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ZfP Zeitschrift für Politik 4/2008 Organ der Hochschule für Politik München 55. Jahrgang (Neue Folge) Gegründet im Jahre 1907 durch Adolf Grabowsky und Richard Schmidt Seite 385–504

Herausgeber: Prof. Dr. Maurizio Bach, Universität Passau; Prof. Dr. Franz Knöpfle, Univer- sität Augsburg; Prof. Dr. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Universität München; Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Oberreuter, Universität Passau; Prof. Dr. Dr. Sabine von Schorlemer, Technische Universität Dresden; Prof. Dr. Theo Stammen, Universität Augsburg; Prof. Dr. Roland Sturm, Universität Erlangen-Nürnberg; Prof. Dr. Hans Wagner, Universität München; Prof. Dr. Andreas Wirsching, Universität Augsburg; Prof. Dr. Wulfdiether Zippel, Technische Univer- sität München; Redaktion: Dr. Andreas Vierecke, Hochschule für Politik München Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Ulrich Beck; Prof. Dr. Alain Besançon; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Karl Dietrich Bracher; Prof. Dr. Dr. h.c. Werner Gumpel; Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle; Prof. Dr. Wilhelm Hennis; Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg; Prof. Dr. Dr. h.c. Gottfried-Karl Kindermann; Prof. Dr. Leszek Kolakowski; Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Lübbe; Prof. Dr. Harvey C. Mansfield; Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin; Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Oberndörfer; Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Jürgen Papier; Prof. Dr. Roberto Racinaro; Prof. Dr. Hans Heinrich Rupp; Prof. Dr. Charles Taylor

Inhalt Daniel Naujoks Macht und Identität. Eine Diskursanalyse zur doppelten Staatsbürgerschaft...... 387

Zum Thema: Interventionismus Paul Ludwig Weinacht Eroberungskrieg und Propaganda der Verteidigung Recht – Diskreditierung – Verbot ...... 413 Peter Wittig Deutschland als aktive Friedensmacht Plädoyer für die Unterstützung des UNO-Peacekeeping ...... 435 Marc Saxer Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts...... 444

Zum 125. Todestag von Karl Marx Julian Nida-Rümelin Karl Marx: Ethischer Humanist – Politischer Anti-Humanist? Zum 125. Todestag eines philosophischen Denkers und politischen Programmatikers ...... 462

Literaturbericht Richard Albrecht Armenozid – Genozid, Gruppen-, Kollektiv- und Völkermord(en)...... 471

Buchbesprechungen mit Verzeichnis...... 489

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Autoren dieses Heftes Richard Albrecht, PhD, Dr. rer. pol. habil., Autor und Redakteur von rechtskulturell.de Daniel Naujoks, Rechtsanwalt in Berlin und Doktorand an der Universität Münster Peter Wittig, Dr., Leiter der Abteilung für Vereinte Nationen und Globale Fragen im Auswärtigen Amt in Berlin Marc Saxer, M.A. (jur.), M.A. (pol. sc.), Leiter der Forschungsgruppe Globale Sicherheit der Abteilung Entwicklungspolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung Julian Nida-Rümelin, Dr. phil., Staatsminister a. D., Professor für Politische Philosophie und Theorie am Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Hinweise für Autoren Die im Jahre 1907 begründete ZfP veröffent- licht neueste Forschungsergebnisse und Ana- lysen (theoretische und empirische Beiträge) aus dem gesamten Spektrum der Politikwis- senschaft. Um einen hohen Qualitätsstandard Redaktion: Dr. Andreas Vierecke, Hochschule für Politik, zu gewährleisten unterliegen die Manuskripte Ludwigstraße 8, 80539 München. einem strikten Begutachtungsverfahren nach internationalen Standards. Dies bedeutet u. a., Internet: www.nomos-zeitschriften.de/zfp.html E-Mail: [email protected] dass unaufgefordert eingereichte Manuskripte von mindestens zwei Experten anonym be- Verlag: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Post- gutachtet werden. Die Manuskripte sollen der fach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04-0, ZfP-Redaktion deshalb in digitaler Form (vor- Telefax 0 72 21 / 21 04-43. zugsweise per E-Mail) in zweifacher Ausfüh- Nachdruck und Vervielfältigung: Die Zeitschrift und alle in rung eingereicht werden, von denen eine ihr enthaltenen einzelnen Beiträge sind urheberrechtlich vollständig zu anonymisieren ist, d. h. dass geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des diese keinerlei Hinweise enthalten darf, die auf Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages die Identität des Verfassers schließen lassen; unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Über- setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und dies gilt auch für Verweise im Manuskript auf Verarbeitung in elektronischen Systemen. andere Veröffentlichungen des Verfassers. Zur Veröffentlichung kommen ausschließlich Ori- Bezugsbedingungen: Die Zeitschrift erscheint viermal im ginalaufsätze, die noch in keinem anderen Jahr. Jahrespreis 84,– € für Printerfassung oder Online- Zugang, 99,– € für Printerfassung und Online-Zugang, 149,– Publikationsorgan veröffentlicht worden sind € für Bibliotheken, Einzelheft 22,– €, für Studenten und Refe- und für die Dauer des Begutachtungsverfah- rendare (unter Einsendung eines Studiennachweises) 58,– €. rens auch keiner anderen Zeitschrift zum Die Preise verstehen sich incl. MwSt. zzgl. Versandkosten. Abdruck angeboten werden. Kündigung nur vierteljährlich zum Jahresende. Außerhalb des Abonnements erscheinende Sonderbände gehen den Abon- Ein Merkblatt mit Hinweisen zur Manus- nenten ohne Abnahmeverpflichtung unaufgefordert zur kriptgestaltung kann bei der Redaktion ange- Ansicht zu. fordert oder unter der Rubrik Redaktion von der Internetseite der ZfP (www.zeitschrift- Haftungsausschluss: Der Verlag, die Redaktion, die Heraus- geber und die Hochschule für Politik übernehmen keine Ver- fuer-politik.de) heruntergeladen werden. antwortung für etwaige Fehler oder für irgendwelche Folgen, die sich aus der Nutzung der in dieser Zeitschrift enthaltenden Informationen ergeben. Die von den jeweiligen Autoren zum Ausdruck gebrachten Standpunkte und Ansichten entsprechen nicht notwendigerweise denjenigen der Hochschule für Poli- tik, der Herausgeber, der Redaktion oder des Verlages. Anzeigen: sales_friendly, Verlagsdienstleistungen, Bettina Roos, Siegburger Straße 123, 53229 Bonn, Telefon 02 28 / 9 78 98-0, Tele- fax 02 28 / 9 78 98-20, E-Mail: [email protected]. Druckerei: NOMOS Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Postfach 100 310, 76484 Baden-Baden, Telefon 0 72 21 / 21 04- 24, Telefax 0 72 21 / 21 04-79 ISSN 0044-3360 02_Naujoks Seite 387 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

Daniel Naujoks Macht und Identität. Eine Diskursanalyse zur doppelten Staatsbürgerschaft1

In regelmäßigen Abständen erscheint in Deutschland die Frage der Zulässigkeit, Wünschbarkeit und Vermeidbarkeit der doppelten Staatsbürgerschaft2 auf der poli- tischen Agenda. Die damit verbundenen Debatten sind dabei kein isolierter Gegen- stand. In der Diskussion geht es zugleich um Vorstellungen und Ideen von Staats- bürgerschaft und Einbürgerung als ethnische und politische Grenzziehung, um das Verhältnis zu dauerhaft im Land lebenden Menschen anderer Herkunft und deren Einbindung in das Gesellschaftssystem und damit um elementare Begriffe des All- gemeinwesens, der Definition des Staates und der Gesellschaft selbst. Wie der vor- liegende Beitrag zeigen wird, sind Debatten zur doppelten Staatsangehörigkeit da- bei als Fragen der gesellschaftlichen Inklusion und Exklusion eng mit Fragen von Macht und Identität der Mehrheitsgesellschaft verwoben. Drei aktuelle Anlässe geben zudem Anstoß, erneut über dieses Thema nachzu- denken. Zum Ersten treten seit Januar 2008 die ersten Folgen des sog. Optionsmo- dells zu Tage. Nachdem bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 darauf verzichtet wurde, die doppelte Staatsbürgerschaft anzuerkennen, wurde le- diglich eine beschränkte ius soli Regelung eingeführt. Hiernach erhalten in Deutsch- land geborene Kinder bis zur Vollendung ihres 23. Lebensjahrs die doppelte Staats- angehörigkeit3 und müssen sich erst bis zu diesem Zeitpunkt für den Pass ihrer Eltern oder ihres Geburtslandes entscheiden. Kinder, die im Januar 2000 noch nicht zehn Jahre alt waren, konnten sich auf Antrag ebenfalls allein aufgrund ihrer Geburt auf deutschem Boden einbürgern lassen. Seit Januar 2008 können, ab Januar 2013 müssen die ersten dieser jungen Erwachsenen die Wahl zwischen zwei Staatsange- hörigkeiten treffen.4 Dabei sind diese jungen Deutschen nur die Spitze des Eisberges

1 Ich danke Dietrich Thränhardt und Uwe Hunger für wertvolle Kommentare bezüglich der Entwurfsfassung dieses Artikels. 2 In diesem Beitrag werden die Begriffe Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit syno- nym benutzt. 3 Auch dies gilt jedoch nur, wenn zumindest ein Elternteil bereits seit 8 Jahren rechtmä- ßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte; für EU-Angehörige reicht der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis-EU oder eine Niederlassungserlaubnis (§ 4 Abs. 3 StAG). 4 Denn ab der Vollendung des 18. Lebensjahres können, bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres müssen die Betroffenen eine solche Optionsentscheidung treffen. Fast 50.000 Einbürgerungen von in Deutschland geborenen Kindern, die im Januar 2000 noch nicht zehn Jahre alt waren, gab es zwischen 2000 und 2007. In 93 Prozent der Fälle bestand die bisherige Staatsangehörigkeit fort (Statistisches Bundesamt, Einbürgerungs- statistik, Einbürgerungen nach § 40 b, 2007).

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derjenigen, bei denen sich die Frage nach Pass und nationaler Identität stellt. Wenn- gleich die Einbürgerungszahlen 2006 nach einigen Jahren erstmals wieder gestiegen sind, lebten zu Jahresbeginn 2007 6,8 Mio. Menschen in Deutschland, die zwar im Land geboren wurden, die aber keinen deutschen Pass besitzen; 5,7 Mio. von ihnen waren über achtzehn Jahre alt. Über eine Million Menschen ausländischer Staats- bürgerschaft lebt seit über 25 Jahre in Deutschland, mehr als eine halbe Million be- reits seit über 35 Jahren.5 Zum Zweiten machte 2005 Schlagzeilen, dass eine große Anzahl eingebürgerter Türken ebenfalls die Rückerlangung der türkischen Staatsangehörigkeit beantragt und hierdurch automatisch ihren deutschen Pass verloren hatten, wie es das seit 2000 geltende Staatsangehörigkeitsrecht vorsieht.6 Der dritte Aktualitätsbezug der doppelten Staatsbürgerschaft besteht darin, dass im August 2007 die Hinnahme der Mehrstaatigkeit von EU-Ausländern generell akzeptiert worden ist. Das zuvor geltende Gegenseitigkeitsprinzip, nach dem die doppelte Staatsangehörigkeit toleriert wurde, sofern das Herkunftsland der Migran- ten diese ebenfalls für deutsche Einwanderer zuließ (§ 12 Abs. 2 StAG alte Fassung) wurde aufgehoben, so dass nunmehr jeder EU-Bürger, der in Deutschland einge- bürgert wird, seine alte Staatsangehörigkeit behalten kann.7 Auch im Übrigen wäre die Behauptung unzutreffend, Doppelstaatler gäbe es in Deutschland nur in Einzelfällen. Abgesehen von den oben genannten Konstellatio- nen und Fällen, in denen Kinder aus binationalen Ehen hervorgehen und somit nach dem Abstammungsprinzip ohnehin beide Staatsangehörigkeiten erhalten8, wurde von der halben Million Menschen, die in den Jahren 2003 bis 2006 die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten haben, in beinahe der Hälfte der Fälle (45,4 Prozent) die Beibehaltung der bisherigen Staatsbürgerschaft gestattet - Tendenz steigend.9 Diese Entwicklungen und die gleichwohl existierenden Vorbehalte gegen die grundsätzliche Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft geben Anstoß, die Für und Wider dieses Konzepts und seiner Auswirkungen zu erörtern. Auf der Grund-

5 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit, Einbürgerungen 2006, Fachserie 1 Reihe 2.1, Wiesbaden 2007. 6 Das Bundesverfassungsgericht (Entscheidung vom 8. Dezember 2006, 2 BvR 1339/06) hat die Wirksamkeit des Verlustes auch für die Grenzfälle bestätigt, in denen der Antrag auf Einbürgerung bereits vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes erfolgt war, die Rückein- bürgerung in der Türkei aber erst nach diesem Zeitpunkt erfolgte. 7 Vgl. Art. 5 Nr. 9 lit. b) des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, in Kraft getreten am 28.08.2007, Bundesgesetzblatt 2007, Teil I, Nr. 42. Dabei kann das Recht des Herkunftslandes nach wie vor der doppelten Staatsbürgerschaft entgegenstehen, wie dies bei Österreich und Belgien der Fall ist. Schon in den Jahren 2005-2006 betrug der Anteil von Doppelstaa- tern unter eingebürgerten EU-Ausländern über 91 Prozent. In der Fachserie 1, Reihe 2.1, Tabelle 11 weist das Statistische Bundesamt die Fälle der Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft aus. 8 Gemäß dem Mikrozensus 2005 bestehen in Deutschland allein 1,3 Mio. Ehen, bei denen nur ein Ehepartner die deutsche Staatsagehörigkeit besitzt. 9 Gemäß § 12 StAG ist dies rechtlich möglich, wenn das Herkunftsland ein Ausscheiden nicht ermöglicht oder andere Unzumutbarkeiten bestehen. 02_Naujoks Seite 389 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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lage der Presseberichterstattung seit 1998, den im Deutschen geführten Debatten und wissenschaftlichen Veröffentlichungen werden im ersten Teil dieses Beitrags zunächst klassische Einwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vorge- stellt und kommentiert, bevor im zweiten und dritten Teil Thesen für eine Auf- schlüsselung der Diskussion an diskurstheoretischen Gesichtspunkten aufgestellt werden. Der Beitrag wird deren tatsächliche Grundlage beleuchten und mit einem Plädoyer für Inklusion schließen.

I. Klassische Einwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft

Die klassischen Argumente gegen die Anerkennung der doppelten Staatsbürger- schaft lassen sich in drei Gruppen einordnen. Die erste Gruppe betrifft die (völ- ker)rechtliche Zulässigkeit. Diese ist nicht Gegenstand der vorliegenden Unter- suchung; es besteht jedoch mittlerweile Einigkeit darin, dass das allgemeine Völkerrecht der Anerkennung ebenso wenig im Wege steht wie das Völkervertrags- recht.10 Eine weitere Gruppe von Argumenten bezieht sich auf technische Schwie- rigkeiten und die dritte Gruppe enthält sozio-politische Einwände gegen das Kon- zept der doppelten Staatsbürgerschaft an sich.

1. Technische Einwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft

Technische Bedenken gegen Mehrstaatigkeit beruhen in erster Linie auf Konflik- ten von Wehr- und Steuerpflichten, dem anwendbaren Recht und Verwirrungen hinsichtlich diplomatischer Schutzrechte.

(a) Doppelte Wehrpflicht

Der historisch bereits früh diskutierte Kritikpunkt der doppelten Staatsbürger- schaft, der die die Gefahr doppelter Verpflichtungen zur Ableistung des Wehrdiens- tes betrifft, steht heute kaum noch im Mittelpunkt der Diskussion. Dies liegt zum einen daran, dass ein staatenübergreifender Trend erkennbar ist, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen.11 Zum anderen bestehen zahlreiche multi- wie bilaterale Abkommen, die diese Frage regeln.12 Auch die Bundesregierung gibt an, die Wahl

10 Kay Hailbronner, Einbürgerung von Wanderarbeitern und doppelte Staatsangehörig- keit, Baden-Baden 1992, S. 16; Europarat, Expertenkommittee zur Staatsangehörigkeit, Report on Multiple Nationality, CJ-NA (2000), S. 9. 11 Stephen H. Legomsky, »Dual Nationality and Military Service: Strategy number two« in: David A. Martin und Kay Hailbronner (Hg.), Rights and Duties of Dual Nationals – Evolution and Prospects, Den Haag 2003, S. 90. 12 Legomsky (Dual Nationality and Military Service, aaO. (FN 11), S. 125 ff.) listet inter- nationale Abkommen hierzu auf, nach denen doppelte Staatsbürger entweder das freie Wahlrecht haben, wo sie ihrer Wehrpflicht nachkommen werden, oder den Militär- dienst im Land ihres regelmäßigen Aufenthalts zu verrichten haben.

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zwischen deutscher und türkischer Wehrpflicht funktioniere zwischen den beiden Ländern und führe zu keinen Komplikationen.13

(b) Staatsbürgerschaft als Grundlage des anwendbaren Rechts

Die Staatsangehörigkeit ist ein Kriterium, das herangezogen werden kann, um zu bestimmen welches nationale Recht anwendbar ist, insbesondere auf dem Gebiet des Familien- und Erbrechts. Nach internationalem Privatrecht – d. h. dem jeweili- gen nationalen Recht, das entscheidet, welches Recht Anwendung findet – ist je- doch nach dem Prinzip der effektiven Staatsbürgerschaft das Recht desjenigen Lan- des anwendbar, zu dem die Betroffenen eine effektive Bindung, d. h. in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.14 In Deutschland regelt Art. 5 Abs. 1, S. 1 EGBGB diesen Fall, weshalb deutsche Gerichte diesem Umstand stets weniger Ge- wicht beimessen.15

(c) Mögliche Doppel-Besteuerung von Doppelstaatern

Ein Staat kann seine Staatsangehörigen ungeachtet ihres Aufenthaltsortes besteu- ern. Regelmäßig müssen Personen im Land ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ihrer Steuerpflicht nachkommen. Hieraus ergibt sich offensichtlich die Gefahr einer Doppelbesteuerung. Diese ist jedoch weitgehend unbedeutend.16 Zum einen besteu- ern nur sehr wenige Staaten ihre Staatsangehörigen im Ausland; zum anderen beste- hen zahlreiche bi- und multilaterale Abkommen, die derartige Doppelbesteuerun- gen ausschließen.17

(d) Diplomatischer Schutz für Mehrstaater

Ein weiterer technischer Einwand bezieht sich auf die Geltendmachung diploma- tischen Schutzes, nach dem ein Staat berechtigt ist, seine Staatsbürger zu schützen, wenn diese von anderen Staaten völkerrechtswidrig verletzt werden. Im Falle von doppelten Staatsangehörigen könnte einerseits Streit darüber entstehen, welchem Staat das Schutzrecht zusteht. Andererseits könnte es zu Konflikten kommen, wenn

13 Vgl. BT-Ds.14/9828. 14 Europarat aaO. (FN 10), S. 15; Kay Hailbronner, »Rights and Duties of Dual Nationals: Changing Concepts and Attitudes« in: David A. Martin / Kay Hailbronner (Hg.), Rights and Duties of Dual Nationals – Evolution and Prospects, Den Haag 2003, S. 26; Rainer Bauböck, Citizenship Policies: international, state, migrant and democratic pers- pectives, Global Migration Perspectives No. 19 (2005), S. 8. 15 Kay Hailbronner / Günter Renner, Staatsangehörigkeitsrecht, 4. Auflage, München 2005, RN 76. 16 Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), S. 8. 17 Alexander T. Aleinikoff / Douglas Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migra- tion, Washington, DC 2002, S. 35; Hailbronner, Rights and Duties of Dual Nationals, aaO. (FN 14), S. 26. 02_Naujoks Seite 391 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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ein Staat zugunsten seiner Staatsangehörigen in dem Staat interveniert, dessen Staatsangehörigkeit sie ebenfalls besitzen. Abgesehen davon, dass Staaten in der Regel nicht um das diplomatische Tätigwerden wetteifern, entschied der Internationale Gerichtshof bereits 1955, dass zur Ausübung diplomatischen Schutzes neben der formalen Zugehörigkeit ein ›genuine link‹ vorhan- den sein müsse.18 Sofern diese genuine Verbindung zu beiden Staaten besteht, ist der Staat des gewöhnlichen Aufenthaltes zur Wahrnehmung der Interessen berechtigt.19 Die zweite Frage war noch vor einhundert Jahren ein entscheidender Beweg- grund, gegen die doppelte Staatsbürgerschaft vorzugehen.20 Nach den seit 1930 ge- schlossen internationalen Abkommen und der Rechtsprechung internationaler Tri- bunale können diplomatische Schutzrechte nicht gegenüber dem anderen Staat geltend gemacht werden, dessen Staatsangehörigkeit die Betroffenen ebenfalls besit- zen.21 Auch die Erfahrung zeigt den geringen Gehalt dieses Einwands. Denn die weltweit existierenden Millionen von Doppelstaatlern haben bisher zu keinen inter- nationalen Spannungen in dieser Hinsicht geführt.22

2. Sozio-politische Einwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft

Es sollen hier vier sozio-politische Argumente gegen die doppelte Staatsbürger- schaft aufgegriffen werden, die sich gegen die doppelte Zugehörigkeit an sich bzw. gegen ihre möglichen Auswirkungen richten. Der erste Einwand betrifft das ›unge-

18 Internationaler Gerichtshof, Nottebohm Entscheidung (Liechtenstein vs. Guatemala) in: ICJ Report 23 (1955), S. 20 ff. 19 Dies sehen Art. 5 der Haager Konvention über gewisse Fragen beim Konflikt von Staatsangehörigkeitsgesetzen vom 12.04.1930 sowie zwölf spanisch-lateinamerikanische Abkommen vor, vgl. Aurelia Alvarez Rodríguez, Nacionalidad y Emigración, Madrid 1990, S. 129 ff. Ebenfalls: Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 17), S. 34; Hailbronner, Rights and Duties of Dual Nationals, aaO. (FN 14), S. 21 f.; David A. Martin, »Introduction: the Trend toward Dual Nationality« in: ders. / Kay Hailbronner (Hg.), Rights and Duties of Dual Nationals – Evolution and Prospects, Den Haag 2003, S. 15. 20 Dies war insbesondere für ein Einwanderungsland wie die USA, deren Bevölkerung in Zeiten der Masseneinwanderung zu großen Teilen aus Staatsangehörigen der Ursprungsstaaten bestand, ein Quell der Sorge. Es wurde befürchtet, die anderen Staa- ten könnten zugunsten ihrer Staatsbürger in den USA intervenieren, vgl. Alvarez Rod- ríguez, Nacionalidad y Emigración, aaO. (FN 19), S. 87. 21 So Art. 4 der Haager Konvention und die in FN 19 erwähnten spanisch-lateinamerika- nischen Abkommen. Auch das Iran-U.S.-Claims Tribunal hat eine derartige Spruchpra- xis angenommen, siehe Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 17), S. 34. Im Übrigen ebenfalls: Alvarez Rodríguez, Nacionalidad y Emigración, aaO. (FN 19), S. 142; Martin, The Trend toward Dual Nationality, aaO. (FN 19), S. 15). Andererseits wird auch die Auffassung vertreten, dass das Land der ›effektiven Staatsbürgerschaft‹ allen anderen Staaten gegenüber zur Geltendmachung diplomatischen Schutzes berechtigt sein soll, vgl. Hailbronner, Rights and Duties of Dual Nationals, aaO. (FN 14), S. 22, mit weiteren Nachweisen. 22 Auch das Auswärtige Amt gab im Bundestag an, es bestünden keine Schwierigkeiten bei der konsularischen Betreuung von doppelten Staatsangehörigen (Plenarprotokoll 14/24 vom 3. März 1999, S. 1894).

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rechte‹ doppelte Wahlrecht, der zweite die doppelte Staatsbürgerschaft als Integrati- onshemmnis. Der dritte Einwand befürchtet eine Entwertung der Staatsbürger- schaft und der letzte hält eine doppelte Loyalität aus ideologisch-konzeptionellen Gründen für unvereinbar mit staatsbürgerlichen Pflichten.

(a) Das ›ungerechte‹ doppelte Wahlrecht

In beinahe allen Staaten wird das Wahlrecht anhand der Staatsbürgerschaft verlie- hen. Einige Kommentatoren stellen deshalb als Kritik fest, dass Menschen mit zwei Staatsbürgerschaften auch in zwei Ländern wählen könnten. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass die Auslandswahlbeteiligung in der Regel niedrig ist.23 Viele weniger entwickelte Herkunftsländer haben überdies oft weder Briefwahlsysteme etabliert, noch verfügen sie über eine ausreichende diplomatische Vertretung in Deutschland, die Wahlen durchführen könnte. Einige Länder, z. B. Indien, gewähren ihren Staatsbürgern im Ausland überhaupt kein Wahlrecht. Auch auf der rein theoretischen Ebene ist dieser Einwand indes wenig überzeu- gend. Zunächst wird vorgebracht, das Prinzip der Gleichheit der Bürger sei beein- trächtigt, wenn doppelte Staatsbürger doppelt, einfache Staatsbürger jedoch nur einfach wählen könnten.24 Dem kann jedoch entgegen gehalten werden, dass der Be- zugsrahmen des Prinzips der Wahlgleichheit der einzelne Staat ist.25 Für rechtliche und formelle Gleichheit bedeutet dies, dass Bürger von demselben Hoheitsträger gleich behandelt werden sollen. Keine Anti-Diskriminierungsnorm im nationalen oder internationalen Recht verlangt die Gleichbehandlung durch verschiedene, un- abhängige Staaten. Verfechter dieses Argumentes verkennen überdies, dass eine Gleichheitsgarantie niemals volle Gleichheit gewährt. Wir finden zahlreiche unter- schiedliche Behandlungen von Bürgern, die vollkommen unumstritten sind, da wir sie als gerechtfertigt ansehen. Hinsichtlich der doppelten Wahlrechte von doppelten Staatsbürgern ist die Rechtfertigung offensichtlich: Anders als einfache Staatsbürger in beiden Ländern sind sie durch beide Kulturkreise geprägt, in beiden Sphären ver-

23 David A. Martin, »New Rules for Dual Nationality« in: Randall Hansen / Patrick Weil (Hg.) Dual Nationality, Social Rights and Federal Citizenship in the U.S. and Europe: The Reinvention of Citizenship, New York 2002, S. 52. 24 Roland Koch (»Der Wille zur Integration ist nötig« in: Die Welt vom 15. Januar 1999) schreibt exemplarisch: »Warum sollen Mitbürger ausländischer Herkunft über die Poli- tik in Deutschland mitbestimmen, während Deutsche im Ausland kein Wahlrecht haben?... wir wollen keine Bürger erster und zweiter Klasse – solche mit mehr und sol- che mit weniger Rechten. Über vier Millionen Menschen hätten …Anspruch auf die »doppelte Staatsbürgerschaft«. 80 Millionen Deutsche hätten diese Möglichkeit nicht.« Der Staatsrechtler Joseph Isensee sieht in einem Interview mit Die Welt vom 6. Januar 1999 »Das Ergebnis der doppelten Staatsbürgerschaft wäre die Spaltung in ein Zwei- Klassen-Volk: die Nur-Deutschen und die Auch-Deutschen.« Ähnlich auch Detlef Kleinert, »Klarstellung in Hessen: Deutschland ist kein Einwanderungsland« in: Epoche 139 (1999). 25 So auch Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 17), S. 31. 02_Naujoks Seite 393 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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wurzelt und gehören beiden Gesellschaften an.26 Auch die demokratische Rechtfer- tigung fällt nicht schwer. Ein demokratischer Staat kann als ein territorialer Zusam- menschluss von einer Gruppe von Individuen verstanden werden, die in demokratischen Wahlen über ihr Schicksal entscheidet.27 Wenn diese Gruppe der Ansicht ist, dass auch die auswärtigen Gruppenmitglieder zur Gemeinschaft dazu gehören und dass Wahlen auch deren Meinung zum Ausdruck bringen sollen, gibt es keine überzeugenden Bedenken, die vom Aufenthaltsstaat der Migranten hierge- gen vorgebracht werden können. Neben der bereits eingangs beschriebenen geringen Wahrscheinlichkeit, dass Doppelwahlrechte tatsächlich ausgeübt werden, können Bedenken in dieser Hin- sicht durch die Abschaffung des Auslandswahlrechts oder durch die Einführung ei- nes ›inaktiven Staatsbürgerschaftsstatus‹ ausgeräumt werden. Das Konzept der in- aktiven Staatsbürgerschaft, nach dem die doppelten Staatsangehörigen im Land ihres gewöhnlichen Aufenthaltes volle und unbeschränkte Rechte genießen, wäh- rend sie in dem Land, in dem sie nicht leben, eine Art ›Rumpf-Staatsbürgschaft‹ be- sitzen, wurde beispielsweise zwischen Spanien und zahlreichen lateinamerikani- schen Ländern vereinbart.28

(b) Integration

Ein bedeutender Einwand gegen die doppelte Staatsangehörigkeit besteht darin, dass angenommen wird, sie behindere die Integration der Doppelstaatler, denn sie verhindere, dass sich die Einwanderer ganz mit dem Gastland identifizierten.29 Dabei spricht die Anerkennung der doppelten Staatsangehörigkeit nicht dagegen, einen gewissen Integrationsstand als Einbürgerungsvoraussetzung zu verlangen. Staaten können solche Personen von der Erlangung der Staatsbürgerschaft aus- schließen, die ihre Werte und Kultur nicht annehmen wollen.30 Dies ist eine Frage

26 Daniel Naujoks, Turning Brain Drain into Brain Circulation – Can Dual Nationality be a key factor?, Background Paper, International Institute for Labour Studies, Genf 2004, S. 21; Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), S. 17. 27 William A. Barbieri, Ethics of Citizenship – Immigration and Group Rights in , Durham, NC 1998. 28 Für Details zu diesen Abkommen siehe Alvarez Rodríguez, Nacionalidad y Emigra- ción, aaO. (FN 19), S. 129 ff. 29 Günther Beckstein (zitiert in Die Welt vom 4. August 2002): »Der Doppelpass ist inte- grationsfeindlich. Ein neuer Staatsbürger muss sich voll zu seiner neuen Heimat beken- nen.« Jörg Schönbohm schreibt in Die Welt vom 28. August 1998: »Im größeren Maße gewährt, würde die Verleihung doppelter Staatsangehörigkeiten gerade zu einem Inte- grationshindernis. Denn Integration (=Eingliederung) heißt, dass man die Landesspra- che beherrscht, sich zu dem Land, seiner Rechtsordnung bekennt und sich auch gegenüber seiner Geschichte und Kultur öffnet.« 30 Insofern sind im Rahmen dieser Diskussion Argumente Fehl am Platz, die Einbürge- rung am Ende des Integrationsprozesses und nicht als dessen Anfang fordern (dies ver- langend: Günther Beckstein, »Interview: Deutsche Identität und Rechtstradition bewahren« in: Epoche 139 (1999).

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der Einbürgerungsvoraussetzungen, die seit 2007 in Deutschland ebenfalls Kennt- nisse des deutschen Gesellschaftssystems und der deutschen Sprache umfassen.31 Auch sind keine empirischen Untersuchungen bekannt, nach denen die doppelte Staatsbürgerschaft eine einmal bestehende Integration erodieren und damit nach der Einbürgerung den Zugehörigkeitsstatus unterminieren würde. Es bestehen keine empirischen Erkenntnisse, die die sozial-psychologische Ver- mutung stützen, dass sich beispielsweise ein Deutsch-Pole nicht vollkommen zu Deutschland bekennen kann, weil er zwei Staatsangehörigkeiten besitzt. Auch ist fraglich, ob eine doppelte Zugehörigkeit in der Tat zu einer ›inneren Zerrissenheit‹ führt, die die Integration im Aufnahmeland wenn nicht unmöglich macht, so doch nachhaltig beeinträchtigt. Dies erscheint jedenfalls empirisch nicht begründet; auf diesen Punkt soll jedoch unten im Zusammenhang mit der Diskussion um Loyali- tätspflichten nochmals näher eingegangen werden. Während der Staat ungeachtet der Anerkennung der doppelten Staatsangehörig- keit den für die Einbürgerung notwendigen Integrationsgrad bestimmen kann, kann die Verpflichtung zur Abgabe der alten Staatsangehörigkeit für Einwanderer trotz bestehender Integration ein wesentlicher Grund gegen die Einbürgerung sein.32 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Zum einen können bei Verlust der Staatsangehörig- keit das Recht, Grundeigentum zu besitzen, oder das Erbrecht ausgeschlossen sein. Zum anderen brauchen Migranten in diesem Fall gegebenenfalls Visa, um in ihre alte Heimat zurückzureisen und konkret oder latent vorhandene Pläne, sich im Al- ter dort niederzulassen, können bedeutend erschwert werden. Neben pragmati- schen Erwägungen sind es jedoch vielfach identitäre Aspekte, die einer Aufgabe der ehemaligen Staatsbürgerschaft entgegenstehen, da in vielen Fällen das Gefühl be- steht, hierdurch die eigenen Wurzeln zu verraten.33 Niemand würde behaupten, die Gewährung der Staatsbürgerschaft führe zwangsläufig zur Integration der Neubürger. International lassen sich hier Proble- me in reinen ius soli Staaten, in denen jeder dort Geborene automatisch die Staats- bürgerschaft erhält und auf Deutschland bezogen Integrationsschwierigkeit mit Spätaussiedlern anführen, die voraussetzungslos den deutschen Pass erhielten. Auf der anderen Seite besteht durchaus Grund zu der Annahme, die Integration derer werde vereinfacht und verbessert, die andernfalls keinen Einbürgerungsantrag stel- len würden. Auch wenn es wenige empirische Untersuchungen zur Frage der Aus- wirkung derartiger Statuspassagen gibt, ist zu erwarten, dass die Einbürgerung die-

31 Vgl. § 10 Abs. 1 Nr. 5 und 6 StAG n. F., geändert durch Art. 5 Nr. 7 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19.08.2007, in Kraft seit 28.08.2007, Bundesgesetzblatt 2007 Teil I Nr. 42. 32 Simon Green, »Between Ideology and Pragmatism: The Politics of Dual Nationality in Germany« in: International Migration Review 39, Nr. 4 (2005), S. 923; Anita Böcker / Dietrich Thränhardt, »Einbürgerung und Mehrstaatigkeit in Deutschland und den Nie- derlanden« in: Dietrich Thränhardt / Uwe Hunger (Hg.), Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Wiesbaden 2006, S. 124 33 Tomas Hammar, »Dual Citizenship and Political Integration« in: International Migration Review XIX, Nr. 3, (1985), S. 441; Barbieri, Ethics of Citizenship, aaO. (FN 27), S. 66 f. 02_Naujoks Seite 395 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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ser Personenkreise über die vermehrten politischen Rechte und die formelle Zugehörigkeit zu einer verstärkten Identifikation mit dem Aufnahmeland führen würde. Wie Thränhardt34 zeigt, hat auch die Gleichstellung ausländischer Arbeit- nehmer bei der betrieblichen Mitbestimmung zu einer guten betrieblichen Integrati- on geführt, und Steinhardt35 hat empirisch nachgewiesen, dass die Einbürgerung per se zu einer verbesserten Integration in den nationalen Arbeitsmarkt und zu höheren Löhnen führt. Auch nach Wüst leistet »die politische Integration von Migranten … einen nicht zu unterschätzenden Beitrag im Rahmen des Akkulturationsprozesses von Mehrheit und Minderheiten.« 36 Wirtschaftliche, politische und identitäre Ver- besserungen können daher als Bausteine im Haus einer inklusiven Gesellschaft durchaus zu positiven Integrationsanreizen und -effekten führen.

(c) Wert und Entwertung der Staatsangehörigkeit

Nach einer Auffassung entwertet die Zulassung der Mehrstaatigkeit die einzelnen Staatsbürgerschaften, insbesondere die neu erworbene im Aufenthaltsstaat.37 Dieser Ansicht liegt – verdeckt oder offen – die Erwägung zu Grunde, dass der Wert der Staatsangehörigkeit durch die Opfer gesteigert werde, die man erbringen müsse, um sie zu erhalten. Auch kommt darin die Befürchtung zum Ausdruck, von denjenigen, die eingebürgert werden, ohne ihre alte Staatsbürgerschaft aufgeben zu müssen, könne man nicht mit Sicherheit sagen, ob sie sich wegen ihrer Bekennung zum deutschen (Adoptiv)Vaterland oder wegen praktischer Vorteile hierzu entschlossen hätten. Dabei kann in dem Fall, dass Mobilitätsrechte an die Staatsbürgerschaft geknüpft sind, nie ausgeschlossen werden, dass instrumentelle Gründe für den Einbürge- rungswunsch mitentscheidend sind.38 Es kann als generalisierbar gelten, das Men- schen auch wegen konkreter Vorteile für sich handeln. Die Verleihung der Staatsan- gehörigkeit ist sicherlich mehr als ein beliebiger Verwaltungsakt. Er begründet eine besondere, auf Dauer angelegte und sehr eigene Beziehung. Es erscheint jedoch als

34 Dietrich Thränhardt, Einbürgerung. Rahmenbedingungen, Motive und Perspektiven des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2008, S. 7. 35 Max Steinhardt, Does citizenship matter? The economic impact of naturalizations in Germany, HWWI Research Paper 3-13, HamburgischesWeltWirtschaftsInstitut (HWWI), Hamburg 2008. 36 Andreas M. Wüst, »Wahlverhalten und politische Repräsentation von Migranten« in: Der Bürger im Staat 56 Nr. 4 (2006), S. 228-234. 37 Kritiker bezeichnen die Anerkennung anderer Staatsbürgerschaften neben der deut- schen als ein »Hinterherwerfen deutscher Pässe« (Kleinert, Klarstellung in Hessen, aaO. (FN 24)) und als eine »Verramschung« derselben (Bruno Bandulet, »Doppelte Pässe - doppelt falsch« in: Epoche 139 (1999)). Zu den verschiedenen Argumenten siehe Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), S. 12. 38 Rainer Bauböck, »Interaktive Staatsbürgerschaft« in: Sigrid Baringhorst / James F. Hol- lifield / Uwe Hunger (Hg.), Herausforderung Migration - Perspektiven der vergleichen- den Politikwissenschaft, Festschrift für Dietrich Thränhardt, Berlin 2006, S. 129-166; Thränhardt, Einbürgerung, aaO. (FN 34), S. 27 ff.

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wenig sachgemäß, den Wert der Staatsbürgerschaft allein nach ökonomischen Marktgesetzen zu beurteilen39, nach denen der Preis eines Gutes bei gegebener Nachfrage mit der Ausweitung des Angebotes sinkt. Im Übrigen zeichnet sich die deutsche Staatsangehörigkeit durch einen geringen instrumentellen Wert aus, der ei- nige Beobachter zu der Annahme veranlasst hat, die Staatsangehörigkeit an sich habe ausgedient, da sie als Zugang zu Rechten von stetig abnehmender Bedeutung sei.40 Anders als in anderen Ländern genießen Ausländer mit Langzeitaufenthaltsti- teln nahezu uneingeschränkten Zugang zu den Sozialsystemen und einen sehr stabi- len Aufenthaltsstatus. Der instrumentelle Anreiz, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, ist deswegen weit geringer als in anderen Ländern, beispielsweise den USA.41

(d) Loyalität

Einer der vorgebrachten Haupteinwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft besteht im vermuteten Loyalitätskonflikt. Dabei können konkret zu benennende Konflikte von wenig explizierten allgemeinen Zweifeln am notwendigen Loyalitäts- grad unterschieden werden. Zu den möglichen konkreten Konflikten gehört, dass der Staat im Falle eines Krieges auf die ungeteilte Loyalität seiner Staatsangehörigen angewiesen ist, die er zum Dienst an der Waffe berufen kann. Die doppelte Zugehörigkeit von Staatsbür- gern kann sowohl für die Individuen als auch für den Staat zum Problem werden, wenn gerade zwischen den beiden Staaten kriegerische Auseinandersetzungen erfol-

39 Dies gilt ungeachtet der Frage nach der rational-ökonomischen Entscheidungsfindung für Einbürgerungs-, bzw. Zuwanderungsfragen, die im Rahmen der Clubtheorie gera- ten wird, vgl. Thomas Straubhaar, »Wird die Staatsangehörigkeit zu einer Klubmitglied- schaft?« in: Dietrich Thränhardt / Uwe Hunger (Hg.), Migration im Spannungsfeld von Globalisierung und Nationalstaat, Leviathan Sonderheft 22, Wiesbaden 2003, S. 76-87. 40 Yasemin Nuhoglu˘ Soysal, »Changing Citizenship in Europe: Remarks on Postnational Membership and the National State« in: David Cesarani / Mary Fulbrook (Hg.) Citi- zenship, Nationality and Migration in Europe, New York 1996, S. 17 – 29; Linda Bos- niak, »Multiple Nationality and the Postnational Transformation of citizenship« in: David A. Martin / Kay Hailbronner (Hg.), Rights and Duties of Dual Nationals – Evo- lution and Prospects, Den Haag 2003, S. 27-48. 41 Die praktischen Vorteile der Einbürgerung in Deutschland sind: Aktives und passives Wahlrecht, Erleichterungen im Aufenthaltsstatus (unbegrenztes, unbedingtes und unverjährbares Bleiberecht), Erleichterungen im beruflichen Sektor (keine Arbeitser- laubnis oder Vorrangprüfung erforderlich, Zugang zu Beamtenstellen) und ein (zumin- dest formell) besserer Grundrechtsschutz durch die sog. ›Deutschengrundrechte‹ (Art. 8 (Versammlungsfreiheit), Art. 9 Abs. 1 (Vereinigungsfreiheit), Art. 11 (Freizügigkeit), Art. 12 Abs. 1 (Ausbildungs-/Berufsfreiheit), Art. 16 Abs. 1 S. 1 (Nichtauslieferungsga- rantie) GG). Außerdem bestehen Erleichterungen hinsichtlich sozialrechtlicher Ansprüche und des Familiennachzuges sowie u.U. erleichterte Reisemöglichkeiten durch Ausnahmen von Visumspflichten, auf die sich Passinhaber vieler Herkunftslän- der nicht berufen können. Auch Freizügigkeits- und Statusrechte in der EU können für Nicht-EU-Ausländer ein Interesse am deutschen Pass bedingen. 02_Naujoks Seite 397 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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gen, denen die Doppelstaater angehören: Der Staat mag an der Loyalität der Perso- nen zweifeln. Die Individuen werden als ›Verräter‹ unter Generalverdacht stehen. Andererseits sind hier die Alternativen zu bedenken. Wenn die betroffenen Perso- nen nicht eingebürgert worden wären, wären sie gewöhnliche Ausländer mit lan- gem Aufenthalt, die noch verdächtiger und weniger vertrauensvoll erschienen. Un- ter gewöhnlichen Bedingungen könnten sie auch nicht einfach ausgewiesen werden. Wären sie indes eingebürgert worden, ohne ihre alte Staatsangehörigkeit beizube- halten, ist nicht unwahrscheinlich, dass sie aufgrund ihrer Herkunft und Wurzeln gleichwohl als Sicherheitsrisiko angesehen würden. Im Übrigen sind Kriege mit der Masseneinberufung von Zivilisten in Ländern wie Deutschland unwahrscheinlich. Wie die meisten modernen Armeen entwickelt sich die deutsche Bundeswehr stetig zu einer kleineren Truppe von Spezialisten, so dass die Nichtverfügbarkeit von doppelten Staatsbürgern die Wehrfähigkeit eines Landes wie Deutschland nicht beeinträchtigen würde. Dies beträfe ohnehin nur doppelte Staatsangehörige aus dem jeweiligen Land, mit dem kriegerische Ausein- andersetzungen bestehen. Auch während des Kosovoeinsatzes gab es keinerlei Pro- bleme mit ehemaligen oder tatsächlichen Staatsangehörigen Serbiens oder des ehe- maligen Jugoslawiens oder gar mit doppelten Staatsangehörigen mit Ursprüngen aus dieser Region. Der damalige Bundesverteidigungsminister Scharping gab nach einem Bericht der Welt vom 28.01.1999 an »Loyalitätskonflikte spielten nie eine Rolle, im Gegenteil, die Herkunft aus dem Krisengebiet erwies sich oft als großer Vorteil. Die Bundeswehr wird damit [d.h. der doppelten Staatsangehörigkeit] keine Probleme haben. (Anm. d.Verf.)« Überdies regeln einige Staaten, dass doppelte Staatsbürger im Kriegsfall unmittelbar auf eine der Staatsangehörigkeiten verzichten müssen.42 Des Weiteren kann ein Staat ungeteilte Loyalität von Personen erwarten, die hohe Regierungspositionen oder öffentliche Ämter innehaben. Ein hoher Regierungsbe- amter, ein Parlamentarier43 oder ein hoher Richter sind einem höheren Risiko ausge- setzt, Maßnahmen gegen das Land ihrer anderen Staatsbürgerschaft ergreifen zu müssen, weshalb ein höherer Grad von Bindung erwartet werden kann.44 Wenn- gleich die doppelten Staatsangehörigen, die tatsächlich hohe Positionen als Außen- minister oder Oberbefehlshaber inne hatten, zu keinen besonderen Spannungen ge- führt haben45, besteht in Bezug auf hochrangige Beamte des Staates zwischen Befürwortern und Gegner der doppelten Staatsangehörigkeit Einigkeit, dass in die-

42 Martin, The Trend toward Dual Nationality, aaO. (FN 19), S. 17. 43 Peter J. Spiro (»Political Rights and Dual Nationality« in: David A. Martin / Kay Hailbronner (Hg.), Rights and Duties of Dual Nationals – Evolution and Prospects, Den Haag 2003, S. 147) zählt Länder auf, die doppelte Staatsbürger als Abgeordnete aus- schließen. Im Juni 1999 hat der australische oberste Gerichtshof einem doppelten Staatsangehörigen das Recht verweigert, in das Parlament gewählt zu werden, da dieser Bindungen zu »auswärtigen Mächten« habe. 44 Europarat, aaO. (FN 10), S. 12; Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), S. 22. 45 Stanley A. Renhson (Dual Citizens in America, Center for Immigration Studies – Back- grounder, July 2000, dort FN 11) zeigt einige prominente Beispiele.

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sem Fall die zweite Staatsangehörigkeit aufgegeben werden solle.46 Dies ließe sich durch entsprechende Aufgabeklauseln in den Anstellungsverträgen durchsetzen; überdies ist nicht ersichtlich, dass dieser Einwand in Deutschland auf absehbare Zeit große praktische Relevanz besäße. Kritiker der doppelten Staatsbürgerschaft sehen zudem die Gefahr des ›instruier- ten Wählens‹, bei dem die doppelten Staatsangehörigen nach dem Willen der Regie- rung ihrer anderen Staatszugehörigkeit wählen.47 Es erscheint indes zweifelhaft, dass ein Staat seine Staatsangehörigen tatsächlich zu einem bestimmten Verhalten veranlassen kann. Regierungen gelingt es nicht einmal, das auf ihrem Staatsgebiet le- bende Staatsvolk in einer bestimmten Weise zu beeinflussen. Wie soll dies dann er- folgreich auf dem Boden eines anderen Staates gelingen? Menschen treffen ihre eige- nen Entscheidungen und verfolgen ihre eigenen Ziele. Insbesondere hat sich ein massiver Einfluss eines fremden Staates als Folgeerscheinung der Anerkennung von doppelter Staatsbürgerschaft in den vielen Ländern, in denen es die doppelte Staats- bürgerschaft gibt, nicht gezeigt. Bei der Betrachtung konkreter Rechte und Pflichten ergeben sich wenige gewich- tige Loyalitätskonflikte gegen die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft. Welche Loyalität meinen die Skeptiker dann? Bei genauerer Betrachtung ergibt sich, dass sich Kritiker hinter emotionalen Postulaten verstecken, ohne die Loyalitäts- konflikte zu benennen.48 Exemplarisch für besser ausformulierte Kritik49 teilte der CDU-Rechtsexperte Depenheuer in einem Interview mit der Welt vom 10. August 1998 mit: »Die Staats- bürgerschaft vermittelt eine bestimmte Loyalitätsbeziehung. Gerade im demokrati- schen Staat muss der Bürger Verantwortung tragen für das, was im Namen des Staa-

46 Martin, The Trend toward Dual Nationality, aaO. (FN 19), S. 17; Hailbronner, Rights and Duties of Dual Nationals, aaO. (FN 14), S. 26; Aleinikoff und Klusmeyer (Citizen- ship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 19), S. 41) weisen darauf hin, dass obwohl alle Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen im Interesse des Staa- tes, in dessen Regierung die Betroffenen tätig sind, getroffen sein mögen, allein durch die formelle doppelte Zugehörigkeit der Anschein entstehen könne, ein fremder Staat habe Einfluss; dies könne zu unerwünschten Spannungen führen. 47 Als Begründung für die hessische Anti-Doppelpasskampagne 1999 wurde u.a. ein ver- mehrter Einfluss der türkischen Regierung in Deutschland befürchtet, siehe Bandulet, Doppelte Pässe - doppelt falsch, aaO. (FN 37). Klaus-Dieter Schnapauff (»Bosniak on the Postnational Transformation of Citizenship« in: David A. Martin / Kay Hailbron- ner (Hg.), Rights and Duties of Dual Nationals – Evolution and Prospects, Den Haag 2003, S. 50) berichtet, dass der Präsident der Türkei die türkischen Einwanderer in Deutschland dazu aufgefordert habe, sich einbürgern zu lassen, um die deutsche Politik zugunsten der Türkei zu beeinflussen. Es gibt jedoch keine Anzeichen für politische Folgen derartiger Versuche. 48 Der CSU-Abgeordnete Zeitlmann gab in der Bundestagsdebatte zur doppelten Staats- bürgerschaft an, »Aber eines kann man sicher nicht sein: Man kann nicht ein guter Bayer und gleichzeitig ein »Saupreiß« sein.« Vgl. Plenarprotokoll 14/28 vom 19. März 1999, S. 2285. 49 Ähnlich auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Meinrad Belle in BT Plenarprotokoll 14/40, S. 3446 und Wolfgang Zeitlmann, »Wir bekommen zweierlei Deutsche« in: Die Welt vom 13. Januar 1999. 02_Naujoks Seite 399 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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tes geschieht. Das kann er aber nur, wenn er nicht in der Lage ist, sich dieser Verantwortung dadurch zu entziehen, dass er bei passender Gelegenheit seinen zweiten Pass zieht. […] Aber just diese Beliebigkeit der Beziehung von Staat und Bürger zu verhindern, muss Ziel jedes Staatsangehörigkeitsrechts sein.« Offensichtlich erfordert die Staatsbürgerschaft hiernach eine Beziehung ›auf Ge- deih und Verderb‹. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob diese Haltung normativ der ›richtigen‹ Idee von Staatsbürgerschaft und faktisch den heterogenen, durch ver- schiedene Migrationsströme gekennzeichneten Realitäten gerecht wird. Die kultu- rellen Identitäten von Migranten unterscheiden sich in der Regel auch nach einer ge- lungenen und erfolgreichen Integration von denen von Nicht-Migranten sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmestaat, was zur Bezeichnung ›Bindestrich-Identitä- ten‹ geführt hat.50 Vielleicht führt der Zwang, eine Staatsbürgerschaft zu wählen zur inneren Auseinandersetzung mit der eigenen (zusammengesetzten) nationalen Iden- tität und kann im Falle, dass man sich für die Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit entschließt, um die neue zu erhalten, zu einer besonderen Identifikation und Bestä- tigung führen. Aber ist dieses ›Du-bist-für-mich-oder-gegen-mich-Spiel‹ notwen- dig? Die Transnationalismusforschung beginnt erst allmählich, bessere Hypothesen darüber aufzustellen, wie sich transnationale Aktivitäten und das Zugehörigkeitsge- fühl im Laufe eines Migrantenlebens ändern und wie es zwischen Individuen und Gruppen variert.51 Wie Hammar bemerkt, ist dabei staatsbürgerliche und kulturelle Identität kein Nullsummenspiel.52 Es gilt deshalb nicht, dass das Quantum Identifi- kation mit einem Land notwendigerweise von der inneren Bindung zum anderen abginge. Auch nach Laienverständnis ist nicht ersichtlich, warum ein Mensch enge und aufrichtige Bindungen an Vater, Mutter, Ehepartner und Kinder haben kann, seine ›Vaterlandsliebe‹ sich aber nicht auf zwei Staaten gleichzeitig erstrecken kön- ne. Es wird vielmehr zunehmend konstatiert, dass kombinierte Identitäten soziolo- gische Realität sind. In dieser Hinsicht kann die doppelte Staatsangehörigkeit als rechtliche Anerkennung des spezifischen Charakters dieser zusammengesetzten na- tionalen Identitäten angesehen werden.53 Überdies gilt es zu bedenken, dass die Alternative zur Anerkennung der doppel- ten Staatsbürgerschaft nicht bedeutet, dass nur loyale Einfachstaatsbürger in unse- ren Grenzen weilen. Der Vergleich muss vielmehr mit der Realität gezogen werden,

50 Barbieri, Ethics of Citizenship, aaO. (FN 27), S. 29; Peter H. Schuck, »Plural Citizen- ship« in: Hansen Randall / Patrick Weil (Hg.), Dual Nationality, Social Rights and Federal Citizenship in the U.S. and Europe: The Reinvention of Citizenship, New York 2002, S. 75. 51 Irene Bloemraad, »Who Claims Dual Citizenship? The Limits of Postnationalism, the Possibiltites of Transnationalism, and the Persistence of Traditional Citizenship« in: International Migration Review 38, Nr. 2 (2004), S. 395. 52 Hammar, Dual Citizenship and Political Integration, aaO. (FN 33), S. 449. 53 Ebenso: Hammar, Dual Citizenship and Political Integration, aaO. (FN 33), S. 449; Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 17), S. 36, 39; Martin, The Trend toward Dual Nationality, aaO. (FN 19), S. 11; Bosniak, Multiple Nationality and the Postnational Transformation of citizenship, aaO. (FN 40), S. 41.

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in der seit Jahrzehnten und Generationen Millionen von Menschen mit nur einer anderen Staatsbürgerschaft in Deutschland wohnen. Diese Menschen werden auch künftig in Deutschland bleiben. Was ist davon zu halten, dass dieser Teil der perma- nenten Wohnbevölkerung in keinerlei formeller Loyalitätsbeziehung zum Aufent- haltsstaat steht?

II. Drei Thesen zur Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft

Viele Analysten sehen die Interessen ›der Staaten‹ an, oder deren Einwände gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Es sind jedoch nicht Staaten, die in einem Black- Box-Mechanismus Regeln schaffen. Es ist ein durch Akteure und Koalitionen, so- wie deren Werte und Interessen bestimmter Politikprozess, der zur Ablehnung oder Annahme einer Reglung führt. Zudem bestehen in politischen und gesellschaftli- chen Diskursen oft enorme Versuchungen, Daten und Positionen falsch darzustel- len und der eigenen politischen Überzeugung unterzuordnen.54 Viele der oben diskutierten Gründe gegen die doppelte Staatsbürgerschaft über- zeugen nicht. Die Probleme und Einwände scheinen oftmals nur auf der Oberfläche zu existieren und auch den Gegnern nicht am Herzen zu liegen. Im Folgenden soll anhand von drei Thesen aufgezeigt werden, warum der Kern der Diskussion zumeist verschleiert wird, welche Vorstellungen ihm zugrunde liegen und was sein Inhalt ist.

1. Das beschränkte Diskursfeld

Wie bei allen normativ geprägten Diskussionen ist es auch bei der Frage nach der Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft vielmals schwierig, den Kern der Argumente zu erkennen. Die erste These lautet, dass eine Beschränkung des Dis- kursfeldes dazu führt, dass die wahren Argumente gegen die doppelte Staatsbürger- schaft nicht oder nur verschleiert vorgebracht werden. Dies liegt nicht allein daran, dass normative Diskussionen zum Thema Staatsbürgerschaft stets auf der Basis von Voreingenommenheiten und vorgefassten Urteilen erfolgen.55 Sondern daran, dass – wie auch Freeman56 und Brubaker57 aufzeigen – das migrationspolitische Diskurs- feld begrenzt ist, so dass gewisse Argumente als illegitim behandelt und außerhalb des zulässigen Diskussionsrahmens gesehen werden. Dies ist der Grund für viele der Scheindebatten, die im Bereich Einbürgerung und doppelte Staatsbürgerschaft geführt werden. Es scheinen handfeste Argumente zu sein, wenn sich Gegner der Mehrstaatigkeit auf eine Entwertung der Staatsbürgerschaft, auf die konzeptionelle Unvereinbarkeit verschiedener Loyalitäten, auf die Privilegierung von Doppelstaa-

54 Paul A. Sabatier, »The Need for Better Theories« in: ders: (Hg.), Theories of the Policy Process, Boulder 1999, S. 4. 55 So Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), S. 4. 56 Gary P. Freeman, »Modes of Immigration Politics in Liberal Democratic States« in: International Migration Review 29, Nr. 4 (1995), S. 884. 57 Rogers Brubaker, Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge, MA 1992, S. 906 ff. 02_Naujoks Seite 401 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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tern berufen oder behaupten, hiermit werde die Integration behindert. Argumente aus dem Bereich internationales Recht und doppelte Wehr-, Steuer- und Rechts- pflichten sind einfach zugänglich und können vorgebracht werden, ohne denjeni- gen, der sich hierauf beruft, unmittelbar der Gefahr der Stigmatisierung auszuset- zen, als undemokratisch, elitär und fremdenfeindlich zu gelten. Es ist deswegen von besonderer Bedeutung, hinter die Positionen der Gegner der doppelten Staatsbür- gerschaft zu sehen und die eigentlichen Interessen und Motive zu erkennen.

2. Der prototypische Ausländer als Basis der Einstellung gegen die doppelte Staatsbürgerschaft

Nach der zweiten hier aufgestellten These beherrscht ein bestimmtes Bild der ›Ausländer‹ das Vorstellungsbild der Kritiker. Negative Einstellungen gegenüber Einwanderern werden mit Ansichten über die doppelte Staatsbürgerschaft ver- mengt. Dabei spielt vor allem die objektive und subjektiv wahrgenommene Zusam- mensetzung der Migrantenströme eine Rolle. Anders als in den USA und Kanada hat Deutschland keinen signifikanten Anteil an eingewanderten hochqualifizierten Computeringenieuren und Wissenschaftlern. Viele im verarbeitenden Gewerbe tätige Menschen stammen aus ländlichen Bereichen der Türkei, aus dem ehemaligen Jugoslawien oder nordafrikanischen Staaten. Deutschland, das Land der Dichter und Denker, das seit den schlechten Ergebnissen der Pisa-Studien seinen Ruf als Bildungsnation nur schwer verteidigen kann, sieht sich durch Einwande- rer nicht in jeder Hinsicht bereichert. Während im nördlichen Amerika indische, chi- nesische und anders stämmige Jugendliche als besonders kompetitiv, strebsam und ziel- gerichtet gelten, lagen Schüler mit Migrationshintergrund in den Pisastudien 2000 und 2003 im Durchschnitt weit hinter den ihrerseits nicht herausragenden deutschen Schü- lern. Ausländer sind statistisch weit stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als deutsche Staatsangehörige. Nach Daten der Bundesagentur für Arbeit lag die Arbeitslosenquote im Jahr 2006 im Jahresdurchschnitt mit 23,6 Prozent weiterhin fast doppelt so hoch wie diejenige der Deutschen (12,0 Prozent).58 Während dieser Umstand in den USA wenig Gewicht hätte, da Einwanderer dort von Sozialleistungen ausgeschlossen sind, wirft dies in Deutschland ein schlechtes Licht auf die Folgen der Einwanderung. Hinzu kommt, dass die Einwanderung nach Deutschland in sich homogener ist. Ein weit größerer Prozentsatz ist muslimischen Glaubens aus wenigen Ländern, während im nördlichen Amerika eine größere Mischung v. a. lateinamerikanischer, asiatischer und europäischer Einwanderer besteht.59 Insbesondere der hohe Anteil

58 Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt 2006, Amtliche Nachrichten der Bundesagen- tur für Arbeit, 2007, S. 75. Diese Angaben basieren auf der Zahl der abhängigen zivilen Erwerbspersonen. Im Bericht (S. 75) heißt es weiter, viele ausländische Arbeitslose wie- sen eine Arbeitsmarktferne auf, verbunden mit häufig geringerer Qualifikation, was sich letztlich auch in einer längeren Dauer der Arbeitslosigkeit manifestiere. 59 José Casanova, »Einwanderung und der neue religiöse Pluralismus. Ein Vergleich zwi- schen der EU und den USA« in: Leviathan 25 (2006), S. 185.

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muslimischer Migranten wird dabei von Teilen der Bevölkerung als »Bedrohung der lokalen Strukturen eines begrenzten religiösen Pluralismus, und wichtiger noch: der aktuellen europäischen Trends zur drastischen Säkularisierung« gesehen.60 Dies führt nach Casanova61 dazu, dass »[d]er Einwanderer und der religiös, rassisch und sozio-ökonomisch unterprivilegierte »Andere« …häufig ein und derselbe [ist]«.62 Abstrakt formulierte Einwände gegen die Unvereinbarkeit verschiedener Loyali- täten, das Abstellen auf die integrationshemmende Wirkung und den Wertverlust der Staatsbürgerschaft haben in der Regel einen bestimmten Typus von ausländi- schen Menschen vor Augen, auf den sie zutreffen sollen. Das Argument ist nicht ab- strakt-generell gedacht, sondern bezogen auf einen spezifischen, als vermeintlichen Standardtypus des Ausländers an sich erkannten Menschen. Aufgrund der oben be- handelten Diskursbeschränkung wird dies nur undeutlich vorgebracht; dieser Um- stand ist jedoch wesentlich zum Verständnis der ablehnenden Haltung der Kritiker.

3. Exklusion als Hauptgrund der Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft

Wie Bauböck63 aufzeigt, führt das strikt durchgesetzte Verbot der mehrfachen Staatsbürgerschaft dazu, dass eine große Gruppe einbürgerungswilliger Einwande- rer von jener Gleichberechtigung ausgeschlossen wird, die sie nur über die einhei- mische Staatsbürgerschaft erhalten. Bauböck bezeichnet diese Folge jedoch als ein »unerwünschtes Resultat«. Ob diese Folge jedoch tatsächlich unerwünscht ist, ist eine Frage des (politischen) Standpunktes. Die dritte These besteht in der Annahme, dass die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft in weiten Teilen durch ein be- wusstes Ausschlussbestreben gewisser Teile der Politik und Bevölkerung begründet ist. Es geht nicht um die Verhinderung doppelter Staatsangehörigkeit, sondern um die Erschwerung von Einbürgerungen und damit letztlich um zielgerichtete Exklu-

60 Casanova, Einwanderung und der neue religiöse Pluralismus, aaO. (FN 59), S. 184; ebenso: Green, Between Ideology and Pragmatism, aaO. (FN 32), S. 933, 942 f. 61 Casanova, Einwanderung und der neue religiöse Pluralismus, aaO. (FN 58), S. 185. 62 Auch Thränhardt (Einbürgerung, aaO. (FN 34), S. 5, 14) sieht einen Zusammenhang zwischen den Diskussionen der doppelten Staatsbürgerschaft und der »wiederholten Misstrauensattitüde gegenüber nichteuropäischen oder nichtwestlichen Einwande- rungsgruppen, insbesondere solchen moslemischen Glaubens.« In einem Artikel gegen die doppelte Staatsbürgerschaft (man beachte den Zusammen- hang!) heißt es exemplarisch: »Wir haben Zuwanderung, das heißt, es kommen Men- schen – zumeist illegal – und es kommen einige wenige auch legal aufgrund unseres Asylrechtes; aber bekanntermaßen werden nur rund fünf Prozent der Bewerber als Asylberechtigte anerkannt.« (Kleinert, Klarstellung in Hessen, aaO. (FN 24)). In einem Interview mit Bayerns Innenminister Beckstein zur doppelten Staatsbürgerschaft ist in der konservativen Zeitschrift Epoche ein Foto abgedruckt mit dem Titel: »An der Ost- grenze der Europäischen Union: Ein österreichischer Soldat mit Nachtsichtgerät wehrt illegale Einwanderer ab« und entsprechendem Inhalt des Fotos (Beckstein, Interview: Deutsche Identität und Rechtstradition bewahren, aaO. (FN 30)). 63 Bauböck, Interaktive Staatsbürgerschaft, aaO. (FN 38). 02_Naujoks Seite 403 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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sion.64 Dabei richten sich diese Ausschlussbestrebungen nicht gleichermaßen gegen alle Menschen anderer Herkunft sondern in erster Linie gegen den als Leitbild fun- gierenden ›religiös, rassisch und sozio-ökonomisch unterprivilegierten Anderen‹. Anlässlich der vollkommenen Anerkennung der doppelten Staatsangehörigkeit für EU-Bürger im August 200765 gab es keine nennenswerten Proteste, denn für einzu- bürgernde Türken besteht das Verbot fort, und 2006 konnten lediglich 15,9 Prozent der türkischen Neudeutschen ihren ehemaligen Pass behalten.66 Dies wird auch deutlich, wenn man die drei vorgebrachten Argumente gegen die Einbürgerung ge- wisser Personenkreise betrachtet. Zum ersten werden sicherheitspolitische Gründe ins Feld geführt, zum zweiten befürchtet man verstärkte Zuwanderung von Ange- hörigen der Neueingebürgerten im Rahmen der Familienzusammenführung und zuletzt eine Änderung der politischen Landschaft.67

III. Sicherheit und Machtwechsel im demokratischen Verfassungsstaat

In diesem letzten Abschnitt sollen die dargestellten Exklusionsbestrebungen und ihr Fundament näher beleuchtet, diskutiert und mit demokratischen Vorgaben kon- frontiert werden.

1. Die Abschiebungsillusion

Die innere Sicherheit, die Freiheit von Terror und schwerem und organisiertem Ver- brechen gelten gemeinhin als hohe Güter, mit denen Argumenten und Ansichten Ge- wicht verliehen werden kann. Die gegen die Einbürgerung von Menschen vorgebrach- ten sicherheitspolitischen Bedenken beziehen sich in erster Linie auf die verspielten Abschiebemöglichkeiten. Dabei ist zutreffend, dass eingebürgte Menschen nicht mehr ausgewiesen und abgeschoben werden können, wenn sie Straftaten begehen (Art. 16

64 Gegner der doppelten Staatsangehörigkeit prophezeien die Auflösung der Nation durch »Masseneinbürgerungen« und die damit einhergehende Umdefinition oder den »Austausch des Staatsvolkes« (Bandulet, Doppelte Pässe - doppelt falsch, aaO. (FN 37)). Wie Böcker und Thränhardt (Einbürgerung und Mehrstaatigkeit in Deutschland und den Niederlanden, aaO. (FN 32)) zeigen, wurde bereits in den 60er Jahren die Dis- kussion um die doppelte Staatsbürgerschaft durch die Debatte über die Verringerung der türkischen Migranten beendet. Auch Peter Friedrich Bultmann (Lokale Gerechtig- keit im Einbürgerungsrecht, Berlin 1999, S. 202) kommt nach einer Analyse der Bespre- chungen zwischen den für den Bereich Staatsangehörigkeit zuständigen Referenten von Bund und Ländern zu der Ansicht »Andere [Bundesländer] betrachten die Einbürge- rung als notwendiges Übel, das nun einmal gesetzlich vorgeschrieben ist, in Wirklich- keit aber die Volksgemeinschaft auflöst und zerstört« (Anm. d. Verf.). 65 Siehe FN7. 66 Statistisches Bundesamt, Einbürgerungen 2006, aaO. (FN 5), Tabelle 11. 67 Vgl. Karl Ludwig Bayer, »Wer Freiheit und Leistung sichern will, muß die Ungleichheit der Menschen bejahen« in: Epoche 139 (1999); Beckstein, Interview: Deutsche Identität und Rechtstradition bewahren, aaO. (FN 30); Bandulet, Doppelte Pässe - doppelt falsch, aaO. (FN 37); Kleinert, Klarstellung in Hessen, aaO. (FN 24).

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Abs. 2 S. 1 GG). Dies mag in gewissen Fällen zu Mehrausgaben in Gefängnissen und zum Verbleib ›straffällig gewordener Personen‹ im Bundesgebiet führen. Allerdings verkennen Kritiker zumeist, dass auch eine Ausweisung von Ausländern mit langem Aufenthalt an sehr hohe Voraussetzungen geknüpft ist. Erst im August 2007 hat das Bundesverfassungsgericht den besonderen Status von sog. ›faktischen Inländern‹ ge- stärkt, bei denen bei jeder Ausweisungsentscheidung stets zu berücksichtigen ist, wie lange der Aufenthalt im Bundesgebiet andauert, wie sehr sie in die deutsche Gesell- schaft integriert sind und ob sie tatsächliche Bindungen an den Staat ihrer Staatsange- hörigkeit haben.68 Den Bedenken lässt sich überdies zumindest teilweise entgegenhal- ten, dass Personen, die strafrechtlich auffällig geworden sind, nach § 8 Abs. 1 Nr. 2 und § 10 Abs. 1 Nr. 5 StAG ohnehin nicht die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten. Befürchtungen wie diejenige des bayrischen Innenministers Beckstein »Terrorak- te der PKK lassen ahnen: Wenn Millionen von deutsch-türkischen, deutsch-serbi- schen oder deutsch-albanischen Doppelstaatlern in Deutschland leben, dann hätten wir automatisch die Konflikte aus diesen Regionen bei uns im Land.« lassen dabei keine empirische oder logische Grundlage erkennen.69 Abgesehen davon, dass wir diese Konflikte auch im Land hätten, wenn Millionen von Einwanderern sich zu derartigem Terrorismus entschlössen, ohne eingebürgert zu sein, ist die millionenfa- che Einbürgerung von Terroristen ein Schreckgespenst, das nur dann verständlich wird, wenn man eine grundlegende Exklusionshaltung der Kritiker annimmt, die es zu rechtfertigen gilt. In Wirklichkeit stellt sich die Frage, ob die Gefahr, dass tat- sächlich eine Handvoll Straftäter nicht abgeschoben werden kann, den dauerhaften Ausschluss vieler Hunderttausender von partizipatorischen Rechten rechtfertigt.

2. Änderungen in Politik und Gesellschaft

Kern der Ausschlussbestrebungen sind Bedenken gegen die Stärkung der politi- schen Macht von Migranten, wobei zwischen der gesellschaftlichen Haltung und derjenigen des politischen Systems zu unterscheiden ist, die aus verschiedenen Gründen nicht übereinstimmen müssen. Oft besteht die Angst, die ›einheimische Bevölkerung‹ könne von einer großen Gruppe Einwanderer dominiert werden, die rein formal Staatsbürgerstatus erwor- ben haben. Aleinikoff und Klusmeyer und auch Martin ist nicht vollkommen beizu- stimmen, wenn sie argumentieren, dieser Einwand richte sich allein gegen Einwanderung.70 Immigration hat Auswirkungen auf die nationale Identität und die soziale Struktur einer Gesellschaft. Solange jedoch Staatsbürgerschaft die Tür zu den Wahlkabinen öffnet, werden nur Staatsbürger es schaffen, ihre Werte und Visio-

68 Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2007, Az. 2 BvR 535/06. 69 Beckstein, Interview: Deutsche Identität und Rechtstradition bewahren, aaO. (FN 30). Auch Edmund Stoiber wird in Die Welt vom 4. Januar 1999 zitiert, die Doppelstaats- bürgerschaft gefährde die Sicherheitslage mehr als die Terroraktionen der RAF in den 70er und 80er Jahren. 70 Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 17), S. 33; Martin, The Trend toward Dual Nationality, aaO. (FN 19), S. 16. 02_Naujoks Seite 405 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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nen effektiv zu verwirklichen. Der Wille zum Ausschluss muss dabei nicht stets auf identitätsbedrohenden Befürchtungen beruhen; er kann auch auf einem weniger einschneidenden potentiellen Machtverlust beruhen. Gruppenbedrohungstheorien wie Bobos71 Theorie der realistischen Konflikte haben Erklärungsmuster für derar- tige Verhaltensweisen geliefert. Danach konfligieren dominante mit untergeordne- ten Gruppen über Macht, Status und knappe Ressourcen, wobei Mitglieder der dominanten Gruppe zu einer Null-Summen-Mentalität tendieren und Mitglieder der untergeordneten Gruppen vom Zugang zu Ressourcen auszuschließen suchen.72 Hinsichtlich der Gefahren des Machtverlustes von politischen Akteuren wird oft vermutet, konservative Mitte-Rechts Politiker stellten sich gegen Einbürgerungsbe- strebungen, da sie eine relative Schwächung ihrer politischen Unterstützung be- fürchteten. Dies könne gerade in einem politischen System wie der Bundesrepublik zu der Blockade von das Wahlvolk verändernden Maßnahmen durch einen ›Veto- Player‹ wie die CDU/CSU führen.73 Die Befürchtungen des Machtverlustes führen dabei zu drei Fragen. Erstens ist zu fragen, wie viele Einwanderer sich überhaupt einbürgern lassen werden, wenn die doppelte Staatsangehörigkeit anerkannt würde und damit wie viel zusätzliches Wahlvolk überhaupt entstünde. Zweitens ist zu ermitteln, welche Resonanz der po- litischen Sphäre von der Änderung des Wahlvolkes zu erwarten ist und drittens, ob Nutzenerwägungen und unserer Gesellschaft zugrunde liegende Werte nicht die In- kaufnahme von Machtverlusten und anderen möglichen negativen Effekten als rati- onal, oder gar als geboten erscheinen lassen.

1. Einbürgerungsrate und doppelte Staatsbürgerschaft

Eine entscheidende Grundlage von Kritikern der doppelten Staatsbürgerschaft ist die angenommene ›Masseneinbürgerung‹ als Folge der Anerkennung. Doch ist schwer vorherzusagen, wie hoch die Steigerung der Einbürgerungsrate allein auf- grund dieses Umstandes tatsächlich zu erwarten ist. Green74 kommt über einen Vergleich der Einbürgerungsraten verschiedener Her- kunftsländer in Deutschland zur Annahme, dass die Gestattung der doppelten Staatsbürgerschaft zu vermehrter Einbürgerung führe, ohne diese jedoch zu quanti-

71 Larry Bobo, »Group Conflict, Prejudice, and the Paradox of Contemporary Racial Attitudes« in: Phillis A. Katz / Dalmas A. Taylor (Hg.), Eliminating Racism. Profiles in Controversy, New York 1988, S. 85-116. 72 Jeannie Haubert / Elizabeth Fussel, »Explaining Pro-Immigrant Sentiment in the U.S.: Social Class, Cosmopolitanism, and Perceptions of Immigrants« in: International Mig- ration Review 40, Nr. 3 (2006), S. 491. So wird u.a. in einem anonymen Kommentar auf www.welt.de vom 12. Juni 2007 prognostiziert »Die Türken von heute sind die SPD- Wähler von morgen. Übermorgen gründen sie dann ihre eigene Partei, dann ist die SPD-Geschichte.« Auch Zeitlmann (Wir bekommen zweierlei Deutsche, aaO. (FN 49)) und Koch (Der Wille zur Integration ist nötig, aaO. (FN 24)), befürchten Ähnliches. 73 Green, Between Ideology and Pragmatism, aaO. (FN 32), S. 941. 74 Green, Between Ideology and Pragmatism, aaO. (FN 32), S. 923.

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fizieren. Jones-Correa75 schätzt für lateinamerikanische Einwanderer in den USA, dass deren Einbürgerungsquoten nach der Anerkennung der doppelten Staatsbür- gerschaft in den Herkunftsländern um 22 Prozent (Peru) bis 300 Prozent (Ekuador) angestiegen seien. Alle diese Ansätze sind jedoch nur bedingt aussagekräftig, weil sie weder allein auf diejenigen abstellen, die tatsächlich die Einbürgerungsvorausset- zungen erfüllen, noch die Situation in den Herkunftsländern oder Faktoren im Ein- bürgerungsland berücksichtigt.76 Nach Schätzungen von Mazzolari77 habe die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft in den Herkunftsländern, die Einbür- gerungswahrscheinlichkeit in den Vereinigten Staaten um elf Prozent erhöht, wobei der Effekt auf Einwanderer, die schon lange im Land sind, weitaus höher sei (24 Prozent). Vereinzelte Untersuchungen haben gezeigt, dass viele Einwanderer die Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft als Hauptmotiv für das Desinteresse an der Staatsbürgerschaft vorgeben.78 Jedoch ist nicht zu erwarten, dass nach deren Anerkennung sämtliche antragsberechtigte Personen von dieser Möglichkeit Ge- brauch machen werden. So rechnete die mexikanische Regierung im Jahr 1998 da- mit, dass 5,5 Millionen in den USA eingebürgerte ehemalige Mexikaner und deren Kinder die Voraussetzungen für die doppelte Staatsangehörigkeit erfüllten. Nach dem angekündigten Ende des Programms 2003 hatten lediglich 90.000, also gerade 1,6 Prozent, den zweiten Pass beantragt. Nachdem Mexiko Ende 2003 entschlossen hatte, das Doppelpass-Programm doch fortzuführen, lagen die Antragszahlen für 2004-2006 bei insgesamt knapp 12.000.79 Und dies betraf den einfachen Fall, in dem per Antrag die ehemalige Staatsbürgerschaft zurückgegeben wurde, nicht die weit- aus aufwendigere und mit weit größerem Aufwand verbundene Entscheidung für eine neue Staatsbürgerschaft. Aus den vorstehenden Erörterungen ist ersichtlich, dass im Falle der Anerken- nung der doppelten Staatsbürgerschaft zwar mit einer Steigerung der Einbürgerun- gen, nicht jedoch mit einer von Kritikern befürchteten ›Masseneinbürgerung‹ oder einem ›Austausch des Staatsvolkes‹ zu rechnen ist. Dies gilt – trotz des hohen An-

75 Michael Jones-Correa, »Under two flags: Dual Nationality in Latin America and its Consequences for Naturalisation in the United States« in: International Migration Review 35, Nr. 4 (2001), S. 1016. 76 Vgl. Marc Morjé Howard, »Variations in Dual Citizenship Policies in the Countries of the EU« in: International Migration Review 39, Nr. 3, (2005), dort FN 6. Jones-Correas Berechnungen lassen Änderungen in der US-Politik wie das Green Card Replacement Program 1992, das ›Citizenship USA‹ Program 1995 und die Reform der Sozialhilfe 1996 außer Betracht, die sich ebenfalls positiv auf die Einbürgerungszahlen ausgewirkt haben, vgl. Francesca Mazzolari, Determinants of Naturalization: The Role of Dual Citizenship Laws, University of California, The Center for Comparative Immigration Studies, Working Paper 117, San Diego 2005, S. 9-16. 77 Mazzolari, Determinants of Naturalization, aaO. (FN 76), S. 22 f. 78 Böcker und Thränhardt, Einbürgerung und Mehrstaatigkeit in Deutschland und den Niederlanden, aaO. (FN 32), S. 124. Dies postulieren ebenfalls Hammar, Dual Citizen- ship and Political Integration, aaO. (FN 33), S. 441) und Barbieri, Ethics of Citizenship, aaO. (FN 27), S. 66 f. 79 Die Daten beruhen auf vom Autor Ende September 2007 eingeholten Informationen des mexikanischen Außenministeriums. 02_Naujoks Seite 407 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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teils an Migranten mit langer Aufenthaltsdauer – insbesondere in einem Land wie Deutschland, das über keine besondere Einbürgerungstradition verfügt und das so- ziale Rechte nicht anhand des Kriteriums der Staatsbürgerschaft gewährt.

2. Wandel der Politik – politische Resonanzen eines veränderten Wahlvolks

Die Frage, wie die politische Organisation der Neubürger und die Änderungen des politischen Bildes ausfallen, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Dabei ist anzunehmen, dass Wähler mit alternativen psychologischen Bindungen, Traditio- nen, Werten und Arten, die Welt zu sehen, die Politik und nationale Identität des betroffenen Landes ändern werden. Es ist nicht unrealistisch zu erwarten, infolge einer vermehrten Einbürgerung eine größere Resonanz der neuen Staatsbürger in der deutschen Politik vorzufinden. Eine derartige Lobby, die nunmehr auch Wahl- volk repräsentiert, ist in anderen Ländern, wie beispielsweise den USA vorhanden. Dabei erscheint es irreführend, sich die potentiellen Neubürger als einheitliche, homogene Masse vorzustellen, die nunmehr gebündelt ihre Interessen vertreten könnte. Wenngleich Menschen mit türkischer Staatsbürgerschaft die größte einzelne Einwanderergruppe darstellen, machen sie doch lediglich ein Viertel der in Deutschland lebenden Ausländer aus.80 Auch die türkischen Migranten zerfallen in sunnitische und alevitische, kurdische und nicht-kurdische, religiöse wie areligiöse, traditionelle wie moderne Lager. Die Interessen von Arbeitern, Akademikern und Selbständigen türkischer Herkunft sind meist nicht identisch; deren politische Ver- einigung allein aufgrund der gemeinsamen Herkunft scheint wenig wahrscheinlich. Untersuchungen über das Wahlverhalten von eingebürgerten Türken haben ge- zeigt, dass im Jahr 2001/2002 62 Prozent von ihnen SPD, 22 Prozent Grüne und nur 11 Prozent CDU/CSU gewählt hätten.81 Das Wählerverhalten ist dabei noch sehr unzureichend erforscht, weshalb sichere Schlüsse auf Änderungen im politischen Gefüge verfrüht erscheinen. Insbesondere ist eine anhaltende Machtverschiebung zur politischen Linken keineswegs zwingend. Denn es wird oft übersehen, dass Mi- granten oftmals eine konservative Einstellung haben und durchaus Wählerpotential für konservative Parteien darstellen.82

80 Am 31.12.2006 hatten von 6.7 Mio. Ausländern 1.7 Mio. die türkische Staatsangehörig- keit, dies entspricht 26 Prozent (Statistisches Bundesamt, Bevölkerung und Erwerbstä- tigkeit, Ausländische Bevölkerung, Ergebnisse des Ausländerzentralregisters 2006, Fachserie 1 Reihe 2, Wiesbaden 2007). 81 Andreas M. Wüst, Wie Wählen Neubürger?, Obladen 2002. 82 Faruk Sen, Direktor des Essener Zentrums für Türkeistudien, betont in einem Inter- view mit Die Welt vom 8. November 2003, dass unter religiösen Migranten – Moslems – die CDU überdurchschnittlich viele Anhänger habe.

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3. Macht vs. Moderne – der demokratische Nutzen der Umverteilung der Macht

Die dritte und wichtigste Frage besteht darin, in welchem Ausmaß und auf wel- che Kosten ursprüngliche Werte, die in einer Gemeinschaft bestehen, und der Erhalt der Macht derjenigen, die sie innehaben, gegenüber Neuankömmlingen gesichert werden sollen und können und führt damit zum Kern von Migrations-, Integrati- ons- und Demokratiefragen. Obgleich es bereits lange einen beträchtlichen Zuzug von Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen gab, herrschte lange die Devise, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Dem ökonomischen Bedarf geschuldet gestattete man ausländi- schen Arbeitskräften, vorübergehend als Gast im Lande zu weilen, um sodann jedoch wieder nach Hause zurückzukehren. Das ersonnene Rotationsprinzip scheiterte je- doch83 und viele Menschen blieben in Deutschland, prägten Stadtbild und gastrono- mische wie kulturelle Landschaft. Man hat den Eindruck, Politik und Gesellschaft waren vom Bleiben dieser Menschen überrascht und konnten sich zu keiner Haltung durchringen, wie diese neuen ›Mitbürger‹ nun in die bestehende Gesellschaftsord- nung zu integrieren seien. Dies führte dazu, dass Menschen auch noch in der zweiten und dritten Einwanderergeneration nicht als ›Einheimische‹ akzeptiert wurden.84 Dabei sind Einbürgerungsdiskussionen von besonderer Bedeutung, denn solange zugezogene Menschen nicht eingebürgert sind, solange keine unlösbare Schicksals- gemeinschaft besteht, lässt sich für viele Menschen die Illusion aufrecht erhalten, eine gigantische Rückkehrmigration löse das Nebeneinander der Kulturen auf deut- schem Boden. Wenn man sich ihrer schon nicht als ›ausländische Mitbürger‹ erweh- ren kann, so sollen aus ihnen doch keine Mitstaatsbürger ausländischer Herkunft werden. Diese Exklusionstendenz ist dabei besonders problematisch, weil sie sich einer Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zu den in Deutschland lebenden Menschen ausländischer Herkunft verweigert; sie offeriert keine Lösungen, sondern ignoriert Realität. Es bestehen gute Gründe zu akzeptieren, dass die Migranten in Deutschland zu einem Großteil Einwanderer im engen Sinne sind, die dauerhaft im Land bleiben werden. Das ›offizielle Dogma vom homogenen, ethnokulturellen Volk‹ (Kurthen), das auf der Identität von Staatsvolk und Ethnie beruht, ist deshalb zu relativieren und den Realitäten anzupassen. Wie Kurthen anmerkt, muss die Bedeutung des Konzeptes nationaler Identität modernisiert werden, was vor allem durch die Beto- nung von universalistischen Prinzipien gegenüber ethnischem und nationalem Patri- otismus erfolgen kann.85 Wenn der Demokratiebegriff mehr umfasst als nur eine

83 Aus Gründen, die v. a. im System und nicht in den Arbeitsmigranten zu sehen sind, siehe Klaus J. Bade / Michael Bommes, »Migration und politische Kultur im >Nicht- Einwanderungsland<« in: Klaus J. Bade, Sozialhistorische Migrationsforschung, Göttin- gen 2004, S. 439; insbesondere gab es nie einen ›Rotationszwang‹. 84 Casanova, Einwanderung und der neue religiöse Pluralismus, aaO. (FN 59), S. 183. 85 Herman Kurthen, »Germany at the Crossroads: National Identity and the Challenges of Immigration« in: International Migration Review 29, Nr. 4 (1995), S. 934. 02_Naujoks Seite 409 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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›politische Methode‹ (Schumpeter), als die Regel der Mehrheitsentscheidung und eine institutionelle Vorkehrung, um zu politischen Entscheidungen zu kommen, wenn demokratische Werte auf dem Bekenntnis für die Gleichheit der Regierten und auf der Überzeugung gründen, dass Menschen die Möglichkeit haben sollen, die entscheidenden Umstände ihres Lebens mit zu beeinflussen, dann ist die Einbür- gerung von Langzeiteinwanderern eine demokratische Notwendigkeit. Nur in die- sem Fall spiegelt das Wahlvolk die tatsächliche Bevölkerung wider86 – ansonsten ist die Demokratie defizitär.87 Es geht nicht um die Frage nach der Optimierung der künftigen Zuwanderung, bei der strategische Interessen und ökonomische Fragen, welche neuen Mitglieder hohe Beiträge zahlen und die Allgemein(oder Club)güter wenig nutzen, eine wesentliche Rolle spielen mögen.88 Es geht um die Frage, wie das Faktum unserer tatsächlichen Bevölkerungssituation von dauerhaft im Land leben- den Menschen ohne politische Rechte mit demokratischen Grundwerten, auf denen unsere Gesellschaft beruht, in Einklang gebracht werden kann. Wie Kant formuliert: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publicität verträgt, sind unrecht.«89 Die oben beschriebene Beschrän- kung des Diskursfeldes ist kein Zufall. Sie widerspricht dem Bild, das wir von uns als zivilisierte Menschen gebildet haben, unserem Verständnis von Demokratie und Zusammenleben und damit unserer Moral. Damit wird zugleich geprüft, ob wir als homo oeconomicus allein nach unserem individuellen und kollektiven Machterhalt streben oder ob wir uns zu dem hohen liberal-demokratischen Entwicklungsstand bekennen, den wir gerne proklamieren. Es ist eine natürliche Reaktion derjenigen, die im Rahmen von Verteilungskämpfen neue Mitbewerber befürchten, die Abgabe von Macht abzulehnen. Die Geschichte ist reich an derartigen Exklusionsbestrebun- gen und deren Überwindung. Und jede neue Einsicht, die zunächst auf die eigenen Kosten zu gehen schien, hat zu dem hohen freiheitlichen Status geführt, den viele moderne Gesellschaften bereits erlangt haben. Der Kampf um die Zuerkennung vol- ler Staatsbürgerschaft von Indianern und Afro-Amerikanern in den USA, die Aner- kennung des Wahlrechts für Frauen, sowie die Achtung der Menschenrechte – all

86 Schuck, Plural Citizenship, aaO. (FN 50); Peter J. Spiro, »Embracing Dual Nationality« in: Randall Hansen / Patrick Weil (Hg.), Dual Nationality, Social Rights and Federal Citizenship in the U.S. and Europe: The Reinvention of Citizenship, New York 2002, S. 19 – 33; Jones-Correa, Under two flags, aaO. (FN 75); Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14). 87 Thränhardt, Einbürgerung, aaO. (FN 34), S. 7, 13 f. Dabei würde auch die Gewährung von Wahlrechten, die nicht an die Staatsbürgerschaft anknüpfen, demokratischen Vor- gaben genügen, vgl. Barbieri, Ethics of Citizenship, aaO. (FN 27), S. 149; Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 15), S. 37; Schuck, Plural Citizenship, aaO. (FN 50), S. 76; Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), S. 4, 16.) Der Sozialphilosoph Bruce Ackermann (Social justice in the liberal state, New Haven 1980, S. 89 ff.) liefert die philosophische Basis für derartige Forderungen. 88 Vgl. hierzu Straubhaar, Wird die Staatsangehörigkeit zu einer Klubmitgliedschaft?, aaO. (FN 39); Holger Kolb, »Staaten als Clubs: Zur Politischen Ökonomie von Migrations- politik« in: Zeitschrift für Ausländerrecht 11/12 2007, S. 398-402. 89 Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Anhang II.

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diese Statuswechsel waren stets von großen Vorbehalten derjenigen begleitet, die glaubten, hierdurch Wohlstand, Macht und Einfluss zu verlieren. Nunmehr gilt all dies in modernen Demokratien als unumstößlicher demokratischer Standard. Dabei beruhen die entscheidenden Argumente für eine Inklusion nicht lediglich auf altruistischen Motiven. Mit der Entscheidung bestimmen wir, wer wir sind und in welcher Gesellschaft wir leben. Die soziale und politische Marginalisierung von Bevölkerungsteilen wirkt sich nie positiv auf die Gesellschaft aus; sie verursacht vielmehr eine Vielzahl sozialer Probleme und Kosten. Eine inklusive Gesellschaft ist stärker und verbessert auch die Lebensumstände derjenigen, die anfangs mit schein- baren oder realen Machtverlusten zu rechnen haben. Inklusion ist deshalb rational.

IV. Schlussbetrachtungen

Der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan plädierte im Vorfeld des hoch- rangigen Politikdialogs über internationale Migration und Entwicklung im Sommer 2006 dafür, von Anekdoten im Migrationsbereich zu einer in größerem Umfang auf Fakten gestützten Migrationspolitik zu steuern. Dies ist gerade im Bereich des Staatsbürgerschaftsrechts schwer, wo es ›harte Fakten‹ nie geben wird. Hierdurch wird überzeugungsbasiertes Argumentieren und das Beharren auf politischen Kern- überzeugungen (policy core beliefs) erleichtert, die wie Sabatier zeigt, nur selten und nur durch nicht-kognitive Anstöße von außerhalb des politischen Subsystems geän- dert werden.90 Dies gilt in besonderem Maße für normative Streitfragen und auf- grund der nicht gegebenen Revozierbarkeit des Experiments. Denn einmal verliehe- ne Staatsangehörigkeiten können im Nachhinein nicht aberkannt werden, wenn dies politisch opportun erscheint. Wenngleich es Aufgabe der verschiedenen Rich- tungen der Migrationsforschung ist, mit systematischen Untersuchungen über die Auswirkungen von Statuspassagen und der sozialen und politischen Betätigung von Doppelstaatlern verstärkt empirische Argumente zu den hier aufgeworfenen Kern- fragen zu liefern, ist ein rein diskursiver Umschwung in der Haltung der Bevölke- rung und gewissen politischen Sphären unwahrscheinlich. Ein positiver Ausblick mag jedoch aus dem erkennbaren allgemeinen Trend fol- gen, den selektiven Aspekt der Migrationspolitik in den Vordergrund zu stellen, d. h. in größerem Umfang von der Wirtschaft gebrauchten, qualifizierten Menschen den Zugang zu ermöglichen. Auch Deutschland wird in den kommenden Jahren diesbezügliche Mechanismen verstärken, um am internationalen Wettbewerb um die ›hellsten Köpfe‹ teilzunehmen. Forderungen aus weiten Kreisen der Wirtschaft mehren sich und an internationalen Beispielen mangelt es nicht.91 Auch in den USA

90 Paul A. Sabatier, »Fostering the Development of Policy Theory« in: ders. (Hg.), Theo- ries of the Policy Process, Boulder 1999, S. 261-275. Auch Jones-Correa (Under two flags, aaO. (FN 77), S. 1014) stellt fest, dass die Diskussion um die doppelte Staatsbür- gerschaft in den USA ohne Datengrundlage stattgefunden habe. 91 Den klassischen Beispielsländern USA und Kanada hat sich seit 2006 Frankreich hinzu- gesellt, das mit der ›immigration selective‹ den Familiennachzug einschränkte und Ein- wanderungsmöglichkeiten für ökonomisch besonders gebrauchte Migranten erweiterte. 02_Naujoks Seite 411 Freitag, 5. Dezember 2008 12:03 12

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ist nur eine Minderheit der Migranten qualifiziert oder gar hochqualifiziert. Gleich- wohl reicht deren Stärke aus, um ein positives Bild von Einwanderern entstehen zu lassen, denen man dauerhaft Lebenshorizonte im Land eröffnen möchte. Mit der Änderung der Wahrnehmung der Einwanderer und der zunehmenden Einsicht, dass eine inklusive Gesellschaft nicht nur unseren Werten entspricht, son- dern zudem eine bessere Gesellschaft schafft, wird die Abneigung abnehmen, aus de facto Inländern auch de iure Inländer zu machen. Auf diesem Boden kann die allge- meine Erkenntnis gedeihen, dass, wie Aleinikoff und Klusmeyer92 feststellen, es kei- ne empirische Grundlage gibt, die die Annahme rechtfertigt, die doppelte Staatsbürgerschaft bedrohe die Sicherheit und soziale Struktur der betroffenen Ge- sellschaften oder gar die internationalen Beziehungen zwischen Staaten. Die Natur und das Ausmaß der Pflichten, die Staatsbürger heute tragen, erfordern im Allge- meinen keine ungeteilte Loyalität, weshalb die ganz überwiegende Mehrheit derje- nigen, die sich intensiv mit dem Thema der doppelten Staatsangehörigkeit befassen, zu einer flexibleren Handhabung rät.93 Und auch Staaten entscheiden sich zuneh- mend für ihre Akzeptanz.94 Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht alleine die Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit zu gesellschaftlicher Inklusion führt. Sicherlich kann diese hier- zu beitragen; sicherlich sind xenophobe Kampagnen gegen den Doppelpass abträg- lich. Es geht nicht stets allein um die objektiv bestehenden rechtlichen Normen, sondern um die Annahme einer allgemeinen Einwanderungsmentalität, die sich durch die Akzeptanz von gemischt-kulturellen Identitäten und einen grundsätzli- chen Inklusionswillen auszeichnet. Die grundsätzliche Hinnahme von Mehrstaatig- keit wäre eine wichtige Etappe auf diesem Weg. Es ist indes nicht viel Vorstellungskraft erforderlich um vorherzusagen, dass wir die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft und andere Einbürgerungser- leichterungen für Menschen, die bereits seit langem unserem Gemeinwesen angehö- ren, einmal als selbstverständliche demokratische Errungenschaften betrachten und erbitterte ideologische Bedenken als ebenso überholt ansehen werden wie die Erör- terungen Immanuel Kants der vor 222 Jahren schrieb, dass »das Recht der Stimmge-

92 Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 17), S. 7. 93 Hammar, Dual Citizenship and Political Integration, aaO. (FN 33), S. 449; Barbieri, Ethics of Citizenship, aaO. (FN 27); Aleinikoff und Klusmeyer, Citizenship Policies for an Age of Migration, aaO. (FN 15); Schuck, Plural Citizenship, aaO. (FN 50); Spiro, Embracing Dual Nationality, aaO. (FN 86); Naujoks, Turning Brain Drain into Brain Circulation, aaO. (FN 26); Bauböck, Citizenship Policies, aaO. (FN 14), ders. Bauböck, Interaktive Staatsbürgerschaft, aaO. (FN 38); Thränhardt, Einbürgerung, aaO. (FN 34); weitere Nachweise bei Martin, The Trend toward Dual Nationality, aaO. (FN 19), dort FN 8. 94 Folgende Staaten haben in den vergangenen Jahren die doppelte Staatsbürgerschaft voll oder teilweise anerkannt: Kolumbien (1991), Italien (1992), Ungarn (1993), die Domini- kanische Republik (1994), Costa Rica (1995), Ekuador (1995), Brasilien (1996), Mexiko (1998), Australien (2002, allerdings nur für australische Auswanderer), Pakistan (2002), Finnland (2003), Philippinen (2003), Indien (2003, wobei die Klassifizierung der Über- seestaatsbürgerschaft hier strittig ist).

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bung zu haben, d. i. Staatsbürger, nicht bloß Staatsgenosse zu sein, dazu qualificiren sich nicht alle mit gleichem Recht«, weswegen Gesellen, Dienstboten und alles Frauenzimmer als bloßer »Theil des gemeinen Wesens« nicht auch als »Glied des- selben« eben kein Stimmrecht haben dürften.95 Die Überholung derartiger Ansich- ten ist das Wesen demokratischer Entwicklung.

Zusammenfassung

Debatten um die Anerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft sind eng mit Vorstellungen von Staatsbürgerschaft und Einbürgerung, mit Einstellungen gegenü- ber dem Fremden und Fragen von Macht und Identität der Mehrheitsgesellschaft verwoben. Dabei spielen klassische technische und sozio-politische Einwände nur vorder- gründig eine prominente Rolle. Das eigentliche Motiv für die Ablehnung der Mehr- staatigkeit ist ein zielgerichtetes Exklusionsbestreben des als vermeintlichen ›Stan- dardtypus erkannten Fremden‹; es ist die Abneigung, aus de facto Inländern auch de iure Inländer zu machen. Für die Rationalisierung der Debatte ist es nötig, das Fun- dament der bestehenden Befürchtungen zu beleuchten und sie mit elementaren de- mokratischen Vorgaben sowie sozialen Kosten der Marginalisierung zu konfrontie- ren.

Abstract

Debates on the recognition of dual citizenship are interwoven with the concept of citizenship and naturalization, as well as with attitudes towards foreigners and questions of power and identity of the majority society. Classic technical and socio-political objections only ostensibly play a prominent role. The true motive behind the disinclination towards plural citizenship in Ger- many is the purposive exclusion of the ostensibly-identified ›standard type of fo- reigner‹; it is the reluctance to turn de facto citizens into de iure citizens. In order to rationalize the debate it is necessary to shed light on the basis for the existing con- cerns, and to confront them with elementary democratic principles as well as with the social cost of marginalization.

Daniel Naujoks, Power and Identity. A discourse analysis of dual citizenship

95 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, § 46. 03_Weinacht Seite 413 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

Paul-Ludwig Weinacht Eroberungskrieg und Propaganda der Verteidigung Recht – Diskreditierung – Verbot

»Unter politischer Gemeinschaft wollen wir eine solche verstehen, deren Ge- meinschaftshandeln dahin verläuft: ›ein Gebiet‹…und das Handeln der dar- auf…befindlichen Menschen durch Bereitschaft zu physischer Gewalt, und zwar normalerweise auch Waffengewalt, der geordneten Beherrschung durch die Be- teiligten vorzubehalten (und eventuell weitere Gebiete für diese zu erwerben).«1 Der kriegerische Angriff und die mit ihm verbundenen Eroberungen sind ein klassischer Ausdruck des ius belli. Souveräne Staaten haben danach das Recht, ihre Händel als gleichberechtigte Kriegspartner untereinander auszutragen, und zwar unabhängig von der Unterscheidung nach Angriff und Verteidigung.2 Die Unter- scheidung von erlaubter Verteidigung und unerlaubtem Angriff, im 19. Jahrhundert angesichts der napoleonischen Kriegszüge hervorgebracht, wurde im 20. Jahrhun- dert ins Völkerrecht überführt.3 Und doch scheint das Völkerrecht seit dem 11. Sep- tember 2001 ins Rutschen geraten zu sein: Eine außenpolitische Schule in den USA hält dafür, dass anticipatory military activities, sprich »militärischer Angriff«, unter der Bezeichnung von preemption eine Art von erlaubtem Verteidigungskrieg sei.4 Moraltheologen waren seit dem Mittelalter bemüht gewesen, plausible Kriterien für ein bellum iustum (Thomas v. Aquin) zu finden. Sie wollten verhindern, dass aus kleinen Anlässen und in beliebiger Absicht militärische Interventionen vom Zaun gebrochen werden. Mit der katholischen Conquista verdichteten spanische Theolo- gen ihre theologisch-ethischen zu juristischen Argumenten. Dem Anspruch der Staaten auf ein Recht zum Krieg in der Absicht, »eventuell weitere Gebiete…zu er- werben« (M. Weber), wurde von einer frühliberalen bürgerlichen Öffentlichkeit die Rechtfertigung bestritten. Benjamin Constant sprach weithin vernehmbar ein mo- ralisches Verdikt über den Kriegsherrn der Epoche. Anlaß war ihm der Aufbruch der Grande Armée zur Unterwerfung und Eroberung Rußlands. In seinem in Mon-

1 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kapitel VIII (Politische Gemeinschaften), Tübingen 1976, S. 514. 2 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde, Berlin 1950, S. 114 f.. Zum Zusammenhang von ius belli und iustus hostis vgl. ders., Der Begriff des Politischen, Text v. 1932 mit einem Vor- wort und drei Corollarien, Berlin 1963, S. 46. 3 Gewöhnlich wird der Brand-Kellogg Pakt von 1928 als erstes völkerrechtlich verbindli- ches Dokument des Verbots des Angriffskriegs genannt. 4 Rachel Bzostek, Why not Preempt? Security, Law, Norms and Anticipatory Military Activities, California State University 2008.

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tesquieus Geist5 verfaßten Traktat De l´esprit de conquête et de l´usurpation, dans leurs rapports avec la civilisation européenne dekretierte er, dass Krieg in keiner Form erlaubt sei und Waffen nur gegen Angreifer geführt werden dürften. Im letz- teren Fall gehe es »nicht um Krieg im eigentlichen Sinne«, sondern »um gerechte Verteidigung, d. h. um Vaterlandsliebe, um Liebe zur Gerechtigkeit, um alle edlen und geheiligten Gefühle«.6 Sein Traktat weist damit über die unmittelbare Veranlas- sung des Herbstes 1813 hinaus. Noch in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts galt Constant, der Repräsentant der liberalen europäischen Zivilisation7, als geistiger Zertrümmerer des Eroberungskriegs.8 Eroberungskriege konnten schon im 17. und 18. Jahrhundert als ungerecht gel- ten. Was Constant dem Argument fehlender Rechtfertigung hinzufügt, ist das zivili- satorische Argument: Eroberungskriege seien anachronistisch geworden, weil sie eine überholte Form des Eigentumswechsels darstellten. Moderne Völker bevor- zugten aus guten Gründen den Handel: »Krieg und friedlicher Austausch sind nichts als zwei verschiedene Mittel zum gleichen Ziel, nämlich zum Besitz dessen, was man begehrt…Die Erfahrung, dass der Krieg, also die Anwendung eigener Ge- walt gegen die Gewalt eines anderen, ihn vielfachem Widerstand und Misserfolg aussetzt, lässt ihn zum friedlichen Austausch als dem sanfteren und sichereren Mit- tel greifen, durch welches er das fremde mit dem eigenen Interesse versöhnt.«9 Gro- ße Eroberer, die vormals Ansehen und Verehrung genossen, stünden heute mora- lisch auf verlorenem Posten: »Wenn die Menschen, die das Schicksal der Welt in Händen halten…gegen die Interessen, gegen den ganzen sittlichen Daseinsgrund ih- rer Zeitgenossen kämpfen, wenden sich diese Kräfte des Widerstands gegen sie; und nach einiger Zeit, lang genug für die Opfer, kurz für das Maß der Geschichte, blei- ben von ihren Unternehmungen nur die Verbrechen, die sie begingen, und die Lei- den, die sie verursacht.«10 Constant endet seine Philippika gegen das napoleonische Eroberungssystem da- mit, dass er den Eroberer aus der zivilisierten Menschheit ausschließt (»Mensch ei- ner anderen Welt«) und die von ihm betriebene Politik aus aller moralischen Zeitge- nossenschaft verbannt: »Das System der Eroberung, dieses Überbleibsel eines

5 Schon der Titel des Traktats von Constant wirkt wie eine Ergänzung des Esprit des lois. Im 12. Kapitel des Traktats (»Wirkung dieser Erfolge auf die unterworfenen Völker«) wird ausführlich aus Esprit des lois, Buch X, Kapitel 3 zitiert. In Kapitel 13 des Traktats wird Montesquieu als Autorität beschworen. 6 Benjamin Constant, Über die Gewalt.Vom Geiste der Eroberung und der Anmaßung der Macht, aus dem Französischen von H. Zbinden, (= Reclam Nr.7618-20), Stuttgart 1948, S.11. 7 Carl Schmitt nennt Benjamin Constant den »Inaugurator der gesamten liberalen Geis- tigkeit des 19. Jahrhunderts«, vgl. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 6. Aufl., Berlin 1996, S.73. 8 Im Jahr 1942 wurde der Text ins Deutsche übersetzt, 1947 erschien eine Neuausgabe, 1948 im Stuttgarter Reclam-Verlag die deutsche Übersetzung. 9 Constant, Über die Gewalt, Stuttgart 1948, S.13 f. 10 Constant, ebd. S.7 f. 03_Weinacht Seite 415 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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verschwundenen Zustandes, dieser Zersetzer alles Bestehenden, wäre erneut von der Erde verbannt, und durch diese letzte Erfahrung verdammt zu ewiger Schmach.«11 Solche Sätze könnten eine ältere von einer jüngeren Epoche der Menschheitszivilisation trennen. Wie sich unsere Zeitgenossen dazu verhalten, die im Zeitalter der Ideologien, Krieg geführt haben und noch führen, steht auf einem anderen Blatt.12 Dass auf Annexion ausgehende Kriege, bei denen Massen beteiligt sind und das internationale System kriegsführende und neutrale Staaten kennt, auf vorbereitende Diplomatie und begleitende Propaganda angewiesen sind, wissen wir nicht erst seit den europäischen Kriegen des 19. Jahrhunderts. Und doch hat sich im 20. Jahrhundert jene neue mediale Begleitpraxis zum Krieg gebildet, deren Ziel es ist, die eigene Sache der moralischen Verurteilung zu entziehen, die des Feindes aber desto schwärzer hineinzutauchen. Im Folgenden diskutieren wir den Krieg anhand von Texten, die in einer Zeit ent- standen, als Kriege auszulösen und zu führen zum Recht souveräner Staaten gehör- te. Es entsprach der Situation, dass Gebietsstreit, wo nicht durch Vereinbarung, nurmehr durch Rekurs auf Deus iudex, also im Glück der Waffen, entschieden wer- den konnte.13 Argumente klassischer Autoren werden vorgeführt anhand von Tex- ten des Politikers Machiavelli (1469-1527), des Theologen Vitoria (um 1483 – 1546), des Juristen Montesquieu (1689 – 1755) und des Philosophen Kant (1724 – 1804). Der Zusammenhang von Eroberung und Krieg tritt dabei je anders in Erscheinung, und das nicht nur, weil je andere Überzeugungen vorherrschen, sondern weil ver- schiedener Zeiten und Länder unterschiedliche Probleme stellen: je andere im Itali- en der Medici, im Spanien Karls V., in Frankreich im Bann des Sonnenkönigs, in Preußen angesichts der Französischen Revolution. Zuletzt nehmen wir uns ein Bei- spiel amtlicher Kriegspropaganda vor, das geeignet ist zu zeigen, wie Staaten Krieg nicht nur führen, sondern auch seinen Verlauf interpretieren müssen. Unsere Quelle sind Erinnerungen des ersten amtlichen Propagandabeauftragten während des Ers- ten Weltkrieges, des Reichstagsabgeordneten Mathias Erzberger (1875 – 1921).

Machiavelli

In den wenig gefestigten italienischen Fürstentümern und Städten der Renais- sance gehörten Herrschaftswechsel, wechselnde Bündnisse, Eroberung und Rück- eroberung von Territorien zum normalen Gang der Politik. Geschäftserfahrene Di-

11 Constant, ebd. S. 52 f. 12 Carl Schmitt, Das international-rechtliche Verbrechen des Angriffskrieges und der Grundsatz »Nullum crimen, nulla poena sine lege«, hg. und mit Anmerkungen versehen v. Helmut Quaritsch, Berlin1994. 13 Ein früher Text dazu wird zitiert nach Raphaelis Fulgosii, Super prima digesti veteris parte. Ex hoc iure, ed. Luguni DXLIIII, S. 205, vgl. P. Haggenmacher, Grotius et la doc- trine de la guerre juste, Paris 1983.

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plomaten (»statisti«), wie Machiavelli einer war, prüften die Interessen und die Hilfsmittel. Sie wussten zu sagen, ob ein Fürst oder eine Bürgerschaft das Zeug zum Kampf habe (virtú), ob eine Entscheidung für einen Eroberungskrieg oder einen Waffenstillstand unvermeidlich seien (necessità), ob sich irgendeine günstige Gele- genheit zu einem Angriff oder einem Bündniswechsel ergäbe (fortuna). Machiavelli hat seine politisch-historischen Analysen im Principe nach den angedeuteten Ge- sichtspunkten angelegt und dabei, wie der Wechsel des Buchtitels wohl zeigt, unter der Hand weniger den Formen der Herrschaft (»De principatibus«) Aufmerksam- keit geschenkt als den politischen Akteuren (Il Principe, 1513). Machiavellis Verständnis des Krieges beruht auf seiner Bewunderung für den mi- litärischen Charakter (virtú) der Römer und ist eine Frucht seiner kritischen Beob- achtung des zeitgenössischen Kriegswesens und seiner Folgen für die Staaten. Wer Eroberungen macht, muss mit Revanche rechnen und braucht dafür kalte Ent- schlossenheit. Die Römer besaßen davon genug und hätten daher nicht, wie seine italienischen Zeitgenossen, die Ausrede benutzt »kommt Zeit, kommt Rat«: »denn sie [die Römer] wußten, daß der Krieg nicht aufgehoben, sondern immer nur aufge- schoben wird – zum Vorteil der Gegner« (Principe, 3. Kapitel). Das Führen eines Kriegs war für ihn keine Frage von Moral und Recht, sondern von Planung, Ge- schicklichkeit und Tapferkeit, also eine quaestio facti. Der genialische Papstsohn Cesare Borgia vermochte die Fundamente, »die andere legen, ehe sie Fürst«, in der Romagna nachträglich zu errichten: durch geliehene Waffen, Unbedenklichkeit, militärische Führungskraft, Glück (Principe, Kapitel 7). Freilich verlor er alles wie- der, als sein Vater nicht mehr lebte, weil er die nachfolgende Personalentscheidung unüberlegt traf (Papst Julius) und weil er in einem kritischen Zeitpunkt wegen Krankheit nicht präsent sein konnte. Alles dies Tatsachen-, keine Moral- oder Rechtsfragen. Im Dienst der Republik machte sich Machiavelli 1506 das Kriegshandwerk zur Aufgabe14, wobei er zwei Reformziele verfolgte: Die Infanterie sollte der Kern der Streitkäfte werden und diese selbst sollten nicht länger aus Söldnern, sondern aus Bürgern bestehen. Auf die Weise wollte er den Krieg abkürzen und die Entschei- dungsschlacht suchen, die von den Söldnern und ihren Führern (Condottiere) be- kanntlich eher gemieden wurde. Unter wiederholtem Verweis auf eine Lage, die an- dere Lösungen nicht erlaube (necessità), empfahl er dem Großen Rat seiner Vaterstadt ein Gesetz zur Aufstellung einer Bürgermiliz aus Infanteristen, die, wo

14 Während Villari im Blick auf Machiavells Miliz-Konzept im Licht der Ereignisse von 1512 von »Illusionen« spricht, bewundert Giuseppe Bonghi seinen großen Landsmann im Licht seiner Kriegskunst-Schrift von 1521 als Vorläufer Clausewitz´. Vgl. zu Bonghi: Introduzione a Dell´arte della guerra di Machiavelli, edizione telematica et revisione, Iuglio 1997. Dass Milizen eine »Niederwerfungsstrategie« nach außen möglich machten und nach Innen den bürgerschaftlichen Geist (virtù) gesunden ließen, betont nach- drücklich Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt/M. 1982, S. 381-394. 03_Weinacht Seite 417 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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nicht gleich aus der Stadtbürgerschaft, so wenigstens aus dem Landvolk im Umland (Contado) ausgehoben werden sollten.15 Dass Machiavellis Erwartung an die Überlegenheit von Bürgermilizen und ihre wohltätige Wirkung auf den politischen Charakter der Bürgerschaft übertrieben waren, zeigte sich zwar noch nicht beim ersten Einsatz der Bürgerstreitmacht 1509, der es durch Aushungerung der Einwohner von Pisa gelang, diese von Florenz ab- gefallene Stadt zurückzugewinnen, wohl aber beim zweiten Einsatz drei Jahre spä- ter, als professionell ausgebildete und geführte Soldaten im Sold der spanischen Krone den florentinischen Vorort Prato einnahmen und völlig zerstörten. Damals liefen die Milizionäre aus dem Umland (Contado) von Florenz demoralisiert davon. Die Niederlage bedeutete das Ende der Soderini-Republik, in der Machiavelli sei- nen politischen Einfluß besaß und die Rückkehr der Medici an die Macht in Flo- renz. Obwohl es ihm vor allem um die Sicherung der republikanischen Freiheit seiner Vaterstadt gegangen war16, hat er auch die politischen Probleme einer Fürstenherr- schaft analysiert: der ererbten und der neuen. Eroberungen, die ein Erbfürst machen kann, behandelt er als »zusammengesetzte Fürstentümer« (Principe, Kapitel 3); sie zu errichten verlange nicht viel mehr als dies: alte Gewohnheiten der neu gewonne- nen Untertanen zu respektieren. Ganz andere Schwierigkeiten türmen sich auf, wenn einer eine Herrschaft ganz neu begründen, d. h. einen stato erobern will, und wenn ihm dann auch noch die notwendigen Mittel abgehen (Principe, Kapitel 2).17 Das Erobern selbst, auf das Fürsten wie Privatleute aus sind, ist ihm etwas Natür- liches. Es ist ihm so selbstverständlich wie den älteren Sozialphilosophen der Drang des einzelnen im Naturzustand, sich anderen anzuschließen und in Gesellschaft zu leben (ens sociale). Allerdings verabsolutiert er den Menschen nicht als ein ens ex- pugnans, sondern stellt die Aktualisierung des natürlichen Eroberungsdrangs unter den Vorbehalt der Lage: »Die Eroberungslust ist etwas sehr Natürliches und Ver- breitetes, und so oft Fürsten auf Eroberungen ausgehen, die die Macht dazu haben, werden sie gepriesen oder wenigstens nicht getadelt. Wenn ihnen aber die Kräfte zu Eroberungen fehlen und sie doch um jeden Preis solche machen wollen, so ist das verkehrt und verdient Tadel« (Principe, Kap. 3). Wenn Republiken, Fürsten und Privatleute um Machtgewinn und Machterhal- tung kämpfen, sind sie insofern nicht voneinander verschieden. Allenfalls unter-

15 »Questo ordine bene ordinato nel contado, de necessità conviene che entri ad poco ad poco nella città, et sarà facilissima cosa ad introdurlo. Et vi advedrete anchora a´vostri dì, che differentia è havere de´vostri cittadini soldati per electione et non per corruptione, come havete al presente... «, in: »Relazione del Machiavelli sulla istituzione della nuova Milizia«, in: Pasquale Villari, Niccolò Machivelli e i suoi Tempi illustrate con nuovi documenti, Bd. I, Florenz 1877, Doc. XXXVII, S. 641. 16 »potere preservare la vostra libertà« (Relazione [1877], S. 637). 17 Robert Shackleton meinte im Blick auf Machiavelli als Vorbild Montesquieus: »Machia- velli had written of republic and monarchy as good States and contrasted them with tyranny which was bad.« Ders., Montesquieu. A Critical Biography, Oxford 1961, S. 267.

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scheiden sie sich darin, ob sie den Gewinn, den sie sich geholt haben, dauerhaft be- halten oder rasch wieder einbüßen. Das politische Problem der Eroberung beginnt also mit dem militärischen Sieg und es ist völlig unabhängig von der Frage, ob der Sieger als Usurpator angesehen wird. Er vermeidet daher den Begriff. Denn worum es geht, ist, Konkurrenten und Unterworfenen die Aussicht auf Änderung der Ver- hältnisse zu nehmen bzw. sie hoffen zu lassen, dass die neue Herrschaft ihnen oder dem Vaterland gut bekommen könnte. Machiavelli hat in diesem Zusammenhang auch Privatleute als Staatsgründer behandeln können. Diese »wertfreie« Behand- lung wurde von Jesuiten und Lutheranern scharf getadelt und noch Liberale des 20. Jahrhunderts wandten sich davon ab, als sie Bezüge zu jenem österreichischen Pri- vatmann entdeckten, der vom Postkartenmaler zum Reichskanzler und militäri- schen Oberbefehlshaber aufstieg.18 Blutige militärische Eroberung verhindert die Gunst der Einwohner, auf die ein Eroberer angewiesen ist, um seinen Gewinn dauerhaft zu bewahren. Aus diesem Widerspruch entfalten sich die politischen Folgeprobleme nach dem Sieg. So heißt der erste politische Ratschlag: Das Loyalitätsband zur angestammten Dynastie müsse zerschnitten werden. Wenn die Untergebenen an Freiheit nicht gewohnt wa- ren, müsse die Dynastie sogar ausgerottet werden. Der Eroberer solle nur die ge- wohnten »Gesetze und Abgaben« im Auge behalten. Wenn Sprache, Sitte und Ver- fassung fremd sind, empfiehlt Machiavelli dem Eroberer, den Wohnsitz im neuen Land aufzuschlagen, wie die Türken es in Griechenland getan hätten, oder Militär- kolonien anzulegen. Das dafür erforderliche Gelände lasse sich durch die Vertrei- bung der Vorbesitzer gewinnen. Um handlungsfähig zu werden, möge er sich mit den Schwachen verbünden, ohne sie zu stark werden zu lassen, den alten Eliten aber das Wasser abgraben. Eine Nachbarmacht dürfe sich nicht als Retter aufspielen kön- nen (das war die klassische Strategie Athens, von der Thukydides berichtet). Schwierig sei es mit eroberten Republiken, die man eher »mit Hilfe ihrer eignen Bürger... behaupten als auf irgendeine andre Weise, wenn man sie nicht zerstören will.« Gelänge dies nicht, müsse man die Bürger austreiben, da Republikaner »ihre Freiheit und Verfassung nie« vergessen (Principe, Kapitel 5). Im berühmten 26. und letzten Kapitel des Principe gibt Machiavelli den Blick auf die Eroberung der der nationalen Einigung im Weg stehenden Gebiete frei. Er zeichnet hier aber nicht das Bild kumulierter Annexionen als vielmehr einer fort- schreitenden Desannexion19: »Worte können nicht sagen, mit welcher Liebe ihn all die Gebiete aufnehmen würden, die unter dem Einbruch der Fremden gelitten ha-

18 Für die jüngere Literatur dazu vgl. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht, München 6 Aufl. 1948, Leo Strauss, Thoughts on Machiavelli, Glencoe 1958, Dolf Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/Main 1978 (bei Sternberger wird Machiavelli unter dem Rubrum »Dämonologik« und mit ausdrücklichem Verweis auf Hitler interpretiert: u. a. Röhmputsch als Sinigalia). 19 Der Begriff spielt in der Zeit zwischen dem Berliner Kongress und dem Ersten Welt- krieg auf dem Balkan eine überragende Rolle, vgl. z. B. D. Rizoff, Vorwort zu Die Bul- garen in ihren historischen, ethnographischen und politischen Grenzen, Berlin 1917, S. XII u.ö. 03_Weinacht Seite 419 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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ben, mit welchem Rachedurst, welcher unerschütterlichen Treue, welcher Ehr- furcht, welchen Tränen! Wie könnte sich ihm ein Tor verschließen, ein Volk den Ge- horsam versagen, wie könnte gegen ihn Neid sich regen, wie ein Italiener ihm nicht huldigen: einen jeden ekelt die Herrschaft der Barbaren.« Machiavelli beschreibt hier den »Volksfürsten«, der in den eroberten Gebieten wie der Fisch im Wasser operiert und im Verhältnis zu den Landfremden alle Register der politischen und Kriegskunst zu ziehen vermag – ein neuer Borgia. Die Einigung Italiens wäre die Voraussetzung dafür, dass nicht länger Privatleute ihren Eroberungsgelüsten nachgehen können, weil Krieg dann zur Angelegenheit von Völkerrechtssubjekten und mithin zu einer quaestio juris werden könnte.

Francesco de Vitoria

Der Dominikaner Vitoria kennt die Lehre des Aquinaten vom begrenzt gerecht- fertigten Krieg (bellum iustum). Den von Machiavelli mehr geahnten als verbindlich wahrgenommenen Zustand des Krieges zwischen Staaten nimmt er in seinen relec- tiones (De Indis recenter inventis, 1539) auf und stellt ihn in dem aktuellen Fall der Eroberung »Indiens« durch die spanische Krone zur Diskussion. Anders als bei Machiavelli bleibt er nicht bei den Tatsachen stehen, sondern diskutiert das ihnen zugeordnete Recht. Die Diskussion pro und contra eruiert die inneren Schwächen und Stärken rechtfertigender Argumente. Vitoria hat es darauf abgesehen, die bis dahin am Hofe Karls V. und Philipps II. gängigen Lehren eines Joan Gines Sepúlveda zu widerlegen, die darauf zielten, Indi- aner-»Land zum Objekt einer freien Landnahme« 20 zum machen, weil seine Besit- zer Götzenanbeter und »Sklaven von Natur« (Aristoteles21) seien. Dagegen trägt Vi- toria vor, Indianer besäßen die gleichen natürlichen Rechte und Institutionen wie Europäer, denn sie hätten Anteil an der Vernunft und demzufolge ein Recht auf Ei- gentum (iurisdictio) und Herrschaft (dominium).22 Nach unvoreingenommenen Be- obachtungen kennen sie beide Institutionen: das Eigentum wie die Herrschaft (De Indis, I. 23). Vitoria besteht so auf dem gleichen Recht von Christen und Heiden, von Europäern und Indianern. Man darf weder indianische noch europäische Fürs- ten oder Einzelne (aut principes, aut privati) ihres Eigentums berauben. Als jura contraria sind diese Rechtstitel reversibel. Darum haben auch die Entdecker und Missionare natürliche Rechte in den »indischen« Territorien und gegenüber ihren

20 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 71. 21 Vgl. dazu inzwischen von Wilfried Nippel, »Aristoteles und die Indios. ›Gerechter Krieg‹ und ›Sklaven von Natur‹ in der spanischen Diskussion des 16. Jahrhunderts«, in: Christoph Dippel und Martin Vogt (Hg.), Entdeckungen und frühe Kolonisation, Wies- baden 1993, S. 69–90. 22 Neben Sepulveda, mit dem er der 2. Junta von Valladolid angehörte (1552) gilt Las Casas als Schrittmacher eines modernen Völkerrechts, vgl. Josef Bordat, Gerechtigkeit und Wohlwollen. Das Völkerrechtskonzept des Bartolomé de Las Casas, Aachen 2006.

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Bewohnern. So steht ihnen z. B. das natürliche Recht auf Besuch und Umgang zu (naturalis societas et communicatio).23 Während Kant das Besuchsrecht der Entdecker und Händler später unter dem re- striktiv verstandenen Grundsatz der Hospitalität aufnehmen wird24, behandelt Vi- toria das Besuchsrecht seiner Landsleute in der für sie neuen Welt expansiv. Es be- deutet ihm – ausgehend vom Missionsauftrag – das Zutrittsrecht der Missionare, Entdecker, Händler, Kolonisatoren – mit Carl Schmitt zu reden: das »Recht der eu- ropäischen Landnahme im ganzen«25. Kein Wunder, dass der Missionsauftrag, den der spanische König vom Papst für die neue Welt erhalten hat, eine tragende Rolle spielt; und da kriegerische Konflikte nicht nur zwischen den Neuankömmlingen und den Ureinwohnern, sondern auch zwischen den zum christlichen Glauben be- kehrten und den bei den alten Göttern verbliebenen Ureinwohnern aufbrechen, muss Vitoria im Rahmen seiner Methode mit diesen Konflikten umgehen. Er tut dies nach der scholastischen Prüfung der Rechtsgründe, die auch für europäische Kriegsparteien maßgeblich ist: nämlich die Kasuistik von Rechtfertigungen (iusta causa belli, in: De Indis, III). Von ihr handelt die anschließende Relectio: De jure belli hispanorum in barbaros aus demselben Jahr 1539. Die Führung von Kriegen – sei es in Europa oder in den »indischen« Gebieten – steht in der Kompetenz weltlicher Fürsten (potestas civilis) und bedarf – anders als der Missionsauftrag und die damit verbundene Landnahme – keiner Mandatierung durch Kaiser oder Papst. Als das natürliche Recht der Staaten wird der Krieg bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht in erster Linie nach Angriff und Verteidigung, sondern nach seinem Zweck und unter Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel beurteilt. Kriege sind gerechtfertigt, wenn es ihr Zweck ist, geraubtes Ei- gentum dem Eigentümer zurückzuerstatten und mit Strafe zu vergelten, wo Misse- taten geschehen sind. »Denn wenn die Barbaren den Spaniern erlauben würden, friedlich mit ihnen Handel zu treiben, so könnten die Spanier von diesem Gesichts- punkt aus ihnen gegenüber mit keinem größeren Recht einen gerechten Grund zur Besitznahme ihrer Güter in Anspruch nehmen als gegenüber Christen« (De Indis, III Nr. 8). Die Eroberung selbst wird nicht als Zweck, sondern als notwendige Folge aner- kannt. Ein Fürst, der Krieg führt, um Eroberungen zu machen, kann dafür keinen zureichenden sittlichen Grund vorbringen (Non est iusta causa belli amplificatio im- perii, in: De Jure Belli, Nr. 11), schon gar nicht, wenn er vor allem die Mehrung sei- nes Ruhms oder seinen persönlichen Vorteil im Auge hat (gloria propria aut aliud commodum principis , De Jure Belli, Nr. 12). Ein rechtfertigender Kriegsgrund muss am Gemeinwohl Maß nehmen (bonum commune ebd.); davon abgeleitet gelten als

23 Daraus folgt das »ius peregrinandi in illas provincias et illic degendi«, Vitoria, De Indis, III.2. 24 Dritter Definitivartikel des Ewigen Friedens, Immanuel Kant, Kleinere Schriften zur Geschichtsphilosophie, Ethik und Politik, hg. Karl Vorländer (Philos. Bibliothek Bd. 47), Hamburg 1973, S. 135 ff. 25 Carl Schmitt, Der Nomos der Erde (FN 20) S. 70. 03_Weinacht Seite 421 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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rechtfertigende Gründe: Eigentum verteidigen, geraubtes Eigentum zurückholen, aufgewandte Kriegskosten eintreiben, Missetäter im Interesse des Erdkreises bestra- fen (necessaria ad gubernationem et conservationem orbis, De Jure Belli, Nr. 19) und die Kriegsgegner friedensgeeignet machen, d. h. sie beschämen, schwächen, unter Aufsicht stellen (necessaria ad defensionem boni publici, ad consequendam pacem et securitatem; Der Jure Belli, Nr. 15). Bestehen Zweifel, ob tatsächlich ein gerechtfer- tigter Grund zum Krieg vorliegt, dann ist ein Angriff verboten: »Im Zweifelsfall darf man den Besitzer nicht berauben« (De Jure Belli Nr. 27). Nichts davon ist neu außer der Tatsache, dass ein innerhalb der Moraltheologie für die europäische respublica christiana entwickeltes Rechtfertigungs-Schema auch für den Krieg in der neuen Welt zwischen Christen und Nichtchristen zur Anwen- dung gebracht wird. Allerdings bleibt außerhalb der Klammer der Reversibilität und der Reziprozität, was das Besuchsrecht (naturalis communicatio) autoritativ veranlasst: das päpstliche Mandat an den spanischen König zur Heidenmission durch christliche Orden. Die in der Folge dieses Mandats entstehenden Verwicklun- gen lösen in der Form der Conquista Kriege aus, die nicht wegen des Eroberungs- zwecks, wohl aber im Rahmen der Heidenmission bzw. der Verteidigung der jun- gen Christengemeinden gerechtfertigt sein können.26

Montesquieu

Was Krieg zur Politik beiträgt, wie er eine Stadt zu einem Weltreich erweitert, das hat Montesquieu in seinen Studien zur römischen Geschichte27 breit erörtert und in den Reflexionen über die Universalmonarchie (RMU28) variiert. In seinem Haupt- werk Vom Geist der Gesetze« (= Edl, 1748) und in Mes Pensées29 führt er aus, wie sich politische Regierungsformen zur Kriegsführung, speziell zum Eroberungs- krieg, verhalten (Edl, Buch X).

26 In diesem Sinn auch Carl Schmitt, wenn er schreibt: »Es kommt hier nicht darauf an, alle in Betracht kommenden ›legitimen Rechtstitel‹ der Spanier, die Vitoria darlegt, im einzelnen zu erörtern. Daß aber ihr Ergebnis schließlich doch zu einer Rechtfertigung der spanischen Conquista führt, hat seinen eigentlichen Grund darin, daß er den Unter- schied von Christgläubigen und Nicht-Christen [nicht ]wirklich ignoriert und als nicht- existent betrachtet. Im Gegenteil: das praktische Ergebnis ist ganz in der christlichen Überzeugung Vitorias begründet«, Nomos der Erde (FN 4), S. 83. 27 »Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur decadence« (1734), in: Montesquieu, Oeuvres completès, hg. von R. Caillois, Bd. II (Pléjade), Paris 1951, S. 69–209. 28 »Réflexions sur la Monarchie Universelle en Europe« (1734), in: Montesquieu, Oeuvres complètes II, S. 19–38. 29 »Mes Pensées V., Conquêtes et Traités«, in: Montesquieu, Oeuvres complètes II, 1951, S. 1426–1428.

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Im Rückblick auf seine »Römer«, deren kontinuierliche Eroberungspolitik er ein- gehend analysiert und in ihrer Singularität zu erklären versucht,30 zieht Montesquieu die uns heute voreilig erscheinende Bilanz, dass eine solche Kriegspolitik heute chancenlos geworden sei (»la guerre continuelle est destructive aujourd´hui«). Eine militärische Supermacht (»une superiorité constante sur les autres«), wie Rom es zu seiner Zeit gewesen sei, sei nicht mehr möglich. Die moderne Industrie und Technik habe nämlich die Kräfte der Individuen und die Macht der Staaten nivelliert, und auf dem Meer wirke sich die Erfindung des Kreiselkompasses mäßigend aus.31 Die hier angestellte Überlegung wird in den Reflexionen über die Universalmon- archie weiter entfaltet: Für deren wachsende Unwahrscheinlichkeit sprechen der Faktor Technologie, das Völkerrecht und der Handel (Holland erwirbt mehr über seine Kaufleute als über seine Soldaten). Die größte Macht stamme nicht aus Erobe- rungskriegen, sondern aus dem gemeinsamen Handel: Alle Kulturvölker seien die Mitglieder einer großen Republik geworden. Von Land zu Land seien variierende Reichtümer Grundlagen der Staatsmacht: »welchen Erfolg immer ein Eroberungs- staat haben könne, so gibt es immer eine gewisse Reaktion die ihn in den Zustand zurückkehren läßt, aus dem er ausbrach« (RMU Nr. II). Was Europa in den letzten 400 Jahren verändert habe, seien nicht die Kriege, sondern die Heiraten, die Thron- folgen, die Verträge, die Gesetze. »Es sind endlich rechtliche Vorkehrungen, wo- durch Europa sich verändert und sich verändert hat« (RMU Nr. III). Montesquieu hält Eroberungskriege nicht mehr für zielführend, da sich in einem zusammen- wachsenden Europa32 das Schicksal der Staaten eng miteinander verbunden habe und im ganzen immer neu ein Gleichgewicht der Mächte entstehe. Auch im Geist der Gesetze bzw. in den Pensées reflektiert Montesquieu über kriegerische Eroberungen und Annexionen. Am wichtigsten hier seine Unterschei- dungen nach der Intensität, in der die verschiedenen Regierungsformen (Republi- ken, Monarchien, Despotien) eine gewaltbereite Außenpolitik führen.33 Am »Eroberungsstaat« (Etat conquérant) zeigt er die Grenzen der Zweckmäßigkeit mi- litärisch begründeter Staatsmacht (force de l`Etat): Generäle auf Eroberungskurs können für den Souverän – wie das spätrömische Beispiel zeigt – zu Konkurrenten

30 Über den beschränkten Gesichtspunkt seiner Analyse, die die zivilisatorische Mission ausblendet und nur »une machine concue par la conquête« beschreibt, handelt der Auf- satz von Paul Rahe, »Le live qui ne vit jamais le jour: les Considérations sur les Romains de Montesquieu et leur contexte historique«, in: Revue Montesquieu Nr. 8 , Librairie Droz S.A. 2005/06, S. 67–79. 31 »Dossier des Considérations Nr. 180 a–c, Chapitre IV«, in: Montesquieu, Oeuvres com- plètes II, hg. v. R. Caillois, (Pléjade), Paris 1951, S. 223. 32 »L´Europe n´est plus qu´une Nation composée de plusieurs…et l´Etat qui croit augmen- ter sa puissance par la ruine de calui qui le touche, s´affoiblit ordinairement avec lui.« (RMU Nr. XVIII, Oeuvres complètes II, 1951, S. 34) 33 Marcel, Pekarek, Absolutismus als Kriegsursache: Die französische Aufklärung zu Krieg und Frieden (= Schriftenreihe Theologie und Frieden), Stuttgart u.a. 1997; Paul- Ludwig Weinacht, Montesquieus Interesse am Staat. Begriffsgeschichtliche Studien zu Regierungs- und Staatstypen im Esprit des lois, in: ZfP 47. Jg. NF4/2000, S. 446–457. 03_Weinacht Seite 423 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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werden34, und Eroberungspolitik – wie man am französischen Sonnenkönig sah – zu anhaltender Erschöpfung des Staatsschatzes. An die ökonomischen Folgelasten der Kriegsführung wird 1784 auch Immanuel Kant erinnern, wenn er sagt, dass der Krieg die beteiligten Staaten »in einer immer anwachsenden Schuldenlast (einer neuen Erfindung)« halte.35 Von dieser Erfahrung her wird der Fall Dünkirchens vorbildhaft, wo der König sich nicht wie an anderen festen Orten zu aufwändiger Belagerung entschloss, sondern die Stadt zu einem vernünftigen Preis kaufte.36 Mili- tärische Interventionen lassen sich durch kluge Politik überflüssig machen. So sei es ein politischer Fehler, sich schwächere Nachbarn einzuverleiben, wenn man erkannt hat, dass es nicht auf die »absolute Macht« eines Staats, sondern auf seine »relative Macht« ankomme, nämlich auf seine Machtstellung im Verhältnis zu den Nachbarn (»relative Macht«). Frankreich habe zur Zeit des Sonnenkönigs keinen Nachbar- staat zu fürchten gehabt, da alle unorganisiert und schwach waren. Aber Ludwig habe die relative Machtstellung verspielt, weil er nicht begriff, dass es für einen Fürsten nichts Bequemeres gebe als Nachbarn zu haben, die gezwungen seien, we- gen der inneren Zerrüttung ihrer Macht alle Schicksalsschläge (tous les outrages de la fortune) hinzunehmen. »Und es ist selten, daß durch die Eroberung eines ver- gleichbaren Staates soviel reale Macht dazukommt wie relative Macht verloren geht.« (Edl IX.10. Eine fast machiavellisch zu nennende Erwägung!) War diese Überlegung – unter der Überschrift von der »Verteidigungskraft eines Staates« (Edl IX.) noch realpolitischer Natur, so folgen unter der Überschrift von der »Angriffsstärke« (Edl X) rechtliche Erwägungen; Angriffsstärke werde nämlich »durch das Völkerrecht geregelt«.37 Das Völkerrecht zur Zeit Montesquieus ist aber nicht mehr dasjenige Vitorias. Naturrechtliche Erwägungen gehen jetzt ganz und gar vom Recht der Selbsterhaltung aus. Die natürliche Legitimation des Rechtes zum Krieg im zwischenstaatlichen Bereich sei – so wie die Notwehr des Individuums un- ter Staatsgesetzen – die Selbsterhaltung des Staates. Dieses Prinzip gelte zwar der Verteidigung, decke im zwischenstaatlichen Bereich aber auch den Fall des Angriffs ab, der nur durch Selbsterhaltung zu rechtfertigen sei. Das ist der Fall, wenn Angriff »in diesem Augenblick das einzige Mittel ist, diese Vernichtung zu verhindern«. Als vorwegnehmende Verteidigung kommt der Angriff vor allem den kleinen Staaten zu, die Grund haben sich zu fürchten, nicht den großen Reichen. Das Recht zum Krieg leitet sich nämlich aus der Notwendigkeit (nécessité) und aus dem Recht im eigentli- chen Sinn (le juste droit) ab. Es gibt freilich Räte (»welche das Gewissen oder die

34 »Conquêtes et Traités Nr. 1776–1778«, in: Montesquieu, Oeuvres complètes I, S. 1426. 35 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), Philosophische Bibliothek Bd. 471, S. 14 f. 36 »Louis XIV acheta Dunkerque 4 millions. Il n´a guère assiégé de places qu´il ait eues à meilleur marché«, Pensée Nr. 1614, in : Montesquieu, Œuvres Complètes, ed. Roger Caillois, Bd. 1, Paris (Gallimard) 1949, S. 1390. Wo nicht anders zitiert, wird der Esprit des lois (Edl) im folgenden durchweg nach der Ausgabe von Caillois zitiert. 37 Zur Unterscheidung vom Rechten und Nützlichen in Auseinandersetzung mit Grotius vgl. Jean Terrel, A propos de la conquête: droit et politique chez Montesquieu, in: Revue Montesquieu Nr. 8, Librairie Droz S.A. 2005-2006, S. 137-150.

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Entschlüsse der Fürsten lenken«, man denkt unmittelbar an Machiavelli), die eher auf des Fürsten Ruhm, Tadellosigkeit (bienséance) oder Nutzen sehen, als auf Recht – ihre Gewaltpolitik überschwemme die Erde mit Strömen von Blut. Montesquieu benutzt hier eine Wendung wie im Gewaltenteilungskapitel, wo sie den völligen Ver- lust der Freiheit bezeichnet: »alles ist verloren« (tout est perdu, Edl X.2, vgl. Edl XI.6). Mit Vitoria formuliert er: Ein für den Ruhm des Fürsten geführter Krieg hat kein legitimes Recht auf seiner Seite, denn Ruhm ist Stolz und also eine Leiden- schaft. Und wenn schon die fürstliche Reputation die Staatsmacht erhöht, würde gleiches nicht auch vom Ruf der Gerechtigkeit gelten? Durch Rückgriff auf das jus gentium der Schule von Salamanca relativiert Montesquieu das Machtstaatsdenken seiner Epoche und öffnet einen alternativen Weg in Richtung auf den Rechtsstaat. Aus dem Recht zum Krieg entspringt das Recht der Eroberung als seine Folge – auch dies ein Gedanke, der sich bei Vitoria findet. Montesquieu benutzt ihn jedoch invers: die Eroberungsfolge müsse auf den Geist zurückwirken (suivre l´esprit), in dem der Krieg geführt wird, nämlich nicht durch verbrannte Erde, sondern nach dem Naturgesetz (Streben nach Arterhaltung), nach natürlicher Vernunft (goldene Regel), nach dem für jede Staatsgründung geltenden Gesetz der Dauer (Staaten sterben nicht) und nach der Natur der Sache (Eroberung sei eine Erwerbs-, keine Zerstörungsform). Annexionen ließen sich verwalten, indem 1. die alten Gesetze in Kraft bleiben und der neue Landesherr sie nur von seinen eigenen Leuten administrieren läßt, 2. eine komplett neue Staats- und Zivilverwaltung eingerichtet wird, 3. die Dismembration der Gesellschaft und ihre Zerstreuung auf andere Staaten beschlossen wird, 4. alle Bürger ausgerottet werden. Die erste Umgangsweise entspreche dem heutigen Völ- kerrecht (que nous suivons aujourd´hui), die letzte den archaischen Sitten der Römer. Wenn Staatsrechtler aus dem Grundsatz, daß der Eroberer den eroberten Staatsver- band zerstören dürfe, den Schluss ziehe, dass der Eroberer auch die unterworfenen Menschen vernichten oder zu Sklaven machen dürfe, dann irrt er. Zerstörungen freilich sind erlaubt, solange sie zur Sicherung der Eroberung unabdingbar sind. Wieviel Gutes hätten die Spanier den Mexikanern tun können: Sie hätten »die Sklaven befreien kön- nen, aber sie machten die Freien zu Sklaven. Sie konnten sie über den Mißbrauch der Menschenopfer aufklären, stattdessen rotteten sie sie aus.« (Edl X.4). In aufklärerischem Geist definiert er »Eroberung« als »ein notwendiges, legitimes und unglückseliges Recht, das immer eine unendlich große Schuld zurückläßt, die man abgelten muss, um gegenüber der menschlichen Natur quitt zu werden«. (Die »menschliche Natur«, die hier als Maß genannt ist, würden wir heute mit der »Menschenwürde« identifizieren. 38)

38 Forsthoff übersetzt: »um sich vor der Menschheit von ihr zu befreien«, was den Sinn nicht ganz trifft. Denn es geht hier nicht um das Kollektiv aller Menschen, sondern um die konkret-abstrakte menschliche Natur. Anders liegt der Fall, wo Menschheit Men- schengeschlecht meint (»genre humain«), zu dessen »Nutzen« die Syrakusaner die Kar- thager genötigt hätten, von den Kindstötungen in ihrer Stadt abzulassen (vgl. Edl X.4, X.5), siehe Montesquieu, Vom Geist der Gesetze Bd.1, übersetzt und herausgegeben von Ernst Forsthoff, Tübingen 2. Auf. 1992 (= UTB Bd.1710), S. 195f. 03_Weinacht Seite 425 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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Montesquieu kennt zwei differente Grundsätze: einen militärischen für das Ero- bern und einen zivilen für die Nutzung des eroberten Gebiets. Im Sinn seines Mäßi- gungs-Prinzips empfiehlt er dem Eroberer, den Eroberten sowohl die eigenen Ge- setze, vor allem aber die eigenen Sitten (wenn sie menschlich sind) und das damit einhergehende Ehrgefühl zu lassen (Edl X.11 f.). Im Licht dieses Prinzips nennt er die großen und raschen Eroberungen mehr das Werk der Wildheit als der Klugheit und daher mehr eine Sache von Abenteurern als von großen Monarchen.39 Die Ka- pitel über den Handel zeigen, wie er sich die Beziehungen Europas nach Übersee vorstellt, nämlich so, wie sie von den Engländern gepflegt werden. Sie bilden das Gegenbild zu den Spaniern, denen er unterstellt, sie hätten den Unterschied der Grundsätze von Eroberung und Nutzung der in Südamerika eroberten Gebiete nie vollzogen. Handel (le doux commerce) ist für Montesquieu die zivilisatorisch über- legene Form der Nutzung kolonialer Eroberungen (l´empire de la mer).40

Immanuel Kant

Kants historisch-politische Kriegsanalysen kulminieren in den Präliminarien sei- ner berühmten Friedensschrift aus dem Jahr 1795. Erstmals hat er sich 1784 mit dem Thema auseinandergesetzt, nämlich in der Vorlesung Idee zu einer allgemeinen Ge- schichte in weltbürgerlicher Absicht und in der Rechtsphilosophie von 1797 die in der Friedensschrift geklärten Prinzipien reformuliert. Kant hat Krieg zunächst anthropologisch und geschichtsphilosophisch interpre- tiert: »ein unvermeidlicher Antagonismus«, der aus der »Unvertragsamkeit der Men- schen, selbst der großen Gesellschaften und Staatskörper« resultiere und der ein Mittel sei, mit dem die Natur »einen Zustand der Ruhe und Sicherheit auszufinden« versu- che. Subjekt ist hier die Natur, die den Menschen als Gattungswesen zum Objekt ih- rer Zwecke benutzt. Die menschliche Vernunft freilich brauche »soviel traurige Erfah- rung« gar nicht, um an deren Ende ermattet und ernüchtert das Richtige zu tun: nämlich »aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinauszugehen und in einen Völ- kerbund zu treten« – einen »Foedus Amphictyonum«.41 Freilich ist die Vernunft (noch) schwach angesichts des alles überschattenden hobbes‘schen Grundmisstrauens. Kant wird jedoch kein Misanthrop, denn wenn wir vom Krieg ständig in Atem gehal- ten werden, so hat dies auch seine gute Seite: nämlich dass wir schließlich zu einem »weltbürgerlichen Zustand der öffentlichen Staatssicherheit« kommen, die im Blick auf die »Freiheit« der Staaten vom »Gesetz des Gleichgewichts« zu erwarten sei.42 Ein solcher Zustand der Staatensicherheit bedeutete nicht nur ein Ende kriegerischer Ge-

39 »Conquêtes et Traités« Nr. 1775 in Montesquieu, Oeuvres complètes II, S. 1426 40 Marco Platania, »Dynamiques des empires et dynamiques du commerce: inflexions de la pensée de Montesquieu (1734 -1802)«, in: Revue Montesquieu Nr. 8, 2005/06, S. 43- 66 (55 ff.) und Michael Mosher, »Montesquieu on Conquest: Three Cartesian Heroes and Five Good Enough Empires», in: ebd. S. 81-110. 41 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Philosophische Bibliothek Bd. 171, S. 12 ff. 42 I. Kant, ebd. S. 14 f.

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walt, der Kriegsrüstung und ihrer Folgen, sondern positiv: dass in einem solchen Zu- stand »alle ursprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden«.43 Die Naturgeschichte der Kriegsführung zeitigt aber nicht nur in »weltbürgerli- cher«, sondern auch in staatsbürgerlicher Hinsicht ein Gut: das »unschätzbare Gut der Freiheit«. Die Potentaten können es sich nämlich nicht leisten, ihre Untertanen angesichts der Revolutionsschalmeien zu unterdrücken: »denn Kriegsgefahr ist auch noch jetzt das einzige, was den Despotismus mäßigt«44. (Ein warnendes Bei- spiel sollte die radikale Mainzer Bürgerschaft geben, als sie mit den französischen Jakobinern fraternisierte.) Auch zivilisatorisch ist Krieg ein Gut, zumindest »auf der Stufe der Kultur…wo- rauf das menschliche Geschlecht noch steht«: insofern nämlich, als er die Funktion eines »unentbehrlichen Mittels, diese [Kultur] noch weiter zu bringen«, erfülle, während ein immerwährender Friede, wenn er »heilsam« sein soll, nach einer »(Gott weiß wann) vollendeten Kultur« verlange.45 Die Frage also, ob wir es mit Krieg oder mit Frieden halten sollen, ist von nähe- ren Umständen abhängig und im ganzen von ihrer Wirkung auf die Tugend eines Volkes46 und den Kulturfortschritt der Gattung47. Die Allgemeinheit der anthropo- logischen und kulturphilosophischen (»ästhetischen«) Betrachtungsweise Kants be- stimmt vor den Arbeiten der Neunzigerjahre seinen Begriff des Krieges. Er sieht im Krieg noch nicht eine Niederlage der moralischen Vernunft, sondern eine Naturtat- sache menschlicher »Unverträglichkeit« und ein Ereignis innerhalb des zwischen Staaten fortgeltenden hobbesianischen status juridicus (naturalis)48. Erst in der Moral- und Rechtsphilosophie, also in der Abhandlung über den Ge- meinspruch (1793), den philosophischen Entwurf über den Ewigen Frieden (1795) und die Rechtslehre (1797) tritt an die Stelle der Rechtfertigung aus dem Naturz- weck die Rechtfertigung aus dem Recht, womit der Angriffs- und Eroberungskrieg, ja Krieg und Annexionen überhaupt in die Kritik geraten. 49

43 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 17 f. 44 I. Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), in: Philosophische Bibli- othek Bd. 471, S. 60 f. 45 I. Kant, ebd., S. 62. 46 In seiner Kritik der Urteilskraft (1790) preist Kant den völkerrechtlich gehegten Krieg: »Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich…dagegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herr- schend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.« I. Kant, Kri- tik der Urteilskraft (1790), Philosophische Bibliothek Bd. 39, S. 109. 47 Krieg: »eine Triebfeder mehr…alle Talente, die zur Kultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln«, I. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), Philosophische Bibliothek Bd. 39, S. 302. 48 I. Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), in: Philosophi- sche Bibliothek Bd. 45, S. 110 f. Anm. 49 Sämtliche Texte zu Krieg und Frieden bei Kant hat Karl Vorländer zusammengetragen in: Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Mit Ergänzungen aus Kants übrigen Schriften und einer ausführlichen Einleitung über die Entwicklung des Friedensgedankens her- ausgegeben von Karl Vorländer, Leipzig, 2. Auflage 1919, S. 56-74. 03_Weinacht Seite 427 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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Jetzt wird der ewige Friede zum »letzten Ziel des ganzen Völkerrechts« und eine »auf die Pflicht, mithin auch auf dem Rechte der Menschen und Staaten gegründete Aufgabe«.50 Das Recht zur Kriegsführung ist für Kant kein Recht des Souveräns auf Verpflichtung seiner Untertanen, sondern im Gegenteil: Es ist von einer Pflicht des Souveräns gegen das Volk abzuleiten, also im Grundsatz zustimmungspflichtig durch dessen Repräsentanten.51 Völkerrechtlich betrachtet, ist Krieg ein unvermeid- liches Ereignis in einem Zustand allgemeiner Hostilität, wo Rechtsverfolgung »durch eigene Gewalt« geschieht. Diese Art Rechtsverfolgung hat ihren Ort da, wo ein Staat sich durch einen andern »lädiert glaubt« (»tätige Verletzung«, »erste Ag- gression«) oder wo er sich von einem oder mehreren anderen bedroht fühlt (durch »vorgekommene Zurüstung«, »durch Ländererwerbung anwachsende Macht«). Der Grundsatz inter arma leges silent mache es freilich schwer, Krieg nach Maßgabe eines Gesetzes als rechtens anzusehen, und also muss man sich auf die Forderung beschränken, dass es »noch möglich bleibt, aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegeneinander) herauszugehen und in einen rechtlichen zu treten.« Eroberungskrieg sei im Übrigen selbst dort ein völkerrechtswidriges »Not- mittel des Staats«, wo er dazu dient, »zum Friedenszustande zu gelangen«52. Kriegerischen Eroberungen unterliegen nach dem Völkerrecht festen Unterschei- dungen hinsichtlich des Status des Landes und desjenigen seiner Einwohner. Der »überwundene Staat« könne nicht »Kolonie« werden, da eine Kolonie sich zwar als »Tochterstaat« noch regieren könne, vom souveränen »Mutterstaat« aber beherrscht werde. Auch verlieren die Untertanen des eroberten Staats nicht ihre »staatsbürgerliche Freiheit«, um in Leibeigenschaft zu geraten, denn zu derlei bedürfte es eines »Strafkrie- ges«, der zwischen gleichberechtigten Staaten ja gerade nicht stattfinden kann.53 Am Beispiel der feudalen Besitzverschiebungen (Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung) diskutiert Kant im Traktat vom Ewigen Frieden (1775) die Bedingun- gen für rechtlich zulässige Annexion von Gebieten und ihrer Bevölkerung (1. Präli- minarartikel). Das Prinzip der Zulässigkeit ist die Anerkennung der Subjektstellung von Land und Leuten als politisch geeinter Gesellschaft. Demnach hat ein Staat ei- nen Regenten, nicht umgekehrt, gar im Sinn von Eigentum. Ein Staat nämlich, so Kants Grundsatz, ist keine Habe (patrimonium): »Er ist eine Gesellschaft von Men- schen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und zu disponieren hat. Ihn aber, der selbst als Stamm seine eigene Wurzel hatte, als Pfopfreis einem andern Staate einzuverleiben, heißt seine Existenz als einer moralischen Person aufheben und aus der letzteren eine Sache machen, widerspricht also der Idee des ursprüngli- chen Vertrags, ohne die sich kein Recht über ein Volk denken läßt.«54 Damit ist ein auf Eroberung im Sinne von Erwerb (vgl. Montesquieu) gerichteter Krieg im Grundsatz sitten- und rechtswidrig.

50 I. Kant, Rechtslehre § 61 (1797), Philosophische Bibliothek Bd.42, S.175 ff. 51 Rechtslehre ebd., § 55. 52 Rechtslehre ebd., § 57. 53 Rechtslehre (1797) § 58. 54 I. Kant, Ewiger Friede, hg. v. K. Vorländer, Leipzig 1919, S. 5.

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Am Beispiel des Interventionskriegs der europäischen Mächte gegen das revoluti- onäre Frankreich diskutiert Kant die Problematik des politischen »Interventions- krieges« (5. Präliminarartikel). Zwei Argumente werden vorgeführt: der angebliche Skandal eines schlechten Beispiels eines anderen Staates auf die eigenen Untertanen und die solidarische Hilfeleistung für die Partei des besseren Rechts im Bürgerkrieg. Das eine wie das andere seien keine berechtigten Interventionsgründe: das erste nicht, weil ein scandalum acceptum keine Läsion für eine moralische Person darstel- le, und das zweite nicht, weil dadurch die Autonomie aller Staaten unsicher gemacht würde.55 Am Beispiel der Kolonialerwerbung in Amerika, den »Negerländern«, den Gewür- zinseln, dem Kap usw. stellt Kant den vermeintlichen Grund der Entdeckung und des Besuchs fremder Länder und Völker56 als Vorwand für Eroberungskriege bloß – und das bei »Mächten, die von der Frömmigkeit viel Werks machen, und, indem sie Unrecht wie Wasser trinken, sich in der Rechtgläubigkeit für Auserwählte gehalten wissen wollen«57.

Meinungskampf im Zeitalter der Massenmedien (Kriegspropaganda)

Der moral- und rechtsphilosophische Friedensdiskurs mit Kant und die zivilisa- torische Verurteilung des Angriffskrieges durch Benjamin Constant haben der »He- gung des Krieges« (C. Schmitt) Gewicht gegeben, das Kriegführen selbst aber aus der Staatenpraxis des 19. und 20. Jahrhunderts ebensowenig verdrängen können wie die zeitgenössische pazifistische Literatur. Im Gegenteil: ergänzend zur Kriegsfüh- rung auf den realen Schlachtfeldern entstand eine Kriegsführung der Buchstaben und Bilder, sozusagen ein Kriegsschauplatz für Ideen, dessen Bedeutung im Verlauf des Krieges 1914/1918 immer stärker gesehen wurde.58 Wir beziehen uns nachfol-

55 I. Kant, Ewiger Friede, hg. K. Vorländer, Leipzig 1919, S. 7. 56 »welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt«, I. Kant, Ewiger Friede, S. 24. 57 I. Kant, ebd., S. 23 f. 58 Auch wenn amtliche Propaganda sich mit der in den Stäben gesammelten Kriegsbericht- erstattung und journalistischen Berichten und Kommentaren teilweise deckt, so will sie teils im Innern, teils gegenüber Neutralen psychologische und politische Wirkung ent- falten. Dazu allgemein: Thymian Bussemer, Konzepte und Theorien, Wiesbaden 2005. Zur Entwicklungsgeschichte: Ute Daniel, Wolfram Siemann, »Historische Dimensionen der Propaganda«, in: Dies. (Hg)., Propaganda, Meinungskampf, Verführung und politi- sche Sinnstiftung (1789-1989), Frankfurt 1994, S. 7 ff.; zur Entwicklungsgeschichte der Kriegspropaganda auch Hinweise bei Herfried Münkler, Über den Krieg, Weilerswist 2002, S.189 ff.. Vgl. zur unterschiedlichen Kriegspropaganda von Entente-Mächten und Deutschem Reich im Ersten Weltkrieg: Lebendiges Virtuelles Museum online, das vom Haus der Geschichte der Bundesrepublik und vom Deutschen Historischen Museum ins Internet gestellt wird (www.dhm.de/lemo/ htm/ wk1/index.html.); zu aktuellen Propa- gandaformen Frank Schumacher, Kalter Krieg und Propaganda. Die USA, der Kampf um die Weltmeinung und die ideelle Westbindung der Bundesrepublik Deutschland, 1945 – 1955, Trier 1997; Thomas Knieper, Marion G. Müller (Hg.), War Visions. Bildkommu- nikation und Krieg, Köln 2005, S. 120-152; Linda Hentschel (Hg.), Bilderpolitik in Zei- ten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008. 03_Weinacht Seite 429 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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gend beispielhaft auf die Erinnerungen des Zentrumsabgeordneten Mathias Erzber- ger, der von Reichskanzler v. Bethmann-Hollweg im Jahr 1914 als Leiter einer »Zen- tralstelle für Auslandsdienst« berufen worden war, um während des Krieges für die Reichsregierung – allerdings im Rahmen der Zensur der Oberste Heeresleitung – planvoll auf die öffentliche Meinung im neutralen Ausland einzuwirken. Es war das erstemal, daß auf Reichsebene in Deutschland eine solche Stelle errichtet wurde. Erzbergers 1920 publizierten Erlebnisse im Weltkrieg59 beginnen mit einem Kapitel über »Propagandatätigkeit«, in dem er die politische Bedeutung dieser neuartigen Form kriegsbegleitender Information herausstreicht. Erzberger erinnert an den Bal- kankrieg, in dem »Bulgarien der Welt gezeigt hatte, daß es nicht nur darauf ankommt, Schlachten zu schlagen und zu gewinnen, sondern auch die öffentliche Meinung der nicht kämpfenden Welt für sich zu erobern«. Er sieht, dass Kriege, in denen es auch um Annexion geht bzw. deren Beteiligten dieses Interesse unterstellt wird, leichter ge- wonnen werden, wenn das Urteil des neutralen Auslands gewonnen wird. Denn die Sympathie der Völkergemeinschaft erleichtert und ihre Akzeptanz vollendet den Sieg. Diese neue Gesetzmäßigkeit hatte, nach Erzbergers Überzeugung, die Oberste Heeresleitung im Sommer 1914 auf die leichte Schulter genommen. Anders als Eng- land, wo man schon im ersten Kriegsjahr ein »War Propaganda Bureau« gebildet hatte, nahm man in Deutschland »die mit einem modernen Krieg untrennbar ver- bundene Aufklärungsarbeit des In- und Auslandes« zu spät und unvollständig wahr.60 Sie kam gegen ein bereits in den ersten Kriegsmonaten verfertigtes Bild von den deutschen Truppen als »Barbaren« (»Hunnen«) nicht mehr an. Und vor allem: »Wie sehr der deutsche Einmarsch in Belgien uns politisch geschadet hat, wurde mir so recht klar bei meinen häufigen Aufenthalten im neutralen Ausland…In Deutsch- land selbst wurde die öffentliche Meinung noch mehr erregt durch die Meldungen über den Franktireurkrieg.«61 Das neutrale Ausland indes sah den Kriegsverlauf durch eine Brille, die von der antideutschen Propaganda der Ententemächten zur Besichtigung angeblicher deutscher Kriegsverbrechen und immer wieder der belgi- schen Frage wieder und wieder zugeschliffen wurde. Erzberger klagt, dass die maß- gebenden deutschen Militärs »die Psychologie des Krieges bis zu seinem schreckli- chen Ende nicht erfaßt« hätten: »Die deutsche Propaganda durfte unter dem Druck militärischer Stellen kein Gegengewicht schaffen. Der Einfall in Belgien brachte na- hezu die ganze Welt gegen Deutschland auf. Belgien wurde, wie ich im Reichstag sagte, ›der Liebling der Welt.«62 Die Obersten Heeresleitung war für eine politisch wirkungsvolle Kriegführung nicht zu gewinnen.63

59 Mathias Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart/Berlin 1920. 60 Erzberger, ebd., S. 2 f. 61 Erzberger, Erlebnisse (1920), S. 199. 62 Erzberger ebd. S. 8. 63 Erzberger ebd. S. 314 «Als Politiker erklärte ich den amtlichen Stellen wiederholt, daß unsere gesamte Kriegführung zu wenig politisch sei. Ich verstand weder das Blutvergie- ßen bei Ypern Ende 1914 noch den Riesenansturm auf Verdun 1916, hielt es vielmehr für richtiger, im Herbst 1915 die ganze Kraft weiter nach dem Osten zu werfen, um durch den Einmarsch in die Ukraine die Ernährung Deutschlands zu sichern«.

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430 Paul-Ludwig Weinacht · Eroberungskrieg und Propaganda der Verteidigung

Gegen Völkerrecht verstieß nicht der Angriffskrieg als solcher, sondern die Ge- bietsverletzung eines neutralen Staates, die der Propaganda der Westmächte rechtli- che und psychologische Vorteile eintrug.64 Erzbergers Bemühungen in der Zentral- stelle zielten darauf ab, dieses Handicap deutscher Politik zu relativieren. So ließ er etwa katholische deutsche Parlamentarier am 2. September 1914 eine Denkschrift an die in Rom bei einem Konklave weilenden Kardinäle überreichen, um dem katholi- schen Europa zu sagen, das deutsche Volk habe sich in den Tagen der Prüfung als ein glaubensstarkes Volk erwiesen, »daß es aber einem Feind machtlos gegenüber- stehe: der Lüge. Deutschland führt den Krieg nicht aus Eroberungslust, sondern es kämpft um seine Existenz…Dem Katholizismus in ganz Westeuropa tritt kein ge- fährlicherer Feind entgegen als der gewalttätige Russe, der seit Jahrhunderten die polnischen Katholiken mit den brutalen Mitteln der Gewalt von der Kirche gerissen hat«65. Dieses Memorandum hielt Erzberger darum für gelungen, weil es: • das deutsche Volk als in einem »Existenzkampf« stehend beschrieb und nicht als von »Eroberungslust« getrieben, die seit Constant als Kriegsmotiv verfemt war; • die Neutralen auf eine Gefahr aufmerksam machte, vor der ihr deutsche Siege Schutz gewähren könnten: das gewalttätige Zaren-Regime und die dem katholi- schen Europa drohende (russisch-orthodoxe) Religionspolitik. Während der zweite Punkt ein gemeinsames Interesse zwischen Deutschland und Europa ins Spiel brachte, warb der erste um Wohlwollen unter den Liberalen Euro- pas. Dessen ungeachtet löste das Memorandum erbitterte Reaktionen der französi- schen Bischöfe und Kardinäle aus. Der psychologische Faktor des Wohlwollens war damals alles, was bei der Füh- rung eines Angriffs- oder Revanchekrieg beachtet werden musste. Seit dem Briand- Kellogg-Pakt nahm die Kriegspropaganda ein andere Richtung: Von nun an galt es nicht nur, das Recht der Neutralen zu wahren, sondern zusätzlich als »Verteidiger« aufzutreten und die Gegenseite als Angreifer, das heißt: als Kriegsverursacher er- scheinen zu lassen. Mit dem Verzicht auf das jus belli war der »Verteidigungskrieg« zur diplomatischen und propagandistischen Grundlage militärisch operierender Außenpolitik der Staaten geworden.

64 Daß auch die auf fremde Staaten zielende propagandistische Diffamierung der deut- schen Soldaten als Bestien, Hunnen, Kriegsverbrecher durch die antideutsche Propa- ganda der Entente gegen Völkerrecht verstieß (Art. 22 Haager Landkriegsordnung), blieb merkwürdigerweise ungeahndet; die deutsche Seite enthielt sich vergleichbarer Diffamierung, vgl. dazu Weltkrieg 1, Kriegspropaganda, in: LeMO ( www. dhm.de). 65 Erzberger ebd. S. 11. 03_Weinacht Seite 431 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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Krieg

Krieg ist für Machiavelli eine Weise von Fürsten und von Privatleuten, den Wett- bewerb um Macht zu gewinnen. Als Mittel für Machtgewinn und Machtbehaup- tung ist der Krieg keine ultima ratio, sondern eine gängige Form von Politik, die man nur zu vermeiden sucht, wenn sie einem ungelegen kommt. Für Vitoria ist der Krieg ein Übel, aber in gewissen Fällen und in gewissem Umfang zu rechtfertigen – etwa im Blick auf die Sicherung der Evangelisation unter den Indianern. Eroberun- gen an sich waren kein erlaubter Zweck. Ein Übel sind Kriege auch für Montes- quieu, für den die unterschiedlichen Formen des Regierens kürzere oder längere Kriegsschatten werfen. Angriffskriege bleiben – außer in der Absicht der Verteidi- gung bzw. der Schwächung der Gegner66 – moralisch verwerflich. Im Ganzen herrscht die Vorstellung, dass mit fortschreitender Zivilisation Krieg unrentabel werde und Eroberungen sich nicht mehr rechnen. Kant sieht im Krieg zunächst eine Erscheinung des Naturzustandes, in dem Staaten untereinander ihr Recht suchen, und formuliert ein relatives Gute, das die Natur vermittels Gewalt und Leid der Menschen ins Werk zu setzen beginne; später wird ihm Krieg mehr und mehr zur Niederlage der Vernunft und des sittlichen Willens.

Eroberungen

Für Niccolo Machiavelli war Krieg der Königsweg zu Gründung und Erweite- rung von Staaten Bei Machiavelli gehen Fürsten ihrer »Eroberungslust« nach, sie »ist etwas sehr Natürliches und Verbreitetes«. Bei Vitoria sind Eroberungen als Fol- gen, nicht aber als der Zweck eines Kriegs gerechtfertigt. Montesquieu hat Erobe- rungen als Ursache der äußeren Größe Roms analysiert und auf vielfältige mehr oder weniger singuläre Faktoren zurückgeführt. In der Gegenwart diskutiert er Er- oberungen nicht mehr unter der Perspektive der Universalmonarchie, sondern utili- taristisch: Eroberungen dürften nicht mit verbrannter Erde gemacht werden, da die- se Strategie dem Erwerbsprinzip widerspreche und den Wert des annektierten Gebiets mindere. Montesquieu beschäftigt sich in Der Geist der Gesetze mehr mit den Möglichkeiten der Verwaltung von Annexionen als mit den Weisen, Krieg zu führen. Die zivilisatorisch höchste Form, ein erobertes Gebiet zu verwalten, ist die, der Bevölkerung nach Möglichkeit ein Leben in Selbstbestimmung zu ermöglichen. Was für Montesquieu die höchste Stufe der Verwaltungen neu erworbenen Landes ist, ist für den Kant der Neunzigerjahre die rechtliche Bedingung von Annexion überhaupt. Land und Leute, gleichgültig ob erworben oder erobert, sind ihm keine Habe eines Staatsoberhaupts und keine Kolonie mit Leibeigenen eines Überwinders

66 Pensée Nr. 1532: »on ne cherchoit pas tant à s´agrandir qu´à affoiblir ses ennemis«, in: Montesquieu, Œuvres Complètes, Bd. 1, Paris 1949, S. 1370.

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(also weder Erwerb noch despotische Machterweiterung im Sinne Montesquieus), sondern moralische Personen, die Subjekt der Selbstbestimmung bleiben.

Formen von Krieg und Annexion

Machiavelli vertritt eine Naturlehre der Eroberung. Ihr perspektivisches Paradig- ma ist die erhoffte Befreiung Italiens von den Barbaren, die er von einem principe nuovo erwartet, der aus eigenen Staaten aufbricht und von der Bevölkerung in den eroberten Staaten als »Volksfürst« und Befreier begrüßt wird. Machiavelli appelliert an den Ehrgeiz italienischer Kleinfürsten, sich nicht im Streit um ihre jeweiligen Er- blande zu verzetteln, sondern in der Wiedervereinigung des größeren italienischen Vaterlandes eine Lebensaufgabe zu suchen. Vitoria argumentiert auf der Basis des Naturrechts, das zwischen Völkern unter- schiedlicher Zivilisation und Religion reversible Ansprüche und Pflichten begrün- det. Danach gibt es für beide Seiten erlaubte und nicht erlaubte Kriegsgründe, die nicht obenhin, sondern mit Sorgfalt und durch unparteiische weise Männer zu prü- fen sind (De Jure Belli Nr. 20 f.). Im Zweifel muss auf eine für rechtmäßig behaupte- te Eroberung verzichtet werden (»In dubiis melior est condicio possidentis.« De Jure Belli Nr. 27), denn sie würde zum Grund für einen »Rück«-Eroberungskrieg wer- den, und dadurch hörte der Krieg zum Verderben des Volkes niemals auf. Wo – wie durch die conquista – neue Eroberungen gemacht werden, lassen sich diese nur als Folge, nicht als Zweck rechtfertigen. Das positive Paradigma der vitorianischen Lehre ist nicht der intentionale, sondern der funktionale Eroberungskrieg in der Neuen Welt. Eroberungen sind dort Folge der naturalis communicatio, und sie sind als Konflikte gerechtfertigt, bei denen es um die Freiheit der Mission und den Schutz der Bekehrten geht. Intentional, das heißt nach dem Grundsatz der Machter- weiterung der spanischen Krone und für den Ruhm des Königs, wäre die conquista unerlaubt. Montesquieu vertritt in seinen Römern eine historische Kriegslehre, in den Refle- xionen über das zeitgenössische Europa jedoch eine utilitaristische bis humanitäre Kriegstheorie im Rahmen des Völkerrechts und des aktuellen Zivilisationsbewusst- seins. Und also gibt es mehrere Paradigmen für den Eroberungskrieg: ein erstes, das sich historisch in der Weltherrschaft Roms niederschlägt; ein zweites, das auf »Er- werb« setzt und den Nutzen kalkuliert; und ein drittes, das kulturkritisch Erobe- rungskriege mit despotischer Herrschaft kombiniert. Ein Eroberungsstaat aber (Etat Conquérant) habe in Europa, das als eine aus mehreren Nationen gebildete Gesamtnation zu sehen sei (une Nation composée de plusieurs), keine Rechtferti- gung mehr. Kant entwickelt seine Ansichten über den Krieg zunächst im Rahmen von An- thropologie und Geschichtsphilosophie, wo er sie funktional und teleologisch ein- setzt: Natur wähle, um zu ihrem Zweck zu gelangen, den Krieg als ihr Mittel. Sie stelle die menschliche Gattung vor Probleme, deren Auflösung dank der immer un- erträglicher werdenden Kriegslasten zuletzt ebenso dringlich wie auch real möglich würde: einerseits das Volk vor der Schlaffheit und dem Egoismus des Handelsgeis- 03_Weinacht Seite 433 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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tes zu bewahren, andererseits die Bereitschaft der Staatsoberhäupter wachsen zu lassen, einen Sicherheit schaffenden Völkerbund zu verabreden. Erst in seiner Mo- ral- und Rechtslehre, und darin in seinem philosophischen Entwurf Zum ewigen Frieden (1795), ersetzt Kant die Lehre von der Unvermeidlichkeit des Krieges durch eine Lehre von der Pflicht zum Frieden. Intervention und Eroberung sind nicht län- ger zu rechtfertigen, was einem geschichtsphilosophischen Interesse entspricht: dem Schutz revolutionärer Errungenschaften gegenüber der feudalen Reaktion.

Kriegspropaganda

Es mag sein, daß Benjamin Constant mit seinem Appell an die liberale und huma- nitäre Zivilisation Europas und den Ausschluss des Eroberers aus der Menschheits- gemeinschaft den Nerv seiner Zeitgenossen traf. Der Pazifismus hat andere Voraus- setzungen. 67 Die Befreiungskriege gegen das napoleonische System waren – im Sinne Constants – keine »eigentlichen Kriege« und enthielten doch die Keime zu na- tionalen Eroberungskriegen in sich. Seit jeher verlangte das Publikum nach Berich- ten über geschehene Ereignisse und wurde dabei zum Adressaten politischer und militärischer Propaganda – auch zum Adressaten humanitärer Friedenspropaganda, für die sich der Pazifismus als Partei über den Kriegsparteien anbot (»lieber rot als tot«). Mit dem Briand-Kellog-Prakt wurde der Boden verlassen, auf dem Carl Schmitt den »gehegten Krieg« als ein Duell vor Zeugen bestimmen konnte: Die Staa- ten erkennen sich nicht länger als »satisfaktionsfähige Ehrenmänner« an, sie führen den Krieg nicht mehr als ein »vor Zeugen sich abspielendes Messen der Kräfte«.68 Vielmehr bemühen sie sich darum, das Publikum – das eigene, das gegnerische wie das neutrale – parteilich zu beeinflussen, nämlich von der eigenen Rolle als eines Verteidigers gegen Aggression und Eroberung und als eines Beschützers vor der Verletzung von Menschenrechten. Propaganda agiert dabei auf einem eigenen, »zweiten« Kriegsschauplatz, der die Ereignisse des ersten interpretiert, um die Moral der Freunde zu heben, die der Feinde zu schwächen und die Sympathie einer neutra- len Öffentlichkeit zu gewinnen – oft genug in freiem Umgang mit den Tatsachen. Die heute üblich gewordene telekommunizierte Information und Bilderschau hat Propaganda vollends zu einem vom »wirklichen Krieg« unabhängigen Kriegsschau- platz gemacht (cyberwar). »In keinem Fall kommt man der Wirklichkeit so schwer auf die Spur wie im Krieg. Dann geht es nicht nur um Eroberung oder die Vernich- tung der Feinde, sondern auch um die Herrschaft über die Informationen und deren Deutung. Und die Methoden der Manipulateure verfeinern sich mit der Technik. Dabei bleibt die Wahrheit nicht erst mit Kriegsausbruch auf der Strecke.«69 Kriegs-

67 Ulrich Matz, Realistische und utopische Friedensmodelle in historischer Perspektive, in: Bernd Rill, Hg., Völkerrecht und Friede, Heidelberg 1995, S. 90-106; Volker Ger- hardt, Immanuel Kants Entwurf »Zum Ewigen Frieden«, Darmstadt 1995; Otfried Höffe, Hg., Zum ewigen Frieden, Berlin 1995. 68 Carl Schmitt, Nomos der Erde, Berlin 1950, S. 115, 158. 69 Thomas Hauser, »Kaukasisches Lügengebilde«, in: Badische Zeitung vom 13. 8. 2008, S. 4.

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parteien, die dazu in der Lage sind, streben danach, neutrale Berichterstattung und feindliche Propaganda ganz auszuschalten. Ein Monopol über Nachrichten und Bil- der sichert die Deutungshoheit über den Krieg, über Ereignisse die stattgefunden haben und über Ereignisse, die stattgefunden haben könnten. Die Wahrheit über Ereignisse auf dem Kriegsschauplatz aber war von Machiavelli bis Kant und Constant eine Bedingung der Möglichkeit rational begründbaren mili- tärischen und politischen Handelns und der Beteiligung des Publikums als »Zeu- gen«.

Zusammenfassung

Briand und Kellogg (1928) waren nicht die ersten, das Recht der Staaten zum Krieg (ius belli) aufzukündigen. Auch die Theologen der Schule von Salamanca ha- ben sich schon daran versucht. In unserem Beitrag werden Ansätze zur rechtlichen, politischen und ökonomischen Beschränkung des Eroberungskrieges demonstriert, wobei klassische Texte der frühen Neuzeit bis hin zum beginnenden 19. Jahrhun- dert die Grundlage bilden: Krieg und Eroberung im Italien der Medici (Machiavel- li), im Spanien Karls V. (Vitoria), in Frankreich im Bann des Sonnenkönigs (Monte- squieu), in Preußen angesichts der Französischen Revolution (Kant). Im Frühliberalismus wurde in Auseinandersetzung mit Napoleon (Benjamin Constant) der argumentative Höhepunkt der Perhorreszierung des Angriffs- und Eroberungs- kriegs erreicht. Von hier aus ist es ein kleiner Schritt zur Kriegspropaganda. Seit dem I. Weltkrieg versuchen kriegsführende Staaten mittels Propaganda, Angriffs- und Revanchekriege als Verteidigungskriege zu inszenieren.

Abstract

Till the Briand-Kellogg-treaty (1928) wars of aggression and conquest were based on the ins belli, which legitimated sovereign powers to make war in the interest of their foreign policies. However in the Catholic Conquista in the 16th century Strong arguments restricting the jus ad bellum were introduced by spanish scho- lars of theology. - In this essay different approaches to restrict states right of wats are analysed in texts of classic authors on War and Conquest in the time of: the Me- dici-Dynasty in Italy (Machiavelli), Carlos V of Spain (Vitoria), Louis XIV’s politi- cal influence on France and in Prussia during the French revolution (Kant). In the early liberal period the moral and civil arguments against war of aggression reached a climax in challenging Napoleon (Benjamin Constant). Mathias Erzberger, a german politician in the foreign ministry in Berlin with re- sponsibility for propaganda during the I World War, hoped to win sympathy of the public in neutral states by underlying efforts of german self defense instead of mili- tary invincibility advocated by the headquarters.

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Peter Wittig1 Deutschland als aktive Friedensmacht Plädoyer für die Unterstützung des UNO-Peacekeeping

Bundeswehr-Auslandseinsätze sind strittiger denn je. Afghanistan droht auch ande- re Einsätze zu überschatten – selbst »weichere« Einsätze der UNO. Sie sind in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt und beim Militär nicht populär, brauchen aber westliche Unterstützung besonders dringlich. Denn das System der UNO-Frie- denssicherung steht vor gewaltigen Belastungsproben – wie die Mission in Darfur und im Kongo anschaulich vorführt. Es droht ein Zweiklassensystem: die Dritte Welt stellt die schlecht ausgerüsteten Blauhelme, der Westen konzentriert sich auf die modernen NATO- und EU-Einsätze. Werden Blauhelme zu überforderten »Drittweltarmeen für Drittweltkonflikte«, ist das Risiko des Scheiterns hoch. Für die Folgen muss dann auch der Westen aufkommen. Das Plädoyer Deutschlands und der EU für einen »ef- fektiven Multilateralismus« darf also kein Lippenbekenntnis bleiben. Trotz schwieri- ger Diskussion um die Beteiligung an gefahrvollen Kampfeinsätzen sollte Deutsch- land die UNO-Friedenseinsätze weiter stützen: national und im Rahmen der EU.

Diagnose: UNO-Friedenseinsätze auf der Kippe

Das über die Jahre gewachsene System der UNO-Friedenssicherung feiert in die- sem Jahr sein sechzigjähriges Bestehen. Dabei steht es heute vor nie gekannten Her- ausforderungen. Die Missionen haben sich in kurzer Zeit explosionsartig vermehrt. Heute sind 17 Blauhelm-Missionen mit über 110.000 Soldaten, Polizisten und zivi- len Mitarbeitern in vier Kontinenten im Einsatz. Nach den dramatischen Rück- schlägen der Neunzigerjahre in Somalia, Ruanda und Bosnien ist diese »Renais- sance« der UNO-Friedenssicherung keineswegs selbstverständlich. Mit ihrer Ausweitung ging im letzten Jahrzehnt auch ein tiefgreifender Struktur- wandel der Missionen einher: und zwar vom klassischen Peacekeeping (also vorwie- gend der militärischen Pufferfunktion) hin zu »multidimensionalen« Einsätzen mit teilweise robustem Mandat und sogar Übernahme echter Exekutivgewalt durch die UNO.2 Typische Friedensoperationen umfassen heute eine enorme Bandbreite aus

1 Botschafter Dr. Peter Wittig leitet die Abteilung für Vereinte Nationen und Globale Fragen im Auswärtigen Amt in Berlin. Er gibt hier seine persönliche Auffassung wieder. 2 Manfred Eisele: »Wandel durch Anpassung: Sechzig Jahre Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen«, in Vereinte Nationen 53(5) 2005, S. 179-186; Heiko Nitzschke und Peter Wittig: »UN-Friedenssicherung: Herausforderungen an die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik«, in Vereinte Nationen 55 (3) 2007, S. 89-95.

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politischen, militärischen, polizeilichen, humanitären, menschenrechtlichen, rechts- staatlichen und Entwicklungskomponenten. Dabei sind durchaus beachtliche Erfol- ge zu verzeichnen: Nach verheerenden Bürgerkriegen hat die UNO Liberia und Si- erra Leone wieder auf den Pfad des politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus gebracht. Auch im Kongo und in Côte d’Ivoire erfüllen die UNO-Missionen wich- tige Funktionen, ähnlich wie im Libanon. Und das obwohl die Kosten der Blau- helm-Einsätze – auch dieser Aspekt gehört ins Bild – nur ein Bruchteil dessen be- tragen, was USA, NATO und EU für ihre Operationen aufwenden. Doch kann die UNO den gestiegenen Erwartungen entsprechen? Oder hat sie sich übernommen, ist sie überfordert? Fest steht: Immer mehr »klinische« Konfliktfälle – besonders afrikanische – lan- den auf dem Tisch der UNO. Wenn der Sicherheitsrat es will, muss das System der UN-Friedenssicherung übernehmen – nolens volens. Immer weitgespannter werden die Aufgaben und Anforderungen. Allein, es fehlt an Ressourcen und Führungsfä- higkeiten. Einerseits haben die Blauhelme im Felde eine besorgniserregende »Dritt- weltlastigkeit« erreicht. Asiatische (v. a. Pakistan, Bangladesch und Indien) und afri- kanische Staaten (v.a. Ghana, Nigeria und Äthiopien) stellen etwa 70 Prozent der Soldaten für UNO-Missionen.3 Große westliche Truppensteller zögern, sich dem militärischen Kommando einer UN-geführten Mission zu unterwerfen. Anderer- seits ist es um die Führungs- und Planungsfähigkeit der im UNO-Sekretariat zu- ständigen Hauptabteilung für Friedenssicherung (DPKO) immer noch nicht zum Besten bestellt – trotz langjährigen Bemühungen um Personalverstärkung und Or- ganisationsreform. Kurzum: Das System des UNO-Peacekeeping krankt an Über- dehnung, Überforderung und Unterausstattung. Beispielhaft sind die auch in der deutschen Öffentlichkeit verfolgten Schwierig- keiten in Darfur. Aufgrund großen internationalen Drucks mandatierte der Sicher- heitsrat im Juli 2007 die gemeinsam mit der Afrikanischen Union geführte UNA- MID-Mission.4 Bei vollem Aufwuchs würde UNAMID mit 26.000 Soldaten und Polizisten die größte und teuerste UNO-geführte Mission weltweit. Doch wesentli- che Bedingungen für ein erfolgreiches Arbeiten sind bislang unerfüllt: Die logisti- schen Hindernisse für den Missionsaufbau erweisen sich für die UNO als gefährlich hoch; Khartum mauert in der praktischen Zusammenarbeit und verweigert sich wichtigen nicht-afrikanischen Truppenstellern; die politischen Rahmenbedingun- gen sind notleidend – steht doch ein tragfähiges Friedensabkommen zwischen Re- gierung und Rebellen immer noch aus; westliche Mitgliedsstaaten zögern, vor die- sem Hintergrund die benötigten hochwertigen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Es droht eine gefährliche Situation: Die internationale Mission zur Lösung einer der größten humanitären Krisen der Welt wird selbst zur Krise! Ein Scheitern können wir uns nicht leisten, wie der Leiter von UNAMID, Rodolphe Adada, ganz

3 Center on International Cooperation: Annual Review of Global Peace Operations 2008. Boulder: Lynne Rienner 2008, S. 139. 4 Resolution 1769 des VN-Sicherheitsrats vom 31. Juli 2007, UN Dokument S/RES/1769 (2007). 04_Wittig Seite 437 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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zu Recht erneut unterstrichen hat.5 Es hätte schwerwiegende Rückwirkungen auf das gesamte UN-Peacekeeping.

Sechs Gründe für deutsche UNO-Einsätze

Internationale Friedensmissionen genießen in der deutschen Öffentlichkeit, im Parlament und der Wissenschaft ein so großes Interesse wie selten zuvor.6 Im Vor- dergrund stehen dabei die NATO-Einsätze in Afghanistan und auf dem Balkan. Die EUFOR-Operation in der Demokratischen Republik Kongo hat auch Afrika zu- mindest vorübergehend ins öffentliche Bewusstsein gebracht. Vor allem die kontro- verse Debatte zu Afghanistan droht jedoch eine objektive Diskussion über die deut- schen Interessen an der UNO-Friedenssicherung zu überschatten. Deutsche Soldaten, Polizisten und Zivilisten sind dabei schon seit Jahren an verschiedenen Missionen beteiligt. Sie sammeln dort jedoch wichtige Erfahrungen und tragen zum Erfolg der Missionen bei. Sechs Gründe für ein Interesse an UNO-Einsätzen lassen sich nennen:

1. Sicherheitsinteresse

Es ist ein Gemeinplatz: die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen Deutsch- lands haben sich in den vergangenen Jahren grundlegend und rasant verändert. Viele Bedrohungen sind globaler Natur. Beim transnationalen Terrorismus und der Wei- terverbreitung von Massenvernichtungsmitteln liegt dies auf der Hand. Doch auch die Folgen weit entfernter regionaler Krisen und Konflikte – ob in Vorderasien, Af- rika oder Nahost – beeinträchtigen zentral die deutsche Sicherheit.7 Wird dies in Deutschland tatsächlich hinreichend wahrgenommen? Hat Deutschland mental den »weiten Weg von Hindelang zum Hindukusch«8 schon zurückgelegt? Vieler der neuen globalen Herausforderungen nimmt sich die UNO an – die ein- zige internationale Organisation mit universellem Charakter. Sie verkörpert gerade- zu das vielfach geforderte »erweiterte Verständnis« von Sicherheit: und zwar durch Friedenseinsätze – auch zur Verhinderung von schwersten Verbrechen und Völker- mord –, Armutsbekämpfung, Sorge um nachhaltige Entwicklung, Überwindung des Nord-Süd-Gefälles, Kampf gegen Pandemien, Drogenbekämpfung, Schutz na- türlicher Ressourcen. Die Stärkung der UNO und ihre Ausstattung mit den erfor-

5 Rodolphe Adada, »The U.N. Is Making a Difference in Darfur«, in The Wall Street Journal, 25. Juni 2008, S. A13. 6 Siehe beispielhaft die Themenhefte Auslandseinsätze der Zeitschrift Internationale Poli- tik (Mai 2007) sowie Friedensmissionen auf dem Prüfstand der Friedenswarte vom Frühjahr 2007. 7 Bundesministerium der Verteidigung: Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr, Berlin, Oktober 2006. 8 Klaus-Dieter Frankenberger: »Feigheit vor dem Bürger«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02. Februar 2008, S. 1.

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derlichen Ressourcen ist daher – wie das Weißbuch der Bundesregierung zu Recht hervorhebt – im deutschen Sicherheitsinteresse.9 Dies gilt in besonderem Maße für das System der UNO-Friedenssicherung.

2. »Bündnissolidarität«

Deutschland ist nicht nur aktives Mitglied von NATO und EU, sondern auch der Vereinten Nationen. UN-geführte Friedensmissionen sind in zahlreichen Konflik- therden die einzige bzw. die einzige dauerhaft zur Verfügung stehende Option der Friedenssicherung. Sie sind und bleiben der »peacekeeper of the last resort«. Das heißt: sie sind auch einsatzbereit, wenn sich andere Akteure verweigern oder von den Konfliktparteien nicht akzeptiert werden. Beispiel Libanon nach dem Sommer- krieg 2006: NATO und EU kamen aus politischen Gründen zur Friedenssicherung nicht in Frage. Nur die verstärkte UNIFIL-Mission war – wenngleich ausnahms- weise mit einer starken europäischen Komponente – für den Sicherheitsrat und die Konfliktparteien akzeptabel und stand bereit, den Krieg zu beenden.10 Die UNO- Friedenssicherung erwies sich erneut als unersetzlich. Dies gilt vor allem auch in afrikanischen Krisenregionen, wo einzig die UNO über den notwendigen „langen Atem“ für langjährige Missionen verfügt. Die AU ist noch nicht in der Lage, eigene Missionen dauerhaft zu führen, die EU nur zu zeitlich begrenzten Operationen be- reit. Es kann mithin in niemandes Interesse liegen – auch Deutschlands nicht –, dass sich die UNO-Friedensmissionen angesichts der enormen Nachfrage an Blauhel- men zu einer schlecht ausgerüsteten »Drittweltarmee für Drittweltstaaten« entwi- ckeln.11 Das Risiko eines Scheiterns der UNO-Missionen ist hoch: ein Blick auf die Truppen in Darfur, Kongo, Haiti genügt. Den Preis muss auch der Westen zahlen: direkt durch verstärkte humanitäre Hilfe und indirekt durch Migration, Import von Instabilität und Kriminalität. Gefordert ist also eine dauerhafte Bereitschaft zur stärkeren Unterstützung des Systems der UNO-Friedenssicherung. Die Erwartun- gen der internationalen Gemeinschaft an Deutschland sind hoch. Die Messlatte ist das Engagement vergleichbarer Staaten wie Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien.

3. Nicht nur militärische Kampfeinsätze!

In Deutschland wird von Kritikern – zu Unrecht – ein angeblich zu leichtfertiger Umgang mit militärischen Einsätzen der Bundeswehr angeprangert und ein frie-

9 Weißbuch, S. 57 10 Peter Wittig: »Deutsche Blauhelme in Nahost«, in: Internationale Politik, Mai 2007, S. 76-81. 11 Ähnlich auch Sven Gareis und Johannes Varwick: »Frieden erster und zweiter Klasse«, in: Internationale Politik, Mai 2007, S. 68-74. 04_Wittig Seite 439 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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dens- und sicherheitspolitisches »Gesamtkonzept« eingefordert. Den Vereinten Na- tionen indes kann man einen Vorwurf nicht machen: dass sie den Gesamtkontext von Frieden und Sicherheit vernachlässigten. Im Gegenteil: Die Idee der »vernetz- ten Sicherheit« und des »ganzheitlichen Vorgehens« sind in den »multidimensiona- len« UNO-Friedensmissionen verwirklicht. Wie immer der Praxistest im Einzelnen ausfällt: UNO-Friedenseinsätze lassen sich grundsätzlich ideal einbetten in das Spektrum der politischen, sozialen und Entwicklungs-Aktivitäten der gesamten UNO-Familie. Dies ist ihr komparativer Vorteil. Zugegeben: Er wird in der Wirk- lichkeit häufig durch Koordinationsmängel der verschiedenen UN-Organisationen verspielt. Kampfeinsätze sind in der UNO-Friedenssicherung die Ausnahme. Dafür sind auch die »robusten« Missionen in der Regel weder mandatiert noch angemessen ausgestattet. Selbst wo UNO-Friedenssicherung unter Kap.VII stattfindet, dienen Truppenkontingente eher dem Schutz von Missionsangehörigen und der bedrohten Zivilisten. Geht es um die Erzwingung von Frieden auch gegen den Willen von Konfliktparteien, werden die Grenzen der UN-Friedenssicherung rasch deutlich. Dafür werden die Polizeieinsätze – auch mit exekutiven Komponenten – immer bedeutsamer.12 Sie sind eine »Zukunftsindustrie« im System der UN-Friedenssiche- rung. Deutschland hat sich inzwischen mit über 5000 Polizisten weltweit an inter- nationalen Einsätzen beteiligt – eine Erfolgsgeschichte, die fortgeschrieben werden sollte.

4. Entwicklung und Sicherheit

»Sicherheit ist eine Vorbedingung für Entwicklung« besagt die europäische Si- cherheitsstrategie.13 Zu Unrecht wurden Entwicklungszusammenarbeit und Kon- fliktbewältigung in der Vergangenheit oft als getrennte Bereiche behandelt. Heute weiß man – das Zusammenspiel ist wichtig.14 Streitkräfte in modernen internationalen Friedenseinsätzen nehmen nicht mehr nur klassische Sicherheitsaufgaben wahr, sondern spielen auch eine zentrale Rolle bei Wiederaufbau und Entwicklung: sie schaffen die Rahmenbedingungen, inner- halb derer Entwicklung erst möglich wird und werden selbst praktisch in der zivil- militärischen Zusammenarbeit tätig. Gleichzeitig schaffen politische Stabilisierung und wirtschaftliches Wachstum auch die »Exit Option« für Friedensmissionen. Da- bei hat die UNO die Lehren der Vergangenheit gezogen: ein zu rascher Abzug kann destabilisierend wirken und erreichte Fortschritte zunichte machen. Daher sind heutige Missionen längerfristig angelegt und ihnen folgen häufig politische Missio-

12 Tor Tanke Holm und Espen Barth Eide (Hrsg.): »Peacebuilding and Police Reform«. In: Special Issue of International Peacekeeping, 6 (4) 1999. 13 Europäische Union: Ein sicheres Europa in einer besseren Welt. Europäische Sicherheits- strategie, Brüssel, 12. Dezember 2003, S.2. 14 Paul Collier et al.: Breaking the Conflict Trap: Civil War and Development Policy. Was- hington, DC: The World Bank, 2003.

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nen zur Friedenskonsolidierung – auch hier sind Sierra Leone und Liberia beispiel- haft. Die multidimensionalen UNO-Missionen leisten also durch das Zusammen- wirken von militärischen und zivilen Elementen einen besonders ausgeprägten Beitrag zu Wiederaufbau und Konfliktprävention. Nicht von ungefähr liegt heute der Schwerpunkt der UNO-Friedenssicherung in Afrika – etwa 70% aller UNO- Peacekeeper sind dort tätig. Engagement in VN-Friedensmissionen heißt in den meisten Fällen also auch: Solidarität mit den Entwicklungsländern zeigen!

5. Politischer Einfluss

Deutschland muss in den Vereinten Nationen eine politische Rolle spielen, die seinem Rang als führender europäischer Staat und drittgrößter Beitragszahler zum UN-Haushalt entspricht! Wer nicht zu den ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat gehört, muss andere Wege finden, um politischen Einfluss in der Weltorganisation auszuüben. Zentrales Mittel ist neben den Finanzbeiträgen die strategisch angelegte Beteiligung am System der UNO-Friedenssicherung. Die Quantität ist dabei nicht allein entscheidend. Häufig sichert die Bereitstellung von Führungspersonal oder hochwertigen militärischen Fähigkeiten auch politischen Einfluss. Mit dem Libanon-Einsatz hat Deutschland einen wichtigen Schritt hin zur »Blau- helmnation« getan. Jetzt kommt es darauf an, die Beteiligung an den UNO-Friedens- missionen auf eine breitere, nachhaltigere Grundlage zu stellen. Dabei lassen sich Syn- ergien schaffen. Als Beispiel dient die UNO-Beobachtermisson in Georgien (UNOMIG): Deutschland ist mit zwölf Soldaten und vier Polizisten größter Truppen- steller dieser kleinen, aber – wie der Kaukasus-Krieg im August 2008 zeigte – wichti- gen Mission im Konfliktdreieck Georgien/Abchasien/Russland. Gleichzeitig hat es den Vorsitz der »Freundesgruppe des UNO-Generalsekretärs« inne, die die politi- schen Lösungsbemühungen voranbringen soll. Hier ergänzen und unterstützen sich militärisch-polizeilicher Einsatz einerseits und politisches Engagement andererseits.

6. Deutsche Personalinteressen

Wer Entscheidungen über UNO-Missionen mitbestimmen will, muss Führungs- positionen besetzen: in der UNO-Zentrale und im Felde – im zivilen und im militä- rischen Bereich. Der Rang als großer Beitragszahler reicht dabei nicht aus. Gefragt sind praktische Erfahrungen in UNO-Missionen. Daran fehlte es bei deutschen Kandidaten in der Vergangenheit nicht selten. Je umfänglicher das militärische und polizeiliche Engagement Deutschlands, desto unabweisbarer werden die Anwart- schaften auf Besetzung von Schlüsselpositionen. Unterdessen gibt es eine Reihe qualifizierter deutscher Soldaten, Polizisten und Zivilisten, die sich für Führungspo- sitionen im System der UNO-Friedenssicherung eigenen. Sie im UNO-System zu platzieren, ist die eine Seite. Die andere ist, die Personalförderung deutscher Kandi- daten so zu gestalten, dass sich auch UNO-Erfahrung langfristig im Inland karriere- fördernd auswirkt. Internationale Verwendungen müssen attraktiver werden. 04_Wittig Seite 441 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

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Deutsche Beteiligung: wo und wie?

Mit zunehmendem Engagement der Bundeswehr stellt sich auch die Frage nach möglichen Kriterien für Auslandseinsätze.15 Kriterienkataloge mögen hilfreich sein, können aber politische Einzelfallentscheidungen nicht ersetzen. Klar ist, dass der Konfliktbewältigung in der unmittelbaren geographischen Nachbarschaft – etwa auf dem Balkan – besonders hohe Priorität zukommt. Ähnliches gilt für den Nahen Osten. Doch wer hätte vor 2006 gedacht, dass einmal deutsche Soldaten in unmittel- barer Nachbarschaft Israels eingesetzt würden? Für die deutsche Politik gilt es je- doch auch, den vorherrschenden Afrika-Reflex zu überwinden. Auch im Krisen- kontinent Afrika stehen unsere Sicherheitsinteressen auf dem Spiel. Doch Einsätze in Afrika gelten als unpopulär und werden von Militärpolitikern mit Skepsis be- trachtet. Möglicherweise schwingt hier das Somalia-Debakel der Neunzigerjahre noch mit. Aber die Wirklichkeit Afrikas – unseres Nachbarkontinents – holt uns ein. Fast zwei Drittel aller Konflikte, die der UN-Sicherheitsrat verhandelt, werden in Afrika ausgetragen. Tatsächlich sind deutsche Soldaten und Polizisten auch schon in Afrika tätig – manches Mal von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet. Derzeit sind etwa 40 Soldaten und 20 Polizisten bei UNMIS und UNAMID im Sudan, UNMIL in Libe- ria und UNMEE in Äthiopien/Eritrea im Einsatz. Das deutsche Ansehen in Afrika ist hoch – die vergleichsweise geringen kolonialen Belastungen helfen. Dies hat auch der erfolgreiche Einsatz im Kongo 2006 gezeigt. Will Deutschland ein verantwor- tungsvoller Mitspieler im UNO-Peacekeeping sein, muss es sich auch in Zukunft einem Afrika-Engagement weiter öffnen. Sorgfältige politische Einzelfallprüfung und Augenmaß für das Sinnvolle und Machbare verstehen sich dabei von selbst. Bei deutschen UNO-Einsätzen geht es nicht immer um große Kontingente. Haupttruppensteller werden weiterhin die asiatischen und afrikanischen Staaten sein. Sie verfügen häufig aber nicht über die hochwertige Ausstattung, die moderne komplexe Missionen auf schwierigem Terrain erfordern. Mithin sind vor allem Un- terstützungskomponenten gefragt – die sog. »enabling elements«, also Transportlo- gistik, sanitätsdienstliche Versorgung, Fahrzeuge und Hubschrauber sowie Kom- munikationstechnik. Eine »Spezialisierung« auf diese Elemente zur Bereitstellung an UN-geführte Friedensmissionen könnte somit ein sinnvoller deutscher Beitrag sein. Wenn daraus eine langfristig angelegte Politik der UNO-Beteiligung werden soll, die über isolierte Einzelmaßnahmen hinausgeht, müssen indes dafür die notwendi- gen Grundlagen geschaffen werden – bei der Beschaffung und bei der Verfügbarkeit von Einheiten oder einzelnen Soldaten. Nicht selten stellt sich bei Anfragen der UNO heraus, dass die erbetene Unterstützung mangels vorhandener Kapazitäten nicht möglich ist. Knappe Ressourcen sind häufig durch NATO und EU gebunden.

15 Volker Perthes: »Wie? Wann? Wo? Wie oft?«, in: Internationale Politik 62(5) 2007, S. 16-21; Winrich Kühne: »Kriterien, Interessen und Probleme der deutschen Beteili- gung an internationalen Friedenseinsätzen: Wann? Wohin? Warum?«, in: Die Friedens- warte 82 (1), 2007, S. 23-40.

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Eine Kostenfrage ist dies nur bedingt, denn für die Teilnahme an Blauhelm-Missi- onen werden bestimmte Ausgaben für Personal, Ausrüstung und Material zurück- erstattet (die Höhe der Erstattungssätze deckt allerdings unsere hohen deutschen Kosten nur teilweise ab). Dies ist bei EU und NATO-Einsätzen anders. Dort müs- sen die Truppensteller für ihre Kosten selbst aufkommen. Die Teilnahme an UNO- Missionen ist für uns also vergleichbar preiswerter – den Pflichtbeitrag für die Kos- ten muss Deutschland ohnehin zahlen, ob wir uns personell beteiligen oder nicht.

»Partnership Peackeeping«

In jüngster Zeit hat das »partnership peacekeeping« an Bedeutung zugenommen – also die partnerschaftliche Friedenssicherung von Vereinten Nationen und Regio- nalorganisationen wie EU und Afrikanische Union.16 Hier werden die komparati- ven Vorteile der jeweiligen Interventions- und Reaktionsfähigkeit genutzt. Die part- nerschaftliche Friedenssicherung zwischen UN und EU ist dabei ein besonders zukunftsfähiges Modell. Die gut ausgebildeten und ausgerüsteten Staaten der EU werden zunehmend zum »Partner erster Wahl« für die UNO. Gleichzeitig hat die EU ein Interesse an effektiven UNO-Friedensmissionen. Denn trotz gewachsener weltweiter Verantwortung wird sie weiterhin auf den »Weltpolizisten« UNO zur internationalen Konfliktlösung angewiesen sein.17 Die arbeitsteiligen Friedensein- sätze haben aus EU-Sicht den Vorteil eines eigenständigen Auftrags und Mandats für die jeweiligen eigenständigen Kontingente, eigener Kommandostrukturen und einer selbstbestimmten Einsatzdauer. Es liegt somit auch in Deutschlands Interesse, das »partnership peackeeping« von EU und UN zu stärken. Mit der Unterzeich- nung der »Gemeinsamen Erklärung über die Zusammenarbeit zwischen der UNO und der EU bei der Krisenbewältigung« unter deutscher EU-Präsidentschaft im Juni 2007 ist ein weiterer Schritt in diese Richtung unternommen worden. Deutschland ist eine vergleichsweise junge »Peacekeeping-Nation«. Seit den Neunzigerjahren hat sich Deutschland von einem Abstinenzler zu einem wichtigen internationalen Akteur entwickelt.18 In den Vereinten Nationen hat besonders der erfolgreiche Libanon-Einsatz der Bundeswehr Deutschlands Ansehen gestärkt. Er bedeutet indes keinen grundsätzlichen Politikwechsel bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. EU und NATO werden weiter – mit guten Gründen – die bevorzug- ten Einsatzformen der militärischen Führung bleiben, zumal bei robusten Einsät- zen. Doch vieles spricht für eine neue Mischung der Einsatzformen: Die UN-Frie-

16 A. Sarjoh Bah und Bruce D. Jones: »Peace Operation Partnerships: Lessons and Issues from Coordination to Hybrid Arrangements«, in: Center on International Coopera- tion: Annual Review of Global Peace Operations 2008. Boulder: Lynne Rienner 2008, S. 21-29. 17 Richard Gowan: »The EU still needs UN peacekeepers« (http://euobserver.com/13/ 26183, abgerufen am 21.05.2008) 18 Winrich Kühne: Deutschland und die Friedenseinsätze – vom Nobody zum weltpoliti- schen Akteur. Berlin: Zentrum für Internationale Friedenseinsätze, Dezember 2007. 04_Wittig Seite 443 Freitag, 5. Dezember 2008 12:04 12

Peter Wittig · Deutschland als aktive Friedensmacht 443

denssicherung sollte ein dauerhaftes Standbein im Aufgabenspektrum der deutschen Sicherheitspolitik werden. So könnte Deutschland seine Rolle als aktive Friedensmacht im internationalen Rahmen noch besser ausfüllen.

Zusammenfassung

Die UNO-Friedenssicherung steht vor gewaltigen Belastungsproben. Entspre- chend hoch sind die Anforderungen an die UNO-Mitgliedstaaten. Deutschland ist ein wichtiger Peacekeeping-Akteur geworden – insbesondere im Rahmen der EU und der NATO. Doch Auslandseinsätze der Bundeswehr sind strittiger denn je. Die Kontroverse zum Afghanistan-Einsatz droht auch eine objektive Debatte über die weniger robusten UNO-Missionen zu belasten. Deutschland hat jedoch ein Inter- esse an einem effektiven System der UNO-Friedenssicherung, nicht zuletzt auch als verlässlicher Partner für EU und NATO. Gute Gründe sprechen dafür, dass die Be- teiligung an UN-Friedensmissionen ein dauerhaftes drittes Standbein der deutschen Sicherheitspolitik werden sollte. Sorgfältige politische Einzelfallprüfung und Au- genmaß für das Sinnvolle und Machbare verstehen sich dabei von selbst.

Abstract

UN peacekeeping faces enormous challenges. The demand for UN member state contributions is equally high. Germany has become a major peacekeeping actor, mainly within the NATO and EU framework. Yet Bundeswehr operations abroad are more controversial than ever. The controversy surrounding the operation in Af- ghanistan may negatively affect an objective debate on less robust UN missions. Germany has an interest in an effective system of UN peacekeeping, not least as re- liable partner for the EU and NATO. There are good reasons why participation in UN peacekeeping operations should become a third pillar of German security poli- cy. It goes without saying that this requires careful political case-by-case analysis and pragmatism.

Peter Wittig, Germany's growing role in Peacekeeping

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Marc Saxer Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts

I. Einleitung

Die Diskussion um die »Schutzverantwortung« für die Zivilbevölkerung souve- räner Staaten wird in Deutschland weitgehend als Friedens- und Konfliktbearbei- tungsthema geführt. Die Debatte ist jedoch auch ein Ausgangspunkt für die Ausein- andersetzung um die Ausgestaltung der Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Die Frage, wie die internationale Gemeinschaft mit wachsenden Zonen systemischer In- stabilität und dem Auftreten von Massengräueln1 umgehen soll, ist zwischen Nord und Süd, zwischen etablierten und aufstrebenden Mächten nicht beantwortet. Jen- seits geopolitischer oder ökonomischer Interessen blockieren daher Debatten um »Souveränität« und »Nichtintervention« die internationalen Entscheidungsfin- dungsprozesse ausgerechnet in den Fällen, in denen eine schnelle Reaktion der in- ternationalen Gemeinschaft am nötigsten wäre. Das Konzept der Schutzverantwortung hat zu einer Annäherung der Positionen geführt, gerät jedoch in jüngster Zeit zunehmend in schwieriges Fahrwasser. Die In- strumentalisierung des Konzeptes zur Rechtfertigung des Einsatzes militärischer Gewalt durch den Westen und Russland verstärkt das Misstrauen der Skeptiker. Es wird zunehmend deutlich, dass eine Modifizierung des Souveränitätsbegriffes als Gründungsprinzip der Staatengemeinschaft nur durch eine politische Überein- kunft der zentralen globalen Akteure gelingen kann. Die derzeitigen Verschiebun- gen der globalen Kräfteverhältnisse erschweren allerdings eine solche Übereinkunft über einen zentralen Eckpunkt der Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Dieser Artikel beleuchtet vor dem Hintergrund einer Renaissance von Groß- machtpolitiken die Risiken, die durch die Verwendung »humanitärer Rechtferti- gungsgründe« für die Anwendung von Gewaltmitteln entstehen können. Er zeigt weiterhin die Chancen der Schutzverantwortung auf, die globale Polarisierung zu überwinden und die Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft im An- gesicht von Massengräueln wiederherzustellen.

1 Unter dem Begriff »Massengräuel« versteht man die Tatbestände des Völkermordes, sowie der im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufgeführten Kriegsverbrechen, ethnische Vertreibungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn eine bestimmte quantitative Schwelle überschritten wurde. Wie und von wem diese Schwelle bestimmt werden kann, ist umstritten; vgl. Global Center for R2P, »Fre- quently Asked Questions about R2P«, http://globalr2p.org/pdf/FAQ.pdf (Juli 2008)

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Marc Saxer · Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts 445

II. Systemische Instabilität erfordert Handlungsfähigkeit

Die internationale Ordnung basiert seit dem Westfälischen Frieden auf einem System souveräner Staaten, die nach außen gleichberechtigt sind und nach innen das Gewaltmonopol garantieren. Die Charta der Vereinten Nationen hat sich bewusst dafür entschieden, das konflikthemmende Moment der Souveränität im Sinne einer Nichteinmischung in innere Angelegenheiten als zentralen Baustein der Staatenord- nung zu bestätigen und diese Ordnung durch das zwischenstaatliche Gewaltverbot noch verstärkt. Tatsächlich ist die zwischenstaatliche Gewalt seit 1945 stark zurück- gegangen, zwischenstaatliche Kriege sind selten geworden. Seit der Gründung der VN hat sich die Zahl der souveränen Staaten von 51 auf 192 beinahe vervierfacht. Formell sind alle diese Staaten gleichberechtigte Mitglieder der internationalen Ge- meinschaft und genießen rechtlichen Schutz vor externer Gewaltanwendung. Innerhalb vieler Staaten ist jedoch das staatliche Gewaltmonopol erodiert. Der Bertelsmann Transformationsindex für das Jahr 2008 zählt 27 schwache Staaten, dar- unter sieben failed states, in denen so gut wie keine funktionierende staatliche Ord- nung mehr existiert. Interne Gewaltkonflikte schwächen fragile Staaten weiter, kön- nen auf Nachbarländer überspringen und destabilisieren durch Flüchtlingsströme und wirtschaftliche Verwerfungen ganze Regionen. Als potentielle Rückzugräume für private Gewaltakteure der Organisierten Kriminalität und des Terrorismus stel- len sie zudem ein globales Sicherheitsrisiko dar. Diese Zonen der Instabilität dürften sich durch die Auswirkungen des Klimawandels weiter ausweiten. Der Kampf um natürliche Ressourcen wie Wasser und Nahrung einerseits, die zunehmende Kon- kurrenz um Energieressourcen andererseits birgt beträchtliches Konfliktpotential. Einige Staaten könnten unter dem »Ressourcenfluch« zusammenbrechen.2 Die internationale Gemeinschaft hat ein Interesse daran, diese »Zonen der Insta- bilität« zu stabilisieren. Gefordert sind hier zunächst die Vereinten Nationen, die zu diesem Zweck ein stetig wachsendes System der Friedenssicherung und Friedens- förderung aufbauen. Betrachtet man die politischen Auseinandersetzungen im Vorfeld internationaler Interventionen seit dem Ende des Kalten Krieges, so wird deutlich, dass in der über- wiegenden Mehrheit der Fälle westliche Staaten die Befürworter einer Intervention waren, während sich insbesondere Russland und China wiederholt gegen den Ein- satz von Gewalt wandten.3

2 Mit dem Ressourcenfluch wird der scheinbar paradoxe Zusammenhang zwischen dem Reichtum eines Landes an natürlichen Ressourcen und schlechter wirtschaftlichen Ent- wicklung und schlechter Regierungsführung bezeichnet. Richard M. Auty, Sustaining Development in Mineral Economies: The Resource Curse Thesis. London, 1993. 3 Bates Gill zeigt dies für China an den Fällen Kambodscha, Somalia (1993), Bosnien- Herzegowina, Sudan und Afghanistan (1998), Kosovo/ Serbien (1999) und Irak (2003); Bates Gill, Rising Star. China’s New Security Diplomacy, Washington D.C. 2007, S. 112. Bellamy zitiert den Widerstand gegen den französischen Vorstoß bezüglich Zyklon Nargis in Burma. Alex J Bellamy, »The Responsibility to Protect and the problem of military intervention«, in: International Affairs, 84:4 (2008), S. 617.

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446 Marc Saxer · Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts

Jenseits moralischer Motive und geopolitischer Interessen spielten bei den Befür- wortern auch Erwägungen der Systemstabilität eine Rolle. Friedenssichernde Inter- ventionen und friedensfördernde Wiederaufbauarbeit werden im Westen auch als Reaktion auf die zunehmende Instabilität des Staatensystems begriffen. Die westli- chen Staaten als Gründer des Systems multilateraler Institutionen sehen sich dabei in der Rolle der Stabilitätsgaranten. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass demokratische Länder nur schwer in der Lage sind, asymmetrische Konflikte mit nichtstaatlichen Akteuren für sich zu entschei- den. Für den Erfolg von friedenssichernden Missionen ist es daher entscheidend, gewalt- samen Widerstand in der lokalen Bevölkerung zu vermeiden. Eine wichtige Vorausset- zung für die Akzeptanz der Mission ist die internationale und lokale Wahrnehmung ihrer Legitimität. Internationale Legitimität erlangt eine Mission durch eine möglichst konsen- suale Mandatierung durch den UN-Sicherheitsrat. Diese konsensuale Mandatierung ist jedoch in den letzten Jahren entweder erst nach langwierigen und polarisierenden Ausei- nandersetzungen erreichbar gewesen oder nicht selten gar nicht erreicht worden. Eine Reihe von Staaten des Südens, unterstützt von Russland und China, vertre- ten eine strikte Auslegung des Prinzips staatlicher Souveränität, welche die in der UN Charta festgeschriebenen Eingriffsmöglichkeiten möglichst restriktiv interpre- tieren möchte. In vielen Staaten mit kolonialer Vergangenheit werden die eigene Souveränität als eigentlicher Ausweis der Staatlichkeit betrachtet und Versuche in- ternationaler Einflussnahme als (neo-) koloniale Interessenpolitik gesehen. Auch China leitet aus seiner eigenen historischen Verwundbarkeit kombiniert mit der tra- ditionellen konfuzianischen Herrschaftsethik eine strikte Interpretation der Souve- ränität und der Nichtintervention ab, die als Doktrin der »Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz« bis heute einflussreich ist.4 Jenseits geopolitischer Interessen besteht also in der Frage, wie die internationale Gemeinschaft auf das Auftreten von Massengräueln reagieren sollte, keine Einig- keit. Trotz zunehmender Instabilität des Staatensystems ist die internationale Ge- meinschaft selbst in Extremfällen zu oft handlungsunfähig.

III. Vom »Recht auf Intervention« zur »Schutzverantwortung«

Insbesondere nach dem Versagen der Weltgemeinschaft im Angesicht der Völker- morde in Ruanda und Bosnien wurde daher nach neuen Wegen gesucht, Massen- gräuel zu vermeiden. In der Charta der Vereinten Nationen finden jedoch die Men- schenrechte und das Selbstbestimmungsrecht der Völker ihre Grenze im Gewaltverbot und der staatlichen Souveränität. Den Einsatz von Gewaltmitteln un- ter Kapitel 7 kann nur der Sicherheitsrat mandatieren5.

4 Bates Gill, Rising Star. aaO., S. 105 ff. 5 Das Uniting for Peace-Verfahren sieht vor, dass die Generalversammlung in Fällen, in denen der Sicherheitsrat wegen der Uneinigkeit der fünf permanenten Mitglieder nicht handlungsfähig ist, mit Zweidrittelmehrheit eigene Maßnahmen zur Wiederstellung von Frieden und Sicherheit beschließen kann. Durch die hohe Schwelle scheidet das Verfah- ren als Alternative zu einem blockierten Sicherheitsrat in den meisten Fällen aus. Vgl. United Nations General Assembly Resolution A-RES-377(V), 3. November 1950. 05_Saxer Seite 447 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

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Es wurde daher nach Wegen gesucht, die Blockaden des Sicherheitsrates aufzulö- sen oder den Sicherheitsrat gänzlich zum umgehen, um die Handlungsfähigkeit im Angesicht von Massengräueln wiederherzustellen. So wurde unter dem Etikett »Recht auf humanitäre Intervention« eine Art Nothilferecht konstruiert, das einen gewaltsamen Eingriff in die Souveränität eines Staates rechtfertigen sollte. Als sich 1998 im VN-Sicherheitsrat kein Mandat für ein Eingreifen im Kosovo erreichen ließ, berief sich die NATO auf dieses Nothilferecht (»Nie wieder Auschwitz«), um ihre Luftangriffe auf Serbien zu legitimieren. Diese Selbstermächtigung drohte die Vereinten Nationen, den zentralen Akteur in Fragen von Krieg und Frieden, zu marginalisieren. VN-Generalsekretär Kofi An- nan erkannte den Legitimitätsverlust einer handlungsunfähigen Weltorganisation und warb in seiner Ansprache vor der Generalversammlung 1999 für das »Recht auf Intervention« im Angesicht von Massengräueln. In der polarisierten Atmosphäre nach dem Kosovo Krieg traf dieser Vorschlag jedoch auf deutliche Ablehnung vieler Staaten des Südens. Hinter dem »Recht auf humanitäre Intervention« wurde ein Freibrief für Interventionen im Interesse des Westens vermutet.

Das ICISS Konzept

Die von Kanada initiierte International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS) zog daraus Konsequenzen und legte im September 2001 ein weniger eingriffsintensives Konzept vor, das auch für die Anhänger einer traditio- nellen Interpretation von Souveränität konsensfähig sein sollte. Aufbauend auf die Definition Francis Dengs6 wurde Souveränität nicht mehr als »Recht auf Kontrolle« sondern als staatliche »Verantwortung zum Schutz« interpretiert. Die primäre Ver- antwortung zum Schutz der Bevölkerung liegt weiterhin bei den Staaten selbst. Ist ein Staat dazu nicht in der Lage, hat die internationale Gemeinschaft die Pflicht, ihn bei der Ausbildung der erforderlichen Fähigkeiten zu unterstützen. Erst wenn ein Staat im Angesicht von Massengräueln nicht willens oder nicht in der Lage ist, der Schutzverantwortung für seine Bevölkerung nachzukommen, geht diese Verant- wortung auf die internationale Gemeinschaft über. Die Schutzverantwortung versteht sich dabei als ganzheitlicher Ansatz, der die Bereiche »Prävention«, »Reaktion« und »Wiederaufbau« verbindet7. Zur Ausübung der Schutzverantwortung steht somit das gesamte Instrumentarium des VN-Sys- tems der Kapitel VI, VII und VIII der Charta zur Verfügung. Erst wenn die nicht- militärischen Druckmittel erfolglos ausgeschöpft wurden, kommt als letztes Mittel eine militärische Intervention in Frage.

6 Roberta Cohen und Francis Deng, Masses in Flight: the global crisis of internal displace- ment, Washington D.C. 1998; Francis M. Deng (Hg), Sovereignty as Responsibility: Conflict Management in Africa, Washington D.C. 1996. 7 The Responsibility To Protect, Report of the Internaional Commission on Intervention and State Sovereignty, December 2001

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Das Mandat soll weiterhin der Sicherheitsrat erteilen. Ist der Sicherheitsrat blo- ckiert, sieht das Konzept der ICISS die Möglichkeiten einer »Uniting for Peace«- Resolution der Generalversammlung und ein Handeln der Regionalinstitutionen vor, die jedoch nachträglich vom Sicherheitsrat mandatiert werden müssen. Abgesehen von der Neuinterpretation des Souveränitätsprinzips ist die Schutz- verantwortung weder als Konzept der Friedensförderung noch völkerrechtlich be- trachtet Neuland. Die Schwelle für nichtmilitärische und militärische Interventio- nen der internationalen Gemeinschaft wird hoch angesetzt und beschränkt sich auf einige weltweit anerkannte Tatbestände von besonderer Schwere. Vor allem aber de- finiert das Konzept entsprechend gültigem Völkerrecht die Verantwortung der in- ternationalen Gemeinschaft als subsidiär zur Verantwortung des betroffenen Staa- tes. Damit wurden Bedenken der Kritiker der »humanitären Intervention« aufgegriffen und der Weg zu einem breiten internationalen Konsens eröffnet. Dennoch ist das Konzept mehr als eine semantische Verschiebung. Mit der Defi- nition der Souveränität als Verantwortung wird ein Anspruch an die Staaten formu- liert, an dem sie sich messen lassen müssen – und dessen Einhaltung beispielsweise zivilgesellschaftliche Gruppen einfordern können. Die Schutzverantwortung etab- liert, weitere Kodizifierungen dahingestellt, eine moralische und politische Norm, die auf die Mobilisierung politischen Willens sowohl in den Staaten, in denen Mas- sengräuel stattfinden, als auch der internationalen Gemeinschaft abzielen.8 Die poli- tischen Kosten des Nichthandelns beim Auftreten von Massengräueln werden ver- mutlich steigen.9 Die Verfasser wählen damit einen konstruktivistischen Ansatz, der politische Entscheidungen durch die Etablierung von Werten und Normen beein- flussen will. Eine ähnliche Formulierung verabschiedeten 2002 die afrikanischen Staaten in der Charta der neugegründeten Afrikanischen Union (AU). Mit der Möglichkeit ei- ner vom Sicherheitsrat der AU mandatierten Intervention in Fällen von Völker- mord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit veränderte sich das Paradigma der afrikanischen Regionalorganisation von »non-interference« zu »non-indifference«.10

Der Weltgipfel

Auf globaler Ebene übernahm das High Level Panel on Threats, Challenges and Change mit einigen Änderungen die Vorschläge der ICISS und VN-Generalsekre-

8 Zum Nutzen der Schutzverantwortung im Präventionsbereich siehe Alex J. Bellamy: »Conflict Prevention and the Responsibility to Protect«, in: Global Governance 14(2008), 135-156. 9 Edward C. Luck, »Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung«, in: Vereinte Nationen 02/08, S. 58. 10 Keith Gottschalk/ Siegmar Schmidt, »The African Union and the New Partnership for Africa’s Development: Strong Institutions for Weak States?«, in: IPG 4/2004, S. 144. 05_Saxer Seite 449 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

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tär Kofi Annan empfahl in seinem Bericht In Larger Freedom dem VN-Millenni- umsgipfel die Annahme des Konzeptes der Schutzverantwortung.11 Zwischenzeitlich zogen die Vereinigten Staaten von Amerika den Schutz der schiitischen und kurdischen Bevölkerung als Rechtfertigung für eine Invasion des Irak heran. Obwohl diese Begründung im Jahr 2003 offensichtlich haltlos war, ver- stärkte sie das Misstrauen derjenigen Staaten, die in der Schutzverantwortung nur eine raffiniertere Version der »humanitären Intervention« sehen. Vor diesem Hintergrund wurde das von der ICISS erarbeitete Konzept auf dem VN-Weltgipfel 2005 nach langen Verhandlungen an einigen Stellen beschnitten. Von den ursprünglich vorgeschlagenen Eingriffstatbeständen waren nur die Fälle des Völkermordes, der Kriegsverbrechen, der ethnischen Säuberungen und der Verbre- chen gegen die Menschlichkeit konsensfähig. Die Tatbestände des Völkermordes, der Kriegsverbrechen und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind bereits in den existierenden Normen des Menschenrechtsschutzes, des Genfer Rechts, des Römischen Statuts des IStGH, der Völkermordkonvention und des Völkerstraf- rechts verankert. Ethnische Säuberungen stellen zwar keinen eigenständigen völker- rechtlichen Verbrechenstatbestand dar, können aber je nach den Umständen der Tat ggf. unter den Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit subsumiert werden oder stellen sonstige schwere Menschenrechtsverletzungen dar. Die Schwel- le, bei deren Überschreitung die Schutzverantwortung von den betroffenen Staaten auf die internationale Gemeinschaft übergeht wurde angehoben. Der Staat muss nicht nur »nicht willens oder nicht fähig« sein, sondern in der Erfüllung seiner Schutzverantwortung »offenkundig versagen«. Die von der ICISS vorgeschlagenen Kriterien für den Einsatz militärischer Ge- walt – die richtige Autorität, Ernst der Bedrohung, Redlichkeit der Motive, Gewalt als letztes Mittel, Verhältnismäßigkeit der Mittel und Angemessenheit der Folgen – wurden nicht in das Abschlussdokument aufgenommen. Hiergegen standen Beden- ken der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, die sich in ihrer Freiheit, im Ein- zelfall zu entscheiden, nicht einschränken lassen wollen.12 Aus diesem Grund wurde auch die Verpflichtung der internationalen Gemeinschaft zum Handeln auf Druck insbesondere der USA in eine Absichtserklärung abgeschwächt. Der Vorschlag, die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates sollten in Fällen von Massengräueln auf das Ausüben ihres Vetorechtes verzichten, wurde ebenfalls nicht aufgegriffen. Wei- terhin wird zwar auf die Möglichkeit der Kooperation mit Regionalorganisationen unter Kapitel 8 verwiesen, die expliziten Verweise auf die Uniting for Peace-Proze- dur oder den Vorschlag einer vorläufigen Mandatierung durch eine Regionalorgani- sation im Falle einer Blockade des Sicherheitsrates wurden aber nicht aufgenom-

11 »The Responsibility To Protect«, Report of the International Commission on Interven- tion and State Sovereignty, December 2001; Bericht des High-Level Panel: A more secure world: Our shared responsibility, http://www.un.org/secureworld/; Bericht des UN-Generalsekretärs: In Larger Freedom, http://www.un.org/largerfreedom/con- tents.htm ; World Summit Outcome 2005, http://www.un.org/summit2005/presskit/ fact_sheet.pdf 12 Edward C. Luck, Der verantwortliche Souverän, aaO. (FN 9), S. 57.

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men. Das Abschlussdokument bestätigt vielmehr die alleinige Zuständigkeit des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen zur Legitimierung von Zwangsmaßnahmen nach Kapitel 7 der VN Charta. Im Abschlussdokument werden also weder über das bestehende Völkerrecht hin- ausgehende Tatbestände noch die Frage der Rechtmäßigkeit eines Gewalteinsatzes angesprochen.13 Die Handlungsunfähigkeit der Vereinten Nationen im Falle einer Blockade des Sicherheitsrates wird durch die im Abschlussdokument verabschiede- ten Art. 138 und 139 nicht adressiert. Einige Befürworter der Schutzverantwortung sprechen deshalb von einer »Schutzverantwortung light«.14 Anderseits trägt insbe- sondere die Reduzierung der Tatbestände auf die völkerrechtlich definierten Tatbe- stände Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Vertreibungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein Mehr an Klarheit.15 Die Aufrechterhaltung der Allein- zuständigkeit des Sicherheitsrates kann auch als adäquates Mittel gegen den Miss- brauch des Konzeptes zur Legitimierung unilateraler Interventionen gelesen wer- den. Resolutionen der Generalversammlung sind rechtlich nicht bindend. Entspre- chend geht auch vom Abschlussdokument des Weltgipfels keine rechtliche Bin- dungswirkung aus. Die bewusste Aufnahme wichtiger Elemente des Konzeptes der Schutzverantwortung in die Abschlusserklärung durch 150 Staaten ist aber eine deutliche politische Willenserklärung16 und könnte ein erster Schritt bei der Heraus- bildung von Völkergewohnheitsrecht sein.17 In einem weiteren Schritt zitierte der Sicherheitsrat die Schutzverantwortung mit einem expliziten Verweis auf die Arti- kel 138 und 139 des Abschlussdokuments in den Resolutionen 1674 und 1706 (bei- de 2006).

Entwicklungen seit 2005

Trotz des Wortlautes der Abschlusserklärung erkennen einige Staaten, unter ih- nen Algerien, Ägypten18, Kuba, Iran und Pakistan nicht an, dass der Weltgipfel das Konzept der Schutzverantwortung angenommen hat. Demzufolge hätte der Gipfel lediglich eine Art Absichtserklärung verabschiedet und somit das ICISS-Konzept der Schutzverantwortung verworfen. Hinter dieser Haltung wird das grundsätzli-

13 Christian Schaller, »Die völkerrechtliche Dimension der ›Responsibility to Protect‹«, in: SWP Aktuell 46, Juni 2008. 14 Thomas G. Weiss, Humanitarian Intervention: ideas in action, Cambridge, 2007, S. 116f. 15 Alex J Bellamy, »The Responsibility to Protect and the problem of military interven- tion«, aaO., S. 624. 16 Edward C. Luck, Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung, Ver- einte Nationen 02/08, S. 52. 17 Christian Schaller, Die völkerrechtliche Dimension der »Responsibility to Protect«, aaO. (FN 13). 18 Vgl. Positionen Algeriens und Ägyptens, S/PV .5319 (Wiederaufnahme 1), 9.12.2005. S. 3 und 6. 05_Saxer Seite 451 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

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che Misstrauen einiger Staates des Südens gegenüber jedwedem Versuch einer Auf- weichung des Souveränitätsprinzips deutlich, die in der Etablierung von Legitimati- onstatbeständen für externe Interventionen nur eine normativ verbrämte Tarnung für den Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung nationaler bzw. oder (neo-) kolonialer Interessen sieht. Auch Südafrikas Haltung gegenüber der Schutzverantwortung wurde im Nach- gang des Weltgipfels zunehmend kritischer. Trotz einer insgesamt flexibleren Hal- tung gegenüber den Prinzipen der Souveränität und der Nichtintervention hat vertritt China in jüngster Zeit eine skeptische Haltung gegenüber der Schutzverant- wortung. Als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates dringt es darauf, Referenzen auf die Schutzverantwortung aus den Resolutionen zu streichen. In der Resolution 1814 zu Somalia (2008) wird die Schutzverantwortung auf Drängen Chinas nur noch in einer abgeschwächten Form zitiert, der Verweis auf das Abschlussdoku- ment des Weltgipfels fehlt.19 Eine Gruppe von global agierenden Nichtregierungsorganisationen20 hat auf diese rückläufige Entwicklung reagiert und ein Globales Zentrum für die Schutzverantwor- tung in New York gegründet. Neben der konzeptionellen Weiterentwicklung finden derzeit weltweit regionale Konsultationen zur Schutzverantwortung statt. In der Ge- neralversammlung hat sich zudem eine Group of Friends gebildet. Dennoch ist offen- bar derzeit kein Staat bereit, eine Initiative für die Schutzverantwortung, z.B. durch Anregung einer Debatte in der Generalversammlung, anzuführen. Offenbar über- wiegt die Sorge, eine solche Debatte könnte dem Konzept eher schaden als nutzen.21 In dieser Situation obliegt es dem Generalsekretär der Vereinten Nationen eine Führungsrolle übernehmen. VN-Generalsekretär Ban Ki-Moon hat die Implemen- tierung der Schutzverantwortung zu einer seiner Prioritäten erklärt22 und einen Sonderberater berufen. Allerdings zeigen die monatelange Bestätigungsprozedur durch den Sicherheitsrat und die kontroverse Debatte über das Budget des Sonder- beraters in der Generalversammlung (als deren Ergebnis dem Sonderberater das Führen des Titels »on the responsibility to protect« verwehrt wurde) die nach wie vor große Skepsis vieler Staaten gegen das Konzept.23 Die Strategie der Befürworter der Schutzverantwortung ist es, einerseits die Spra- che des Konzeptes in möglichst vielen Resolutionen, Dokumenten und Verlautba- rungen zu verankern und somit zur Herausbildung einer Staatenpraxis beizutragen. Auf dem Weg einer Harmonisierung der Positionen der verschiedenen UN Unter- organisationen sind dabei seit der Berufung des Sonderberaters deutliche Fort-

19 S/RES/1814 (2008) zu Somalia vom 15.Mai 2008. 20 International Crisis Group, Human Rights Watch, Institute for Global Policy, Oxfam International, and Refugees International. 21 Alex J Bellamy, »The Responsibility to Protect and the problem of military interven- tion«, aaO. (FN 3), S. 616. 22 Vgl. Etwa. Ban Ki Moon, Annual Address to the General Assembly, 25.9.2007, SG/SM/ 11182; ders. Responsible Sovereignty: International Cooperation for a Changed World, UN DPI, 16.7.2008. 23 Fünftes Kommittee der VN Generalversammlung, GA/AB/3837, 4.3.2008.

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schritte erzielt worden. Weiterhin soll durch die Anwendung der Sprache morali- scher Druck zum präventiven Handeln24 aufgebaut werden und so in bestimmten Fällen der Nutzen des Konzeptes für die internationale Gemeinschaft aber auch für die Zivilgesellschaften deutlich gemacht werden. Im Falle der Gewaltausbrüche bei den Wahlen in Kenia 2007 und der nachfolgenden Vermittlung einer Regierung der nationalen Einheit durch Kofi Annan hat dies bereits eindrucksvoll funktioniert. Dennoch herrscht auch unter den Befürwortern noch keine Einigkeit über das weitere taktische Vorgehen. Während Sonderberater Edward C. Luck vor einer Ausweitung des Konzeptes und vor einer Fokussierung auf die militärische Inter- ventionsoption warnt25, werden immer wieder Rufe nach einer Anwendung der Schutzverantwortung in Fällen von HIV/ AIDS, Naturkatastrophen und in Fällen politischer Gewalt unterhalb der Schwelle der vier Tatbestände laut.26 Die dissonan- te Diskussion um die Nothilfe für die Zyklonopfer in Myanmar/ Burma27 und die Rufe nach einer Intervention in Simbabwe28 verdeutlichen dieses Bild. Die Debatte über ein mögliches Eingreifen der internationalen Gemeinschaft in Myanmar/ Bur- ma hat das Konzept in einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht, allerdings auch den Blickwinkel vieler Beobachter auf die Legitimation des Einsatzes nicht- konsensualer Gewalt verengt.

IV. Die Gefahr des Missbrauchs

Die völkerrechtswidrige Invasion des Irak, unter anderem auch mit fadenscheini- gen »humanitären« Motiven begründet, führte der Weltgemeinschaft bereits die Ge- fahren des Missbrauchs des Interventionsinstrumentariums vor Augen. Seit der Annahme des Konzeptes auf dem Weltgipfel nimmt der Bezug auf die Schutzver- antwortung weiter zu. So wurde die Schutzverantwortung zur Begründung von In- terventionen unterschiedlicher Art in den Fällen Darfur/ Sudan, Demokratische Republik Kongo, Kenia, Burma/ Myanmar, Simbabwe und Südossetien/ Georgien ins Spiel gebracht.

24 Alex J. Bellamy in »Conflict Prevention and the Responsibility to Protect«, Global Governance 14(2008), S. 149ff. 25 Edward C. Luck, »Sollen wir einen Krieg in das Zyklongebiet tragen?« , in: FAZ, 14.5.2008. 26 Lloyd Axworthy and Allan Rock, »Breathe New Life into R2P; Canada Has Abando- ned the Very Principle It Once Championed at the United Nations«, in: The Globe and Mail, 29.1.2008. 27 World Federalist Movement – Institute for Global Policy, »Crisis in Burma«, in: Responsibility to Protect Engaging Civil Society, http://www.responsibilitytopro- tect.org/index.php/pages/1182 (zuletzt aufgerufen am 09.10.2008). 28 Rev. Dr Samuel Kobia, General Secretary, for the World Council of Churches, Letter to the United Nations Secretary General Ban Ki-moon on the situation in Zimbabwe; http://www.oikoumene.org/en/resources/documents/general-secretary/messages-and- letters/18-06-08-call-on-the-un-to-end-violence-in-zimbabwe.html (zuletzt aufgeru- fen am 09.10.2008); Peter Oborne, »We Have a Duty to Protect Zimbabwe«, in: The Spectator, 19.6.2008. 05_Saxer Seite 453 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

Marc Saxer · Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts 453

Wie schnell eine moralische Norm zum Spielball realpolitischer Interessen wer- den kann zeigte sich im Kaukasuskonflikt überdeutlich. Russland rechtfertigte die Invasion Georgiens mit dem Schutz der Zivilbevölkerung vor Massengräueln und berief sich explizit die Schutzverantwortung.29 Insbesondere der russische Vorwurf, die Georgier begingen »Völkermord» und »ethnische Vertreibungen» diente zur Legitimierung der eigenen Intervention ohne vorherige Befassung des VN Sicher- heitsrates. 30 Bis in die Formulierungen hinein bediente sich Russland der »humani- tären Rhetorik« aus dem Vorfeld der Interventionen im Kosovo und im Irak. Auch Georgien wirft den russischen Truppen »Völkermord« und »ethnische Vertreibun- gen« vor.31 Westliche Beobachter reagierten empört auf die Einlassungen Russlands und machen den Unterschied zwischen der russischen Intervention und dem eben- falls ohne UN Mandat durchgeführten militärischen Eingreifen der NATO im Ko- sovo wiederum an den an der albanischen Zivilbevölkerung »ethnischen Vertrei- bungen« an der »Grenze zum Völkermord« fest.32 Die russische Differenzierung, mit der eigenen Intervention einen »versuchten Völ- kermord« verhindert zu haben, weist zudem auf eine zentrale Schwäche der Schutz- verantwortung hin: um noch präventiv wirken zu können, muss zu einem Zeitpunkt eingegriffen werden, in dem sich die vier Tatbestände des Konzeptes noch nicht ver- wirklicht haben. In der Praxis wird es aber objektiv schwierig sein, beispielsweise ei- nen »drohenden Völkermord« zu prognostizieren. Somit wird einer Großmacht die Möglichkeit eröffnet, das Konzept für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. 33 Die Einlassung Russlands, die russische Verfassung lege dem Staat eine Schutz- verantwortung für seine Staatsbürger auf34, verwischt zudem die Grenze zwischen der in Art. 138,139 des Weltgipfel Abschlussdokuments zitierten Pflicht zum Schutz der eigenen Bevölkerung im Inland und dem davon nicht berührten Schutz im Ausland.35 Vor dem Hintergrund der Ausgabe russischer Pässe an Südossetier

29 Sergej Lavrov zitiert in Global Center for the Responsibility to Protect, »The Georgia- Russia Crisis and the Responsibility to Protect: Background Note«, 19.8.2008. 30 Vgl. »Georgien wollte den Völkermord. Medwedjews Fernsehansprache im Wortlaut«, in: Süddeutsche Zeitung, 27.8.2008. 31 Michail Saakaschwili, »Die Maske ist gefallen«, in: Financial Times Deutschland, 28.08.2008. 32 Wolfgang Petritsch »Es ist letzten Endes Machtpolitik«, in: Deutschlandradio, 19.9.2008; »Moskau riskiert Verstoß gegen das Volkerrecht«, Interview mit Thomas Bruha, in Spiegel Online vom 25.8.2008 (http://www.spiegel.de/politik/ausland/ 0,1518,574273,00.html). 33 Befürworter schlagen vor, die Generalversammlung solle auf Empfehlung des Hoch- kommissariats für Menschenrechte eine Konkretisierung der Beweiserhebung klären; vgl. Sabine von Schorlemmer, Die Schutzverantwortung als Element des Friedens, SEF Policy Paper 28, Dezember 2007. 34 Sergej Lavrov zitiert in Global Center for the Responsibility to Protect, »The Georgia- Russia Crisis«, aaO. (FN 29) 35 Das Völkerrecht erlaubt zwar den Schutz von Staatsbürgern im Ausland als Akt der Selbstverteidigung unter Art. 51 der VN-Charta, eine großangelegte militärische Inter- vention ist aber auch damit nicht zu rechtfertigen; Vgl. Global Center for the Responsi- bility to Protect, »The Georgia-Russia Crisis«, aaO. (FN 29); Interview mit Otto Luchterhandt, in Tagesspiegel, 14.8.2008.

ZfP 55. Jg. 4/2008 05_Saxer Seite 454 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

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nutzte Russland jedoch die Unsicherheit vieler Akteure über die Grenzen der Schutzverantwortung, um aus der »Verantwortung zum Schutz der eigenen Bevöl- kerung« eine Legitimation für eine Intervention in einem Nachbarland zu konstru- ieren. Die russische Instrumentalisierung der Schutzverantwortung zur Legitimierung einer gewaltsamen Intervention dürfte den auch im Westen vorhandenen Vorbehal- ten gegen das Konzept neuen Auftrieb verschaffen. Es wurde einmal mehr deutlich, welche Risiken die im Abschlussdokument des Weltgipfel verabschiedete »Schutz- verantwortung light« birgt: ohne eine rechtlich bindende Kodifizierung und qualifi- zierende Kriterien36 für den Einsatz von Gewalt kann das Konzept als humanitärer Deckmantel für die gewaltsame Durchsetzung nationaler oder imperialer Interessen missbraucht werden. Jenseits der Frage, ob und inwieweit eine Großmacht auch rechtlich verbindliche Kriterien im eigenen Interesse beugen kann ist es auf mittlere Sicht unwahrscheinlich, dass es zu einer Qualifizierung und Kodifizierung der Schutzverantwortung kom- men könnte. Schon im Vorfeld des Weltgipfels standen die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates und andere wichtige Staaten wie Indien und Südafrika den Krite- rien der ICISS ablehnend gegenüber.37 Trotz der Argumentation der Befürworter der Schutzverantwortung, Kriterien würden den Missbrauch humanitärer Argumente für geopolitische oder unilateral Interventionen schwieriger machen38, bestärkte die auch humanitär begründete Invasion des Irak die ablehnende Haltung vieler Staaten gegen Kriterien noch weiter.39 Der relative Aufstieg von Staaten mit traditionellem Souveränitätsverständnis und die wachsenden Bedenken in einigen etablierten Mäch- ten des Westens sprechen gegen eine solche Entwicklung. Trotz der erkennbar größe- ren Flexibilität Chinas im Bereich des Peacekeeping und der Terrorismusbekämp- fung40 zeigt es als permanentes Sicherheitsratsmitglied deutlich, dass es einer weiteren Kodifizierung der Schutzverantwortung ablehnend gegenübersteht.41 Es ist daher unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft der Gefahr des Missbrauchs der Schutzverantwortung durch die Einführung von Kriterien zur Bestimmung der Rechtmäßigkeit der Anwendung von Gewaltmitteln begegnet werde kann. Die be- stehende Tendenz zur Rückkehr klassischer Großmachtspolitiken macht daher eine gesteigerte Vorsicht bei der Aushöhlung des Monopols des VN Sicherheitsrates zur

36 Bellamy hält die ICISS Kriterien für überflüssig, da sie keine der ihnen zugeschriebenen Funktionen erfüllen könnten, vgl. Alex J Bellamy, The Responsibility to Protect and the problem of military intervention, aaO., S. 625ff. 37 Alex J Bellamy, The Responsibility to Protect and the problem of military intervention, aaO., S. 625f. 38 Ramesh Thakur »A shared responsibility for a more secure world«, in: Global Gover- nance 11:3, 2005, S. 284; ders. »Iraq and the responsibility to protect«, in: Behind the headlines 62:1, 2004, S. 1-16, Sabine von Schorlemmer, Die Schutzverantwortung aaO., Dezember 2007. 39 Alex J Bellamy, The Responsibility to Protect and the problem of military intervention, aaO., S. 626. 40 Bates Gill, Rising Star, aaO. (FN 3), S. 104 ff. 41 Security Council Meeting Record S / pv.5781, 5781st meeting, November 20, 2007. 05_Saxer Seite 455 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

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Legitimierung des Einsatzes von Gewalt notwendig. In diese Richtung zielt bereits das Ergebnis des Weltgipfels, dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen weiterhin die zentrale Stellung bei der Entscheidung über eine Intervention zum Schutz von Zivilbevölkerungen zu belassen.

V. Die Schutzverantwortung und die Entstehung der neuen Weltordnung

Bleibt es bei der zentralen Stellung des VN-Sicherheitsrates, wird eine effektive Reaktion der Vereinten Nationen auf das Auftreten von Massengräueln weiter nur schwer zu erreichen sein. Die Entscheidungsfindung, ob in interne Gewaltkonflikte eingegriffen werden soll, polarisiert noch immer die internationale Gemeinschaft. Entscheidungen kommen daher, wenn überhaupt, nur ad hoc zustande. Die Blocka- de des Sicherheitsrates kann nur durch eine Übereinkunft der großen Mächte er- reicht werde, wie die Weltgemeinschaft mit den systemischen Herausforderungen der Instabilität der Staaten und gewaltsamen internen Konflikten umgehen kann. Die Auseinandersetzung um die Schutzverantwortung wird von Befürwortern und Gegnern mit so großem Nachdruck geführt, weil sich damit grundsätzliche Fragen nach der Ausgestaltung der zukünftigen Weltordnung verbinden. Eine Welt- ordnung, die auf souveränen Staaten basiert, muss eine Antwort auf die systemische Instabilität finden, die aus dem fortschreitenden Zerfall einer wachsenden Zahl von Staaten resultiert. Der Ansatz, diesen Zerfallsprozessen durch Stabilisierung von außen zu begegnen, trifft dabei auf hinhaltenden Widerstand von Staaten, die darin eine Verletzung des Souveränitätsprinzips sehen. Insbesondere die – auch mit »humanitären» Argumen- ten begründete – völkerrechtswidrige Invasion des Irak hat in vielen Ländern des Sü- dens Befürchtungen verstärkt, die humanitär verbrämte Rhetorik diene lediglich zur Rechtfertigung von Gewalt im Interesse der »Starken». Traditionelle Interpretatio- nen von Souveränität im Sinne eines unverletzbaren, übergeordneten Prinzips der Staatenordnung haben Auftrieb42 und erschweren die Entscheidungsfindung auch in Fällen, in denen Tatbestände der Schutzverantwortung gegeben sind. Dennoch wurde das Instrumentarium der globalen und regionalen Institutionen zur Friedenserhaltung und Friedensförderung in den letzten Jahren stark ausgebaut. In den 20 Krisenherden, in denen die Vereinten Nationen 2007 mit Friedensmissio- nen präsent war, sind knapp 110.000 Personen im Einsatz, ein Anstieg um das Sie- benfache seit 1999.43 An diesen Missionen beteiligen sich derzeit 78 Nationen mit Soldaten, 81% dieser Truppen kommt jedoch aus nur 20 Ländern.44 Während das

42 Madeleine Albright, »The End of Intervention«, in: The New York Times, 11 June 2008 (http://www.nytimes.com/2008/06/11/opinion/ 11albright.html?_r=1&scp=1&sq=+Alb- right%20+%22The%20End%20of%20Intervention%22&st=cse&oref=slogin) 43 Department for Peacekeeping Operations, Bericht 2007. 44 Pakistan, Indien und Bangladesh stellen mit Abstand die meisten Soldaten in Friedens- missionen. Quelle in Center on International Cooperation, Review of Global Peace Operations, 2008.

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Personal der Missionen zum Großteil von den Staaten des Südens gestellt wird, kommt der Großteil der Finanzierung und logistischen Unterstützung aus den Staa- ten des Westens45. In Bosnien, Kosovo, Haiti und Timor-Leste lagen zeitweise der Aufbau staatlicher Institutionen und die Bereitstellung öffentlicher Güter komplett in Händen der Vereinten Nationen. Gleichzeitig hat die Bereitschaft zu einem Eingreifen in interne Gewaltkonflikte in den diplomatisch, wirtschaftlich und militärisch potenten Staaten stark nachge- lassen. Die Anschläge des 11. Septembers haben die Aufmerksamkeit in den Län- dern des Westens auf Bedrohungen durch Massenvernichtungswaffen und Terroris- mus gelenkt. Die State Building Missionen insbesondere in Bosnien, Kosovo, Irak und Afghanistan wiederum haben verdeutlicht, dass Erfolge, wenn überhaupt, nur mit langem Atem und dem Einsatz beträchtlicher Ressourcen erreichbar sein wür- den. Zudem werden Stimmen lauter, die an der grundsätzlichen Eignung externer Stabilisierung unter dem Etikett des State Building zweifeln.46 Unter dem Eindruck der Überdehnung der eigenen Möglichkeiten ist die Bereitschaft zumindest auf staatlicher Seite, zugunsten von Menschenrechten in Gewaltkonflikten zu interve- nieren, stark zurückgegangen. Dennoch wird langfristig die Frage zu klären sein, wie die internationale Ge- meinschaft mit Staatszerfall, internen Gewaltkonflikten und Fällen von Massen- gräueln umgehen sollte. Um ideologische Blockaden aufzulösen und die politische Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft im Angesicht von Massen- gräueln wiederherzustellen ist es notwendig, einen möglichst breiten internationa- len Konsens zu dieser Fragestellung zu finden. Nur ein breiter Konsens bei der Mandatierung kann die internationale Legitimierung von Friedensmissionen her- stellen, die für den Erfolg in asymmetrischen Konfliktsituationen – neben der Wahrnehmung der lokalen Bevölkerung – dringend notwendig ist. Entscheidend für einen breiten Konsens zum Umgang mit Massengräueln wird es sein, ob der Westen eine gemeinsame Haltung mit den aufstrebendenden Mächten Brasilien, Indien und Südafrika, vor allem jedoch mit den Vetomächten China und Russland finden kann. Die Verschiebung der globalen Kräfteverhältnisse führt zu einer Stärkung dieser Mächte, die zu einer traditionellen Interpretation staatlicher Souveränität neigen. Das Abrücken Chinas von der Schutzverantwortung weist in diese Richtung. Die Diskussion um die Schutzverantwortung ist also auch ein Teilaspekt der De- batte um die künftige Rollenverteilung unter den Großmächten und die Ausgestal-

45 Die G7-Staaten stellen 68,2% des Peacekeeping Budgets von 6,8 Milliarden Dollar im Jahr 2007/2008, Quelle: Review of Global Peace Operations 2008 und UN DPKO Fact Sheet 2007. Das Bild verändert sich, wenn man die Nicht-UN-Missionen näher betrachtet. Die Missionen auf dem Westbalkan, in Afghanistan und Afrika werden hauptsächlich von den Staaten des Westens gestellt. Die sechs größten Truppensteller sind hier die USA, UK, Deutschland, Italien, Frankreich und Kanada. Aus diesen Zah- len sprechen unterschiedliche strategische Prioritäten des Westens. Quelle: SIPRI in Review of Global Peace Operations 2008. 46 Etwa David Chandler, Empire in Denial. The politics of state building, London, 2006. 05_Saxer Seite 457 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

Marc Saxer · Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts 457

tung der Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Die aufstrebenden Mächte fordern zu Recht eine stärkere Repräsentation in den größtenteils vom Westen gegründeten multilateralen Institutionen. Die derzeitige Krise der multilateralen Institutionen deutet darauf hin, dass der Westen die globalen Probleme nicht mehr alleine lösen kann, eine angemessene Einbindung der neuen Mächte in die Weltordnung aber noch nicht vollzogen ist. Angesichts der Vielzahl globaler Herausforderungen und den eigenen begrenzten Ressourcen wächst im Westen die Bereitschaft, die aufstrebenden Mächte ihrem neuen Status angemessen in die Weltordnung einzubinden. Im Westen, vor allem in den USA, wird jedoch zunehmend gefordert, die aufstrebenden Mächte müssten mit den Rechten einer Großmacht auch die Pflichten als Systemgaranten übernehmen.47 Die aufstrebenden Mächte haben ein Interesse an der Stabilität des internationa- len Systems. Ist die Stabilität der Weltordnung durch den Zerfall einer wachsenden Zahl ihrer Bausteine gefährdet, ist es die Rolle der Systemgaranten, stabilisierend einzuwirken. Auch die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen als zentrale glo- bale Organisation in Fragen von Krieg und Frieden liegt im Interesse aller großen Mächte. Langfristig können diese gemeinsamen Interessen zu einer gemeinsamen Grundlage im Umgang mit Staatszerfall und internen Gewaltkonflikten führen. Insbesondere China hat in jüngster Zeit eine flexiblere und pragmatischere Hal- tung zu Souveränität und Interventionen eingenommen. Entgegen seiner früheren Skepsis gegenüber der VN Friedensförderung hat Peking seine Blauhelmtruppen deutlich aufgestockt und stellt damit mehr Truppen als die übrigen permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates.48 Wie stark die politischen Kosten des Nichthan- delns im Angesicht von Massengräueln steigen können, dürfte China im Fall von Darfur bewusst geworden sein. In der Auseinandersetzung über die Darfur Krise im Sudan und den Aufstand buddhistischer Mönche in Myanmar hat China entge- gen seiner Nichtinterventionsdoktrin Druck auf beide Länder ausgeübt. China be- teiligt sich am Wiederaufbau des Irak und Afghanistans. Peking scheint also bereit zu sein, sein Engagement in der Friedensförderung auszuweiten.49 Es hat allerdings den Anschein, dass eine Qualifikation der Schutzverantwortung über den Text der Art. 138 und 139 nicht im Interesse Pekings liegt. Für diese These spricht das Bemühen Pekings, keine weiteren Referenzen auf die Schutzverantwor- tung in die Resolutionen des Sicherheitsrates aufzunehmen.50 Aus der Duschanbe

47 David C. Gombert etwa fordert: »It is time for China to accept the code of conduct that befits a great power…« in »China’s Responsibility to Protect«, in: Washington Post, 17.6.2008; ähnlich James Holmes »U.S. should carefully weigh costs of forcible inter- vention«, in The Online Athens, 6.7.2008 (http://onlineathens.com/stories/070608/ opinion_20080706030.shtml) 48 Pang Zhongying, »China’s changing attitude to UN peacekeeping«, in International Peacekeeping, Vol.12, No.1, Spring 2005; ders, »Some Approaches to Boosting China’s Pivotal Role in Tackling Global Challenges«, FES Dialogue on Globalization Briefing Paper 6, May 2007; Bates Gill, Rising Star, aaO. (FN 3), S. 117. 49 vgl. Bates Gill, »Rising Star«, aaO. (FN 3), S. 104 ff. 50 vgl. S/RES/1814 (2008) zu Somalia vom 15.Mai 2008.

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Erklärung51 der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) kann man die Weigerung Chinas herauslesen, die russische Rechtfertigung, im Kaukasus zum Schutz der Zivilbevölkerung interveniert zu haben, zu unterstützen.52 Peking unter- streicht damit wohl auch sein Bemühen, den Sicherheitsrat weiterhin als die ent- scheidende Instanz bei Fragen zur Rechtmäßigkeit von Gewaltmitteln zu erhalten.53 Auch mit den übrigen aufstrebenden Mächten scheint der oben beschriebene »grand deal« zum Umgang mit Staatszerfall und Massengräueln kurzfristig nicht er- reichbar.

VI. Schlussfolgerungen für die Schutzverantwortung

Auf mittlere Sicht scheint der wachsende Einfluss der aufstrebenden Mächte in Kombination mit der zunehmenden »Interventionsmüdigkeit« westlicher Staaten die Aussichten der Schutzverantwortung zu verdüstern. Zunehmender Widerstand und erlahmende Unterstützung machen eine qualifizierte Kodifizierung der Schutz- verantwortung im Völkerecht in der nahen Zukunft unwahrscheinlich. Auf mittlere Sicht kann sich die Schutzverantwortung wohl eher als moralische und politische Norm etablieren. Der Wert einer solchen Norm liegt vor allem in der Möglichkeit, politischen Willen zum Handeln zu mobilisieren. Die Schutzverant- wortung als moralische und politische Norm bietet insbesondere der Zivilgesell- schaft die Möglichkeit, die Unterzeichner an ihren eigenen Maßstäben zu messen und so politischen Druck zum Handeln aufzubauen. Dies wird umso wichtiger in der Präventionsphase, in der sich Massengräuel abzeichnen, aber noch nicht stattge- funden haben, und Regierungen oftmals mit dem Einsatz von Ressourcen zögern. Allerdings wird in der Darfur Krise deutlich, dass auch politischem und morali- schem Druck Grenzen gesetzt sind, insbesondere wenn Interessen der Großmächte involviert sind. Kritiker der Schutzverantwortung, insbesondere in China, werden wohl weiter darauf dringen, die militärische Option aus dem Konzept zu streichen. Die Kritiker der Schutzverantwortung schließen sich zwar multilateralen Missionen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Einzelfällen an, die Entstehung einer Norm bzw. die Kodi- fizierung eines qualifizierten Konzeptes lehnen sie aber ab. Die Vereinigten Staaten wiederum führen eine Gruppe von Staaten an, die einer echten Verpflichtung zum Handeln tendenziell ablehnend gegenüberstehen.

51 Schanghai Organisation für Zusammenarbeit, Dushanbe Declaration of Heads of SCO Member States. 52 Eva Weikert / Wolfgang Proissl, »China versagt Russland Rückendeckung«, in: Finan- cial Times Deutschland, 29.08.2008, David L. Stern, »Security Group Refuses to Back Russia’s Actions«, in: New York Times, 28.8.2008 (http://www.nytimes.com/2008/08/ 29/world/europe/ 29russia.html?scp=1&sq=%22Security%20Group%20Refuses%20to%20Back%20Ru ssia%92s%20Actions%22&st=cse) 53 Zur Rolle des Sicherheitsrates, vgl. Bates Gill, »Rising Star«, aaO. (FN 3), S. 135. 05_Saxer Seite 459 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

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Ein möglicher Konsens dürfte aus heutiger Sicht wohl in Richtung des kleinsten gemeinsamen Nenners zwischen diesen Positionen gehen. Eine solche »Schutzver- antwortung ultralight« – also eine Zusammenfassung des völkerrechtlichen status quo ohne eine Übereinkunft über die Voraussetzungen des Einsatz von Gewaltmit- teln in Fällen von Massengräueln – brächte zwar eine verbesserte Ausgangslage für die Entscheidungsfindung des Sicherheitsrates. Die Fähigkeit der internationalen Gemeinschaft, die Zivilgesellschaften betroffener Länder effektiv vor Massengräu- eln zu beschützen würde aber empfindlich beschnitten. Langfristig bietet die Schutzverantwortung eine mögliche Ausgangsbasis für ei- nen Dialog über die Rolle der aufstrebenden Mächte in der Weltordnung der Zu- kunft. Bereits auf dem Weltgipfel 2005 hat das Konzept bewiesen, die Gräben der Debatte um »humanitäre Interventionen« überbrücken zu können. Eine Weiterent- wicklung des Konzeptes muss die Vorbehalte der an Einfluss gewinnenden »Inter- ventionsskeptiker« stärker berücksichtigen. Auch die neuen Mächte müssen jedoch die Frage beantworten, wie sie die Weltordnung im Angesicht von Staatszerfall und internen Gewaltkonflikten stabilisieren wollen und wie die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen und damit ihre Rolle als zentraler Akteur in Fragen von Krieg und Frieden wiederhergestellt werden kann. Auf dem Weg zu einem neuen Rollen- verständnis der aufstrebenden Mächte als Systemgaranten kann die Debatte über die Schutzverantwortung ein erster konsensfähiger Schritt sein. Echte Fortschritte sind jedoch nur von einem »grand deal« zu erwarten, der den aufstrebenden Mächte ein angemessenere Rolle in der Weltordnung gibt, im Gegen- zug aber auch verstärkt in die Verantwortung als Systemgaranten einbezieht. Trotz einer flexibleren Haltung Chinas54 ist eine solche Übereinkunft kurzfristig wohl nicht zu erreichen. Kombiniert mit der »Interventionsmüdigkeit« des Westens und der zunehmenden Wahrnehmung der Risiken humanitärer Rechtfertigungen von Gewaltmaßnahmen erklärt dies das zunehmend schwierige Fahrwasser, in dem sich die Schutzverantwortung befindet.

Zusammenfassung

Die Diskussion um die Schutzverantwortung berührt den Kern der Debatte um die Ausgestaltung der Weltordnung des 21. Jahrhunderts. Die Staatengemeinschaft muss eine Antwort auf den Zerfall ihrer Bausteine, den souveränen Staaten, finden. Eine der zentralen Herausforderungen wird daher sein, interne Gewaltkonflikte zu beenden und das Auftreten von Massengräuel an Zivilbevölkerungen zu verhin- dern. Gerade in diesen Situationen zeigte sich die internationale Gemeinschaft in der Vergangenheit zu oft handlungsunfähig. Der VN-Sicherheitsrat jenseits von In- teressensgegensätzen auch gespalten über die Interpretation des Souveränitätsprin- zips und die Zulässigkeit non-konsensualer Interventionen. Die Diskussionen über »humanitäre Interventionen«, »menschliche Sicherheit« und die »Schutzverantwor-

54 Bates Gill, »Rising Star«, aaO. (FN 3), S. 113, 134.

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460 Marc Saxer · Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts

tung« hatten daher auch das Ziel, das Souveränitätsprinzip neu zu interpretieren um die Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft im Angesicht von Mas- sengräueln wiederherzustellen. Gleichzeitig machten die u. a. mit dem Schutz der Zivilbevölkerungen begründeten, völkerrechtswidrigen Interventionen im Kosovo, im Irak und im Kaukasus die Gefahren der Schaffung eines Rechtfertigungsgrundes für den Einsatz von Gewalt ohne VN-Mandat deutlich. Jenseits der Frage, ob die Einführung verbindlicher Kriterien zur Feststellung der Rechtmäßigkeit gewaltsa- mer Interventionen einen Missbrauch der Schutzverantwortung verhindern könnte, zeichnet sich ab, dass für eine qualifizierte Kodifizierung des Konzeptes keine Mehrheit in der Staatengemeinschaft zu erreichen ist. Die Entscheidung des Welt- gipfels 2005, dem VN-Sicherheitsrat die zentrale Stellung bei der Legitimierung von Gewaltmaßnahmen zu belassen weist daher in die richtige Richtung. Das Problem der Handlungsunfähigkeit der internationalen Gemeinschaft im Umgang mit dem systemischen Problem des Staatszerfalls bleibt somit aber bestehen. Fortschritte können hier nur durch eine Übereinkunft zwischen den großen Mächten erzielt werden. In der gegenwärtigen Veränderung der globalen Kräfteverhältnisse gewin- nen die Vertreter einer traditionellen Auslegung des Souveränitätsprinzips an Ein- fluss. Gleichzeitig haben die etablierten und aufstrebenden Mächte ein gemeinsames Interesse der an einer Funktionsfähigkeit der multilateralen Institutionen und der Stabilität des Staatensystems. In einem »grand deal« könnten die aufstrebenden Mächte eine ihnen angemessene Rolle in der Weltordnung einnehmen, aber auch in die Verantwortung als Systemgaranten einbezogen werden. Trotz einer flexibleren Haltung Chinas ist eine solche Übereinkunft kurzfristig wohl nicht zu erreichen. Kombiniert mit der »Interventionsmüdigkeit« des Westens und der zunehmenden Wahrnehmung der Risiken humanitärer Rechtfertigungen von Gewaltmaßnahmen erklärt dies das zunehmend schwierige Fahrwasser, in dem sich die Schutzverant- wortung befindet.

Summary

The debate over the »Responsibility to Protect« (R2P) is a key element of the dis- cussion over the shape of the emerging world order. The international system needs to find answers to the disintegration of its building blocks: sovereign states. Thus, a key challenge will be to end violent internal conflicts and prevent the occurrence of mass atrocities. In these situations, the international community proved too often to be paralyzed. The discussions over »humanitarian interventions«, »human security« and the »responsibility to protect« aimed amongst other things at restoring the abi- lity of the international community to react to these phenomena. At the same time, the illegal interventions of Kosovo, Iraq and the Caucasus pointed to the dangers of establishing a »humanitarian« justification for the use of armed force without a UN mandate. Beyond the question if binding criteria could prevent the misuse of R2P, there seems to be no majority for a qualified codification of the concept. Therefore, the decision of the World Summit 2005 to leave the UN Security Council at the cen- ter of decision making over the use of force points to the right direction. However, 05_Saxer Seite 461 Freitag, 12. Dezember 2008 9:48 09

Marc Saxer · Die Schutzverantwortung und die Weltordnung des 21. Jahrhunderts 461

this leaves the problem of the inability of the international community to react to mass atrocities unaddressed. As a consequence, progress can only be made by a »grand deal« between great powers. However, in the ongoing global power shift, proponents of a traditional reading of sovereignty are gaining more influence. On the other hand, established and emerging powers alike have an interest in functio- ning multilateral institutions and a stable international system. Thus, a »grand deal« could involve emerging powers deeper in the responsibility to guarantee the stabili- ty of the international order, but also assume a role in the world order more adequa- te to their growing influence. A more flexible Chinese approach notwithstanding, such a deal seems unlikely in the near future. Combined with a certain »intervention fatigue« in the West and growing concerns over the risks of »humanitarian justifica- tions« for the unilateral use of force, this suggests a bumpy road ahead for R2P.

Marc Saxer, The Responsibility to Protect and the emerging world order

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ZfP 55. Jg. 4/2008 06_Nida-Rümelin Seite 462 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

Julian Nida-Rümelin Karl Marx: Ethischer Humanist – Politischer Anti-Humanist? Zum 125. Todestag eines philosophischen Denkers und politischen Programmatikers1

Um Karl Marx ist es merkwürdig still geworden. Die Zeiten sind noch nicht lan- ge vorüber, in denen sich die intellektuelle Landschaft in Marxisten und ihre Gegner teilte. Die Legende weiß bis heute zu berichten, dass es über Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg für den hoffnungsvollen akademischen Nachwuchs etwa an den italienischen, an vielen südamerikanischen, an den Pariser Universitäten tunlich war, im weitesten Sinne als »Marxist« zu gelten. Entsprechend vieles und oft unvereinba- res wurde unter »Marxismus« subsumiert, sobald die Prägekraft von Parteidoktri- nen nachgelassen und auch die ängstlichsten linken Intellektuellen in die geistige Selbstständigkeit entlassen waren. Das Phänomen kommunistischer Parteiloyalität führender französischer und italienischer Intellektueller wäre einer eigenen Unter- suchung wert, ebenso wie die Entwicklung der frühen und späten »Renegaten«, die ihre frisch gewonnene geistige Unabhängigkeit oft in wütender Polemik dokumen- tierten, die nur erneut ein fragwürdiges Licht auf ihre intellektuelle Urteilskraft warf. Als ich politisch aktiv wurde, war die Hochzeit des Neo-Marxismus in Deutschland schon vorüber, aber wer bei der damals noch einflussreichen Jugend- organisation der Sozialdemokratie, den Jungsozialisten, etwas erreichen wollte, soll- te sich als Marxist bekennen und eine gewisse Resistenz gegenüber den Aufweichungstendenzen eines durchaus an Karl Marx orientierten Denkens zeigen, wie es durch die Entwicklung der kritischen Theorie, durch Jürgen Habermas, Erich Fromm, Herbert Marcuse, Ernst Bloch und anderen dokumentiert wurde. Sympathien in diese Richtung wiesen Nachwuchskräfte der SPD als so genannte »Undogmatische« aus, Reformisten, deren programmatische Zuverlässigkeit den eher dogmatisch gesinnten Marxisten zweifelhaft erschien. Diese wiederum teilten sich in die Anhänger der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, die auch von der SED vertreten wurde und solche, die dem sog. real existierenden Sozialis- mus kritisch gegenüber standen, ihm seinen »sozialistischen« Charakter absprachen und eine konsequente Orientierung an den Marx’schen (Spät-) Schriften empfahlen, den sog. Anti-Revisionisten, oder dem Hannoveraner Kreis, aus dem u.a. Gerhard Schröder stammte, der aufgrund eines Bündnisses der Marxistischen Dogmatiker gegen die »Undogmatischen« Bundesvorsitzender der Jungsozialisten wurde. Ich

1 Dieser Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrages zum 125. Todestag von Karl Marx am Ernst-Bloch-Zentrum in Ludwigshafen.

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stand diesem Treiben etwas ratlos gegenüber, da ich mich mit Karl Marx – sowohl seinem Früh-, wie seinen Spätschriften – intensiv beschäftigt hatte, ohne die Faszi- nation nachempfinden zu können, die mehrere Generationen kritischer Intellektu- eller in Europa, jedenfalls westlich des Eisernen Vorhangs, geprägt hatte. Meine politischen Motive waren ethischer, oder wer will kann spezifischer sagen humanis- tischer Natur, aber die Traditionslinie des sog. ethischen Sozialismus, oft Neu-Kan- tianischer Prägung, wie sie den deutschen Katheder-Sozialismus über einige Jahrzehnte geprägt hatte, die für Ferdinand Lasalle, für die britische Fabian Society, für Leonard Nelson, den Revolutionär, aber auch für Eduard Bernstein, den Refor- misten, charakteristisch war, schien unter linken Intellektuellen jede Basis verloren zu haben. Ethische Motive wurden mit bürgerlichem Gutmenschentum assoziiert und einer der Gründe für die Dominanz des Marxismus in diesen Kreisen war die Hoffnung, die humanistischen Impulse durch Sozialwissenschaft und Klassenstand- punkt ersetzen zu können. Diese Hoffnung war es, die die Frühschriften von Marx und diejenigen, die diese diskutierten, so verdächtig machten. Schon in den 80er Jahren lässt die marxistische Orientierung der kritischen Intelligenz in Europa unter den Zeichen der Postmo- derne nach, oder sollte man besser sagen: erodiert die kritische Intelligenz in Euro- pa? Politisch gesehen ist das zweifellos zutreffend, in den Geisteswissenschaften und den anglo-amerikanischen Humanities fand etwas statt, das man besser als Transformation marxistischer Denkfiguren in post-kolonialistische, post-struktura- listische und postmoderne bezeichnen kann. Besonders in den USA, teilweise auch in den skandinavischen Ländern und in Deutschland blüht zudem eine Disziplin auf, die ein rund 150jähriges Siechtum hinter sich hatte, nämlich die politische Ethik, die Diskussion von Kriterien politischer Gerechtigkeit, die mit dem epocha- len Werk von John Rawls 1971 Eine Theorie der Gerechtigkeit beginnt und unter- dessen in zahlreichen Verästelungen bei der ethischen Diskussion empirischer Befunde globaler Ungleichheit, Diskriminierung und Freiheitsbeschränkung ange- kommen ist. Eine starke Strömung bekennt sich dabei zu einem ethischen Realis- mus, wonach es objektive moralische Sachverhalte gibt, deren Existenz weder durch Konsens, noch durch den kulturellen Kontext oder die individuelle Einsicht konsti- tuiert ist. Interessanterweise bekannten sich viele der zeitgenössischen Proponenten des moralischen Realismus früher zu marxistischen Positionen. Dennoch, es mutet merkwürdig an, dass mit dem Untergang der Sowjetunion in den späten 80er Jahren nun auch der Marxismus seine Faszination auf westliche Intellektuelle weithin ein- gebüßt zu haben scheint. Weder der sowjetische, noch der chinesische Kommunis- mus konnten als Modell einer humanen Neugestaltung der politischen und der gesellschaftlichen Ordnung gelten – zu krass kollidierte die Praxis des sog. real exis- tierenden Sozialismus mit den humanistischen Ausgangsimpulsen der marxistischen Bewegung. Dass offensichtlich der Niedergang des sowjetischen Kommunismus und das merkwürdige Amalgam aus kommunistischer Einparteien-Herrschaft und kapitalistischer Ökonomie, wie es China nun mit einigem Erfolg praktiziert, die Faszination, die Karl Marx auf westliche Intellektuelle rund 100 Jahre ausübte, nun

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endgültig gebrochen zu haben scheint, entbehrt also nicht der Ironie. Karl Marx ist heute ein mindestens so »toter Hund« wie Hegel für den späten Marx. Aber wie so mancher »toter Hund«, kann auch dieser zu Leben erwachen – die gegenwärtige Hegel-Renaissance in der internationalen Philosophie, der eine Kant- Renaissance vorhergegangen war, illustriert das eindrücklich. In den 70er Jahren setzte sich in der politischen Philosophie analytischer Provenienz ein Kantianismus durch, der aus der Opposition zum utilitaristischen und Humianischen Denken hervorgegangen war. John Rawls beginnt mit einer Ethik-Konzeption, die eine gro- ße Nähe zum Utilitarismus aufweist, um sich dann in mehreren Schritten immer weiter in Richtung Kantianismus zu entfernen, bis hin zum Programm eines »Kan- tian Constructivism« der Dewey Lectures von 1980. Der Good Reasons Approach von Kurt Bayer und Steven Toulmin bleibt einem Utilitarismus zweiter Ordnung verhaftet, auch wenn er ihn als Handlungsorientierung des Alltags ablehnt, um dann – jedenfalls bei Kurt Bayer – in eine ethische Theorie des Kantischen Typs überzu- gehen. Die politischen und ethischen Theorien von Thomas Nagel, Onora O’Neill, Christine Korsgaard sind weitere Beispiele. Aber wer hätte gedacht, dass aus der Sellars-Schule, deren zumindest subkutaner Kantianismus in der Philosophie ihres spiritus rector immer schon deutlich war, ein neuer Hegelianismus analytischer Pro- venienz hervorgeht, wie er etwa von John McDowell oder Robert Brandom, zuvor aber auch schon von einem Denker ganz anderer Provenienz, nämlich Charles Tay- lor, repräsentiert wird? Ob diese Linie über Hegel hinaus bis zu Karl Marx fortge- führt wird, lässt sich heute schwer abschätzen. Sicher ist aber, dass es in diesem Fall nicht um eine Marx-Renaissance in tradierter dogmatischer Form handeln wird. Meine Vermutung ist, dass wenn Karl Marx als Denker eines Tages wieder zu einer Inspirationsquelle werden sollte, sich dies dann auf den humanistischen Gehalt sei- nes Oeuvres und sicher nicht auf die Geschichts-Metaphysik oder gar seine ökono- mische Theorie beziehen wird. Dieser humanistische Gehalt war Gegenstand einer heftigen, oft polemisch ge- führten Kontroverse schon vor dem Zweiten Weltkrieg, vor allem aber in den 60er und 70er Jahren mit dem Aufkommen des sog. Euro-Kommunismus. Ein humanis- tischer Marxismus distanzierte sich nicht nur vom Stalinistischen Schreckensregime und der gewaltsamen Nivellierungspolitik des Maoismus, sondern auch von den Staatsbürokratien in Mittel- und Osteuropa post-stalinistischen Zuschnitts. Der hu- manistische Marxismus bezog sich auf die Früh-Schriften von Karl Marx, die im Westen neu entdeckt wurden und im Osten lange Zeit auf dem Index standen und dort als Dokumente noch unreifen Marx’schen Denkens galten. Im Folgenden will ich versuchen diesen humanistischen Gehalt des Marx’schen Denkens genauer zu erfassen und in Beziehung zu setzen zu einer weithin anti-hu- manistischen Praxis marxistisch gesinnter Politik. Ich will dabei besonders der Fra- ge nachgehen, ob diese anti-humanistische Praxis eine späte Pervertierung Marx’schen Denkens war oder doch im politischen Programmatiker Karl Marx an- gelegt ist. Ich bin davon überzeugt, dass es nicht so sehr der Gegensatz zwischen Früh- und Spätschriften ist, sondern der Gegensatz von humanistischer Motivation und ethischer Grundlegung einerseits und instrumenteller politischer Strategie an- 06_Nida-Rümelin Seite 465 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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dererseits. Die Verbindung humanistischer Ethik mit anti-humanistischer politi- scher Praxis charakterisiert nicht nur den Marxismus, sondern auch Theorie und Praxis der Französischen Revolution, oder um weiter zurückzugehen das Verhältnis von Renaissance-Humanismus und Utopismus, ja vermutlich auch die politische Beratungspraxis eines Platon in Sizilien. Hier scheint ein immer wiederkehrendes Grundmuster auf, das nach Klärung verlangt. Meine These ist, dass dieses Muster Folge eines falschen, nämlich konsequentialistischen Praxis-Verständnisses ist. Konsequentialistische politische Praxis schlägt immer in Inhumanität um, unabhän- gig davon, welche ethischen Motive sie leiten. Es ist eine spezifische Rationalität, eine Rationalität, die Max Weber als konstitutiv für politische Praxis gehalten hat, die das Umschlagen humaner Motive in inhumane Praxis generiert. Humanistische Motive, ethische Motive generell, lassen sich nur in einer deontologischen, nicht- konsequentialistischen, Praxis bewahren. Im deontologischen Verständnis sind der politischen Praxis Restriktionen auferlegt, die auch dann nicht überschritten wer- den dürfen, wenn dies dem angestrebten Guten dienlich ist. Keine Generation darf um des tatsächlichen oder nur vermeintlichen Wohles zukünftiger Generationen ge- opfert werden. Die Selbstachtung eines Individuums darf auch dann nicht in der po- litischen Praxis beschädigt werden, wenn diese Beschädigung den politischen Zie- len, der Realisierung einer humanen Gesellschaft, förderlich wäre. Das Leben Unschuldiger darf auch dann nicht geopfert werden, wenn damit ein Menetekel für eine humanere Gesellschaft geschaffen, ja nicht einmal dann, wenn damit der Tod anderer Unschuldiger vermieden werden kann. Die absichtliche Tötung eines Un- schuldigen bleibt ein Unrecht. Die konsequentialistische Rationalität, die Platon Frauen- und Kindergemeinschaften fordern ließ, die die Utopisten der frühen Neu- zeit zu Befürwortern einer Erziehungs- und Nivellierungsdiktatur machte und die viele marxistische Programmatiker zu zynischen Machttechnikern werden ließ, führt zu einer Relativierung gerade derjenigen humanistischen Motive, die den ur- sprünglichen Impuls der politischen Praxis gaben, und gerade dies ist für das Oeuv- re von Karl Marx insgesamt in hohem Maße charakteristisch. Die Verteidigung von Karl Marx und des Marxismus als einer Variante humanistischen Denkens etwa durch Herbert Marcuse oder Erich Fromm halbiert das Marx’sche und das marxisti- sche Denken im doppelten Sinne: Es fokussiert auf die Marx’schen Frühschriften und blendet den Scientismus und Ökonomismus des späten Marx weitgehend aus, und es trennt die konsequentialistische politische Programmatik von den humanis- tischen Ausgangsimpulsen, der ethischen Fundierung dieser Programmatik ab. Erst in der konkreten Praxis erweist sich jedoch die Ernsthaftigkeit und Verlässlichkeit der wertenden Stellungnahme. Ethik als bloße Theorie bleibt ein intellektuelles, meist inner-akademisches Spiel. Die normative Stellungnahme bewährt sich an, ja äußert sich in konkreter (politischer) Praxis. Dieses Theorie-Praxis Verhältnis, die- ses Verhältnis von normativer Stellungnahme und individuellem, kollektivem, auch politischem Handeln, von Werten und Institutionen, lässt sich in zwei, scheinbar gegensätzlichen, Weisen beschreiben: In der stoizistischen als prohairesis krisis estin, wonach jede Handlung eine (normative) Stellungnahme, ein Urteil ist, wonach ich also durch die Praxis wertend Stellung nehme oder in der pragmatistischen, wonach

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jeder Praxis Werte und Normen inhärent sind, Werte und Normen außerhalb jeder Praxis ohne Bedeutung sind. Ich halte beide Auffassungen für kompatibel (vgl. mei- ne Überlegungen in Strukturelle Rationalität2). Es ist hier nicht der Ort dies näher zu erläutern, da die weitere Analyse dies nicht erforderlich macht. Die historische Figur Karl Marx und sein Oeuvre waren über Jahrzehnte um- kämpftes Terrain. Seine engste Umgebung bewunderte ihn vorbehaltlos als Denker, aber offenkundig auch in seinen menschlichen Qualitäten. Die persönlichen Erinne- rungen von Paul Lafargue, dem Schwiegersohn Karl Marx’, der Brief der Tochter Eleanor Marx an die »Österreichischen Arbeiter und Arbeiterinnen«, die so glänzend »die Sache, für die Karl Marx lebte und wirkte«, verfechten und viele weitere Doku- mente zeichnen das Bild eines umfassend gebildeten, unerschütterlichen und liebevol- len Menschen, das im deutlichen Kontrast zu Stellungnahmen seiner politischen Geg- ner steht. Es geht um den Erfolg oder Misserfolg der kommunistischen Partei, der Sozialistischen Internationale, und da wird auf beiden Seiten die Wahrheit frisiert. Keinen Zweifel kann es jedoch darüber geben, dass Karl Marx die politische Ausein- andersetzung mit polemischer Schärfe und strategischem Geschick geführt hat, ja dass die inhaltliche Ausrichtung, aber auch die Form des politischen Kampfes der europä- ischen Arbeiterparteien in hohem Maße von Karl Marx geprägt war. Die Konkurrenz zwischen marxistischen und nicht-marxistischen Kräften innerhalb der europäischen Arbeiterbewegung kann über weite Strecken als Konflikt zwischen wissenschaftli- chem und ethischem Sozialismus beschrieben werden. Die scharfe Polemik, die Karl Marx gegen die Repräsentanten des französischen Frühsozialismus und die Links- Hegelianer richtet, erfährt ihre Substantiierung in einem »wissenschaftlichen« Sozia- lismus, der auf die utopischen und idealistischen Motive einer humanistisch gesinnten Kritik verzichten zu können glaubt. Ist dieser »wissenschaftliche« Sozialismus, ge- gründet auf eherne historische und ökonomische Gesetzmäßigkeiten, ein Ideologie- Produkt des sowjetischen Kommunismus, das Karl Marx in keiner Weise gerecht wird? Humanistische Marxisten wie Erich Fromm waren davon überzeugt. »Die Philosophie von Marx ist wie existentialistisches Denken ein Protest gegen die Entfremdung des Menschen, gegen den Verlust seiner selbst und in seine Ver- wandlung in ein Ding. Diesen Protest erhebt sie gegen die Dehumanisierung und Automatisierung des Menschen, die mit der Entwicklung des westlichen Industrialis- mus verbunden ist (…) Sie wurzelt in der humanistischen philosophischen Tradition des Westens, die von Spinoza über die französische und deutsche Aufklärung des 18. Jahrhunderts bis zu Goethe und Hegel reicht und deren innerstes Wesen die Sorge um den Menschen und die Verwirklichung seiner Möglichkeiten ist.« So Erich Fromm im Vorwort zu seiner Abhandlung »Das Menschenbild bei Marx«. In der Tat lassen sich in den Frühschriften für diese humanistische Interpretation zahlreiche Be- lege anführen. Marx schreibt in der Einleitung Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphi- losophie »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Mensch sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse

2 Julian Nida-Rümelin: Strukturelle Rationalität: Ein Philosophischer Essay über prakti- sche Vernunft. Ditzingen 2001. 06_Nida-Rümelin Seite 467 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« An gleicher Stelle heißt es allerdings auch: »Die Waffe der Kritik kann al- lerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt«. Und das berühmte Vorwort Zur Kritik der politi- schen Ökonomie verdeutlicht die geradezu eschatologische Hoffnung auf die end- gültige Befreiung des Menschen aus knechtenden Verhältnissen: »Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, (…) die im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft sich entwi- ckelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorge- schichte der menschlichen Gesellschaft ab.« Die eigentliche Menschheitsgeschichte beginnt, wenn er endgültig befreit ist, Karl Marx erwartet, wie Joachim de Fiore, das Zeitalter der endgültigen Befriedung des Menschen, das Zeitalter des Heiligen Geis- tes ist die klassenlose Gesellschaft einer fernen Zukunft. Der Mensch verwirklicht sich im Laufe seiner Geschichte selbst und da die menschliche Natur jeweils histo- risch imprägniert ist (»die in jeder Epoche historisch modifizierte Menschennatur«, MEW 23, S. 637) und da die Weltgeschichte nichts anderes ist als »die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit« (MEW Erg. I, S. 546), tritt an die Stelle der göttlichen Erschaffung des Menschen, seine Selbsterschaffung durch Arbeit. Damit ist bei Marx zweifellos ein wesentliches Element humanistischen Denkens realisiert, die Idee der Selbstbildung des Menschen, allerdings ist diese bei Marx keine individu- elle, sondern eine kollektive und historische. In den Frühschriften gibt es Passagen, die noch eine individualistische Lesart zulassen, wonach es der Mensch als Individu- um ist, der zum wahren Menschsein finden kann: »Wenn Du Kunst genießen willst, musst Du ein künstlerisch gebildeter Mensch sein; wenn Du Einfluss auf andere Menschen ausüben willst, musst Du ein wirklich anregend und fördernd auf andere Menschen wirkender Mensch sein. Jedes seiner Verhältnisse zum Menschen – und zu der Natur – muss eine bestimmte, dem Gegenstand seines Willens entsprechende Äußerung seines wirklichen individuellen Lebens sein.« (MEW Erg. I, S. 567) Und noch deutlicher: »Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. In diesem natürlichen Gat- tungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhält- nis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigene natürliche Bestimmung ist. (…) Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen.« (MEW Erg. I, S. 535) In hohem Maße unklar bleibt dabei die Marx’sche Anthropologie. In den Ökonomisch- philosophischen Manuskripten von 1844 spricht er »vom Kommunismus als vollen- detem Humanismus, als der wahrhaften Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen und der Natur, die Auflösung des Streits zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Not- wendigkeit, zwischen Individuum und Gattung« (MEW Erg. I, S. 536). Die freie, bewusste Tätigkeit, man kann wohl auch sagen, die frei gewählte Arbeit, das produktive Einwirken des Menschen auf die Natur entspricht dem Wesen des Menschen, dem, was Marx als »Gattungscharakter« bezeichnet. Dieses Wesen ist

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nicht kultur-relativ, es zeigt sich im Laufe des Geschichtsprozesses in der produkti- ven menschlichen Tätigkeit. Marx hofft, wie viele Humanisten vor ihm, auf die Ge- sellschaft, in der der Mensch den ganzen Reichtum seines Wesens realisiert, in der der »all- und tiefsinnige« Mensch Wirklichkeit wird. Dann erst lässt sich die Ent- fremdung aller physischen und geistigen Sinne überwinden, die auf den bloßen »Sinn des Habens« reduziert sind (a.a.O., S. 540). Hier findet sich auch die Kritik von Karl Marx am »rohen Kommunismus« als einer »Herrschaft des sachlichen Ei- gentums so groß ihm gegenüber, dass er alles vernichten will, was nicht fähig ist, als Privateigentum von allen besessen zu werden; er will auf gewaltsame Weise von Ta- lent etc. abstrahieren. (…) Die Bestimmung des Arbeiters wird nicht aufgehoben, sondern auf alle Menschen ausgedehnt (…) Dieser Kommunismus – indem er die Persönlichkeit des Menschen überall negiert – ist eben nur der konsequente Aus- druck des Privateigentums, welches diese Negation ist. Der allgemeine oder als Macht sich konstituierende Neid ist nur die versteckte Form, in welcher die Hab- sucht sich herstellt und nur auf andere Weise sich befriedigt. (…) Der rohe Kommu- nismus ist nur die Vollendung dieses Neides und diese Nivellierung von dem vorge- stellten Minimum aus. (…) Wie wenig diese Aufhebung des Privateigentums eine wirkliche Aneignung ist, beweist eben die abstrakte Negation der ganzen Welt der Bildung und der Zivilisation, die Rückkehr zur unnatürlichen Einfachheit des ar- men, rohen und bedürfnislosen Menschen, der nicht über das Privateigentum hin- aus, sondern noch nicht einmal bei dem selben angelangt ist. Die Gemeinschaft ist nur eine Gemeinschaft der Arbeit und die Gleichheit des Salairs, den das gemein- schaftliche Kapital, die Gemeinschaft was der allgemeine Kapitalist, auszahlt.« Gera- dezu prophetisch scheint Marx die Kritik des »rohen Kommunismus«, wie er in be- sonders krasser Form in Kambodscha, heute noch in Nordkorea und bis vor wenigen Jahrzehnten in China, aber auch in der Stalinistischen Sowjetunion reali- siert wurde, vorweg zu nehmen. Verständlich, dass es untunlich war, in der DDR aus den ökonomisch-philosophischen Manuskripten zu zitieren. Besonders ein- drücklich schlägt sich die humanistische Gesinnung von Karl Marx in seiner zyni- schen Kritik der kapitalistischen Ökonomie nieder: »Trotz ihres weltlichen und wollüstigen Aussehens (ist die Ökonomie) eine wirkliche moralische Wissenschaft, die allermenschlichste Wissenschaft. Die Selbstentsagung, die Entsagung des Lebens und aller menschlichen Bedürfnisse, ist ihr Hauptlehrsatz. Je weniger Du isst, trinkst, Bücher kaufst, in das Theater, auf den Ball, ins Wirtshaus gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, malst, fichst etc., umso mehr sparst Du, umso größer wird Dein Schatz, den weder Motten noch Staub fressen, Dein Kapital. Je weniger Du bist, je weniger Du Dein Leben äußerst, umso mehr hast Du, umso größer ist Dein entäußertes Leben, umso mehr speicherst Du auf von Deinem entfremdeten Wesen.« (a.a.O., S. 549) Darüber kann kein Zweifel bestehen, der ursprüngliche so- zialistische Impuls bei Karl Marx war die volle Entfaltung der individuellen mensch- lichen Persönlichkeit, die Aufhebung aller Gegensätze, nicht nur zwischen den Klassen, sondern auch zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Mensch und Natur. In der protestantischen Interpretation von P. Tillich ist der Marx’sche 06_Nida-Rümelin Seite 469 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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Sozialismus »eine Widerstandsbewegung gegen die Zerstörung der Liebe in der ge- sellschaftlichen Wirklichkeit«3. Erst im Kapital wird die humanistische Orientierung individueller Befreiung ge- genüber der kollektiven und technischen Kontrolle der Natur in den Hintergrund gedrängt. Die Freiheit besteht nun darin, »dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden;« (MEW Bd. 25, S. 828) das Reich der individuellen Freiheit rückt in weite Ferne: »Jenseits des selben beginnt die menschliche Kraftent- wicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber auf je- nem Reich der Notwendigkeit auf seiner Basis aufblühen kann«. Das Fortschreiten des Menschengeschlechtes, seine Erfüllung in einem Reich der Freiheit, verlangt die Opfer im Reich der Notwendigkeit, die Opfer des Klassenkampfes und die Diszi- plinierung in industrieller Arbeit. Der Kampf der Arbeiterklasse dient der Über- windung der kapitalistischen Ordnung und der Vorbereitung der letzten Revoluti- on. Auf diesem Weg ist auf bürgerliche Sentimentalitäten und humanistische Schwärmereien vieler Sozialisten nicht Rücksicht zu nehmen, der Einzelne hat sich der großen Sache unterzuordnen, die von der wissenschaftlichen Erkenntnis der ehernen Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie und der Geschichte geprägt ist. Die hu- manistischen Impulse, das (Mit-) Leiden an Unterdrückung und Ausbeutung wird in die kühle Analyse ökonomischer, historischer und politischer Notwendigkeiten übersetzt. Der Einzelne gestaltet sein Leben im Reich der Notwendigkeit nicht, das heißt bevor das finale Ziel der Menschheitsgeschichte erreicht ist. Er ist Teil einer Klasse, er repräsentiert das Interesse dieser Klasse, seine Weltanschauung, seine mo- ralische Orientierung, seine Hoffnungen und Ängste sind imprägniert vom aktuel- len Stand des Klassenkampfes, der wiederum die Spannung zwischen den vorwärts treibenden Produktivkräften, technologischer Beherrschung der Natur und den überkommenen Produktionsverhältnissen zum Ausdruck bringt. Die Aufgaben sind vorgegeben, nicht gesetzt. Das humanistisch gesinnte Indivi- duum mit seinem Streben nach Selbstbestimmung und (Mit-) Verantwortlichkeit wird zum Überbau-Phänomen kleinbürgerlicher Intellektueller. Der Ausbeutungs- begriff wird zu einer präzisen, ökonomisch definierten Größe, eine Funktion mit den Argumenten Mehrwert und Wert der Arbeitskraft. Die letzte Revolution schafft ein Reich der Notwendigkeit, die rationelle Beherrschung der Natur, die as- soziierten Produzenten und die ökonomische Entwicklung auf der Grundlage dis- ziplinierter Industriearbeit. Das Reich der Freiheit, die Hoffnungen des frühen Marx bleiben bestehen, aber sie rücken in weite Ferne. Die politische Praxis der marxistischen Bewegung ist von humanistischen, ja es- chatologischen Hoffnungen motiviert, ihre konkrete politische Praxis fühlt sich je- doch an die ethischen Bedingungen eines fernen Reiches der Freiheit nicht gebun- den. Sie versteht sich als Agentur historischer Entwicklungen, bestenfalls als

3 Paul Tillich: Protestantische Vision. Stuttgart 1952, S. 6, vgl. auch Der Mensch im Chris- tentum und im Marxismus, Düsseldorf 1953.

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Katalysator zur Vorbereitung der letzten Revolution. Die marxistische Verachtung humanistischer Intellektueller, die Verachtung der utopischen Energien des franzö- sischen Frühsozialismus, der verbreitete Zynismus gegenüber Humanitätsduselei, Demokratiegerede und Moral hat einen Ursprung im Marx’schen Denken selbst, die Überführung humanistischer Hoffnung in strenge (ökonomisch-historische) Wissenschaft, die Übersetzung ethischer Kategorien in ökonomische Relationen, die Objektivierung moralischer Entrüstung als Instrument politischer Polemik, die politische Instrumentalisierung menschlicher Anteilnahme ist in der Ambivalenz des Marx’schen Oeuvres selbst angelegt. Die alte Frage »Ist der Marxismus ein Hu- manismus?« lässt sich folgendermaßen beantworten: Der Marxismus nimmt seinen Ausgangspunkt in einem anthropologischen und ethischen Humanismus, im Lei- den an der Entfremdung menschlicher Existenz unter den Bedingungen des Kapita- lismus, zugleich transformiert die marxistische Programmatik und Praxis die huma- nistischen Impulse in wissenschaftliche Erkenntnis und technische Imperative – diese Transformation erklärt das Ausmaß anti-humanistischer Politik im Marxis- mus. Dieser Gegensatz anthropologischer und ethischer Humanismus einerseits und politischer Anti-Humanismus andererseits ist im Oeuvre von Karl Marx ange- legt und nicht lediglich den Entstellungen und Instrumentalisierungen der Marx’schen Lehre durch seine späten Adepten zu verdanken.

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Richard Albrecht Armenozid – Genozid, Gruppen-, Kollektiv- und Völkermord(en)

Literaturbericht zur vergleichenden Völkermordforschung (Teil I)

»By ›genocide‹ we mean the destruction of a nation or of an ethnic group. This new word, coined by the author to denote an old practice in its modern development, is made from the ancient Greek word genos (race, tribe) and the Latin cide (killing), thus corresponding in its formation to such words as tyrannicide, homocide, infantici- de, etc. Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate des- truction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation. It is intended rather to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. The objectives of such a plan would be disinte- gration of the political and social institutions, of culture, language, national feelings, religion, and the economic existence of national groups, and the destruction of the personal security, liberty, health, dignity, and even the lives of the individuals belon- ging to such groups. Genocide is directed against the national group as an entity, and the actions involved are directed against individuals, not in their individual capacity, but as members of the national group.«1

I. Armenozidale Erinnerungskultur

Der Band mit »Stimmen aus Deutschland«2 ist vor allem, aber nicht nur, als Ge- denkjahrband Beitrag und Textsammlung zur armenozidalen Erinnerungskultur. Er soll an das Destruktionsereignis im Osmanischen Staat während des Ersten Welt- kriegs erinnern, das im armenischen Selbstverständnis »Medz Aghed« (die große Katastrophe) heißt und in der internationalen sozial-) wissenschaftlichen Forschung Genocide oder Armenocide genannt wird. Ich nenne, wie im Buch »Völker- mord(en). Genozidpolitik im 20. Jahrhunderts«3 eingehend begründet, »den Arme- niermord, also die »Ausrottung« oder »Vernichtung« der Armenier im Osmani-

1 Raphael Lemkin, Axis Rule in Occupied Europe, Carnegy Endowment for International Peace Division of International Law 1944, S. 79. 2 Ischchan Tschiftdschjan (Hg.), Zum 90. Gedenkjahr des Völkermordes an den Armeni- ern 1915-2005. Stimmen aus Deutschland. Antworten, Aufsätze, Essays, Reden, armeni- sche Augenzeugenberichte, Leipzig 2005. 3 Aachen 2006.

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schen Staat während des Ersten Weltkriegs, in Anlehnung an ein gebräuchliches analoges Kunstwort Armenozid und bilde das Adjektiv armenozidal entsprechend. Der Herausgeber, Ischchan Tschiftsdchjan (*1974), ein im Libanon geborener ar- menischer Doktorand an der Karl-Marx-Universität Leipzig, hat das Buch zum »Holocaust before the Holocaust« (so der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel 1986) anregend durchkomponiert: Dem Geleitwort des armenischen Katholikos von Kilikien folgt eine editorische Einleitung zum Zusammenhang vom Erinnern und Anerkennen des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Staat wäh- rend des Ersten Weltkriegs, auch als Gerechtigkeitsmoment – wobei hier, wie auch in den meisten Beiträgen, deutlich wird, dass die im Frühjahr 2005 gestartete und schon bald erfolgreiche Initiative von CDU-Bundestagsabgeordneten um Chris- toph Berger und zur Anerkennung des Armenozids durch den Deutschen Bundestag im Juni 2005 auch für viele »Armenierfreunde« überraschend kam. Die drei Hauptrubriken des Bandes sind etwa drei Dutzend »Antworten« auf ein halbes Dutzend gestellter Fragen zum »Armenischen Völkermord«, sechs kurze wissenschaftliche »Aufsätze« und neun »Essays«. Diesen folgen drei weitere Rubri- ken: zwei thematisch bezogene »Reden«, sechs historische »Augenzeugenberichte« und ein dokumentarischer »Anhang« mit Erklärungen und Resolutionen zum wei- ter wissenschaftlich aufzuarbeitenden, moralisch zu erinnernden und (vor allem vom türkischen als Rechtsnachfolger des Osmanischen Staats) politisch anzuerken- nenden Völkermord an den Armeniern, der leider sowohl im editorischen Fragenset als auch in (wenigen) weiteren Beiträgen wie als schlechte Übersetzung des US- amerikanischen »Armenian Genocide«, nämlich fälschlich »Armenischer Völker- mord« anstatt zutreffend »Völkermord an den Armeniern« genannt wird. Ähnlich verwirrt wirkt die im Band abgedruckte Intellektuellen-Resolution des deutschen PEN-Zentrums vom 25. Mai 2005 mit ihrer Aufforderung an »die türkische Öffent- lichkeit« – nicht aber an die Regierung der Türkischen Republik –, »endlich den Völkermord an den Armeniern« als solchen anzuerkennen. Die meisten »Antworten« kommen von sich oft auf Johannes Lepsius (1858- 1926) beziehenden evangelischen Pastoren, dazu einige von prominenten Zeithisto- rikern und (weniger) bekannten Schriftstellern. Deutlich wird unter erinnerungs- kulturellen Aspekten die über Lesergenerationen andauernde Wirksamkeit von Franz Werfels zuerst 1933 veröffentlichtem großen Armemierroman Die vierzig Tage des Musa Dagh, an den in gewisser Weise auch Edgar Hilsenraths bedeutender »historischer Roman aus dem Kaukasus« Das Märchen vom letzten Gedanken an- zuschließen versuchte. Aber auch hier, und später im gesonderten Beitrag von Dr. Adelheid Latchinian, wird ans mutige lebenslange Engagement Armin T. Wegners (1896-1978) und dessen dokumentarische Fotos des »Armeniermords« 1915/16 er- innert. Für die wissenschaftliche Aufarbeitungen des Armenizod wichtig sind vor allem die »Aufsätze« des Bandes. Zu diesen bietet der subjektbezogene Essay von Tessa Hofmann (»Den stimmlos Gemachten eine Stimme geben«) einen respektablen Zu- gang durch den Aufruf zur Unterstützung der Forderung von Armenozidüberle- 07_Literatur-Albrecht Seite 473 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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benden und ihrer Angehörigen »nach Anerkennung des Verbrechens durch den Ge- setzgeber und die Regierung des Landes, das das Verbrechen begangen hat« und das gesellschaftlich »durch die Gemoziderfahrung objektiv belastet ist« – auch wenn dies alles »bis zum heutigen Tag von der türkischen Regierung namens der Täterge- sellschaft geleugnet« wird (so zusammenfassend und zutreffend Wolfgang Benz in seinem Essaytext). Ans »Tabu« – auch »als Basis paranoider Phantasmen« – der Benennung des Ar- menozid als Genozid und entsprechender Verfolgung in der gegenwärtigen Türkei erinnert aus psychoanalytischer Sicht Ester Schulz-Goldstein. Der Hamburger Ju- rist und Rechtsprofessor Otto Luchterhandt, der auch schon im Juni 2003 über den »türkisch-armenischen Konflikt, die Deutschen und Europa« gutachtete4, publi- zierte sein für den Deutschen Bundestag erarbeitetes »Memo« als Aufsatz in Lang- fassung. So zutreffend des Autors fallbezogene juristische Wertung des objektiven und subjektiven Völkerrechtsstaftatbestand – Armenozid als Völkermord – auch ist, so unangemenssen wirkt Luchterhandts totalitärbürokratisches Diktum: »Nur ein Jurist, sei er Richter oder Rechtsgelehrter, vermag die Frage, ob bestimmte Ge- schehnisse, Taten oder Tatsachen als Völkermord zu qualifizieren sind, fachgerecht zu beantworten.« Hier hätte der Rechtswissenschaftler Luchterhandt, der Ralf Dahrendorfs freundliche Kritik an den deutschen »Juristen des Monopols«5 einfach beiseite schiebt, besser seiner »Pflicht des Tages« (Goethe) nachgehen und nachvollziehen sollen, was zwei Aufsätze und zwei Dutzend Seiten weiter Georg Meggle mit Bezug auf eigene Vorüberlegungen zu Kollektividentitäten6 zur Logik der UN-Völker- morddefinition grundlegend entwickelt, unter welche dieser Autor sowohl den Ho- locaust als auch den Armenozid (im Wissen, dass die angemessene Bezeichnung bei- der Kollektivmord wäre) fasst und was sich aus Meggles kritisch-systematischem Zugang zum historischen Völkermord an den Armeniern während des Ersten Welt- kriegs im Osmanischen Staat für Täter und Opfer und ihre und deren Kinder nach mehr als drei Generationen, aber auch mit Blick auf Deutschlands »Sonderrolle« konkret ergibt. Nämlich etwa die historische und aktuelle Wahrheitspflicht, die auch kein Verschweigen einiger »Massaker von Seiten der Armenier an den Türken« duldet, oder die Angst heutiger türkischer Intellektueller, den »Völkermord an den Armeniern furchtlos beim Namen« zu nennen, oder Meggles differenzierte Bewer- tung der leider nicht »expliziten«, sondern nur »impliziten« einstimmigen Anerken- nung des Völkermords an den Armeniern durch den Deutschen Bundestag am 15. Juni 2005 als einen »ungeheuren Fortschritt«. Als ähnlich kundig und engagiert sind die »Anregungen zu einem kritischen Tria- log« des Bielefelder Zeitgeschichtlers Hans-Walter Schmuhls zu bewerten. Diese begründet er mit seiner These der spezifischen Modernität des Völkermords an den

4 http://www.deutsch-armenische-gesellschaft.de/dag/rgenlu1.pdf (abgerufen am 30.6.2008). 5 Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 260-276. 6 http://www.unileipzig.de/~philos/meggle/&publikationen/2005f.pdf (abgerufen am 30.6. 2008)

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Armeniern als Ausdruck des Kernkonflikts »zweier neu entstehender, in Konkur- renz zueinander stehender Nationalismen« von Armeniern und Türken in Reaktion »auf die imperialistische Politik der europäischen Mächte mit der Herausbildung ei- ner nationalen Identität« entsprechend »der europäischen Idee des ethnisch homo- genen Nationalstaates«. Auch in diesem Ideologietransfer liege »die Mitschuld Eu- ropas an der Vernichtung des armenischen Bevölkerungsteils des Osmanischen Reiches«. Darüber hinaus zieht Schmuhl auch Verbindungslinien vom Völkermord an den Armeniern zu den nationalsozialistischen Genoziden an Juden, Slawen, Sinti und Roma. Im Vergleich mit »vormodernen« Gewalt-, Kollektivmord- und Ver- nichtungsaktionen, etwa auch während des Zweiten Weltkriegs in Bosnien durch Tschetniks7, wird Schmuhls Hinweis auch empirisch plausibel, weil bei diesen Mas- sakern von »rohen Kräften«, auch im Vergleich mit dem beim Armenozid planvoll- staatskriminellen Vernichtungshandeln, alle infrastrukturellen Voraussetzungen für Völkermord/Genozid als besonderes (Staats-)Verbrechen fehlten. Gut, dass Hans- Walter Schmuhl es nicht bei dieser Skizze belassen hat, sondern parallel eine am »so- zialen Handeln« Max Webers geschulte, sinnbezogene Genoziddefinition als über Fallstudien hinausgehenden Beitrag zur allgemeinen sozialwissenschaftlichen Völ- kermorddiskussion publiziert hat8. Auf neun Seiten fasst der Wirtschaftshistoriker Hilmar Kaiser seine eigenen For- schungsergebnisse zum Armenozid zusammen (der leider auch von ihm statt »Völ- kermord an den Armeniern« als »Armenischer Völkermord« bezeichnet wird). Der Autor betont zutreffend, dass es angesichts der Phalanx von Leugnern zunächst da- rum ging, diesen »Völkermord zu beweisen« und dass diese Hauptarbeit andere, vor allem wirtschaftliche, »Aspekte des Völkermords« vernachlässigte, z. B. die von ihm selbst inzwischen dokumentierte lebensprotektiv-armenierschützende und teil- weise lebensrettende »Haltung der Deutschen Bank zum Armenischen Völker- mord«. Auch für Kaiser steht die Modernität dieses Völkermords außer Frage, sollte doch »die Revolution der osmanischen Gesellschaft auf Grundlage einer nati- onalistisch-türkischen Ideologie« erfolgen und die historisch »komplexe osmani- sche Gesellschaft [...] einer ›türkischen‹ Platz machen«. Im Ausblick erinnert Kaiser an die Erfordernis und seinen eigenen Forschungsanspruch, »neben der Vertiefung einzelner Aspekte des Völkermords das Verbrechen in größere Kontinuitätslinien« und dabei besonders »in die Kontinuitätslinien der osmanischen Gesellschaft« ein- zuordnen. Als Mitglied der Arbeitsgruppe für Genozidforschung an der Universität Zürich hatte Dominik J. Schaller schon 2001/02 eine vergleichende Perspektive in der Völ- kermordforschung versucht9. Hier schließt sein Beitrag an. Zugleich bemüht sich

7 Tomislav Dulic, Utopias of Nation. Local Mass Killing in Bosnia and Herzegovina, 1941-42, Uppsala 2005 [ = Studia Historica Upsaliensia]. 8 »Der Völkermord an den Armeniern 1915-1917 in vergleichender Perspektive« in: Fikret Adanir/Bernd Bonwetsch (Hg.), Osmanismus, Nationalismus und der Kaukasus. Muslime und Christen, Türken und Armenier im 19. und 20. Jahrhundert,. Wiesbaden 2005 [= Kaukasienstudien/Caucasian Studies 9], S. 271-299. 9 http://www.hist.net/kieser/aghet/Essays/EssaySchaller.html (abgerufen am 30.6.2008). 07_Literatur-Albrecht Seite 475 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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der Autor in seiner knappen Forschungsskizze aber auch, über den wissenschaftli- chen »Vergleich, der sich als bedeutende Methode der Genozidforschung bewährt hat [zum] Feststellen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden« im Mordhandeln hinauszugehen und im Anschluss an ein unveröffentlichtes Buchmanuskript von Raphael Lemkin (1900–1959) »Kontinuitätslinien vom Völkermord an den Armeni- ern und von kolonialen Genoziden – wie beispielsweise demjenigen an den Herero und Nama in der ehemaligen deutschen Kolonie Südwestafrika – zum nationalsozi- alistischen Judenmord aufzuzeigen«. Dabei besteht für Schaller »kein Zweifel dar- an, dass die erfolgreiche Transformation des osmanischen Vielvölkerreichs in einen türkischen Nationalstaat, die der Ermordung und Vertreibung von Armeniern und Griechen vorausgegangen war, die Nationalsozialisten nachhaltig beeindruckt hat- te.« Die Texte von Hofmann, Kaiser, Schulz-Goldstein, Schaller und insbesondere von Schmuhl und Meggle im Gedenksamelband halte ich für ambitionierte Beiträge, die über den anlassstiftenden 90. Jahrestag des formellen Armenozid-Beginns durch Festnahme armenischer Honoratioren in Constantinopel am 24. April 1915 hinaus- gehen und auch im Sinne vergleichender Völkermordforschung(en) zur Genozid- politik des/im 20. Jahrhundert/s anregen – wobei gelegentlich das der heutigen Ent- wicklung auf dem Balkan (und seiner internationalen Gerichtsbarkeit in Den Haag) seit etwa fünfzehn Jahren zur Deutung unterliegende aktuelle Leitkonzept der eth- nisch-demographischen Homogenisierung (»ethnic cleansing«) retrospektivisiert, also auf das erste crimen magnum des vergangenen Jahrhunderts, den Armenozid, umstandslos rückbezogen und insofern verkürzt angewandt wird. Völkermorde/ Genozide lassen sich jedoch nicht im Allgemeinen ethnischer »Säuberungs-« oder »demographischer Homogenisierungsaktionen« auflösen. Liest man die genannten sechs Autoren, Thesen und Forschungsskizzen im Zu- sammenhang mit Publikationen internationaler Völkermordforscher der mittleren Wissenschaftlergeneration, die sich um die Fachzeitschrift Journal of Genocide Re- search (seit 1998), um den komparatistisch angelegten Sammelband des von Hans- Lukas Kieser und Dominik Schaller an der Universität Zürich begründeten For- schungs- und Publikationszusammenhangs zum »Völkermord an den Armeniern und die Shoah«10 und um das Anfang 2005 gegründete »European Network of Ge- nocide Scholars« (ENoGS) gruppieren, und vergleicht sie etwa mit Diskussionsbei- trägen von Mark Lewine11, Martin Shaw12 oder Ronald Bloxham13 – dann wird deutlich, dass es inzwischen relevante, über »Fallstudien« hinausgehende gesicherte

10 Hans-Lukas Kieser, Dominik J. Schaller (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah, Zürich 2002. 11 http://www.learner.org/channel/courses/worldhistory/support/reading_22_2.pdf (abgerufen am 30.6.2008, »Why Is the Twentieth Century the Century of Genocide ?« in: Journal of World History 11 [2000] 2, S. 305-336; deutsch in: Zeitschrift für Weltge- schichte [ZWG], 11 [2004] 2: 9-37). 12 Martin Shaw, War & Genocide. Organized Killing in a Modern Society, Oxford 2003. 13 The Great Game of Genocide. Imperialism, Nationalism, and the Destruction of the Ottoman Armenians, Oxford, 2005.

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(sozial-) wissenschaftliche Erkenntnisse zum Genozid und zur Völkermordpraxis, zu genozidalen Absichten, Handlungen und ihren Folgen gibt, die im Sinne aktiv- vergemeinschafteten Wissens und nicht-ideologischen Gedächtnisses (»una memo- ria histórica, testimonial« [Jorge Semprún]) theoretisch irreversibel und insofern auch praktisch nur gewaltsam als ideeller Zivilisationsbruch rücknehmbar sind.

II. »Vertreibung«: »Umsiedlung« als Symptom

Der Band Völkermord oder Umsiedlung?14 der beiden Hamburger Zeitgeschicht- ler Jörg Berlin und Adrian Klenner ist nach den von mir in Völkermord(en). Geno- zidpolitik im 20. Jahrhundert15 zusammenfassend vorgestellten Büchern zum Armenozid von Vahakn N. Dadrian (1996/19972) zur reichsdeutschen Mitverant- wortung, Taner Akcam (1996/20042) zu den Istanbuler Nachkriegsprozessen 1919 und zu Wolfgang Gusts (2005) Neuherausgabe von Völkermorddokumenten aus dem Auswärtigen Amt 1915/16 die letzterschienene »große« dokumentarische Dar- stellung zum Armenozid. Das Buch enthält nach einer Problemeinführung einen historischen Überblick zum »Schicksal der Armenier im Osmanischen Reich«. Die- ser überzeugt als »Darstellung« ebenso wenig wie der gesamte Band mit seinen ins- gesamt 259 Dokumenten auf gut 300 Seiten. Erstens zeigt die etwa fünfzigseitige Überblicksdarstellung der Autoren, dass weder beim Armenozid im speziellen noch beim Genozid im allgemeinen ein zeitgeschichtliches Gutgemeint ausreicht. Zweitens verdeutlichen die nicht immer aus Primärquellen, Dokumenteneditionen, Erstpublikationen edierten zahlreichen, in sechs historischen Kapiteln gruppierten Dokumente, dass jede noch so gut gemeinte Dokumentenreihung bestenfalls Facet- ten veranschaulichen, aber kein Gesamtbild ergeben kann. Drittens finden sich im Dokumententeil (zu) oft Texte, die (unüberprüft) nicht aus Primärquellen über- nommen wurden, sondern aus Reprints, Nachdrucken und Sonderausgaben. So etwa Dokument 237: Die zuerst in den USA 1921 erschienenen Posthumous Me- moirs of Talaat Pasha werden nicht nach der Primärquelle Current History zitiert, wobei der Zeitschriftenjahrgang unter anderem in der Hamburger ZB Recht unter der Signatur IIA Z 106 durchaus greifbar wäre. Ein weiteres Beispiel bietet Doku- ment 73: Die Verordnung zur »Zwangsumsiedlung« vom 27. Mai 1915 (die im Buch als »Gesetz« erscheint und zuerst 1917 in Constantinopel veröffentlicht und so auch in die Lepsius-Aktenedition von 1919 als Dokument 71 übernommen wurde), wird sowohl in einer gekürzten Version als auch aus einem englischen Buch und dazu noch falsch rückübersetzt präsentiert: Im entscheidenden Artikel 2 der »Notver- ordnung« war nämlich die Rede von »déplacer et installer dans d´autres localités, sé- parément ou conjoinement«. Das aber meint nicht, wie im Buchdokument 73 behauptet, Personen »einzeln oder insgesamt fortschaffen oder an anderen Orten ansiedeln«, sondern sie »in Bewegung zu setzen und einzeln oder gemeinsam an-

14 Jörg Berlin und Adrian Klenner (Hg.) Völkermord oder Umsiedlung ? Die Armenier im Osmanischen Reich – Darstellung und Dokumente, Köln 2006. 15 Aachen 2006, S. 113-116. 07_Literatur-Albrecht Seite 477 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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dernorts unterzubringen«. Desweiteren ist die hier dominierende historiographi- sche Sicht keine historische Perspektive, weil im Grunde auf deutsche Geschichte (mit gelegentlicher Parallelsicht auf türkische) bezogen und damit national angelegt. Auch fehlt jede »Anstrengung des Begriffs« (G.W.F. Hegel), etwa in Form hier be- sonders dringlich erforderlicher Begriffsbestimmung und -differenzierung bei Völ- kermord [und] Genozid einerseits vs. Umsiedlung [und] Deportation andererseits, weshalb die Autoren in ihrem »historischen Überblick« auch meinen feststellen zu können, dass bei aller Objektivität und Dichte so vieler zeitgenössischer »von ein- ander unabhängiger und unvoreingenommener Beobachter und Zeitzeugen [...] das Vorhandensein eines Konzepts für einen Völkermord nicht endgültig« bewiesen wäre. Diese falsche Bewertung entwertet sowohl die hier erneut dokumentierten Berichte vor allem deutscher, österreichischer und US-amerikanischer Augen- und Zeitzeugen als Quellen als auch und insbesondere alle Hinweise des bekannten »Ar- menierfreunds« Lepsius. Dieser erkannte nämlich bereits 1916 als erster Deutscher, dass das, was zeitgenössisch »Ausrottung« hieß, die »Vernichtung der armenischen Nation« und damit »Völkermord, den die Jungtürken auf dem Gewissen haben«, war16. Und auch wenn Lepsius´ politische Rolle nach 1919 als Mitherausgeber der großen AA-Edition die eines »objektiven« Apologeten des wilhelminischen Imperi- alismus gewesen sein mag – als Gerichtssachverständiger sprach Lepsius 1921 öf- fentlich von der Vernichtung des armenischen Volkes.17 Absurd wird es, wenn die Autoren meinen, die am 15. Juni 2005 einstimmig angenommene Resolution des Deutschen Bundestages18 wegen der dort nur indirekt erfolgten Kennzeichnung von »Vertreibungen und Massakern an den Armeniern 1915« als »Völkermord« kritisie- ren zu sollen – sie selbst aber im Buchtitel den noch stärker verharmlosenden und vor allem von militanten Völkermordleugnern benutzten und im Deutschen unge- bräuchlichen Ausdruck »Umsiedlung« verwenden und in ihren eigenen Texten nicht klipp und klar von Völkermord oder Genozid sprechen. Die Formel »Umsiedlung« (türkisch: »tehcir«, auch: »zorunlu göç« oder »sür- gün«) – im britischen Englisch als »resettlement« im Doppelsinn von Um- und Wiederansiedlung, im Französischen als »transfert«, »déplacement de population«, auch »transplantation« benützt, wobei Zwangsumsiedlung »le transfert forcé« meint – erinnert nicht nur an die NS-rassistische Wortschöpfung »Umvolkung« fa- schistischer Ideologen wie Albert Brackmann, Werner Conze und Theodor Schie- der, sondern ist, im Gegensatz etwa zu »Vertreibung«, ein im Deutschen höchstun- gebräuchliches Sprachkonstrukt: Wohl kennen die entsprechenden Bände des »vorbraunen« Meyer-Lexikon19 Siedlung/en und Siedlungsformen ebenso wie das von Wolfgang Pfeifer und Mitarbeiter/innen erarbeitete »Etymologische Wörter- buch« (dtv 3358, 19953) des Berliner Zentralinstituts für Sprachwissenschaft die Tä-

16 »Mein Besuch in Konstantinopel Juli/Aug. 1915« in: Orient. Monatsschrift für die Wie- dergeburt des Ostens, Potsdam, 1 (1919), 1/3, S. 21-33. 17 Tessa Hofmann (Hg.), Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talaat Pascha, Göttingen 1980, S. 56-61. 18 BT-Drucksache 5689. 19 Bibliographisches Institut, 7. Auflage 1929/30.

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tigkeit (be- und an-) »siedeln« im Sinne von sesshaft oder ansässig werden, sich nie- derlassen – nicht aber »umsiedeln« oder »Umsiedlung«; genauer: auf »Umsiedlung« heben bis heute vor allem (nicht nur türkische) Armenozidleugner ab, indem auf die entsprechende »Notverordnung« des Osmanischen Staats (27.5.1915) verwiesen wird: »Die Umsiedlung war [...] die aus Sicherheitsgründen vorgenommene Zwangsansiedlung einer bestimmten Gruppe [...] in bestimmten Gebieten zum Zwecke der Verhinderung schädlicher Aktivitäten«, genauer: die »os- manische Regierung [...] siedelte die in der Nähe der Kampfgebiete lebenden Arme- nier in weiter südlich gelegene osmanische Gebiete und nach Syrien um«20. Es ist dies die ungebrochene Rechtfertigung von sei es »Umsiedlung«, sei es »Zwangsan- siedlung« genannter und 1915 begonnener Ausrottungs-, Vernichtungs- und Völ- kermordpolitik des Osmanischen Staates, die bereits die jungtürkische Tätergruppe 1916/17 zur Rechtfertigung ihrer »Maßnahme« verbreiten ließ. Die entsprechenden Broschüren erschienen in der damaligen Diplomatensprache französisch zuerst (die erste am 1. März 1916) als »Vérité sur le Movement Révolutionnaire arménien et les mesures gouvernementales/Journal de guerre [...]/Notes d´un officier superieur russe [...]«21 und später als »Aspirations et agissement révolutionnaires des Comité Armé- niens avant et après la proclamation de la Constitution Ottomane«22... wer auch im- mer nachhaltig recherchiert kann diese Genozidapologien in öffentlichen Bibliothe- ken leicht auffinden. Und wer sich darüber hinaus noch die Mühe macht, fünf Jahrgänge von Schulthess´ Europäischer Geschichtskalender23 als zeitgenössische Quelle durchzusehen, wird v o r der osmantürkischen Regierungspolemik vom 6. Juni 1915 als Antwort auf die Erklärung der Triple-Ententemächte [vom 24. Mai 1915], nämlich die Regierungsverantwortlichen für diese neuen Verbrechen gegen Menschheit und Zivilisation »in Person verantwortlich zu machen«24, keine Hinweise auf irgendwelche armenischen Verschwörungen oder Aufstandspläne ge- gen das jungtürkische Regime finden. Was Armenozidrechtfertigungen betrifft, so war dies ein ideologisches Operationsfeld ehemaliger prominenter Wissenschaftler und faschistischer Ideologen des »Dritten Reiches« während des Zweiten Welt- kriegs, etwa von Carl Mühlmann, Gotthard Jäschke, Franz Ronneberger. Mühl- mann beispielsweise übernahm die damalige jungtürkische Propaganda als »Tatsa- che, dass ein großer Teil des armenischen Volkes durch die ›Aussiedlung‹ zugrunde gegangen ist« und verwies als »tiefere Ursache des türkischen Armenierhasses« auf die türkistisch-turanistische Ideologie mit ihrem rassistischen Überwertigkeitsan- spruch25.

20 Institut für Außenpolitik (Hg.), Das Armenierproblem in neun Fragen und neun Ant- worten, Ankara 1982, S. 28-29. 21 Constantinople 1916; 2. Aufl. 1919. 22 Istanbul 1917. 23 N.F., 51 (1910) bis 56 (1915). 24 Ebd., 56 (1915), S. 1151. 25 Carl Mühlmann, Das deutsch-türkische Waffenbündnis im Weltkriege, Leipzig 1940, S. 276 f. 07_Literatur-Albrecht Seite 479 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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Zusammenfassend verstricken sich auch die Autoren namentlich im Umsied- lungskomplex wie vor ihnen all jene Historiker und Soziologen26, die jede »Vernich- tungsabsicht« bestreiten, in jene Widersprüche, die Yves Ternon zutreffend so kennzeichnete: »Die Absurdität […] lässt sich mit folgender Formel wiedergeben: Nichts ist ihnen [den Armeniern] geschehen, aber sie haben es verdient.«27 Im kon- kreten Armenozid-»Fall« fallen die Autoren noch hinter unser heutiges lexikalisch geronnenes wissenschaftliches Wissen zurück28: »Der bekannteste schriftliche Genozidbefehl – erhalten als Telegramm – stammt vom türkischen Innenminister Talat Pascha für die Ausrottung der Armenier im Jahre 1915: ›Ihnen wurde bereits mitgeteilt, dass die Regierung durch Befehl der Versammlung (Jemiet) beschlossen hat, die in der Türkei lebenden Armenier restlos auszurotten. Diejenigen, die sich diesem Befehl widersetzen, können nicht mehr für die Regierung im Amt bleiben. Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke […] muss ihrer Existenz ein Ende bereitet werden.‹«

III. »…die Armenierfrage diskutiert …«

Das in Istanbul ansässige Türkei-Büro der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung ver- öffentlichte im März 2006 einen Sammelband zur Diskussion »der Armenierfrage« in der Türkei29. Die Büroleiterin, Dr. Ulrike Dufner, will wohl »die damaligen tragi- schen Geschehnisse« und damit die »Geschichte der Armenier in der Türkei« ange- sprochen haben, »dabei jedoch nicht auf die Ereignisse selbst eingehen«. Ihr Anlie- gen im speziellen ist es, »Stereotypen mit der Realität [zu] konfrontieren«, um zu irritieren und anzuregen. Es ist gut, dass einige Beiträge in diesem Buch über dieses küchenpädagogische Ansinnen und das ihm unterliegende Klippschulbild von »Ste- reotypen des ›Anderen‹« – vermutlich gemeint: ego/alter ego – hinausgehen. Und es ist noch besser, dass das Buch zweisprachig, deutsch und türkisch, erschien. Der Band nimmt den ironischen Hinweis eines fiktiven Theater-Direktors: »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen« (Faust I: 97) beim Wort. Die sechs Auf- sätze sind recht heteronom-sujetbezogene Darstellungen, Berichte und Hinweise. Alexander Iskandarian (Eriwan) trägt den heutigen staatsarmenischen Standpunkt zum Armenozid und Hinweise auf einige neuere armenische Publikationen vor. Über seine Ausstellung zur Anregung türkischer Erinnerungsarbeit unter dem Titel »Mein lieber Bruder« (Sireli Yeghpajrs) von Januar und Oktober 2005 in Instanbul, Oktober/November in München (und nun auch im April 2006 in Köln) berichtet Autor und Organisator Osman Köker30. Diese Beitragsgruppe enthält auch einen

26 Kurt Steinhaus, Soziologie der türkischen Revolution. Zum Problem der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft in soziökonomisch schwach entwickelten Ländern, Frankfurt/ Main 1969. 27 Yves Ternon, Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert, Hamburg1996, S. 152. 28 Gunnar Heinsohn, Lexikon der Völkermorde, Reinbek 1998, S. 351. 29 Ulrike Dufner u.a., Wenn man die Armenierfrage diskutiert ... / Ermeni sorunu tartisi- lirken ..., Istanbul 2006. 30 Siehe auch Osman Köker, Armenier in der Türkei vor 100 Jahren. Mit Postkarten des Sammlers Orlando Carlo Calumeno, Ausstellungskatalog, Istanbul/Köln: 2005/06.

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lokalgeschichtlichen Beitrag. Es geht um die heutige (kurdische) Halbmillio- nen(groß)stadt in Anatolien, Diyarbekir. Talip Atalay, Kirchenhistoriker und Pro- jektleiter »Diyarbekir Vilayeti'nde Mekteplesme« an dortiger Dicle-Universität, stellt die Stadtzeitung der Jahre 1869-1902 als lokalgeschichtliche Quelle auch für damaliges Leben christlicher Armenier vor. Im Sinn des Vorworts schließlich be- richtet einer der Projektleiter einer empirischen Untersuchung über wechselseitige Stereotypen zu »Türkentum« und »Armeniertum« in beiden heutigen Gegenwarts- gesellschaften, Ferhat Kentel von der Istanbuler Bilgi-Universität31. Dabei zeigte sich, dass einmal das wirkliche wechselseitige Wissen über die jeweils andere Gesell- schaft gering ist, dass es zum anderen beiderseits ausgeprägte Negativsteoreotypen gibt, die drittens bei armenischen Befragten hinsichtlich der erwarteten Negativität ihrer Wahrnehmung durch Türken ausgeprägter waren als umgekehrt. Viertens war, wie zu erwarten, der Armenozid als ethnohistorisches Schlüsselereignis der Zeitge- schichte, nach dem ohne »das Ereignis« selbst Völkermord zu nennen speziell ge- fragt wurde, bei Armeniern ausgeprägter als bei Türken. Fünftens plädiert der Au- tor für Abbau der Negativstereotypen auf türkischer Seite im Zusammenhang mit fortschreitender Demokratisierung und Pluralisierung der türkischen Gesellschaft. Der Hauptbeitrag des Bandes umfasst im deutschen Teil etwa 50 Seiten. Der Au- tor, Hrant Dink (1954-2007), war als Herausgeber der bisher einzigen zweisprachi- gen armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos einer der prominentesten Intellek- tuellen in der Türkei. Er wurde im Januar2007 beim Verlassen der Agos- Redaktionsräume in Istanbul auf offener Straße ermordet, wozu Ralph Giordano treffend erklärte: »Hrant Dink musste sterben, weil er das, was den Armeniern im türkisch-osmanischen Reich 1915/16 widerfuhr, beim Namen nannte: Genozid«32. In seinem Buchbeitrag hebt Dink bewusst auf seine Doppelidentität als nichttür- kischer Armenier und türkischer (Staats-) Bürger ab. Auch Dink, der nach dem Mi- litärputsch 1980 mehrfach inhaftiert wurde, war, wie andere, im EU-Bereich Solida- rität erfahrene prominente Autoren, z. B. der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk 2005 und zuletzt Elif Shafak, die am 21. September 2006 von einem Istanbu- ler Bezirksgericht freigesprochen wurde, wegen »Beleidigung des Türkentums« nach § 301 Strafgesetzbuch der Türkischen Republik öffentlich angeklagt, erhielt aber zunächst »nur« eine Bewährungsstrafe in der Türkei und im Mai 2006 in Deutschland für sein nachhaltiges und langdauerndes Engagement für Pressefreiheit in der Türkei den Henri-Nannen-Preis. In seinem Buchbeitrag führt Dink seine vermittelnde Position eines »dritten We- ges« zwischen Anerkennung und Leugnung des Armenozid breit aus. Deutlich wird, dass Dink weniger »links vom Möglichen überhaupt« (Walter Benjamin) steht als vielmehr zwischen allen schon besetzten Stühlen Platz zu nehmen versucht. Bei- de Hauptlager strukturiert der Autor, der »die Armenierfrage« nutzen möchte, um die gegenwärtige türkische Gesellschaft unter dem Primat der weiteren Entwick- lung zivilgesellschaftlicher Strukturen im »westlichen« Sinn zu demokratisieren, zu

31 »Armenian & Turkish Citizens' Mutual Perceptions & Dialogue« http:// www.tesev.org.tr/etkinlik/ermeni_turk_diyalog.php (aufgerufen 2007). 32 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. 01. 2007, S. 39. 07_Literatur-Albrecht Seite 481 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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pluralisieren und zu liberalisieren, in Triaden: Die heute aus etwa acht Millionen Menschen bestehende »armenische Welt« lebt im seit September 1991 unabhängigen kaukasischen Kleinstaat (etwa drei Millionen), in der von Dink »Anatolien in der Welt« genannten armenischen »Diaspora« (gut 5 Millionen) und besteht auch noch aus einer kleinen, in der Türkei lebenden armenischen Minderheit, der Dink selbst angehört. Insbesondere Diaspora-Armenier hätten sich, seit zwei Jahrzehnten zu- nehmend erfolgreich, einerseits für die weltweite »Anerkennung der Wahrheit« des Armenozids eingesetzt; aber andererseits zugleich ein Negativstereotyp gegenüber Türken und dem türkischen Staat ausgebildet. Die türkische Seite bestünde aus dem autoritären Staat (soweit mir bekannt in der »Armenierfrage« heute repräsentiert durch harte Leugner wie den Vorsitzenden der staatlichen Gesellschaft für Türki- sche Geschichte, Yusuf Halacoglu), der Politik (analog verkörpert durch den Vorsit- zenden der Arbeiterpartei der Türkei, Dogu Perincek), und der Zivilgesellschaft (analog vertreten durch Rechtsanwalt Kemal Kerincsik, der die Autorin Elif Shafak wegen »Verunglimpfung des Türkentums« anzeigte). Dabei, so Dinks Leitthese zur paradoxen Lage und abgesehen von seinen Hinweisen zum schwierigen Verhältnis der Staaten Türkei und Armenien, blockierten sich die Hauptantipoden (»Diaspo- ra« und der türkische Staat) wechselseitig. Diese doppelte Blockade sei unterhalb der Völkermord-Ja-Nein-Ebene aufzulösen, wozu der Autor als »ein Armenier aus der Türkei« beitragen will – und dadurch antidemokratischen Armenozid-Leug- nern als »Armenierknecht« gilt. Dinks engagiertes Plädoyer argumentiert mit deut- lichem Blick auf die türkische Gegenwartsgesellschaft und die von ihr zivilgesell- schaftlich zu entwickelnde Toleranz, Pluralität und Demokratisierung. Diese Sicht hat freilich Folgen: Erstens wird der Blick verengt, was besonders deutlich am Ver- hältnis des Autors zu Geschichte und Geschichtsschreibung wird. So sehr Dink zum einen und zutreffend positiv bewertet, dass die zunächst staatlich untersagte Konferenz »Die Armenier in der Phase des Niedergangs des Imperiums« schließlich doch im September 2005 an der Istanbuler Bilgi-Privatuniversität stattfinden konn- te33 – so zeigt sein Rückbezug auf eine emotional aufgeladene, auch noch die gegen- wärtige türkische Mehrheitsgesellschaft auszeichnende Geschichtsschreibung wie sehr auch dieser progressive Intellektuelle (in) der gegenwärtigen Türkei immer noch ins kemalistisch-totalitäre Denken verstrickt ist. Es war Mustafa Kemal, der spätere Atatürk, der zur Gründung der Gesellschaft für Türkischen Geschichte 1931 schrieb: »Geschichte schreiben ist genauso wichtig wie Geschichte machen«34. Diese Atatürk-Formel mit einer Fundstelle [1939] findet sich auf einer Netzseite der türkischen Regierung35: »Tarih yazmak, tarih yapmak kadar mühimdir. Yazan, ya-

33 Zur Erinnerung: 1982 durften armenische Wissenschaftler zu einer Genozidkonferenz in Israel nicht einreisen, nachdem die damalige türkische Militärregierung Druck ausge- übt hatte. Vgl. dazu Israel W. Charny (Hg.), Toward the Understanding & Prevention of Genocide, Boulder (Colorado) 1984. 34 »Tarih yazmak, tarih yapmak kadar önemlidir.« 35 http://www.kultur.gov.tr/TR/Yonlen- dir.aspx?F6E10F8892433CFF8FE9074FF19B0005907A48226BB53664, (abgerufen am 30.6.2008).

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pana sadi k kalmazsa, deg is meyen hakikat, insanli g i s as i rtacak bir mahiyet alir«, deutsch etwa: »Geschichte schreiben ist genauso wichtig wie Geschichte machen. Der Geschichtsschreiber muss aber treu und loyal sein, ohne diese Eigenschaften wird die Geschichte für den Menschen immer zweifelhaft bleiben.« Zweitens trägt Dink auch in sich Widersprüchliches vor: etwa wenn er einerseits »die weltweiten Bestrebungen der ArmenierInnen« zur Armenozidanerkennung als den innertürki- schen Demokratisierungsprozess fördernd, andererseits eher als Beitrag »zur Zu- nahme bestehender Spannungen« wertet. Drittens behandelt der Autor manches zu oberflächlich: Wenn z. B. das türkische Verfassungsgericht das Verbreitungsverbot eines Genozid-Buchs von Vahakn N. Dadrian mit der zynischen Begründung auf- hob, »es gäbe nicht mehr viele ArmenierInnen im Land, die man durch das Buch aufhetzen könnte«, kann nicht nur resultathaft das Urteil interessieren, sondern müsste auch die »Begründung« kritisch kommentiert werden. Viertens wirkt Dinks Plädoyer für »den Willen«, der seiner Meinung nach ausreichte, aber beiden Seiten fehlte, historisch naiv und politisch hilflos. Fünftens, und insofern erscheint ange- messen, dass der Autor sich nicht mit der Bedeutung des Armenozids selbst be- schäftigt, ist Dinks Vorstellung vom »Völkermord an den ArmenierInnen«, welcher »in den letzten dreißig Jahren eine universale Dimension gewann«, verkürzt und haltlos, weil jeder Völkermord/Genozid als solcher und an sich (sui generis et per se) immer schon genau diese »universale Dimension« per definitionem hat. Dem Dinkessay folgt ein Lagebericht zur »Armenierdiskussion in der Türkei 2005« von Stefan Hibbeler (*1963), dem Herausgeber des wöchentlich erscheinen- den deutschsprachigen Internetmagazins Istanbul Post36. Auf 15 Seiten betont Hib- beler, auch im Rückbezug auf Dink, die Bedeutsamkeit der Armenozidanerkennung als »Auseinandersetzung über die Fortsetzung der politischen Liberalisierung in der Türkei« und konzentriert sich dabei vor allem auf Ereignis und Bewertung (als Völ- kermord), sodann auf den Stil der öffentlichen Auseinandersetzungen und schließ- lich auch auf allgemeinere Aspekte türkischer Vertreibungspolitik »großer nicht- muslimischer Minderheiten« aus Anatolien. Hibbelers Beitrag enthält den Wortlaut der Erklärung der türkischen nationalen Versammlung (»Türkiye Büyük Millet Me- clisi«) vom 13. April 2005, welche von »armenischen Vorwürfen« sprach und leider verdeutlichte, dass bisher noch alle (auch hier zusammenfassend dokumentierten) zivilgesellschaftlichen Hinweise und Anregungen von Staat und Politik der Türki- schen Republik gleichermaßen ignoriert wurden.

IV. »Staatliche Gewaltverbrechen« und Völkermord(verhinderung)

Drei in den letzten Jahren erschienene Sammelbände beschäftigen sich mit Völ- kermord aus historischer Sicht und gehen damit, auch zur Perspektiverweiterung, über die hier bisher diskutierten Bücher zur Genozidpolitik hinaus. Dabei sind je- weils nicht alle, sondern nur einige akzentuierte Texte auch aus komparatistischer, also völkermordvergleichender Sicht von Interesse.

36 http://www.istanbulpost.net/Istanbul%20Post/about.htm. 07_Literatur-Albrecht Seite 483 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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Der erste Sammelband des StudienVerlags ist im besten Sinn ein didaktisch ange- legter »reader«, der Völkermorde im vergangenen Jahrhundert als Staatsverbrechen, genauer als staatliche Gewaltverbrechen, auffasst37. Entgegen dem Reihentitel geht es weniger um »Kontroversen« als vielmehr um (Leit-)»Konzepte zur Definitions- macht, Wahrnehmung (Perzeption) und Prävention genozidaler Handlungen«. Der Band ist klar strukturiert und logisch aufgebaut: Vorwort und Einleitung der Edito- ren folgen als Hauptabschnitte »Theoretische Überlegungen und Definitionspro- bleme« und zum »Umgang mit Völkermord und staatlichen Gewaltverbrechen: Beispiele aus der internationalen Praxis« mit jeweils fünf Beiträgen. Der dritte Ab- schnitt »Materialien« ist in sich zweiteilig mit vier Texten zur Erinnerungsarbeit (u. a. aus Chile und dem ehemaligen Jugoslawien) und Hinweisen zu Literatur, In- ternetlinks sowie einem nützlichen Glossar. Der Sammelband enthält vier Leitbeiträge von international bekannten Völker- mordforschern: Yves Ternon, dessen Buch zum Armenozid als »Völkermord im 20. Jahrhundert« auch deutsch erschien38, erinnert an Völkermordprävention als (aus- schließliche) Aufgabe der »internationalen Gemeinschaft« und an wissenschaftliche Versuche, über politiksoziologisch erkennbare empirische Entwicklungsstadien Karrierepfade von Völkermordgesellschaften zu erkennen, bevor jene Phasen und »Points of no return« erreicht sind, in denen Völkermordverhinderung kaum noch möglich ist. Einen neueren Versuch, über eine gezielte »internationale Kampagne zur Beendigung von Genoziden« wirksam zu werden, präsentiert in Form eines er- weiterten achtstufigen Ablaufsmodells der US-amerikanische Politikberater Grego- ry Stanton39. Der deutsch-armenische Völkermordforscher Mihran Dabag entwi- ckelt seine sozialpsychologische Sicht als »Perspektive strukturvergleichender Genozidforschung« und identifiziert dabei genozidale »Risikofaktoren« wie ein in- tergenerativ wirksames »Feindbild« im Zusammenhang mit einer (typischerweise rassistischen) Vernichtungsideologie zur »Mobilisierung großer Bevölkerungsgrup- pen«. Daran anschließend verweist Eric D. Weitz politikhistorisch im Anschluss an Hannah Arendt auf die massengesellschaftlichen Aspekte aller ›modernen‹ Genozi- de als »gesellschaftliche Projekte« unter Einbezug der »gesamten Bevölkerung«. Die in den 1990 Jahren geschaffenen Haager Internationalen Gerichtstribunale wer- tet Weitz als Momente auf dem Weg zu einer »neuen internationalen Rechtsord- nung«, um »Genozide Teil unserer Geschichte werden zu lassen, nicht unserer Ge- genwart«. Eine historisch-komparatistische Sicht bringt, im nächsten Abschnitt, auch Falk Pingel (zum »Thema Völkermord als Gegenstand von Unterricht und Schulbuch«) ein, wenn er betont, »dass der Völkermord nicht mit Hitler begann

37 Verena Radkau; Eduard Fuchs; Thomas Lutz (Hg.), Genozide und staatliche Gewalt- verbrechen im 20. Jahrhundert, Wien 2004 [= Konzepte und Kontroversen. Materialien für Unterricht und Wissenschaft in Geschichte – Geographie – Politische Bildung 3]. 38 Yves Ternon, Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert, Hamburg 1966. 39 Sein erstmals 1996 veröffentlichtes Ablaufmodell der »Seven Stages of Genocide“ ist nachzulesen unter http://www.genocidewatch.org/7stages.htm (abgerufen am 30.6.2008).

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und leider auch nicht mit ihm endet«. Dabei wünscht sich Pingel auch für den Schulunterricht, dass zwischen »Völkermord« und anderen »politisch motivierten Massenverbrechen« unterschieden wird, problematisiert die gerade in Schulbüchern anzutreffende Suggestiv-»Sprache der Bilder« und (an)erkennt auch hier Entwick- lungsprozesse, wenn inzwischen auch (etwa am Beispiel Deutsch-Südwestafrikas) der »koloniale Genozid als Vorläufer des Holocaust« angesprochen oder »die De- portationen der Armenier erwähnt« werde. Auf den praktischen Gebrauchswert des Bandes zielt der dritte, von Eduard Fuchs bearbeitete Abschnitt mit seinen Lite- raturempfehlungen, Internetlinks und einem nützlichen kleinen Glossar von A-Z.

V. Minderheitenpolitik, ethnische Homogenisierung und Vertreibung in Europa

Der zweite Sammelband des StudienVerlags ist historisch ausgreifend auf Europa vom 16.–20. Jahrhundert ausgelegt40 und soll, so die Editoren in ihrer Einführung, »eine Mischung aus Überblicks-, Vergleichs- und Fallstudien mit unterschiedlichen räumlichen Schwerpunkten, Typen, Rechtsformen sowie Ursachen und Motivbün- deln von Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung« bieten. Für den genozidalen Zusammenhang sind dabei drei Texte anregend: der Überblick von Hans-Heinrich Nolte zum differenten Umgang »zwischen Duldung und Vertreibung« mit eth- nisch-religiösen Minoritäten seit dem 16. Jahrhundert, Hanns Haas’ Übersicht zu Methoden staatlicher ethnischer Homogenisierungspolitik im 20. Jahrhundert und Fikret Adanirs Fallstudie zur osmanisch-türkischen Bevölkerungspolitik zwischen »Berliner Kongress« (1878) und der Gründung der Türkischen Republik (29.10.1923). Noltes Beitrag einvernimmt Christentum, Judentum und Islam als die drei religi- ösen Hauptströmungen in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg und erinnert dar- an, dass die zentraleuropäischen Staaten und Territorien Spanien, Frankreich und Deutschland auch »durch die Exklusion von religiösen Minderheiten« gebildet wurden, während sich das insulare Großbritannien durch den Ausschluss »der Kel- ten der Randgebiete – der Walliser, Iren und Schotten«, konstituierte. Im Osmani- schen Staat hingegen gab es diese Exklusion jahrhundertelang nicht: Muslimische Herrscher duldeten traditionell auch Angehörige anderer Religionen »wie Juden, Armenier und Orthodoxe, die Alltagskultur war durch Vielfalt auch der Religionen geprägt«. Es war die ›westliche Modernisierung‹ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die das herkömmliche millet-System mit seiner begrenzten Sozial- integration erschütterte: »Die Reformen des 19. Jahrhunderts, in denen Prinzipien gleichen Rechts für alle Staatsbürger versprochen wurden [...], führten paradoxer- weise nicht zu einem toleranteren Staat, sondern über die nationalistische Revoluti- on, in welcher der Islam zu einem eher säkular konnotierten Bekenntnis zum Tür- kentum verwandelt wurde, zu schärferen Verfolgungen von Nichtmuslimen und

40 Sylvia Hahn, Andrea Komlosy, Ilse Reiter, Ausweisung – Abschiebung – Vertreibung in Europa 16. – 20. Jahrhundert, Innsbruck-Wien-Bozen: 2006 268 p. [= Querschnitte: Einführungstexte zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 20]. 07_Literatur-Albrecht Seite 485 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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schließlich zu Genoziden.« – Im Ausblick skizziert der Autor stichwortartig eine komplexe Typologie der Vertreibung und Vernichtung von Minderheiten in Europa während der letzten dreiundhalb Jahrhunderte. Diese dürfte die künftige kompara- tistisch-historische Forschung ebenso wie politiksoziologische Deutungen anregen. Verschiedene Aspekte dieses Beitrags werden in zwei weiterführenden und mate- rialreichen Aufsätzen aufgenommen und weitergeführt: Hanns Haas entfaltet ein Tableau von »ethnischer Homogenisierung unter Zwang« während und nach dem Ersten Weltkrieg, das den Bogen von freiwilliger »Assimilation« über »Zwangsassi- milation« und »geregelte Zwangsemigration« bis zum Genozid als »physischer Ver- nichtung einer Volksgruppe« (so Haas´ Umschreibung des Armenozids) spannt. Der von Haas angeregte intellektuelle Diskurs, der weder die welthistorische Be- deutung des Armenozids noch die »Deportationen im Stalinismus« und die Maß- nahmen gegen Deutsche in Tschechien und Jugoslawien verschweigt und insofern aufklärend wirkt, versteht alle ethnischen Homogenisierungsversuche als demogra- phische »Experimente im 20. Jahrhundert«, denen ein allgemeines Muster unter- liegt: »Vertreibung beginnt mit der Zerstörung der Lebensgrundlagen; sie entzieht den Betroffenen alle staatsbürgerlichen Rechte und den Schutz des Staates; sie elimi- niert die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einrichtungen der verfemten Gruppe. Alle Amtsträger werden entfernt, die politischen Organisationen verboten, die Schulen geschlossen, die Religionsgemeinschaften aufgelöst. Es folgen die Ent- eignung der Wirtschaftsbetriebe, Zwangsarbeit und Lagerverbringung.« Der dritte kontextual relevante Beitrag dieses Sammelbands ist als Fallstudie zur spätosmanisch-jungtürkischen Bevölkerungspolitik angelegt. Fikret Adanirs Text ist politiktheoretisch wichtig – auch wenn es der Autor leider unterlässt, diesen Zu- sammenhang einzuholen, der sich etwa bei Hannah Arendt unter dem Stichwort »staatlich organisierter Verwaltungsmassenmord« findet und auf Montesquieus (später vom deutschen Salonmarxisten Karl August Wittvogel im Zusammenhang mit Besonderheiten der ›asiatischen Produktionsweise‹ popularisiertes) Leitkonzept der ›Orientalischen Despotie‹ zurückgeht. Zutreffend beschreibt der Autor die Po- litik der »ethnischen Homogenisierung« einschließlich der »Turkifizierung der Ökonomie« als »Idee einer ethnisch-homogenen Bevölkerung neuzeitlich-europäi- schen Ursprungs«. Der Berliner Friedensvertrag (1878), dessen Artikel 61 ›armeni- sche Reformen‹ vorsah, internationalisierte die »armenische Frage«. Im Ersten Weltkrieg beschloss die jungtürkische Führung des Osmanischen Reiches die Um- siedlung »praktisch aller armenischer Gemeinden« aus Anatolien, »ausgenommen Izmir [damals Smyrna], Istanbul [damals Konstantinopel] und Aleppo« – als »De- portation«, so Adanir, »ein schweres Verbrechen, wofür im heutigen Diskurs die Bezeichnung ›Völkermord‹ verwendet wird«. Nicht unerwähnt bleibt auch die »Katastrophe des Spätsommers 1922«, der »Smyrna Holocaust« nach Einnahme der ägäischen Handelsmetropole im September 1922 durch kemalistische Truppen als Voraussetzung der dann im Lausanner Vertrag vollzogenen Revisionspolitik als po- litische Letztvorgabe zur Gründung der ›neuen Türkei‹. – Als Historiker deutet Adanir »Bevölkerungsverschiebungen und Siedlungspolitik in Südosteuropa« 1878- 1923 als Ausdruck türkischer Politik der »ethnisch-kulturellen Homogenisierung«

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und verallgemeinert seine Fallstudienbefunde so: »Im Falle der Türkei erwies sich der Übergang vom Osmanischen Vielvölkerreich zum Nationalstaat als ein beson- ders langwieriger Prozess. Die Diskriminierung von Nichtmuslimen und nicht-tür- kischen muslimischen Ethnien setzte sich auch nach der Gründung der Republik im Jahre 1923 fort.«

VI. Menschenrechte und Menschenbilder

Die Texte im letzten hier vorzustellenden Sammelband41 beleuchten zahlreiche weitere Facetten von Völkermord und Genozidpolitik, auch im antigenozidalen Sinn von Völkermordverhinderung. Statt hier die – gewiss ebenfalls lesenswerten – alt-, media- und neuzeitlich-historischen Beiträge zu Menschenrechten und Juden- bildern oder die Falldarstellungen einzelner Episoden und Personen der deutschen Zwischenkriegszeit zum außereuropäischen Rassismus oder den anregenden Essay zur menschenbildbezogenen »Körpergeschichte« [body history] von Maren Lorenz zu diskutieren, will ich mich dabei abschließend auf den allgemeinen Einleitungs- beitrag des Herausgebers und auf zwei weitere politikgeschichtliche Texte zum Menschenbild in Deutschland seit 1890 konzentrieren. Burkhart Schmidts Text entwirft »Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart«, ohne die Kategorie »Menschenrechte« durch Hyposta- sierung zur universalgeschichtlichen Leitkategorie überzustrapazieren und damit zugleich zu entwerten. Zentral und bis in unsere Zeit wirksam sind die Unabhän- gigkeitserklärung der dreizehn Staaten vom englischen Mutterland 1776 (»Declara- tion of Independence«) und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/1793 (»Declaration des droits de l´homme et du citoyen«) mit den Hinweisen, dass alle Menschen (von Gott) gleich (geschaffen) und mit gewissen unveräußerli- chen Rechten, darunter dem, das je eigne Glück zu suchen (»pursuit of happiness«), ausgestattet wurden. Zu Recht verweist Schmidt, der in seiner tour d´horizon auch an Ciceros dignitas als altrömische Vorstellung menschlicher Würde erinnert, auf unterschiedliche Vorstellungen: In der neuen Welt ging es schon besitzbezogen um »propriety, liberty, and freedom« (Richard Overton), während in der alten entspre- chend »liberté, égalité, fraternité« für brüderliche Gleichheit gekämpft wurde. Das Ende 1848 von der deutschen Paulskirchenversammlung verabschiedete »Gesetz über die Grundrechte des Deutschen Volkes« war »im wesentlichen auf die Abwehr staatlicher Willkür ausgerichtet« (1851 durch Bundestagsbeschluss wieder aufgeho- ben). Und zutreffend verweist Schmidt unter Verweis auf die Europäische Men- schenrechtskonvention und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte darauf, dass »Rechte haben« und »Recht erhalten« auch heute noch nicht dasselbe sind. – Im Abschnitt »Menschenbilder« erinnert der Herausgeber nicht nur an all- gemeine Seiten unserer conditio humana wie etwa Liebe (des Selbst und des Ande- ren), sondern auch an Selbst- und Fremdbilder, Auto- und Heterostereotypen,

41 Burghart Schmidt (Hg.), Menschenrechte und Menschenbilder von der Antike bis zur Gegenwart, Hamburg 2006 [= Geistes- und Kulturwissenschaftliche Studien 1]. 07_Literatur-Albrecht Seite 487 Freitag, 12. Dezember 2008 9:50 09

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schließlich Vorurteile zur Abgrenzung vom jeweils (vermeintlich) Anderen. Schließlich bekennt sich Schmidt als Zeithistoriker nicht nur zur Verantwortung als Zeitgenosse, sondern auch zu einem autoreflexiven »sozial- und kulturwissen- schaftlichen Gedächtnis, dessen Elemente, Bilder und Begriffe immer wieder einer selbstkritischen Analyse unterzogen werden müssen, um die erforderliche Distanz zum wahren. Dies gilt auch für Fragen nach ›Menschenbildern‹ und ›Menschen- rechten‹«. Vierzig Jahre nach der ersten kritischen Gesamtschau von Edgar Hartwig, der später, 1968 und 1983, auch zwei Lexikonbeiträge zum 1891 als »Allgemeiner Deut- scher Verband« gegründeten Alldeutschen Verband (ADV) folgten, fasst Rainer Hering seine Hamburger Dissertation (2003) zum ADV 1890–1939 unter dem As- pekt »Menschenbild des extremen Nationalismus in Deutschland« 1890–1933 zu- sammen. Deutlich wird die vom ADV offensiv vertretene extrem-nationalistische und völkisch-antisemitische Propaganda einschließlich ihrer rassistischen Grundie- rung. Der ADV vertrat »zahlreiche Ideen, die später von Adolf Hitler (1889–1945) und der NSDAP aufgegriffen wurden«. Nach der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches Ende 1918 blieb der ADV im Quellsumpf militanter deutsch- völkischer Organisationen auch in der Weimarer Republik aktiv. Zusammen mit ra- biater Judenfeindschaft propagierte er als »wesentlichen Programmpunkt« die »Er- richtung einer völkischen Diktatur« und »stellte eine wesentliche organisatorische und ideologische Konstante der ›Völkischen Bewegung‹ in Deutschland vom Kai- serreich zum ›Dritten Reich‹ dar.« Bernd Jürgen Wendts Beitrag zum »Menschenbild des Nationalismus, seinen Wurzeln und Konsequenzen« unter dem Titel »Moderner Machbarkeitswahn« schließt hier bruchlos an. Ausgangpunkt des Autors, der vor zwanzig Jahren ein Standardwerk zur deutschen Außenpolitik veröffentlichte42, ist die genozidpolitisch relevante Operationalisierung von abstrakt-allgemeiner »Menschenwürde« auf das humane »Lebensrecht jedes Individuums«. Im ersten Aufsatzteil diskutiert Wendt den »Siegeszug« der gerade im deutschsprachigen Raum ausgeprägten »Radikalisie- rung durch den rassenhygienischen Diskurs« als eine historisch besonders Form all- gemeiner »Pathologie der Moderne« (Dirk Blasius). Dafür war Hitlers Menschen- bild, »das von der hierarchisch abgestuften Wertigkeit nicht nur der Rassen, sondern auch der Individuen ausging, damit den europäischen Menschenwerten von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit eine strikte Absage erteilte«, ebenso fol- gerichtiger Ausdruck wie die Anmaßung, »unter Berufung auf ein Naturgesetz Bes- sere und Stärkere von Schlechteren und Schwächeren zu scheiden, erstere zu för- dern, letztere zu unterdrücken«. Eine Grundvoraussetzung des keineswegs linearen und »unauflöslich in den Gang der Kriegsereignisse verwobenen Wegs nach Aus- chwitz ab 1941« war jedoch das »rassenhygienische Menschenbild, das mit der Machteroberung durch die Nationalsozialisten 1933 in den Rang einer Staatsdokt- rin erhoben und zum treibenden Motor der Rassenpolitik wurde«.

42 Bernd Jürgen Wendt, Grossdeutschland. Aussenpolitik und Kriegsvorbereitungen des Hitler-Regimes, München 1987.

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Mit Stationen auf dem »Weg nach Auschwitz« beschäftigt sich der zweite Auf- satzteil. Und wenn Wendt »Kontinuitätslinien« vom Kaiserreich zum Nationalsozi- alismus betont, so auch die Zäsur, die der Autor in der »Machteroberung durch die Nationalsozialisten 1933« sieht: »Der 30. Januar 1933 bedeutete mit dem Übergang vom Rassismus zu einer staatlich legitimierten und institutionalisierten Rassenpoli- tik einen entscheidenden Einschnitt. Mit der Beseitigung des Rechtsstaates und der Menschenrechte in Deutschland, begleitet von einer folgenreichen Aushöhlung des ärztlichen Ethos, brachen alle Dämme auf dem Weg von der Ideologie zur Tat«. Am Ende dieser Entwicklung standen »Ärzte als ›politische Soldaten‹«, die sich »dem Prinzip ›Heilen durch Töten‹ verpflichtet fühlten«: Naziärzte43. Sie waren Teil der Völkermörderelite (»genocidal elite«) in Deutschland. Ohne ihre Handlungen wäre die damalige »Auslöschung ›lebensunwerten Lebens‹« nicht möglich gewesen. Und diese Völkermordpraxis vollzog sich, so Wendt, mit Auschwitz als Sackbahnhof, Massenmordfabrik und Endpunkt in diesen »fünf Stufen«: »Zwangssterilisation, Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Kinder in Krankenhäusern, Tötung er- wachsener Anstaltsinsassen durch Gas in medizinischen Tötungszentren (Euthana- sie), Tötung (wirklich oder angeblich) kranker Insassen von Konzentrationslagern und schließlich die Massenmorde an den Juden.«

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43 Vgl. Robert Jay Lifton, The Nazi Doctors. Medical Killing and the Psychology of Geno- cide, New York 1986. 08_Buchbesprechungen Seite 489 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

BUCHBESPRECHUNGEN

Rüdiger Voigt: Krieg ohne Raum. Asymme- Rüdiger VOIGT: Krieg ohne Raum. Asym- trische Konflikte in einer entgrenzten Welt. metrische Konflikte in einer entgrenzten (Samuel Salzborn) ...... 489 Welt. Franz Steiner Verlag: Stuttgart 2008, Reihe Staatsdiskurse Bd. 2, 315 Seiten, Paul Krugman, Nach Bush. Das Ende der 42 EUR. Neokonservativen und die Stunde der De- mokraten. Rüdiger Voigt analysiert in seiner Studie (Armin Pfahl-Traughber) ...... 490 »Krieg ohne Raum. Asymmetrische Kon- flikte in einer entgrenzten Welt« unter Nut- Stiftung für die Rechte zukünftiger Genera- zung umfangreicher historischer und tionen (Hg.): Wahlrecht ohne Altersgren- theoretischer Quellen den Zusammenhang ze?: Verfassungsrechtliche, demokratietheo- von Krieg, Staat und Raum. Er entwickelt retische und entwicklungspsychologische ein im 17. Jahrhundert beginnendes und bis Aspekte. in die Gegenwart reichendes Panorama zur (Kurt Peter Merk)...... 492 Skizzierung der Entwicklungsformen krie- gerischer Auseinandersetzungen. In dem Jun, Uwe / Kreikenbom, Henry / Neu, Vio- Buch wird dabei in einem raumorientierten laViola (Hg.): Kleine Parteien im Aufwind. Blick auf moderne Kriege die Analyse der Zur Veränderung der deutschen Parteien- staatlichen Asymmetrien zwischen (atoma- landschaft. ren) Großmächten und schwachen Klein- (Harald Bergsdorf) ...... 493 staaten auf der einen mit der durch den transnationalen Terrorismus geschaffenen Kornexl,Klaus: Das Weltbild der Intellektu- Asymmetrie zwischen staatlichen und ellen Rechten in der Bundesrepublik nicht-staatlichen Akteuren auf der anderen Deutschland. Dargestellt am Beispiel der Seite verknüpft. Wochenzeitschrift JUNGE FREIHEIT. Voigts Analyse beginnt beim absolutisti- (Stefan Kubon)...... 495 schen Staat, der Kriege aus Gründen der Staatsräson, aus Erbfolgekonflikten und we- Madden, Paul / Mühlberger, Detlef: The gen Grenzstreitigkeiten führte, hierbei mit Nazi Party. The Anatomy of a People’s Par- Söldner- oder Berufsheeren operierte und ty, 1919-1933. militärtechnisch vor allem Feuerwaffen und (Hans-Christof Kraus) ...... 497 Belagerungen einsetzte. Der Nationalstaat Schaal, Gary S. / Heidenreich, Felix: Ein- des 19. Jahrhunderts setze auf ein schnell führung in die Politischen Theorien der Mo- mobilisierbares Berufsheer um nationale derne. Konfrontationen kriegerisch zu interagie- (Renate Martinsen)...... 498 ren. Im frühen 20. Jahrhundert standen sich Reiche, Vielvölkerstaaten und vor allem po- Eckhard Jesse: Demokratie in Deutschland: litische Allianzen von Staaten in nationalen Diagnosen und Analysen. und weltanschaulichen Konfrontationen ge- (Felix Dirsch)...... 501 genüber, Panzer und Luftwaffe waren zum integralen Moment einer Kriegsführung mit Jenninger, Philipp / Peter, Rolf W. / Seubert, massiver Feuerkraft und einem Massenheer Harald: Tamen! Gegen den Strom. Günter geworden. Die ideologische Konfrontation Rohrmoser zum 80. Geburtstag. setzte sich im später 20. Jahrhundert weiter (Felix Dirsch)...... 503 fort, die Allianzen waren großen politischen Blöcken gewichen, in denen Berufsheere mit technisch-militärischer Elite und Nutzungs- möglichkeit von Raketen und Nuklearwaf- fen die logistische und militärtechnische Ba-

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sis bildeten. Das 21. Jahrhundert begann mit eine der wesentlichen Grundlagen für des- zunächst einer Supermacht und punktuellen sen Deterritorialisierung, da neben die Mög- militärischen Koalitionen, im Mittelpunkt lichkeit der Kriegführung auf erhebliche vor allem der lokalen Kriege stehen Roh- Distanz (Langstrecken- bzw. Interkontinen- stofffragen und die asymmetrische Ausein- talwaffen und Satelliten gesteuerte Raketen- andersetzung zwischen souveränem Staat abwehrsysteme) die vor allem über das Me- und terroristischen Gruppierungen, bei de- dium Internet ermöglichte Kommunikation nen die militärtechnische Orientierung sehr in Echtzeit und die gleichzeitig beginnende unterschiedliche Level erreicht, prinzipiell virtuelle Kriegführung durch Hackerangrif- aber das Niveau von weltraumgestützten fe oder gezielte Desinformationsversuche Raketensystemen erreicht ist, wobei die getreten ist. Kriegführung staatlicherseits auf eine wis- Aufgrund des damit, wie Voigt schreibt, senschaftlich-militärische Elite und ein Be- hergestellten »permanenten Kriegszustan- rufsheer zurückgreift. Hinzugetreten sind des« hat die Veränderung der Strukturen des überdies private Militärunternehmen und Krieges und seine damit einhergehende Ent- Söldnertruppen, die gerade auch in Partisa- staatlichung mit Blick auf die Neuorganisie- nen- und Guerillakriegen eingesetzt werden. rung der Weltordnung auch die offene Frage Voigt durchschreitet die Geschichte von nach dem weiteren Garant von Freiheits- mehr als drei Jahrhunderten staatlicher, vor- rechten aufgeworfen, die nicht nur von isla- staatlicher und nicht-staatlicher Kriege mit misch-terroristischer Seite massiv bekämpft, einem ungeheueren Fundus an Detailwis- sondern von den liberalen Demokratien sen, vor allem aus (völker-)rechtlichen, selbst zur Maximierung von Sicherheit in staatstheoretischen, geostrategischen und Frage gestellt werden. Die bereits von Hob- militärtechnologischen Quellen. Krieg kann bes erkannte Ambivalenz des modernen vor diesem Hintergrund als ein umfangreich Staates, Recht und Macht zu integrieren und beschriebenes, aber bis heute nicht klar defi- damit Freiheit durch Souveränität zu si- niertes Phänomen gelten, denn während es chern, wird durch die Asymmetrie des Krie- bis zu 70 verschiedene Kriegsdefinitionen ges in Frage gestellt. Diese Entwicklung in gibt, vermeiden selbst völkerrechtliche In- einer faktenreichen und historisch fundier- strumente eine positive Definition dessen, ten Studie skizziert zu haben, ist das große was unter Krieg zu verstehen ist. Voigt sieht Verdienst von Rüdiger Voigt, dessen Analy- es deshalb auch als sinnvoller an, den Begriff se zweifelsfrei zur unverzichtbaren Grund- des Krieges zu differenzieren und zwischen lage für weitere theoretische Reflexionen Krieg im materiellen Sinn (Gewaltanwen- des Kontextes von Krieg, Staat und Raum dung) und im formellen Sinn (Kriegserklä- und damit einer historisch-empirisch gebil- rung) zu unterscheiden. Dabei zeigt sich, deten und theoretisch reflektierenden dass die Wandlung der Kriegführung von Kriegsforschung werden wird. symmetrischen zu asymmetrischen Konflik- ten in der Gegenwart analytisch das Augen- Samuel Salzborn merk auch immer mehr auf den Krieg im materiellen Sinn lenkt, da förmliche Kriegs- erklärungen von der Regel zur Ausnahme Paul KRUGMAN, Nach Bush. Das Ende geworden sind. Ergänzt wird diese Ent- der Neokonservativen und die Stunde der wicklung durch eine massive mediale Insze- Demokraten. Aus dem Englischen von nierung von Kriegen und kriegerischen Friedrich Griese, Frankfurt/M. 2008 (Cam- Auseinandersetzungen, so dass auch be- pus-Verlag), 320 S. geb., 24,90 EUR. griffsgeschichtlich ein Wandel festzustellen ist, der in immer häufigeren Euphemismen Wodurch kam es in den USA seit den 1970er im Kontext mit kriegerischen Auseinander- Jahren zu einer immer größeren Auswei- setzungen mündet (zu denken ist hier etwa tung sozialer Ungleichheit? Waren hierfür an die Begriffe »Militärintervention« oder primär ökonomische oder politische Fakto- »Kollateralschäden«). In der Medialisierung ren von Bedeutung? Und welche Schritte des modernen Krieges wiederum sieht Voigt sollten zur Minimierung der extremen Un- 08_Buchbesprechungen Seite 491 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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gleichheit zukünftig unternommen wer- und schufen eine Kluft zu den Demokraten, den? Diese Fragen erörtert Paul Krugman, die zu den wahren Konservativen wurden, der an der Princeton University lehrt und zu Verteidigern der bewährten Institutionen seit Jahren als Anwärter auf den Wirt- der Gleichheit. Die Machtübernahme der schaftsnobelpreis gilt, in seinem jüngsten harten Rechten ermutigte die Wirtschaft, Buch. Es trägt in der deutschen Überset- einen Großangriff auf die Gewerkschaftsbe- zung den Titel »Nach Bush. Das Ende der wegung zu starten, der die Verhandlungs- Neonkonservativen und die Stunde der De- macht der Arbeiter entscheidend schwächte; mokraten«. Damit wird der inhaltliche Kern sie befreite die Wirtschaftsführer von den des Buchs aber ebenso wenig getroffen wie politischen und sozialen Zwängen, die exor- im Originaltitel »The Conscience of a Libe- bitanten Vorstandsbezügen bisher Grenzen ral« (»Das Gewissen eines Liberalen«). Es gesetzt hatten; sie senkte drastisch den handelt sich weder um eine Kommentierung Steuersatz auf hohe Einkommen; und sie der aktuellen politischen Situation in den förderte auf vielfältige sonstige Weise die USA noch um die reine »Bekenntniss- wachsende Ungleichheit« (S. 13). schrift« eines der bedeutendsten Keynesia- Krugman, der auch als Starkolumnist der ner. Vielmehr präsentiert Krugman eine »New York Times« gilt, kann komplexe kommentierte Wirtschaftsgeschichte seines Sachverhalte gut verständlich darstellen. Die- Landes seit Ende des 19. Jahrhunderts. se Fähigkeit zeichnet auch sein neuestes Ausgangspunkt seiner Erörterungen ist Buch aus, welches im lockeren Plauderton die Feststellung, dass es in den USA der salopp ein gutes Jahrhundert Ökonomie- 1950er und 1960er Jahre eine relativ egalitä- und Politikgeschichte der USA Revue passie- re Mittelschichtengesellschaft und einen ren lässt. Gleichwohl vermisst man hier und weitgehenden Konsens zwischen den domi- da doch Differenzierung und Genauigkeit, nierenden politischen Kräften gab. Dem war biegt der Autor sich doch manchmal den davor und danach nicht so. Die Gründe Stoff etwas in seine Deutungsrichtung. So hierfür will Krugman in den 13 Kapiteln sei- wirkt denn auch sein Verweis auf den ent- nes Buchs um der Lehren für die Gegenwart scheidenden Einfluss der Konservativen Be- willen erörtern. Im historischen wie politi- wegung ein wenig wie eine Konspirations- schen Zentrum steht dabei die New Deal- vorstellung. Dies streitet Krugman noch Politik unter Roosevelt, welche die USA nicht einmal ab, heißt es doch schlicht: »Das dem demokratischen Ideal nähergebracht Wesen des Einflusses der Konservativen Be- und eine egalitäre Mittelschichtgesellschaft wegung auf die Republikanische Partei lässt geschaffen habe. Ebenso wie dies Ausdruck sich sehr einfach zusammenfassen: Ja, Virgi- einer politischen Entscheidung gewesen sei, nia, es gibt eine riesige rechte Verschwörung« sei auch die gegenläufige Entwicklung seit (S. 180). So bedeutsam der Einfluss bestimm- den 1970er Jahren eine politische Entschei- ter neo-konservativer Think Tanks auf die dung gewesen. Für diesen Prozess macht US-amerikanische Politik sein mag, so eindi- Krugman eine Konservative Bewegung ver- mensional und monokausal wirkt aber eine antwortlich, welcher es um den Abbau des solche Überbewertung. Wohlfahrtsstaates und um Steuersenkungen Man wird dem Buch allerdings nicht ge- für Reiche gegangen sei. Deren Ablösung recht, wenn man die Einschätzung nur auf durch eine liberale und progressive Politik diesen Gesichtspunkt bezieht. Das inhaltlich stünde aber durch politische und soziale wie methodisch Erkenntnisfördernde be- Entwicklungen unmittelbar bevor. steht in der Erörterung des Wechselverhält- Demgemäß behauptet der Autor nicht ei- nisses von ökonomischen, politischen und nen Einfluss der Wirtschaft auf die Politik, sozialen Einflüssen auf die Entwicklung der sondern der Politik auf die Wirtschaft. So USA. So fragt Krugman etwa danach, war- erzählt er folgende Geschichte: »Radikale um gerade weiße Arbeiter entgegen ihrer von der Rechten, die entschlossen waren, wirtschaftlichen Interessenlage für die repu- die Errungenschaften des New Deal wieder blikanische Partei votieren: »Die wichtigste abzuschaffen, übernahmen im Laufe der anhaltende Quelle dieser Stärke in Wahlen siebziger Jahre die Republikanische Partei war die Rassenfrage – man konnte einen Teil

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der weißen Wähler dadurch für sich gewin- haupten. Originell ist der Beitrag von Mike nen, dass man ihrer Angst vor den Schwar- Weimann. Er kennt die Schwierigkeiten, das zen zumindest verdeckt Nahrung lieferte« Thema einer breiteren Öffentlichkeit näher (S. 227). Auch diese Einschätzung klingt zu bringen und bedient sich daher des Zu- überspitzt, hat aber durchaus etwas für sich. gangs mittels eines Gedankenexperiments. Dabei geht es jedoch weniger um das ethni- Wolfgang Grüninger referiert in seinem Bei- sche und mehr um das soziale Ressentiment. trag den Stand der Diskussion. Klaus Haupt, Auch hier hätte Krugman mehr differenzie- einer der engagierten Mitglieder des Bun- ren können. Gleichwohl verdient sein Buch destags bei der »Initiative der 58«, stellt das in mehrfacher Hinsicht Beachtung. Problem allgemeinverständlich dar, ohne sich mit den juristischen Einwänden lange Armin Pfahl-Traughber aufzuhalten. Sinnvoll abgerundet wird der Band durch die Informationen zur histori- schen Entwicklung des Wahlrechts von Stiftung für die Rechte zukünftiger Genera- Frank Schmilowski und die entwicklungsso- tionen (Hg.): Wahlrecht ohne Altersgrenze?: ziologischen und entwicklungspsychologi- Verfassungsrechtliche, demokratietheoreti- schen Beiträge von Marius Harring, sche und entwicklungspsychologische Aspek- Christian Palentien und Carsten Rohlfs ei- te, München, Oekom Verlag 2008, Bro- nerseits und Jörg Tremmel und Rolf Oerter schiert, 379 Seiten, 39,90 EUR. anderseits. Der empirische Beitrag von Ur- sula Hoffmann-Lange und Johann de Rijke Der Sammelband ist eine bunte Mischung erhebt Anspruch zur Versachlichung »der von Beiträgen, die aus Anlass einer Preisaus- vielfältig nur mit normativen Argumenten lobung der Stiftung für die Rechte zukünfti- und teilweise sehr emotional geführten De- ger Generationen entstanden sind. Diese batte beitragen« zu wollen. Eine normative erfreuliche Initiative der Stiftung hat auch Auseinandersetzung ist der Thematik aber Autoren, die der Fragestellung vorher eher adäquat und eine besondere Emotionalität fern standen, angeregt sich mit der Thematik ist, jedenfalls bei den relevanten Diskursteil- des Wahlrechts für Kinder zu beschäftigen. nehmern, nicht ersichtlich. Polemisch wirkt Das hat der Sache gut getan, wie beispielhaft dagegen die Aufforderung im Fazit dieses der Text von David Krebs zeigt. Er hat sich Beitrags, wonach die »Protagonisten des Fa- dem Problem aus einer ablehnenden Positi- milienwahlrechts« »besser beraten« wären, on genähert und möglicherweise gerade des- sich »aktiv für familienpolitische Belange halb eine überzeugende Analyse geliefert. Er einzusetzen statt sich in solchen Sandkasten- hat, wie auch Hermann Heußner in seinem spielen zu ergehen«. Den Autoren sei hierzu Beitrag, die bisherige Diskussion verarbei- die Lektüre der »normativen« Beiträge im tet und die wesentlichen Argumente auch gleichen Buch empfohlen. Dass Empirie für Nichtjuristen verständlich dargestellt. auch förderlich sein kann, zeigt der Beitrag Dies ist besonders wichtig, denn gerade die von Wolfgang Gaiser, Martina Gille und Jo- abweisende Haltung einzelner Vertreter der hann de Rijke, der eine Bereicherung der Rechtswissenschaft steht einer Umsetzung Diskussion darstellt, der differenziert und entgegen. Die Öffentlichkeit neigt dazu, Be- sachlich analytisch die Entwicklung des po- hauptungen unkritisch für wahr zu halten, litischen Bewusstseins junger Menschen be- nur weil sie juristisch begründet werden. ginnend mit dem 12. Lebensjahr aufzeigt. Er Diese aus dem Vertrauen in die Glaubwür- ergänzt damit, ebenso wie die Arbeit von digkeit der Juristen gespeiste naive Gutgläu- Frank Tillmann, den Beitrag von Rolf bigkeit machen sich die an der Verteidigung Oerter. Hans-Martin Schmidt erweitert die des status quo der Seniorenprivilegien inter- Diskussion durch die Reflexion der binnen- essierten politischen Kreisen gerne zur Ab- familiären Konsequenzen und Chancen, der wehr des Kinderwahlrechts zu nutze, indem Text von Volker Amrhein und Timo Jakobs sie undifferenziert und argumentativ ober- um die generative Perspektive. Hervorzuhe- flächlich auf juristische Bedenken verweisen ben ist schließlich noch die Analyse von Tim und allgemein die Verfassungswidrigkeit be- Krieger, der den politischen Nutzen der 08_Buchbesprechungen Seite 493 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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Aufhebung der Altersgrenze für das aktive In Hamburg hingegen wuchs die CDU Wahlrecht einer kritischen Betrachtung un- von 2001 auf 2004 bei der Bürgerschaftswahl terzieht indem er die generativ und auch um 21 Prozentpunkte. Bei der Bundestags- wirtschaftlich bedeutsame Fragestellung der wahl 2005 errangen die großen Kleinparteien Rentenhöhe aus der Perspektive der Public- FDP, PDS und Grüne zusammen einen Choice-Theorie betrachtet und zu dem Er- Zweitstimmenanteil von gut 26 % – ein star- gebnis kommt, dass die Folgen nicht signifi- ker Anstieg im Vergleich zu vorherigen Bun- kant wären, weil das Alter des - politisch destagswahlen seit 1990 (stets zwischen 18 entscheidenden - Medianwählers nur um % und 20 %). Die starke Präsenz der PDS wenige Jahre sinken würde. Dieser Beitrag im Bundestag verhinderte eine Mehrheitsbil- wird wohl noch Diskussionen auslösen. Das dung nach altem Muster – mit kleinen Part- Buch wird abgerundet durch das Positions- nern kann eine Volkspartei ja üblicherweise papier der Stiftung für die Rechte zukünfti- mehr von ihrem eigenen Programm und Per- ger Generationen. sonal durchsetzen als mit einem großen Pen- Der Band bereichert den Diskurs indem dant. Die PDS agierte insofern – zumindest er ihn perspektivisch erweitert. Es ist dem indirekt – in einer Schlüsselposition, als allgemeinverständlich geschriebenen Werk Zünglein an der Waage. Allerdings: Nach eine weite Verbreitung zu wünschen, damit wie vor lebt keine der kleineren Kräfte auf auch eine breitere Öffentlichkeit das Thema Bundesebene wirklich sicher vor dem Fünf- und seine grundlegende Bedeutung er- Prozent-Schafott. Darin liegt ja ein Kennzei- kennt. Bei einer zweiten Auflage, die hof- chen kleinerer Parteien. fentlich bald erforderlich wird, erscheint Wie sich die Zeiten ändern: Lange Zeit eine Überprüfung des Personenregisters schien die Zweieinhalb-Parteienlandschaft empfehlenswert. (CDU/CSU, SPD, FDP) der Bundesrepub- lik beinahe eingefroren und zementiert. Ab- Kurt-Peter Merk gesehen vom Sonderfall „Große Koalition“ praktizierten die Parteien in der Bundesre- publik auf Bundesebene über Jahrzehnte im Uwe JUN, Henry KREIKENBOM, Viola Wechsel zwei stabile Koalitionsmodelle: Die NEU (Hrsg.): Kleine Parteien im Aufwind. schwarz-gelbe oder sozial-liberale Konstella- Zur Veränderung der deutschen Parteien- tion. Die kleine FDP, die liberale (Dauerre- landschaft. Campus Verlag, Frankfurt am gierungs-) Partei, agierte faktisch als die Main 2006, 320 Seiten, 34,90 EUR. Kanzler-Macherin, die rechnerisch (und pro- grammatisch) mit beiden Volksparteien koa- In der bundesdeutschen Parteienlandschaft lieren konnte und deshalb realiter bestimmte, rumort es. Ihre Gestalt ändert sich seit eini- wer (nicht) ins Kanzleramt einzog – zwi- gen Jahren immer wieder tiefgreifend. Dar- schen 1961 und 1983 waren rechnerisch stets an sind gerade auch kleinere Parteien betei- beide Bündnisse möglich: Sowohl eine ligt. Während im Landtag des Saarlands CDU/CSU-FDP-Koalition als auch eine zwischen 1999 und 2004 nur zwei Fraktio- SPD-FDP-Koalition. Die flexible FDP fun- nen operierten, agieren in der sächsischen gierte als Zünglein an der Waage und ebnete Volksvertretung derzeit sechs Fraktionen mehrfach sogar der kleineren Volkspartei (SPD dort: 9,6 %); 1997 scheiterten bei der den Weg in die Bonner Regierungszentrale, Bürgerschaftswahl in Hamburg fast 20 % zum Beispiel nach den Bundes-tagswahlen der abgegebenen Stimmen an der 5 %-Hür- 1969, 1976 und 1980 – drei Höhepunkte der de; 2001 errang dort die Schillpartei aus dem Machtentfaltung einer Kleinpartei in der Stand als Neugründung fast 20 % – und ist Bundesrepublik. Damit unterstrich die FDP, inzwischen wieder verschwunden. Beide wie einflussreich kleinere Parteien in der Volksparteien mussten bei manchen Land- Bundesrepublik sein können – nach der Bun- tagswahlen in jüngerer Vergangenheit re- destagswahl 2005 beklagte der FDP-Chef gar kordverdächtige Stimmenverluste hinneh- politisches Stalking durch die ihn umwer- men, so die CDU 2004 in Sachsen mit einem bende SPD, um daraufhin zum dritten Mal Minus von fast 16 Prozentpunkten. hinter einander in die Opposition zu gehen.

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Beide Partnerwechsel der FDP (1969 und teien sowie politische, rechtliche und andere 1982) verwirrten und beunruhigten viele Bedingungen, unter denen kleinere Parteien FDP-Anhänger – vor allem jene, die auf den in der Bundesrepublik operieren. So verfü- jeweils verlassenen Partner festgelegt waren. gen neben FDP, "Linken" und Grünen klei- Gerade auch deshalb wagte die FDP den nere Kleinparteien über einen politischen Wechsel bislang nur zweimal. Erst später, Einfluss, der mitunter (deutlich) größer ist 1983, begann mit den Grünen eine weitere als Null. Zum Beispiel können sie bei Wah- Kleinpartei, sich bundesweit als vierte Kraft len vor allem jener Volkspartei, der sie näher in der Parteienlandschaft zu verwurzeln; sie stehen als ihrem Pendant, wertvolle Stim- raubte der FDP ihre Monopolstellung als men und damit einen knappen Vorsprung einziger Partner für eine kleine Koalition. rauben, ohne in Parlamente einzuziehen, Ab 1998 zeigten die Grünen in der rot-grü- weil sie an der 5 %-Hürde scheiterten. nen Koalition mit Schröder, wie durchset- Jan Köhler betont in seinem Beitrag die zungsstark eine kleinere Partei in einer klei- Funktion der kleineren Parteien als Seismo- nen Koalition sein kann: Sie initiierten und graphen und Antreiber der Volksparteien im verwirklichten mit Hilfe der SPD politische Parteienwettbewerb. Parteienwettbewerb Projekte, mit denen die meisten SPD- lebe gerade auch von überwindbaren Hür- Stammwähler weniger anfangen können als den für neue Akteure, die neuere oder Anhänger der Grünen (Homoehe, Atom- ältere/vernachlässigte Themen in den Vor- ausstieg, Zuwanderungsgesetz, verändertes dergrund der politischen Diskussion rü- Staatsangehörigkeitsrecht, Dosenpfand). cken. Unerwähnt bleiben bei ihm neben Hinzu kommt nun »die Linke«. Ihr ist Nachteilen von kleineren Parteien im Par- gelungen, was seit 1949 viele Parteien ver- teienwettbewerb einzelne Vorteile, die ihnen sucht, aber bislang nur die Grünen geschafft entgegenkommen, zum Beispiel bei der hatten: Mehr als nur ein politisches Stroh- staatlichen Parteienmitfinanzierung: So er- feuer zu entzünden und einem dauerhaften halten Parteien jährlich für die bei Europa-, Splitterpartei-Schicksal zu entrinnen. Nach Bundestags- und Landtagswahlen erzielten den Grünen scheint sich mit der Neo-SED gültigen (Zweit-Stimmen) bis zu einer Ge- auf Bundesebene vorerst eine weitere Klein- samtzahl von 4 Millionen (Zweit-) Stimmen partei neben der SPD zu etablieren. Gerade (ab einem Stimmenanteil von 0,5 bzw. 1,0 die jüngste Diversifizierung der Parteien- %) 0,85 Euro je Stimme und für alle weite- landschaft mit inzwischen drei großen ren Stimmen 0,70 Euro. Zweifelhaft scheint, Kleinparteien erschwert die Mehrheits- und ob sich, wie Köhler offenbar annimmt, alle Regierungsbildung – bereits 1994 und 1998 extremistischen (Gewalt-) Potentiale durch halfen Überhangmandate, knapp eine klei- Parteigründungen domestizieren und zivili- ne Koalition mit einer größeren Kleinpartei sieren lassen. zu bilden. Knappe Mehrheiten wiederum Am Beispiel der »Linken« verdeutlicht Vi- können – direkt oder indirekt – den politi- ola Neu, wie eine extremistische Partei indi- schen Einfluss zumindest einzelner oder rekt oder direkt über die Regierungsbildung mehrerer Kleinparteien erhöhen. mitentscheidet – so bei der Bundestagswahl Obwohl bzw. gerade weil die Politikwis- 2005. In ihrem herausragenden Beitrag prä- senschaft Klein- und vor allem Splitterpar- zisiert Neu, wem die kleineren Parteien bei teien weitgehend ignoriert, gibt es immer der Bundestagswahl 2005 im Vergleich zur mehr gute Gründe, sich näher mit ihnen zu Bundestagswahl 2002 Stimmen genommen befassen. Dem widmet sich der Band, den und wem sie Stimmen gegeben haben. Flori- Viola Neu und andere mit Unterstützung an Hartleb seziert die populistische Agitati- der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgege- onsweise der Linkspartei, die ihre fast seri- ben haben. Er analysiert die wichtigsten enmäßigen Wahlerfolge fördert. Melanie Kleinparteien FDP, »Linke« und Grüne, Haas vergleicht die politischen Einstellungen aber auch die NPD (Landtagswahlergebnis der Grünen-Wähler mit Einstellungen ande- in Hessen, Januar 2008: 0,9 % – REP: 1,0 rer (bürgerlicher) Wählerpotentiale. Auch %) und ÖDP. Daneben kümmert sich der wenn die Unionsparteien vorerst die Grünen Band um verschiedene Typen von Kleinpar- mitunter als Koalitionspartner brauchen: 08_Buchbesprechungen Seite 495 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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Neben Ähnlichkeiten kennzeichnen erhebli- bundesdeutschen Zeitung Junge Freiheit an che Unterschiede die Einstellungen ihrer Intensität. Diese erfreuliche Entwicklung Wählerpotentiale – teilweise größere Unter- hat nun in Gestalt der vorliegenden Studie schiede als zwischen Unionsparteien und von Klaus Kornexl einen neuen Höhepunkt SPD oder FDP. Allerdings haben sowohl erreicht. Tatsächlich ist das aus einer Disser- CDU/CSU als auch die Grünen zuletzt po- tation hervorgegangene Buch die bislang litische Aufbrüche gewagt, einige ihrer »hei- umfangreichste Untersuchung zur Jungen ligen Kühe« geschlachtet und sich damit ein- Freiheit. ander inhaltlich genähert. Die NPD erlebte, Während sich Kornexl bei der Darstel- wie Lazaros Miliopoulos herausarbeitet, lung des Weltbildes des Publikationsorgans schon schlechtere, aber auch bessere Zeiten. an die thematische Struktur klassischer Poli- Allerdings käme derzeit ein Requiem für die tikfeldanalysen anlehnt, bemüht er sich bei Rechtsextremisten verfrüht. der begrifflich-theoretischen Konzeption Insgesamt dürfte das Thema »Kleinpartei- seiner Studie um einen innovativen For- en« bis auf weiteres hochaktuell bleiben. schungsansatz. So plädiert der Verfasser im Jüngst gelangten selbst in Bayern fünf Frakti- ersten Kapitel dafür, die Zeitung im Gegen- onen bzw. Gruppierungen in den Landtag – satz zur vorherrschenden Forschungspraxis darunter die Freien Wähler, die erstmals nicht mit dem Begriff »Neue Rechte« zu eti- überhaupt in einen Landtag einzogen kettieren, da die Voraussetzungen für die (10,2%). Sie umfassen gesamtdeutsch nach Verwendung dieses Begriffs in diesem Zu- eigenen Angaben mehr Mitglieder als FDP, sammenhang seit Mitte der 90er Jahre nicht Grüne und »Linke« zusammen, nämlich mehr gegeben seien. Der Autor geht davon 280 000. In Baden-Württemberg stellen die aus, dass unter anderem folgende drei Be- Freien Wähler 44% der Gemeinderäte. Weil dingungen erfüllt sein müssen, um ein Phä- sich die Freien Wähler zum bürgerlichen La- nomen mit dem genannten Begriff beschrei- ger zählen, konkurrieren sie hauptsächlich ben zu können: Erstens sollte eine mit den Unionsparteien um Wählerstimmen. substanzielle Modernisierung des altbe- Nun diskutiert die Gruppierung über eine kannten ideologischen Repertoires der poli- Kandidatur bei der kommenden Bundestags- tischen Rechten feststellbar sein. Zweitens wahl. Befürworter argumentieren, viele kom- muss eine nachhaltige religiös-heidnische munale Angelegenheiten würden ohnehin in Ausrichtung vorliegen. Drittens bedarf es den Landeshauptstädten, der Bundeshaupt- eines markanten Rückgriffs auf die Ideen stadt und/oder Brüssel (vor-) entscheiden; der »Konservativen Revolution« der Wei- eine Kandidatur bei einer Bundestagswahl marer Republik. öffne auch große Chancen, an der staatlichen Kornexls Behauptung, dass diese ideologi- Parteienmitfinanzierung zu partizipieren. schen Merkmale bei der Jungen Freiheit seit Andererseits mutierte die Gruppierung damit Mitte der 90er Jahre nicht mehr diagnosti- mehr oder minder zu einer normalen Partei zierbar seien, kann unter Berücksichtigung und verlöre damit möglicherweise erheblich des von ihm dargestellten Weltbildes und des an Attraktivität bei einem Teil ihrer Klientel. übrigen Forschungsstandes nicht generell zu- gestimmt werden. Sicherlich sind ganz allge- Harald Bergsdorf mein die Modernisierungsleistungen des Blattes bezüglich rechter politischer Inhalte relativ unerheblich. Zudem ist in der Ideolo- Klaus KORNEXL: Das Weltbild der Intel- giegeschichte des Druckerzeugnisses in der lektuellen Rechten in der Bundesrepublik Tat eine zunehmende Verflüchtigung der reli- Deutschland. Dargestellt am Beispiel der giös-heidnischen Vorstellungen wahrnehm- Wochenzeitschrift JUNGE FREIHEIT. bar. Jedoch muss der Ansicht Kornexls, nach Herbert Utz Verlag, München 2008, 606 der das Medium in der Vergangenheit eine Seiten, brosch., 82 EUR. eher geringfügige weltanschauliche Anleh- nung an die »Konservative Revolution« be- Seit einigen Jahren gewinnt die politikwis- trieben habe, widersprochen werden. Der senschaftliche Auseinandersetzung mit der übrige Forschungsstand nimmt nämlich mei-

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nes Erachtens zu Recht an, dass die »Konser- fangreiche Darstellung der Weltanschauung vative Revolution« nach wie vor eine be- der Jungen Freiheit, die den besonderen trächtliche ideologische Vorbildfunktion auf Wert der Studie ausmacht. Da sich das Buch das Blatt ausübt. Darüber hinaus belegt das auf eine äußerst reiche Quellenbasis stützt, im zweiten Kapitel präsentierte Weltbild wird das rechte Weltbild der Zeitschrift näm- nicht gerade überzeugend die These von ei- lich sehr repräsentativ abgelichtet. Diesen ner unerheblichen weltanschaulichen Analo- hohen Repräsentativitätswert kann bislang gie zwischen Junger Freiheit und »Konserva- keine andere Forschungsarbeit zur Jungen tiver Revolution«. Vielmehr gewinnt man bei Freiheit vorweisen. Insofern müsste die Stu- der Auseinandersetzung mit der nachge- die verdientermaßen zu einem Standardwerk zeichneten Ideologie den Eindruck, dass die für alle werden, die sich ausführlich über die besagte Analogie eine große Relevanz besitzt. allgemeine ideologische Ausrichtung des Obgleich die Argumentation für die Ab- Blattes informieren möchten. Wenngleich schaffung des Begriffs »Neue Rechte« nicht darauf hinzuweisen ist, dass der besagte hohe immer plausibel erscheint, eröffnet die als Repräsentativitätswert nur für die Zeitspan- Alternativbegriff vorgeschlagene Bezeich- ne von der Gründung der Zeitung im Jahr nung »Intellektuelle Rechte« zweifelsfrei 1986 bis zum Jahr 1999 Gültigkeit besitzt, lohnende Perspektiven, um die Junge Frei- weil die Untersuchung ausschließlich Texte heit angemessener definieren zu können. dieses Zeitraums berücksichtigt. Laut Kornexl zeigt sich dies auch daran, Bei der Präsentation des Weltbildes der dass sich in der Forschung bislang im Fall Jungen Freiheit wird offensichtlich, dass das des Terminus »Neue Rechte« kein Konsens Blatt zahlreiche Varianten rechten Denkens darüber erzielen ließ, ob dieser Fachaus- unter seinem Dach vereinigt. So identifiziert druck neben antidemokratischen auch de- Kornexl in den Verlautbarungen des Medi- mokratische Denkweisen beschreibt. Hin- ums unter anderem nationalkonservative, gegen soll es angeblich bei der Formel rechtskonservative, rechtspopulistische, »Intellektuelle Rechte« leichter vermittel- rechtsradikale und rechtsextreme Denkfigu- bar sein, dass dieser Begriff die beiden zu- ren. Im Einzelnen verdeutlicht der Verfasser letzt genannten ideologischen Formen sub- beispielsweise sehr eindrucksvoll, dass das sumiert. Für mein Dafürhalten drängt sich Publikationsorgan vor allem dann seine anti- hier allerdings die Befürchtung auf, dass es demokratischen bzw. rechtsextremistischen nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis auch Seiten offenbart, wenn es sich mit den in der der Begriff »Intellektuelle Rechte« seine Bundesrepublik Deutschland lebenden Aus- vermeintliche Eindeutigkeit hinsichtlich sei- ländern beschäftigt. In der Tat legt das Blatt ner demokratietheoretischen Ausrichtung insbesondere in diesem Kontext eine die verloren haben wird. Schließlich lassen sich Menschenwürde verletzende Gesinnung an grundsätzliche inhaltliche Problemlagen in den Tag, da die besagten Menschen fast aus- der Regel nicht allein durch die Konstrukti- schließlich in negativen Zusammenhängen on eines neuen Begriffes lösen. dargestellt werden. Wobei dieser Sachverhalt Zu Recht weist der Autor aber ebenfalls unverkennbar der Tatsache geschuldet ist, darauf hin, dass die Bezeichnung »Intellek- dass sich die Zeitung in erster Linie der Idee tuelle Rechte« eine ernst zu nehmende Alter- einer in ethnischer Hinsicht homogenen native zum altgedienten Terminus »Neue deutschen Nation verpflichtet fühlt. Rechte« darstellt, weil die Forschung stets Des Weiteren gefällt sich die Junge Frei- übereinstimmend auf den intellektuellen heit augenscheinlich darin, die negativen Sei- Charakter der Jungen Freiheit und anderer ten der deutschen Geschichte schönzureden. neurechter Phänomene hingewiesen hat. Zu- Am deutlichsten wird dies, wenn sich die sammenfassend lässt sich vermerken, dass Zeitung bemüht, die militärischen Leistun- die Anregungen Kornexls zur begrifflichen gen der deutschen Wehrmacht im Zweiten Neustrukturierung des Forschungsfeldes Weltkrieg zu verherrlichen. Sehr bemer- trotz der beschriebenen Schwachpunkte kenswerte ideologische Positionen fördert überwiegend positiv zu bewerten sind. Kornexl auch zutage, indem er sich bei sei- Gleichwohl ist es vor allem die überaus um- ner Politikfeldanalyse dem Bereich der Au- 08_Buchbesprechungen Seite 497 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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ßenpolitik zuwendet. Zum Beispiel beklagt Paul MADDEN, Detlef MÜHLBERGER: der Chefredakteur der Jungen Freiheit den The Nazi Party. The Anatomy of a People’s Umstand, dass die Bundesrepublik Deutsch- Party, 1919-1933. Peter Lang Verlag, Bern land keine Atommacht ist, weil dadurch für 2007, 329 S., geb. 77,30 EUR. die deutsche Nation die Möglichkeit schwinde, im internationalen Kontext domi- Seit langem ist der Forschung bekannt, dass nanter in Erscheinung zu treten. die NSDAP entgegen ihrer bekannten Beachtung verdienen ferner die Ausfüh- Selbstbezeichnung eben keine »Arbeiterpar- rungen darüber, wie das Blatt auf eine Ent- tei« gewesen ist. Auch die zeitweilig vertre- scheidung des Bundesverfassungsgerichts tene These, es habe sich in erster Linie um aus dem Jahr 1995 reagiert hat. Damals legte eine Interessenpartei des »Mittelstandes«, das Gericht fest, dass es aufgrund des genauer gesagt: des infolge Krieg, Inflation Grundrechts auf freie Meinungsäußerung und Wirtschaftskrise ökonomisch und poli- erlaubt sei, zu behaupten, dass Soldaten tisch deklassierten deutschen Kleinbürger- Mörder sind. Dass etliche Autoren der Jun- tums gehandelt, ist mittlerweile vom Tisch. gen Freiheit wenig Verständnis für diese Erst seit etwa Mitte der 1970er Jahre hat die Entscheidung zeigen, veranschaulicht, wie zeitgeschichtliche Forschung ernsthafte, wenig glaubwürdig es ist, wenn sich die Zei- quellengestützte Untersuchungen über Mit- tung immer wieder als Kämpferin für das gliederentwicklung, Anhänger- und Wähler- Grundrecht auf Presse- und Meinungsfrei- schaft der NSDAP angestellt, und in der Fol- heit inszeniert. Tatsächlich scheint das Blatt ge dieser Bemühungen hat sich das Bild ein eher opportunistisches Verhältnis zu entschieden gewandelt. Es hat sich nämlich diesem Grundrecht zu haben. gezeigt, dass diese Partei über eine in sozialer Nach der ausführlichen Darstellung des Hinsicht außerordentlich breit zusammen- Weltbildes der Jungen Freiheit beendet gesetzte Anhängerschaft verfügte, die vom Kornexl seine vor allem der Grundlagenfor- Arbeiter über den Kleinbürger und Ange- schung verbundene Arbeit, indem er in sei- stellten bis hin zum Jungakademiker und nem dritten Kapitel unter anderem Perspekti- zum wohlhabenden Kaufmann und Groß- ven entwickelt, wie man die bundesdeutsche bauern reichte; auch innerhalb des Adels ver- Gesellschaft noch wirksamer vor den rechts- fügte die Partei (wie erst seit wenigen Jahren extremistischen Tendenzen des Mediums genauer nachgewiesen worden ist) über eine schützen könnte. Dass er dabei insbesondere keineswegs unbeträchtliche Anhängerschaft. auf den demokratischen Konservatismus und Die beiden Autoren des hier anzuzeigen- dessen Konzept eines aufgeklärten Patriotis- den Bandes, die Zeitgeschichte in den USA mus baut, dürfte sinnvoll sein. Schließlich (Madden) und Großbritannien (Mühlber- werden die rechtsextremen Kräfte der Jungen ger) lehren, haben seit mehr als zwei Jahr- Freiheit zweifelsohne auch weiterhin vorran- zehnten einschlägige Studien zum Thema gig daran interessiert sein, zunächst dem kon- vorgelegt und können als die derzeit wohl servativ-demokratischen Milieu seinen ver- besten Kenner der Thematik gelten. Insge- fassungstreuen Charakter zu nehmen. samt kommen sie zu dem in jedem Fall Zum Abschluss bleibt kritisch zu vermer- überzeugend formulierten und quellenmä- ken, dass im dritten Kapitel ein ständig wie- ßig gut fundierten Urteil, dass die NSDAP, derkehrender Schwachpunkt des Buches be- durchaus schon zeitgenössischen Vermu- sonders deutlich wird: Die Kapitel und tungen entsprechend, im Grunde nichts we- Unterkapitel der Untersuchung sind gele- niger als eine standes- und klassenüber- gentlich zu grob gegliedert. So beinhaltet das schreitende »Volkspartei« gewesen ist und Werk ungeteilte Textabschnitte, die eine Län- dass eben hierin einer der wichtigsten Grün- ge von über 20 Seiten aufweisen. Dieser Sach- de für ihren politischen Erfolg zu suchen ist: verhalt kann freilich nichts daran ändern, »The empirically based statistical data pre- dass Klaus Kornexl im Wesentlichen eine sented in this book all point overwhelmin- überaus verdienstvolle Studie vorgelegt hat. gly in one direction: that the Nazi Party ef- fectively transcended the class divide of Stefan Kubon German society« (20). Dieser prinzipielle

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Befund deckt sich übrigens mit bereits älte- Gary S. SCHAAL, Felix HEIDENREICH: ren (seinerzeit allerdings nicht immer empi- Einführung in die Politischen Theorien der risch belegbaren) Thesen, die das NS-Re- Moderne, Verlag Barbara Budrich, UTB, gime als eine Modernisierungsdiktatur mit Stuttgart 2006, 283 Seiten, 14,90 EUR. sozialegalitärer Tendenz charakterisiert ha- ben; erinnert sei nur an Ralf Dahrendorfs Nachdem Gary S. Schaal im Jahr 2002 in klassische Darstellung Gesellschaft und De- Zusammenarbeit mit André Brodocz das mokratie in Deutschland aus dem Jahr 1965. zweibändige Werk Politische Theorien der Der Band enthält allerdings keine konzise Gegenwart (Brodocz/Schaal 20062) heraus- Gesamtdarstellung, also keine Parteige- gegeben hat, welches explizit als »Lehrtext schichte im eigentlichen Sinne, sondern ins- für Studierende und als Überblicksband für gesamt acht bereits früher in Zeitschriften Kolleginnen und Kollegen im Bereich der und Sammelbänden, z. T. an etwas abgelege- politischen Theorie« (ebd.: 16) verstanden nem Ort publizierte Einzelstudien beider werden sollte, folgte im Jahr 2006 der Band Autoren, die allerdings, wie die Fußnoten Einführung in die Politischen Theorien der belegen, auf den neuesten Stand der For- Moderne in Kooperation mit Felix Heiden- schung gebracht worden sind. Madden hat reich. Die Einführung wendet sich im Ge- drei Beiträge beigesteuert: neben einer ein- gensatz zum Vorgängerwerk an »Studieren- führenden Übersicht zum Thema sind dies de der Politikwissenschaft, die einen ersten eine Studie zu den frühen Anhängern der Einblick in die Politische Theorie in diesem Partei, vornehmlich in München und Bayern Zeitraum gewinnen wollen« (Schaal/Hei- zwischen 1919 und 1923 sowie eine weitere denreich 2006: 11, Hervorhebungen im Ori- Studie zur Herkunft und Berufsgruppenzu- ginal). Aufgrund seines didaktischen Auf- gehörigkeit der Mitglieder zwischen 1925 baus, so die Ankündigung im Klappentext, und 1933. Mühlberger widmet sich im ersten sei das Buch hervorragend für das Selbststu- seiner vier Beiträge der besonders interessan- dium geeignet. Tatsächlich vermögen die ten Frage nach dem Arbeiteranteil unter den Autoren diesen ambitionierten Anspruch Anhängern der Partei Hitlers und kommt zu weitgehend einzulösen – dies ist um so er- dem Resultat, dass dieser Teil der NSDAP- freulicher als die Befassung mit politischen Anhängerschaft wohl deutlich größer gewe- Theorien bei StudentInnen häufig als eher sen ist als früher behauptet. Auch seine drei »schwierige Kost« gilt. Regionalstudien (sie können hier nur er- Nach einer kurzen Problematisierung des wähnt, aber nicht im Detail referiert werden) Theoriebegriffs und einer Einführung in die über die NSDAP im Osten (in der preußi- Geschichte der Disziplin wird unter der schen Restprovinz Posen-Westpreußen), in Fragestellung »Was ist Theorie?« der Theo- einer kleinen Universitätsstadt (Göttingen) riebegriff für die Politikwissenschaften me- und in einer durchschnittlichen deutschen thodisch entwickelt, um schließlich die Großstadt (Frankfurt am Main) beruhen auf klassische Unterscheidung zwischen norma- sorgfältiger Quellenauswertung und geben tiven und empirisch-analytischen Theorien neue Aufschlüsse, ebenso wie die von beiden zu treffen. Der Schwerpunkt des vorliegen- Autoren zusammen erarbeitete Studie über den Werkes liegt explizit auf den normati- die NSDAP im hessischen Landkreis Fried- ven Theorien, welchen eine »historische berg. Ein nützliches Literaturverzeichnis so- Dominanz« zugesprochen wird (ebd.: 26). wie ein vorzügliches Namens- und Sachre- Tatsächlich finden etwa Ansätze wie »Ratio- gister schließen den Band ab, der zwar eine – nal Choice« kaum Beachtung und werden in immer noch nicht vorliegende – moderne wenigen Sätzen abgehandelt. Parteigeschichte der NSDAP nicht ersetzen Im folgenden, recht knapp gehaltenen kann, jedoch unverzichtbare Beiträge zum und stark geschichtswissenschaftlich ausge- näheren Verständnis des Aufstiegs dieser legten zweiten Kapitel wird die »Theoriebil- Partei in der krisengeschüttelten ersten deut- dung unter den Bedingungen der Moderne« schen Republik zu bieten vermag. nachgezeichnet: Ausgehend von Säkularisie- rungsprozessen des Mittelalters über den Hans-Christof Kraus Aufstieg des Bürgertums, die klassische Mo- 08_Buchbesprechungen Seite 499 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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derne bis in die Gegenwart bietet der Band fasser in ihrer Darstellung des Liberalismus eine profunde Explikation der Rahmenbe- auf Thomas Hobbes zurück, eine Vorge- dingungen politischer Theoriebildung sowie hensweise, welche ebenfalls überzeugt, han- die Kontextualisierung ihrer Entstehungs- delt es sich doch beim Leviathan um eine bedingungen. Generell – und dies ist eine Theorie, deren Wirkungsmächtigkeit in der Stärken des Bandes – werden die vorge- punkto »Reduktion von Gerechtigkeit auf stellten Autoren und Theorien in ihre jewei- bloßen Legalismus, […] Etablierung des lige Epoche eingeordnet und aus dieser her- Marktes [und der] Vorstellung der Legitima- aus interpretiert. tion eines politischen Gemeinwesens qua Nach der Bereitstellung des analytischen Vertrag« kaum überbewertet werden kann Rüstzeugs folgt dann im Hauptteil der Mo- (ebd.: 77). Über Locke, welcher unter allen nographie die Vorstellung von vier Theo- Klassikern wegen seiner Berufung auf Ge- riefamilien, nämlich liberale, republi- waltenteilung, Beteiligungs- und Schutz- kanische, deliberative und postmoderne rechte sowie das Toleranzgebot dem moder- Demokratietheorien. Das Hauptaugenmerk nen Demokratieverständnis am nächsten liegt ganz eindeutig auf den »beiden großen komme (ebd.: 86) und Kant führen die Au- Familien in der Politischen Theorie und Ide- toren ihre Leser schließlich zum Kapitel engeschichte« (ebd..: 47), namentlich den li- über John Rawls, dessen Theorie der Ge- beralen bzw. republikanischen Theorien rechtigkeit in didaktisch mustergültiger und Autoren. Die Differenzierung zwischen Form entwickelt wird. Die Reflexionen von Liberalismus und Republikanismus struktu- Rawls zur Gerechtigkeit als der »zentrale[n] riert dementsprechend die Argumentation Frage innerhalb der politischen Philoso- in den folgenden Kapiteln. Ansätze aus dem phie« (ebd.: 95) können – so die Autoren – deliberativen bzw. postmodernen Lager kaum überschätzt werden, haben sie doch werden hingegen auf vergleichsweise weni- die »normative politische Philosophie und gen Seiten abgehandelt. Diese Herangehens- Theorie als akademische Disziplin« rehabili- weise mag auf den ersten Blick Anlass zur tiert und außerdem die wichtigste theoreti- Kritik geben, erscheint aber insofern durch- sche Debatte der 1970er und 1980er Jahre, aus plausibel als die Verfasser immer wieder nämlich die Auseinandersetzung zwischen Bezüge zur aktuellen, faktisch vom liberalen Liberalismus und Kommunitarismus, aus- Paradigma dominierten Politik herstellen gelöst (ebd.: 107). Allerdings hätte eine Aus- und mit ihren theoretischen Ausführungen sage wie die, dass die kommunitaristische abgleichen. Kritik an Rawls niemals das philosophische Aus dieser Warte gelesen bildet das dritte Niveau der Theorie der Gerechtigkeit er- Kapitel eine Art Einleitung zu den folgen- reicht und kein Ansatz aus dem kommuni- den, ausführlichen Hauptkapiteln. Unter taristischen Lager jemals einen Gegenent- dem Titel »Zwei Paradigmen Politischer wurf vorgelegt habe, der ähnlich umfassend Theorie« entfalten Schaal/Heidenreich in wäre (vgl. ebd.: 108), zumindest näher be- prägnanter Weise die Hauptbegrifflichkeiten gründet werden sollen. Bei aller einer Ein- des Liberalismus bzw. des Republikanis- führung geschuldeten Beschränkung er- mus. So werden etwa das Menschenbild, das scheint der Raum für die Vorstellung Recht, die Gerechtigkeit, die Rolle des Staa- libertarianistischer Theorien etwas zu knapp tes und insbesondere der Kontraktualismus bemessen. Lediglich Robert Nozicks Anar- in seinen unterschiedlichen Variationen vor- chy, State, Utopia wird einer intensiveren gestellt sowie verschiedene Spielarten der je- Analyse unterzogen, während die Ausfüh- weiligen Paradigmata – im Falle des Libera- rungen zu Hayek für den nicht mit der The- lismus etwa der Libertarianismus – matik vertrauten Leser schlicht zu kurz ge- nachgezeichnet. Diese Vorgehensweise er- raten sind. Des Weiteren stellt sich die scheint im Hinblick auf die folgenden Aus- Frage, ob der »Anarcho-Kapitalist« (ebd.: führungen ausgesprochen zielführend. 126) Hans Hermann Hoppe tatsächlich eine Obschon der vorliegende Band den An- Wirkungsmächtigkeit entfaltet hat, welche spruch erhebt, in die Politischen Theorien die Behandlung seiner Theorien in einer der Moderne einzuführen, greifen die Ver- Einführung rechtfertigt.

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Ähnlich wie in der Entfaltung des Libera- losophie wie »Diskurs«, »Macht« und lismus vollziehen die Verfasser auch in ihrer »Körper« die geometrischen Orte der Er- Darstellung der republikanisch-kommuni- läuterungen. Foucaults »Gouvernemen- taristischen Theorien einen Rekurs auf die talität« als »Form der Machtausübung […], Klassiker. Rousseau wird als der »Ahnherr die nicht mehr in Relationen von Machtaus- republikanischen Denkens« (ebd.: 151) ein- übenden und Machtunterworfenen gedacht geführt, ohne allerdings dessen ambivalente wird, sondern als ein Medium sozialer Re- Rezeption und die dem Gesellschaftsvertrag gelung, bei der die Subjekte auf eine Selbst- potentiell innewohnende Gefahr des Totali- kontrolle hin kontrolliert werden« (ebd.: tarismus zu vernachlässigen. Vor diesem 231) wird mit den liberal/republikanischen Hintergrund werden dann zentrale Begriffe Paradigmata abgeglichen und auch zu Ha- des Kommunitarismus wie etwa »Gemein- bermas in Beziehung gesetzt, eine Vorge- schaft«, »Individualisierung« oder »Frei- hensweise, die zusätzliche Kohärenz er- heit« diskutiert, um schließlich Benjamin zeugt. Barbers Starke Demokratie als »Meilenstein In einer Art Ausblick präsentiert der in der Entwicklung partizipatorischer De- Band schließlich eine Bilanzierung der aktu- mokratietheorie« (ebd.: 176) und Michael ellen Perspektiven der Politischen Theorie. Walzers Sphären der Gerechtigkeit als »Die zunehmende Umstrukturierung aller »wichtigste kommunitaristische Theorie der Lebensbereiche nach ökonomischen und Gerechtigkeit« vorzustellen. Die Beschrän- zweckrationalen Standards« sei »eine zen- kung auf diese beiden Theoretiker macht trale Entwicklung der letzten Jahre, die auch angesichts der Tatsache, dass zahlreiche dem die Politische Theorie nicht unberührt Kommunitarismus zugerechnete Theoreti- lässt«. Aus diesem Blickwinkel werden ge- ker – so etwa Charles Taylor oder Alasdair gewärtige Herausforderungen der Politi- McIntyre – philosophisch ausgerichtet und schen Theorie wie etwa das Problem der Le- politikwissenschaftlich weniger greifbar gitimität bzw. des Supranationalismus oder sind, durchaus Sinn. neue Gerechtigkeitsbegrifflichkeiten ange- Wie bereits angedeutet fällt die Behand- rissen, eine Wiederkehr des Republikanis- lung deliberativer und postmoderner Theo- mus konstatiert und auf die Gefahr eines rien relativ knapp aus. Die Stärke liegt neuen Totalitarismus hingewiesen. vielmehr in der Tatsache, dass selbst eine so Inhaltlich – so das Fazit – weiß die vorlie- komplexe Theorie wie die von Jürgen Ha- gende Monographie den Leser/die Leserin bermas in für Studienanfänger verständli- zu überzeugen, wenngleich für künftige cher Terminologie erklärt wird. Darüber Neuauflagen gewisse Erweiterungen des hinaus vermag der Band die Anschlussfähig- Theorienspektrums wünschenswert erschei- keit deliberativer Theorien zum vorher Aus- nen, wie beispielsweise die Integration femi- geführten zu verdeutlichen, indem die nistischer Theorien sowohl im republikani- Verfasser die deliberative Theoriefamilie als schen (Iris Marion Young) wie auch im »dritten Weg« zwischen Liberalismus und postmodernen Paradigma (Judith Butler). Republikanismus identifizieren. Da delibe- Für eine Einführung ebenso wichtig wie rative Theorien momentan die politische die inhaltliche ist die didaktische Ebene. Theorie dominieren (vgl. ebd.: 206) sind Sc- Auch hier versteht der Band zu punkten: haal/Heidenreich bestrebt, über Habermas Die durchgängige Randgliederung gewähr- hinaus die aktuelle diesbezügliche For- leistet die optimale Nutzung und die Kapitel schung kurz zu umreißen – ein Anliegen, zu den einzelnen Theoretikern folgen einem das abermals mit starkem Praxisbezug um- zumeist analogen Aufbau. Das Buch ist ver- gesetzt wird. ständlich und zielgruppenadäquat verfasst, Schließlich widmen sich die Autoren dem was den Lernerfolg sichert. Dieser wird au- komplexen Feld postmoderner Theorien. ßerdem durch Kontrollaufgaben für das Nach der Problematisierung des Begriffs Selbststudium, welche sich am Ende des wird Michel Foucault gleichsam als »spiritus Werkes befinden, unterstützt. Auch wirkt rector« der Postmoderne eingeführt: dabei die nach der Gliederung konzipierte Biblio- bilden wichtige Begrifflichkeiten seiner Phi- graphie in diesem Sinne ausgesprochen posi- 08_Buchbesprechungen Seite 501 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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tiv – ebenso wie die Illustration und Visuali- len, als im Mai 2008 eine Gruppe von Ran- sierung durch Schaubilder, Tabellen und dalierern aus der linksextremistischen Szene Grafiken, die insbesondere in den ersten einen Vortrag des Politologen in Berlin stör- Kapiteln als wichtige Impulsgeber für die te, der nur aufgrund eines massiven Polizei- gedankliche Strukturierung fungieren. aufgebots stattfinden konnte. Hintergrund Insgesamt ist Gary Schaal und Felix Hei- für diese Aktion war wohl Jesses gelegent- denreich eine Einführung gelungen, welche lich geäußerte und hier und da nachzulesen- einen festen Platz im Bereich der Vermitt- de Meinung, Links- und Rechtsextremismus lung moderner politischer Theorien bean- würden zu unterschiedlich wahrgenom- spruchen kann. men. Letztlich müsse der Rechtsstaat Äqui- distanz gegenüber beiden Varianten von Renate Martinsen Verfassungsfeinden bewahren. Zum 60. Geburtstag des Jubilars haben nun der mit ihm freundschaftlich verbunde- Eckhard JESSE: Demokratie in Deutsch- ne stellvertretende Direktor des Hannah- land: Diagnosen und Analysen, herausgege- Arendt-Instituts für Totalitarismusfor- ben von Uwe Backes und Alexander Gallus, schung an der TU Dresden, Uwe Backes, Böhlau-Verlag, Köln/Weimar 2008, 431 Sei- und der Juniorprofessor Alexander Gallus, ten, geb., 39,90 EUR. einst Doktorand des Geehrten, eine Reihe lesenswerter Aufsätze aus der Feder des um- Eckhard Jesse, Inhaber des Lehrstuhles für triebigen Vielschreibers publiziert, die in- die »Lehre von den politischen Systemen« nerhalb der letzten zwei Jahrzehnte an an der Technischen Universität Chemnitz, bisher verschiedenen Orten veröffentlicht legt beinahe jährlich entweder eine von ihm wurden. Nunmehr sind die einzelnen Bei- verfasste Monographie oder einen von ihm träge leicht zugänglich. In den »Diagnosen edierten Sammelband vor. Er ist außerdem und Analysen«, so der Untertitel des Ban- Betreuer mancher wichtiger Dissertation, des, verbinden sich systematische politik- darunter die grundlegende Studie von Stef- wissenschaftliche Erörterungen mit fen Kailitz über die Deutungskultur im Spie- zeitgeschichtlichen Stellungsnahmen. Die gel des »Historikerstreits«. Darüber hinaus Untersuchungen sind in folgende Rubriken initiierte Jesse bereits vor fast zwei Jahr- eingeordnet: »Zeit- und Streitgeschichte«, zehnten den »Veldensteiner Kreis« im Um- »›Vergangenheitsbewältigung‹ und Tabus«, feld der von ihm mit herausgegebenen Zeit- »DDR und deutsche Frage«, »Alte und neue schrift Extremismus & Demokratie, der sich Bundesrepublik«, »Wahlen und Wahlsys- im Kern aus seinen Schülern und Mitarbei- tem«, »Parteien- und Parteiendemokratie«, tern zusammensetzt. Obwohl der Extremis- »Demokratie- und Demokratieschutz«, mus-Experte als vorsichtig agierender Mann »Links- und Rechtsextremismus«. wahrgenommen wird, wurde seine Person In den meisten Beiträgen findet man sach- bereits mehrmals Zielscheibe unfairer Atta- liche, nüchtern-abgewogene Äußerungen cken. Als er in den frühen 1990-Jahren mit des dem liberal-konservativen Spektrum zu- Vertretern der so genannten Neuen Rechten zuordnenden Jesse. An manchen Stellen ist an gemeinsamen Projekten beteiligt war ein klares Urteil des Wissenschaftlers nicht (»Westbindung«, »Die Schatten der Vergan- zu überhören. Es deckt sich häufig nicht mit genheit«), ordneten ihn Gegner flugs dieser Postulaten der medial omnipräsenten »Poli- Richtung zu, wofür es tatsächlich aber kei- tical Correctness«. Man lese in diesem Zu- nerlei tragfähige Rechtfertigung gab. Den sammenhang etwa den Essay über die bun- Vertretern der denunziatorischen »politi- desrepublikanische schen Korrektheit« war dieser Tatbestand »Vergangenheitsbewältigung«. Er kommt freilich egal. Als Jesse vor einigen Jahren zu vergleichbaren Ergebnissen wie die eini- zum Gutachter im NPD-Verbotsstreit vor ge Zeit später angefertigte Doktorarbeit sei- dem Bundesverfassungsgericht berufen nes Schülers Kailitz. Habermas, der Groß- wurde, hinterließ solche haltlose Polemik wesir linker Versuche, die in den 1960er- ihre Spuren. Das konnte man auch feststel- Jahren errungene Deutungshoheit zu ze-

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mentieren, so die Schlussfolgerung, sei le- blematik deutlich. Meist wurde im Kontext diglich Vordenker einer neuen »Mandarin«. derartiger Erörterungen um die Junge Frei- Sie weise nicht zu übersehende Affinitäten heit ein Popanz aufgebaut. Doch schon vor zu den klassischen Bildungseliten auf, von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts denen sich diese neue »Priesterherrschaft« 2005, das für eine rechtmäßige Beobachtung (Helmut Schelsky) eigentlich absetzen woll- dieser Wochenzeitung mit nachrichten- te. dienstlichen Mitteln keine Anhaltspunkte Auch in einigen anderen der abgedruck- erkannte, hätte klar sein müssen: Das von ten Essays fasst Jesse heiße Eisen an. Allzu Dieter Stein herausgegebene Periodikum ist oft wird von der »Singularität« des national- Teil des medialen Diskurses wie die taz oder sozialistischen Holocausts gesprochen, Die Zeit. Wenn Jesse noch 1996 schreibt, die ohne den entsprechenden Terminus genau- Junge Freiheit sei noch nicht im demokra- er zu analysieren, der vielfältige Implikatio- tisch-konservativen Bereich angekommen, nen einschließt. Was moralisch durchaus so ist dieses Urteil mittlerweile zu revidie- verständlich ist, muss wissenschaftlich nicht ren, aller Polemik, die kürzlich in einem von unbedingt richtig sein. Vorsichtige Fragen und Stefan Braun herausgegebe- sind in diesem Zusammenhang erlaubt. Der nen Sammelband erneuert wurde, zum Verfasser hat – wie der frühere Generalsek- Trotz. Jesse hat sich diese Meinung mittler- retär des Zentralrats der Juden in Deutsch- weile zu Eigen gemacht. In einem Interview land, Hendrik G. van Dam – Einwände mit der Zeitung Dresdner Neueste Nach- gegen einen »Naturschutzpark für Juden« richten bezeichnete er jüngst die Junge Frei- (van Dam), der nicht selten das Gegenteil heit als »im Kern zum demokratisch-kon- von dem bewirkt, was damit intendiert wer- servativen Spektrum« gehörig, »mit einigen den soll. Der omnipräsente »Anti-Antisemi- Facetten nach Rechtsaußen«. Die Frage ei- tismus« ist zwar vor dem Hintergrund der nes Buchtitels von Wolfgang Gessenharter deutschen Geschichte verständlich, tendiert aus der Mitte der 1990er-Jahre, Kippt die aber gelegentlich dazu, Intoleranz gegenü- Republik?, kann längst beantwortete wer- ber Andersdenkenden zu verbreiten. den: Ja, sie driftet schon seit längerer Zeit Die »Berliner Republik« sieht Jesse auf nach links. Allerdings haben es manche erst dem Weg zu einer Normalisierung, die in seit Kurzem begriffen. Entwicklungen, wie der »Bonner Republik« oft vermisst wurde. sie sich seit einigen Monaten in Hessen und Der zaghafte Patriotismus während der schon seit längerem in Berlin zeigen, sind Fußball WM 2006 darf als Indiz dafür gel- kein Zufall, sondern Ausdruck einer fak- ten. Mit Recht unterscheidet der emsige Pu- tisch nachprüfbaren »Erosion der Abgren- blizist scharf zwischen einer inakzeptablen zung« (Wolfgang Rudzio) nach links. Die »Entsorgung der deutschen Vergangenheit« mangelnde Distanz der SPD zum linksradi- (Hans-Ulrich Wehler), die indes kein poli- kalen Spektrum ist nicht zuletzt Konse- tisch Verantwortlicher will, und einer über- quenz einer fehlenden Tabuisierung solcher aus starken Vergangenheitsfixiertheit, die es Annäherungsversuche oder gar koalitionä- seiner Meinung nach zu überwinden gilt. rer Avancen. Die im Hinblick auf die Rechte Gleichfalls konsensfähig sind seine Darle- stets warnenden Medien lassen in diesen Zu- gungen zum Phänomen der so genannten sammenhängen schnell ihre kritische Breit- Neuen Rechten. Nachdem der Rechtsextre- seite vermissen. mismus in den vergangenen Jahren nur regi- So ist abschließend festzustellen: Die nun onal begrenzte Erfolge feiern konnte und leicht zugänglichen Aufsätze Jesses vergrö- überdies isoliert blieb, kaprizierte sich in ßern das Interesse an seinen neuesten Veröf- den letzten rund 15 Jahren eine beachtlich fentlichungen, etwa die im Sommer 2008 angewachsene Literatur auf einen angeblich vorgelegte Abhandlung über »Die Linke« politischen Grauzonenbereich zwischen der und deren, wie es im Untertitel heißt »smar- Union und dem rechten Extremismus. Wo ten Extremismus«. diese bis heute immer wieder behauptete Nähe empirisch greifbar sein soll, wird in Felix Dirsch keiner der zahllosen Publikationen zur Pro- 08_Buchbesprechungen Seite 503 Freitag, 5. Dezember 2008 12:10 12

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Philipp JENNINGER, Rolf W. PETER, Ha- scheut – auch um den Preis, dass er von Ex- rald SEUBERT (Hg.): Tamen! Gegen den ponenten des Geißler-Süßmuth-Flügels aus Strom. Günter Rohrmoser zum 80. Geburts- der CDU ausgegrenzt wurde und ihn füh- tag. Dr. Neinhaus Verlag, Stuttgart-Hohen- rende SPD- und Grüne-Mitglieder, etwa heim 2007, 640 Seiten, geb., 38 EUR. Stephan Braun und , als Rechts- radikalen diffamierten. Wer den dem abend- Günter Rohrmoser zählt bereits seit Jahr- ländischen Denken verpflichteten Rohrmo- zehnten zu den bedeutendsten Philosophen ser erleben durfte, beispielsweise bei unseres Landes. Sein veröffentlichtes Œuvre Vorträgen, weiß, wie unangemessen dieser ist sehr umfangreich, und überdies ist bisher Vorwurf ist. Richtiger liegt da der kürzlich erst ein Teil seiner Schriften publiziert. Der verstorbene SPD-Vordenker Peter von Philosoph Harald Seubert hat angekündigt, Oertzen, der Rohrmoser als einen „über- diese bis dato ungehobenen Schätze wenigs- zeugten Konservativen und leidenschaftli- tens zum Teil in den nächsten Jahren der chen Liberalen“ kennzeichnete. Öffentlichkeit zu präsentieren. Fasst man die Quintessenz des riesigen Was fasziniert die Leser an Rohrmosers Lebenswerkes des mittlerweile Achtzigjäh- Ansatz und wissenschaftlicher Vorgehens- rigen zusammen, so bleibt vor allem seine weise? Der Stuttgarter Gelehrte versteht es fundierte Kritik an der Frankfurter Schule wie nur wenige Vertreter seiner akademi- (Das Elend der Kritischen Theorie) und den schen Disziplin, die großen Denker im Hin- Spätfolgen der Kulturrevolution, wie einer blick auf drängende Gegenwartsprobleme der zahllosen Buchtitel des Vielschreibers zu rezipieren – und das auf eine auch für ein lautet. Weiterhin sind seine mannigfachen Laienpublikum verständliche Art. Man neh- Versuche zu nennen, konservatives und libe- me lediglich sein in den 1990er-Jahren viel rales Denken in seiner wechselseitigen Ab- beachtetes Buch Der Ernstfall zur Hand. hängigkeit herauszuarbeiten. Immer wieder Der Interessent findet darin eine Fülle von hat er den vielfältigen Ansätzen der bin- Hinweisen darauf, was herausragende Per- dungslosen emanzipatorischen Philosophie sönlichkeiten der Philosophie- und Geistes- in der Neuzeit die geistigen Fundamente der geschichte wie Hegel, Marx, Luther, Ador- Freiheit gegenübergestellt. no und viele andere mit aktuellen Neben der Gesellschaft für Kulturwissen- Problemen wie den Grenzen des Liberalis- schaft, die viele kleine und größere Abhand- mus, der Krise von Rechts- und Sozialstaat, lungen sowie Kommentare Rohrmosers den philosophischen Aspekten der Ökolo- vorlegte, bemühten sich Ende 2007 die Her- gie, der Agonie des Christentums oder dem ausgeber Philipp Jenninger, Rolf W. Peter immer wieder postulierten Ende der Ge- und Harald Seubert in einer materialreichen schichte zu tun haben. Des Weiteren beein- Festgabe anlässlich der Vollendung seines druckt seine Kenntnis namhafter Protago- achten Lebensjahrzehnts, die Verdienste des nisten der europäischen Literaturgeschichte. Jubilars offenzulegen. Er bedankte sich in So hat er zu William Shakespeare und Tho- einer fulminanten Rede im Dezember letz- mas Mann überaus inspirierte und inspirie- ten Jahres im Rahmen eines Festaktes der rende Studien vorgelegt. Universität Stuttgart-Hohenheim, an der Rohrmoser war seit den 1970er-Jahren der Emeritus noch heute Vorlesungen hält. weit mehr als nur Inhaber eines Lehrstuhles. Bereits die große Zahl prominenter Auto- Als Berater, der Politikern wie Franz-Josef ren, die einen Beitrag für die Festschrift ver- Strauß nahestand und 1978 das nicht ganz fassten, lässt beim Studium des Inhaltsver- unumstrittene Studienzentrum Weikers- zeichnisses aufhorchen. Am Anfang heim, einen konservativen think-tank, mit- drucken die Editoren einen Aufsatz des Ge- begründete, musste der Ritter-Schüler und ehrten selbst ab, anschließend folgt eine aus- aktive Protestant erfahren, dass es manch- führliche Würdigung seines Werkes durch mal bequemer sein kann, nur im akademi- Harald Seubert. Auch über die Persönlich- schen Bereich, fernab des politischen All- keit Rohrmosers erfährt der Leser einiges, tagsgeschäftes, zu wirken. Dennoch hat er besonders im Porträt seines Stuttgarter Hö- die fälligen Auseinandersetzungen nie ge- rers Rolf W. Peter. Von den bedeutenden ak-

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tiven wie ehemaligen Politikern, die mitwir- Bahro, dessen Nachlassverwalter ein Typos- ken, seien lediglich Günter Beckstein, kript über die »Idee des Homo integralis« Manfred Rommel, Klaus von Dohnanyi, lieferte. Es würdigt die Bedeutung des Kurt Biedenkopf, Hans Joachim Meyer, Schweizer Kulturphilosophen Jean Gebser Philipp Jenninger oder Fritz Hähle genannt, für das ökologische Zeitalter, der die Rele- darüber hinaus katholische und evangelische vanz »a-rationaler Bewusstseinszusammen- Würdenträger wie Joachim Kardinal Meis- hänge« betonte. Hervorzuheben ist aus der ner, Walter Mixa oder Hartmut Löwe. Libe- Fülle wichtiger Aufsätze besonders derjeni- ral-konservative Philosophen (Hermann ge des bekannten Wirtschafts- und Sozial- Lübbe, Odo Marquard oder Robert Spae- theoretikers Meinhard Miegel. Die erhellen- mann) erweisen dem Kollegen aus dem ehe- de Stellungnahme sensibilisiert die Leser für maligen Schülerkreis Joachim Ritters die die Unausweichlichkeit der Globalisierung Ehre. Konservative Zeitgeistkritiker (Ernst und ihrer kaum übersehbaren Konsequen- Nolte, Christa Meves etc.) sind ebenso mit zen. Gerade in den traditionellen Wohl- von der Partie wie der Altlinke Johano standsländern Europas, so der Tenor des Strasser, der sich über das Thema »men- Verfassers, werde die Rivalität mit Arbeit- schengerechte Religiosität« äußert. Zur in- nehmern aus fernen Regionen weithin un- ternationalen Prominenz der Mitwirkenden terschätzt, ganz nach dem Motto: Wir haben gehören der ehemalige Gorbatschow-Bera- nie die Paria-Rolle auf dem Weltmarkt ein- ter Wjatscheslaw Daschitschew, der frühere genommen und werden es auch nie tun! An- italienische Kultusminister Rocco Buttiglio- gesichts vieler (Kosten-)Vorteile etwa der ne, der vormalige polnische Außenminister aufsteigenden asiatischen Nationen könne Wladyslaw Bartoszewski oder der öster- man sich da nicht sicher sein. reichische Publizist Friedrich Romig. Lang Wer den in toto außerordentlich ergiebi- ist die Liste der prominenten Mitverfasser, gen Band aus der Hand legt, dürfte sich die hier namentlich nicht alle aufgeführt nicht nur über den Gewinn an Erkenntnis- werden können. Der Sammelband wird mit sen freuen. Gleichfalls lässt eine Ankündi- einer Würdigung aus russischer Sicht be- gung das Herz höher schlagen: In den schlossen. Sie stammt aus der Feder Anatolij nächsten fünf Jahren sollen einige der gut Frenkins, eines einflussreichen Mitgliedes besuchten Hohenheimer Vorlesungen des der Moskauer Akademie der Wissenschaf- Philosophen veröffentlicht werden, in Kür- ten, der die Wichtigkeit der Rohrmo- ze eine mit dem Titel Kann die Moderne das ser’schen Gedankengänge, insbesondere für Christentum überleben? Oder: Kann die sein Heimatland, nicht lange nach der Wen- Moderne ohne das Christentum überleben?. de in Osteuropa entdeckte und dort be- So bleibt zu hoffen, dass der oft Angegriffe- kanntmachte. ne noch zu der Ehre kommt, die ihm ge- Es ist bei einem derartigen Werk trivial, bührt. Auf diese Weise setzte sich das Motto festzustellen, dass die Güte der Beiträge un- der Festgabe Tamen. Gegen den Strom letzt- terschiedlich ist. Nicht alle haben die Quali- lich doch durch. tät des Textes des vor über zehn Jahren ver- storbenen Ökologie-Vordenkers Rudolf Felix Dirsch