärker als bisher auf Geschäftsreisende ciation Meeting Market 2005 im internationalen Ver- ausgerichtet werden. Dabei kann bei der Vermarktung gleich nach den USA auf Rang zwei der beliebtesten mit den Namen großer Dichter, Denker, Erfinder und Kongress- und Tagungsstandorte. Trotz neuester Kom- Schriftsteller geworben werden. Hier gibt es oft Image- (B) munikationstechnik ist die Bedeutung des Kongresswe- vorteile gegenüber der Vermarktung als reinem Urlaubs- (D) sens nach wie vor sehr hoch, insbesondere für den Wis- ziel. Als Reisemotiv stehen bei Tagungen und Kongres- sens- und Know-how-Transfer. sen auch die fachlichen Themen und Inhalte der Veranstaltungen sowie die Möglichkeit des Erfahrungs- Kongresse und Tagungen sind für die Kommunika- austausches im Vordergrund. Zudem besticht Deutsch- tion von Angesicht zu Angesicht und den interdisziplinä- land mit seinen sehr interessanten und attraktiven The- ren Informationsaustausch unverzichtbar. Zudem lässt menjahren. Kulinarisches Deutschland heißt im diesem sich Sozialkompetenz nicht über das Internet vermitteln. Jahr das Motto und beweist eindrucksvoll, dass Deutsch- Damit wird der deutschen Wirtschaft, Wissenschaft und lands Spezialitäten die Gourmets der Welt begeistern Gesellschaft importiertes Wissen vor Ort kostengünstig können. Unser Preis-Leistungs-Verhältnis braucht auch zugänglich gemacht und ein wichtiger Beitrag zur Siche- mit keinem Land dieser Welt einen Vergleich zu rung des Informations- und Wissensvorsprungs Deutsch- scheuen. lands geleistet. Gleichzeitig kann sich Deutschland mit seinem eigenen Know-how präsentieren und seine füh- Ein weiterer wichtiger Aspekt für den Kongress- und rende Position als Exportweltmeister sichern. Der Mes- Tagungsstandort Deutschland ist eine gut ausgebaute sen- und Dienstreisensektor ist neben den Urlaubsreisen und moderne Infrastruktur. Für Besucher von Messen von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Jeder dritte Ar- und Kongressen sind öffentliche Verkehrsmittel in den beitsplatz in der Tourismuswirtschaft ist direkt oder indi- großen Messestädten Deutschlands, wie Berlin, Dresden rekt vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig. Frankfurt, Hannover und andere, die schnellste und ein- Die Zahlen der Geschäftsreisenanalyse 2006 des Verban- fachste Art sich zu bewegen. Eine effektive Vereinfa- des Deutsches Reisemanagement, VDR, belegen diese chung der öffentlichen aber auch privaten Verkehrsinfra- Tatsachen. Im Jahr 2005 lag die Anzahl von Geschäfts- struktur kann durch die mehrsprachige Gestaltung der reisenden bei rund 150 Millionen. Davon sind 35 Pro- Verkehrszeichen und Hinweistafeln, zumindest an gro- zent Besucher von Messen, Kongressen, Firmenevents, ßen Messestandorten, erreicht werden. Die Länder und Schulungen und Seminaren. Kommunen müssen aufgefordert werden, diese loh- nende Maßnahme umzusetzen. Zudem profitiert die deutsche Tourismuswirtschaft in erheblichem Maße von Geschäftsreisenden, die insbe- Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für unsere sondere auch in der Nebensaison und unter der Woche Forderungen einzusetzen, damit Deutschland nicht nur für die Auslastung der Beherbergungsbetriebe und der weltweit wettbewerbsfähig, sondern auch weiterhin an Gaststätten sorgen. Reisende aus dem Ausland verbin- der Spitzenposition der attraktivsten Messe- und Kon- den oft ihre Kongress- und Messebesuche mit privaten gressstandorte international bleibt. Um dieses Ziel zu er- 12334 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) reichen, muss Deutschland seine weltoffene, tolerante nen sich positive Imagewirkungen für die Regionen auch (C) und gastfreundliche Art bewahren, getreu dem Motto über die Ansprache weiterer Zielgruppen und damit die des DZT „Deutschland – Das Reiseland“. Möglichkeit zu einer nachhaltigen Vermarktung als Tou- rismusregion. Die positiven Effekte des Messetourismus Anita Schäfer (Saalstadt) (CDUCSU): Die Bedeu- hinsichtlich des Umsatzes, der Beschäftigung, der Aus- tung von Messen und Geschäftsreisen für den Touris- lastung etc. liegen damit auf der Hand. An kleineren musstandort Deutschland steigt. Das führt der vorlie- Messestandorten sind sie für die regionale Wirtschaft gende Antrag der Koalitionsfraktionen ganz deutlich aber von proportional wesentlich größerer Bedeutung. aus. Die Zahlen sprechen für sich, und sie unterstreichen Daher ist mir unsere Forderung, eine stärkere Wer- nachhaltig, dass die Relevanz der Geschäftsreisen und bung und bessere Vermarktung von Messen und Ge- insbesondere der Messen für unsere Wirtschaft und den schäftsreisen durch die DZT zu prüfen, ein besonders Standort Deutschland nicht hoch genug eingeschätzt wichtiges Anliegen, weil neben der Chance zur Stärkung werden kann. des Tourismusstandortes auch eine Standortstärkung ei- ner Stadt und Region erreicht werden kann. Da ist zum Einen der große Komplex der Geschäfts- reisen. Gerade für eine Handels- und Exportnation wie In den vergangenen Jahren hat sich neben der insge- Deutschland ist es ein unabdingbares Muss, die Infra- samt wachsenden Bedeutung des Messetourismus aber struktur und die Rahmenbedingungen hierzu auf dem auch gezeigt, dass die Zahlen der Teilnehmer und Aus- bestmöglichen Stand zu halten. Vor diesem Hintergrund steller bei den verschiedenen Messen und Ausstellungen sind vielfältige Maßnahmen möglich und nötig. Der An- rückläufig gewesen sind. Darauf müssen wir reagieren. trag führt hier etliche auf, zum Beispiel im Bereich von Als Beispiel für diese Entwicklung möchte ich Ihnen Verkehrsdienstleistungen. kurz die Situation der Messe- und Veranstaltungs GmbH in meinem Wahlkreis in Pirmasens schildern. Dies liegt Der andere Komplex, auf den ich mich konzentrieren an der Grenze zu Frankreich und ist mit der Nähe zu Lu- möchte, ist der Bereich des Messetourismus; dabei nicht xemburg auch gut erreichbar von einem internationalen in seiner Bedeutung für die großen Messestandorte, son- Handelsplatz. dern vielmehr hinsichtlich seiner regionalen Relevanz. Es handelt sich dabei um den größten Messestandort Wir verfügen in der Bundesrepublik mit zahlreichen in Rheinland-Pfalz, der in den 60er- und 70er-Jahren der Messen und Ausstellungen über ein erhebliches Poten- größte Standort für die Messen der Schuhindustrie war. zial, um innovative Produkte, zukunftsweisende Techno- Mit dem Zusammenbruch dieser Monopolindustrie logien und überzeugende Dienstleistungen unserer musste die Messe neue Wege gehen. Aufgabe der Mes- Unternehmen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die (B) severantwortlichen war und ist eine neue Positionierung (D) Messen und Ausstellungen geben als wichtige Leis- als Veranstaltungsort. Wenn durch attraktive Messen tungsschauen ein sehr anschauliches Beispiel für die oder Kongresse Geschäftsreisende in eine Stadt oder in Wirtschaftskraft unseres Landes. Sie sind damit zugleich eine Region kommen, profitiert nicht allein die Messe ein starker und wirkungsvoller Magnet für Geschäftsrei- davon, sondern die Besucher tragen zur Wertschöpfung sende wie auch Verbraucher. bei und stärken somit auch die Tourismuswirtschaft. Zu den rund 150 internationalen Messen kommt ein Die Pirmasenser Messe zeichnet sich heute nicht al- dichtes Netz regionaler Fach- und Verbraucherausstel- lein durch zahlreiche regionale Ausstellungen, sondern lungen. Dabei ist eine zunehmende Verknüpfung von auch durch nationale und internationale Messen aus. Messe- und Kongressaktivitäten zu beobachten. Messe- Hierzu haben die Verantwortlichen beispielsweise neue begleitende Kongresse und Tagungen haben jährlich Messen entwickelt. Vorstellbar wäre aber auch die Bün- etwa 400 000 Besucher. Zusammen werden knapp delung von Spezialthemen, zum Beispiel eine Messe 1,9 Millionen Teilnehmer gezählt. Als ein Schlüsselbe- „Junge Designer aus drei Ländern“ oder „Wellness im reich in der deutschen Dienstleistungswirtschaft sind Dreiländereck“, aber auch neue Ansätze wie zum Bei- Messen und nationale wie internationale Wirtschaftsaus- spiel ein Wettbewerb für Hotel- und Kongressinvestitio- stellungen gerade für die kleinen Standorte damit ein un- nen in Kooperation mit der Messe. erhört wichtiges Mittel der Eigendarstellung. Doch eine neue inhaltliche Ausrichtung von Messen Eines der Hauptziele von Messeausstellern ist die reicht nicht allein. Der Messebesucher oder der Ge- Neukundengewinnung. Das äußern immer wieder mehr schäftsreisende will nicht nur eine interessante Veran- als 90 Prozent der ausstellenden Unternehmen. Für die staltung erleben, sondern er will auch ohne große Mühe Messestandorte sind das einerseits Messebesucher, die zum Ort kommen. Als ausländischer Gast will er in sei- als Geschäftsreisende direkt die Gastronomie und Frem- ner Sprache oder zumindest in einer gängigen internatio- denverkehrsbetriebe nutzen und die in ihren Parallelpro- nalen Sprache informiert werden. Damit diese Voraus- grammen zum Messebesuch die Freizeit- und Touristik- setzungen gegeben sind, ist auch die Unterstützung angebote der Region nachfragen und in Anspruch vonseiten der Bundesregierung nötig, wie wir es in unse- nehmen. Andererseits bedeutet diese Messezielsetzung rem Antrag formuliert haben. aber zugleich auch eine Ansprache von immer wieder neuen Geschäftsreisenden, die insbesondere für die klei- Es gibt – wenn ich damit auf einige Einzelheiten in nen Standorte auch zu Multiplikatoren und Werbeträgern unserem Antrag zurückkommen darf – um die Stadt für die Region werden. Gerade in diesem Bereich eröff- Pirmasens herum beispielsweise noch keine internatio- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12335

(A) nalen Schilder. Es gibt keinen Shuttletransport vom Auch benachbarte Wirtschaftsbereiche profitieren (C) Hauptbahnhof zur Messe oder vom 20 Kilometer ent- von den Geschäftsreisenden, die außerhalb der Hauptur- fernten Flughafen Zweibrücken nach Pirmasens. Das laubszeiten und unter der Woche dafür sorgen, dass Ho- sind Faktoren, die sich in der Vergangenheit bei den klei- tels und Gaststätten ausgelastet sind. Jeder fünfte Beher- neren Messen, aber auch bei der alle zwei Jahre stattfin- bergungsbetrieb rechnet sogar mit einem Zuwachs der denden Verbrauchermesser „hageha“ als nachteilig er- Hotelübernachtungen im kommenden Jahr. Deutschland wiesen haben. Diese Messe zieht Besucher aus ist für Geschäftsreisende nicht zuletzt deshalb attraktiv, Frankreich, Luxemburg und dem Saarland an. Es ist eine weil in Deutschland die Zimmerpreise durchschnittlich der größten Verbraucherausstellungen in Rheinland- halb so hoch sind wie in den Metropolen Moskau, Genf, Pfalz. Die Lage von Pirmasens in unmittelbarer Nähe Paris, London oder Rom. Laut „European Travel Moni- zum Elsass, Lothringen, Luxemburg, Saarland und Ba- tor“ liegt bundesweit der durchschnittliche Anteil der den-Württemberg sorgt für ein großes Einzugsgebiet und Geschäftsreisen bei 30 Prozent und derjenige der Pri- viele Besucher, die aber noch zahlreicher wären, wenn vatreisen bei 70 Prozent. Aber ausländische Tagungsteil- die Bedingungen im Umfeld besser wären. Dazu gehört nehmer verbinden oft ihre Geschäftsreisen mit privaten eine bessere Verkehrsanbindung mit der Bahn und den Reisen in Deutschland. 2006 gaben sie mit 148 Euro pro Bussen, aber auch der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Tag durchschnittlich doppelt so viel Geld aus wie reine Urlaubsgäste. Daher ist es richtig, dass wir in unserem Wenn die Rahmenbedingungen für Messen und Ge- Antrag die stärkere Ausrichtung der Auslandswerbung schäftsreisen durch die Bundesregierung verbessert wer- der Deutschen Zentrale für Tourismus, DZT, auf Ge- den, stärken wir auch den Tourismusstandort Deutsch- schäftsreisende verlangen. Wenn wir unseren Aufwärts- land. Auf diese Weise kann auch insbesondere aus trend nicht unterbrechen wollen, brauchen wir eine effi- kleineren Städten oder ländlich strukturierten Regionen zientere Bearbeitung von Visa-Anträgen für Aussteller touristisches Potenzial entwickelt werden. Davon profi- und Geschäftsreisende und eine damit einhergehende eu- tiert die Wirtschaft und damit natürlich unser ganzes ropaweite Harmonisierung der langwierigen Antragsver- Land. fahren.

Brunhilde Irber (SPD): Einmal mehr haben die Übrigens: Für uns sind die touristischen Organisatio- Deutschen im vergangenen Jahr den Tourismuswettbe- nen in Deutschland wichtige Partner bei der Planung und werb als Reiseweltmeister beendet. Deutsche Urlauber Einführung neuer Richtlinien oder Bestimmungen. Des- haben für Auslandsreisen über 60 Milliarden Euro aus- halb haben wir bereits in den rot-grünen Jahren das Bud- gegeben. Umgekehrt haben unsere ausländischen Gäste get der DZT erhöht. Auch in der schwarz-roten Koali- tion ist es uns gelungen, in den Bundeshaushalt 2008 (B) jedoch nur 26 Milliarden Euro nach Deutschland ge- (D) bracht. eine erneute Anhebung der Bundeszuwendung an die DZT um 500 000 Euro auf 25,5 Millionen Euro durchzu- Zwar gilt nach wie vor: Deutschland ist für Kongresse setzen. In den nächsten Jahren ist ebenfalls eine kontinu- und Tagungen der beliebteste Messestandort in Europa, ierliche Erhöhung dieser Bundeszuwendung um eine und darauf können wir stolz sein. Dennoch glaube ich halbe Million pro Jahr geplant, da wir als SPD um die fest daran, dass wir unseren Standort attraktiver gestal- Bedeutung der Werbetätigkeit der DZT für das deutsche ten können, indem wir entsprechende gesetzliche Rah- Wirtschaftswachsturn wissen. Mit ihrer Kampagne „Die menbedingungen schaffen. An diesem Punkt setzt der Welt zu Gast bei Freunden“ und der Standortinitiative vorliegende Antrag der CDU/CSU und der SPD „Mes- „Deutschland – Land der Ideen“ wurden weltweit sen und Geschäftsreisen als Chance für den Tourismus- 3,5 Milliarden Menschen erreicht. Da Deutschland in er- Standort Deutschland“ an. heblichem Maße vom Imagegewinn der Fußballwelt- meisterschaft profitiert hat, wirbt die DZT im Ausland Für den Wirtschafts- und Tourismusstandort Deutsch- aktuell unter dem neuen Slogan „Deutschland. Einfach land haben Messen und Geschäftsreisen eine unschätz- freundlich“ auch mit einem neuen Logo, das die Natio- bare Bedeutung. 2006 haben ausländische und deutsche nalfarben Schwarz-Rot-Gold in Form eines Balls zeigt Geschäftsreisende in Deutschland gemeinsam 82,6 Mil- und damit das positive Image der Fußball-WM aufgreift. lionen Geschäftsreisen mit Übernachtungen unternom- men; dabei wurden über 60 Milliarden Euro mit (Tages-) Geschäftsreisen sichern weit über eine halbe Million Geschäftsreisen umgesetzt. Laut der Studie „Internatio- Arbeitsplätze in Deutschland. Jeder dritte Arbeitsplatz der nal Association Meetings Market“ der International deutschen Tourismuswirtschaft ist direkt oder indirekt Congress and Convention Association, ICCA, sind wir vom Tagungs- und Kongressreiseverkehr abhängig. bei Tagungen und Kongressen weltweit die Nummer Deutschlandweit ist heute jeder dritte Hotelgast Tagungs- zwei hinter den USA. Über 1,85 Millionen Veranstaltun- oder Kongressteilnehmer. Kein Wunder, denn 2006 haben gen mit knapp 90 Millionen Teilnehmern wurden organi- deutsche Unternehmen für die Geschäftsreisen ihrer Mit- siert und durchgeführt. Hinzu kommt eine große Zahl arbeiter stolze 47,4 Milliarden Euro ausgegeben. Damit von Regionalmessen. Laut der aktuellen VDR-Ge- wird eines ganz deutlich: Wirtschaftswachstum hängt we- schäftsreiseanalyse planen neun von zehn Unternehmen sentlich vom deutschen Geschäftsreisetourismus ab. Mit für das Jahr 2008 gleich viele oder sogar mehr Ge- 2,8 Millionen Arbeitsplätzen im vor- und nachgelagerten schäftsreisen. Jeder dritte Beschäftigte unternahm min- Bereich und mehr als 110 000 Ausbildungsplätzen ist der destens eine Geschäftsreise. Die Tendenz ist steigend, Tourismus eine boomende Branche für Beschäftigung. das Tourismussegment der Geschäftsreisen boomt. Offizielle Schätzungen gehen von circa 300 000 neuen 12336 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Arbeitsplätzen bis 2015 in Deutschland aus. Besonders gehören neben bereits Erwähntem der Ausbau der Infra- (C) freue ich mich über die gestiegene Ausbildungsbereit- struktur mit mehrsprachigen Hinweistafeln an großen schaft im Gastgewerbe. Auch die Einführung des Ausbil- Messestandorten wie zum Beispiel Hannover, Frankfurt dungsberufs „Kaufmann/Kauffrau für Tourismus und a. M. und Köln. Außerdem sollen die Deutsche Bahn Freizeit“ zeigt, dass die Tourismusbranche ihrer gesell- und andere Verkehrsanbieter ihre Verkehrsmittel und schaftlichen Verantwortung bewusst ist. In diesem Zu- Bahnhöfe so weit wie möglich barrierefrei gestalten. sammenhang appellieren wir an die Verantwortlichen in Schließlich ist auch beim Ausbau der Verkehrswege da- den Ländern, die Qualität im Dienstleistungsbereich rauf zu achten, dass Umsteigezeiten möglichst gering durch entsprechende Ausbildungsangebote, insbesondere gehalten werden. die Aufnahme des Schwerpunktes „Geschäftsreisema- nagement“ und die Förderung von Fremdsprachenkennt- Wir wollen mit diesem Antrag ein positives Zeichen nissen, zu verbessern. für den Messe- und Kongressstandort Deutschland in Europa setzen und mit attraktiven Angeboten das Seg- Die Welttourismusorganisation prognostiziert bis 2020 ment „Geschäftsreisen“ weiter fördern. Auch bin ich mir ein Wachstum der weltweiten Touristenankünfte in sicher, dass sich die wirtschaftliche Entwicklungsdyna- Deutschland von über 4 Prozent. Eine Wachstumspro- mik der neuen EU-Länder positiv auf den Markt für Ge- gnose der DZT für 2015 besagt, dass Deutschland mit schäftsreisende auswirken wird. erfolgreichem Marketing 58 Millionen Übernachtungen aus dem Ausland erzielen könnte. Das wären etwa Ernst Burgbacher (FDP): Der Antrag der Regie- 16 Millionen mehr als heute ohne Camping. Wenn auch rungsfraktionen, Messe- und Geschäftsreisen als Chance ländliche Regionen von diesen positiven Trends profitie- für den Tourismusstandort Deutschland zu begreifen und ren könnten, wäre dies ein wichtiger wirtschaftlicher Im- zu fördern, ist begrüßenswert. Messen und Geschäftsrei- puls. sen stellen eine große Chance, aber auch eine große He- Die SPD ist sich ihrer Verantwortung für den Mittel- rausforderung für den Tourismusstandort Deutschland stand äußerst bewusst. Laut der Geschäftsreiseanalyse dar. 2007 des Verbandes Deutsches Reisemanagement e. V., Im Jahr 2006 gaben deutsche Unternehmen für Ge- VDR, wenden sich immer mehr Unternehmen ange- schäftsreisen mehr als 47 Milliarden Euro aus, was einen sichts steigender Energie- und Reisekosten als Form der Anstieg um 3 Prozent im Vergleich zu den Ausgaben im Geschäftsreisevermeidung Video- und Telefonkonferen- Jahr 2005 bedeutet. Jede dritte Übernachtung und jeder zen zu. In der überwiegend mittelständisch geprägten zweite Euro in der Kasse der deutschen Hotellerie deutschen Tourismuswirtschaft sind Kostensteigerun- stammt aus Geschäftsreisen. Die Anzahl der Reisenden (B) gen für Geschäftsreisen um 24 Prozent wie im letzten ist ebenfalls um 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr auf (D) Jahr oftmals nicht finanzierbar. Im Rahmen unserer Mit- fast 158 Millionen Reisende gestiegen. Diese Geschäfts- telstandspolitik setzen wir uns daher in diesem Antrag reisen führen zu fast 52 Millionen Hotelübernachtungen. für Verbesserungen im Reisemanagement und für den Abbau von bürokratischen Hemmnissen im Bereich der Allerdings waren die Gesamtausgaben für Geschäfts- Statistik-, Nachweis-, Dokumentations- und Buchfüh- reisen in Deutschland von 54,1 Milliarden Euro in 2003 rungspflichten ein. auf 44,0 Milliarden Euro in 2004 deutlich zurückgegan- gen. Welche Möglichkeiten gibt es hier, die Geschäftrei- Ich habe diesen Antrag von Anfang an mit Initiative sen noch attraktiver für Unternehmen zu machen? und großem Enthusiasmus vorangetrieben. Ich gebe zu, Es fallen die hohen – oftmals staatlichen – Kostentrei- dass ich an der einen oder anderen Stelle weitergehende ber einer (Geschäfts-) Reise auf. Knapp 54 Prozent der Vorschläge und präzisere Forderungen eingebracht habe, Reiseausgaben entfielen 2006 auf die Verkehrsträger. die leider nicht realisierbar waren. Weitergehenden Dabei sind die Ausgaben für die Flugtickets mit Handlungsbedarf sehe ich beispielsweise im zu kompli- 30 Prozent der Geschäftsreisekosten und insgesamt zierten Steuersystem für Geschäftsreisen, in den exzessi- 14,4 Milliarden Euro der größte Einzelposten der Kos- ven Aufbewahrungsfristen für Reisekostenabrechnungen ten. Flugreisen befinden sich laut VDR-Geschäftsreise- oder in der Unterscheidung von Dienstreise, Einsatz- analyse 2007 weiter im Aufwind, eine einseitige Belas- wechseltätigkeit und Fahrtätigkeit. Auch eine Neudefini- tung des Luftverkehrs würde sich hier negativ auswirken tion des Begriffs „regelmäßige Arbeitsstätte“ ist überfäl- und wäre nachteilig für den Geschäftsreisesektor und die lig. damit verbundenen Arbeitsplätze. Außerdem suchen im- mer mehr Unternehmen – darunter vor allem kleinere Man kann auf seinem Standpunkt stehen, aber man und mittlere Unternehmen – aufgrund der Reisekosten sollte nicht darauf sitzen. Alternativen zu Geschäftsreisen. Alternativen werden Das wusste bereits Erich Kästner. So ist dieser Antrag vor allem in Telefon- und Videokonferenzen gesehen. zwar eine Kompromisslösung. Ich denke aber, dass da- Die Anwendung anderer Formen der Kommunikation mit ein Schritt in die richtige Richtung getan wird, um zeigt, dass die Unternehmen ein Interesse daran haben, die herausragende Stellung des Messestandortes möglichst wirtschaftlich mit ihrer Zeit und ihren Res- Deutschland im internationalen Ranking weiter auszu- sourcen umzugehen. Bereits 65 Prozent der Unterneh- bauen. men praktizieren diese Art der Reisevermeidung. Jedoch haben auch diese Wege ihre Grenzen. So betonte auch Einig waren wir mit dem Koalitionspartner in dem der Präsident des VDR Michael Kirnberger die Bedeu- Wunsch, das Reiseland Deutschland zu stärken. Dazu tung der Geschäftsreisen für die deutschen Unterneh- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12337

(A) men. Um überall auf der Welt Geschäfte machen zu kön- dings von der damaligen rot-grünen Regierungsmehrheit (C) nen, ist die deutsche Wirtschaft auf die Mobilität ihrer abgelehnt wurde. Es ist erfreulich, dass die SPD sich nun Mitarbeiter angewiesen. Gerade für ein exportorientier- auch für die Stärkung des Geschäftsreisesektors einsetzt. tes Land wie Deutschland sind Geschäftsreisen unab- Dem vorliegenden Antrag der Regierungsfraktionen dingbar für Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatz- kann die FDP in vielen Punkten zustimmen. Ich biete sicherheit. gerne an, im Ausschuss ausführlich zu diskutieren und Viele bürokratische Hemmnisse, wie beispielsweise eventuell einen gemeinsamen Antrag zu formulieren. die zehnjährige Aufbewahrungsfrist der Reisekostenab- rechnung – § 147 AO – oder die unterschiedlichen Ver- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Es ist unstrittig: Mes- pflegungspauschalen, bewirken einen hohen Aufwand sen und Geschäftsreisen sichern zahlreiche Arbeitsplätze und somit weitere unnötige Kosten. in der Tourismuswirtschaft, vor allem in höherpreisigen Sicherlich ist im Zuge der immer noch vorhandenen Hotels außerhalb von Ferien und Wochenenden, in den Terrorgefahr verstärkt auf die Sicherheit an Flughäfen zu First- und Businessklassen der Flugzeuggesellschaften achten, denn gerade auch die Sicherheitsmaßnahmen und der ersten Klasse der Bahn. Wenn die Welt nur aus machen Deutschland für ausländische Gäste so attraktiv. Tourismus bestehen würde, hätte der Antrag meiner Kol- Ohne Zweifel darf nicht an geeigneten und notwendigen leginnen und Kollegen aus dem Tourismusausschuss von Sicherheitsmaßnahmen gespart werden. Jedoch dürfen CDU/CSU und SPD seine Berechtigung. Ich meine aber, Sicherheitsmaßnahmen den Firmen und Reisenden nicht auch wir Tourismuspolitiker müssen über den Tellerrand die Mobilität nehmen oder diese unverhältnismäßig ver- blicken. Deswegen sollte für Geschäftsreisen das Motto teuern. Die Sicherheitsgebühr, die nach den Anschlägen gelten: So viel wie nötig und so effektiv, kostengünstig vom 11. September 2001 veranschlagt wurde, ließ die und ökologisch wie möglich. Davon ist im Antrag der Flugpreise um 5 Prozent steigen. Koalition nichts zu finden, hier geht es trotz der schon ohne Zutun der Bundesregierung wachsenden Branche Gebühren und bürokratische Hemmnisse stellen die um noch mehr Geschäftsreisen ohne Rücksicht auf die größten Kostentreiber dar. Großunternehmen stellen in Auswirkungen auf Klima und Umwelt. der Regel mehrere Mitarbeiter ein, um den erhöhten bü- rokratischen Aufwand zu bewältigen. Kleinere Unter- Unter der Überschrift „Schmutzbilanz mit Folgen“ nehmer sind jedoch dazu nicht in der Lage und sind folg- zeigt die Wirtschaftswoche in einem Artikel vom lich mit diesen Pflichten überlastet. Während das 24. September 2007 auf, dass die Wirtschaft in ihrem Reisebudget und die Zahl der Reisenden 2006 im Mittel- Denken schon ein ganzes Stück weiter ist als die Verfas- stand im Schnitt um 4 Prozent stiegen, kamen die großen serinnen und Verfasser dieses Antrages. Rund ein Drittel (B) Unternehmen mit 5 Prozent weniger aus, obwohl deren der 500 VDR-Mitglieder – VDR steht für Verband Deut- (D) Mitarbeiter viel häufiger Geschäftsreisen unternehmen. sches Reisemanagement – beschäftigt sich nach einer Umfrage des Verbandes mit Klimaschutzproblemen, ein Aus diesem Grunde sollte vorrangig die Entbürokrati- Viertel diskutiert darüber, in die CO2-Kompensation von sierung das Ziel sein. Denn nur so lassen sich die Kosten Dienstreisen einzusteigen. Die internationale Travel-Ma- der Flug- und somit auch der Geschäftsreise senken. Ge- nagement-Vereinigung ACTE hält im Schnitt 40 Prozent mäß der Ziffer 9 des Koalitionsvertrages ist der Bürokra- aller Dienstreisen für verzichtbar, wenn stattdessen kon- tieabbau ein wesentliches Ziel der Bundesregierung. Ein sequent Video-, Web- und Telefonkonferenzen genutzt guter Schritt in diese Richtung wäre die Entbürokratisie- würden. Um nicht missverstanden zu werden: Auch die rung bei Geschäftsreisen. Linke weiß, dass das sich Versammeln an einem Ort Der internationale Tourismus muss weiter gefördert – und sei aus geschäftlichen oder dienstlichen Gründen – werden, und es müssen attraktive Angebote für ausländi- mehr ist als das Austauschen von Informationen. Und sche Messeteilnehmer entwickelt werden. Vor allem die wenn Dienst- und Geschäftsreisen noch stärker in mittel- neuen Quellmärkte der Wirtschaftsmächte China, Indien ständischen Landhotels – möglichst außerhalb der Sai- und die EU-Osterweiterung bieten Chancen. Gleich- son – stattfinden, wissen auch wir die positiven Effekte zeitig gilt es, Deutschland als internationalen Messe- für die Wirte und die Beschäftigten zu würdigen. standort in Europa zu stärken. Dazu zählt neben der Zunehmend mehr Unternehmen nutzen die Bahn statt Vernetzung der Verkehrswege und -mittel auch die Inlandsflüge, schaffen sich schadstoffarme Autos an mehrsprachige Gestaltung der Beschilderung der Ver- bzw. mieten solche für Dienstreisen, leisten für Flüge kehrszeichen und Hinweistafeln. Um eine möglichst Kompensationszahlungen an „Atmosfair“ und andere hohe Mobilität und unkomplizierte Einreise ausländi- Organisationen, weisen für ihre Geschäftsreisenden per- scher Geschäftsreisender zu ermöglichen, muss eine zü- sönliche CO2-Bilanzen aus und schaffen Synergien gigere Visavergabe erfolgen. durch Fahrgemeinschaften. Damit wird nicht nur ein Der Geschäftsreisemarkt wirkt stabilisierend auf die Beitrag für die Umwelt geleistet. Die Unternehmen sen- wirtschaftliche Lage. Er ist saisonunabhängig und weit- ken Kosten und fördern die Gesundheit Ihrer Beschäftig- gehend krisenfest, weil Mobilität meistens eine wichtige ten durch Reduktion von nicht gerade stressarmen Rei- Voraussetzung für Wachstum ist. sen. Die CDU/CSU-Fraktion hatte bereits in der vergange- Von all dem ist im Koalitionsantrag nicht die Rede. nen Legislaturperiode einen Antrag „Rahmenbedingun- Stattdessen soll die Bundesregierung in einem Sammel- gen für Geschäftsreisen verbessern“ vorgelegt, der aller- surium von Einzelpunkten und Prüfaufträgen aufgefor- 12338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) dert werden, Messen- und Geschäftsreisen weiter voran- nur beispielhaft genannt, alles Orte mit einer guten in- (C) zubringen. Begrüßenswert ist, dass die Koalition bei nerstädtischen Infrastruktur und Verkehrsanbindung. diesem Antrag auch an die Barrierefreiheit denkt. Aber Hier funktioniert der Geschäftstourismus vor allem wie und warum nur im Zusammenhang mit Geschäfts- durch außergewöhnliche Veranstaltungsstätten und zu- reisen? Laut Koalition soll die Bundesregierung bei allen sammen mit kulturellen Angeboten. Unser vielseitiges baulichen Einrichtungen des Bundes auf Barrierefreiheit Kultur- und Naturgut bietet einen gewissen Mehrwert. achten. Das ist schön, aber bereits gesetzlich im Bundes- Diesen Mehrwert gilt es zu erhalten und nicht durch gleichstellungsgesetz und Baugesetzbuch geregelt. An- Kürzungen von öffentlichen Mitteln zu vernichten. Lei- statt zu fordern, dass die Bundesregierung auch die Län- der vermisse ich diesen Aspekt gänzlich in Ihrem An- der und Kommunen darauf hinweist sollte der Bundestag trag. die Pflicht auf Barrierefreiheit für alle Neubauten ver- bindlich im Baugesetzbuch verankern. Wir machen uns im Bereich des Geschäftsreisetouris- mus stark für regionale, nachhaltige und qualitativ hoch- Gleiches gilt auch hinsichtlich der Barrierefreiheit bei wertige Angebote mit einer guten Kunden- und Service- der Bahn und anderen Bereichen des Personentransports. orientierung. Eine Konzentration auf wenige Metropolen Schon jetzt erklärt die Bundesregierung sich bei diesbe- gilt es zu verhindern. Nur so kann auch zukünftig bran- züglichen Forderungen regelmäßig für nicht zuständig, chenübergreifend eine Vielzahl von Arbeitsplätzen in obwohl der Bund ja noch Eigentümer der Bahn ist und den ländlichen Räumen gesichert werden. nicht wenig Geld für den ÖPNV zur Verfügung stellt. Statt Privatisierungen voranzutreiben, sollte die Bundes- Es gilt, verstärkt vor Ort und in den Regionen Netz- regierung hier Ihren Pflichten als Eigentümer gerecht werke und Kooperationen zwischen Industrie und Tou- werden – zum Wohle von Geschäfts- und Privatreisen- rismusverbänden zu bilden, um daraus neue Projekte für den und allen anderen Bürgerinnen und Bürgern. Auch den Geschäftsreisetourismus zu entwickeln. die Frage der Förderung von Sprachkompetenz von den in der Tourismuswirtschaft tätigen Menschen oder die Frage der Bearbeitung von Visa-Anträgen ist keine spe- Anlage 14 zifische Frage des Geschäftsreisetourismus. Zu Protokoll gegebene Reden Völlig ausgeblendet ist im Koalitionsantrag die Frage zur Beratung der Beschlussempfehlung und des der Dienstreisen von uns selbst, der Bundesregierung Berichts zu dem Antrag: Oldtimer von Fein- und den in Bundesbehörden Beschäftigten. Wie viele un- staub-Fahrverboten ausnehmen (Tagesord- nötige Dienst- und Heimreisen gibt es allein durch die nungspunkt 24) (B) doppelten Dienstsitze aller Bundesministerien in Berlin (D) und Bonn? Der überfällige Umzug aller Bundesministe- rien nach Berlin würde das Steuersäckel und die Umwelt Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): Seit der Erfin- erheblich entlasten. Auch das darüber hinausgehende dung des Motorwagens durch Karl Benz im Jahr 1886 Dienstreisemanagement der Bundesbehörden muss kri- gehört das Automobil zu unserem Leben, und in tisch hinterfragt werden, und vielleicht sollten wir Abge- Deutschland haben wir aus dieser Innovation viel ge- ordnete künftig nicht nur unsere Nebeneinkünfte son- macht. Ein Blick auf das erste Automobil und ein heuti- dern auch unsere persönliche CO2-Bilanz offenlegen? ges Modell zeigt: Es hat sich in der technischen Ent- wicklung viel getan. Oldtimer sind Zeitzeugen dieser Entwicklung sie haben den heutigen technischen Bettina Herlitzius (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Entwicklungsstand erst ermöglicht. Dies trifft in beson- Der Markt für Tagungen und Kongresse stellt ein bedeu- derem Maße auch für die Standards der Automobilindus- tendes wirtschaftliches Segment dar. Laut einer Analyse trie zur Emissionsvermeidung zu. Sie sind Qualitäts- des VDR, des Verbandes Deutsches Reisemangement, merkmal und Verkaufsargument für die heutigen wurden im Jahr 2006 157,8 Millionen Geschäftsreisen Modelle – Modelle, die in 30 Jahren auch Oldtimer sein von Unternehmen mit mehr als zehn Mitarbeitern durch- können. geführt. Jede Stunde beginnen in Deutschland durch- schnittlich 17 200 Geschäftsreisen. Die Geschichte des Automobils ist auch durch den Der Anteil der Geschäftsreisen stellt aber auch einen Widerspruch von Begeisterung für Technik und Komfort erheblichen Teil des Personenverkehrs dar. Dementspre- und Nebenwirkungen gekennzeichnet. Emissionen bil- chend ergeben sich gravierende Folgen für die Umwelt. deten zu allen Zeiten Anlass für öffentliche Diskussio- Klimawandel, Umweltaspekte, aber auch die Erhöhung nen und sind Gegenstand einer stetigen Verschärfung der der Benzinpreise und die Kerosinsteuerdiskussion füh- Rahmenbedingungen. Neu ist die Qualität, mit der wir ren dazu, dass Unternehmen anfangen, ihre Geschäfts- die Diskussion führen. Die Folgen für das Klima und die reisegewohnheiten zu überdenken. Wir begrüßen diese Gesundheit rücken in den Vordergrund der Verkehrspoli- Entwicklung und setzen uns für einen umweltverträgli- tik. Wir debattieren über die Folgen von verkehrsbeding- chen, barrierefreien, erfolgreichen, aber auch effizienten ten Emissionen in unseren Verkehrszentren, den Städten. Geschäftsreisetourismus ein. Jede Maßnahme, die hier begrenzend wirkt, wird unsere Zustimmung finden, wenn sie die Realitäten und Not- Der nationale Tagungs- und Kongressmarkt ist vor al- wendigkeiten anerkennt und geeignet ist, spürbare Ver- lem ein Markt in den großen Metropolen: Berlin, Mün- besserungen herbeizuführen. Hierüber besteht grund- chen, Hamburg, Leipzig, Frankfurt seien an dieser Stelle sätzlich Einigkeit in der Politik und bei den Verbänden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12339

(A) Mit der Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales chen. Oldtimer sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. (C) Recht wurde die Zuständigkeit der Umsetzung der Vor- Rund 6 Milliarden werden auf diesem Gebiet jährlich in gaben den Ländern zugewiesen. In welchem Umfang die Deutschland umgesetzt. Kennzeichnung zur Einführung von Umweltzonen führt, liegt im Ermessen der jeweiligen Kommune bzw. Lan- Die wiederholte Herabsetzung und Gleichsetzung der desbehörde. Dies gilt ebenso für die Erteilung genereller Fahrzeuge mit gewöhnlichen Altfahrzeugen seitens ein- oder einzelner Ausnahmeregelungen. Übergangsfristen zelner Vertreter des Bundesministeriums für Umwelt wie sind nicht vorgesehen. Feinstaubfahrverbote bedrohen auch einzelner Kollegen wird weder diesem technischen Mittelständer, Busunternehmer, Anlieger, Wohnmobil- Kulturgut noch dem privaten Engagement ihrer Halter besitzer und eben auch Oldtimer. Wir Deutsche versu- gerecht. Sie geht schlicht am Thema vorbei. Für die Hal- chen wieder einmal unserem Ruf als „Saubermänner“ ter und Fahrer sind Oldtimer nicht nur Liebhaberei, son- Europas gerecht zu werden: von Null auf Hundert in ei- dern auch eine Verpflichtung aus Begeisterung und Inte- nem Atemzug. resse am technischen Kulturgut Automobil. Wir reden hier nicht von Prosecco-Gesellschaft oder Protzkisten, Doch wie sieht das Ergebnis ein halbes Jahr nach un- wie leider manche vorschnell und inkompetent urteilen. serer ersten Debatte nach dem Inkrafttreten der Kenn- Tatsache ist: Die Fahrleistung eines Oldtimers beträgt im zeichnungsverordnung aus? In Deutschland werden der- Durchschnitt jährlich weniger als 1 500 km, der Durch- zeit für 21 Städte Umweltzonen geplant. Andere Städte schnittswert von Oldtimern in Deutschland liegt unter haben die Entscheidung zurückgestellt. Nicht ein einzi- 15 000 Euro, und in diese Statistik sind die 300SL-Flü- ges feinstaubbedingtes Umweltfahrverbot wurde in die- geltürer genauso eingerechnet wie der VW Käfer oder sem Jahr ausgesprochen. der Fiat 500. Über 90 Prozent der Besitzer sind Ange- Blüten trieben bei uns die Vorschläge für Ausnahme- stellte. regelungen von feinstaubbedingten Fahrverboten. Sie Wir haben uns in den Diskussionen mit unserem waren so vielgestaltig, wie unser Land nur sein kann. Koalitionspartner und in den parlamentarischen Beratun- Verunsicherung bei den Bürgern, den Unternehmen und gen deshalb aktiv für eine bürgernahe und sachgerechte Verbänden war die Folge. Zahlreiche Anfragen haben bundesweit einheitliche Lösung eingesetzt. An dieser mein Büro und die Büros meiner Kollegen hierzu er- Stelle gilt mein besonderer Dank meinem Kollegen Jens reicht. Selbst die entscheidungsbegünstigten Länder und Koppen. Seinem Engagement haben wir einen Antrags- Kommunen waren in ihrem Gestaltungsrecht verunsi- entwurf zu verdanken, der in der Koalition zur Diskussion chert. Von den Möglichkeiten einer Allgemeinverfügung gestellt wurde. Über die darin geforderten bundesweit ein- machten die wenigsten Gebrauch. Auch hier wuchs der heitlichen Ausnahmeregelungen für benzinbetriebene Wunsch nach bundesweit einheitlicher Ausgestaltung (B) Fahrzeuge, Oldtimer, Anlieger und ortsansässige oder (D) der Ausnahmen. auftragsgebundene klein- und mittelständische Unter- Besonders den Berliner Oldtimerfahrern wird noch nehmer sowie eine Übergangsfrist von fünf Jahren die Titelseite der „Berliner Morgenpost“ vom 21. März konnte mit den Kollegen von der SPD jedoch keine Eini- 2007 in Erinnerung sein. Der hier aufgeführte Katalog gung erzielt werden. Wir sind als CDU/CSU nach wie für Ausnahmen und Kosten von Umweltfahrverboten vor bereit, nicht nur für die Oldtimer dies bundeseinheit- dürfte die unrühmliche Spitze in der Debatte darstellen. lich zu regeln. Wir wollen Politik bürgerfreundlich und Mit umfangreichen Nachweispflichten für die technische praxisnah gestalten. Unmöglichkeit der Nachrüstung, Kostenpflichten für Ich begrüße daher ausdrücklich die Zustimmung der den Verwaltungsaufwand, Fahrtenbüchern und Kilome- unionsgeführten Bundesländer im Bundesrat am terbegrenzungen waren diese Regelungsvorschläge des 21. September 2007 zum Antrag Hessens, Oldtimer von rot-roten Senats in Berlin an Bürgerfeindlichkeit und den feinstaubbedingten Fahrverboten auszunehmen. Bürokratie-Irrsinn kaum noch zu übertreffen. Einer Symbolpolitik des Bundesministeriums für Um- Eine bundesweit einheitliche Ausnahmeregelung ist welt auf dem Rücken der Halter, Fahrer und all jener, die im Vergleich zu den vielgestaltigen Vorschlägen für die Freude an Oldtimern haben, konnte erfolgreich eine Ab- Bürgerinnen und Bürger klar verständlich. Sie erfordert sage erteilt werden. Bei einem Anteil von 0,07 Prozent keine Zeit, keinen Papieraufwand, keine Verwaltungs- am Verkehr ist der Effekt feinstaubbedingter Fahrver- kosten, sie fördert im besten Fall die Tourismusbranche. bote fragwürdig. Wir sind deshalb froh über die Ent- Kurzum: Sie ist am Bürger und den tatsächlichen Gege- scheidung des unionsdominierten Bundesrates und ge- benheiten orientiert – sie ist vernünftig. hen fest davon aus, dass Bundesminister Gabriel sich an diesen Beschluss des Bundesrates hält. Deshalb ist die- Dieser Antrag sieht eine solche Lösung für Oldtimer ser FDP-Antrag überholt und der Sachverhalt geklärt. vor. Die Diskussion zeigte wiederholt, dass wir bei Old- Ich möchte aber nicht verschweigen, dass ich mich trotz- timern von unterschiedlichen Sachverhalten sprechen. dem über diese Initiative freue. An die Adresse meiner Kollegen gerichtet darf ich des- halb in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass Selbst das rot-rote Berlin kommt nunmehr zur Ver- der Begriff des Oldtimers eng gefasst ist. Es sind Fahr- nunft. Die linke Umweltsenatorin Lompscher hat in der zeuge in einem guten technischen und orginalgetreuen „Berliner Morgenpost“ vom heutigen Donnerstag Män- Erhaltungszustand, die älter als 30 Jahre sind. In gel der Regelung eingeräumt und Nachbesserungen an- Deutschland gibt es insgesamt 470 000 Fahrzeuge über gekündigt. Wenn auch spät, kommen vielleicht linke 25 Jahre. 153 000 Fahrzeuge besitzen das H-Kennzei- Politiker dann mal zur Vernunft, wenigstens punktuell. 12340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Mal sehen, was diese Ankündigung in der Realität be- können regionale Begebenheiten, landschaftliche Beson- (C) deutet. derheiten und spezielle Probleme am besten beurteilen und die entsprechenden Konsequenzen ziehen. Unserer Für die Oldtimer wurde eine bundeseinheitliche Re- Meinung nach ist die Entscheidung, wer wann welche gelung durch den Bundesrat jetzt erreicht, der Flecken- zusätzliche Ausnahmeerlaubnis erhält, bestens bei der teppich in Deutschland wurde somit verhindert, der jeweiligen Kommune aufgehoben. Ausnahmen – zum FDP-Antrag hier ist hinfällig. Wir sind froh darüber, Beispiel für Oldtimer, damit das Brauchtum ausgeübt dass wir in Deutschland einen Anschlag auf das automo- werden kann – können auf kommunaler Ebene hinrei- bile Kulturgut Oldtimer verhindert haben. chend gut getroffen werden. Die Diskussion zu einem Sachverhalt aus der Praxis Die Bundesländer haben in der Sitzung des Bundesra- zeigt mir, wie Europa an der Realität vorbeigehen kann. tes am 21. September dem Antrag aus Hessen zuge- Die zugrunde liegende EU-Richtlinie ist daher aus mei- stimmt und eine generelle Ausnahme von Oldtimern be- ner Sicht völlig überzogen, praxis- und bürgerfern. Zu- schlossen. Ich gehe davon aus, dass die Bundesregierung dem widerspricht sie dem Prinzip der Subsidiarität. Be- den Wunsch der Länder berücksichtigen wird. Denn es reits jetzt sind weitere Untersuchungen und Grünbücher ist dringlich, dass die Kennzeichnungsverordnung in in der Schublade, mit denen die EU sich erneut in die Kraft treten kann und die Kommunen die Maßnahmen kommunale Selbstverwaltung einmischen will. Hier zur Luftreinhaltung umsetzen können. müssen wir im Interesse unserer Bürgerinnen und Bür- ger wie auch der Wirtschaft aufpassen. Wir haben in unserem Entschließungsantrag der Ko- alitionsfraktionen vorgeschlagen, die gefundene Rege- Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD): Wir alle wollen lung nach zwei Jahren zu evaluieren. Nach zwei Jahren und brauchen saubere Luft zum Leben. Damit die Luft in werden wir uns erneut damit beschäftigen, ob die Kom- Europa sauberer wird und gesundheitsschädliche Fein- munen in dem von ihnen gewünschten Rahmen in der stäube reduziert werden, hat die EU das Instrument der Lage waren, das Ziel einer sauberen Luft zu erreichen. Luftreinhaltepläne eingerichtet. Die Länder setzen damit die Maßstäbe und dürfen die gesundheitlichen Aspekte nicht vernachlässigen. Der Umweltausschuss des Europäischen Parlaments hat in dieser Woche schärfere Grenzwerte für Feinstaub be- Oldtimer sind auch für mich ein Kulturgut. Oldtimer schlossen. Die Kommission erwartet, dass durch die Ver- gehören in unserem Automobilland zur Geschichte. schärfung die Zahl der Todesfälle durch Luftverschmut- Auch in Zukunft soll der Oldtimerfan sein Hobby pfle- zung von jährlich 370 000 auf 230 000 sinken kann. gen und sein schönes Auto fahren dürfen. Die Frage ist, (B) ob hochbelastete Städte bundesweite Ausnahmeregelun- (D) Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat ent- gen brauchen oder ob es ausgereicht hätte, die vorhande- schieden, dass die Anwohner stark befahrener Straßen nen Möglichkeiten auf kommunaler Ebene auszuschöp- die Kommunen verklagen dürfen, wenn die EU-Grenz- fen, um Oldtimertreffen, Autokorsos oder gelegentliche werte für Feinstaubbelastung überschritten werden. Fahrten in die Zentren zu ermöglichen. Unsere Intention Denn seit 2005 dürfen in Deutschland die geltenden war, diese Frage nicht von oben für alle Regionen zu ent- Grenzwerte für Feinstaub nur an 35 Tagen im Jahr über- scheiden, sondern die entsprechende Wahlmöglichkeit schritten werden; viele deutsche Großstädte können das vor Ort zu erhalten. nicht gewährleisten. Die Kommunen sind aber in der Verantwortung, mit Aktionsplänen dieses Ziel zu errei- Das Problem, das ich bei der bundesweiten Ausnah- chen. Mit der Feinstaubverordnung können Kommunen meregelung für Oldtimer sehe, ist, dass eine Regel ein- Umweltzonen einrichten und Fahrzeugen mit zu hohem geführt wird und mit ihr eine Fülle von Ausnahmen. Schadstoffausstoß ein Fahrverbot für diese Zonen ertei- Zwar gilt das deutsche Sprichwort: Keine Regel ohne len. Ausnahme. Ich gebe aber zu bedenken, dass mit jeder zugelassenen Ausnahme bei denjenigen, die nicht von Grundsätzlich sind von diesen Fahrverboten ältere der Regel befreit wurden, Gefühle von Unverständnis Fahrzeuge, zum Beispiel Autos mit altem Dieselmotor und Benachteiligung aufkommen. Es kommt die Frage – EURO 1 und schlechter – und Benziner ohne Kataly- auf: Wieso dürfen die und ich nicht? sator oder Kat-Fahrzeuge der ersten Generation, betrof- fen, es sei denn, sie werden mit einem Katalysator oder Zum Beispiel ist der Handwerker, der seinen 15 Jahre Rußfilter nachgerüstet. alten Firmenwagen nicht nachrüsten kann, gezwungen, Oldtimer sind Autos, die älter als dreißig Jahre sind. ein neues Fahrzeug anzuschaffen. Er könnte sich aller- Oldtimer können gewöhnlich nicht nachgerüstet werden. dings auch einen Oldtimer anschaffen und dürfte dann Der FDP-Antrag will deshalb eine bundesweite Aus- weiter in der Umweltzone ausliefern. Beides kann er nahme für Oldtimer von den Feinstaubfahrverboten. sich vielleicht aber nicht leisten. Seine wirtschaftliche Existenz steht auf dem Spiel. Sicherlich gibt es viele Ar- Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundprinzip der Eu- gumente, die in einzelnen Fällen für eine Befreiung vom ropäischen Union. Es entspricht dem Subsidiaritätsprin- Fahrverbot sprechen können. Einzelentscheide und Här- zip, dass Probleme, die auf untergeordneten Ebenen ge- tefallausnahmen wird es ja auch geben. Eine generelle regelt und gelöst werden können, auch dort geregelt Ausnahme für mittelständische Unternehmer gibt es aber werden sollen. Die Kommunen, die in der Verantwor- nicht. Die Forderung nach Ausnahmen für Wirtschafts- tung für die Einhaltung ihrer Luftreinhaltepläne stehen, verkehre wird aber von der Wirtschaft erhoben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12341

(A) Es gibt viele Weiterentwicklungen des deutschen dert haben und, in Übereinstimmung mit dem von uns (C) Sprichwortes mit der Regel und den Ausnahmen. Eine hier vorgelegten Antrag, auf einer Ausnahme für die Variante lautet: Die Ausnahme belästigt die Regel, bis Oldtimer bestanden. Ich erwarte nun mit Spannung die sie selber Regel ist. Es gibt noch andere Interessengrup- Umsetzung durch die Regierung. Hier darf es keine pen, die Ausnahmen von den Fahrverboten fordern, zum Halbheiten geben. Beispiel die Wohnmobilfahrer. Die haben auch nachvoll- ziehbare Argumente dafür, dass sie nicht außerhalb der Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie hät- Umweltzone parken wollen. Die EU fordert Ausnahmen ten es einfacher haben können. Von Anfang an war klar, für Touristen, denn eine Urlaubsreise mit dem Auto dass die Einbeziehung der Oldtimer in die Fahrverbote durch unterschiedliche Umweltzonen bringt wenig Ver- unverhältnismäßig sein würde. Hätten Sie Ihren Willen gnügen. Eine Ausnahme folgt der Ausnahme folgt der durchgesetzt, der Schaden wäre immens gewesen: Der- Ausnahme, und der Sinn der Regel, nämlich der Gesund- zeit sind in Deutschland 21 Fahrverbotszonen in Pla- heitsschutz, stellt sich hinten an. nung – und nach dem Feinstauburteil des Bundesverwal- tungsgerichtes werden es sicherlich bald noch mehr sein. Individuelle und öffentliche Interessen sind gegenei- Sie hätten dieses großartige Hobby, durch das einzigar- nander abzuwägen. Ich hoffe, dass die Länder in dem tige Fahrzeuge und damit auch ein kulturelles Erbe be- von ihnen gewünschten Rahmen, den öffentlichen Inter- wahrt werden, quasi unmöglich gemacht. Bei jeder Fahrt essen der Luftreinhaltung und damit dem Schutz der wäre von dem Fahrer verlangt worden, sich zu erkundi- Menschen vor krankmachenden Schadstoffen genügen gen, ob und wo Fahrverbote bestehen und sich gegebe- werden. Dies werden wir nach zwei Jahren prüfen. nenfalls eine Ausnahmegenehmigung zu besorgen. Die gefährlich hohe Feinstaubbelastung in den Bal- Auch hätte das Verbot schwere Folgen für Wirtschaft lungsräumen einzudämmen, ist unser aller Interesse. und Tourismus gehabt. Fahrverbote wären nicht nur das Den Erfolg der Luftreinhalte- und Aktionspläne lässt Ende für Oldtimer-Rundfahrten gewesen, sondern hätten sich an den Feinstaubwerten messen. Die Grenzwerte auch eine Branche gefährdet, die europaweit jedes Jahr der EU sind der Maßstab unseres Handelns. Die Kom- Milliarden Euro in den Bereichen Versicherungen, Fahr- munen müssen sich anstrengen. Im Mittelpunkt steht die zeughandel, Reparatur und Restaurierung von Oldtimern Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. umsetzt. Es wäre ein Leichtes gewesen, all dies durch die An- Patrick Döring (FDP): Ich bin mir sicher, die große nahme unseres Antrages gleich zu verhindern. Stattdes- Zahl der hier Anwesenden schätzt William Shakespeare sen brauchte es erst eine Entschließung des Bundesrates, außerordentlich. Da nehme ich mich nicht aus. Und wir um der Regulierungswut der schwarz-roten Bundesre- (B) erwarten sicherlich alle mit großer Spannung die Verfil- gierung Einhalt zu gebieten. Der Anteil der Oldtimer an (D) mung eines seiner vortrefflichsten Stücke, das in diesen den Feinstaubemissionen in Deutschland ist denkbar ge- Tagen in die deutschen Kinos kommt. Aber bei aller ring. Nach einer Studie des Fraunhofer-Institutes ma- Liebe zu Shakespeares Komödien: Die jüngsten Auffüh- chen Pkw ohnehin nur insgesamt 4 Prozent des Feinstau- rungen von Viel Lärm um Nichts und Wie es euch gefällt, baufkommens aus. Und der Anteil der Oldtimer an der die ich in diesem Hohen Hause in den letzten Monaten Zahl der Personenwagen liegt bei gerade einmal 0,4 Pro- erleben durfte, fand ich eher missraten. zent. Noch geringer ist ihr Anteil an der jährlichen Stre- ckenleistung. Es ist daher geradezu lächerlich, die Ent- Auch das Drama, das die Koalition in der Diskussion scheidung, ob Oldtimer ausgenommen werden sollen, zu um die Ausnahme von Oldtimern von den Feinstaub- einer Frage der Volksgesundheit zu machen. Fahrverboten aufgeführt hat, bekommt zu Recht schlechte Kritiken. Die Autoren und Regisseure der Ko- Man muss sich tatsächlich fragen, warum Teile der alition haben an dem kleinen Dramolett zwar lange gear- Koalition – vor allem aufseiten der Sozialdemokratie – beitet, aber das Ergebnis ist nicht sehr sehenswert. Aus so nachdrücklich darauf beharren, die Oldtimer aus un- gutem Grund wird der letzte Akt jetzt in der Nachtvor- seren Städten zu verbannen. Anstatt Ihre Energien darauf stellung aufgeführt. Es ist verständlich, dass man diesem zu verschwenden, den Menschen das Leben schwer zu Stück eher keine Zuschauer wünscht. machen, sollten Sie sich besser um wirkliche Lösungen bemühen. Monatelang wurde da diskutiert und unser Antrag mit der Bitte aufgeschoben, man brauche die Zeit, um eine Das Feinstaubproblem wird jedenfalls nicht gelöst, vernünftige Lösung zu finden. Der Berg kreißte – und indem man ein paar Autoklassiker aus den Innenstädten gebar einmal mehr eine Maus. Die von der Koalition verbannt. Letztlich braucht es ein Gesamtkonzept und vorgelegte Entschließung ist ein Zeugnis der Ohnmacht. auch überregionale Ansätze. Doch hier machen Sie es Die Vernunft wurde offensichtlich wieder einmal dem sich sehr einfach und lassen die Kommunen mit ihren Prinzip geopfert: Anstatt eine klare Entscheidung zu fäl- Problemen im Regen stehen. len, sollte die Diskussion für weitere zwei Jahre aufge- schoben werden, um dann die Auswirkungen der Ver- Anstatt Oldtimer aus den Städten auszusperren, soll- ordnung zu überprüfen. Für viele Betroffene wäre es ten Sie noch einmal über die Beschaffenheit der Grenz- dann freilich schon zu spät gewesen. werte nachdenken. Die Jahresgrenzwerte müssen schär- fer, die Tageswerte aber flexibler werden. Sonst werden Wir können daher von Glück sagen, dass im Bundes- wir weiterhin die paradoxe Situation haben, dass in eini- rat die Länder mit vereinter Kraft diesen Unsinn verhin- gen Kommunen mit einer permanent hohen Feinstaub- 12342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) konzentration, die aber die Grenzwerte nur selten über- Denn genau darum geht es – um den Gesundheits- (C) schreitet, nichts geschieht, während auf der anderen schutz der Bevölkerung in den Innenstädten. Dafür wer- Seite Städte an den Pranger gestellt werden, die nur an den nach Auskunft der Bundesregierung derzeit 21 Um- wenigen Tagen im Jahr ein dann aber sehr hohes Fein- weltzonen vorbereitet. Dadurch wird die extrem staubaufkommen haben. Das Europäische Parlament hat gesundheitsgefährdende Feinstaubbelastung gesenkt. hier schon vorgedacht. Die Bundesregierung hat diese Der EU-Grenzwert wird in vielen Städten, insbesondere Initiative aber leider bisher abgelehnt. Ich empfehle Ih- an Hauptverkehrsstraßen, sehr häufig – zu häufig – über- nen dennoch gerne den Beschluss des europäischen Um- schritten. Auch für das hochgiftige Stickstoffdioxid gilt weltausschusses als Lektüre. ab 2010 ein strenger Grenzwert, der bislang vielerorts überschritten wird. Anstatt die Jagd auf Oldtimer zu eröffnen, sollten Sie endlich die 1. Bundesimmissionsschutz-Verordnung no- Mit Umweltzonen werden also nicht Oldtimerfahrer vellieren, um auch Grenzwerte für die Millionen kleiner schikaniert, sondern die Bevölkerung in den Innenstäd- Holzfeuerungsanlagen einzuführen. Denn diese stoßen ten vor Gesundheitsgefahren geschützt. Oldtimer sind insgesamt etwa genauso viel Feinstaub aus wie die Mo- dabei nicht vernachlässigbar, sondern eine nicht uner- toren von Lkw, Pkw und Motorrädern zusammen. hebliche Quelle von Luftverschmutzung. Obwohl sie nur Anstatt den Autoklassikern das Grab zu schaufeln, 0,4 Prozent an der gesamten Pkw-Flotte Deutschlands sollten Sie ein integriertes Konzept, zusammen mit Län- ausmachen, sind Oldtimer für 3 Prozent der Stickoxid- dern und Kommunen, aber auch den europäischen Nach- emissionen verantwortlich. Ihr Schadstoffausstoß liegt barn, entwickeln. Nur wenn wir die zahlreichen Fein- um bis zum 60-Fachen über einem Neuwagen. staubquellen in den Griff bekommen, können wir das Deswegen gibt es für Oldtimer keine generelle Be- Problem lösen. freiung – und das ist auch gut so! Nichts von alledem haben Sie bisher getan. Stattdes- Es ist aber nun nicht so, dass Oldtimer gar nicht in sen erschöpft sich Ihre politische Arbeit in Aktionismus den Umweltzonen fahren dürfen. Denn die Kommunen und Symbolpolitik. Den Schaden haben die Menschen in können und sollen selber entscheiden, inwieweit sie Old- Deutschland, denen nicht effektiv geholfen wird – oder timern und anderen Betroffenen – dazu gleich mehr – deren Interessen Sie für den öffentlichen Effekt opfern. Ausnahmen erteilen. Es ist wahrlich ein Trauerspiel, das die Koalition hier Berlin als Vorbild und Vorreiter wird als erste Kom- aufgeführt hat, und es wird leider wohl auch nicht das mune ab dem 1. Januar 2008 eine Umweltzone einrich- letzte sein, das Schwarz-Rot uns auf dieser Bühne dar- ten. Stuttgart und andere Städte Baden-Württembergs (B) bieten wird. Es bleibt abzuwarten, wie Ihr Publikum dies wollten ursprünglich früher loslegen, mussten ihren (D) goutiert. Im vorliegenden Fall können wir von Glück sa- Starttermin aber immer wieder verschieben. Man könnte gen, dass durch den Bundesrat das größte Unglück ver- einen gängigen Werbeslogan deshalb etwas abwandeln hindert wurde. Ein gutes Licht auf die Politik dieser Re- in „Baden-Württemberg – wir können alles außer Um- gierung wirft dies freilich nicht. weltzone“.

Lutz Heilmann (DIE LINKE): Der Bundestag debat- Vielleicht haben sie aber nur auf die Bestimmungen tiert heute zum zweiten Mal über Oldtimer. Es geht um Berlins gewartet, um sie zu übernehmen? Berlin jeden- die Frage, ob Oldtimer generell in Umweltzonen fahren falls hat eine großzügige Regelung für Oldtimer geschaf- dürfen oder nicht. Wohlgemerkt: Es geht nicht darum, fen. Klar können sie weiter für Hochzeitsfahrten oder Oldtimern die Teilnahme am gesamten Straßenverkehr Ähnliches genutzt werden. Klar erhalten auch private zu verbieten. Genau diesen Eindruck vermitteln aber die Oldtimer eine unbefristete Ausnahmegenehmigung. Da- Oldtimer-Lobby und ihr Sprachrohr, die FDP. Auch wird mit dürfen sie pro Jahr 700 Kilometer in der Umwelt- der Anschein erweckt, die spezialisierten Werkstätten zone fahren. stehen vor dem Ruin. Diese erstreckt sich nun nicht auf ganz Berlin, son- Dem ist aber nicht so – und das will meines Wissens dern nur auf den S-Bahn-Ring. Wenn man da einmal auch niemand, auch Die Linke nicht, obwohl der durch- rein- oder durchfährt, sind das fünf bis zehn Kilometer. schnittliche Oldtimer-Besitzer nicht gerade zu unserer Oldtimer können also weiterhin gelegentlich über die klassischen Wählerschicht gehört. Dies weiß ich aus ei- „Linden“ fahren und ihre Werkstätten besuchen. Und genem Erleben, als Tankstellenkassierer bediente ich Oldtimerbesitzer, die in der Umweltzone wohnen, müs- früher eine Reihe von Oldtimer-Fahrern. sen ihren Wagen weder verkaufen noch außerhalb der Umweltzone parken. Ein Oldtimer ist eben nicht als Alltagsfahrzeug ge- dacht, sondern nur als zusätzliches „Liebhaber-Stück“ Deswegen frage ich mich: Warum diskutieren wir für gelegentliche Ausfahrten vorgesehen. Das muss man ausgerechnet über Oldtimer in Umweltzonen? Kritisch sich erst mal leisten können. Deshalb nährt die FDP mit ist nicht der Freizeitverkehr mit Oldtimern. Die wirklich ihrem Antrag den gelegentlich geäußerten Vorwurf, sie problematischen Fälle sind Arbeitnehmerinnen und Ar- sei die Partei der Besserverdienenden. Mit diesem An- beitnehmer, die aufs eigene Auto angewiesen sind. Er- trag wird einseitige Klientelpolitik betrieben. Umwelt- freulicherweise hat sich durch die nachträgliche Rege- und Gesundheitsschutz sind bei der FDP anscheinend lung für G-Kats der Kreis der Betroffen erheblich nur Lippenbekenntnisse. reduziert. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12343

(A) Auch der Wirtschaftsverkehr, dessen Lkw und Trans- Beschlussempfehlung – 16/6327 – des Verkehrsauschus- (C) porter oft veraltet sind, ist ein Problem. In beiden Fällen ses lässt sich entnehmen, dass auch die Mehrheit der Ab- hat Berlin ebenfalls sinnvolle Ausnahmeregelungen ge- geordneten einen Freifahrtschein für Oldtimer ablehnt. schaffen. Klar ist aber auch, dass nicht allen eine Aus- Das ist auch richtig so. nahme erteilt werden kann. Dann könnte man die Um- weltzone gleich sein lassen. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundes- verwaltungsgerichtes in Leipzig sind Kommunen drin- In der Bundesregierung und insbesondere beim klei- gend aufgefordert, die Belastung der Bevölkerung mit neren Koalitionspartner wird ja viel über „fordern und Feinstaub wirksam einzudämmen. Das Feinstauburteil fördern“ gestritten. Ich würde mir wünschen, dass die von Leipzig erinnert die Städte und Gemeinden nicht nur Bundesregierung auch im Gesundheitsschutz dem För- an ihre Verantwortung, sondern es zieht sie zur Verant- dern mehr Gewicht gegeben hätte. Denn wenn man wortung. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 27. Sep- Menschen zu Einschränkungen zwingt – Fahrverbote tember 2007 höchstrichterlich entschieden, dass Anwoh- sind in der Tat eine Einschränkung –, dann sollte man ih- ner von besonders mit Feinstaub belasteten Straßen ihr nen auch Alternativen anbieten. Recht auf saubere Atemluft gerichtlich durchsetzen kön- Da der Gesundheitsschutz eine öffentliche Aufgabe nen. Kommunen könnten sich nicht auf das Fehlen eines ist, sollte er nicht nur denjenigen angelastet werden, die Aktionsplans zur Luftreinhaltung berufen, entschieden alte Fahrzeuge haben. Nein, die Bundesregierung ist die Richter. Sie müssen vielmehr dafür sorgen, dass ein gegenüber der EU für die Einhaltung der Grenzwerte wirksames Aktionsprogramm auch realisiert wird. mitverantwortlich. Deshalb hätte sie die steuerliche För- Denn schon 2002 wurde mit den rot-grünen Vorgaben derung der Umrüstung von Fahrzeugen mit Dieselrußfil- im Bundes-Immissionsschutzgesetz und der dazugehöri- tern deutlich großzügiger gestalten müssen. Die sehr ent- gen Verordnung den Kommunen eine Vielzahl von täuschenden Zahlen bislang erfolgter Umrüstungen Instrumenten zur Verfügung gestellt, mit denen sie ge- belegen, dass 330 Euro viel zu wenig sind. gen die Emissionsquellen vorgehen können. Auch die Auch für den Wirtschaftsverkehr sollten Förderpro- Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsverbote oder -be- gramme – so weit möglich zur Nachrüstung, ansonsten schränkungen stammen aus dem Regelwerk von 2002. zur Flottenerneuerung – aufgelegt werden. Bis dahin waren Verkehrsbeschränkungen wegen Luft- verunreinigungen stets nur symbolische Politik. Der Schutz der Gesundheit der Menschen geht alle an, nicht nur Einzelne! Wir Grünen haben diese falsche Praxis beendet. Wir haben damals im Bundes-Immissionsschutzgesetz zwei (B) Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): neue Ermächtigungsgrundlagen für Verkehrsbeschrän- (D) Wir haben über den Antrag der FDP ja schon einmal An- kungen wegen Luftverunreinigungen geschaffen – § 40 fang März 2007 debattiert. Ich habe damals – wie andere Abs. 1 und Abs. 2 BimSchG. Damit wurden Kommunen meiner Kolleginnen und Kollegen – eine Kennzeich- zu Verkehrsverboten und -beschränkungen ermächtigt, die nungsverordnung begrüßt, die am 1. März 2007 in Kraft in Luftreinhalte- oder Aktionsplänen vorgesehen sind und getreten war, heute aber schon wieder der Vergangenheit ihnen wurde gestattet, unabhängig von den planerischen angehört. Instrumenten Verkehrsbeschränkungen und -verbote zu erlassen, wenn der Verkehr zur Überschreitung von Im- Was war geschehen? Es hatte handwerkliche Fehler missionswerten beiträgt. gegeben, zu spät war aufgefallen, dass ein nicht unerheb- licher Teil von Fahrzeugen mit älteren Kats – nach US- Die Planung der Umweltzonen ist ein wesentliches Norm – ohne Plakette bleiben würde und so nicht in der Instrument der Kommunen, die Grenzwertüberschrei- Umweltzone fahren dürfe. Fahrzeuge mit Katalysatoren tungen in den Griff zu bekommen. Symbolische Politik der ersten Generation – G-Kat, Kats nach US-Norm – ist es aus unserer Sicht jedoch, Umweltzonen mit Fahr- haben jedoch keine schlechteren Abgaswerte als Euro-1- beschränkungen anzukündigen und einzurichten und zu- Fahrzeuge, die nach der ersten Version der Verordnung gleich so viele Ausnahmetatbestände zu schaffen, dass die grüne Plakette erhalten. Schon Anfang März hatte die Idee der Umweltzone wieder ad absurdum geführt die Bundesregierung angekündigt, dies zu korrigieren. wird. Bundesumweltminister Gabriel hat am 4. Juli 2007 eine entsprechende Änderung der Plakettenverordnung ins Im Jahr 2002 hatten Bundestag und Bundesrat der Kabinett eingebracht. 22. BImSchV zugestimmt. Doch schon mit Näherrücken des Termins und erst recht aufgrund der Feinstaubmes- Die FDP hat mit ihrem Antrag für die Oldtimer eine sungen vor 2005 änderte sich die Haltung in vielen Län- generelle Ausnahmeregelung von den Fahrbeschränkun- dern und Kommunen. Es war schnell klar: Viele Bal- gen gefordert. So sollten alle Oldtimer mit H-Kennzei- lungsräume würden die Grenzwerte reißen. Doch statt chen sowie möglichst auch jene mit dem „roten 07er- sich um wirksame Maßnahmen zu kümmern, forderten Kennzeichen“ pauschal von der Verordnung ausgenom- einzelne Länder nun eine Revision der EU-Vorgaben. men werden. Wir haben dieses Anliegen in der ersten Ziel: Grenzwerte, die man nicht einhalten kann, müssen Lesung abgelehnt. Denn es ist sachlich und mit Blick auf eben angehoben werden. Es soll hier nicht ungesagt blei- eine vorsorgende Luftreinhaltung nicht einzusehen, dass ben, dass viele Länder und Kommunen rechtzeitig Luft- alten Diesel-Oldtimern erlaubt sein soll, ein Mehrfaches reinhaltepläne und Aktionspläne auf den Weg gebracht an Feinstaub auszustoßen als andere Fahrzeuge. Aus der haben. 12344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) Was die Umweltzonen und Oldtimer angeht, so hat SPD. Mit dem heutigen Entwurf eines Gesetzes zur Neu- (C) uns doch Herr Koch aus Hessen überrascht: Er hat sein regelung des Wohngeldrechts und zur Änderung anderer Herz für das Kulturgut Oldtimer entdeckt und flugs im wohnungsrechtlicher Vorschriften setzt die Große Koali- September 2007 im Bundesrat den Antrag gestellt, die tion dieses Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Oldtimer in den Ausnahmekatalog der Verordnung auf- Es ist jedoch ein weiterer Aspekt hinzugetreten: Von zunehmen. Das Land Hessen war mit seinem Ände- der Hartz-IV-Gesetzgebung wurde auch das Wohngeld rungsantrag zur Kennzeichnungsverordnung erfolgreich, umfassend betroffen. So wurden Transferleistungsemp- und der Bundesrat stimmt der Verordnung mit dieser Än- fänger durch dieses Gesetz, vom Wohngeld ausgeschlos- derung zu. Mit dem Nachbessern an der Verordnung wa- sen. Damit wurde deutlich gemacht, dass es sich hierbei ren die Oldtimer-Lobbyisten auf den Plan getreten und um zwei eigenständige soziale Sicherungsinstrumente haben offenbar ganze Arbeit geleistet. Jetzt stellt sich die handelt. Real wurde das Wohngeld auf einen Kernbe- Frage, ob die Bundesregierung respektive der Umwelt- reich von Leistungsempfängern zurückgeführt. Dieser minister diese Bundesratsentscheidung hinnimmt oder Kernbereich umfasst im Wesentlichen Menschen mit daran die ganze Verordnung scheitern lässt und wieder niedrigem Arbeitseinkommen bzw. mit niedriger Rente. auf Anfang geht. Dies würde natürlich bedeuten, dass Durch die Vollkostenübernahme für das Wohnen bei damit die Rechtsgrundlage für die Umweltzonen ab ALG-II-Empfängern im Rahmen der Grundsicherung ist 2008 infrage steht. Eine weitere Verzögerung können ein großer Teil der Wohngeldempfänger entfallen. sich Bund und Länder im Kampf gegen den Feinstaub jedoch nicht leisten. Zwischenzeitlich sind Schnittstellenprobleme zwi- schen den Leistungssystemen identifiziert und auch An- Wir waren dafür, pragmatische Regelungen für Old- zeichen für Fehlanreize aufgetreten. So haben sich zum timer-Veranstaltungen in Städten zu finden, und ange- Beispiel Vollzugsschwierigkeiten zwischen Wohngeld- sichts der überschaubaren Zahl von Oldtimer waren wir stellen und den für die Grundsicherung für Arbeit- für begrenzte Sondergenehmigungen, aber eine generelle suchende zuständigen Stellen bei der Gewährung von Ausnahme halten wir auch nach der Bundesratsentschei- SGB-Il-Leistungen und Wohngeld aufgetan. dung nicht für sachgerecht. Schließlich ruft dies auch an- dere Betroffeneninteressen für weitere Ausnahmetatbe- Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs ist es daher, stände auf den Plan. den Verwaltungsaufwand im Vollzug zu vermindern und Schnittstellen mit den Transferleistungsgesetzen zu ver- einfachen. Darüber hinaus sollen die Wohngeldmittel Anlage 15 noch effizienter verwendet werden. Weiteres Ziel des von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwur- (B) Zu Protokoll gegebene Reden fes ist es, die Normen sowohl für Antragsteller als auch (D) zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur für die Bearbeiter einfacher und besser verständlich zu Neuregelung des Wohngeldrechts und zur machen. Dem setzt das komplizierte deutsche Steuer- Änderung anderer wohnungsrechtlicher Vor- recht jedoch natürliche Grenzen. Die Große Koalition schriften (Zusatztagesordnungspunkt 10) leistet mit diesem Gesetzentwurf auch einen Beitrag zum Bürokratieabbau in Deutschland; er ist sicher nicht ent- scheidend, aber ein weiterer Baustein unser Ziele bei Gero Storjohann (CDU/CSU): Seit 40 Jahren wer- diesem Thema. den durch das Wohngeld die Wohnkosten einkommens- schwacher Mieter und selbst nutzender Eigentümer be- Was sieht das Gesetz im Einzelnen vor? Lassen Sie zuschusst. Diese Leistung unseres Sozialstaates hat sich mich die wichtigsten Neuerungen kurz darstellen. bewährt und ist für sozial schwache Bürger unverzicht- Durch das Gesetz wird der wohngeldrechtliche Haus- bar. Die Wohngeldberichte der Bundesregierung belegen haltsbegriff fortentwickelt. Alle Mitglieder einer Wohn- das ein ums andere Mal. und Wirtschaftsgemeinschaft werden fortan in diesen Der Wohngeldbericht der Bundesregierung aus 2002 nach dem Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen einbe- hat erhebliche Vollzugsprobleme bei der Bewilligung zogen werden. Dadurch entfällt die für die Verwaltung von Wohngeldleistungen offenbart. Lange Bearbeitungs- äußerst kompliziert durchzuführende Vergleichsberech- zeiten und komplizierte Berechnungsverfahren wurden nung. Auch wird dadurch die bisherige Regelung der vo- von den Betroffenen beklagt, sowohl auf der Seite der rübergehenden Abwesenheit hinfällig. Die Arbeit der Wohngeldempfänger als auch aufseiten der Mitarbeiter Verwaltung bei Berechnung des jeweiligen Wohngeldan- der Bewilligungsstellen. spruchs wird damit erheblich erleichtert. Des Weiteren wird durch den Gesetzentwurf die für Dies bildete den Rahmen für die Koalitionsvereinba- die Höhe des Wohngeldes maßgebliche Differenzierung rung zwischen CDU/CSU und SPD in Bezug auf die in vier Baualterklassen wegfallen. Auch hier musste die Weiterentwicklung des Wohngeldgesetzes. Daher zitiere Verwaltung in der Vergangenheit immer umständliche ich den Text an dieser Stelle ausdrücklich: „Das Wohn- Berechnungen anstellen. Dies wird durch das neue Ge- geld wird weiterhin der sozialen Absicherung des Woh- setz jetzt bereinigt. nens dienen. Wohngeld ist eine Fürsorgeleistung. Bund und Länder werden das Wohngeldrecht zügig mit dem Erhebliche Verbesserungen bringt der Gesetzentwurf Ziel einer deutlichen Vereinfachung überprüfen“. So auch für die Bezieher von Wohngeld. So haben wir die steht es im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und Rückforderung des Wohngeldes von den Erben erheb- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12345

(A) lich erleichtert. Ferner werden durch das Gesetz die ge- dieser Stelle klar sagen: Der Weisheit letzter Schluss (C) samtschuldnerische Haftung aller Haushaltsmitglieder kann der Gesetzentwurf in der vorliegenden Form nicht und die Erweiterung der Aufrechnungs- und Verrech- sein. nungsmöglichkeiten bei überzahltem Wohngeld einge- Zwar dient die Neuformulierung des Wohngeldgeset- führt. zes in erster Linie der Verwaltungsvereinfachung, und Der Bundesrat hat mit seiner Stellungnahme eine diesem Anspruch wird sie in der Tat gerecht; den seit Vielzahl von Anregungen gegeben, bei denen die Bun- 2002 zu konstatierenden eklatanten Preisanstieg im Be- desregierung bereits eine Zustimmung oder entspre- reich der Nebenkosten aber lässt sie außer Betracht. chende Anpassung im parlamentarischen Verfahren Mittel- und langfristig haben wir mit dem CO2-Ge- empfiehlt. Auch wir werden die vom Bundesrat aufge- bäudesanierungsprogramm eine adäquate und nachhal- worfenen Fragen eingehend prüfen. Uns ist klar, dass tige Antwort auf steigende Energiekosten gefunden. zum wichtigen Punkt der Beibehaltung der sachfremd im Durch die energetische Sanierung von Wohnungen und Wohngeldgesetz verankerten Ausgleichsregelung für Häusern werden die Belastungen von Mietern und Ei- grundsicherungsbedingte Mehrkosten die Wünsche von genheimbesitzern erheblich reduziert. Um etwa 40 Pro- Bundesrat und der Vorschlag der Bundesregierung noch zent konnte der Heizenergieverbrauch je Quadratmeter nicht zusammenpassen. Deshalb müssen wir wohl den Wohnfläche in den letzten 20 Jahren mit entsprechenden inhaltlichen Zusammenhang zum parallel zu beratenden Maßnahmen bereits gesenkt und der CO -Ausstoß ver- Entwurf eines Zweiten SGB-XII-Änderungsgesetzes be- 2 ringert werden. Deshalb hatten wir das CO2-Gebäudesa- rücksichtigen. nierungsprogramm für 2006 um 350 Millionen Euro auf Ich sehe der Ausschussberatung mit Interesse entge- 1,5 Milliarden Euro aufgestockt. Allein in diesem Jahr gen und wünsche mir, dass Wohngeld auch in Zukunft konnten mit dem Programm 265 000 Wohnungen und ein wirksames Instrument des verantwortungsvollen So- Gebäude saniert und 900 000 Tonnen Kohlendioxid ver- zialstaates bleibt. mieden werden. Durch erneuerte Fassaden und Fenster, eine verbesserte Wärmedämmung und modernisierte Heizungen lassen sich bis zu 25 Prozent Energie sparen. Sören Bartol (SPD): Die zeitnahe Überarbeitung des So können die finanziellen Belastungen der Haushalte Wohngeldgesetzes mit dem Ziel einer deutlichen Verein- erheblich gesenkt werden. fachung hatten CDU/CSU und SPD im Koalitionsver- trag festgelegt; dieses Vorhaben wird mit dem vorliegen- Energieeffizienz wird künftig auch bei der Woh- den Gesetzentwurf umgesetzt. nungsauswahl ein zentrales Kriterium sein: Ab 2008 wird der Energieausweis zu einem wichtigen Instrument (B) Dieser Gesetzentwurf ist ein dringend notwendiger für Mieterinnen und Mieter, das zu Transparenz und län- (D) Schritt zur Entbürokratisierung, der Verwaltungsauf- gerfristig zu weiteren Gebäudesanierungen führen wird. wand vermindert, Schnittstellen mit Transferleistungsge- setzen des SGB II vereinfacht, Wohngeldmittel noch ef- Aber natürlich benötigt die Sanierung unseres kom- fizienter verwendet und Regelungen für Bürgerinnen pletten Gebäudebestandes Zeit; denn längst nicht alle und Bürger verständlicher gestaltet. Es ist ein wichtiger Wohngeldempfänger wohnen in energetisch sanierten Gesetzentwurf, auch weil er zugleich eine Aktualisie- Häusern. Vor dem Hintergrund von Preissteigerungen in rung diverser Bereiche und Begrifflichkeiten an eine Höhe von 30 Prozent bei Heizung und Warmwasser im veränderte gesellschaftspolitische Realität vornimmt. Vergleich zu 2002 sollte daher auch eine Weiterentwick- lung des Wohngeldes Gegenstand der parlamentarischen Dazu zählen unter anderem die Fortentwicklung des Beratungen sein. wohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs, die Einführung der gesamtschuldnerischen Haftung aller Haushaltsmit- Hierbei sollte es auch darum gehen, mögliche Instru- glieder sowie die Erweiterung der Aufrechnungsmög- mente zur Schließung der Gerechtigkeitslücke zwischen lichkeit bei überzahltem Wohngeld und des Datenab- den Unterkunftskosten nach § 22 SGB II und dem gleichs. Vorgesehen ist außerdem der Wegfall der für die Wohngeld zu prüfen. Denn es ist nicht von der Hand zu Höhe des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in weisen, dass die jetzige Gesetzeslage wohngeldberech- vier Baualtersklassen, den ich entgegen der Auffassung tigte Haushalte gegenüber Empfängern von ALG II, bei des Bundesrats ausdrücklich begrüße. denen eine Vollbruttokostenerstattung der Miete inklu- sive der Nebenkosten erfolgt, benachteiligt. Zum einen vereinfacht dies das Verwaltungsproze- Wenn also das Wohngeld seiner Intention, einkom- dere, zum ändern trägt man damit der Entwicklung mensschwache Haushalte, die ihren Lebensunterhalt aus Rechnung, dass der Wert vieler Altbauten in den letzten eigener Hand bestreiten, angesichts der Mietbelastung Jahren durch Renovierungen und Sanierungen erheblich jedoch an ihre finanziellen Grenzen stoßen, vor einer gestiegen ist. Bislang wurde in den Berechnungen allein Überforderung zu schützen, auch in Zukunft gerecht auf das Baujahr abgestellt. Im vorliegenden Gesetzent- werden will, sollten wir nicht nur über eine Anpassung wurf – § 12 WoGG-E – sind die Höchstbeträge nun der der Miethöchstbeträge an die aktuellen Entwicklungen bisherigen Bauklasse IV aus der Tabelle des geltenden des Wohnungsmarktes und entsprechende Änderungen § 8 WoGG entnommen: Eine Leistungsverbesserung, die der Wohngeldleistungstabellen diskutieren. ich – auch vor dem Hintergrund des Wohn- und Mieten- berichts 2006 der Bundesregierung – für richtig halte. Angesichts der immens gestiegenen Nebenkosten Für weit genug gehend halte ich sie nicht. Man muss an wäre hier eine Regelung in Betracht zu ziehen, bei der 12346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) auch warme Nebenkosten zu den zuschussfähigen Aus meiner Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass Bezie- (C) Wohnkosten zählen können. Dabei muss es um eine her von Arbeitslosengeld II Unterkunftskosten und Heiz- nicht nur sozial-, sondern ebenfalls energiepolitisch kosten fast vollständig vom Staat ersetzt bekommen, sinnvolle Lösung gehen. während Bezieher von Wohngeld nur einen Zuschuss zur Grundmiete und zu den kalten Betriebskosten erhalten. In welchem Rahmen dies konkret erfolgen könnte, ist Da insbesondere die hohen Energiekosten bei den Be- noch zu eruieren. Möglich wäre etwa die Festschreibung triebskosten zu Buche schlagen, ergibt sich hier klar eine von Höchstgrenzen nach einem vom Energiebedarf aus- Gerechtigkeitslücke. Über dieses Thema wird in den fol- gehenden Berechnungssystem. genden Debatten sicherlich noch zu reden sein. Wir brauchen ein starkes, der veränderten Entwick- lung angepasstes Wohngeld, wenn es auch in Zukunft Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Kommen wir gleich ein funktionierendes Element unserer Wohnungspolitik auf den Punkt: Seit dem 1. Januar 2001 ist das Wohngeld sein soll, das einkommensschwachen Haushalten ein nicht mehr erhöht worden. Seit 2001 sind die Mieten angemessenes und familiengerechtes Wohnen ermög- ohne Nebenkosten um 6,5 Prozent gestiegen. Die Ge- licht. Das gilt umso mehr, wenn wir Menschen aus dem bühren für Wasser, Abwasser und Müll sind in diesem ALG-Il-Bezug herausholen wollen. Zeitraum um über 10 Prozent, die Kosten für Strom um 23,8 Prozent, für Gas um 30,3 Prozent und für Öl um Joachim Günther (Plauen) (FDP): Der heute in ers- 53,3 Prozent gestiegen. Für diese Preissteigerungen gibt ter Lesung zu behandelnde Entwurf eines Gesetzes zur es bis heute keinen Ausgleich und keinen Zuschlag zum Neuregelung des Wohngeldes war zwischen den Regie- Wohngeld. Die Heizkosten werden überhaupt nicht be- rungsparteien im Koalitionsvertrag vereinbart und somit rücksichtigt. Der von der Bundesregierung vorgelegte keine größere Überraschung. Allerdings überrascht der Gesetzentwurf zur Neuregelung des Wohngeldgesetzes Inhalt schon; denn die Koalitionsparteien hatten sich in ist keine Wohngeldreform, die diesen Namen wirklich diesem Zusammenhang nicht nur darauf verständigt, das verdient. Die Grundsatzfrage nach der längst überfälli- Wohngeldgesetz zu entschlacken und zu vereinfachen, gen Erhöhung des staatlichen Zuschusses zum Wohnen sondern es sollte auch – so hatte ich es jedenfalls ver- wird vollständig ausgeklammert. Die Bundesregierung standen – durch die materielle Verbesserung des Wohn- muss ihre Zusagen aus dem Koalitionsvertrag ernst neh- geldes auf die in den letzten Jahren erheblich gestiege- men und ihren Feststellungen aus dem soeben veröffent- nen Wohnkostensteigerungen, insbesondere durch die lichten Wohngeld- und Mietenbericht 2006 Taten folgen extrem gestiegenen Energiekosten, reagiert werden. Ich lassen. Heute müssen knapp 60 Prozent aller Wohngeld- will die Kostensteigerungen seit 2001 noch einmal nen- bezieher tatsächlich eine höhere Miete zahlen, als bei der (B) nen, damit klar ist, dass es hier nicht um Bagatellbeträge Wohngeldberechnung zugrunde gelegt wird. Hier wird (D) geht: Die Kosten für Strom sind um 23,8, für Gas um nicht auf die tatsächlich gezahlte Miete abgestellt, son- 30,3 und für Öl um 53,3 Prozent gestiegen. Das führt im dern es gelten Höchstbeträge, je nach Wohnungsstan- Extremfall dazu, dass die Betriebskosten die Kaltmiete dard, Baujahr und Wohnort, die im Wohngeldgesetz weit übersteigen und das Wohngeld damit seine Wirkung festgelegt sind. Der Wegfall der Differenzierung der vier komplett verfehlt. Baualtersklassen bringt für Wohngeldempfänger insbe- sondere in Altbauwohnungen einen spürbaren Vorteil. Es ist also einerseits zu loben, dass mit dem Entwurf Dagegen ist der Versuch, wohnungsbezogene Leistun- Erleichterungen und Vereinfachungen geschaffen wur- gen aufeinander abzustimmen, beim besten Willen nicht den, zum Beispiel durch den Wegfall der für die Höhe erkennbar. Im Gegensatz zu Haushalten, die Anspruch des Wohngeldes maßgeblichen Differenzierung in vier auf ALG II haben, bleiben bei Wohngeldempfängern die Baualtersklassen oder durch die Klarstellung wohnungs- Heizkosten völlig unberücksichtigt. Auch der jetzt vor- rechtlicher Begriffe sowie der Abgrenzung zu Transfer- gelegte Gesetzentwurf macht keinen Versuch, diese Ge- leistungen für ALG-II-Empfänger. Andererseits wird rechtigkeitslücke zu schließen. aber die tatsächliche Mietkostenentwicklung nicht be- rücksichtigt. Das entspricht nicht dem eigentlichen An- Seit Einführung der Hartz-Gesetze sank nach Anga- liegen des Wohngeldes. Der Koalitionsvertrag beschreibt ben des Städtetages die Zahl der Wohngeldbezieher von dieses Anliegen, indem er besagt, dass das Wohngeld der 2,3 Millionen um zwei Drittel auf rund 680 000 Men- sozialen Absicherung des Wohnens diene. Ich teile diese schen. Die Zahl der Geringverdiener, die als sogenannte Auffassung, finde im Entwurf aber keine entsprechende „Aufstocker“ Unterkunftskosten erhalten, stieg dagegen Umsetzung. Die Bundesregierung hat zwar im Wohn- zwischen September 2005 und März 2007 um 20 Pro- geld- und Mietenbericht 2006 sowie in einer Antwort auf zent auf inzwischen 1,15 Millionen. Damit Niedrigein- Fragen der Fraktionen der FDP, der Grünen und der Lin- kommensbezieher/innen nicht zu Bedürftigen nach dem ken durchaus richtig erkannt, dass die Belastungen für SGB II werden, fordern wir eine deutliche Erhöhung des Geringverdiener mit einem Wohngeldanspruch insbe- Wohngeldes um mindestens 15 Prozent sowie die Anhe- sondere durch die warmen Betriebskosten extrem gestie- bung der Einkommensgrenzen für Wohngeldbezieher/in- gen sind. Sie hat diese Erkenntnisse aber nicht in erfor- nen. Außerdem müssen Heizkosten und Warmwasser derlichem Maße in den hier vorliegenden Entwurf endlich im Wohngeld berücksichtigt werden. Hierzu einfließen lassen. Zum Beispiel macht allein der Wegfall befindet sich bereits ein Antrag meiner Fraktion im par- der Baualtersklassen eine Anhebung der Höchstbeträge lamentarischen Verfahren. Die Fortentwicklung des nicht entbehrlich. wohngeldrechtlichen Haushaltsbegriffs ist durchaus zu Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007 12347

(A) begrüßen, da so auch andere Haushaltsmitglieder als Fa- werden sie künftig mit in die Haftung genommen. Dies (C) milienangehörige in den Genuss von Wohngeld kommen widerspricht dem Geist dieser modernen Wohnformen, und veränderten Lebensformen Rechnung getragen in denen sich nicht familiär gebundene Individuen oft- wird. Allerdings führt die vorgeschlagene Formulierung mals nur aus Gründen der Zweckmäßigkeit zu einer auch nach Einschätzung des Bundesrates zu einer Wohngemeinschaft zusammenschließen. Dass es sich Schlechterstellung von Behinderten, die in einer Wohn- hierbei nicht um eine Randgruppe handelt, beweist eine gemeinschaft leben, gegenüber Behinderten als Be- Erhebung des Statistischen Bundesamtes: Hiernach le- wohner von Alten- und Pflegeheimen. Für Wohn- ben 10 Prozent aller Alleinstehenden – dies sind rund gemeinschaftsmitglieder und Verwaltung wird hoher 1,5 Millionen Personen – mit anderen Personen unter ei- zusätzlicher organisatorischer Aufwand durch notwen- nem Dach. dige wiederholte Antragsstellungen wegen Änderung des Gesamteinkommens bei Tod oder Auszug eines Die Strategie der Zerschlagung von modernen Wohn- Hausgemeinschaftsmitgliedes verursacht. Auch die hier- formen ist nicht neu. Schon beim Arbeitslosengeld II mit verbundene gesamtschuldnerische Haftung aller hatten SPD und CDU ab 1. August 2006 per „Fortent- Haushaltsmitglieder bei Wohngemeinschaften ist skep- wicklungsgesetz“ die Umkehr der Beweislast bei nicht- tisch zu sehen. eheähnlichen Lebensgemeinschaften eingeführt. Seither gilt immer schon dann die Vermutung der Bedarfsge- Zukünftig soll nur eine Person der Wohngemeinschaft meinschaft, wenn Partner länger als ein Jahr zusammen- Wohngeld für die Gruppe in Anspruch nehmen können, leben. In diesem Falle wird im SGB II das Vorliegen sofern sich die Gruppe gemeinsam versorgt. Nach § 4 einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ver- des Wohngeldgesetzentwurfs würde sich das Wohngeld mutet. Diese kann allerdings noch widerlegt werden. allerdings nach dem Gesamteinkommen aller Mitglieder Nach dem Willen der Bundesregierung soll das beim der Wohngemeinschaft richten, und bei der Berechnung Wohngeld nicht mehr möglich sein. Mit der geplanten des Wohngeldes wären sämtliche Haushaltsmitglieder zu Reform des Wohngeldes geht die Bundesregierung über berücksichtigen. Dadurch wären dann bei einer Erstat- das im SGB II geltende Prinzip der Verantwortungsge- tung von Wohngeld neben der wohngeldberechtigten meinschaft hinaus. Hier sollen bei der Berechnung des Person auch die anderen Haushaltsmitglieder als Ge- Wohngeldes auch die Personen mit ihrem Einkommen samtschuldner haftbar zu machen. Die Tragweite der er- als Haushaltsmitglied berücksichtigt werden, die mit ei- weiterten Rücküberweisung und Erstattung im Todesfall ner wohngeldberechtigten Person in einer „Wohn- und kann auf die Schnelle nicht abgeschätzt werden. Hier ist Wirtschaftsgemeinschaft“ leben. Hierdurch verfehlt die Sorge zu tragen, dass die überlebenden Haushaltsmit- Bundesregierung nicht nur ihr selbst gesetztes Ziel der glieder nicht in eine finanziell prekäre Situation geraten. Harmonisierung mit den Regelungen im SGB II. Sie er- (B) (D) Aus Sicht meiner Fraktion verbleiben zu viele Kritik- weitert auch den Kreis der mit ihrem Einkommen zu be- punkte und Änderungsbedarfe, als dass dieser Gesetz- rücksichtigenden Personen um Wohngemeinschaften, entwurf still und leise, bei Nacht und Nebel, durch das bei denen kein wechselseitiger Wille besteht, Verantwor- Parlament gehen könnte. Daher wird in der Fraktion Die tung füreinander zu tragen. Linke die Ansetzung einer Anhörung zum Wohn- geldrecht prüfen und setzt dabei auf breite parlamentari- Die erwarteten Kosteneinsparungen durch nicht ge- sche Unterstützung. zahltes Wohngeld werden eher kurzfristiger Natur sein. Denn Personen mit keinem oder nur geringem Einkom- men werden faktisch genötigt, in Einzelwohnungen zu Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die ziehen, um an Transferzahlungen zu gelangen. Dies Bundesregierung setzt mit dem vorliegenden Gesetzent- dürfte unter dem Strich, in der Regel teurer für Bund, wurf unter dem Deckmantel der Verwaltungsvereinfa- Länder und Kommunen sein. Außerdem wird der Bedarf chung konsequent ihre Politik gegen moderne Wohn- an Wohnungen für Einzelhaushalte steigen und einen und Lebensformen fort. Quasi in einer Nacht- und Nebel- Preisanstieg auf diesem Teilmarkt zur Folge haben, was aktion erscheint kurzfristig auf Drängen der Koalition sich mittelfristig wiederum negativ auf die Kosten für ein Gesetz auf der Tagesordnung, das in der Konsequenz Transferleistungen auswirkt. Menschen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Wohngemeinschaften nötigt, eine vergleichsweise teu- Der Gesetzesentwurf sieht keine Erhöhung des Wohn- rere Einzelwohnung zu beziehen, sofern sie aufgrund ih- geldes vor. Seit der letzten Erhöhung zum 1. Januar 2001 rer Einkommenssituation Wohngeld in Anspruch neh- sind in vielen Regionen Deutschlands die Mieten und men müssen. Nebenkosten gestiegen. Wenn das Wohngeldgesetz wei- terhin seine Funktion der wirtschaftlichen Sicherung an- Künftig sollen für die Wohngeldberechnung nicht gemessenen Wohnens behalten soll, ist eine Anpassung mehr die zum Haushalt zählenden Familienmitglieder, an die gegebene Kostenentwicklung unerlässlich. Zu- sondern alle „Haushaltsmitglieder“ herangezogen wer- dem verpasst die Bundesregierung mit ihrer Initiative die den. Wohn-und Wirtschaftsgemeinschaften sollen per Chance, die aufgetretenen Fehlentwicklungen im Bezug definitionem zu dieser gehören. Zukünftig werden alle von Arbeitslosengeld II zu korrigieren. Die Zahl der so- Wohngemeinschaften von der Alten-WG, der Studenten- genannten Aufstocker ist seit Einführung des Arbeits- WG bis zur Berufstätigen-WG bei neuen Mitbewohnern losengeldes II kontinuierlich gestiegen. Heute beziehen deren Einkommen prüfen müssen. Bei nicht abschätzba- rund 1,1 Millionen Erwerbstätige zusätzlich zu ihrem ren Armutsrisiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit Erwerbseinkommen Arbeitlosengeld II. Davon erhalten 12348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 118. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. Oktober 2007

(A) aufgrund der Entwicklungen im Niedriglohnsektor rund Vollzugsschwierigkeiten, insbesondere mit dem Arbeits- (C) 275 000 Bedarfsgemeinschaften ausschließlich Kosten losengeld II. Das Wohngeldrecht soll deshalb weiter ver- der Unterkunft, die zum Großteil von den Kommunen fi- einfacht werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf er- nanziert werden. Bündnis 90/Die Grünen fordern die füllen wir den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag, das Bundesregierung auf, durch eine konsequente Auswei- Wohngeldrecht mit dem Ziel einer deutlichen Vereinfa- tung von Mindestlöhnen und eine längst fällige Anpas- chung zu überprüfen. sung der Wohngeldhöhe gegenzusteuern, damit das Lassen Sie mich zwei Beispiele für die Vereinfachungen Wohngeld wieder als vorrangiges Sicherungssystem fun- nennen: Die bisherige Unterteilung in vier Baualtersklassen gieren kann. soll abgeschafft werden. Für alle Gebäude sollen statt- dessen künftig einheitliche Höchstbeträge für die be- Karin Roth, Parl. Staatssekretärin beim Bundesmi- rücksichtigungsfähige Miete oder Belastung gelten. Da- nister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das durch werden Mieter und Vermieter entlastet, weil sie Wohngeld ist ein bewährtes Instrument unserer sozialen das Jahr der Bezugsfertigkeit und die Ausstattung des Wohnungspolitik. Es unterstützt einkommensschwache Gebäudes nicht mehr mitteilen müssen. Die entspre- Haushalte dabei, sich am Wohnungsmarkt mit angemes- chenden Informationspflichten fallen also weg. Diese senem und familiengerechtem Wohnraum zu versorgen. Vereinfachung baut aber nicht nur für Bürger und Wohn- Durch die letzte große Reform im Wohngeld und das geldstellen spürbar Bürokratie ab. Sie hat gleichzeitig Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits- auch höhere Wohngeldleistungen für viele Haushalte zur markt, wurden Transferleistungsempfänger vom Wohn- Folge und ist für uns deshalb ein ganz zentrales Element geld ausgeschlossen. Deren angemessene Kosten der der Novelle. Viele der Haushalte mit einer Baualtersklasse Unterkunft einschließlich der Heizkosten werden seit vor 1992 – das waren im Jahr 2005 circa 74 Prozent aller 2005 bei der jeweiligen Transferleistung berücksichtigt. Wohngeldhaushalte – werden bessergestellt, weil auch In der Umsetzung zeigten sich an einigen Schnittstellen für sie künftig allein die höchste Baualtersklasse gelten des Wohngeldgesetzes mit den Transferleistungsgesetzen soll.

(B) (D)

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