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Forum 2019 (PDF, 7MB)

Forum 2019 (PDF, 7MB)

Ausgabe 2019

ForumDas Fachmagazin des Bundesarchivs

AUFBEWAHREN ERSCHLIESSEN BEREITSTELLEN RESTAURIERENÜBERNEHMEN KONSERVIEREN SICHERN DIGITALISIEREN ORDNEN BEWERTEN PUBLIZIEREN AUFBEWAHREN EDIE- ERSCHLIESSEN BEREITSTELLEN RESTAURIEREN KONSER- POTSDAM KOBLENZ FRANKFURT AACHEN-KORNELIMÜNSTERPOTSDAM BERLIN FREIBURG KOBLENZ RASTATT FRANKFURT BAY- AACHEN-KORNELIMÜNSTER FREIBURG RASTATT BAY- RESTAURIEREN KONSERVIEREN DIGITALISIEREN PUBLIZIERENAUFBEWAHREN EDIEREN INGESTIEREN ERSCHLIESSEN SPEI BEREITSTELLEN- RESTAURIEREN KONSERVIEREN DIGITALISIE- KORNELIMÜNSTER FREIBURG RASTATT BAYREUTH BONNKORNELIMÜNSTER ST. AUGUSTIN-HANGELAR FREIBURG HOPPEGARTEN RASTATT BAYREUTH LUDWIGSBURG ST. AUGUSTIN-HANGELAR HOPPEGARTEN LUDWIGSBURG EDIEREN INGESTIEREN SPEICHERN MIGRIERENRESTAURIEREN ÜBERNEHMEN KONSERVIEREN SI- DIGITALISIEREN PUBLIZIEREN EDIEREN INGESTIEREN BONN ST. AUGUSTIN-HANGELAR HOPPEGARTEN LUDWIGSBURG ST.COSWIG AUGUSTIN-HANGELAR MERSEBURG BARBY HOPPEGARTEN DORNBURG LUDWIGSBURG COSWIG MERSEBURG BARBY DORNBURG ÜBERNEHMEN SICHERN ORDNEN BEWERTEN AUFBEWAHRENEDIEREN ERSCHLIESSEN INGESTIEREN SPEICHERNBEREITSTELLEN MIGRIEREN RESTAURIE ÜBERNEHMEN- SICHERN ORDNEN COSWIG MERSEBURG BARBY DORNBURG LUDWIGSBURGPOTSDAM BERLIN COSWIG KOBLENZ MERSEBURG FRANKFURT BARBY AACHEN-KORNELIMÜNSTER DORNBURG POTSDAM BERLIN ERSCHLIESSEN BEREITSTELLEN RESTAURIERENÜBERNEHMEN KONSERVIEREN SICHERN ORDNEN DIGITALISIEREN BEWERTEN PUBLIZIEREN AUFBEWAHREN EDIEREN ERSCHLIESSEN BEREITSTELLEN RESTAU- DAM BERLIN KOBLENZ FRANKFURT AACHEN-KORNELIMÜNSTERPOTSDAM BERLIN FREIBURG KOBLENZ RASTATT FRANKFURT BAYREUTH AACHEN-KORNELIMÜNSTER BONN FREIBURG RASTATT BAYREUTH KONSERVIEREN DIGITALISIEREN PUBLIZIEREN EDIERENERSCHLIESSEN INGESTIEREN BEREITSTELLEN RESTAURIEREN KONSERVIEREN DIGI- MÜNSTER FREIBURG RASTATT BAYREUTH BONN KORNELIMÜNSTERST. AUGUSTIN-HAN FREIBURG- RASTATT BAYREUTH BONN ST. AUGUS- INGESTIEREN SPEICHERN MIGRIEREN ÜBERNEHMENKONSERVIEREN SICHERN DIGITALISIEREN ORDNEN BE- PUBLIZIEREN EDIEREN INGESTIEREN SPEI- AUGUSTIN-HANGELAR HOPPEGARTEN LUDWIGSBURG COSWIGAUGUSTIN-HANGELAR MERSEBURG BARBY HOPPEGARTEN DORNBURG LUDWIGSBURG COSWIG MERSEBURG BARBY DORNBURG SICHERN ORDNEN BEWERTEN AUFBEWAHREN INGESTIERENERSCHLIESSEN SPEICHERN BEREITSTELLEN MIGRIEREN RESTAURIEREN ÜBERNEHMEN KONSERVIE SICHERN- ORDNEN BEWERTEN AUFBEWAHREN COSWIG MERSEBURG BARBY DORNBURG POTSDAM BERLINCOSWIG KOBLENZ MERSEBURG FRANKFURT BARBY AACHEN-KORNE DORNBURG POTSDAM- BERLIN KOBLENZ FRANKFURT BEREITSTELLEN RESTAURIEREN KONSERVIERENORDNEN DIGITALISIEREN BEWERTEN PUBLIZIEREN AUFBEWAHREN EDIEREN ERSCHLIESSEN INGESTIEREN BEREITSTELLEN RESTAURIEREN KONSERVIEREN DI- KOBLENZ FRANKFURT AACHEN-KORNELIMÜNSTERBERLIN FREIBURG KOBLENZ RASTATT FRANKFURT BAY- AACHEN-KORNELIMÜNSTER FREIBURG RASTATT DIGITALISIEREN PUBLIZIEREN EDIEREN INGESTIERENBEREITSTELLEN SPEICHERN MIGRIEREN RESTAURIEREN KONSERVIEREN DIGITALISIEREN PUBLIZIEREN EDIEREN INGESTIEREN FREIBURG RASTATT BAYREUTH BONN ST. AUGUSTIN-HANGELARFREIBURG HOPPEGARTENRASTATT 100 JAHRE LUDWIGSBURG REICHSARCHIV COSWIG BAYREUTH MERSEBURG BONN ST. AUGUSTIN-HANGELAR HOPPEGARTEN LUDWIGS- SPEICHERN MIGRIEREN ERSCHLIESSEN BEREITSTELLENDIGITALISIEREN EDIEREN PUBLIZIEREN EDIEREN INGESTIEREN SPEICHERN MIGRIEREN HANGELAR HOPPEGARTEN LUDWIGSBURG COSWIGBAYREUTH MERSEBURG BONN ST.BARBY AUGUSTIN-HANGELAR DORNBURG HOPPEGARTEN LUDWIGSBURG COSWIG MERSEBURG BAR- EDIEREN WWW.BUNDESARCHIV.DE DIGITALISIERENSPEICHERN PUBLIZIEREN MIGRIEREN ÜBERNEHMENEDIE- SICHERN ORDNEN BEWERTEN AUFBEWAH- MERSEBURG BARBY DORNBURG POTSDAM BERLIN KOBLENZLUDWIGSBURG FRANKFURT COSWIG MERSEBURG BARBY DORNBURG POTSDAM

2 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Vorwort

„100 Jahre Reichsarchiv“ – das ist ein 100 Jahre deutsche ­Archivgeschichte etwas gewagter und verkürzter Titel für konnten auf der Konferenz vom 22. und eine Fachkonferenz des Bundesarchivs. 23.10.2019 selbstverständlich nicht bis Darüber räsonierte auch die Frankfur- in alle Details ausgeleuchtet werden – ter Allgemeine Zeitung in ihrem Arti- dies hätte einer mehrtägigen Tagung kel vom 26.10.2019, der mit Blick auf bedurft. Dennoch ist es den Vortragen- das Grußwort der Kulturstaatsministe- den und Diskutanten gelungen, einen rin (siehe den nachfolgenden Beitrag) Bogen zu spannen und deutlich zu konstatiert: „Es kommt nicht oft vor, machen, dass bei der Beschäftigung mit dass eine Behörde der Bundesrepublik der Geschichte der Archive auf natio- Glückwünsche zu ihrem hundertjähri- naler Ebene immer auch die politische gen Bestehen empfängt.“ Geschichte und die Geschichte unserer Gesellschaft mitreflektiert wird. Schon Um ganz präzise zu sein, hätten wir die die Gründung des Reichsarchivs war ein Veranstaltung so benennen müssen: bewusst politischer Akt, der sich vom „Konferenz anlässlich des 100. Jahres- Vorgehen in anderen Staaten unter- tages der Gründung des Reichsarchivs“. schied. Die zentralen deutschen Archive Abgesehen davon, dass diese Formulie- wurden und werden bis heute selbst- rung wenig griffig ist, hat der gewählte verständlich auch massiv von histori- Titel im Grunde aber seinen Zweck schen Einschnitten und Wendepunkten erfüllt, denn er führte unmittelbar hin geprägt, weshalb auf der Tagung mit- zu der Frage nach Kontinuität und Brü- unter sogar von einem permanenten chen in der Geschichte der zentralen Ausnahmezustand die Rede war. deutschen Archive seit 1919. Und der Gründung des Reichsarchivs zu ge- Eine Reihe von – vorher gar nicht expli- denken bedeutet auch, den Beginn von zit formulierten – Leitfragen haben die fachlicher Archivarbeit auf der obersten auf der Konferenz gehaltenen Vorträge Ebene des deutschen Zentralstaates in bis hin zur Podiumsdiskussion beglei- Erinnerung zu rufen, der mit Sicherheit tet: Wie sehen wir uns selbst, und wie Fragen aufwirft, dessen wir uns aber werden wir von außen gesehen? Welche nicht schämen müssen. Wenn „100 Jahre Bedeutung haben die zentralen Archive Gründung des Reichsarchivs“ denn auch für die Gesellschaft ihrer Zeit, und wel- nur im übertragenen Sinne „100 Jahre che Erwartungen hat die Gesellschaft an Bundesarchiv“ bedeutet, so stellen wir die Archive? Können wir diesen Erwar- uns doch bewusst in die Tradition des tungen auch in Zukunft gerecht wer- Reichsarchivs als erstem deutschen den? Wo liegen die Grenzen der aktuell Zentralarchiv und stellen uns der damit stark eingeforderten Transparenz beim verbundenen Verantwortung. Zugang zu Archivgut? Wie ist es um die Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 3

Einflussnahme der Politik auf die archi- wöhnlichen Räumlichkeiten Gastrecht vische Arbeit bestellt? Dabei wurde der gewährt und an vielen Ecken und En- „nationale“ Befund auch eingeordnet den Unterstützung geleistet, nachdem in die ausländische Perspektive, nicht die immer noch im Umbau befindlichen zuletzt am Beispiel Russlands. Gebäude des Bundesarchivs in Ber- lin-Lichterfelde für die Durchführung Die Veranstaltung des Bundesarchivs der Veranstaltung nicht genutzt wer- ist auf ein breites Interesse weit über den konnten. Die in diesem Heft abge- die engere Fachcommunity hinaus druckte Bilderstrecke vermittelt einen gestoßen; das freut uns sehr und unter- Eindruck von der besonderen Atmo- streicht die Berechtigung unseres An- sphäre an diesem prominenten Ort im satzes. Allen, die der Tagung beigewohnt Zentrum . haben, bietet das vorliegende Heft die Dr. Michael Hollmann, Möglichkeit, das Gehörte noch einmal Präsident des Bundesarchivs nachzulesen. Mit der Publikation aller Beiträge möchten wir aber natürlich auch einen weiteren Kreis von Perso- nen erreichen, die nicht in Berlin dabei sein konnten, aber an der Frage von Kontinuitäten und Diskontinuitäten im deutschen Archivwesen und an der Wechselwirkung von Archiv- und Ge- sellschaftsgeschichte interessiert sind. Dem Anliegen unserer Fachzeitschrift „Forum“ gemäß soll damit die fachliche Diskussion belebt und auf eine aktuelle Grundlage gestellt werden.

Allen Referentinnen, Referenten und Diskutanten gebührt ein herzlicher Dank für ihre niveauvollen und inspirieren- den Beiträge und ihre Bereitschaft, diese für die Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen. Ein besonderer Dank gilt dem Deutschen Historischen Museum und namentlich seinem Präsidenten, Herrn Prof. Dr. Raphael Gross. Das DHM hat uns bereitwillig in seinen außerge- 4 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Inhalt

Monika Grütters Grußwort anlässlich des ­Festaktes „100 Jahre Reichsarchiv“ am 22. Oktober 2019 im Deutschen Historischen Museum in Berlin 7

Jörn Leonhard Geschichtskämpfe: Die Auseinandersetzung um die Kriegsschuld und die Gründung des Reichsarchivs nach dem Ersten Weltkrieg 13

Michael Hollmann Die Gründung des ­Reichsarchivs im Jahre 1919 35

Markus Pöhlmann Das Reichsarchiv und das Militär 49

Sven Kriese Reichsarchiv, Preußische Archivverwaltung und Preußisches Geheimes Staatsarchiv 57 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 5

Vladimir Tarasov Bestände des ehemaligen Reichsarchivs im Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGVA) – ­Entstehung, Inhalt, Nutzung 75

Peter Ulrich Weiß Kontinuität der Experten? Zu personellen NS-Belastungen im Bundesarchiv und im Deutschen Zentralarchiv der DDR 83

Simone Walther-von Jena Das Zentrale Staatsarchiv der DDR 95

Andrea Hänger Die Geschichte des Bundesarchivs 107

Zusammenfassung der Podiumsdiskussion 119

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 7 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Monika Grütters Grußwort anlässlich des ­Festaktes „100 Jahre Reichsarchiv“ am 22. Oktober 2019 im Deutschen Historischen Museum in Berlin

00 Jahre sind ein stolzes Alter – „Ohne Erinnerung gibt es keine Kultur. nicht nur für einen Menschen, Ohne Erinnerung gäbe es keine Zivilisa- sondern auch für eine Institu- tion, keine Gesellschaft, keine Zukunft.“ tion. So gibt ein 100-jähriges 1Jubiläum Anlass zu Rückschau und Ja, meine Damen und Herren, aus Erin- Erinnerung – ganz besonders natürlich, nerung erwachsen Identität und Zuge- wenn der Jubilar nicht nur den eigenen hörigkeit. Sie, lieber Herr Dr. Hollmann Werdegang im Gedächtnis hat, sondern und liebe Mitarbeiterinnen und Mit- auch Gedächtnis einer ganzen Nation arbeiter des Bundesarchivs, hüten mit ist. Um zu ermessen, wie bedeutsam, wie beeindruckender Expertise und gro- wahrhaft staatstragend diese Aufgabe ist, ßem Engagement das „Gedächtnis der muss man weder Archivar/Archivarin Nation“ und pflegen somit also auch sein, noch die Fachkonferenz besuchen, unser Selbstverständnis. Und während für die Sie, lieber Herr Dr. Hollmann, ein man bei einem hundertjährigen Jubilar sehr interessantes Jubiläumsprogramm in der Regel davon ausgehen muss, dass auf die Beine gestellt haben und das die Erinnerungen langsam verblassen, neben erhellenden Einblicken in die sorgen Sie mit Ihrer Arbeit dafür, dass Vergangenheit auch die Bedeutung der das nationale Gedächtnis von Tag zu Archive in der Gegenwart und für die Tag präziser und umfangreicher wird Zukunft beleuchtet. und die wachsende Fülle historischer Ereignisse in all ihren Details allgemein Die Bedeutung des Bundesarchivs, vor zugänglich bleibt. 100 Jahren gegründet als Reichsarchiv, kann man mit den Worten, die dem Das Bundesarchiv umfasst aktuell Schriftsteller Elie Wiesel zugeschrie- nicht weniger als rund 420 Kilometer ben werden, so auf den Punkt bringen: Akten, Tausende Filme und Millionen 8 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Fotos und Karten. Als Hüterinnen und Journalisten, aber auch für Privatperso- Hüter dieses Schatzes leisten Sie einen nen ein wertvoller, ein unverzichtbarer wichtigen Beitrag zum Verständnis der Partner. Manchmal verändern neue, Vergangenheit, zur Orientierung in der kleine Mosaiksteinchen das Gesamt- Gegenwart und zur Verständigung über bild, manchmal ergeben sich daraus die Zukunft. Mit Hilfe von Dokumen- völlig neue historische Erkenntnisse ten und Zeitzeugnissen führen Sie die und Geschichtsinterpretationen. Und Fäden individueller Geschichten zu- oft sind Sie es, liebe Archivarinnen und sammen, um, wie es der ehemalige Prä- Archivare des Bundesarchivs, die solche sident des Bundesarchivs Hans Booms Mosaiksteinchen zutage fördern. einmal formulierte hat, „am Teppich der Geschichte zu weben“. So wissen wir nun beispielsweise, dank Ihrer sorgfältigen Arbeit, was genau vor In den Ministerien arbeiten und weben Beginn des Mauerbaus in der Nacht viele täglich daran. Sie dokumentie- vom 12. auf den 13. August 1961 ge- ren ihre Arbeit in Briefen, Akten und schah und welchen Anteil das Minis- Urkunden, die – verwahrt im Bundes- terium des Innern der DDR und die archiv − im Rückblick auf historische zugehörige Volkspartei an der Planung Ereignisse auch Aufschluss über Ent- hatten: Das „Journal der Handlungen“, stehungskontexte und vor allem über das vor einiger Zeit in einem aus dem Motive und Gründe politischer Ent- DDR-Innenministerium stammenden scheidungen geben. und vom Bundesarchiv erschlossenen Aktenbestand gefunden wurde, gibt auf Im nationalen Gedächtnis auch und 153 handgeschriebenen Seiten in Minu- insbesondere das „politische Gedächt- tenangaben genau darüber Auskunft, nis“ zu sichern und wie die Grenzsper- dafür zu sorgen, dass rungen geplant und staatliches Handeln vollzogen wurden. transparent bleibt, Dafür zu sorgen, ist nicht nur eine dass staatliches Handeln Das Gedächtnis der gewaltige Aufgabe, transparent bleibt, Nation zu befragen, sondern auch eine lohnt sich aber auch große Verantwor- ist auch eine große für Privatpersonen. tung. Sie erfordert, ­Verantwortung. Sind es doch oft dass die Expertinnen nicht nur historische und Experten des Ereignisse, auf die Bundesarchivs his- die Dokumente im torische Dokumente und Materialien Bundesarchiv ein neues Licht werfen, zum einen bewerten und sie zum an- sondern auch persönliche Schicksale – deren so zugänglich machen, dass Ein- Schicksale der eigenen Großväter und ordnung und Erschließung der Quellen Urgroßväter beispielsweise. dann auch gelingen. Dafür steht insbesondere die Wehr- Ein solches Archiv ist natürlich ins- machtsauskunftsstelle, die Anfang des besondere für Wissenschaftlerinnen / Jahres ins Bundesarchiv übergegangen Wissenschaftler, Journalistinnen und ist. Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbei- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 9 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

ter konnten zahllose Schicksale vermiss- formuliert. Deshalb muss das nationa- ter Soldaten aufklären. Kriegskinder fan- le Gedächtnis für die Herausforderun- den so ihre Väter wieder. Witwen, Kinder gen des Informationszeitalters gerüstet und Enkel erfuhren, wo ihre Männer, sein. Reichs- und Bundesarchiv haben Väter und Großväter in Gefangenschaft in ihrer hundertjährigen Geschichte waren oder wo sie fielen. Angehöri- schon viele Hürden genommen: Von ge konnten an Gräbern Abschied neh- der Gründung des Reichsarchivs 1919 men. Und oft waren über die Gründung es auch nur ein paar der Nachfolgeorga- Zeilen, die Klärung nisation, des Bun- brachten: „Falls ich Reichs- und Bundes- desarchivs, 1952 bis hier nicht rauskom- archiv haben in ihrer hin zur Einrichtung me: Ich liebe dich ­hundertjährigen der Abteilung Mili- und sorg´ dafür, dass tärarchiv 1955 und unsere Tochter eine Geschichte schon viele der Eingliederung gute Ausbildung be- Hürden genommen. der zentralen Archi- kommt“, stand am ve der DDR nach der Ende eines Briefes in Wende hat sich un- Sütterlin geschrie- ser nationales Ge- ben, den die Tochter des Soldaten, der dächtnis immer wieder erneuert und diese letzten Zeilen an seine Frau ver- gewandelt. Heute ist das Bundesarchiv fasste, mit Hilfe der Deutschen Dienst- mit seinen 900 Mitarbeiterinnen und stelle entziffern konnte. Mitarbeitern und neun Dienstorten eine der größten nachgeordneten Einrich- Die Nachfrage nach den Schicksalen der tungen in meinem Geschäftsbereich. Väter und Urgroßväter hält an. Das Bun- Und es ist nicht nur der Unterlagenbe- desarchiv trägt noch immer wesentlich stand, der sich verändert und wächst; es zur Familienforschung bei. Viele wün- sind auch zusätzliche Aufgaben und An- schen sich – nachdem in etlichen Fa- forderungen, die neue, digitale Lösun- milien jahrzehntelang der Mantel des gen verlangen. Schweigens über die NS-Vergangenheit gelegt wurde – endlich Klarheit über Sie, lieber Herr Dr. Hollmann und Gesinnung und Handeln ihrer Vorfah- verehrte Mitarbeiterinnen und Mitar- ren. Diese Auseinandersetzung vieler beiter, stellen sich den Herausforde- Menschen mit ihrer Familiengeschich- rungen des Internetzeitalters und sind te trägt zur notwendigen Aufarbeitung mit Ihren Konzepten und Ideen Vor- der nationalsozialistischen Diktatur bei. bild auch für kleinere Archive: Über Gut, dass die NSDAP-Mitgliederkartei 45.000 Akten sind mittlerweile online vollständig digitalisiert werden konnte zugänglich. Sie reichen von Unterlagen und die elektronisch gestützte Recher- aus der Zeit der Weimarer Republik che inzwischen vieles vereinfacht. bis hin zu Quellen des Militärarchivs – darunter befinden sich beispielsweise „Ohne Erinnerung gäbe es keine Zivi- militärische Lagekarten des Ersten lisation, keine Gesellschaft, keine Zu- Weltkriegs, Fernschreiben und Befehle kunft“, so hat es, wie anfangs zitiert, rund um die Verschwörung des 20. Juli der Holocaustüberlebende Elie Wiesel 1944 und Einsatzberichte von Wehr- 10 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

machts-Infanterie-Divisionen, die an gespäht, verfolgt und drangsaliert wur- Massakern in Serbien und Griechen- den. Aber das Wichtigste ist: Mit der land beteiligt waren. Überführung der Akten in das Bundes- archiv wird deren Zugänglichkeit künf- So wird die Website des Bundesarchivs tig weiter erleichtert und verbessert. zum virtuellen Geschichtsbuch, auf das alle Interessenten ortsunabhängig zu- Ob es um die Einsicht in die Stasi-Ak- greifen können. Der einfache digitale ten geht, um die Recherche der eigenen Zugang ist eine große Errungenschaft. Familiengeschichte oder um die Aufklä- Er verlangt aber gerade bei jüngeren rung der Hintergründe politischer Ent- Dokumenten ein verantwortungsvolles scheidungen: Neue Erkenntnisse im De- Austarieren zwischen Schutz und Zu- tail schärfen immer auch das Bild vom gänglichkeit, zwischen Informations- großen Ganzen. Unsere Demokratie, un- freiheit, Datenschutz und Urheberrecht. sere verfassungsrechtlich garantierten Wie auch der Umgang mit originär digi- Freiheiten, unser Selbstverständnis als talen Unterlagen und die Langzeitarchi- Partner in Europa – sie alle sind das Er- vierung erfordert er Weichenstellungen, gebnis historischer Erfahrungen, ermög- für die wir 2017 mit der Novellierung licht durch die systematische Aufarbei- des Bundesarchivgesetzes eine solide tung der wechselvollen Vergangenheit Grundlage geschaffen haben. unseres Landes, ermöglicht auch durch Ihre Arbeit, liebe Mitarbeiterinnen und Neue Herausforderungen ergeben sich Mitarbeiter des Bundesarchivs. „Ohne auch aus der Übernahme der Stasiun- Erinnerung (…) keine Zukunft“: Im Sin- terlagen, die bis 2021 erfolgen soll. In Zu- ne der Worte Elie Wiesels helfen Sie, kunft wird es möglich sein, die bislang liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter getrennt aufbewahrten Überlieferun- des Bundesarchivs, Lehren aus der Ge- gen zur DDR-Geschichte im Stasi-Un- schichte zu ziehen. Damit tragen Sie zu terlagen-Archiv und im Bundesarchiv einer friedlichen und demokratischen in einem gemeinsamen Archivzentrum Zukunft bei. Dafür danke und dazu gra- in Berlin-Lichtenberg zu recherchieren tuliere ich Ihnen von Herzen. Alles Gute und einzusehen. Davon profitieren Wis- zum 100-jährigen Bestehen! senschaftlerinnen und Wissenschaftler, Prof. Monika Grütters MdB Journalistinnen und Journalisten, vor ist die Beauftragte der Bundesregierung allem aber all jene, die von der Stasi aus- für Kultur und Medien. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 11 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 13 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Jörn Leonhard Geschichtskämpfe: Die Auseinandersetzung um die Kriegsschuld und die Gründung des Reichsarchivs nach dem Ersten Weltkrieg

Einleitung: Die Emotionali- len Vertreter des Deutschen Reiches, sierung der Kriegsschuld schließlich zu ihren offiziellen Plätzen Mehr als tausend Menschen waren am in einer Ecke des Saales geleitet. Zwi- 28. Juni 1919 zur Unterzeichnung des schen den Delegierten Japans und Uru- Versailler Vertrags im Spiegelsaal des guays nahmen sie Platz. Selbst dieser Königsschlosses anwesend, der in drei kurze Moment des 28. Juni 1919 war bis Zonen aufgeteilt war. An einem Ende an die Grenze des Absurden symbolisch drängelten sich die Vertreter der inter- aufgeladen. In seinen Erinnerungen be- nationalen Presse, die aus der Zeremo- richtete Hermann Müller von französi- nie einen globalen Medienmoment ma- schen Zeitungsartikeln, die sich vor der chen sollten, am anderen saßen zum Zeremonie in allen Details ausmalten, letzten Mal die internationalen Dele- „die Unterschriften mit einem beson- gationen. In der Mitte befand sich eine deren Federhalter vollziehen zu lassen, „hufeisenförmige Tafel“ für die Reprä- den die elsass-lothringischen Verbände sentanten der Entente und der Vereinig- Frankreichs und der französischen Ko- ten Staaten – noch einmal die Hierarchie lonien gestiftet hätten“. Müller stellte der Sieger betonend. Genau in der Mitte seine Reaktion als symbolische Selbst- nahm der französische Premierminis- behauptung auf einen letzten Versuch ter Georges Clemenceau als Gastgeber der wahrgenommenen Demütigung und Vorsitzender der Friedenskonferenz Deutschlands vor den Augen der Welt Platz. Davor war, in den Worten des bri- dar. So habe er seinen eigenen Füllfe- tischen Diplomaten Harold Nicolsons, derhalter nach Versailles mitgebracht – „wie eine Guillotine, der Tisch“ platziert, anders als , der „aus dem „an dem die Unterzeichnung vor sich Hotel einen gewöhnlichen 5-Pfen- gehen soll“. Der Effekt der Menge erin- nig-Federhalter“ mitgenommen habe, nerte Nicolson an die Spannung des Pu- „den er in Zeitungspapier rollte und in blikums vor einem Konzert.1 seine Gehrocktasche steckte. Er zog ihn erst heraus, als wir aufgerufen wurden Vom Protokollchef der Friedenskonfe- und damit unterzeichnete er.“ Wie alle renz, William Martin, wurden Hermann vorhergehenden direkten Treffen der Müller und Johannes Bell, die offiziel- Deutschen mit den Siegermächten war 14 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

dieser Moment von der Nicht-Kommu- französischen Kriegsopfer werden – sie nikation geprägt, deren Konsequenz da- gaben durch ihre entstellten Physiogno- rin bestand, dass den geringsten Details mien dem Krieg erst recht ein Gesicht und Gerüchten plötzlich eine enorme und erhöhten dadurch stellvertretend Bedeutung zugewiesen wurde. Müllers das Gewicht der Schuldfrage wie die Bericht beleuchtete diese Eigendyna- Erwartungen an den Frieden.3 mik, die in vielen französischen Zeitun- gen wiedergegeben wurde – allerdings Diese hier nur skizzierte Problematik in karikaturistischer Weise. So druckte verweist auf den besonderen Komplex eine Pariser Zeitung eine Zeichnung mit der Kriegsschuld, der unmittelbar mit der Unterschrift „Das letzte Manöver der der Entstehungsgeschichte des Reichs- Boches: Hermann Müller unterzeichnet archivs vor 100 Jahren im Kontext des mit Geheimtinte.“2 Versailler Vertrags zusammenhing – in einem engeren, institutionellen, aber Die in Bildern symbolisch verdichte- auch einem weiteren Sinne. Einerseits te Emotionalisierung des Politischen, war dessen Gründung eine direkte Folge die in dieser skurrilen Szene aufschien, des Versailler Vertrags: Weil Artikel 160 prägte das Kriegsende und die Suche die Auflösung des Großen Generalstabs nach einem stabilen Frieden nach 1918, anordnete, mussten dessen Bestände an und sie erklärte in besonderer Wei- militärischen Archivalien einer neuen se die deutsche Wahrnehmung dieser Behörde zugeordnet werden. In diesem Zeitenwende. Dabei unterschied etwas Zusammenhang schlug General Hans Grundlegendes die Verhandlungen in von Seeckt der Reichsregierung im Juli Paris ab Januar 1919 von allen früheren 1919 vor, die Kriegsgeschichtliche Abtei- Friedenskonferenzen und Friedensver- lung in ein Reichsarchiv umzuwandeln. trägen der neueren Geschichte wie in Seeckt kam als Leiter der militärischen Münster und Osnabrück 1648 oder in Sachverständigenkommission der deut- Wien 1815. Denn am 28. Juni 1919 kam schen Friedensdelegation in Paris und es im Spiegelsaal zu einer Szene, die ex- ab Oktober 1919 erstem Chef des neu emplarisch für die emotionale Aufla- gegründeten Truppenamts als Nachfol- dung der Friedensordnung durch mora- georganisation des durch die Bestim- lische Implikationen von Schuld stand. mungen des Friedensvertrags aufgelös- Bevor man die deutsche Delegation in ten Generalsstabs große Bedeutung in den Saal führte, wurden fünf in ihren dieser Übergangsphase zu. Andererseits Gesichtern schwer verletzte französi- standen Ursprünge und Gründung des sche Soldaten in der Nähe des Tisches Reichsarchivs 1919 exemplarisch für platziert, an dem die deutschen Politiker den zeitgenössischen Umgang mit his- ohne jede Aussprache die Dokumente zu torischen Beständen, für deren Relevanz unterzeichnen hatten. Der französische in den Konflikten um die Deutungsho- Premier Clemenceau unterstrich diese heit über den Frieden von Versailles und Geste noch, indem er den „cinq gueules den Kampf um die den Deutschen un- cassés“ vor dem Eintritt der deutschen terstellte Kriegsschuld.4 Darin liegt die Delegation stumm die Hände schüttel- paradigmatische Bedeutung dieses Bei- te. Auf Hunderttausenden von Bildpost- spiels. Aus der Erfahrung von Krieg und karten sollten die fünf Soldaten nach Frieden nach 1918 verriet es etwas über dem Friedensschluss zum Symbol der die Mechanismen der Inwertsetzung, Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 15 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

die Instrumentalisierung und Instru- die Begründung der Reparationsforde- mentalisierbarkeit von historischen Be- rungen sowie die Ansätze für ein inter- ständen und kulturellem Wissen, über nationales Strafrecht, das sich gegen die die politische und gesellschaftliche Be- führenden Repräsentanten der unterge- deutung, den Stellenwert von Archiven gangenen Monarchie und Wilhelm II. in einer dynamisch und krisenhaft ver- persönlich wandten, verwiesen auf einen änderten Welt. veränderten politischen Stellenwert der Kriegsschuld. Der Kampf um die Meinungen im Krieg und die Moralisierung Ihre Ursprünge reichten jedoch viel der Politik seit dem Kriegsende weiter zurück. Bereits während des Mit den sich abzeichnenden Bedingun- Krieges war unter den Bedingungen der gen des Friedensvertrags verschärfte dauernden Mobilisierung der Heimat- sich seit Anfang 1919 die deutsche De- fronten, der inneren Erschöpfung und batte um die Kriegsschuld. Standen die sozialen Spannungen um die gerechte Diskussionen in Paris wesentlich un- Verteilung der Kriegslasten ein Schuld- ter dem Eindruck der Begründung für komplex entstanden, dessen Symptome die Reparationen, so wirkte die Kriegs- die Suche nach „Verrätern“, „Drückeber- schulddebatte in Deutschland innen- gern“ und „Spekulanten“, die Herrschaft politisch hoch polarisierend. Um ihre des Verdachts und die permanente Zu- emotionale Wucht nachvollziehen zu spitzung von inneren Feindbildern ge- können, muss man ihre frühen Ur- wesen war. Stärker als zuvor stand die sprünge verstehen, denn nicht erst auf Politik aller Kriegsstaaten im Zeichen der Friedenskonferenz in Paris ging dieser Entwicklung, die den Krieg ei- es um den Zusammenhang zwischen nerseits als Verbrechen erscheinen ließ Schuld und Schulden.5 und eine rechtliche Sanktion gegen die Urheber nahelegte und andererseits ei- Der italienische Historiker Benedetto nen enormen Emotionalisierungsschub Croce wie der deutsche Soziologe Max bedeutete. Zumal in Deutschland prägte Weber waren beide Repräsentanten dies die Wahrnehmung von Verrat und der liberalen Bildungselite ihrer Län- Demütigung. Jede Konzession erschien der. Aufmerksam hatten sie den Krieg vor diesem Hintergrund wie ein Verrat und seine Auswirkungen auf die Ge- an den unzähligen Kriegsopfern.6 sellschaften verfolgt. Aus unterschiedli- chen Perspektiven begriffen sie, was ein Im Juni 1919, also genau im Monat der besonders schweres Erbe des Krieges Unterzeichnung des Versailler Frie- werden und die Suche nach innerem densvertrags, identifizierte Croce in der und äußerem Frieden belasten sollte: Kriegspublizistik zwei Idealtypen: „Ver- ein neues Verständnis von Schuld und antwortlichkeitsjäger“ und politische eine aggressive Suche nach Schuldigen, „Sittenrichter“ dominierten danach die sei es für den Ausbruch des Krieges im Suche nach den Schuldigen am Krieg Sommer 1914, die Niederlage im Herbst und leisteten einer bislang ungekann- 1918 oder die in Deutschland als unge- ten Moralisierung der Politik Vorschub, recht empfundenen Bestimmungen der indem der Schuldbegriff vom Einzelnen Friedenskonferenz. Die auf Deutsch- auf ein ganzes Volk ausgedehnt und zu- land bezogenen Strafbestimmungen, gleich personalisiert werde. Dagegen be- 16 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

stand Croce darauf, dass ein Volk „nicht Weber und sein Bruder Alfred die Be- für seine Vergangenheit verantwortlich“ mühungen des Prinzen Max von Baden, sei, „die ihm diese oder jene Gegenwart der sich entschieden gegen öffentliche anweist und in dieser oder jener Art Schuldeingeständnisse auf deutscher sein Handeln bestimmt und gestaltet“. Seite wandte, um so milde Friedensbe- Dennoch nehme überall die Zahl derer dingungen eines „Wilson-Friedens“ zu zu, „die sich darauf verlegt haben, über erreichen. Wichtig sei die selbstbewuss- die kämpfenden Staaten und Völker ein te Verteidigung, um die neue Republik sittliches Urteil zu fällen“. nicht mit einem kollektiven Makel zu belasten.8 Bei den russischen Bolschewiki und ihrer programmatischen Öffnung der Mitten im langen Winter des Waffen- Archive nach dem Oktober 1917 habe stillstands, der Revolution und kurz man diesen Grundzug zuerst erkannt. nach der Eröffnung der Friedenskon- Sie hätten einen regelrechten Gerichts- ferenz hielt Max Weber am 28. Januar hof gebildet, der „alle Völker, im Namen 1919 seinen berühmten Vortrag „Politik der Moral, zur Verantwortung über ihre als Beruf“ und ging in ihm explizit auf Kriegsziele und zu deren Prüfung vor- die Frage der Schuld am Krieg und im lud, Schafe und Böcke sonderte“. Das Krieg ein. Was sich scheinbar auf die öffentliche Tribunal im Namen einer in Paris versammelten Siegermächte Ideologie habe das Arkanum der Diplo- bezog, konnten die Zuhörer und ab Juli matie verdrängt. Dahinter verbarg sich 1919 auch die Leser des Texts ebenso nichts weniger als ein Formwandel des auf die innere Situation der deutschen Politischen, denn der Irrtum all dieser Nachkriegsgesellschaft beziehen. We- Vorgänge bestand für Croce darin, „die ber mahnte, endlich damit aufzuhören, Politik als Moral zu behandeln, wäh- „nach einem Kriege nach dem ‚Schuldi- rend die Politik – das ist die einfache gen‘ zu suchen“. Es gebe ihn nicht, und Wahrheit – eben nur Politik und nichts alle Erfahrungen seit 1914 hatten We- anderes als diese ist“. Den Verantwor- ber davon überzeugt, dass es die „Struk- tungsjägern seiner eigenen Gegenwart tur der Gesellschaft“ sei, die „den Krieg warf Croce vor, damit aus der eigent- erzeugte“ – der Urheber des Weltkriegs lichen Verantwortung zu flüchten: konnte also nicht einfach ein Staat sein, „Wenn sie zum Beispiel die Kategorien dem man jetzt die Schuld zuwies.9 des Strafrechtes“ auf den deutschen Kaiser anwandten, „so schütteln sie die Vor allem plädierte Weber dafür, die Verpflichtung ab, Urteil und Strafe auf moralische und emotionale Aufladung sich selbst anzuwenden“ 7. durch eine Orientierung an Sachpro- blemen zu ersetzen. Die angemessene Angesichts von Niederlage, Revolu- Haltung müsse daher lauten: „Wir ver- tion und Waffenstillstand gewannen loren den Krieg – ihr habt ihn gewon- diese Moralisierung der Politik und nen. Das ist nun erledigt: nun lasst uns der gleichzeitige Anspruch der Sieger- darüber reden, welche Konsequenzen mächte auf rechtliche Sanktion für das zu ziehen sind und entsprechend den Verbrechen des Krieges für die deutsche sachlichen Interessen, die im Spiel wa- Gesellschaft eine dramatische Dynamik. ren, und – die Hauptsache – angesichts Mitte Dezember 1918 unterstützten Max der Verantwortung vor der Zukunft, die Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 17 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

vor allem den Sieger belastet.“ Weber tion der Niederlage und ideologische war überzeugt davon, dass der Streit um Polarisierung im Zuge der sogenann- „unaustragbare Fragen der Schuld in ten Dolchstoßlegende, zweitens als der Vergangenheit“ notwendigerweise versuchte Verrechtlichung der Politik nur neue politische Schuld hervorbrin- durch die Strafbestimmungen des Ver- ge. Mit Schrecken blickte er auf eine sailler Vertrags, drittens als langfristige Spirale von gegenseitigen Schuldvor- Moralisierung und Emotionalisierung würfen, die sich immer weiter selbst der Politik, die weit über 1919 hinaus fortsetzen und so jeden Anlauf zu ei- vom Schuld- und Verratskomplex be- nem demokratischen Neubeginn belas- stimmt bleiben sollte, sowie viertens als ten mussten. Bei Weber klang hier die „Krieg der Dokumente“, in dem Wissen- Idee des „wohltätigen Vergessens“ an, schaft und Öffentlichkeit mobilisiert die auf die Oblivionsklauseln frühneu- wurden. Und genau in diesem Zusam- zeitlicher Friedensverträge zurückging menhang kam den Archiven als kultu- und die seit dem Westfälischen Frieden rellen Wissensspeichern eine plötzlich von 1648 immer mit dem Prinzip der neuartige Rolle zu. Gleichrangigkeit aller Vertragspartner, also von Siegern und Besiegten, ein- Mit der Mobilisierung von Millionen hergegangen war. Der Krieg hatte nach von Menschen, der dauernden Anspan- dieser Vorstellung gleichsam ein Recht, nung der Kriegsgesellschaften und dem sittlich begraben zu werden, damit immer neu betonten Zusammenhalt nicht neues Unheil und immer neue zwischen Front und Heimat hatten sich Feindschaften aus ihm erwuchsen.10 bereits während des Krieges zahlreiche Verratsnarrative entwickelt. Sie spiegelten Als Weber Ende Januar 1919 „Politik die Angst wider, dass die Burgfriedens- als Beruf“ formulierte, bezog er seine schlüsse vom Sommer 1914 angesichts Forderung auf die Pariser Friedenskon- der immer höheren Opfer erodieren und ferenz und die neue deutsche Republik. die patriotischen Loyalitätsbekenntnisse Die Schuld am Ausbruch des Krieges brüchig werden könnten. Die Vorstellung oder an der Niederlage im Herbst 1918 ungleich verteilter Kriegslasten und des ließ sich je nach ideologischer Position Betrugs an der Nation durch angebliche instrumentalisieren. Das machte die „Drückeberger“ und „Profiteure“ hatte besondere Überzeugungskraft dieser die Frage nach Loyalität und Illoyalität Narrative aus, in denen sich nationale ständig zugespitzt und innergesell- Selbstbilder und historische Rechtfer- schaftliche Feindbilder entstehen las- tigungsmuster spiegelten. Deshalb war sen. Das war ein Kennzeichen in allen die Auseinandersetzung um Schuld und Gesellschaften gewesen, die den Krieg Verrat sehr viel mehr als nur ein Thema erlebt hatten. der in Paris verhandelten Außenpolitik oder der Innenpolitik der besiegten Im Moment der Niederlage verloren deutschen Gesellschaft. Sie wurde zu diese Verratsnarrative in den Siegernati- einem neuen Kulturkampf, der sich auf onen zunächst an Bedeutung, während unterschiedlichen Ebenen entfaltete in Deutschland die Dolchstoß-Meta- und die Kulturen des Politischen aller pher zur wichtigsten Erklärung für Nie- Nachkriegsgesellschaften tiefgreifend derlage und Revolution, ja überhaupt prägen sollte: erstens als Kompensa- zur ersten prominenten Erzählung des 18 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Übergangs vom Krieg zum Frieden wur- Im März 1919 analysierte der Theolo- de. Am 18. November 1919 griff Paul von ge und Publizist Ernst Troeltsch den Hindenburg als ehemaliger Chef der Mechanismus der Metapher, die den Dritten Obersten Heeresleitung vor dem inneren Feinden unterstellte antina- Parlamentarischen Untersuchungsaus- tionale Haltung, die politische Instru- schuss, der die Umstände des deutschen mentalisierung gegen die neue demo- Zusammenbruchs im Herbst 1918 klä- kratische Republik und die Funktion ren sollte, auf die dem britischen Gene- des Dolchstoß-Narrativs während der ral Frederick Maurice zugeschriebene Friedensverhandlungen der Sieger in Aussage zurück, die in einem Artikel der Paris, als sich der Verrat an der Nation „Neuen Zürcher Zeitung“ vom Dezem- aus Schwäche fortzusetzen schien: „Es ber 1918 wiedergegeben worden war: muss moralisch gegen die Mehrheit „Ein englischer General sagt mit Recht: gehetzt werden, gegen die Sozialdemo- ‚Die deutsche Armee ist von hinten er- kratie mit der Anklage der Vernichtung dolcht worden‘ […] Wo die Schuld liegt, des Reiches, gegen die Demokratie mit ist klar erwiesen. Bedürfte es noch eines dem Vorwurf, jüdisch, mammonistisch, Beweises, so liegt er in dem angeführten undeutsch und international zu sein, Ausspruch des englischen Generals und gegen beide mit dem Stichwort ‚an- in dem maßlosen Staunen unserer Fein- tinational‘.“ Vor allem wies Troeltsch de über ihren Sieg.“11 auf die Vervielfältigung des Dolch- stoß-Narrativs im Zeitalter der moder- Bereits im Winter 1918/19 war es zu nen Medien hin. Diese Kombination einer aggressiven deutschnationalen aus Entlastungsmotiv, moralischer Auf- Kampagne gekommen, als ein Artikel ladung und technisch-kommunikativer in der „Deutschen Tageszeitung“ vom Verbreitung erwies sich als Motor für 17. Dezember 1918 die Formulierungen den innergesellschaftlichen Konflikt: von Maurice aufgenommen und sie in- „Der Bürgerkrieg von rechts, der ‚weiße haltlich verzerrt hatte. Die deutsche Ar- Terror‘, ist nicht ausgeschlossen, und, mee sei „von der Zivilbevölkerung von wie schon immer im Zeitalter der Pres- hinten erdolcht“ worden. Neben Hin- se und des Telegraphen, ist dabei die denburg beteiligten sich als prominen- moralische Verhetzung das wichtigste te Akteure auch Oberst Max Bauer als Kriegsmittel.“13 politischer Berater Erich Ludendorffs und Ludendorff selbst an der Popula- Vor diesem Hintergrund wirkte die risierung dieser Erzählung, als er Ende seit Kriegsende verschärfte Debatte Februar 1919 mit einem Brief an den um die unterstellte Schuld Deutsch- führenden SPD-Politiker Philipp Schei- lands am Ausbruch des Krieges in Max demann auf dessen Vorwurf in seiner Webers Augen verheerend, und ent- Regierungserklärung vor der National- sprechend kritisch setzte er sich mit versammlung in Weimar reagierte, in jenen radikalen Linken auseinander, der er ihn als „Hazardeur“ bezeichnet die wie Kurt Eisner, Karl Kautsky und hatte. Der Alldeutsche Verband verab- Friedrich Wilhelm Foerster die Schuld schiedete am Ende seiner Tagung in Deutschlands betonten, um den von Bamberg am 16. Februar 1919 eine Re- ihnen geforderten demokratisch-repu- solution, die in mehr als 300.000 Exemp- blikanischen Neuanfang zu begründen. laren die Dolchstoßlegende aufnahm.12 Am 20. März 1919 äußerte sich Weber Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 19 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

dazu in der „Frankfurter Zeitung“ und unwiderruflich zu vollziehen – damit betonte die schwere Belastung, welche aber wurden die Archive jetzt zu einem von der Schulddiskussion für die deut- entscheidenden Reservoir der Überlie- sche Position und die junge Republik ferung, die sich zur politischen Instru- insgesamt ausgehen müsse.14 mentalisierung und dem Kampf um die Deutungshoheit in der Öffentlichkeit Die Auseinandersetzung um die unter- eignete. Das hatte immer zugleich eine stellte oder zugewiesene Kriegsschuld innen- und gesellschaftspolitische Di- hatte bereits zu Beginn des Krieges be- mension und bedingte eine außenpo- gonnen. Der Kulturkrieg hatte seit Au- litische Neupositionierung, wenn man gust 1914 die Organisation von Kriegs- auf bessere Ausgangsbedingungen auf sammlungen in Museen, Bibliotheken der Friedenskonferenz hoffte. und Archiven katalysiert. Die ungeheu- re Dynamik der öffentlichen Wahrneh- Vor diesem Hintergrund geriet die mung seit Kriegsende ist nur aus dieser Schuldfrage seit Herbst 1918 zum Mobilisierung von Wissenschaft und Zentrum der deutschen Perspektiven Öffentlichkeit seit Sommer 1914 und auf den künftigen Frieden und die gegenseitigen Propagandakampagnen Glaubwürdigkeit der Sieger, zumal des zu verstehen, an die man Ende 1918 amerikanischen Präsidenten Wilson. nahtlos anknüpfen konnte. Mit groß an- Innerhalb kürzester Zeit wurden jetzt gelegten Farbbüchern und Quellenpu- zahlreiche Institutionen und Orga- blikationen handelte es sich um einen nisationen mobilisiert, um nach dem regelrechten „Krieg der Dokumente“, Kriegsende im internationalen Wett- der weit über das Ende der Friedenskon- lauf um die Deutungshoheit bestehen ferenz hinausreichen sollte.15 zu können. Bereits im Dezember 1918 wurde im Berliner Auswärtigen Amt Diese Entwicklung hatte mit der Rus- zunächst das sogenannte „Spezialbüro sischen Oktoberrevolution und dem Bülow“ gegründet, aus dem in den Tabubruch der Bolschewiki eine neue kommenden Wochen und Monaten ein Dynamik gewonnen. Indem sie im No- weit verzweigtes Kriegsschuldreferat vember 1917 die diplomatischen Akten entstand, das systematisch Material für und Geheimverträge des Zarenreiches die deutsche Delegation auf der bevor- freigaben, versuchten sie das alte Regi- stehenden Friedenskonferenz zusam- me prinzipiell zu diskreditieren und das mentrug. eigene revolutionäre Selbstbewusstsein zu stärken. Zugleich waren sie davon Die Expansion des Kriegsschuldreferats überzeugt, dass der programmatische reflektierte nicht nur die fundamentale Bruch mit der Tradition der kapitalisti- Bedeutung des Schuldkomplexes in der schen und imperialistischen Diploma- deutschen Gesellschaft, sondern auch tie vor 1914 einen wichtigen Stimulus die Vielfalt von Multiplikatoren und Ka- für die Weltrevolution bedeutete. Ge- nälen, aber auch die alliierten Vorwür- rade Anhänger der radikalen Linken in fe, die sich bereits während des Krieges Deutschland nahmen diese Idee auf: In abgezeichnet hatten. 1929 schilderte ihren Augen bot die systematische Pu- der bekannte Staatsrechtler und Pazifist blikation von Aktenmaterial die Gele- Hermann Kantorowicz das umfassende genheit, den Bruch mit dem Kaiserreich Netzwerk des Kriegsschuldreferats als 20 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

eine riesenhafte Organisation, ein Exem- bereitung auf die Pariser Friedenskon- pel bürokratisch mäandernder Moder- ferenz begriff: eine gezielte Öffentlich- nität, die „über eigene parlamentarische, keits- und Pressearbeit. Dazu wurden diplomatische, offiziöse, wissenschaft- nationale und internationale Zeitungen liche, pädagogische, journalistische, mit entsprechendem Material versorgt, buchhändlerische, kaufmännische, mi- um die Vorwürfe der Siegermächte zu litärische, kirchliche Unterorganisa- entkräften. Insgesamt sollte das Referat tionen und Veranstaltungen“ verfüge. die vielen verschiedenen Bemühungen Dazu gehörten „Amtsstellen, Büros, Ver- zur Entlastung Deutschlands bündeln eine, Verbandsausschüsse, Verlagsbe- und so Meinungslenkung betreiben. triebe, Sammelwerke, Schriftenreihen, Aktenveröffentlichungen, Zeitschrif- Brockdorff-Rantzau versprach sich da- ten, Korrespondenzen, Ausstellungen, von, die Glaubwürdigkeit eines nach der Enqueten, Beleidigungsprozesse, Flug- Revolution demokratisierten Deutsch- blätterversand, Bearbeitung von Aus- lands in konkreten Friedensverhand- wanderern und Auslandsdeutschen, lungen zu verbessern und durch die Petitionen, Archive, Schulungswochen, internationale Presse die Siegermächte Kinoaufführungen, Vortragsreisen, öf- unter Druck zu setzen. Doch scheiter- fentliche Kundgebungen, Schriftenaus- te diese Taktik in Paris. Denn hier do- lage (in Wartesälen, Lesehallen, Kran- minierte die emotionale Zuspitzung kenhäusern und auf Dampfern) und so des Schuldvorwurfs. Sie dominierte die weiter, wobei überall die Kriegsschuld- deutsche Wahrnehmung des Friedens. propaganda teils als Haupt-, teils als Nicht die konkreten Beratungen in den Nebenzweck betrieben wird“16. Kommissionen, etwa zur Begründung des Artikels 231 des Versailler Vertrages Mit dem Kriegsschuldreferat bereite- aus der juristischen Logik der Reparati- te man sich im Auswärtigen Amt akri- onszahlungen, stand im Vordergrund, bisch darauf vor, dem seit November sondern eine moralisierte Politik, eine 1918 absehbaren dreifachen Vorwurf symbolische Politik der Demütigung. der Siegermächte gegenüber dem Deut- Sie reichte von der Stilisierung der Frie- schen Reich zu begegnen. Danach hät- denskonferenz als Tribunal über das den ten die Mittelmächte, aber vor allem Deutschen unterstellte Verbrechen des das Deutsche Reich, den Weltkrieg vor Krieges, über den Zusammenhang von 1914 geplant, im Sommer 1914 bewusst Schuld und Schulden in der Reparati- ausgelöst und dann unter Bruch völker- onsfrage und die Anklage Wilhelms II. rechtlicher Normen geführt, wie zumal bis zur Mantelnote der Alliierten vom die Verletzung der belgischen Neutrali- 16. Juni 1919 als Antwort auf die deut- tät und das Verhalten gegenüber der Zi- schen Gegenvorschläge zum Entwurf vilbevölkerung in den besetzten Gebie- des Friedensvertrags.17 ten gezeigt hätten. Wie in keinem offiziellen Dokument Dem Kriegsschuldreferat kam vor die- der Friedenskonferenz zuvor wurde der sem Hintergrund eine Aufgabe zu, die Krieg hier als deutsches Menschheits- der im Dezember neu berufene Chef verbrechen dargestellt. Die Siegermäch- des Auswärtigen Amtes, Graf Ulrich von te hielten es demnach „für erforderlich, Brockdorff-Rantzau als Teil seiner Vor- ihre Antwort mit einer scharf umrisse- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 21 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

nen Darlegung ihres Urteils über den In Paris wird um 4 [Uhr] endlich der Krieg zu beginnen, ein Urteil, welches FRIEDE unterzeichnet von Müller und tatsächlich und letzten Endes dasjenige Dr. Bell. Einfache Zeremonie.“19 Spiegel- der Gesamtheit der zivilisierten Welt te Andersens private Eintragung die Er- ist. Nach der Anschauung der alliierten leichterung vieler Deutscher nach den und assoziierten Mächte ist der Krieg, langen Wochen höchster Anspannung der am 1. August 1914 zum Ausbruch wider, strahlte bei anderen aus dem gekommen ist, das größte Verbrechen Kontrast zur bedrückenden Gegenwart gegen die Menschheit und gegen die der idealisierte August 1914 umso hel- Freiheit der Völker gewesen, welches ler. Harry Graf Kessler, der Flaneur des eine sich für zivilisiert ausgebende Na- Wilhelminismus, vermerkte in seinem tion jemals mit Bewusstsein begangen Tagebuch am 4. August 1919 aus Ber- hat.“ Hier entstand der Eindruck einer lin: „Heute vor fünf Jahren! … Nur fünf aggressiven Kontinuität der deutschen Jahre! Und doch ein Jahrhundert, das Politik, die alles daran gesetzt habe, zwischen damals und heute liegt: eine „zwischen den Nationen an Stelle der Weltepoche! Ich entsinne mich, dass Freundschaft Feindschaft und Argwohn wir uns scheuten, in Uniform über die zu säen“. Die Mantelnote machte diesen Straße zu gehen, wegen der Ovationen, Generalvorwurf zum Leitmotiv: „Das die wir lächerlich fanden.“20 Verhalten Deutschlands ist in der Ge- schichte der Menschheit fast beispiellos. Seit dem Frühjahr 1919 dominierte Die schreckliche Verantwortlichkeit, in der jungen deutschen Republik der die auf ihm lastet, lässt sich in der Tat- nach innen gewandte Hass auf die an- sache zusammenfassend zum Ausdruck geblichen Verräter, der die deutsche bringen, dass wenigstens sieben Milli- Gesellschaft und Politik spaltete. Die onen Tote in Europa begraben liegen, radikale Rechte machte aus dem Wi- während mehr als zwanzig Millionen derstand gegen die Bestimmungen des Lebende durch ihre Wunden und ihre Friedensvertrags von Anfang an einen Leiden von der Tatsache Zeugnis able- Kampf um die Ehre der Nation. Ihre De- gen, dass Deutschland durch den Krieg mütigung lastete man den Vertretern seine Leidenschaft für die Tyrannei hat der Republik an, ob in Weimar beim Be- befriedigen wollen.“18 schluss zur Annahme des Vertrags oder in Versailles bei der Unterzeichnung. Die Auseinandersetzung Zahllose Publikationen und bildliche um die Kriegsschuld als Trauma Darstellungen verunglimpften seit der Weimarer Republik und der Juni 1919 die politische Führung der Krieg der Dokumente Republik als feige Erfüllungsgehilfen Gestempelt war der Frieden genau 2,5 der Siegermächte. Im Entwurf einer Zentimeter hoch. Genau so groß waren „Anerkennungs-Urkunde für die zwei die Buchstaben, mit denen der Ingeni- Unterschreiber des Schandfriedens“, eur Nikolaus Andersen, der auf der Ger- entstanden nach dem 28. Juni 1919, wa- maniawerft in Kiel arbeitete, das Wort ren die angeblichen „Verräter“ Müller in sein Tagebuch stempelte: „Sonn- und Bell an ihrer rechten Hand an eine abend, 28. Juni 1919. Immer noch stark öffentliche Wand genagelt und wurden bedeckt. Sieht nach Regen aus, Tempe- von einer wütenden Menschenmenge ratur mehr zur milde [sic!] neigend […] mit Steinen beworfen.21 22 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Dass die Empörung über den Versailler stattdessen mit hohem Risiko auf einen Vertrag und die Ablehnung des Schuld- Siegfrieden gesetzt und am Ende alles vorwurfs keine integrative Wirkung verloren: „Deutschland hatte ja vier entfalteten, sondern die Polarisierung Jahre überhaupt keine politische Regie- der politischen Debatten noch einmal rung, sondern eine Militärdiktatur. Das steigerten, erwies sich exemplarisch in ist das Unglück des deutschen Volkes, den Debatten der Nationalversamm- dass es die Militärs allein herrschen und lung. Seit dem Sommer 1917 war der die Politik der ruhigen Vernunft und Ausweg aus dem Weltkrieg unmittelbar der sachlichen Erwägung nicht zu Wor- mit der konstitutionellen Entwicklung te kommen ließ.“ Daher hätten in letz- des Deutschen Reiches verknüpft ge- ter Konsequenz diejenigen den Krieg wesen. Dieser Zusammenhang setzte verloren, „welche den handgreiflichsten sich nun noch einmal fort, als die Nati- Möglichkeiten eines maßvollen und onalversammlung im Juli zunächst den würdigen Friedens immer wieder einen Friedensvertrag ratifizierte und dann unvernünftigen, trotzigen und verbre- die neue Verfassung verabschiedete. cherischen Eigensinn entgegenstellten. Elf Tage nach der Zeremonie im Spie- Sie haben mit ihren Agitationen und gelsaal des Schlosses von Versailles, Machtmitteln den Krieg verloren, weil am 9. Juli, wurde der Friedensvertrag Sie den Frieden, wo er dem deutschen von der Nationalversammlung mit Volke noch erträglich schien, leichtsin- 208 Stimmen aus Zentrum, SPD und nig weggeworfen haben.“ Den jetzigen USPD gegen 116 Stimmen der DDP, Frieden habe man akzeptieren müssen, DVP und DNVP ratifiziert. Das bürger- weil „Sie den Frieden, als es noch Zeit lich-liberale Lager wies damit jenen war, zurückgewiesen und zu Boden Parteien die Verantwortung für die gestampft haben, den Frieden, den Aus- Beendigung des Krieges zu, die nach gleich, der die alten Grenzen des Reichs 1871 immer wieder als „innere Reichs- aufrecht erhalten sollte, abgelehnt feinde“ stigmatisiert worden waren. Vor haben“. Die Parteien der Regierung der Verabschiedung der Verfassung am hätten durch den Waffenstillstand und 31. Juli kam es am 25. Juli zu einer aufse- den Frieden daher für die Schuld der henerregenden Debatte, die sich um die anderen gebüßt. „Diese Schuld“, so stell- Schuldfrage drehte.22 te Erzberger unter dem stürmischen Beifall des Zentrums und der SPD fest, Nachdem Albrecht von Graefe als Spre- „werden Sie niemals los, und wenn cher der DNVP den Regierungsparteien Sie hundertmal ihre Hände durch ein vorgeworfen hatte, das Reich seit 1917 ‚Nein‘ in Unschuld waschen“23. systematisch in den Untergang getrie- ben zu haben, reagierte der führende Doch die Auseinandersetzung mit Zentrumspolitiker dem Versailler Vertrag ging weit über mit einer bemerkenswerten Rede, in die politische Auseinandersetzung im der er das Grundproblem Deutschlands Parlament hinaus und prägte Wissen- in der unkontrollierten Machtfülle des schaft und Öffentlichkeit. Sowohl die Militärs erkannte. Militärführung und deutschen Nobelpreise des Jahres 1918 Regierung hätten sich bereits 1917 ge- als auch die Gründung der neuen Uni- weigert, die von der Reichstagsmehrheit versität zu Köln im Sommer 1919, nach geforderte Friedenspolitik umzusetzen, dem Verlust Straßburgs nun die west- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 23 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

lichste deutsche Universität, aber auch stitution in ein politisches Forum, das das Bauhaus, die Volkshochschulen und sich außerhalb des Parlaments instru- die Gründung der Notgemeinschaft der mentalisieren ließ.28 deutschen Wissenschaft 1920 ließen sich als Teil einer kulturellen Selbstbe- Auch das Kriegsschuldreferat des Aus- hauptung deuten. Im Zentrum relevan- wärtigen Amtes setzte seine Arbeit fort ter Wissenschaften standen dabei nicht und verknüpfte dabei außen- und in- zufällig schon bald Juristen und Histori- nenpolitische Funktionen. Den von ker. Der Staatsrechtler Philipp Zorn kri- der Nationalversammlung eingesetz- tisierte, der Friedensvertrag sei nichts ten Untersuchungsausschuss hielt man als „ein furchtbarer und schreiender nach dem Sommer 1919 gezielt davon Widerspruch zur Rechtsidee“24. Es sei, so ab, Dokumente zu veröffentlichen, aus der führende Staats- und Völkerrechtler denen sich eine Belastung Deutschlands Erich Kaufmann 1926, Wahnsinn ge- ergeben hätte. Wie im Krieg hielt man wesen, „einen Friedensvertrag auf den an der Vorstellung fest, dass eine geziel- Grundsätzen der strafenden Gerech- te Kontrolle der öffentlichen Meinung tigkeit aufzubauen“25. So wurden Völ- möglich sei. Aber wie vor 1918 funkti- kerrecht und Geschichtswissenschaft onierte diese Meinungslenkung trotz immer stärker zu Hilfsdisziplinen im aller Anstrengungen bei der Auswahl Deutungskampf gegen die Sieger, ge- der Dokumente auch jetzt nicht in der gen das empfundene Diktat, gegen die erwünschten Weise.29 unterstellte Schuld und gegen den Völ- kerbund als Instrument der Sieger. Im Das zeigte sich exemplarisch am Schick- Werk Carl Schmitts bildeten Weimar, sal des Staatsrechtlers Hermann Kanto- Versailles und Genf geradezu eine nega- rowicz, der zwischen 1923 und 1929 im tive Einheit, um seine eigenen Positio- Auftrag des Untersuchungsausschus- nen und Begriffe davon abzusetzen.26 ses arbeitete. In seinem „Gutachten zur Kriegsschuldfrage“ vertrat er entgegen Gerade Historikern kam dabei eine be- der offiziellen Argumentation nicht den sondere Rolle zu, etwa um den angeb- Standpunkt einer notwendigen Revision lichen Dolchstoß nachzuweisen.27 Nach des Versailler Vertrages, sondern beton- der Unterzeichnung des Friedensver- te im Gegensatz zu der von ihm erwar- trages setzte die Nationalversammlung teten Entlastung Deutschlands die be- am 29. August 1919 einen parlamentari- sondere Verantwortung des Deutschen schen Untersuchungsausschuss ein, der Reiches für den Ausbruch des Krieges.30 die Entscheidungsprozesse während des Dabei ging der Jurist Kantorowicz nach Krieges klären sollte und bis 1932 exis- den Regeln einer strafrechtlichen Argu- tierte. Durch Zeugenvernehmungen mentation vor, prüfte sorgfältig Tatbe- wurde der Ausschuss zu einer Bühne für stände und kam zu dem Schluss, dass die ehemalige Akteure wie Ludendorff, aber Mittelmächte Deutschland und Öster- auch für Wissenschaftler und Experten, reich-Ungarn, aber ebenso Großbritan- wie die Auftritte des Historikers Hans nien, Frankreich, Russland und Serbien Delbrück und des Militärpublizisten sich der „Friedensgefährdung“ schuldig Bernhard Schwertfeger bewiesen. Dabei gemacht hätten. Während er Wilhelm II. verwandelte sich der Ausschuss immer in einem ausführlichen Kapitel nur ver- mehr von einer parlamentarischen In- minderte Zurechnungsfähigkeit zubil- 24 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

ligte, seien am „Friedensbruch“ in erster Weil die „Farbbücher“ durch ihre of- Linie Deutschland, Österreich-Ungarn, fenkundige Propagandafunktion nach Frankreich und Russland schuldig ge- Kriegsende diskreditiert waren, traten wesen, wobei die Führungen in Berlin an ihre Stelle nun großangelegte Pu- und Wien als Hauptschuldige zu be- blikationsvorhaben, aus denen sich ein trachten seien. Weil dieses Gutachten regelrechter „Krieg der Dokumente“ die Position Deutschlands zu schwä- entwickelte, der wie eine Fortsetzung chen schien, setzten Regierungskreise des Krieges mit den Waffen nationaler und Vertreter des Auswärtigen Amts Wissenschaften und auf der Basis histo- durch, dass es nicht veröffentlicht wur- rischer Dokumente wirkte. Die großen de und erst 1967 aus dem Nachlass pub- Quellenpublikationen sollten mit wis- liziert werden konnte. senschaftlichem Anspruch und durch die Berufung vermeintlich unabhängi- Vor diesem Hintergrund traten alle Nach- ger Verantwortlicher die eigene Position kriegsgesellschaften nach 1919 in einen in der Kriegsschulddebatte stärken. Die regelrechten Wettlauf um den wissen- Pariser Friedenskonferenz wirkte dabei schaftlichen Nachweis von Schuld und als Anlass, doch verlängerten die Ver- Unschuld ein – Kriegssammlungen und öffentlichungen vor allem die Ausein- die Sammlungen staatlicher Dokumen- andersetzung mit dem Schuldkomplex te in Archiven wurden jetzt zu entschei- weit über den Abschluss der Friedens- denden Ressourcen. Schon während des verträge hinaus. Krieges hatten alle am Krieg beteiligten Staaten in umfassenden Dokumentati- Das galt bereits für die Darstellung des onen, sogenannten „Farbbüchern“, den Schweizer Publizisten Hermann Stege- Bruch völkerrechtlicher Normen durch mann ebenso wie für die zehnbändige die Gegenseite zu beweisen versucht. Reihe „Der Große Krieg“ des ehemali- Und genau diese institutionalisierten gen deutschen Generalleutnants Max Gedächtnisse des Krieges traten jetzt im Schwarte.31 Die deutschen Quellenpu- internationalen Deutungskampf um die blikationen in den 1920er Jahren erschie- Friedensverträge nach 1919 in den Mit- nen mit dem ausdrücklichen Ziel, die telpunkt – die Archive wurden zur Waffe unterstellte Kriegsschuld zu widerlegen. im Kampf um die politisch-historische Das galt exemplarisch für die 1925 vom Interpretation des Krieges und gegen Reichsarchiv begründete Dokumenta- die Friedensbestimmungen. An diesem tion „Der Weltkrieg 1914–1918“, die erst Prozess waren ehemalige Kriegskorres- 1956 vom Bundesarchiv abgeschlossen pondenten beteiligt, aber ebenso die neu wurde. Formal entstand diese Reihe eingerichteten Kriegsmuseen, -archive nicht mehr unter der Regie der „Kriegs- und -bibliotheken, so etwa in Deutsch- geschichtlichen Abteilung beim Chef des land die „Stuttgarter Weltkriegsbiblio- Generalstabs“, die direkt nach dem Ab- thek“, aus der später die „Bibliothek für schluss des Waffenstillstands die deut- Zeitgeschichte“ hervorgehen sollte, in sche Delegation mit Denkschriften und Paris die „Bibliothèque de Documen- Dokumentationen versorgt hatte, um die tation Internationale Contemporaine“, Vorwürfe der Siegermächte zu entkräf- das „Imperial War Museum“ in London, ten, sondern unter der Leitung einer neu- sowie das „Australian War Memorial“ in en zivilen Behörde, eben des im Septem- Canberra mit eigenen Sammlungen. ber 1919 gegründeten Reichsarchivs.32 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 25 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Dessen Gründung war institutionell, wie So setzte sich der Krieg in den Köp- oben angedeutet, zunächst eine Folge fen zunächst im „Krieg der Dokumen- des Versailler Vertrages. Die Auflösung te“ fort, prägte die großen Reihenwer- des Großen Generalstabs nach Artikel ke über das Kriegsgeschehen nach 1919 160 bedeutete, dass dessen Bestände mi- und entfachte eine regelrechte Publi- litärischer Archivalien einer neuen Be- kationswelle, die auf enorme Reso- hörde zugeordnet werden mussten, die nanz stieß. Eine deutsche Bibliographie zum 1. Oktober 1919 zum Thema umfass- als zivile zentrale Be- te 1925 bereits 200 hörde unter der Lei- Seiten, und ein von tung des Präsiden- Im Zentrum stand nicht Max Graf Montgelas ten Hermann Ritter die wissenschaftlich-­ verfasster bibliogra- Mertz von Quirn- kritische Aufarbeitung, phischer Leitfaden heim eingerichtet zur Kriegsschuldfra- wurde. Aus den mit sondern die propagandis- ge brachte es in kur- der Verwaltung der tische Wirkung. zer Zeit zu mehreren Kriegsakten betrau- Auflagen. Die Jah- ten Abteilungen des resbände der 1922 Generalstabs entwi- begründeten und ckelte sich den Bestimmungen des Ver- von der Reichsregierung finanzierten sailler Friedensvertrags entsprechend Zeitschrift „Die Kriegsschuldfrage“ um- bald ein Reichsarchiv mit der Zustän- fassten bis zu 1.200 Seiten.35 digkeit auch für die Bestände aller zivi- len Reichsressorts seit der Gründung des Die Kriegsschulddebatte blieb nicht Norddeutschen Bundes 1867. auf Texte beschränkt. 1924 erschien das Quellenwerk „Bilddokumente zur Die Umwandlung der Kriegsgeschicht- Kriegsschuldfrage“, mit dem man aus lichen Abteilung in ein Reichsarchiv der deutschen Perspektive die Verant- wirkte auf organisatorischer Ebene wortung der Entente beweisen und wie eine Distanzierung von der bis- Deutschlands Verantwortung für den herigen Militärgeschichtsschreibung Kriegsausbruch zurückweisen wollte. des Kaiserreichs. Doch dieser Eindruck Exemplarisch stellte das Quellenwerk täuschte.33 Denn die Reihe „Der Welt- zwei Fotos einander gegenüber: Auf krieg 1914–1918“ setzte die militärisch dem einen konnten die Leser Kaiser geprägte Historiographie mit einem Wilhelm II. betrachten, wie er sich im Juli einseitigen Fokus auf die Tätigkeit des 1914 auf seiner Yacht einschiffte – das Generalstabs fort. Nicht die wissen- Bild einer friedlichen Sommerreise, schaftlich-kritische Aufarbeitung durch die keinerlei Hinweis auf die der deut- Archivare und Geschichtswissenschaft, schen Führung unterstellte Kriegspo- sondern die propagandistische Wir- litik enthielt. Das andere Foto zeigte kung in die deutsche Öffentlichkeit den französischen Staatspräsidenten hinein stand im Zentrum. Die „Ehre des Raymond Poincaré und den russischen Deutschen Heeres“ sollte wiederherge- Zaren Nikolaus gemeinsam in einer stellt werden, indem man die Kritik an Kutsche. Die Aufnahme stammte vom der deutschen Kriegführung im In- und gleichzeitig stattfindenden Staatsbe- Ausland vehement zurückwies.34 such des französischen Staatspräsiden- 26 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

ten in Petersburg im Sommer 1914. Die reich erwiesen sich seit den 1920er Jah- suggestive Gegenüberstellung beider ren die Arbeiten des französischen His- Bilder legte die Interpretation nahe, dass toriker Pierre Renouvin, weil er mit der beide Staatschefs gerade dabei waren, Verantwortung der Regierungen in Ber- den Krieg gegen Deutschland zu planen lin und Wien für den Kriegsausbruch in und verwies zudem auf eine scheinbar den Augen vieler Franzosen die Bestim- ununterbrochene Kontinuität franzö- mungen des Versailler Vertrags recht- sischer Kriegsziele gegen Deutschland fertigte.39 und eine Revanche für 1871.36 „Versailles“: Die Kluft zwischen Von 1922 bis 1927 erschien die vierzig- subjektiver Wahrnehmung bändige Quellensammlung „Die Große und politischen Handlungsmög- Politik der Europäischen Kabinette lichkeiten in Deutschland 1871–1914“, die von dem Orientalisten Die Öffnung und Mobilisierung der und Missionar Johannes Lepsius und Archive als Speicher historischer Doku- dem Historiker Friedrich Thimme mente nach 1918 zeigte exemplarisch, begründet wurde und auf Archivmate- wie mit selektiv ausgewählten Doku- rial des Auswärtigen Amts zurückgriff, menten, mit Vorworten und Fußnoten um die internationale Einkreisung eine eigene Geschichtspolitik um sich Deutschlands vor 1914 zu dokumen- griff. Sie ließ eine gezielte politische tieren, gegen die man sich habe wehren Instrumentalisierung der Archive als müssen.37 Dieses geschichtspolitische nationale Orte angemaßter historischer Interpretationsziel bestimmte die the- Wahrheit zu, und sie setzte den Krieg matische Anordnung der Dokumente der Köpfe fort, übersetzte den Kultur- und ihre Kommentierung in den Fuß- krieg der europäischen Intellektuellen noten. Gleichzeitig setzte die deutsche vom Sommer 1914 in den Kampf um Publikationsoffensive die anderen ehe- die Deutungshoheit über die Kriegs- maligen Kriegsparteien unter Druck, schuld nach dem Sommer 1919. Aber ihre eigenen Quellen zu publizieren. darin ging das komplizierte Verhältnis der Deutschen zum Versailler Friedens- Tatsächlich folgten ab Mitte der 1920er vertrag und die unterstellte Kriegs- Jahre entsprechende britische und fran- schuld nicht auf. Zwischen der Wahr- zösische Quellenwerke, so durch George nehmung des Friedensvertrags durch P. Gooch und Harold Temperley in den die Deutschen und der Substanz der „British Documents on the Origins of Bedingungen, zwischen Emotionalisie- the War“, die zwischen 1926 und 1938 er- rung und Schuldkomplex auf der einen schienen und eine sorgfältige, prinzipi- und veränderten Handlungsbedingun- ell ergebnisoffene Dokumentation be- gen auf der anderen Seite musste man gründeten.38 Ab 1929 wurde schließlich genau unterscheiden. in Frankreich mit der Publikation der „Documents Diplomatiques Françaises Die materiellen Bedingungen des Ver- 1871–1914“ begonnen, in die man trotz trags waren ohne Zweifel hart, doch sie erheblicher politischer Einflussnahme stellten weder die territoriale Integrität auch Quellen aufnahm, die einer deut- des Reiches in Frage, noch zerstörten schen Alleinschuld am Kriegsausbruch sie von vornherein die ökonomische widersprachen. Als besonders einfluss- Potenz Deutschlands.40 Die maritimen Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 27 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Kolonien hatten große symbolische angelsächsische Weltregiment, das die Bedeutung für die weltpolitischen beiden großen Nationen trotz scharfer Ansprüche des Kaiserreiches besessen, Gegensätze doch durchführen werden. doch ihre ökonomische Bedeutung Damit ist das Ende der modernen Ge- war begrenzt gewesen. Mit der Abtre- schichte doch ähnlich dem der alten. tung Nordschleswigs an Dänemark Auch Rom war ein Völkerbund, und und des Reichslandes Elsass-Lothrin- unser Völkerbund wird die englische gen an Frankreich hatten die meisten Weltherrschaft sein. Zugleich ist dieses Deutschen nach dem November 1918 angelsächsische Imperium der Sieg des gerechnet. Schwerer wogen die an angelsächsischen Individualismus […]. Polen verlorenen Territorien und die Die europäischen Völker werden zwei- Besetzung des Rheinlands, während sprachig werden, für die Welt englisch die mehrheitlich deutsch bewohnten reden und schreiben müssen und für kleinen Kunststaaten unter Verwaltung ihre Privatzwecke ihre alten Sprachen des Völkerbundes in Danzig, im Memel- wie Dialekte weiter benützen.“43 gebiet und an der Saar konfliktträchtige Provisorien darstellten.41 Zunächst setzte im Januar 1920 für die deutsche Republik eine krisenhafte Pha- In Osteuropa bot das Ende der drei se ein, die innenpolitisch von den Hypo- Großreiche und die Entstehung neuer theken der Revolution bestimmt war Klein- und Mittelstaaten mit großen und in der gleichzeitig die ungelösten Minderheiten die mittel- und lang- Probleme der Friedenskonferenz mit fristige Chance, die deutsche Position großer Wucht zurückkehrten; zudem durch eine entsprechende Wirtschafts- verschränkten sich beide Ebenen immer und Kulturpolitik auszubauen, zumal wieder und verstärkten sich gegenseitig. sich erst erweisen musste, ob aus dem Zur zweiten Runde im Ringen um die „cordon sanitaire“ der ostmitteleuro- Nachkriegsordnung trug entscheidend päischen Staaten eine stabile französi- bei, dass Sieger wie Besiegte aus unter- sche Machtstellung erwachsen würde.42 schiedlichen Motiven eine Revision der Doch diese Chancen wurden damals Friedensbedingungen anstrebten und kaum erkannt. Vorherrschend war in damit den fragilen Charakter zahlrei- diesem Sommer ein anderer Eindruck. cher in Paris gefundener Kompromisse unterstrichen. Als Ernst Troeltsch im Juli 1919 diagnos- tizierte, dass das „Traumland der Waffen- Bereits am 8. Mai 1919 hatte Kurt Tuchols- stillstandsperiode, wo jeder sich ohne ky in der „Weltbühne“ geschrieben: die Bedingungen und realen Schlussfol- „Wir haben in Deutschland keine Revo- gerungen des bevorstehenden Friedens lution gehabt – aber wir haben eine Ge- die Zukunft phantastisch, pessimistisch genrevolution.“44 Tatsächlich gewannen oder heroisch ausmalen konnte“, nun- gegenrevolutionäre Kräfte nach dem mehr „geschlossen“ sei, fiel seine außen- Juni 1919 noch einmal erheblich an politische Bilanz denkbar pessimistisch Stärke, nachdem sie bereits durch den aus: „Frankreich wird der kontinentale Einsatz von Freikorps die Übergangs- Verwalter Englands sein. Der Völker- phase direkt nach dem 11. November, bund, der wie jeder Völkerbund einer die Krise um die Jahreswende 1918/19 beherrschenden Macht bedarf, ist das und im Frühjahr die Niederschlagung 28 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

der Münchner Räterepublik bestimmt der radikalen Linken noch auf der radi- hatten. Die Unterzeichnung des Versail- kalen Rechten existierte. Die Angst vor ler Vertrags verstärkte die Polemik ge- einer Besetzung des gesamten Reichs- gen die Ergebnisse der Revolution und gebietes durch französische Truppen die Wirkung der Dolchstoßlegende, weil war auf der Seite der radikalen Rechten man alle verhassten Konsequenzen des 9. und der Reichswehr am Ende größer und 11. November 1918 wie des 28. Juni als ihre Bereitschaft, einen erneuten 1919 der Republik anlasten konnte. Das Putsch zu unternehmen. Nur die radi- prägte die kritische Phase der Republik kalen Gruppen um die NSDAP waren zu vom Kapp-Putsch im März 1920 bis zum diesem Risiko bereit, aber der Ausgang Hitler-Putsch im November 1923. des 9. November 1923 in München un- terstrich deren Minderheitenposition. Doch als im November 1923 der dilettan- Demgegenüber hatten die letzten Auf- tische Putsch Adolf Hitlers in München standsversuche der radikalen Linken niedergeschlagen wurde, die letzte Welle 1921 und 1923 bewiesen, dass es keine von Separatisten-Aufständen im Rhein- Massenbasis mehr gab, die im Ruhr- land und kommunistischer Revolten in kampf 1920 noch Zehntausende mobi- Mitteldeutschland und Hamburg auslief, lisiert hatte.45 hatte die Republik ihre bislang schwers- te Krise überwunden. Das Jahr 1923 be- Am Ende des Krisenjahres 1923 und wies, dass es trotz mehrfacher Belastung nach einer fast ununterbrochenen inne- keine per se aussichtslose Situation gab. ren und äußeren Belagerung der deut- Ohne Zweifel stellten der Versailler Frie- schen Republik seit dem 9. November densvertrag und der lange Kampf um die 1918 erlebte der 16-jährige Sebastian Umsetzung seiner Bestimmungen eine Haffner den Berliner Weihnachtsmarkt. massive Belastung für die Legitimität der Die Menschen kauften wieder Dinge für Republik dar, und ein moderater Frie- wenige Pfennige, die vor kurzem noch densschluss hätte für die erste deutsche Millionen und Milliarden gekostet hat- Demokratie eine bessere Ausgangspositi- ten: „Alles kostete zehn Pfennige und on für die Krisenpha- jeder kaufte Klap- se ab 1928 bedeutet. pern, Marzipantiere Aber Adolf Hitlers Archive bilden ein Gehäuse und sonstiges kindi- Machtergreifung al- der ­Zivilisiertheit sches Zeug, nur um lein mit dem Versail- sich zu beweisen, ler Vertrag zu erklä- zur ­Selbstverständigung dass man wieder et- ren, verzerrt das Bild. von Kulturen. was für zehn Pfen- Wenn der Grund für nige kaufen konnte. das Scheitern der Vielleicht auch um Weimarer Republik primär im Friedens- das letzte Jahr, die ganzen letzten zehn schluss von Versailles gelegen hätte, dann Jahre, zu vergessen und sich wieder wie hätte die erste deutsche Demokratie das ein Kind zu fühlen.“ Erst jetzt, fünf Jahre Jahr 1923 kaum überleben dürfen. nach dem Ende des Weltkrieges, stellte sich ein Gefühl des Friedens ein, dem Was 1923 von 1933 unterschied, war vor man bei allen Belastungen vielleicht allem das Fehlen einer mehrheitsfähi- doch trauen konnte. Was für die Preise gen Systemalternative, die weder auf nach der Hyperinflation galt, schien ein Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 29 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Signum für die Zeit: „An allen Ständen lieferung voraus. Das aber bedeutete im hingen Plakate: ‚Friedenspreise wieder‘. Prinzip, die Arkanqualität des Archivs zu Zum ersten Mal sah es wirklich nach durchbrechen. Bereits in den Auseinan- Frieden aus.“46 dersetzungen um die Rechte des eng- lischen Parlaments im 17. Jahrhundert Ausblick: Das Archiv zwischen waren Archivalien dezidiert als Mittel geschichtspolitischer der politischen Auseinandersetzung in- Mobilisierung und offenem strumentalisiert worden.48 Wissensspeicher Im ersten Band des Zedlerschen Uni- Der Erste Weltkrieg als Medien- und versal-Lexikons aus dem Jahr 1732 Kommunikationskrieg, die Mobilisie- wurde das Archiv als ein „gewisser Ort“ rung der Öffentlichkeit, die Kriegs- definiert, in dem die „Instrumenta pu- propaganda mit ihrer Zuspitzung von blica und andere wichtige und gehei- Selbst- und Feindbildern gaben dieser me Sachen, die den Staat und Jura des langfristigen Entwicklung eine neue Fürsten und seines Landes anbetreffen, Qualität. Kriegssammlungen, Museen, verwahret werden.“47 Auch die Definiti- Bibliotheken und Archive wurden als on der Encyclopédie von Diderot und Speicher vermeintlich „nationaler Wahr- D’Alembert wies in diese Richtung und heit“ zum Ausgangspunkt eines erbitter- betonte die hoheitliche Bedeutung des ten Kampfes um die Deutungshoheit Archivs. Zu dessen Einrichtung und über die Begründung des Krieges und die Unterhaltung war in der Bestimmung Bedingungen des Friedens. Doch aus der des Zedlerschen Universal-Lexikons programmatischen Öffnung der Geheim- ausschließlich der fürstliche Souverän archive des Zaren durch die Bolsche- befugt. Spätestens mit der Französi- wiki im Oktober 1917, aus dem Kampf schen Revolution trat die hoheitliche gegen das Arkanum der Geheimdiplo- Bindung zurück, während das Recht auf matie, resultierte zunächst keine zweck- Benutzung in den Vordergrund rückte. freie wissenschaftliche Aufarbeitung, sondern eine politisch-ideologische In- Ansätze dazu hatte es bereits zuvor ge- strumentalisierung der Quellen. Aus die- geben: So waren Archive bereits in der sem Kontext entstand seit dem Ende des Frühen Neuzeit für Publikationen von Krieges der Kampf um die Dokumente amtlich-offiziellem Charakter herange- und die Mobilisierung der Wissenschaft, zogen worden, etwa in den sogenannten zumal der Geschichte und des Völker- „Deduktionen“. Sie entsprachen dem rechts. Eine neuartige öffentliche und modernen Genre des Weißbuchs und vor allem geschichtspolitische Relevanz dienten dazu, die Politik eines Fürs- der Archive zeichnete sich ab, die sich in ten durch eine ausformulierte und ge- den Auseinandersetzungen um die un- druckte juristische Auseinandersetzung terstellte deutsche Schuld am Ausbruch in der politischen Öffentlichkeit und vor des Krieges und die Totalisierung der Gericht zu legitimieren. In diesen Texten Kriegsgewalt exemplarisch entfaltete. kam dem Belegteil eine entscheidende Bedeutung zu. In seinem Umfang häu- Die Gründung des Reichsarchivs im Jahr fig weit über die eigentliche Darstellung 1919 stand zunächst in diesem Problem- hinausgehend, setzte er den Rückgriff zusammenhang. Aber die langfristige auf die hoheitliche archivalische Über- Geschichte dieser Institution über das 30 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Bundesarchiv bis in unsere Gegenwart gangenheit übersetzen will, der braucht erzählt eben auch eine ganz andere Ge- Archive – nicht im Sinne der Geschichts- schichte. Es ist die Geschichte einer In- politik, der Instrumentalisierung poli- stitution als offener und öffentlicher tisch selektierter Dokumente, sondern Wissensspeicher, als zugänglicher Ort auf der Basis von Transparenz und Über- für wissenschaftliche Erkenntnis, Erin- prüfbarkeit, auf der Grundlage von Fra- nerung und Überprüfung, als Basis der gen, die jede Generation neu stellen muss. Forschung und Vermittlung, der Kom- Archive dienen nicht dem historischen munikation, des Suchens, Abwägens, Kulissenzauber, sie bilden vielmehr ein Argumentierens, Differenzierens – mit- Gehäuse der Zivilisiertheit, das Kulturen hin zur Abwehr von Halbwissen und zur eigenen Selbstverständigung benöti- Halbbildung. gen – heute mehr denn je.

Wer das in historischen Beständen auf- gehobene, kondensierte kulturelle Ge- Prof. Dr. Jörn Leonhard ist Inhaber des ­Lehrstuhls für Neuere und ­Neueste dächtnis einer Gesellschaft in belastbares Geschichte Westeuropas an der Wissen und sinnhafte Deutung der Ver- ­Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

1 Harold Nicholson: Friedensmacher 1919 (engl. Peace- 1919. Aus der Sicht von Zeitzeugen (1978), Mün- making 1919, London 1933), 6. Aufl., Berlin 1934, chen 2002, S. 362-365. 28. Juni 1928, S. 350-352. 8 Brief Alfred Webers an Else Jaffé vom 17. Dezember 2 Hermann Müller: Die Unterzeichnung, in: Victor 1918, zitiert nach: Gerd Krumeich /M. Rainer Lepsius: Schiff: So war es in Versailles. Mit Beiträgen von Einleitung, in: Max Weber: Gesamtausgabe, Abt. II, , Hermann Müller und Friedrich Briefe, Bd. 9: Briefe 1915-1917, hrsg. von Gerd Stampfer, Berlin 1929, S. 135-143, hier S. 140; Jörn Krumeich und Mario Rainer Lepsius, Tübingen Leonhard: Der überforderte Frieden. Versailles und 2008, S. 1-43, hier S. 8. die Welt, 2. Aufl., München 2019, S. 1024-1027. 9 Max Weber: Politik als Beruf, in: Ders.: Gesamtaus- 3 Jules Laroche: Au Quai d‘Orsay avec Briand et gabe, Abt. I, Schriften und Reden, Bd. 17: Wissen- Poincaré, Paris 1957, S. 92-93; Sophie Delaporte: schaft als Beruf 1917/1919 und Politik als Beruf Les Gueules Cassées. Les blessés de la face de la 1919, hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und Wolf- Grande Guerre, Paris 1996, S. 161; Nicolas Beaupré: gang Schluchter, Tübingen 1992, S. 157-252, hier Das Trauma des großen Krieges 1918-1932/33, S. 147 und 232; Michael Dreyer / Oliver Lembcke: Darmstadt 2009, S. 53; Stéphane Audoin-Rouzeau: Die deutsche Diskussion um die Kriegsschuldfrage Die Delegation der ,Gueules cassées‘ in Versailles 1918/19, Berlin 1993, S. 229; Leonhard: Der überfor- am 28. Juni 1919, in: Gerd Krumeich (Hrsg.): Ver- derte Frieden (wie Anm. 2), S. 900-901. sailles 1919. Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, 10 Jost Dülffer: Versailles und die Friedensschlüsse 2001, S. 280-287; Verena Steller: Diplomatie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Ders.: Frieden von Angesicht zu Angesicht. Diplomatische Hand- stiften. Deeskalations- und Friedenspolitik im 20. lungsformen in den deutsch-französischen Bezie- Jahrhundert, Köln 2008, S. 157-173, hier S. 163-164; hungen, Paderborn 2011, S. 464-465; Leonhard: Der Jörg Fisch: Krieg und Frieden im Friedensvertrag. überforderte Frieden (wie Anm. 2), S. 1032-1034. Eine universalgeschichtliche Studie über Grund- 4 Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), lagen und Formelemente des Friedensschlusses, S. 1218-1219. Stuttgart 1979, S. 95; Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), S. 901-902. 5 Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), S. 899-900. 11 Zitiert nach: Oliver Janz: 14. Der große Krieg, Frank- furt/M. 2013, S. 323; Lars-Broder Keil / Sven Felix 6 Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte Kellerhoff: Deutsche Legenden. Vom „Dolchstoß“ des Ersten Weltkriegs, 5. Aufl., München 2014, und anderen Mythen der Geschichte, Berlin 2002, S. 347-386. S. 36; Anja Lobenstein-Reichmann: Die Dolch- 7 Benedetto Croce: Postille Politiche, in: Politica 1 stoßlegende. Zur Konstruktion eines sprachlichen (1919), S. 48-59; Sebastian Haffner (Hrsg.): Versailles Mythos, in: Muttersprache 112 (2002), S. 25-41. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 31 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

12 Ernst Troeltsch: Kritische Gesamtausgabe, hrsg. Republik. Geburtsstunde eines demokratischen von Friedrich Wilhelm Graf, Christian Albrecht Deutschlands, Weimar 2009, S. 39-70, hier S. 62. und Gangolf Hübinger, Bd. 14: Spectator-Briefe 23 Eduard Heilfron (Hrsg.): Die Deutsche National- und Berliner Briefe (1919-1922), Berlin 2015, versammlung im Jahre 1919 in ihrer Arbeit für den S. 76-77, Fußnote 6; Boris Barth: Dolchstoßlegen- Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, 9 Bde., den und politische Desintegration. Das Trauma Berlin 1919-1920, hier Bd. 7, S. 163 und 196-197; der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), 1914-1933, Düsseldorf 2003, S. 321-339 und 364-365. S. 1215-1216. 13 Ernst Troeltsch: Links und Rechts (März 1919), 24 Philipp Zorn: Der Friedensvertrag und das Recht, in: in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe (wie Anm. 12), Deutsche Juristen-Zeitung 25 (1920), Sp. 665-669. Bd. 14, S. 72-78, hier S. 76-77; Leonhard: Der über- forderte Frieden (wie Anm. 2), S. 902-904. 25 Erich Kaufmann: Die Gleichheit vor dem Gesetz im Sinne des Art. 109 der Reichsverfassung. Bericht, 14 Max Weber: Die Untersuchung der Schuldfrage in: Veröffentlichungen der Vereinigung der (20. März 1919), in: Ders.: Gesamtausgabe, Abt. I, Deutschen Staatsrechtslehrer 3 (1927), S. 2-62, hier Schriften und Reden, Bd. 16: Zur Neuordnung S. 14; Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Deutschlands. Reden und Schriften 1918-1920, Rechts in Deutschland, Bd. 3: Staats- und Verwal- 2 Halbbde., hrsg. von Wolfgang J. Mommsen und tungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur Wolfgang Schwentker, Tübingen 1988, S. 225-232; 1914-1945, München 1999, S. 87. Hinnerk Bruhns: Max Weber und der Erste Welt- krieg, Tübingen 2017, S. 84-85. 26 Carl Schmitt: Positionen und Begriffe, im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923-1939, 4. Aufl., 15 Sacha Zala: Geschichte unter der Schere politischer Berlin 2014. Zensur. Amtliche Aktensammlungen im interna- tionalen Vergleich, München 2001, S. 31-37. 27 Christian Lüdtke: Hans Delbrück und Weimar. Für eine konservative Republik – gegen Kriegsschuld- 16 Hermann Kantorowicz: Der Geist der engli- lüge und Dolchstoßlegende, Göttingen 2018, schen Politik und das Gespenst der Einkreisung S. 201-284; Bernd Faulenbach: Nach der Nieder- Deutschlands, Berlin 1929, S. 448; Imanuel Geiss: lage. Zeitgeschichtliche Fragen und apologetische Die manipulierte Kriegsschuldfrage. Deutsche Tendenzen in der Historiographie der Weimarer Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Zeit, in: Peter Schöttler (Hrsg.): Geschichtsschrei- Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Aus- bung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, wärtigen Amtes, 1919-1931, in: Militärgeschicht- Frankfurt/M. 1997, S. 31-51; Christoph Weisz: liche Mitteilungen 34 (1983), S. 31-60, hier S. 32. Geschichtsauffassung und politisches Denken 17 Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), Münchner Historiker der Weimarer Zeit. Konrad S. 904-906. Beyerle, Max Buchner, Michael Doeberl, Erich Marcks, Karl Alexander von Müller, Hermann 18 Mantelnote der Siegermächte vom 16. Juni, in: Oncken, Berlin 1970; Stolleis: Geschichte des British Documents on Foreign Affairs. Reports öffentlichen Rechts, Bd. 3 (wie Anm. 25), S. 88. and Papers from the Foreign Office Confidential print, Part II, Series I: The Paris Peace Conference 28 Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. of 1919, 15 Bde., hrsg. von Michael L. Dockrill, Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage [Fredrick/Md,] 1989, hier Bd. 7, S. 374-381; Harold in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, William Temperley (Hrsg.): A History of the Peace S. 155-191; Daniel Marc Segesser: Der Erste Welt- Conference of Paris, 6 Bde., London 1920-1924, krieg in globaler Perspektive, 3. Aufl., Wiesbaden hier Bd. 1, Nr. 126, S. 271, zitiert nach: Klaus 2013, S. 232. Schwabe (Hrsg.): Quellen zum Friedensschluß von 29 Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), Versailles. Unter Mitarbeit von Tilman Stieve und S. 1216-1218. Albert Diegmann, Darmstadt 1997, S. 357-369. 30 Hermann Kantorowicz: Gutachten zur Kriegs- 19 Nikolaus Andersen: Tagebuch vom 28. Juni 1919, schuldfrage 1914. Aus dem Nachlass hrsg. von in: Klaus Kuhl: Kiel und die Revolution von 1918. Imanuel Geiss, Frankfurt/M. 1967; Zala: Geschichte Das Tagebuch eines Werftingenieurs, verfasst in unter der Schere (wie Anm. 15), S. 64. den Jahren 1917-1919, Edition und Textanalyse, Berlin 2018, S. 297. 31 Hermann Stegemann: Geschichte des Krieges, 4 Bde., Stuttgart 1917-1921; Max Schwarte: Der 20 Harry Graf Kessler: Das Tagebuch (1880-1937), Grosse Krieg 1914/1918, 10 Bde., 1921-1927. Bd. 7: 1919-1923, hrsg. von Angela Reinthal, Stutt- gart 2007, 4. August 1919, S. 254. 32 Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), S. 1216-1219. 21 Der Erste Weltkrieg in 100 Objekten, hrsg. von der Stiftung Deutsches Historisches Museum, 33 Karl Demeter: Das Reichsarchiv. Tatsachen und Darmstadt 2014, S. 218; Leonhard: Der überforderte Personen, Frankfurt / M. 1969, S. 5-11. Frieden (wie Anm. 2), S. 1212-1213. 34 Markus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Ge- 22 Wilhelm Ribhegge: Die Weimarer Nationalver- schichtspolitik. Der Erste Weltkrieg. Die amtliche sammlung 1919 als Ort der Erinnerung, in: Michael deutsche Militärgeschichtsschreibung 1914-1956, Schultheiß / Julia Roßberg (Hrsg.): Weimar und die München 2002, S. 18-24 und 55-76. 32 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

35 Heinemann: Niederlage (wie Anm. 28), S. 74-94; of French Strategy and Diplomacy Before the Se- Gerd Krumeich: Juli 1914. Eine Bilanz, 4. Aufl., cond World War, in: History Compass 4 (5) (2006), Paderborn 2014, S. 196-197. S. 870-905; Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Anm. 2), S. 1218-1221. 36 Wilhelm Ziegler: Bilddokumente zur Kriegs- schuldfrage, Berlin 1922; Gerd Krumeich: Poincaré 40 Detlev Julio Peukert: Die Weimarer Republik. Kri- droht uns schon wieder, in: Frankfurter Allgemeine senjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt/M. Zeitung, 10. April 2017. 1987, S. 52-57. 37 Die Große Politik der europäischen Kabinette 41 Andreas Kossert: Ostpreußen. Geschichte und 1871-1914. Sammlung der diplomatischen Akten Mythos, 5. Aufl., München 2005, S. 267-273. des Auswärtigen Amtes. Im Auftrag des Auswärti- 42 gen Amtes herausgegeben von Johannes Lepsius, Peukert: Weimarer Republik (wie Anm. 40), S. 54-56. Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich 43 Ernst Troeltsch: Nach der Entscheidung (Juli 1919), Thimme, Reihen 1-5, 40 Bde. (nebst Kommentar), in: Ders.: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 14 (wie Berlin 1922-1927. Anm. 12), S. 125-132, hier S. 130-131; Leonhard: Der 38 British Documents on the Origins of the War überforderte Frieden (wie Anm. 2), S. 1221-1223. 1898-1914, hrsg. von George Peabody Gooch 44 Ignaz Wrobel [i.e. Kurt Tucholsky]: Preußische und Harold Temperley, 11 Bde., London 1926-38. Studenten, in: Die Weltbühne 15 (1919), S. 532-536, 39 Documents Diplomatiques Français 1871-1914, hrsg. zitiert nach: Peukert: Weimarer Republik (wie von der Commission de publication des documents Anm. 40), S. 76. ère relatifs aux origines de la guerre de 1914, 1 série, 45 Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im ème 1871-1900, 16 Bde., Paris 1929-1959; 2 série, 20. Jahrhundert, München 2014, S. 211-212. 1901-1911, 14 Bde., Paris 1930-1955; 3ème série, 46 1901-1914, 11 Bde., Paris 1929-1936; Segesser: Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Weltkrieg in globaler Perspektive (wie Anm. 28), Erinnerungen 1914-1933, 3. Aufl., München 2004, S. 232-234; Jay M. Winter / Antoine Proust: The S. 68; Leonhard: Der überforderte Frieden (wie Great War in History. Debates and Controversies, Anm. 2), S. 1224-1225, 1227-1228 und 1235-1236. 1914 to the Present, Cambridge 2005, S. 9-23; 47 Zitiert nach: Gerhard Menk: Archiv, in: Friedrich David Robin Watson: Renouvin, Pierre, in: Kelly Jaeger (Hrsg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 1, Boyd (Hrsg.): Encyclopedia of Historians and His- Stuttgart 2005, Sp. 624-629, hier Sp. 624. torical Writers, Bd. 2, London 1999, S. 993-995; Peter Jackson: Post-War Politics and the Histori ography 48 Menk: Archiv (wie Anm. 47), Sp. 627-628. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 33 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 35 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Michael Hollmann Die Gründung des ­Reichsarchivs im Jahre 19191

m 24. März 1950 beschloss Registratur- und Archivgut des Deut- die Bundesregierung die schen Reiches wieder unter seinem Gründung eines zentralen Dach zusammenführen sollte. Ob der Archivs für die gesamte Bundesminister des Innern dabei auch Bundesverwaltung:A „Die Bundesregie­ die politische, juristische und histori- rung errichtet ein Bundesarchiv. Das sche Aufarbeitung des Dritten Reiches Bundesarchiv untersteht dem Bun- zumindest als Fernziel mit im Blick hat- desminister des Innern, der den Sitz te, lässt sich heute nicht mit Sicherheit des Archivs bestimmt. Das Bundes­ feststellen. archiv ist zur Sammlung, Ordnung und wissenschaftlichen Verwertung 1919: Rahmenbedingungen der des bei der Bundesregierung und ihren Gründung eines Zentralarchivs Dienststellen anfallenden Archivguts Es liegt nahe, eine ähnliche Rationa- bestimmt. Es hat auch zu bearbeiten das lität auch der Reichsregierung zu un- Material aus den Beständen des ehema- terstellen, als sie im Jahre 1919 erst- ligen Reichsarchivs und Preußischen mals ein Reichsarchiv für das immerhin Geheimen Staatsarchivs, die Materia- schon seit 48 Jahren bestehende Deut- lien aus der Tätigkeit der ehemaligen sche Reich einrichtete. Viele Jahre war Reichsbehörden und der deutschen über die Gründung eines Reichsar- Wehrmacht, der zonalen und bizonalen chivs bereits diskutiert worden, und Verwaltungen des früheren Vereinigten seine Notwendigkeit stand eigentlich Wirtschaftsgebietes und der französi- für die meisten außer Zweifel. Bis 1919 schen Besatzungszone. Zu seinen Auf- aber scheiterte die tatsächliche Einrich- gaben gehört auch die Betreuung der tung eines zentralen Staatsarchivs für beschlagnahmten und wieder zurück- das Deutsche Reich an den Vorbehalten geführten Akten sowie anderer Akten der deutschen Mittelstaaten, die ihre aus Bundes- und früherer Reichszu- in der Verfassung des Deutschen Rei- ständigkeit nach der Bestimmung des ches verbriefte Selbstständigkeit nicht Ministers des Innern.“2 einschränken lassen wollten, und nicht zuletzt an dem mangelnden Interesse Dieser Kabinettsbeschluss war getragen Preußens.3 von der Erkenntnis, dass die noch sehr junge Bundesrepublik eines zentralen 1919 bot die umfassende Neustrukturie- Archivs bedurfte, das sowohl perspek- rung der deutschen Staatlichkeit im Ge- tivisch die Unterlagen der gesamten folge der Niederlage im Ersten Weltkrieg Bundesverwaltung archivieren würde, und der Revolution von 1918 die Gele- als auch das in die halbe Welt zerstreute genheit, zusammen mit einem neuen 36 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

demokratischen Staatswesen auch ein rung am 28. Juni 1919 unterzeichneten, modernes Archiv für die zentrale Ebene bestimmte in Absatz 3, dass der Große des Deutschen Reiches einzurichten. Im Generalstab mit Wirkung vom 1. Okto- Rückblick zeigt sich aber, dass die Grün- ber 1919 aufgelöst werden sollte und in de und Absichten der Reichsregierung keinerlei Form wieder aufgestellt wer- des Jahres 1919 sich kaum weiter von den dürfte.4 Von der Auflösung betrof- denen der Bundesregierung des Jahres fen war auch die Kriegsgeschichtliche 1950 unterscheiden könnten. Auch die Abteilung des Generalstabs. Vor dem Rahmenbedingungen in Bezug auf die Weltkrieg hatte die Kriegsgeschicht- Notwendigkeit zur Übernahme und liche Abteilung eine wichtige Rolle in Sicherung von Unterlagen der Reichs- der Offiziersausbildung insbesondere regierung, der Reichsverwaltung und der preußischen Armee gespielt; nach der deutschen Streitkräfte waren 1919 dem Ausbruch des Kriegs war sie aber gänzlich andere als 1950. zunächst aufgelöst und ihr Personal verschiedenen Kommandostäben und Das tatsächlich 1952 in Koblenz errich- anderen militärischen Einheiten zu- tete Bundesarchiv war anfangs buch- geordnet worden.5 Es sollte sich aber stäblich ein Archiv ohne Akten, da die schon bald zeigen, dass durch den Krieg Unterlagen der Bundesverwaltung noch der Umfang des amtlichen Schriftguts lange nicht archivreif waren und das in kurzer Zeit enorm angewachsen Archiv- und Registraturgut des unterge- war. Bereits am 23. Januar 1915 wurde gangenen Deutschen Reiches sich noch daher auf Anregung des preußischen zum weit überwiegenden Teil in alliier- Majors Hans von Haeften, des späteren tem Gewahrsam befand. Im Gegensatz zweiten Präsidenten des Reichsarchivs6, dazu stand die Reichsregierung 1919 vor die Prüfungsstelle für Kriegsakten (PK) der Herausforderung, die ungeheuren beim Stellvertretenden Generalstab in Aktenberge zu bewältigen, die während Berlin eingerichtet, deren Aufgabe dar- des Weltkriegs bei den verschiedensten in bestand, Unterlagen zu den militäri- militärischen Dienststellen von der schen Operationen zusammenzutragen Obersten Heeresleitung bis hinab zu und dabei insbesondere die Kriegsta- einzelnen militärischen Einheiten und gebücher der einzelnen militärischen im Rahmen der Kriegswirtschaftsver- Dienststellen und Einheiten zu sam- waltung entstanden waren und nun der meln. Ziel dieses Sammelns sollte die Übernahme durch ein Archiv harrten. spätere Auswertung der militärischen Aber weder dieser objektive Zwang Planungen und Operationen für die gab den Anstoß zur Einrichtung eines Zwecke der militärischen Ausbildung Reichsarchivs, noch die Frage, wie mit sein. Faktisch wurde so mit der Prü- den Unterlagen der Reichsämter und fungsstelle das Kriegsarchiv des Großen zentralen Reichsbehörden umzuge- Generalstabs begründet. hen sei, sondern eine Bestimmung des Versailler Friedensvertrags, die auf den Kriegsgeschichtsschreibung ersten Blick scheinbar wenig mit dem als „nationale Aufgabe“ Archivwesen zu tun hat. Schon während des Kriegs wurde den verantwortlichen Militärführern be- Artikel 160 des Versailler Friedensver- wusst, dass die Unterlagen über die trags, den die Vertreter der Reichsregie- Offiziersausbildung hinaus eine un- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 37 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

verzichtbare Materialgrundlage für die schichtsschreibung durch das deutsche kommende politische Auseinanderset- Militär schienen geschaffen. zung über Entstehung und Verlauf des Krieges sein würden. Frühzeitig zeigte Als am 7. Mai 1919 der Entwurf für den sich die Absicht der Militärführung, künftigen Friedensvertrag bekannt die Deutungshoheit auf diesem Feld wurde, waren mit der geforderten Ab- nicht den Kriegsgegnern zu überlas- schaffung des Großen Generalstabs sen; eine Haltung, die noch verstärkt und seiner Teilstrukturen sowie dem wurde, als sich die Niederlage des Verbot, diese in anderer Form wieder- Deutschen Reiches immer deutlicher zubeleben, jedoch alle bisherigen Über- abzuzeichnen begann. legungen hinsichtlich einer künftigen deutschen amtlichen Kriegsgeschichts- Am 12. Oktober 1918 befahl General schreibung von Grund auf in Frage Erich Ludendorff daher die Wiederein- gestellt. Am 18. Mai 1919 fand daher in richtung der 1914 aufgelösten Dienst- Kolberg eine Besprechung beim Chef stelle des Oberquartiermeisters für des Generalstabs des Feldheeres statt, in Kriegsgeschichte mit 83 Mann Personal, der die neue Situation erörtert wurde. davon 26 Offizieren. Mertz von Quirnheim kam in Kolberg bei seinen Ausführungen zum Thema Als aussichtsreichster Kandidat für „Kriegsgeschichte als Aufgabe einer den Posten des Oberquartiermeisters mil[itärischen] Dienststelle oder als erschien zunächst der mittlerweile Arbeit eines besonderen wissensch[aft- zum Obersten avancierte Hans von lichen] Instituts“ zu dem Schluss, „es Haeften, für dessen Ernennung auch scheine sowohl vom militärischen wie seine besondere Nähe zu Ludendorff vom Standpunkt der Kriegsgeschichts- sprach. Tatsächlich zum Oberquartier- schreibung die günstigere Lösung zu meister für Kriegsgeschichte ernannt sein, wenn die Kriegsgeschichtsschrei- wurde am 11. Februar 1919 aber, als bung als eine besondere nationale und Kandidat von Generalfeldmarschall wissenschaftliche Aufgabe von der Or- Paul von Hindenburg, der bayerische ganisation der Wehrmacht abgetrennt Oberst Hermann Ritter Mertz von und zum Arbeitsgebiet eines besonde- Quirnheim7. ren Forschungsinstituts gemacht wür- de. Sie würde damit auch eine objekti- Die neue Dienststelle umfasste die vere und der Sache zugute kommende Abteilung I (Große Operationen), der Stellung erhalten.“8 Oberst Reinhold von Sydow vorstand, Abteilung II (Ost-Operationen) unter In Kolberg wurde ganz offensichtlich – Leitung von Oberst Hans von Haeften, wie Mertz von Quirnheim in einem Abteilung III (West-Operationen; Frie- Schreíben an seine Abteilungsleiter densverhandlungen), geleitet von Major feststellte – ein Konsens darüber erzielt, Wilhelm Müller-Loebnitz, und Abtei- „daß die amtliche Kriegsgeschichts- lung IV (Archiv) unter Oberstleutnant schreibung als eine nicht nur militä- Theodor Jochim. Organisatorisch war rische, sondern auch nationale und so der Vorkriegszustand praktisch wie- wissenschaftliche Aufgabe fortgesetzt derhergestellt, die Voraussetzungen für werden“ müsse, dass es gleichzeitig eine aktive Beeinflussung der Kriegsge- aber „kaum zu umgehen sein [würde], 38 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

die Arbeiten einem neu zu gründenden Die „Seeckt-Denkschrift“ nichtmilitärischen Institut überweisen Die Überlegungen mündeten schließ- zu müssen“. Da „Art und Weise einer sol- lich in der mit dem Namen Seeckt chen Umstellung [...] vorläufig nicht ab- verbundenen „Denkschrift über die zusehen“ seien, bat er seine Mitarbeiter, Zukunft der Archive und kriegsge- „bereits jetzt darauf bezügliche Anre- schichtlichen Abteilungen des Großen gungen und Vorschläge als Unterlagen Generalstabs“ vom 12. Juli 1919, als de- für eine nach meiner Rückkehr abzu- ren tatsächlicher Verfasser wohl Hans haltende Besprechung zu sammeln.“9 von Haeften anzusehen ist.12 Hans von Seeckt, seit dem 3. Juli 1919 Chef des Die Papiere, die von Haeften, Mül- Generalstabs, drängte in dieser Denk- ler-Loebnitz und von Sydow am 2. Juni schrift auf eine rasche Umwandlung 1919 vorlegten – Jochim hatte bereits der kriegsgeschichtlichen Abteilung. vorab unter dem Datum vom 22. Mai „In seinen Archiven und in seiner Bi- 1919 eine 41-seitige Ausarbeitung des bliothek verwaltet der Generalstab Hauptmanns George Soldan unter dem nationale Güter, die nicht nur grossen Titel „Die deutsche Geschichtsschrei- materiellen, sondern auch in ihrer Art bung des Weltkrieges. Eine nationa- einzig dastehenden ideellen Wert besit- le Aufgabe“ eingereicht – bildeten die zen. Der Generalstab hält es daher für Grundlage der späteren „Seeckt-Denk- seine Pflicht, auf die Erhaltung, zukünf- schrift“ vom 12. Juli 1919.10 Im Ton wa- tige Verwaltung und Auswertung dieser ren sie zum Teil sehr pathetisch und unersetzlichen Güter hinzuweisen und von dem Gedanken an eine künfti- einen dahinzielenden Vorschlag zu un- ge historiographische und publizisti- terbreiten.“ sche Auseinandersetzung um die Deu- tung des Weltkriegs insbesondere mit Zunächst weist die Denkschrift auf Frankreich getragen. Die Organisati- den enormen Umfang des „angesam- on der Akten spielte eine eher nach- melten Aktenmaterials des Weltkrie- geordnete Rolle gegenüber den Fragen ges“ hin, der bereits mehr als eine hal- der Errichtung und Strukturierung ei- be Million Akten betrage und täglich ner „historischen Anstalt“ (von Sydow), weiter anwachse. Hinzu kämen 8.200 für die Müller-Loebnitz die Bezeich- Beuteakten, deren Auslieferung nicht nung „Reichsanstalt für Geschichtsfor- in Betracht käme, sowie die historische schung“ vorschlug, die von einem „un- Dokumentensammlung des bisheri- verdächtigen Nicht-Militär“ zu leiten gen Kriegsarchivs des Generalstabs, die wäre. Reinhold von Sydow legte dar, rund 17.400 Bände aus den Jahren 1815 dass es für die Arbeit der neuen Dienst- bis 1913 umfasse. stelle erforderlich sei, dort das Archiv- gut aller relevanten Archive organisa- Bereits im Juli 1919 wurde – der Denk- torisch zusammenzufassen.11 Er war es schrift zufolge – das Generalstabsarchiv auch, der in diesem Zusammenhang intensiv genutzt. Täglich gingen beim erstmals den Begriff „Reichsarchiv“ be- Oberquartiermeister bis zu hundert nutzte, wenn an dieser Stelle auch noch Anfragen verschiedenster Art von Be- eher als abstrakte Kategorie und nicht hörden, Gelehrten und anderen Privat- als mögliche Bezeichnung der neu zu personen oder Verlagen ein. Und für die gründenden Dienststelle. Zeit nach dem Abschluss des Friedens- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 39 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

vertrags sagte von Seeckt einen weiteren Ziel es sein müsse, „dem seelisch, geistig und erheblichen Anstieg der Anfragen und physisch niedergebrochenen Vol- voraus. Unter den gegebenen Umstän- ke“ den Glauben an sich selbst wieder- den bedürfe es der Zusammenführung zugeben. Und kein Mittel wäre „dazu aller Akten des Weltkriegs in einem so geeignet als die Wiederbelebung der zentralen Archiv in der Trägerschaft des Erinnerung an die Grosstaten während Reiches, für das „eine längere Absper- des Weltkrieges“. Diese Aufgabe wollte rung des Archivs, wie sie früher üblich von Seeckt jedoch nicht der akademi- war“, nicht in Frage käme: „Allgemeine schen Wissenschaft überlassen. „Erst und alsbaldige Benutzung ist eine For- die Auswertung eines Archives setzt die derung der Zeit und liegt im höchsten toten Werte in werbende Kraft um, die Masse [sic] im nationalen Interesse.“ sowohl ideellen als materiellen Gewinn Allerdings bedürfte das Archivgut einer zeitigen kann. Das geschieht nur dann, „kritischen Sichtung“, bevor es für eine wenn die Auswertung amtlich vom Rei- allgemeine öffentliche Benutzung be- che betrieben wird. Die lediglich dem reitgestellt werden könnte. „Staatliches einzelnen Privatschriftsteller überlas- Interesse erfordert eine derartige Sich- sene Auswertung arbeitet materiell für tung, wenn in Zeiten tiefer politischer sich selber und ideell nur sehr bedingt Gegensätze und Leidenschaften nicht für den Staat, häufig gegen ihn.“ Neben Schaden erwachsen soll, wo doch gerade und vor der historisch-wissenschaftli- nutzbringende ausgleichende Wirkung chen Erforschung des Weltkriegs, die nur zu erstreben ist.“ den gebildeten Kreisen im Reich zu Gute käme, erfordere die Zeit „Geschichts- Die Denkschrift fasst diese Überle- werke, die bewusst die Geschichte zur gungen wie folgt zusammen: „So sieht Volkserziehung verwerten“; es müsse der Generalstab die Gründung eines also „vor allem eine volkstümliche Dar- allgemeinen Reichsarchivs als eine aus stellung des grossen Krieges“ ins Leben Zweckmäßigkeitsgründen sich ergeben- gerufen werden. de dringende Forderung an. Und ebenso notwendig erscheint es, dass die Grund- In den Augen von Seeckts und seiner lage für die Neugestaltung in dem Ge- Mitarbeiter konnte nur eine amtliche neralstabsarchiv zu suchen ist. Hier liegt Geschichtsschreibung wirklich und nicht nur das weitaus umfangreichste, wirksam dem „Lügenfeldzug der feind- sondern auch das die kriegerischen lichen Propaganda“ entgegentreten, der Geschehnisse umfassende Material, aus „heute bereits deutsches Wesen und dem alles erwächst, ohne dessen Aus- deutschen Namen vergiftet“. Denn „was wertung keine andere Sammlung Be- wir an Lüge und Verleumdungen in deutung erlangen kann.“ der feindlichen Geschichtsschreibung in den nächsten Jahren zu gewärtigen Die Etablierung eines Archivs voller haben, davon gibt vor allem die fran- „toter Werte, deren Aufbewahrung und zösische Literatur schon heute einen Verwaltung dem Reiche Kosten verur- warnenden Vorgeschmack“. sachen“, genügte von Seeckt allerdings nicht. Die Denkschrift plädiert vielmehr Vor diesem Hintergund stellte von vehement für eine privilegierte amtli- Seeckt bei der Reichsregierung einen che Auswertung der Kriegsakten, deren „Antrag zur Umwandlung der Kriegsge- 40 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

schichtlichen Abteilungen in ein Reich- Aus der Perspektive des beginnenden sarchiv“. Dabei handele es sich nicht um 21. Jahrhunderts mutet die Denkschrift die Einrichtung einer neuen Organisati- bei allem Pathos bisweilen durchaus on, sondern lediglich um die Übernah- modern an. Die Deutlichkeit etwa, mit me bereits bestehender Einrichtungen, der die Zugänglichkeit zu Archivgut die freilich „infolge der bevorstehenden als der eigentliche Zweck des Archivie- Entmilitarisierung in den Etat und in rens herausgestellt und eine fachge- die Verwaltung eines Zivilministeriums rechte Erschließung gefordert werden, übergehen müssen, da ihre Erhaltung überrascht allerdings nur auf den ers- im allgemeinen Staatsinteresse liegt“. ten Blick. Sehr klar hatten von Seeckt Das dem Reichsministerium des Innern und seine Mitarbeiter gesehen, dass die unterstehende Reichsarchiv sollte orga- grundsätzliche Benutzbarkeit von Ar- nisatorisch weitgehend der bisherigen chivgut allein letztlich die hohen Auf- Dienststelle des Oberquartiermeisters wände der Archivierung rechtfertigt; sie für Kriegsgeschichte entsprechen, sei- hatten darin aber zugleich eine große nen Sitz in Berlin oder Potsdam neh- Gefahr für die von ihnen beanspruch- men und Nebenstellen in München, te Deutungshoheit über das historische Dresden, Karlsruhe und Stuttgart er- Geschehen des Weltkriegs erkannt. Ein halten. Die bisherigen Soldaten sollten historistisches Wissen-Wollen, wie es ihre militärischen Titel ablegen und als wirklich gewesen sei, lag nicht in ih- zivile Reichsbeamte in die ihren militä- rem Interesse und – nach ihrem Ver- rischen Dienstgraden entsprechenden ständnis – auch nicht im Interesse des Dienstränge überführt werden. Diese Deutschen Reiches; daher war der Zu- Übernahme sollte auf Vorschlag des gang zu den Quellen des Reichsarchivs Chefs des Generalstabs durch Verfü- so zu gestalten, dass das Militär seine gung des Reichsministeriums des In- Deutungshoheit wahren konnte. Da- nern erfolgen. für bot das in der Denkschrift konzi- pierte neue Reichsarchiv alle notwen- Die Überlegungen zur Aufbauorga- digen Voraussetzungen, zumal an eine nisation des Reichsarchivs wurden in rechtliche Fassung der Aufgaben des drei Organigrammen graphisch vor- Reichsarchivs und eine gesetzliche Re- gestellt. Die zum Zeitpunkt der Denk- gulierung des Archivgutzugangs nicht schrift anfallenden jährlichen Gesamt- gedacht war. kosten zur Unterhaltung des Archivs und der kriegsgeschichtlichen Abtei- Beratungen im Kabinett lungen wurden mit „rund 1.800.000 Über die Umsetzung der Seeckt-Denk- Mark“ veranschlagt, die im Wesentli- schrift – eine Kommission wurde nicht chen für etwa 175 Angestellte zu ver- eingerichtet – kam es in den folgenden wenden sein würden. Wochen zu zähen Verhandlungen, in deren Verlauf Hans von Haeften am Die Denkschrift schließt mit der Emp- 20. August sogar mündlichen Vortrag bei fehlung, „alsbald eine Kommission zu Reichspräsident hielt.13 berufen, die unter Beteiligung aller in Schwierigkeiten bereiteten aus Sicht der Betracht kommenden Behörden die Reichswehr insbesondere der Reichsmi- Einzelfragen und die Etatisierung prüft, nister des Innern und der sowie die Übergangswirtschaft regelt“. Reichsaußenminister Herrmann Müller, Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 41 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

beide SPD.14 Auf David ging auch der Im Ergebnis dieser Sitzung übersandte Vorschlag zurück, die Akten des Reichs- Oberst von Haeften unter dem Da- kolonialamtes und des Reichsmari- tum vom 3. September 1919 eine stark neamtes in die Überlegungen mit ein- gekürzte Entscheidungsvorlage zur zubeziehen. „Errichtung eines Reichsarchivs“, die hinsichtlich der kritischen Inhalte ent- In der ersten Beratung der Reichsar- schärft und im Ton deutlich sachlicher chiv-Frage im Kabinett am 1. Septem- gehalten war als die Seeckt-Denkschrift ber 1919, an der Hans von Haeften als vom 12. Juli 1919. Dafür waren ihr aller- Vertreter des Generalstabs teilnahm, dings die Abteilungsleiterpapiere und kamen ausweislich des Protokolls die die Ausarbeitung von George Soldan verschiedenen Positionen erneut zum als Anlagen beigefügt worden.16 Für den Austrag. Dort heißt es zu Punkt 4 der Haushalt wurden nun 1,4 Millionen Tagesordnung unter der Überschrift Mark im Jahr veranschlagt, versehen je- „Zukunft der Archive und kriegsge- doch mit dem Hinweis, dass ein erheb- schichtlichen Abteilungen des Grossen licher Teil der Personalkosten für die im Generalstabes“: Reichsarchiv beschäftigten ehemaligen Offiziere mit andernfalls anfallenden „Der Reichsminister des Innern regte „Pensionen, Offiziersentschädigungen die Frage an, ob man nicht die Archi- und z.T. Kriegsbeschädigten-Zulagen“ ve des Reichskolonialamts und des verrechnet werden müsste. Die Errich- Reichs-Marineamts mit den entspre- tung und ordentliche Etatisierung des chenden Einrichtungen des Großen Reichsarchivs sollte zum 1. April 1920 Generalstabes vereinigen und in einer erfolgen und für die Zeit vom 1.Oktober noch zu bestimmenden Stadt ein selb- 1919 bis zum 31. März 1920 ein Proviso- ständiges Reichsarchiv schaffen solle, rium dergestalt geschaffen werden, dass das dem Reichsministerium (Kabi- „die mit der Verwaltung der Kriegsak- nett) unmittelbar zu unterstellen sein ten betrauten Teile des Generalstabs in würde. Bei der Erörterung wurde von ihrer bisherigen Organisation bis zum verschiedenen Seiten der Erhaltung 31. März 1920 bestehen“ blieben. Bis der wertvollen Schätze zugestimmt, zum Jahreswechsel sollte das Reichs- dagegen Bedenken gegen die Art der archiv noch im ordentlichen Etat des Ausführung erhoben, soweit sie sich ge- Kriegsministeriums verbleiben und wissermaßen als Fortsetzung des Gro- zum 1. Januar 1920 in den des Reichs- ßen Generalstabes charakterisierten. Es ministeriums des Innern übertragen sei bedauerlich, daß eine Drucklegung werden. des Aufbaues erfolgt sei, da damit die Geheimhaltung in Frage gestellt sei und Das Reichsarchiv sollte danach bei einer die Art der Anordnung den Anschein Gesamtpersonalstärke von 147 Offi- erwecken müsse, als ob wir den Gene- zieren und 34 Beamten eine „Verwal- ralstab fortsetzen wollten. Der Chef der tungs-Abteilung“, die für die Sammlung Admiralität bat, von einer Vereinigung und Erschließung der Akten zuständig des Marine-Archivs Abstand zu neh- sein sollte, eine „Sichtungs-Abteilung“, men. Ein Beschluß wurde nicht gefaßt, deren Aufgabe die Kriegsgeschichts- da das Reichsfinanzministerium nicht schreibung sein würde, und eine „Druck- vertreten war.“15 schriften-Sammlung“ umfassen. 42 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Am 5. September 1919 beriet das Reichs- des Innern wird die Weiterverfolgung ministerium die „Zukunft der Archive der Angelegenheit betreiben.“ und kriegsgeschichtlichen Abteilungen des Grossen Generalstabs (Reichsarchiv)“ Auch im Kabinett wurde die Diskussi- als Tagesordnungspunkt 1 erneut.17 Im on weiterhin sehr emotional geführt Protokoll heißt es dazu: und mit Pathos nicht gespart. Hans von Haeften erinnerte sich später an einen „Der Oberst von Haeften berichtete Ausbruch Gustav Noskes: „Das deut- über den abgeänderten Plan für die sche Volk ist heute national so ver- Errichtung eines Reichsarchivs und bat lumpt, daß alles geschehen muß, um um Entscheidung der Fragen, es vor allem national wiederaufzurich- a. ob ein Reichsarchiv geschaffen wer- ten. Durch nichts kann dies wirksamer den solle, erreicht werden, als durch die Beleuch- b. welcher Behörde es zu unterstellen tung der stolzen Erinnerungen aus dem sei, Weltkriege.“18 c. wie es etatisiert werden solle, d. wohin der Sitz des Reichsarchivs Einrichtung des Reichsarchivs gelegt werden solle. als zivile zentrale Behörde Nach eingehender Erörterung über die Am 1. Oktober 1919 wurde zunächst Angelegenheit, bei der noch einmal von nicht mehr und nicht weniger als eine verschiedenen Seiten betont wurde, bis dahin militärische Dienststelle in daß unter keinen Umständen etwa das eine zivile zentrale Reichsbehörde um- Archiv gewissermaßen die Fortsetzung gewandelt. Als Leiter des neuen Reichs- des Generalstabes sein dürfe und dem- archivs bestätigt wurde auch Mertz von zufolge derartige Pläne zu unterbleiben Quirnheim, der nunmehr den zivilen Ti- hätten, wurde grundsätzlich der Errich- tel eines Präsidenten des Reichsarchivs tung des Reichsarchivs zugestimmt. führte. Von Haeften, der dem eigenen Man kam ferner dahin überein, daß das Bekunden nach die Verhandlungen mit Reichsarchiv dem Reichsministerium der Reichsregierung ohne Beteiligung des Innern zu unterstellen sein würde Mertz von Quirnheims allein geführt und daß ferner zweckmäßig die Etati- hatte, musste sich mit der Leitung der sierung nicht bei der Abwicklungsstelle Sichtungsabteilung (Abteilung S) be- der Heeresverwaltung, sondern sofort gnügen, die 1921 in Kriegsgeschichtliche beim Etat des Reichsministeriums des Forschungsabteilung umbenannt wur- Innern zu erfolgen habe. Wegen des de; erst 1931 konnte von Haeften nach Sitzes wurde darauf hingewiesen, daß dem Ausscheiden Mertz von Quirn- zweckmäßig das Reichsarchiv in Ber- heims aus dem aktiven Dienst dessen lin bzw. Potsdam bliebe, weil hier die Nachfolge als Präsident des Reichsar- Zentralstellen, insbesondere die großen chivs antreten. Bibliotheken vorhanden wären. MinDir. Walther vom Reichsschatzministerium Schon bald setzten jedoch die Bemü- wurde gebeten, ein passendes Gebäude, hungen ein, den provisorischen Status gegebenenfalls in Potsdam, in Verbin- des Reichsarchivs zu überwinden, die dung mit dem Reichsministerium des zunächst darauf gerichtet waren, ge- Innern und dem Reichswehrministe- eignete Gebäude für das neue Reichs- rium auszusuchen. Der Reichsminister archiv zu finden. Dieses sollte nach den Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 43 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Vorstellungen des Reichsministers des sächlich entschied die Reichsregierung Innern „sofort über den Rahmen eines sich für die Jäger-Kaserne auf dem Pots- Weltkriegsarchivs hinaus in ein wirkli- damer Brauhausberg und schuf damit ches Reichsarchiv zur Aufnahme aller eine wesentliche Voraussetzung für die weggelegten Akten der Reichsressorts Aufnahme der tatsächlich archivischen seit der Gründung des Norddeutschen Arbeit. Bundes“ ausgestaltet werden.19 Erst wenn das Reichsarchiv – „nach Ressorts Eine weitere unabdingbare Vorausset- und Dienststellen geordnet“ – nicht zung stellte die Etatisierung des Reichs- nur die Archivalien der Reichsressorts archivs im Haushaltsplan des Deutschen seit 1867, sondern auch die Archivalien Reiches dar. Mit der Zuweisung der des Weltkriegs für die Bereiche Kriegs- notwendigen Haushaltsmittel für Per- wissenschaft, Kriegswirtschaft und sonal und sächlichen Bedarf wurden im Kriegsverwaltung sowie die Archivalien Reichshaushalt erstmals die Aufgaben der Nachkriegszeit mit den Materiali- des Reichsarchivs definiert. Danach ob- en der Übergangsorganisationen, der lagen dem Reichsarchiv abzutretenden Gebiete und der Koloni- „1. die Sammlung, Verwahrung und alverwaltung verwahren würde, würde Verwaltung des gesamten Urkun- es „aufgehört haben, lediglich eine den- und Aktenmaterials des Reiches Fortsetzung einzelner Abteilungen des seit seiner Gründung, soweit es nicht früheren Großen Generalstabs unter mehr für die laufende Verwaltung neuer Benennung zu sein, was auch gebraucht wird, schon im Hinblick auf die Bestimmun- 2. die Auskunfterteilung auf Grund des gen des Friedensvertrags vermieden dem Archiv anvertrauten Aktenma- werden“ müsste. terials und 3. die unparteiische und wissenschaft- Die Reichsregierung befasste sich mit liche Erforschung und Schilderung der Standortfrage am 15. Dezember der hinter uns liegenden Periode der 1919, kam aber nicht zu einer Entschei- Geschichte des Reiches.“ 22 dung und überwies die Frage der „Aus- gestaltung des Reichsarchivs und Ueber- Aktenübernahme weisung der Kadettenanstalt Potsdam“ und Personalaufbau zunächst an eine „Chefbesprechung Von zentraler Wichtigkeit für die unter Vorsitz des Herrn Reichskanz- Bewältigung der anstehenden archi- lers“.20 Diese fand am 10. Januar 1920 vischen Aufgaben war es schließlich, beim Reichskanzler statt und führte zu das bestehende Personal auszubauen dem Beschluss, „die Frage zu prüfen, und archivarisches Fachpersonal ein- ob nicht an Stelle der Kadettenanstalt zustellen, denn die aus dem General- in Potsdam die Kaserne des ehemaligen stab übernommenen Militärs waren Garde-Jäger-Bataillons dem Reichs­ zwar für die kriegshistoriographischen archiv überwiesen werden kann. Das Aufgaben geeignet, nicht aber für die Reichsministerium des Innern wird die Übernahme, Ordnung und Erschlies- erforderlichen Prüfungen veranlassen sung der nun mit hohem Druck in das und einen Lokaltermin anberaumen, junge Reichsarchiv zu übernehmenden an dem gegebenenfalls auch der Herr Aktenmassen militärischer und ziviler Reichskanzler teilnehmen wird.“21 Tat- Provenienz. Matthias Herrmann rech- 44 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

net die Bestände auf, die zwischen dem Forschungsaufgaben und nur 28 in den Anfang des Jahres 1920 und der Mitte Abteilungen Archiv, Auskunft und Zen- des Jahres 1922 in das Reichsarchiv tralabteilung. gelangten, und kommt dabei auf „117 Wagen, 2781 Kisten und 10961 Pakete Damit wurde – wenn auch nur bis zu ei- mit Akten [...], die zu ca. 3500 selbstän- nem gewissen Grade – ein Geburtsfeh- digen, fast ausschließlich militärischen ler des Reichsarchivs korrigiert. „Die Re- Aktenbildnern gehörten“23. Besondere gierung hatte durch Ministerbeschluss Erwähnung verdienen neben den Be- ein Nationalarchiv geschaffen, ohne ständen des Generalstabsarchivs die die Archivwissenschaft zu konsultie- Unterlagen der Generalgouvernements ren, sie hatte eine staatliche historische Belgien und Warschau, die geradezu Forschungsanstalt geschaffen, ohne enormen Aktenmengen der Kriegsroh- die Stellungnahme der Fachhistoriker stoff- und Kriegswirtschaftsgesellschaf- einzuholen. Sie hatte sich darüber hi- ten und erste Abgaben aus den früheren naus durch die Vereinigung der beiden Reichsämtern des Kaiserreichs, allen Arbeitsbereiche in einer Behörde ein voran des Reichskolonialamts.24 in dieser Konstellation gänzlich neu- artiges, institutionelles Zwitterwesen Diese zahlreichen und äußerst he- geschaffen. Am fatalsten sollte sich aber terogenen Übernahmen konnten nur das Versäumnis der Politik erweisen, bewältigt werden, weil von 1920 an nicht von Beginn an die Einbindung tatsächlich verstärkt archivarisches ziviler wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachpersonal eingestellt wurde, wäh- durchgesetzt zu haben.“27 rend gleichzeitig eine ganze Reihe frü- herer Offiziere aus dem Reichsarchiv Fehlende Akzeptanz ausschied. Die Übernahme der Leitung durch das Militär der Archivabteilung durch den bis da- Tatsächlich sollte während der folgen- hin im Preußischen Geheimen Staats- den Jahre die Trennung zwischen den archiv Berlin-Dahlem arbeitenden zivilen und militärischen Mitarbeitern Ernst Müsebeck stellt eine wesentliche und ihren Aufgaben nie wirklich über- Zäsur dar.25 Unter Müsebecks Einfluss wunden werden. Vielmehr gab es zum entwickelte das Reichsarchiv rasch ein Teil scharf geführte Auseinanderset- eigenes archivfachliches Profil, wenn zungen insbesondere um Methode und auch die Kriegsgeschichtsschreibung Organisation des Weltkriegswerks, die weiterhin den deutlichen Vorrang ge- zusätzlich belastet wurden durch die nießen sollte. notwendigen Etatkürzungen und Perso- nalverminderungen der Jahre 1922/23. Diese Wendung hin zum Archiv schlug Es sollte sich zeigen, dass das Militär sich auch in der zum 1. Januar 1921 auch langfristig nicht bereit war, die verfügten Neugliederung des Reichs- Verwaltung des Archivguts militärischer archivs nieder. Unter dem Präsidenten Provenienz durch eine zivile Behörde zu Herrmann Ritter Mertz von Quirnheim akzeptieren. Bereits im Mai 1924 konnte standen zehn Abteilungen.26 Insge- das Reichswehrministerium das Reichs- samt arbeiteten zu diesem Zeitpunkt ministerium des Innern zum Erlass von 99 wissenschaftliche Mitarbeiter im „Richtlinien für das Zusammenarbeiten Reichsarchiv, davon allerdings 71 mit des Reichsministeriums des Innern und Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 45 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

des Reichsarchivs mit dem Reichswehr- belebt. Der neue Leiter, Generalleutnant ministerium“ nötigen, die den Einfluss Friedrich von Rabenau, brachte seine des Innenministeriums erheblich be- Genugtuung darüber, dass ein aus Sicht schränkten. So wurde festgestellt, dass des Militärs inakzeptabler Zustand ein nach Auffassung der Reichswehr die Ak- Ende gefunden hatte, in seiner Begrüs- ten des alten Heeres keineswegs in den sungsansprache am 16. April 1937 in Besitz des Reichsarchivs übergegangen Potsdam deutlich zum Ausdruck: wären, sondern der Reichsminister des Innern lediglich als „Treuhänder des „[General von Seeckt] hat unter ziviler Reichswehrministers“ fungierte. Auch Tarnung [...] das erste allgemein-deut- die Etathoheit des Innenministers wur- sche Heeresarchiv gegründet. Es trug zur de eingeschränkt, da die Verausgabung Tarnung den Namen Reichsarchiv, aber von Mitteln und Änderungen von Etats wir wollen nicht vergessen, daß dieses an das Einvernehmen der Reichswehr Reichsarchiv in seinen Anfängen ein gebunden wurden.28 Heeresarchiv war.“29

Die Entwicklung eines allgemeinen, Es muss als das bleibende Verdienst auch und vor allem die zivilen Reichs- insbesondere der zivilen Archivare des ministerien und Reichsbehörden be- Reichsarchivs gewertet werden, dass treuenden Reichsarchivs sollte auch nach der Herauslösung des Heeresar- dann noch Bestand behalten, als es dem chivs nicht nur ein Torso übrig blieb, Militär unter der Herrschaft des Nati- sondern ein voll ausgebildetes, wenn onalsozialismus gelang, das Archivgut auch auf die zivilen Teile der Reichs- militärischer Provenienz wieder aus regierung und der Reichsverwaltung dem Reichsarchiv herauszulösen. 1936 beschränktes deutsches Zentralarchiv. wurde beim Chef des Generalstabs die Dienststelle eines Chefs der Heeresar- Dr. Michael Hollmann ist Präsident chive geschaffen bzw. eigentlich wieder- des Bundesarchivs.

1 Der nachfolgende Beitrag wurde als schriftliche Pöhlmann und Walter Vogel. Eigene Quellenstu- Fassung eines am 26. September 2014 auf dem 50. dien habe ich in nur sehr beschränktem Umfang Deutschen Historikertag in Göttingen gehaltenen betrieben und vor allem dann Rückgriff auf archi- Vortrags zunächst abgedruckt in: Rainer Hering/ valische Quellen genommen, wenn es galt, Zitate Robert Kretzschmar/Wolfgang Zimmermann (Hrsg.): in ihrem Kontext zu überprüfen. Im Einzelnen: Erinnern an den Ersten Weltkrieg. Archivische Karl Demeter: Das Reichsarchiv. Tatsachen und Überlieferungsbildung und Sammlungsaktivitäten Personen, Frankfurt am Main 1969; Matthias in der Weimarer Republik (Werkhefte der Staatli- Herrmann: Das Reichsarchiv (1919-1945). Eine chen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 25), archivische Institution im Spannungsfeld der Stuttgart 2015, S. 29-61. Der Wiederabdruck erfolgt deutschen Politik, Diss. phil. Berlin 1993; Matthias mit freundlicher Genehmigung des Landesarchivs Herrmann: Das Reichsarchiv – Archiv des Reiches? Baden-Württemberg. Der vorliegende Beitrag wurde Anmerkungen zu Wirken und Wirkung des geringfügig aktualisiert und um die Anlagen gekürzt. Reichsarchivs (1919-1945), in: Dahlemer Archiv- Diese sind wie in den Anmerkungen ausgewiesen als gespräche 6 (2000), S. 101-139; Ernst Müsebeck: Archivgutdigitalisate online verfügbar. Der systematische Aufbau des Reichsarchivs, in: Preußische Jahrbücher 191 (1923), S. 294-318; Mar- Der Beitrag fußt gleichsam als relatio ex libris ganz kus Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichts- wesentlich auf den Arbeiten von Karl Demeter, politik: Der Erste Weltkrieg. Die amtliche deutsche Matthias Herrmann, Ernst Müsebeck, Markus Militärgeschichtsschreibung 1914-1956 (Krieg in 46 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

der Geschichte 12), Paderborn/München/Wien/ Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Zürich 2002; Walter Vogel: Der Kampf um das geistige Dokumente, Frankfurt am Main 1997, S. 65-68. Erbe. Zur Geschichte der Reichsarchividee und des Zu den Papieren und ausführlich insbesondere Reichsarchivs als „geistiger Tempel deutscher Ein- zu Soldan siehe Pöhlmann: Kriegsgeschichte und heit“, Bonn 1994. Geschichtspolitik (wie Anm. 1), S. 65-69. 2 Abschrift der Kabinettsvorlage des Bundesmi- 11 Explizit nennt von Sydow alle preußischen Staats- nisters des Innern vom 15. März 1950 in: BArch, archive, das Kriegsarchiv des Generalstabes, das B 136/4959. Siehe den Abdruck des Kabinettsbe- Kriegsarchiv des Kriegsministeriums, alle Kriegs- schlusses vom 24. März 1950 in: Kabinettsproto- akten des Weltkrieges und das Politische Archiv kolle der Bundesregierung, Bd. 2: 1950, bearb. von des Auswärtigen Amts. Ulrich Enders und Konrad Reiser, Boppard am 12 Siehe BArch, R 43 I/886, Bl. 2-17, online unter Rhein 1984, S. 285. Vgl. dazu Friedrich P. Kahlen- https://invenio.bundesarchiv.de/basys2-invenio/ berg: Deutsche Archive in West und Ost. Zur Ent- direktlink/78a4026d-49a6-49b3-a225-c1b- wicklung des Staatlichen Archivwesens seit 1945, 77d8b2e2b/; Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Düsseldorf 1972, S. 105ff.; Karl G. Bruchmann: Das Geschichtspolitik (wie Anm. 1), S. 70-73. Von Bundesarchiv in Koblenz, in: Geschichte in Wissen- Haeften nahm die Verfasserschaft selbst für sich schaft und Unterricht 15 (1964), S. 83-98. in Anspruch, wenn er in einer Randbemerkung 3 Vgl. dazu Walter Nissen: Zur Geschichte der Reichs- zu dem Müsebeck-Aufsatz (wie Anm. 1) am Rand archividee im 19. Jahrhundert, in: Archivar und vermerkt: „Entworfen ist diese Denkschrift von Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswis- mir. Kr[ukenberg] hat sie abgeschrieben. Mertz ist senschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto an allen diesen Verhandlungen nicht beteiligt ge- Meisner, hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung wesen. Ich habe allein mit der Regierung in Weimar im Staatssekretariat für Innere Angelegenheiten, u[nd] später in Berlin verhandelt. Vgl. Akten vom Berlin 1956, S. 162-175; Adolf Brenneke: Archiv- 22.10.31.“ Der Sonderdruck des Aufsatzes mit den kunde. Ein Beitrag zur Theorie und Geschichte Randvermerken von Haeftens befindet sich in der des europäischen Archivwesens, bearb. nach Vor- Dienstbibliothek des Bundesarchivs in Koblenz. lesungsnachschriften und Nachlaßpapieren und Die nachfolgenden Zitate entstammen sämtlich ergänzt durch Wolfgang Leesch, Leipzig 1953, der Denkschrift in BArch, R 43 I/886. S. 301-312. 13 Vgl. Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichts- 4 „Der deutsche große Generalstab und alle ähnli- politik (wie Anm. 1), S. 73f. chen Formationen werden aufgelöst und dürfen 14 Vgl. dazu die Darstellung in Hans von Haeften: unter keiner Gestalt neu gebildet werden.“ Siehe Neuzeitliche kriegsgeschichtliche Forschungsme- Reichsgesetzblatt 1919, Nr. 140, S. 687-1350, die thoden, in: Wissen und Wehr 8 (1935), S. 507-521, zitierte Bestimmung auf S. 921. hier S. 517. 5 Vgl. zum Folgenden Pöhlmann: Kriegsgeschichte 15 und Geschichtspolitik (wie Anm. 1), S. 51-61. Auszug aus dem Protokoll in: BArch R 43/886, Bl. 19 (wie Anm. 12). Abdruck des Protokolls in: 6 Vgl. die biographische Skizze zu Hans von Haeften Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, hrsg. (1870-1937; 1931-1935 Präsident des Reichsarchivs) von Karl Dietrich Erdmann und Hans Booms. Das bei Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichts- Kabinett Bauer. 21. Juni 1919 bis 27. März 1920, politik (wie Anm. 1), S. 84-92. bearb. von Anton Golecki. Boppard am Rhein 1980, 7 Vgl. die biographische Skizze zu Hermann Ritter S. 229. Zu den letztlich erfolgreichen Bemühungen Mertz von Quirnheim (1866-1947; 1919 Oberquar- der Reichsmarine, ihr Archiv als Einrichtung zur tiermeister für Kriegsgeschichte, 1919-1931 Präsi- selbstbestimmten Traditionspflege der Marine dent des Reichsarchivs) bei Pöhlmann: Kriegsge- vor dem Zugriff des Reichsarchivs zu bewahren, schichte und Geschichtspolitik (wie Anm. 1), S. 82-84. vgl. Sebastian Rojek: Versunkene Hoffnungen. Die Deutsche Marine im Umgang mit Erwartungen 8 Abschrift der „Vortragsnotizen“ des Oberquar- und Enttäuschungen 1871-1930, Berlin/Boston tiermeisters für Kriegsgeschichte mit dem 2017, S. 339-420. Datum „Kolberg, den 18.5.1919“ in: BArch, 16 R 1506/41, Bl. 22-24, online unter https://invenio. Siehe den Entwurf in: BArch, R 1506/41, Bl. 1-100 bundesarchiv.de/basys2-invenio/direktlink/ (wie Anm. 8), und die behändigte Ausfertigung in b13f4209-8bc8-4f38-8630-1430d2d14a7a/. BArch, R 43 I/886, Bl. 21-42 (wie Anm. 12). Ganz 9 offensichtlich in der Reichskanzlei wurde in die Abschrift des Schreibens Mertz von Quirnheims Überschrift „Errichtung eines Reichsarchivs“ das an die Abteilungsleiter K 1, K 2, K 3, K 4 und Lit in: Adjektiv „kriegsgeschichtlichen“ handschriftlich BArch, R 1506/41, Bl. 25-27 (wie Anm. 8). eingefügt. 10 Siehe die Abschriften sowie die Ausarbeitung von 17 Auszug aus dem Protokoll in: BArch, R 43 I/886, George Soldan in BArch R 1506/41, Bl. 28-90 (wie Bl. 44 (wie Anm. 12). Abdruck in: Akten der Reichs- Anm. 8). George Soldan war als Hauptmann des kanzlei. Das Kabinett Bauer (wie Anm. 15), S. 236. Infanterieregiments 72 zum Großen Generalstab abkommandiert. Seine Ausarbeitung ist auszugs- 18 Zitiert nach von Haeften: Forschungsmethoden weise gedruckt in: Bernd Ulrich / Benjamin Zie- (wie Anm. 14), S. 517, der allerdings die Kabinettssit- mann (Hrsg.): Krieg im Frieden. Die umkämpfte zung irrtümlich auf den 15. September 1919 datiert. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 47 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

19 Vgl. das Schreiben des Reichsministers des Innern 25 Ernst Müsebeck, 1870-1939, hatte seit 1898 als vom 5. Dezember 1919 an den Reichskanzler in: Archivar in den Archiven in Marburg, Breslau, BArch, R 43 I/886, Bl. 59-60 (wie Anm. 12). Schleswig, Metz und erneut Marburg gearbeitet, bevor er 1908 zum Geheimen Staatsarchiv in 20 Siehe den Protokollauszug in: BArch, R 43 I/886, Berlin-Dahlem wechselte. Von 1920 bis 1934 leitete Bl. 64 (wie Anm. 12). Zuvor war unter anderem die er die Archivabteilung des Reichsarchivs, von Preußische Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde, 1934 bis 1935 war er kommissarischer Leiter des heute der zentrale Standort des Bundesarchivs in Reichsarchivs. Berlin, als möglicher Standort diskutiert, schließ- lich aber wegen anderer Nutzungsoptionen für 26 Abteilung Z (Zentralabteilung unter Karl Ruppert), diese Liegenschaft verworfen worden. Abteilung A (Politik und Kolonialgeschichte unter Paul Herre), Abteilung B (Kriegsgeschichtliche 21 Siehe das Protokoll in: BArch, R 43 I/886, Bl. 75 Forschungsabteilung unter Hans von Haeften (wie Anm. 12). mit drei Unterabteilungen), Abteilung C (Volks- 22 Nachtragshaushalt 1919 und Haushaltsplan 1920 wirtschaft und Kultur unter Friedrich Rauers), mit Beilage 5 zu Kapitel 12 (Reichsministerium des Abteilung D (Technik und Verkehr unter Major Innern). Vgl. Kahlenberg: Deutsche Archive (wie Kretzschmann), Abteilung E (Archivabteilung Anm. 2), S. 18f. unter Erich Müsebeck), Abteilung F (Bücherei und Büchereiausgleichsstelle unter Prof. Dr. Maas), 23 Herrmann: Eine archivische Institution (wie Anm. 1), Abteilung G (Volkstümliche Schriften, Erinne- S. 81 und 513f. rungsblätter unter George Soldan) und Abteilung 24 Die Kriegsrohstoff- und Kriegswirtschaftsgesell- H (Auskunftsstelle unter Hermann Cron) sowie die schaften bilden noch heute eine umfangreiche Abteilung Berlin (unter Leitung von Kurt Jahny). Gruppe von fast 150 Beständen im Bundesarchiv. 27 Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspoli- Die Akten des Reichskolonialamtes, das nach dem tik (wie Anm. 1), S. 76. Verlust der deutschen Kolonien im Gefolge des Versailler Vertrags aufzulösen war, gelangten im 28 Siehe BArch, RH 61/130, Bl. 302. Vgl. dazu Pöhl- Wesentlichen erst von 1924 an in mehreren Tran- mann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik chen in das Reichsarchiv. Vgl. Reichskolonialamt. (wie Anm. 1), S. 130. Bestand R 1001, bearb. von Michael Hollmann, 29 Zitiert nach Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Ge- Koblenz 2003 (Findbücher zu Beständen des Bun- schichtspolitik (wie Anm. 1), S. 153. desarchivs 98), S. XXII-XXIV. Der Bestand ist fast vollständig digitalisiert zugänglich unter https:// invenio.bundesarchiv.de/basys2-invenio/direkt- link/a20bd5c9-c80b-4714-8e01-9ae9b1e22f1e/.

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 49 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Markus Pöhlmann Das Reichsarchiv und das Militär

as Reichsarchiv zählt zu den 1919 in der ehemaligen Kriegsschule in merkwürdigsten Behörden Potsdam das Reichsarchiv eröffnet und der Weimarer Republik. Der dem Innenministerium unterstellt. erste Anlass für seine Grün- Ddung lag in dem Umstand, dass es im Das Reichsarchiv war also zunächst ein Deutschen Reich ab 1871 nicht gelungen Produkt des Krieges. Während nach 1918 war, ein Nationalarchiv einzurichten. das Militär in vielen Staaten die Verfü- Die Republik hatte also eine archivali- gungsgewalt über seine Akten außerhalb sche Erblast des Kaiserreichs abzutragen. der Nationalarchive bewahren konnte, Dieses Dauerproblem war ab 1914 mit hatte es im Deutschen Reich gewisser- dem massenhaften Anfall von Kriegs- maßen das Nationalarchiv als vergrö- akten akut geworden. Das zweite und ßertes Militärarchiv gekapert. Das war nicht minder drängende Problem war freilich eine Verlegenheitslösung, die die durch den Versailler Vertrag erzwun- auch von Seiten der Reichswehr nicht gene Auflösung des Großen Generalsta- favorisiert worden war. Doch wie viele bes. Diese führte im Winter 1918/19 zu Konstruktionsfehler der Republik kön- hektischen Konversionsbemühungen nen wir auch diesen bei den Vätern des seitens der Heeresleitung. Die Angehöri- Versailler Vertrages reklamieren. Die Ge- gen der Kriegsgeschichtlichen Abteilung schichte des Reichsarchivs vom Oktober des Generalstabes – immerhin rund 80 1919 bis April 1935 ist also die Geschichte Militärangehörige – sollten nun in eine eines vielschichtigen und kontroversen zivile Behörde überführt werden, um Anpassungsprozesses an diese Verlegen- dort ihre Tätigkeit als Beamte möglichst heitslösung von 1919 gewesen. Im Fol- rasch wieder aufzunehmen.1 genden soll versucht werden, die Rolle des Militärs in diesem Prozess näher zu Die Verhandlungen zwischen der Hee- bestimmen. resleitung und dem Kabinett Bauer (SPD und Zentrum) gestalteten sich pragma- Was die archivalische Dimension an- tisch, bestand doch bei den Eckpunk- geht, so war diese an sich unproble- ten – Archivproblematik, militärische matisch: Das Reichsarchiv war zwar Personalkonversion und erinnerungs- zunächst eine Art „Militärarchiv Plus“. politische Bedeutung einer Geschichts- Aber es war klar, dass sich seine Tektonik schreibung über den Weltkrieg – weitge- mit der Abgabe der anderen Reichsbe- hend Einigkeit. So wurde am 1. Oktober hörden mittelfristig deutlich verschie- 50 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

ben würde. Hier war die ehemals mi- urteilung im Kriegsjahr 1918 vielleicht litärische Leitung der Behörde auf die durch „realistisch“ zu ersetzen wäre. zivile Expertise unbedingt angewiesen. Seine nichtpreußische Herkunft brach In diesem Bereich hatte das Militär nur den erwarteten Vorwürfen einer restau- wenige Partikularinteressen. rativen, borussozentrischen Kriegsge- schichtsschreibung die Spitze. Für diese Das Reichsarchiv war aber nicht nur als innenpolitisch zerrissene und an ge- ein Archiv gegründet worden, sondern – schichtspolitischen Kontroversen rei- auch das ist nach 1918 im internationalen che Frühphase der Republik scheint Vergleich ein Ausnahmefall – außerdem diese konziliante Persönlichkeit also der als ein Forschungsinstitut zur Geschichte richtige Mann am richtigen Platz gewe- des Weltkrieges. Genaugenommen wuchs sen zu sein. das Reichsarchiv im Feld der Geisteswis- senschaften zur größten außeruniversi- Als Leiter der mit der Abfassung des tären Ressortforschungseinrichtung der amtlichen Werkes beauftragten Histori- Republik auf. Und dessen große, zwei- schen Abteilung des Reichsarchivs wur- te Aufgabe war die Konzeption, Erfor- de Generalmajor a. D. Hans von Haften schung und Publikation einer amtlichen bestimmt. Dieser hatte seit Sommer Geschichte des Weltkrieges. 1916 die neu geschaffene Militärische Stelle des Auswärtigen Amtes geleitet, Leitungspersonal die für die Militärpropaganda im Aus- Blicken wir kurz auf das Leitungsperso- land zuständig gewesen war. Im Jahr nal: Zum Präsidenten wurde der bayeri- 1918 sehen wir ihn als einen rührigen sche Generalmajor a. D. Hermann Ritter Organisator und Mittler zwischen po- Mertz von Quirnheim berufen. Dieser litischen und militärischen Instanzen, hatte seit Sommer 1916 als Leiter der bisweilen im Dienste seiner eigenen, Abteilung „Balkan und Asien“ in der nicht immer klar zu bestimmenden Obersten Heeresleitung (OHL) gearbei- Agenda. Das mal Getriebene, mal Flam- tet. Seine Position im inneren Zirkel der boyante an Haeften charakterisierte OHL von Hindenburg und Ludendorff sein späterer Mitarbeiter am Reichsar- beschrieb sein Kamerad Walter Nicolai chiv, Hans Thimme, wie folgt: 1943 wie folgt: „Überall versucht er sich autokratisch „Ich habe ihn mehr als einen klugen und durchzusetzen. Er hat fieberhaften Drang, witzigen Plauderer, zur Unterhaltung be- überall etwas zu machen, organisieren, sonders für den Feldmarschall wertvoll, in die Erscheinung zu treten. Überlegt und einen persönlich sehr geschätzten sich nicht recht, was. Etwas Wilhelmi- Kameraden im Mitarbeiterkreis Luden- nisches.“3 dorffs gesehen. Ich werde aber in diesem nicht allein mit der Ansicht stehen, daß Auch bei Haeften ergab sich seine Eig- er der am meisten pessimistisch denken- nung für die Leitung des geplanten de Offizier dieses Kreises war.“2 Kriegswerkes aus einer Kombination von Einzelqualifikationen: er war Gene- Dieser Charakterisierung ist wohl zuzu- ralstabsoffizier, er hatte vor dem Krieg stimmen, wenngleich das Adverb „pes- in der Kriegsgeschichtlichen Abteilung simistisch“ im Hinblick auf die Lagebe- Erfahrung gesammelt; durch seine Ver- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 51 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

wendungen seit 1916 hatte er Erfahrung Bände zum Luft- und Kolonialkrieg, zur in der Propagandaarbeit, was angesichts Besatzungspolitik, zu Wirtschaft und der geschichtspolitischen Dimension Rüstung im Krieg sowie zu einer Kultur- der anstehenden Arbeit als Vorteil galt. geschichte des Krieges vor. An sich also Gleichzeitig aber hatte er sich in der eine konzeptionelle Öffnung. 3. OHL innenpolitisch nicht so stark ex- poniert, dass er für die republikanische Die Bedingungen der zukünftigen Regierung als Persona non grata gelten Forschungsarbeit sollten dadurch maß- musste. geblich beeinflusst werden, dass der In- nenminister für das Reichsarchiv eine Die Konzeption des zwölfköpfige Historische Kommission Weltkriegswerkes einsetzte. Die Berufung eines derartigen Haeftens Historische Abteilung war es Gremiums stellte einen bemerkenswer- dann auch, die ab 1920 die Konzeption ten Schritt für die bislang von ziviler eines amtlichen Reihenwerkes aufnahm. Evaluierung unbehelligten militäri- Hier gilt es festzustellen, dass die Erfah- schen Historiker dar. Die Kommission rung des Weltkrieges die Vorstellungen, setzte sich aus Historikern, früheren wie eine solche Publikation in Zukunft politischen Entscheidungsträgern und aussehen sollte, von Anbeginn verän- Offizieren zusammen. Ein Name sticht dert hatten. Die Referenzwerke waren in dieser Kommission hervor – Hans natürlich die von Helmuth von Moltke Delbrück! Der Mann, der den Gene- initiierten „Generalstabswerke“ zu den ralstab seit 1879 in einer historischen Einigungskriegen. Deren trockener Er- Großdebatte herausgefordert hatte, zählduktus, die enge Beschränkung auf sollte fürderhin über die Arbeit einer die Operationsgeschichte und teilweise Militärgeschichtsschreibung wachen, auch die anonyme Autorschaft waren die sich selbst stark in der Tradition nun aber in der internen, militärischen des Generalstabes der Alten Armee Diskussion durchaus umstritten. Dem sah.4 Nun hatten sich aber seit den gesamtgesellschaftlichen Charakter des Tagen dieses „Strategiestreits“ die wis- Weltkrieges und den Bedürfnissen einer senschaftliche Rolle, der publizistische von den Folgen dieses Krieges ganz exis- Einfluss und das politische Gewicht des tentiell betroffenen Leserschaft sollte in Berliner Professors markant verändert. dem neuen „Weltkriegswerk“ stärker Delbrück war bis 1919 zu einem ein- Rechnung getragen werden. flussreichen Intellektuellen der jungen Republik erwachsen.5 Seiner Streitlust Der erste Entwurf der Konzeption sah hatte dies aber keinen Abbruch getan. daher eine Einbeziehung der politi- schen Geschichte des Krieges vor. Er sah Es dauerte auch nicht lange, bis Del- auch vor, das operationsgeschichtliche brück und mit ihm eine liberale Frak- Hauptwerk durch sogenannte Ergän- tion in der Kommission gegen die Plä- zungsbände zu flankieren. Die einzigen ne eines mehrbändigen Reihenwerkes Ergänzungsbände, die tatsächlich reali- Front machten. Kritikpunkte waren die siert werden konnten, behandelten die ungenügende Einbeziehung von His- Themen Kriegsrüstung und Kriegswirt- torikern mit zivilem Hintergrund und schaft bis 1914 sowie das Feldeisenbahn- republikanischer Gesinnung; dann der wesen. Doch sahen die frühen Pläne auch Plan, die politische Geschichte in das 52 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Werk einzubinden – da hatte man wohl ungenannt blieben und das sich auf die kein Vertrauen in die Qualifikation und operationsgeschichtliche Dimension des die politische Orientierung der Autoren; Landkrieges – auch diese Einschränkung weiterhin die von Mertz in Aussicht ge- ist nochmal wichtig – bis hinab auf die nommene Herausgabe einer histori- Divisionsebene beschränkte. schen Zeitschrift; und schließlich die Konzeption des Weltkriegswerkes als 1936 wurden die militärischen Bestände „amtliches Normalwerk“ (Delbrück). So des Reichsarchivs in das neu gegründete fundamental sich die Kritik zunächst Heeresarchiv und damit in die Obhut der ausnahm, so wenig konsequent handel- Wehrmacht überführt. Die Historische ten die Kritiker allerdings, als sich ihre Abteilung war schon ein Jahr zuvor als Position innerhalb der Kommission Forschungsanstalt für Kriegs- und Hee- nicht durchsetzen ließ. Die ursprünglich resgeschichte remilitarisiert worden.6 recht weitreichenden Kompetenzen Wissenschaftliche Impulse gingen von sollten aufgrund der sich bald einstel- ihr eigentlich bis 1945 nicht mehr aus. lenden Selbstblockade des Gremiums Vielmehr widmete sich die Dienststelle nicht zur Geltung kommen. dem Abschluss des Weltkriegswerkes, dessen letzter und bis Kriegsende nicht Besondere Virulenz entwickelten die mehr gedruckter 14. Band 1956 durch zivil-militärischen Verhältnisse im Ar- das Bundesarchiv herausgegeben wurde. chiv allerdings im Zuge des durch die Wirtschaftskrise von 1923 erzwungenen Das publizistische allgemeinen Personalabbaus. Ging doch Instrumentarium der Innenminister dazu über, die Stellen Hält man sich dieses Reihenwerk vor ehemaliger Offiziere abzubauen und Augen, so könnte man den Schluss dafür zivile und zudem erklärtermaßen ziehen, dass sich im Kampf um seine republikanische Historiker – namentlich Konzeption und damit um die wis- Ludwig Bergsträßer, Veit Valentin und senschaftlich-publizistische Form der Martin Hobohm – im Archiv anzustellen. Erinnerung an den Weltkrieg bis 1924 Dies löste die Fronde von ehemaligen Of- restaurative Kräfte durchgesetzt hätten fizieren am Reichsarchiv aus. Für Mertz und sich die Arbeit des Reichsarchivs von Quirnheim, der sich als Präsident auf eine Neuauflage der kaiserlichen um Ausgleich bemühte, dürften diese Generalstabswerke beschränkt habe. Monate zu den schwierigsten seiner Dienstzeit gehört haben. Die Krise kam Dem ist nun sicher nicht so, und zwar in 1924 zu einem Ende. Auch wenn „mili- mehrfacher Hinsicht. Zum Ersten lässt tärische“ Mitarbeiter abgebaut worden sich konstatieren, dass sich das Welt- waren, blieben doch ihr zahlenmäßiges kriegswerk durchaus methodisch von Übergewicht und ihr Einfluss auf das seinen Vorgängern abhob. Im Ergebnis Weltkriegswerk bestimmend. Die weni- führte die Verwissenschaftlichung der gen „zivilen“ Proporzhistoriker fristeten generalstabshistorischen Forschung zur seitdem eine wissenschaftliche Rand­ Abkehr vom Jubelwerk, in dem die Presti- existenz. Im Dezember 1924 erschien gen der militärischen Führer sakrosankt der erste Band des Kriegswerkes „Der blieben. Ergebnis dieser Entwicklung war Weltkrieg 1914–1918“. Im Ergebnis lag auch eine prinzipielle Akzeptanz der his- nun ein Reihenwerk vor, dessen Autoren torisch-kritischen Methode. Hinter die Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 53 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

hier bis 1914 gesetzten Standards konnte lungen aus dem Reichsarchiv“ auch und wollte das Reichsarchiv nicht zurück. über den weltkriegshistorischen Rah- Doch hebt sich das Weltkriegswerk vor men hinaus und in der akademischen allem von seinen Vorgängern dadurch Wissenschaft zu profilieren. ab, dass versucht wurde, das operations- geschichtliche Werk durch Ergänzungs- Geschichtspolitische Legitimationshil- bände zu flankieren. fe leistete die Behörde schließlich auch durch ihre Bereitstellung von Archiv- Dass die Arbeit des Reichsarchivs nicht quellen und durch die Gutachtertätig- mit dem Weltkriegswerk gleichgesetzt keit, etwa im Parlamentarischen Unter- werden kann, beweist schließlich der suchungsausschuss und im Münchner ganz planmäßig be- „Dolchstoßprozess“ triebene Aufbau ei- von 1925. Dabei nes publizistischen Das Reichsarchiv konnten Gutachter Instrumentariums, des Reichsarchivs mit dem das Reichs­ versuchte die militär- hier durchaus auch, archiv versuchte, geschichtliche und entsprechend der in der gewandelten erinnerungspolitische damaligen innen- Öffentlichkeit nach Deutungshoheit zu politischen Front- 1918 die militärge- behaupten. stellungen, gegen- schichtliche und er- einander auftreten. innerungspolitische Am deutlichsten Deutungshoheit zu zeigte sich dies an der behaupten. Dazu gehört die 36-bändi- Auseinandersetzung zwischen Erich ge volkstümliche Serie „Schlachten des Otto Volkmann und Martin Hobohm Weltkrieges“, die genau auf die Leser- um die sozialen Missstände im Heer schaft abzielte, die ihr eigenes Kriegser- von 1918. lebnis in der amtlichen Operationsge- schichte eben nicht wiederfand.7 Dazu Die Verbindung von Forschungsinsti- gehörte auch die redaktionelle Steu- tution und Archiv ermöglichte es dem erung der von Veteranenvereinigun- Reichsarchiv, sich eine Monopolstellung gen verfassten Regimentsgeschichten. in der Weltkriegsforschung zu sichern In der massenhaften und multimedia- und auch militärisch oder politisch len Verbreitung dieses Kriegserlebnisses inopportune Forschungsvorhaben zu des „einfachen Mannes“ trat das Reichs- blockieren.8 Weltkriegshistoriographie archiv sehr früh und mit geschichtspo- war damals vor allem Zeitgeschichts- litischer Intention gegenüber konkur- schreibung avant la lettre, mit all den rierenden Deutungsangeboten in der damit verbundenen methodischen Pro- Publizistik der Weimarer Republik auf. blemen und mit all dem gesellschaftli- chen Konfliktpotenzial. Auch griffen die Mitarbeiter durch ei- gene Publikationen in die ungezählten Fazit Debatten um die Ursachen, den Ver- Abschließend bleibt die Frage: Hat die lauf und das Ende des Weltkrieges ein. amtliche Militärgeschichtsschreibung Schließlich suchte sich das Archiv mit das so eindrücklich gewandelte Bild des der Reihe „Forschungen und Darstel- Weltkrieges zwischen 1914 und 1919 54 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

historisch zu erfassen vermocht? Unter- publikaner geworden sind.9 Für Mertz, sucht man hierfür das Weltkriegswerk der 1931 in den Ruhestand trat, blieb alleine, so muss die Antwort lauten: dies zunächst folgenlos. Für Haeften da- wohl kaum. In seiner Art zur Perfektion gegen, der just zu dem Zeitpunkt seinen getrieben, ist es dennoch militärische Frieden mit der Republik gemacht hat- Operationsgeschichte unter sehr man- te, als diese unterging, brachte es 1934 gelhafter Einbindung aller sonstigen das vorzeitige Ende seiner Karriere. Die Perspektiven geblieben. Die Verschrän- Söhne beider Offiziere finden wir dann kung von Politik und Kriegführung 1944 im Zentrum des Widerstands ge- blieb bis zur Unverständlichkeit der gen Hitler.10 historischen Prozesse unterbelichtet. Wo sie dennoch in die Schilderung ein- Mertz von Quirnheim und Haeften ha- gebunden wurde, erschien sie mitunter ben selbst die konzeptionellen Grenzen tendenziös, die strategischen und poli- der amtlichen Generalstabshistoriogra- tischen Aspirationen der Heeresleitung phie wahrgenommen, und sie haben gegenüber der Staatsführung verteidi- Versuche der Erweiterung und der gend. Bei der weltanschaulichen Ver- Neuorientierung unternommen. Viel- ortung der Autoren ist es also fraglich, leicht blieben manche dieser Versuche ob ein politische Geschichte einbe- halbherzig; einige stießen auf äußeren ziehendes Kriegswerk zu einem heute Widerstand – ironischerweise auch von noch befriedigenden Ergebnis geführt Seiten der Historiker, die selbst an einer hätte. Dem gegenüber steht der oben Verwissenschaftlichung und konzep- umrissene und in seiner Art neuartige tionellen Entwicklung der Militärge- Medienmix: Der wissenschaftlich-pu- schichtsschreibung interessiert waren. blizistische Ertrag des Reichsarchivs ist Wieder andere Versuche wurden später eben nicht nur in den 14 dicken Bänden durch die Remilitarisierung 1935 und des Weltkriegswerkes auszumachen. den Kriegsbeginn von 1939 zunichtege- macht. Will man die Rolle des Militärs Die beiden Präsidenten, Mertz und in der Geschichte des Reichsarchivs Haeften (dieser folgte Mertz 1931 nach), abschließend bewerten, so gilt es, auch können wohl kaum als restaurative diese Bemühungen zu berücksichtigen. Hardliner und Kommissköpfe abqualifi- ziert werden. Mertz und Haeften waren Dr. habil. Markus Pöhlmann ist ­Historiker 1919 als „Wilhelminer“ gestartet, und es und Wissenschaftlicher Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissen- lässt sich wohl die These wagen, dass sie schaften der Bundeswehr. Er leitet dort den im Laufe ihrer Amtszeit überzeugte Re- Projektbereich „Erster Weltkrieg“. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 55 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

1 Der vorliegende Text basiert weitgehend auf Markus 7 Markus Pöhlmann: „Das große Erleben da draußen“. Pöhlmann: Kriegsgeschichte und Geschichtspolitik: Die Reihe Schlachten des Weltkrieges (1921-30), Der Erste Weltkrieg. Die amtliche Militärgeschichts- in: Thomas F. Schneider/Hans Wagner (Hrsg.): Von schreibung 1914-1956, Paderborn 2002. Auf eine Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa detaillierte Belegführung wird hier deshalb ver- zum I. Weltkrieg, Amsterdam 2003, S. 113-131. zichtet. Darüber hinaus findet sich die Geschichte 8 Dabei ist aber an die militärgeschichtlichen For- des Reichsarchivs für die archivwissenschaftliche schungen in den ehemaligen Kontingentsarchiven Seite kundig dargestellt in Matthias Herrmann: Das zu erinnern. Siehe Hermann Rumschöttel: Kriegs- Reichsarchiv (1919-1945). Eine archivische Institu- geschichtsschreibung als militärische Geschichts- tion im Spannungsfeld der deutschen Politik. 2. Bde., politik? Zur publizistischen Arbeit des Bayerischen Diss. Berlin 1994. Einblicke eines ehemaligen Mitar- Kriegsarchivs nach 1918, in: Zeitschrift für Bayerische beiters bietet außerdem Walter Vogel: Der Kampf Landesgeschichte 61 (1998), S. 233-254. um das geistige Erbe. Zur Geschichte der Reichsar- chividee und des Reichsarchivs als „geistiger Tempel 9 Den Begriff des Wilhelminers übernehme ich hier deutscher Einheit“, Bonn 1994. von Martin Doerry: Übergangsmenschen. Die Men- talität der Wilhelminer und die Krise des Kaiser- 2 Zit. n. Pöhlmann: Kriegsgeschichte (wie Anm. 1), S. 83. reichs. 2 Bde., Weinheim/München 1986, hier Bd. 1, 3 Pöhlmann: Kriegsgeschichte (wie Anm. 1), S. 90. S. 28f. 4 Siehe Sven Lange: Hans Delbrück und der „Strate- 10 Zum Fall Hans von Haeften siehe Pöhlmann, giestreit“. Kriegführung und Kriegsgeschichte in der Kriegsgeschichte (wie Anm. 1), S. 149-150. Sowohl Kontroverse 1879-1914, Freiburg im Breisgau 1995. der Sohn von Mertz (Albrecht) als auch zwei Söhne von Haeften (Hans Bernd und Werner) wurden als 5 W eiterführend Christian Lüdtke: Hans Delbrück Mitverschwörer Stauffenbergs 1944 hingerichtet. und Weimar. Für eine konservative Republik - Siehe Winfried Heinemann: Unternehmen „Wal- gegen Kriegsschuldlüge und Dolchstoßlegende, küre“. Eine Militärgeschichte des 20. Juli 1944, ­Göttingen 2018. München 2019, S. 43. 6 Ab 1.4.1937 Kriegsgeschichtliche Forschungsanstalt des Heeres.

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 57 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Sven Kriese Reichsarchiv, Preußische Archivverwaltung und Preußisches Geheimes Staatsarchiv

ie anfangs hohe Skepsis, komplexen Zentralarchivs, d.h. der Ge- die Reichsbehörden wie schlossenheit ziviler und militärischer Staatsarchive der Länder Überlieferung, nicht geklärt war.“2 „D gegenüber dem noch jungen und einseitig militärisch ausge- Dass es markante Auseinandersetzungen prägten Reichsarchiv entgegenbrachten, zwischen Reichsarchiv auf der einen Seite wich allmählich einer konstruktiven Ak- und Preußischer Archivverwaltung mit zeptanz. Hervorhebenswerte Spannun- seinem Zentralarchiv, dem Preußischen gen bestanden lediglich zum benachbar- Geheimen Staatsarchiv, auf der anderen ten Geheimen Staatsarchiv fort, das die Seite gab, ist bekannt und mehrfach Zuständigkeit des Reichsarchivs in Frage untersucht worden.3 Die Benennung der stellte und Anspruch auf die Schaffung ‚Auseinandersetzung‘ zwischen beiden eines gemeinsamen Reichs- und Preußi­ Archiven ist ein zeitgemäßer Quellen- schen Staatsarchivs erhob.“ So These begriff, wobei jedoch zu betonen ist, dass „IX“ der noch heute grundlegenden Dis- der Terminus der ‚Auseinandersetzung‘ sertation von Matthias Herrmann über zwischen Archiven zunächst den techni- „Das Reichsarchiv“ aus dem Jahr 1994.1 schen Aspekt der ‚Archivalien-Auseinan- Weitere Thesen des leider viel zu früh dersetzung‘ meint, der auch heute unter verstorbenen Herrmann befassten sich der Bezeichnung ‚Beständeabgleich‘ zwi- mit den Beziehungen zwischen Reichs­ schen Archiven zu intensiven fachlichen archiv und Preußischem Geheimen Kontroversen führen kann. Die Ausein- Staatsarchiv (GStA), so These XIII: „Die andersetzungen zwischen Reichsarchiv, Bestimmung des Reichsarchivs zur ein- Preußischer Archivverwaltung und GStA zigen und zentralen Archivverwaltung gingen jedoch darüber hinaus, sollen mit Zuständigkeit für die Überlieferung aber nachfolgend nicht als ein kämpfe- oberer und oberster Reichsbehörden rischer Konflikt um Macht untersucht erschien von grundlegender Bedeutung. werden, der zur richtigen oder falschen Einer Lösung des Problems standen die archivischen Lösung führte, sondern es permanenten Ansprüche des Preußi- werden die determinierenden Entwick- schen Geheimen Staatsarchivs auf Über- lungsbedingungen mit betrachtet, die nahme der zivilen Überlieferung zur diese Auseinandersetzungen befeuerten. Geschichte des Reiches unter Dominanz Dazu wird der Bogen von der Gründung Preußens entgegen. Letzteres konnte des Reichsarchivs bis zur Integration des sich die Tatsache zunutze machen, daß GStA in die Stiftung Preußischer Kultur- im Reichsarchiv selbst das Problem eines besitz geschlagen. 58 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Nach der Gründung tung gestanden, wäre die deutsche Ar- des Reichsarchivs chivgeschichte um 1918/1919 dann an- Bei Gründung des Reichsarchivs im ders verlaufen? Es gab ja bereits in Kosers Jahr 1919 stand an der Spitze der größ- Amtszeit konkrete Pläne für eine ge- ten deutschen Archivverwaltung – der meinsame Baulösung des Preußischen Preußischen – Paul Fridolin Kehr. Kehr Geheimen Staatsarchivs und eines ge- hatte zahlreiche wissenschaftliche planten zivilen Reichsarchivs, die etwa Ämter inne, wobei ihm das 1915 an- 1906 begannen, jedoch 1914 vorerst ab- vertraute Amt des Generaldirektors der rupt endeten. Preußen trieb damals Preußischen Staatsarchive und zugleich die archivische Bauplanung wegen der 1. Direktors des Preußischen Gehei- Raumnot und der Lagerbedingungen im men Staatsarchivs ganz sicher nicht Königlichen Lagerhaus intensiv voran; das Wichtigste war. Sein Herz gehörte der Reichstag konnte sich der Dringlich- Rom und dem dortigen Preußischen keit für das Reichsarchiv jedoch nicht an- Historischen Institut, das er kriegs- schließen und zog am 25. Februar 1914 bedingt hatte verlassen müssen, den seine Finanzierungsbeteiligung zurück. mittelalterlichen Papsturkunden, dem Dem GStA wurde ein neuer Baugrund – 1917 gegründeten zwischenzeitlich war Kaiser-Wilhelm-In- ein Projekt für das stitut für Deutsche GStA im vormaligen Geschichte und den Das GStA unter- Botanischen Garten Monumenta Ger- stützte maßgeblich die beim Berliner Kam- maniae Historica, reichsarchivinternen mergericht geprüft denen er ebenfalls worden – auf dem vorstand. Der Me- ­Fortbildungskurse Anfang Areal der Domäne diävist Kehr war ein der 1920er Jahre. Dahlem zugewie- mächtiger Wissen- sen.5 Der Bau eines schaftsorganisator zivilen Reichsarchivs mit einem Hang zur in Berlin scheiter- Ämterhäufung, dessen Erfolge in der te schließlich in den parlamentarischen Wissenschaftsorganisation zwischen Diskussionen des Reichstags und letzt- wirkungsvoll und bescheiden beschrie- lich am Verlauf des 1. Weltkriegs.6 Es wa- ben werden.4 Anders als sein Vorgänger ren die politischen und finanziellen Ent- im Generaldirektorenamt Reinhold wicklungen der 1910er Jahre, die die Koser war er kein Preußenhistoriker, Partikularität der deutschen Archivland- sondern nutzte die Ressourcen der Ar- schaft bestätigten – neben Preußen gab chivverwaltung für diverse mediävis- es eigenständige Archivorganisationen tische und frühneuzeitliche Editions- ja auch in den Ländern, dabei mit Bay- und Forschungsprojekte, die er zum ern und Sachsen zwei sehr einflussreiche Teil auch mit in die Archivverwaltung Archivverwaltungen. Dass hingegen der gebracht hatte. Große Generalstab 1919 die Gründung des Reichsarchivs auf dem Potsdamer Hätte 1919 nicht Kehr, sondern noch der Brauhausberg erreichte, hatte zunächst bedeutende „Historiograph des preus- wenig mit der langjährigen Diskussion sischen Staates“ Reinhold Koser an der um ein gemeinsames Reichs- und Preus- Spitze der Preußischen Archivverwal- sisches Archiv zu tun, sondern war be- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 59 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

kanntlich zur Fortführung der amtli- Basis der Preußischen Archivverwal- chen Kriegsgeschichtsschreibung und tung bildete, unterstützte maßgeblich zur Aufbewahrung der dafür notwen- die reichsarchivinternen Fortbildungs- digen militärischen Aktenüberlieferung kurse Anfang der 1920er Jahre, die aus mit Bestallung der dazugehörigen mili- den zahlreichen Militärs und Histori- tärischen Mitarbeiterschaft gedacht.7 kern auf dem Brauhausberg Archivare machen sollte.10 Zudem gab es im Laufe Selbstverständlich gab es in den Folge- der Jahre diverse Versetzungen preus- jahren immer wieder enge Berührungs- sischer Archivare an das Reichsarchiv punkte zwischen dem vom Reichsmi- und die zunehmende Rekrutierung von nisterium des Innern ressortierenden, Nachwuchs-Personal des Reichsarchivs aber weiterhin stark militärisch gepräg- aus den Ausbildungsgängen des 1929 ten Reichsarchiv und der Preußischen gegründeten „Preußischen Instituts für Archivverwaltung, die dem Preußi- Archivwissenschaft und geschichtswis- schen Ministerpräsidenten direkt un- senschaftliche Fortbildung“.11 terstellt war. Die ‚Auseinandersetzun- gen‘ zwischen GStA und Reichsarchiv Besonders wirkungsvoll waren die fol- wurden hart geführt, waren im Kern genden beiden Personalübertritte vom aber doch archivfachlich notwendi- GStA zum Reichsarchiv: Ernst Müse- ge Archivalien-Auseinandersetzungen. beck, der ab 15. Dezember 1920 als Leiter Dabei erschienen vier Überlieferungs- der Archivabteilung beim Reichsarchiv stränge besonders regelungsbedürftig, der Organisator des Modernisierungs- wobei zwei dieser Komplexe als Aus- prozesses zur zivilen Archivbehörde wirkungen des sogenannten Teilungs- wurde, und Heinrich Otto Meisner, der abkommens von 1924 für die Heeres- nach Müsebecks Ausscheiden und nach archivalien zwischen Reichsarchiv und eigenen langen Jahren am GStA und Geheimem Staatsarchiv anzusehen am Brandenburg-Preußischen Haus- sind,8 die zwei anderen mit den ein- archiv am 19. November 1935 durch setzenden Abgaben aus Reichsbehör- Albert Brackmann an das Reichsarchiv den zusammenhingen. Zu nennen sind: versetzt wurde.12 Meisner gab dort das die trennjahrbezogene Aufgliederung Pendant zu Brackmanns persönlichem von Heeresarchiv-Beständen bzw. ein- Referenten in der inzwischen büromäs- gehenden Militaria-Abgaben zum Jahr sig erweiterten Archivabteilung des 1867, die Abgrenzung der Zuständig- Preußischen Staatsministeriums, Georg keiten beim Einwerben militärischer Winter. Meisner sollte offenbar die Nachlässe, die Trennung von Proveni- archivfachlichen Geschicke des Reichs­ enzen bei Abgaben aus Reichsministe- archivs im Gleichschritt mit der Preus- rien sowie die Überlieferungsbildung sischen Archivverwaltung lenken, war für nachgeordnete Reichsbehörden mit doch Generaldirektor Brackmann seit Sitz in den Ländern.9 1. August 1935 in Personalunion auch kommissarischer Reichsarchivdirektor. Auffallend in den Beziehungen zwischen Der Preußischen Archivverwaltung beiden Archiven sind zudem diverse stand er bereits seit 1929 vor, als er als Personalverbindungen: Das Geheime enger Vertrauter Paul Fridolin Kehrs von Staatsarchiv, das als Zentralarchiv Preus- seiner Hochschulprofessur an der Ber- sens weitgehend die archivfachliche liner Friedrich-Wilhelms-Universität auf 60 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

das Generaldirektorat der Archivverwal- Valentin, Hobohm und Schäfer jedoch tung im Preußischen Staatsministerium lagen offensichtlich politische bzw. re- und damit zugleich an die Archivstraße ligiöse Gründe vor. Ein anderes Kapitel nach Dahlem als 1. Direktor des GStA waren die Entlassungen mit Verweis wechselte.13 auf nichtarische Abstammung für Hans Goldschmidt und Martin Löwenthal Die Entwicklung des Reichsarchivs zu 1934 bzw. 1936; Alex Bein kam seiner einer zivilen Archivbehörde war damals Entlassung durch Emigration im Jahr bereits im vollen Gange, insbesondere in 1933 zuvor.16 Folge der zum 1. April 1935 vorgenom- menen Ausgliederung der militärhisto- Besonders einschneidend waren dann rischen Abteilungen zur Forschungsan- die Ruhestandsversetzungen von Reichs- stalt für Kriegs- und Heeresgeschichte.14 archiv-Präsident Hans von Haeften, der 1934 im letzten Jahr vor Erreichen der Eine einheitliche Reichs- Pensionsgrenze in den Ruhestand gehen archivverwaltung? musste,17 sowie von Ernst Müsebeck, der, Durch die Personalie Brackmann stan- im gleichen Alter wie Haeften befind- den die Zeichen nach Jahren separater lich, 1934 von diesem noch die kom- Archivstrukturen zwischen Reich und missarische Leitung des Reichsarchivs Preußen nun deutlich auf Vereinigung. übernommen hatte, aber Mitte 1935 – Zudem forcierten das Innenministe- auch alters- und gesundheitsbedingt – rium seit 1934 und dann Brackmann in den Ruhestand nachfolgte.18 Nach der selbst den Personalumbruch im Reichs- Zwischenlösung Müsebeck übernahm archiv, der die Basis des alten, zumeist schließlich, wie erwähnt, Generaldirek- militärisch geprägten Personalstammes tor Brackmann selbst zum 1. August 1935 nachhaltig verändern sollte. Zum Teil kommissarisch die Leitung des Reichsar- steckte hinter diesem bis 1936 anhal- chivs und erhielt dafür – selbst nur ein tenden Prozess eine politisch moti- Jahr jünger als Müsebeck – die Zusiche- vierte Säuberungswelle auf Basis des rung um Aufschub seiner Pensionsgren- Gesetzes zur Wiederherstellung des Be- ze bis 1939.19 rufsbeamtentums, zum Teil aber war es auch ein Professionalisierungsprozess Sowohl Brackmann als auch Müsebeck zur Einstellung jüngerer, facharchiva- thematisierten seit Anfang der 1930er risch ausgebildeter Mitarbeiter. Daher Jahre die Frage nach einer einheitli- ist jeder der folgenden Fälle einzeln zu chen Reichsarchivverwaltung, auch Ar- betrachten. Gehen mussten damals im chiv-Fachspitze genannt. Der Versuch, Reichsarchiv:15 Friedrich Rauers, Lud- die Archivverwaltung mehr oder weni- wig Bergsträßer, Veit Valentin, Martin ger zentralisiert umzubauen, sollte die Hobohm, Archivrat Kinitz, Karl-Hein- deutsche Archivpolitik für die nächs- rich Schäfer und Werner Blankenstein; ten Jahre maßgeblich prägen und stand Herbert Alexander von Wartensleben im Kontext politischer und dezidiert ar- und Otto Danz wurden gekündigt, chivfachlicher Fragen. Zu nennen sind kamen aber im Heeresarchiv unter. In die Reichsreform, zunächst in der Wei- der Regel erfolgten die Entlassungen marer Republik, dann im NS-Staat, mit Verweis auf mangelhafte fachliche die Raumnot im Reichsarchiv und im Eignung; zumindest bei Bergsträßer, GStA – beide Archive hatten seit Mit- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 61 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

te der 1920er Jahre mit massiven mili- Ausgliederung der kriegsgeschichtli- tärischen und zivilen Überlieferungs- chen Abteilungen aus dem Reichsarchiv zugängen zu kämpfen – sowie die seit abzeichnete, die Herauslösung der IV. längerem verfolgte Erarbeitung eines Hauptabteilung Heeresarchiv aus dem Archivalienschutzgesetzes. GStA zur Bildung eines militärischen Zentralarchivs in Potsdam, wobei Brack- Die Baufrage erfuhr jedoch bereits 1934 mann damals sicher noch von einer Un- einen scheinbaren Wendepunkt: Nach terstellung unter die scheinbar nahe be- immer wieder geführten Diskussionen vorstehende Archivfachspitze ausging.22 um eine gemeinsame Baulösung für das Brackmann stimmte damit der Verselb- Reichsarchiv und das Geheime Staatsar- ständigung einer militärischen Archiv- chiv20 drängte zu Beginn des Jahres 1934 verwaltung zu, um Handlungsfreiheit die Reichswehr auf eigene Nutzung für seine Pläne zur Ausbildung einer der bisher durch das Reichsarchiv als zentralen, übergeordneten Reichs-Ar- Außendepots genutzten Militärgebäu- chivverwaltung zu erhalten – und hatte de in Berlin und Berlin-Spandau. Auf sich dabei grundlegend verrechnet, da Grund dieses Handlungsdrucks und das Reichswehrministerium schließlich einer beträchtlichen Teilfinanzierung eine eigenständige Militär-Archivver- aus dem Reichssondervermögen der waltung durchsetzen konnte. „Arbeitsspende“ wurde die gemeinsame Baulösung für beide Archive verscho- Die formale Gründung des Heeresar- ben und ein alleiniger Magazinbau für chivs auf dem Potsdamer Brauhausberg das Reichsarchiv auf dem Brauhausberg wurde zum 1. April 1937 umgesetzt, genehmigt. Im Frühjahr 1934 begannen wodurch das Reichsarchiv Gast im ehe- die Abrissarbeiten von Gebäudeteilen mals eigenen Haus wurde. Der Druck im Hofbereich des Reichsarchivs, bereits des Wehrmachtsministeriums auf das am 10. November wurde das Richtfest nun zivile Reichsarchiv, die Potsdamer für den zweiflügeligen, sechsgeschossi- Liegenschaft zu verlassen, setzte bereits gen Stahlskelettbau zur Unterbringung 1936 ein und lief parallel zu den Neu- von 82 km Archivgut gefeiert, und noch bauplanungen am Archivstandort Dah- im Dezember 1934 gingen die ersten lem. Zu letzteren lagen Mitte 1936 Pläne Akten aus den Berliner Depots im Neu- und erste Finanzierungszusagen für ein bau ein.21 Jedoch war diese Baulösung zweites, mit dem bestehenden GStA-Bau für das Reichsarchiv eben doch keine verbundenes Erweiterungs-Magazin so- Lösung von Dauer, da sich seit 1935 im wie für einen eigenständigen, östlich ne- Zuge des Aufbaus der Wehrmacht die ben dem GStA auf den heutigen Flächen Zeichen auf Abspaltung der Militaria der FU Berlin liegenden Archivbau für vom Reichsarchiv auf Druck des Kriegs- das Reichsarchiv vor.23 Doch die Baupla- ministeriums bzw. Reichswehrministe- nungen nahmen bald eine überraschen- riums verdichteten. de Wendung: Diverse Verzögerungen in der Finanzierungsprüfung und Ausfüh- Daran hatte auch Generaldirektor rungsplanung führten dazu, dass der Brackmann seinen Anteil. Er, der an- Archivneubau ab März 1938 auf Hitlers sonsten die Ausbildung von Ressortar- Weisung für Speers Projekt der Reichs- chiven intensiv bekämpfte, befürwor- hauptstadt Germania reserviert wurde, tete im Januar 1935, als sich bereits die in der ein gemeinsamer Neubau beider 62 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Archive in Berlin-Lankwitz vorgesehen kanzler.26 Ging es Müsebeck eher um war und die Weiternutzung des Stand- die Fortentwicklung seines Archivs zu ortes Dahlem für das Brandenburgische einem tatsächlichen Deutschen Reichs- Provinzialarchiv reserviert wurde.24 Mit archiv, so arbeitete Brackmann stärker Kriegsausbruch kamen auch diese Pläne an einem grundsätzlichen Umbau des zum Erliegen. Archivwesens unter zentraler fachlicher Lenkung und Fortführung der Preußi- Ähnlich erging es der übergreifenden schen Archivverwaltung im größeren Frage nach Ausbildung einer einheit- Rahmen. Als werbendes Angebot an lichen Reichsarchivverwaltung, in der die Fachkollegen forderte Brackmann sich zwar das höhere taktische Geschick dabei vorerst keine verwaltungsmäs- Albert Brackmanns gegenüber seinem sige Gleichschaltung der Archivland- Kontrahenten in dieser Frage, Erich schaft, sondern wollte das Fortbestehen Müsebeck, zeigte. Zu einem abschlies- gewachsener Strukturen – das heißt senden Erfolg für Brackmann reichte unterschiedlicher Ressortzuordnun- es jedoch auch hier nicht: Beide intensi- gen – akzeptieren. Damit überzeugte vierten 1932 ihre entsprechenden For- er einflussreiche Fachkollegen aus den derungen – Brackmann in seiner Rede Ländern, denn für die Länderarchiv- auf dem Stuttgarter Archivtag vom Sep- verwaltungen waren Brackmanns und tember 1932, Müsebeck am 14. Oktober Müsebecks Planungen existentiell: Otto 1932 in seiner Denkschrift zur Entwick- Riedner zum Beispiel, der Generaldi- lung des Reichsarchivs zu einem Deut- rektor der Bayerischen Staatsarchive, schen Zentralarchiv für die Betreuung sah bei einem zukünftigen Präsidenten der obersten deutschen Reichsbehör- des deutschen Archivwesens lediglich den, in der er noch ein dauerhaftes Ne- die Funktion, Informationen zu bün- beneinander mit der Preußischen Ar- deln und zu verteilen; die gewachsene chivverwaltung für möglich hielt.25 Ressortzugehörigkeit in Bayern zum Bayerischen Staatsministerium für Un- Der Generaldirektor schärfte seine Vor- terricht und Kultus als Reichsmittelbe- stellungen nach der Machtübertragung hörde zum Rust-Ministerium für Wis- und ging dabei von der Überlieferung senschaft, Erziehung und Volksbildung selbst aus: Da die Reichs- und Preus- wollte er beibehalten.27 sischen Behörden und damit deren Überlieferungen nicht mehr zu trennen In seiner Denkschrift vom 19. März sind, müsste auch das Amt einer zentra- 1935 definierte Brackmann noch zehn len Reichsarchivverwaltung die beiden Teilbereiche mit gewissen Eigenstän- höchsten Ämter im deutschen Archiv- digkeiten, die der zukünftigen Reichsar- wesen vereinen; seit spätestens Dezem- chivverwaltung unterstehen sollten: die ber 1934 forderte Brackmann offen die militärischen Archive, ein Reichshaupt- Zusammenlegung der Leitungen von archiv in Berlin-Dahlem, daneben das Reichsarchiv und Preußischer Archiv- GStA mit Zuordnung der übrigen Preu- verwaltung als Vorstufe einer einheit- ßischen Staatsarchive, die Bayerische lichen Archivverwaltung im Reich und Archivabteilung mit den Bayerischen favorisierte nach preußischem Vorbild Staatsarchiven, das Sächsische Haupt- die Unterstellung des zentralen archivi- staatsarchiv, das Württembergische schen Leitungsamtes unter den Reichs- Staatsarchiv und Badische Generallan- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 63 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

desarchiv, die Archivschulen in Berlin Deutungshoheit in der nationalsozi- und München, die Kommunalarchive alistischen Geschichtswissenschaft – sowie die sonstigen nichtstaatlichen zum 1. Oktober 1936 in den Ruhestand Archive.28 In der Denkschrift „Neuord- versetzt. Seine Pensionierung kam für nung des deutschen Archivwesens“ vom das Archivwesen überraschend. Da 22. November 1935 schärfte er nach und sich Walter Frank, Göring, Himmler, forderte nunmehr drei Untergliederun- Rust, Heß und die anderen Beteiligten gen der einheitlichen Reichsarchivver- im Mächtespiel um die deutsche Ge- waltung: die militärischen Archive, das schichtswissenschaft auf keinen geeig- Reichshauptarchiv (in Berlin-Dahlem) neten und zugleich bekennenden nati- sowie die Reichsarchive, womit die onalsozialistischen Nachfolger einigen Länder- und Staatsarchive gemeint wa- konnten, folgte auf Albert Brackmann ren.29 Im Kontext dieser Entwicklungen dessen vormaliger Verwaltungsreferent trieb Brackmann auch das Archivalien- Ernst Zipfel als Direktor des Reichs- schutzgesetz voran, für dessen Entwürfe archivs und als zunächst kommissari- er sich – wie in so vielen grundsätzlichen scher Generaldirektor der Preußischen Angelegenheiten – Staatsarchive.33 Die auf die konzeptio- widersprüchliche nellen Vorarbeiten Biografie des Quer- von Georg Winter Brackmann forderte die einsteigers Zipfel verlassen konnte.30 Zusammenlegung der verdient eine mono- Bereits in der Eröff- ­Leitungen von Reichsarchiv grafische Betrach- nungsrede des Wies- tung, hier können badener Archivtages und Preußischer wenige Schlagworte Anfang September Archivverwaltung. genügen: Sächsische 1934 schwor er die Militärlaufbahn, Archivwelt darauf 1919 Eintritt in ein, dass das geplan- das Reichsarchiv, te Archivalienschutzgesetz den neuen interne Fortbildung zum Archivar bei Geist der Staatsverwaltung verdeutli- gleichzeitigem Studium mit volkswirt- chen müsste.31 Und obwohl Brackmann schaftlichem Abschluss und Promotion, über beste Verbindungen in die minis- in den Folgejahren mit Aufgaben der teriellen Spitzenämter verfügte und ein Bewertung und Überlieferungsbildung Meister der persönlichen Einsprache in an Massenüberlieferungen aus den der Ministerialbürokratie war, verweiger- aufgelösten Kriegswirtschaftsstellen te Hitler bekanntlich am 14. Dezember befasst, schließlich ab 1. Januar 1935 1936 die vollziehende Unterschrift des Oberregierungsrat als Verwaltungs- mehrfach angepassten Gesetzentwurfs.32 und Personalreferent im Reichsarchiv und ab 11. Juni 1936 auch in der Archi- Als das Archivalienschutzgesetz ent- vabteilung des Preußischen Staatsmi- scheidend im Geflecht unterschied- nisteriums, also bei der Preußischen licher Interessenslagen hängen blieb, Archivverwaltung.34 Nach Helmut war Albert Brackmann nicht mehr im Heiber galt er der Walter-Frank-Seite Amt. Er wurde – wohl unter dem maß- als Marionette Brackmanns, der den geblichen Einfluss von Walter Frank überzeugten Nationalsozialisten – Zip- in dessen Bestreben um Macht und fel war NSDAP-Mitglied seit 1932 – zu 64 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

seinem eigenen Machterhalt in Stellung text von Ariernachweisen und Famili- gebracht hatte.35 Zum 1. Oktober 1938 enforschungen, Auseinandersetzungen schließlich wurde Zipfel endgültig auch mit Sippenämtern, NSDAP, Gestapo, SS zum Generaldirektor der Preußischen und Reichssicherheitshauptamt um die Staatsarchive ernannt.36 Archivierungskompetenz, Bestrebun- gen zu Ressortarchiv-Gründungen nach Reichsarchiv und Preußische dem Vorbild des Heeresarchivs, Benut- Archivverwaltung in der NS-Zeit zungsbeschränkungen für Juden, Aus- Zipfel setzte anstelle kollegialer Ent- länder und andere, Dienstleistungen scheidungsfindungen auf die Ausgestal- für geforderte oder selbst angebotene tung der archivischen Entscheidungs- Zu- und Auskunftsarbeiten für Politik abläufe nach dem Führerprinzip und und nationalsozialistische Organisati- die Pflichterfüllung der archivischen onen, schließlich Kriegsdienstabstel- ‚Gefolgschaft‘ nach dem ‚soldatischen lungen und Beteiligung an den soge- Prinzip‘. Grundsätzlich legte er einen nannten ‚Archivkommissionen‘ in den Schwerpunkt auf die Verwaltungsmo- besetzten Gebieten, Aufrechterhaltung dernisierung in den unterstellten Archi- des Dienstbetriebs mit schwindender ven, bemühte sich um Kommunikation Personaldecke, Luftschutzmaßnahmen und bereiste intensiv die Archive. Er hat- und Archivalienverlagerungen. Maß- te durch sein militärisches Auftreten und gebliche Unterschiede sind im Grunde seinen beruflichen Quereinstieg latent nur in der wissenschaftlichen Arbeit mit Vorbehalten im Archivwesen gegen zu beobachten: Waren die preußischen seine Person zu tun, die aber nur selten Staatsarchivare durch systemstützen- offen ausgetragen wurden.37 Die ausfüh- de Arbeiten im Rahmen des Ostpro- rende Leitung des Reichsarchivs lag un- gramms über die Publikationsstelle bzw. ter Zipfel de facto bei Meisner und Her- die Nord- und Ostdeutsche Forschungs- mann Cron, im GStA beim noch durch gemeinschaft oder durch traditionelle Brackmann zum 1. Direktor erhobenen Forschungs- und Editionsprojekte wie Adolf Brenneke, in der Archivabteilung die Germania Sacra wissenschaftlich beim Preußischen Staatsministerium deutlich aktiv, suchte das Reichsarchiv wiederum bei Georg Winter und nach nach 1935/1937 durch den zunehmen- Kriegsausbruch bei Wilhelm Rohr.38 den Wegfall des militärischen For- schungsschwerpunktes erst noch nach Seit dem Amtsantritt Brackmanns am neuen, auf das Reich bezogenen Aufga- Reichsarchiv und dann unter Zipfel ben.39 Mit Ausbruch des Krieges nahmen setzte sich immer mehr eine faktische die Arbeitsergebnisse im Forschungsbe- Vereinheitlichung des Vorgehens zwi- reich personalbedingt aber ohnehin in schen Preußischer Archivverwaltung allen Archiven immer stärker ab. und Reichsarchiv durch. Mit dem Verlust der militärischen Archivalien waren die Unter dieser Gesamtkonstellation ver- fachlichen Herausforderungen und sys- suchte Zipfel zudem, die offengebliebe- temstützenden Leistungen inzwischen nen Themen aus der Amtszeit Brack- ohnehin weitgehend identisch: Er- manns fortzuführen, insbesondere das schließungs- und Kassationsrückstände, Archivalienschutzgesetz und die einheit- Übernahmedruck, fehlende Lagerungs- liche Reichsarchivverwaltung. Jedoch flächen, Benutzungsansturm im Kon- blieben, mit den politischen Entwicklun- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 65 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

gen seit 1938 und insbesondere dann mit Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg maß- Kriegsbeginn, keine Zeit und auch kein geblichen Einfluss auf die verheerende Spielraum, archivfachliche Fachfragen deutsche Archivpolitik in den besetzten durchzusetzen. Ansätze für ein reichs- Gebieten in Frankreich, Italien, Belgien, weit abgestimmtes archivisches Vorge- den Niederlanden und Skandinavien, hen unter partieller Steuerung Zipfels und mit hohem persönlichen Anteil im gab es trotz aller Varianz in den archivi- Osten Europas: in Polen, Tschechien, auf schen Ressortzugehörigkeiten – in erster dem Balkan, im Baltikum und in den Linie durch die Vorbildwirkung der in Sowjetrepubliken.45 Personalunion verbundenen beiden ar- chivischen Leitungsämter: Richtlinien Zipfel, der am Ende des Krieges zahl- zum Beispiel zur Schriftgutverwaltung reiche Funktionen ausübte – seit 1944 und Aussonderung oder zur Kassation durfte er sich auch Unterabteilungslei- (im Justizwesen und bei Personalakten) ter für Archivwesen im Reichsministeri- wurden in Preußen erlassen, dann von um des Innern nennen – gelang es letzt- anderen Ministerien übernommen und lich ebenfalls nicht, die organisatorische für verbindlich erklärt.40 In der Fachpub- Zentralisierung des deutschen Archiv- lizistik platzierte noch Brackmann 1936 wesens zu erreichen und seine beiden die „Mitteilungsblätter der Preußischen Direktorenstellen tatsächlich zu verei- Archivverwaltung“, die sich zum wich- nigen. Verwaltungsmäßig und personell tigsten Kommunikationsmittel Zipfels blieben die Preußische Archivverwal- und der Preußischen Archivverwaltung tung mit ihren Staatsarchiven und das in die gesamte deutsche Archivland- Reichsarchiv getrennt. Erfolge zur Ver- schaft hinein entwickelten.41 Die in der einheitlichung des Archivwesens konn- „Kassationskommission“ – bestehend ten jedoch seit 1935 eindeutig erzielt aus Mitarbeitern des GStA und des werden. Dass Zipfel dabei stärker als Ge- Reichsarchivs – seit 1937 erarbeiteten neraldirektor der Preußischen Staats- Grundsätze sollten durch ihre Veröffent- archive zeichnete und in Erscheinung lichung reichsweiten Vorbildcharakter trat – später dann zunehmend auch als entfalten.42 Am augenscheinlichsten Kommissar für Archivschutz, seltener wurde das übergreifende Agieren Zipfels hingegen als Reichsarchiv-Direktor – dann als Kommissar für Archivschutz, zeigt lediglich, dass er diesem Amt die wozu er 1940 für die besetzten Westge- höhere Außenwirkung beimaß. In der biete bzw. dann ab 1941 für alle besetz- Sache betrachtete er seine Aufgaben ten Gebiete, schließlich ab 1942 für das ohnehin als zentrale Leitungsfunktion gesamte Reichsgebiet ernannt wurde.43 für das gesamte deutsche Archivwesen. Dabei agierte er mal mehr, mal weniger erfolgreich bei den kriegsbedingten Nach Ende des Auslagerungen aus den Preußischen Zweiten Weltkriegs Staatsarchiven und dem Reichsarchiv Zum Kriegsende und direkt danach gab und versuchte ohne tatsächliche Ver- es verzweifelte Aktionen des am 7. Mai fügungsgewalt auch die Auslagerungen 1945 formal entlassenen Ernst Zipfel, der anderen deutschen Archive zu koor- um seine Position zu halten: Vergraben dinieren.44 Zipfel nahm zudem in dieser von Geschirr und Mobiliar im Freiland- Rolle und in seiner weiteren Funktion bereich des GStA, Verlagerungen von als Leiter des Sonderstabs Archive beim Geschäftsstellen und Registraturen des 66 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Kommissars für Archivschutz und der wurde.49 Im GStA ergriff daher zunächst Archivverwaltung, Flucht mit der ver- Abteilungsleiter Gottfried Wentz die bliebenen Reichsregierung am 21. April Initiative. Er verfasste am 9. Mai eine 1945 nach Eutin und dann weiter zum Denkschrift zur Wiederaufnahme des Stadtarchiv Lübeck, nach dem Krieg Dienstbetriebs am GStA, die er über Anbietung an die Alliierten für den Neu- den sowjetischen Militärkommandan- aufbau des deutschen Archivwesens.46 ten in Zehlendorf an den Stadtkom- Eindrücklich in Bezug auf seine man- mandanten adressierte.50 Als vordring- gelnde Selbstreflexion nach Kriegsende lichste Aufgabe des GStA wurde dabei sind seine im Bundesarchiv aufbewahr- die Sicherung der Registratur-Überlie- ten „Erinnerungen eines Archivars“47 ferungen in den Ministerien und Par- oder diverse Briefe an frühere Mitarbei- teidienststellen benannt, die sich bei ter, wie etwa das Schreiben vom 13. Ok- Bedarf auch auf die Registraturen von tober 1945 an den allerdings bereits am nachgeordneten staatlichen bzw. kom- 8. September verstorbenen Gottfried munalen Dienststellen des Großraums Wentz vom GStA. Zipfel bat ihn – Wentz Berlin erstrecken sollte.51 Selbstver- war im Spätsommer 1945 kurzzeitig ständlich berührte Wentz dabei auch Direktor im GStA – „zu erwägen, ob ein die Stellung des Reichsarchivs. Um zü- Schritt der Direktoren, also auch des gig die notwendige Arbeit aufnehmen Leiters des Geh.St.A., jetzt schon zweck- zu können und somit drohenden Ak- mäßig ist, meine Rückkehr zu erbitten, tenverlusten vorzubeugen, forderte er, oder ob man noch wartet, bis sich die dass „die Zuständigkeit des Reichsar- Lage noch mehr beruhigt hat. Sie ver- chivs in Potsdam für die Reichsbelange stehen. An mir hängen ja so viele dran. vorerst unberücksichtigt bleiben“ müs- Denken Sie bloß an die Kollegen aus se. Ganz ähnlich verlief die Argumenta- dem verlorenen Osten! Ich allein habe tion am 21. Juni in der vom neuen Di- den Gesamtüberblick.“48 rektor Georg Winter gezeichneten und von Wentz konzipierten „Denkschrift Zipfel wollte zurück an die Spitze des über die beschleunigte Reaktivierung deutschen Archivwesens. Die Dahlemer des Geheimen Staatsarchivs in Ber- Archivare hingegen sahen diese Funk- lin-Dahlem auf Grund des Artikels 8 der tion zumindest für die Preußischen Deklaration der Alliierten vom 5. Juni Staatsarchive und das Reichsarchiv di- 1945“52: Schnelles Handeln zur Überlie- rekt beim GStA, auch wenn die Hauslei- ferungssicherung in den Registraturen tung des GStA am Kriegsende im Grun- sei gefragt und dabei zu beachten, dass de verwaist war. Der nach seiner Flucht inzwischen alle Berliner Einrichtun- am 1. Oktober 1944 durch Zipfel als gen der Preußischen Archivverwaltung Direktor eingesetzte Erich Randt, vor- „personell und administrativ“ im Gehei- maliger Staatsarchivdirektor in Breslau men Staatsarchiv „zusammengeflossen“ und dann Leiter der Deutschen Archiv- seien und zu „diesem Zentralpunkt […] verwaltung im Generalgouvernement, ferner die Angelegenheiten des Reichs- amtierte im Mai 1945 noch als Direktor, archivs Potsdam wahrgenommen wer- musste zu der Zeit aber Zwangsarbeit den [müssten], wo im Augenblick nur im Berliner Räumungsdienst leisten, ein Beamter des Höheren Archivdiens- bevor er am 15. Juni 1945 wegen seiner tes verblieben“ sei.53 Deshalb müsse die Parteimitgliedschaft offiziell entlassen Aufgabe der Überlieferungssicherung Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 67 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

dem Geheimen Staatsarchiv zufallen. verschwiegene NSDAP-Mitgliedschaft Die „völlige Vereinigung beider Archive am 6. November 1947 zum Verhäng- sollte nach Kriegsende erfolgen“. Beim nis wurde, und Hans Bellée noch zwei Einsammeln der Registraturen müsse weitere altgediente Staatsarchivare.57 zudem auch das Politische Archiv be- Jedoch die Entwicklungen hatten längst teiligt werden, wobei Wentz und Winter einen anderen Lauf genommen. Mit Be- vorschlugen, dieses „hierbei gegebenen- schluss vom 16. August 1945 kam es zu falls ganz einzugliedern“54. Da im GStA einer formalen Vereinigung der admi- die größte Fachkompetenz vorhanden nistrativen Überreste von Reichsarchiv sei, bilde es die archi- und Heeresarchiv.58 vische „Zentralins- Heinrich Otto Meis- tanz in Berlin“, ins- ner unterbreitete als besondere in allen Die Unterstellung ­unter der zuvor erwähnte Verhandlungen mit die Berliner Kultur­ letzte verbliebene den Alliierten und verwaltung macht Archivar des hö- dabei auch bei den heren Dienstes in Auseinandersetzun- den Einflussverlust des Potsdam seinerseits gen mit den sowje- GStA deutlich. dem GStA Pläne für tischen Alliierten zu eine Potsdamer Ar- allen in deren Zone chivverwaltung der liegenden Staatsar- Archive in der so- chiven. „Denn dieses [also das GStA] ver- wjetischen Zone unter Einschluss des tritt jetzt die frühere oberste Archivins- GStA, woraus natürlich ebenfalls nichts tanz Preußens und des Reiches – den wurde. Das Vorspiel des zum 1. Juni 1946 Generaldirektor der Staatsarchive, Direk- formierten „Zentralarchiv[s] für die so- tor des Reichsarchivs Potsdam, Kommis- wjetische Zone Deutschlands“ und so- sar für den Archivschutz.“55 mit auch zur Gründung von Deutschem Zentralarchiv und Landesarchiv Bran- Natürlich kam es anders, und sowohl de denburg war damit jedoch eröffnet. facto als auch de jure waren die Verhält- nisse spätestens seit dem 3. Juli 1945 im Das GStA wiederum trug als Berliner Grundsatz geklärt, nachdem Otto Win- Behörde im Zuständigkeitsbereich des zer als Stadtrat für Volksbildung die Stadtrates für Volksbildung seit Febru- Reorganisation des Berliner Archivwe- ar 1946 den als politisch unverdächti- sens anordnete und eine Art Archiv- ger empfundenen Namen „Hauptarchiv referenten einsetzte, der auch als Ku- für Behördenakten“, später „Berliner rator des GStA – mitunter auch Leiter Hauptarchiv“. Gerade diese Unterstel- genannt – fungierte: Legationsrat a. D. lung unter die Berliner Kulturverwal- Traugott Böhme.56 Im GStA ging zudem tung macht den Verlust des GStA an der Personalwechsel an der Spitze wei- Einfluss im deutschen Archivwesen ter, da Georg Winter bereits am 18. Juli deutlich, gehörte es doch zum uner- 1945 wegen seiner Tätigkeit im Reichs- schütterlichen Selbstverständnis der kommissariat Ukraine entlassen wurde Preußischen Staatsarchive und seiner und der ihm nachfolgende Gottfried Generaldirektoren, dem Staatsober- Wentz am 8. September 1945 verstarb; es haupt direkt unterstellt zu sein. Dies folgten mit Ulrich Wendland, dem seine betonten Wentz und Winter noch in ih- 68 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

rer Denkschrift vom 21. Juni 1945: „Im einbezogen, indem das Stemma das staatlichen Behördenaufbau gehört das Hauptarchiv in direkter Anbindung an Archivwesen zum Sektor der inneren Direktor Karl Bruchmann zeigt.62 Verwaltung (nicht der Kulturverwal- tung) und zwar ihrer höchsten Spitze Diese Fachaufsicht des Bundesarchivs (in Preußen dem Ministerpräsidenten) wurde während des Direktorats von Ge- unmittelbar unterstellt.“59 org Winter tatsächlich ausgeübt, etwa durch Übersendung der „Anweisungen Das GStA und das Bundesarchiv für die archivarische Tätigkeit“ oder in Das Hauptarchiv blieb bis zur Einglie- Bezug auf Benutzungsbedingungen im derung in die Stiftung Preußischer Kul- Kontext der Benutzungsordnung des turbesitz zum 1. Januar 1963 unter der Bundesarchivs von 1957.63 Winter ach- Dienstaufsicht des Berliner Magistrats. tete zudem nachdrücklich darauf, dass Die Fachaufsicht hingegen wurde 1952 der Schriftwechsel des Hauptarchivs in dem neu gebildeten Bundesarchiv über- wichtigen Sachen nicht selbständig ge- tragen. Dabei disku- führt werden durf- tierte Gründungsdi- te – in vergleich- rektor Georg Winter barer Weise zu den damals mit dem Ber- Die Fachaufsicht auswärtigen Abtei- liner Senat (unter Be- des Bundesarchivs wurde lungen des Bundes- teiligung des GStA) archivs bzw. „wie auch die Übernahme während des Direktorats dies früher bei den des GStA in die Bun- von Georg Winter tatsäch- preußischen Staats- desverwaltung.60 Im lich ausgeübt. archiven dem Ge- November 1954 kam neraldirektor der es schließlich zu ei- Staatsarchive gegen- ner Verwaltungsver- über erfolgte. [Dass einbarung der Bundesrepublik Deutsch- also] alle wichtigen sowie alle grund- land mit dem Land Berlin, in der das sätzlichen Angelegenheiten im Ver- Bundesarchiv eine „Fachaufsicht“ über hältnis des Berliner Hauptarchivs zu das Hauptarchiv erhielt. § 4 der Verein- den deutschen Länderarchiven nicht barung lautete: „Das Bundesarchiv ist vom Hauptarchiv selber zu verhandeln berechtigt, dem Berliner Hauptarchiv sind.“64 Winter nahm regelmäßig auch fachliche Weisungen zu erteilen.“61 Da- ‚Inspektionsreisen‘ in das Hauptarchiv mit verbunden war die Übernahme des vor, und das Hauptarchiv übersandte Hauptarchivs auf den Haushalt des Bun- seine Jahresberichte nach Koblenz.65 des im Bereich des Bundesministeriums des Innern. Im Geschäftsverteilungs- Der Lauf der Geschichte hatte innerhalb plan des Bundesarchivs für 1955 (und weniger Jahre dazu geführt, dass sich für die darauffolgenden Jahre) wurde die Pläne von Brackmann, Zipfel, Wentz das Hauptarchiv ohne direkte Einbezie- und Winter für eine zentrale, von Dah- hung in das Stemma des Bundesarchivs lem ausgehende Archivverwaltung um- – etwas abgesetzt – dargestellt und zwar gekehrt hatten, Winter aber trotzdem an als „Ferner unterstellt: Berliner Haupt- der Spitze des deutschen Archivwesens archiv, Direktor Dr. Zimmermann“; ab stand. Interessant zu beobachten wäre 1961 wurde es zumindest grafisch ganz es gewesen, hätte ihm damals auf Dah- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 69 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

lemer Seite noch sein alter Weggefähr- Geheimen Staatsarchiv.“67 Dem zwi- te und Freund Gottfried Wentz gegen- schenzeitlichen Monitum des Hauptar- übergestanden. Als Winter 1960 in den chivs, eine spiegelbildliche Fachaufsicht Ruhestand trat, übersandte ihm Direk- über die preußischen Archivalien im tor Gerhard Zimmermann ein Foto des Bundesarchiv beanspruchen zu können, GStA-Eingangsportals im Namen der wurde natürlich nicht entsprochen. Dahlemer Mitarbeiter. Winter antwor- tete am 4. Mai 1960: „Ihr schönes Bild, Mit dem von Seiten des Bundesarchivs das ich immer mit Freude wieder be- initiierten Beständeabgleich ab 1968 trachtet, habe ich zusammen mit einem in Bezug auf die sogenannten ‚Ost- Bild meiner letzten Wirkungsstätte, des archivalien‘ und Archivalien preußi- Bundesarchivs in Koblenz, in meinem scher Zentralbehörden einerseits sowie Arbeitszimmer neben meinem Schreib- Reichs-Archivalien im GStA anderer- tisch aufgehängt.“66 seits – insbesondere natürlich die nach dem Kriege eingesammelten Registra- Harmonisch waren die Beziehungen turen der Reichsministerien – kam es damals jedoch keineswegs. In Vorbe- schließlich zu schweren fachlichen reitung der Überführung des Hauptar- Spannungen. Das GStA, das 1966/1967 chivs in die SPK kam es ab 1960 zu zähen seine neue Beständeübersicht vorgelegt Verhandlungen um die Überarbeitung hatte und nun die darin ausgewiesenen und Anpassung der Verwaltungsverein- Reichsprovenienzen abgeben sollte, ver- barung von 1954; abgesichert werden zögerte einzelne Abgaben immer wie- sollten die wechselseitige Treuhandver- der. Wolfgang A. Mommsen und Hans wahrung von Beständen zwischen Bun- Booms mahnten zwischen 1970 und desarchiv und GStA, die Verständigung 1974 wiederholt über den Präsidenten in grundsätzlichen archivischen Fragen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, sowie die Berufung wissenschaftlichen die Durchführung offener Abgaben zu Personals beim GStA im Benehmen ‚beschleunigen‘. Dabei ging man 1970 im mit dem Direktor des Bundesarchivs. GStA davon aus, dass mit dem Bestän- Für besondere Spannungen sorgten in deabgleich auch die Fachaufsicht des den Entwürfen die zunächst sehr weit- Bundesarchivs erledigt wäre.68 Zumin- reichenden Formulierungen zur Fort- dest die formalisierte Beteiligung des setzung und Wahrnehmung der Fach- Bundesarchivs in Personalvorgängen aufsicht durch das Bundesarchiv, die blieb jedoch noch bis in die 1980er Jah- schließlich deutlich abgemildert wur- re bestehen. Schließlich wurde die Fach- den und zur Formulierung von § 4 in der aufsicht am 19. September 1997 in einem letztlich vollzogenen Vereinbarung vom Präsidententermin zwischen Friedrich Februar 1965 führten: „Hinsichtlich der Kahlenberg und Werner Knopp mit Archivalien reiner Reichsprovenienz […], Verweis auf den abgeschlossenen Be- der gemischten Reichs-Preußen-Prove- ständeabgleich und die Institutionali- nienz […], der Archivalien ungeklärten sierung der Bibliothekskommission bei Rechtsverhältnisses […] und der etwa- der SPK unter Beisitz des Bundesarchivs igen Archivalien Berliner Bundesbe- als obsolet eingestuft.69 hörden […] führt das Bundesarchiv eine auf die archivalische Behandlung be- Im Jahr 2019 ist der frühere Dualismus schränkte Fachaufsicht gegenüber dem beider Archive keine ernstzunehmende 70 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Option mehr. Der Präsident des Bun- tene – Vereinigung beider Häuser ist desarchivs steht heute dem Archivbeirat einer gemeinsamen Anwendung mo- der Stiftung Preußischer Kulturbesitz derner fachlicher Grundsätze auf einer vor; Vertreter beider Archive arbeiten gemeinsamen gesetzlichen Basis gewi- in verschiedenen Fachausschüssen eng chen, dem Bundesarchivgesetz. zusammen. Die in den letzten 100 Jah- Sven Kriese ist Leiter der Abteilung I ren wiederholt greifbare – und Mitte (Zentrale Dienste) im Geheimen Staatsarchiv der 1930er Jahre fachlich auch gebo- Preußischer Kulturbesitz.

1 Matthias Herrmann: Das Reichsarchiv (1919-1945). 8 Jürgen Kloosterhuis: Archivische Sprengelkom- Eine archivische Institution im Spannungsfeld der petenz versus militärhistorische Deutungshoheit. deutschen Politik, Dissertation Humboldt-Univer- (Militär-)Politische Implikationen in der Entwick- sität zu Berlin 1994, Thesen, S. 4. lung des preußisch-deutschen Heeresarchivwesens. Eine archivgeschichtliche Dokumentation, in: 2 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), Thesen, Hans-Christof Kraus (Hrsg.): Das Thema „Preußen“ S. 5. in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und 3 Vgl. nur: Gerhard Zimmermann: Das Ringen um nach 1945 (Forschungen zur Brandenburgischen die Vereinheitlichung des Archivwesens in Preußen und Preußischen Geschichte NF, Beiheft 12), Berlin und im Reich von 1933-1945, in: Jahrbuch Preus- 2013, S. 171-218, hier S. 179f. sischer Kulturbesitz 5 (1967), S. 129-143; Ingeborg 9 Vgl. zum Beispiel die Akte: GStA PK, I. HA Rep. Schnelling-Reinicke: Gegeneinander – miteinan- 178 B, Nr. 462 „Abgabe von Akten an und durch das der: Der preußische Führungsanspruch unter den Reichsarchiv und Auseinandersetzungen mit dem- deutschen Staatsarchiven und das Reichsarchiv, in: selben“ (Laufzeit: 1928-1943), die Vorgänge zu allen Sven Kriese (Hrsg.): Archivarbeit im und für den Problemkomplexen enthält. Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive vor und nach dem Machtwechsel von 1933 (Veröf- 10 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 86f. fentlichungen aus den Archiven Preußischer Kul- 11 Vgl. den Personenkatalog bei Herrmann: Das turbesitz, Forschungen 12), Berlin 2015, S. 145-164. Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 552-575 (Anhang 36). 4 Aus der reichhaltigen Kehr-Literatur seien hier 12 Daten der Personalia Müsebeck und Meisner: nur genannt: Horst Fuhrmann: Paul Fridolin Kehr. Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 565f. „Urkundione“ und Weltmann, in: Horst Fuhrmann: Menschen und Meriten. Eine persönliche Portrait- 13 Sven Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel. galerie, München 2001, S. 174-212; zuletzt kritisch Die Generaldirektoren im Vergleich, in: Kriese: hinsichtlich seiner Erfolge als Wissenschaftsorgani- Archivarbeit (wie Anm. 3), S. 17-94. sator und Geldbeschaffer: Volkhard Huth: Proteus 14 Zur „Abtrennung der Kriegsgeschichtsschrei- mit dem „Klingelbeutelgenie“. Paul Fridolin Kehr bung“: Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), als „Wissenschaftsmanager“, in: Hedwig Röckelein S. 320-326. (Hrsg.): 100 Jahre Germania Sacra. Kirchenge- schichte schreiben vom 16. bis zum 21. Jahrhundert 15 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 289-291. (Studien zur Germania Sacra, Neue Folge 8), Berlin / 16 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 290f. Boston 2018, S. 63-89. 17 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 289. 5 Vgl. nur GStA PK, I. HA Rep. 178, Nr. 2001 und 2002, hier (Nr. 2002) u.a. die verschiedenen Konzeptstufen 18 Daten der Personalia Haeften und Müsebeck bei: der „Grundsätze einer Vereinbarung zwischen dem Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 559 Reiche und Preußen betreffend den Neubau für und 566. das in Verbindung mit dem Königlich Preußischen 19 Johanna Weiser: Geschichte der preußischen Geheimen Staatsarchiv in Berlin zu errichtende Archivverwaltung und ihrer Leiter: von den An- Reichsarchiv“ vom Januar 1914 (ab Bl. 19), Skizzen fängen unter Staatskanzler Hardenberg bis zur Eduard Fürstenaus vom 26.01.1914 auf Bl. 38-40 für Auflösung im Jahre 1945 (Veröffentlichungen aus ein Bauprojekt des GStA am Botanischen Garten den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Beiheft 7), sowie die Ablehnung der Budgetkommission des Köln / Weimar / Wien 2000, S. 139f.; Herrmann: Reichstags „gegen die Stimmen der Konservativen“ Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 344f. vom 17.02.1914 (ab Bl. 46, Zitat Bl. 51). 20 Vgl. z.B. das interne Schreiben von Staatssekre- 6 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 42f. tär Körner vom 18.03.1933, Reichsministerium 7 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 73-80. des Innern, das er Brackmann am 10.05.1933 in Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 71 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Abschrift übersandte (GStA PK, I. HA Rep. 178, ber 1934), in: Archivalische Zeitschrift 44 (1936), Nr. 1156). Demnach hatte Brackmann Körner auf S. 1-5, hier S. 4. die Bauplanungen in Potsdam hingewiesen, wes- 32 Norbert Reimann: Archivgesetzgebung im National- halb Körner intern verfügte, dass mit „Rücksicht sozialismus. Ein gescheiterter Versuch, in: Robert auf die politischen Entwicklungen der letzten Zeit Kretzschmar u. a. (Red.): Das deutsche Archiv- […] den zukünftigen Beziehungen zwischen dem wesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Reichsarchiv einerseits und dem Geheimen Staats- Archivtag 2005 in Stuttgart (Tagungsdokumenta- archiv andererseits auch in räumlicher Hinsicht tionen zum Deutschen Archivtag 19), Essen 2007, vermehrte Aufmerksamkeit“ geschenkt werden S. 45-56, hier S. 51. solle, da die Bauangelegenheit „im Zusammen- hang mit den Bestrebungen zur Vereinfachung der 33 Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichs- Verwaltung des Reichs und Preußens“ stehe. institut für Geschichte des Neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Geschichte 13), 21 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 326-328. Stuttgart 1966, v.a. S. 851-857. 22 Kloosterhuis: Archivische Sprengelkompetenz 34 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie (wie Anm. 8), S. 180f., mit Aktenregest und Quel- Anm. 13), bes. S. 27-30, 33-37. lenauszug auf S. 215f. aus: GStA PK, I. HA Rep. 178, Nr. 1158; Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), 35 Heiber: Walter Frank (wie Anm. 33), S. 875f., 901f. S. 320-326. 36 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie 23 GStA PK, I. HA Rep. 1156 (mit Lageplan und drei Anm. 13), S. 37. Geschossplänen von [Georg] Büssow und [Bruno] 37 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie Paul, 30.06.1936, sowie mit Besprechungsproto- Anm. 13), bes. S. 79-86. koll zum 26.06.1936 und Überschlagsprotokollen). 38 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 339; 24 GStA PK, I. HA Rep. 151, Nr. 100 mit Verfügung Hans Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie Pfundtners, Staatssekretär im Reichsministerium Anm. 13), S. 73f., 85. des Innern, an den Preußischen Ministerpräsiden- ten und den Preußischen Finanzminister, dass auf 39 Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der Grund einer Weisung Hitlers der neue Archivbau nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeut- an der Nord-Süd-Achse in Alt-Lankwitz „südlich schen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, vom künftigen Südbahnhof“ vorgesehen und Baden-Baden 1999; Ingo Haar: Historiker im Natio- das Dahlemer Bauprojekt daher aufzugeben sei nalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft (13.05.1938, Bl. 8). Vgl. auch: Herrmann: Das Reichs- und der „Volkstumskampf“ im Osten (Kritische archiv (wie Anm. 1), S. 357-360; Klaus Neitmann: Studien zur Geschichtswissenschaft 143), Göttingen Provinzialarchiv innerhalb oder außerhalb des 2000; Sven Kriese: Die Germania Sacra in der Zentralarchivs? Das „Staatsarchiv für die Provinz Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin“ in: Röckelein: 100 Jahre Germania Sacra (wie zwischen Alltagsanforderungen und Zukunfts- Anm. 4), S. 91-121; zum Reichsarchiv: Herrmann: visionen in der Weimarer Republik und NS-Zeit, Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 405-422. in: Kriese: Archivarbeit (wie Anm. 3), S. 165-190. 40 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), 25 Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), S. 295-299; S. 360-365. Weiser: Preußische Archivverwaltung (wie Anm. 19), 41 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie S. 138f. Anm. 13), S. 47. 26 Weiser: Preußische Archivverwaltung (wie Anm. 19), 42 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie S. 137-140; Herrmann: Das Reichsarchiv (wie Anm. 1), Anm. 13), bes. S. 63f.; Ulrich Kober: Bewertung S. 299; Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel und Übernahme von Archivgut durch das Geheime (wie Anm. 13), S. 54f. Staatsarchiv in der Zeit des Nationalsozialis- 27 Sven Kriese: „Gute Freundschaft mit dem kleineren mus, in: Kriese (Hrsg.): Archivarbeit (wie Anm. 3), bayerischen Bruder“. Die Generaldirektoren der S. 307-333; Robert Kretzschmar: Überlieferungs- Preußischen Staatsarchive und Reichsarchivleiter bildung im Nationalsozialismus und in der Albert Brackmann und Ernst Zipfel und die Staat- unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Kretzschmar lichen Archive Bayerns, in: Archivalische Zeitschrift (Red.): Das deutsche Archivwesen und der Natio- 96 (2019), S. 9-30, bes. S. 15-18. nalsozialismus (wie Anm. 32), S. 34-44. 28 Kloosterhuis: Archivische Sprengelkompetenz 43 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie (wie Anm. 8), mit Aktenregest und Quellenauszug Anm. 13), S. 58f. auf S. 216f. aus: GStA PK, I. HA Rep. 178, Nr. 1158. 44 Johannes Kistenich-Zerfaß: Auslagerung von 29 Weiser: Preußische Archivverwaltung (wie Anm. 19), Archivgut im Zweiten Weltkrieg. Selbsthilfe der S. 139, mit Abdruck der Denkschrift auf S. 270-273. Staatsarchive oder zentrale Steuerung durch den Kommissar für Archivschutz?, in: Kriese: 30 Belege bei Kriese: Albert Brackmann und Ernst Archivarbeit (wie Anm. 3), S. 407-476; mit Blick Zipfel (wie Anm. 13), S. 53. auf Zipfels geringen Einfluss auf die Auslagerungs- 31 Albert Brackmann: Eröffnungsansprache zum und Schutzmaßnahmen in Bayern: Kriese: „Gute 25. Deutschen Archivtag in Wiesbaden (3. Septem- Freundschaft“ (wie Anm. 27), S. 23-26. 72 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

45 Stefan Lehr: Ein fast vergessener „Osteinsatz“. 56 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), Deutsche Archivare im Generalgouvernement S. 484f. und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften 57 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), des Bundesarchivs 68), Düsseldorf 2007; vgl. jetzt S. 489f. auch: Tobias Winter: Die deutsche Archivwissen- schaft und das ‚Dritte Reich‘. Disziplingeschicht- 58 Dazu und zum Folgenden: Kloosterhuis: Staats- liche Betrachtungen von den 1920ern bis in die archiv ohne Staat (wie Anm. 46), S. 502f. 1950er Jahre (Veröffentlichungen aus den Archiven 59 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), Preußischer Kulturbesitz, Forschungen 17), Berlin S. 523. 2018, bes. S. 247-330. 60 GStA PK, I. HA Rep. 178 B, Nr. 1041; ebd., Nr. 1083. 46 Kriese: Albert Brackmann und Ernst Zipfel (wie Anm. 13), S. 90-92; Jürgen Kloosterhuis: 61 GStA PK, I. HA Rep. 178 B, Nr. 1041; Abschriften: Staatsarchiv ohne Staat. Das GStA in den ersten GStA PK, Dienstregistratur zur I. HA Rep. 178 C, Nachkriegsjahren, 1945 bis 1947. Eine archivge- A 3-11 Allgemeines, Verwaltungsvereinbarung schichtliche Dokumentation, in: Kriese (Hrsg.): (mit „Ansprache“ Winters zur Unterzeichnung Archivarbeit (wie Anm. 3), S. 407-599, hier S. 481. der Vereinbarung vom 08.12.1954); Akte aus der Abgabe zum Bestand I. HA Rep. 600 Präsident 47 BArch, R 1506/1020, Bl. 25-33. und Hauptverwaltung, Nr. 54/2013. – Vgl. Gerhard 48 GStA PK, I. HA Rep. 178 B, Nr. 3276, Bl. 9. Zimmermann: Das Geheime Staatsarchiv, in: Jahr- buch Stiftung Preußischer Kulturbesitz [1] (1962), 49 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), S. 303-323, hier S. 320. S. 489 und 547. 62 GStA PK, Dienstregistratur zur I. HA Rep. 178 C, 50 Edition bei Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat A 3-11 Allgemeines, Verwaltungsvereinbarung. (wie Anm. 46), S. 516-518. 63 GStA PK, Dienstregistratur zur I. HA Rep. 178 C, 51 Am 9. Mai hieß es: „Es liegt auf der Hand, daß die A 3-11 Allgemeines, Verwaltungsvereinbarung. Erfassung und Sicherstellung dieser Akten als Un- terlagen für die neu aufzubauende Verwaltung und 64 GStA PK, Dienstregistratur zur I. HA Rep. 178 C, einzige Quelle für die innerdeutschen Verhältnisse A 3-11 Allgemeines, Verwaltungsvereinbarung. der jüngsten Vergangenheit von hoher Bedeutung 65 GStA PK, Dienstregistratur zur I. HA Rep. 178 C, ist. Die Durchführung dieser Maßnahme ist neben A 3-14 Inspektion; GStA PK, Dienstregistratur zur der oben erwähnten Ordnung der Bestände in den I. HA Rep. 178 C, A 3-15 Tätigkeitsberichte. Ausweichstellen [also in den Salzbergwerkstollen von Schönebeck und Staßfurt, Anm. d. Verf.] als 66 GStA PK, Dienstregistratur zur I. HA Rep. 178 C, Hauptaufgabe des Geheimen Staatsarchivs zu A 3-3 Personelles. erachten.“ (siehe Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne 67 Akte aus der Abgabe zum Bestand I. HA Rep. 600 Staat (wie Anm. 46), S. 518; dort auch nachfolgen- Präsident und Hauptverwaltung, Nr. 54/2013. des Zitat im Text). 68 Akte aus der Abgabe zum Bestand I. HA Rep. 600 52 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), Präsident und Hauptverwaltung, Nr. 54/2013. S. 519-525. 69 Der entsprechende Vermerk von Jürgen Kloosterhuis 53 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), in: GStA PK, I. HA Rep. 178 C Geheimes Staatsar- S. 519; dort auch nachfolgendes Zitat im Text. chiv PK, Nr. 99 (29.09.1997); vgl. auch: Kloosterhuis: 54 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), S. 495 Anm. 65. S. 521, nachfolgendes Zitat im Text S. 520. 55 Kloosterhuis: Staatsarchiv ohne Staat (wie Anm. 46), S. 523. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 73 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 75 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Vladimir Tarasov Bestände des ehemaligen Reichsarchivs im Russischen Staatlichen Militärarchiv (RGVA) – ­Entstehung, Inhalt, Nutzung

as Russische Staatliche Mili- Einrichtung des Sonderarchivs tärarchiv (RGVA) wurde 1920 Neben Archiven deutscher Herkunft als Archiv der Roten Armee wurden auch weitere von faschistischen gegründet. Die heutige Be- Truppen in Europa beschlagnahmte Dzeichnung trägt das RGVA seit 1992. 1999 Unterlagen seit 1945 nach Moskau ver- wurde das ehemalige Sonderarchiv der legt. Vor dem Beschluss, ausländisches UdSSR in das Militärarchiv eingegliedert. Archivgut an einem Ort, im sogenann- Das Sonderarchiv existierte seit 1946 als ten Sonderarchiv, zusammenzuführen, Aufbewahrungsstelle für Beuteakten, die gelangten Transporte mit Archivalien nach dem Zweiten Weltkrieg im Rah- an verschiedene Orte. Einiges ging dabei men der kompensatorischen Restituti- verloren. Die Mitarbeiter des Sonder- on aus Deutschland in die Sowjetunion archivs mussten später die erhaltenen verbracht wurden. Archivalien in Ordnung bringen, weil es sich nicht selten um lose Papierhau- Während des Kriegs waren zahlreiche fen handelte. Viele Bestände wurden im sowjetische Kulturgüter, darunter auch Sonderarchiv aus zerstreuten Blättern Archivalien, zerstört oder nach Deutsch- neu gebildet, bearbeitet und ­verzeichnet. land verbracht worden. Der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg für die besetz- Diese Unterlagen wurden damals haupt- ten Gebiete befasste sich unter anderem sächlich von Mitarbeitern der Sicher- mit der „Sicherstellung“, anders gesagt, heitsdienste der UdSSR genutzt. Die mit dem Raub von Kulturgütern. Auch sowjetische Regierung hat den auslän- deutsche Archivare beteiligten sich an dischen Archivalien politische Bedeu- dieser Tätigkeit. Der Generaldirektor tung beigemessen. In den 1950er und des Preußischen Staatsarchivs und Di- 1960er Jahren wurden viele Unterlagen rektor des Reichsarchivs in Potsdam, auf Beschluss der Sowjetregierung in Dr. Ernst Zipfel, wurde von Rosenberg die sozialistischen Länder übergeben. zum Kommissar für den Archivschutz So erhielt auch die DDR eine große in den besetzten Gebieten ernannt. Er Menge Archivgut, nicht nur Unterlagen sollte als Leiter des Sonderstabes Archi- mit Bezug zu Ostdeutschland. ve die Sicherstellung, Bewertung und Verbringung der Archive in den besetz- Nach der Auflösung der Sowjetunion ten Gebieten organisieren. wurden alle Archivalien des Sonderar- 76 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

chivs allgemein zugänglich. Im RGVA selbst überzeugen, als ich das Archiv- werden heute keine geheimen Akten aus- gut der Reichsministerien untersuchte. ländischer Herkunft aufbewahrt. Nach Manche Akten im Bestand des Reichs- der russischen Gesetzgebung bestehen ministeriums des Innern tragen einen beim Recht auf Zugang zu Archivalien Stempel des Reichsarchivs. Dies trifft keine Unterschiede zwischen russischen auch auf die Bestände vieler weiterer und ausländischen Reichsministerien zu, Benutzern. ausgenommen die Reichsministerien, Im RGVA werden Im Russischen Staat- die erst unter Hitlers 356 Bestände mit lichen Militärarchiv Reichskanzlerschaft 178.799 Akten deut- werden 356 Bestände entstanden. scher Provenienz mit 178.799 Akten verwahrt. Deutsche deutscher Provenienz Das RGVA verwahrt Bestände enthalten verwahrt. zwei Bestände mit di- hauptsächlich Un- rektem Hinweis auf terlagen der Weima- das Reichsarchiv. Der rer Republik und des Bestand Nr. 1255k Dritten Reiches. Dabei handelt es sich um trägt den Titel „Reichsarchiv (Potsdam)“, Materialien der höchsten Staatsorgane die Bezeichnung des Bestandes Nr. 1275k und Ministerien, zentraler staatlicher lautet „Vom Reichsarchiv (Potsdam) ge- Institutionen, von Gerichten und sons- sammeltes Archivgut“. tigen Justizbehörden, der Nationalso- zialistischen Deutschen Arbeiterpartei Bestand „Reichsarchiv (NSDAP), SS-Verwaltungen, Sturmab- (Potsdam)“ im RGVA teilungen der NSDAP, Konzentrations- Im Bestand Nr. 1255k liegen 111 Akten und Kriegsgefangenenlager, Personal­ aus den Jahren 1711 bis 1945 in zwei akten von Wehrmachtsangehörigen Inventarverzeichnissen vor. Diese Ver- sowie Nachlässe bedeutender Persön- zeichnisse wurden von sowjetischen Ar- lichkeiten. Die größten Bestände bezie- chivaren im Sonderarchiv zusammen- hen sich auf das Reichsgericht und die gestellt. Man versuchte dabei, die Akten Reichsanwaltschaft (Leipzig, 14.464 Ak- nach thematischen Gruppen zu syste- ten), das Reichsministerium des Innern matisieren. Die Mehrzahl der Akten- (14.405 Akten), das Reichswirtschafts- stücke aus dem Verzeichnis Nr. 1 wurde ministerium (13.502 Akten), das Reichs- 1957 in die DDR übergeben. Im Vorwort sicherheitshauptamt (3.005 Akten) und zu den Verzeichnissen wird dargestellt, Unterlagen der I.G. Farbenindustrie dass das Reichsarchiv im Oktober 1919 Aktiengesellschaft (Frankfurt am Main, gegründet wurde, um Archivalien der 6.928 Akten). deutschen Armee aus der Zeit des Ersten Weltkriegs zu sammeln, aufzubewahren Es ist durchaus anzunehmen, dass die und zu nutzen; es enthielt zudem Un- Mehrzahl der Archivalien der Reichsbe- terlagen zur deutschen Geschichte seit hörden aus dem Reichsarchiv stammt. 1867. Das Reichsarchiv wurde unmittel- Das trifft insbesondere auf Archivgut bar dem Reichsministerium des Innern des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1930 unterstellt, an seiner Spitze stand der zu. Von dieser Tatsache konnte ich mich Präsident des Reichsarchivs. Im Archiv Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 77 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

gab es zunächst zwei Abteilungen: eine len Fällen aktenkundliche Merkmale, Archivabteilung und eine kriegsge- die bei der Bestandszuordnung hätten schichtliche Abteilung. Die Archivabtei- helfen können, wie Registrierstempel lung bildete den Kern des Reichsarchivs oder die genaue Angabe der Korrespon- und war unter anderem für Aktenbe- denzpartner. Bei der näheren Untersu- stände verantwortlich. Die Hauptaufga- chung des Bestandes fällt auf, dass einige be der kriegsgeschichtlichen Abteilung Unterlagen überhaupt nichts mit dem bestand speziell darin, Archivalien für Reichsarchiv zu tun haben. Unter ande- die Forschung über die Geschichte des rem befinden sich hier zum Beispiel Be- Ersten Weltkriegs zur Verfügung zu richte des Marschalls Biberstein an den stellen. 1936 wurde die kriegsgeschicht- Preußischen König über die Lage in der liche Abteilung in ein selbständiges Hee- Festung Elbing von 1711. Man wusste resarchiv umgewandelt. Der im RGVA wahrscheinlich nicht, welchem Bestand verwahrte Bestand Nr. 1256k trägt die diese Unterlagen beizufügen waren, und Bezeichnung „Chef der Heeresarchive so wurde entschieden, dass der Bestand (Potsdam)“. Dieser Bestand enthält 163 des Reichsarchivs die passendste Stelle Akten aus der Zeit von 1907 bis 1945. dafür sein könnte – und dies, obwohl es auf dem Umschlag einen direkten Hin- Offensichtlich verfügt das RGVA nur weis gibt: Der Aktentitel lautet näm- über einen kleinen Teil der Archivalien lich „Acta des Königlichen Geheimen aus dem Reichsarchiv. Leider handelt es Staats-Archivs“. sich keineswegs um eine systematische Aktensammlung; der vorhandene Be- Wesentliche Inhalte und stand des Reichsarchivs stellt vielmehr besondere Fundstücke eine chaotische Mischung aus Akten- Der Bestand mit der Provenienz Reichs- stücken dar, die zum Teil aus archiv- archiv enthält Instruktionen, Pläne, Be- fachlichen Gesichtspunkten, zum Teil richte und Korrespondenz. Hier kann aufgrund ihrer kriegsgeschichtlichen man zum Beispiel die Benutzungsord- Bedeutung und zum Teil rein zufällig nung für das Reichsarchiv finden, die überliefert wurden. durch Erlass des Reichs- und Preußi- schen Ministers des Innern vom 21. Ja- Dieser Bestand wurde, wie bereits er- nuar 1938 genehmigt wurde (Bestand wähnt, von Archivaren des Sonderar- 1255k, Verzeichnis 2, Akte 1a). Die Be- chivs gebildet. Es ist klar, dass Kriegs- nutzungsordnung bestimmte unter an- geschehnisse und die Umstände der derem: „Benutzungsanträge von Aus- Verlegung des Archivguts nach Moskau ländern sind auf dem diplomatischen dessen Zusammensetzung beeinflusst Wege einzureichen.“ Manche Paragra- haben. Man muss auch berücksichtigen, phen der Benutzungsordnung sind aber dass die damaligen Archivmitarbeiter auch heute noch anwendbar. hauptsächlich Offiziere des sowjeti- schen Innenministeriums waren – auf- Von besonderem Interesse war für grund der Unterstellung des Sonderar- mich die Korrespondenz zwischen dem chivs unter dieses Ministerium – und Innenministerium und dem Reichsar- sie nicht immer über die archivarische chiv betreffend eine Auskunft über das Kompetenz zur Zuordnung einzelner Reichsarchivwesen für die Türkische Akten verfügten. Zudem fehlten in vie- Botschaft von 1937. Die Türkische Bot- 78 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

schaft hatte die Zusendung gedruckter Reichsarchiv in Potsdam gehören, sind Exemplare der Gesetze und Verordnun- an zwei weit auseinander liegenden gen über die Organisation des Reichs- Stellen aufbewahrt. Die archivalische archivamts angefragt. Das Reichsarchiv Arbeit ist dadurch erheblich erschwert, informierte das Innenministerium, dass die Sicherung der Bestände mangelhaft. derartige Drucksachen entweder nicht Hier kann nur der Bau eines großen, vorhanden seien oder sich nicht für die modernen archiv-technischen Anfor- Übergabe an auswärtige Stellen eignen derungen entsprechenden Magazins würden. Um die Anfrage zu erledigen, Abhilfe schaffen. Das Reichsarchiv gibt wurde der Türkischen Botschaft eine sich der Hoffnung hin, daß das Reich in kurze Zusammenstellung über die Or- absehbarer Zeit Mittel und Wege finden ganisation des Reichsarchivwesens an- wird, um den Reichsakten die gebüh- geboten (Bestand 1255k, Verzeichnis 1, rende Unterkunft zu verschaffen.“ Akte 14). Viele Archivalien im Bestand des Reichs- Umfassende Informationen über das archivs beziehen sich auf die Geschichte Reichsarchiv kann man einem Artikel des Ersten Weltkriegs. Hier findet man von Helmuth Rogge entnehmen (Be- unter anderem umfangreiche Korres- stand 1255k, Verzeichnis 2, Akte 14). pondenzen des Reichsarchivs mit deut- 1926 schrieb Helmuth Rogge „Inner- schen Offizieren und anderen Kriegs- halb des deutschen Archivwesens steht veteranen über ihre Teilnahme an den das Reichsarchiv in Potsdam einzig da: Feldzügen und Kriegsoperationen, wie Es ist das jüngste, an Akteninhalt das der Sturm auf das Fort Douaumont von größte und nach seinen Aufgaben das 1916 oder der Feldzug auf Gallipoli von vielseitigste und weitschichtigste deut- 1915. Dazu gehören auch Unterlagen sche Archiv“. Es gibt in diesem Artikel der deutschen Militäradministration eine ausführliche Übersicht über die in den besetzten Gebieten während des Aufgaben des Reichsarchivs, seine Or- Ersten Weltkriegs. ganisation, das Personal, den Inhalt der Aktenbestände und die Zweigstellen. Der Bestand enthält auch Archivalien über deutsche Militäreinsätze in Russ- Die Unterbringung des Reichsarchivs land. Es gibt Berichte, Briefe, Ausschnitte war bereits damals nicht befriedigend aus Tagebüchern von Kriegsteilnehmern geregelt, wie einem Zitat aus dem Arti- über die Kämpfe deutscher Truppen kel zu entnehmen ist: „Das Gebäude der und Freikorps gegen Rotarmisten von ehemaligen Kriegsschule auf dem Brau- 1918 bis 1919, ihre Korrespondenz mit hausberge in Potsdam kann den Anfor- der kriegsgeschichtlichen Forschungs- derungen der Millionen wissenschaft- anstalt des Heeres, eine Reihe von Pu- lich wertvoller Akten nicht genügen. blikationen von Müller-Loebnitz wie Die Räume sind ungeeignet und nicht „Die Räumung der Ukraine“, „Die Rück- ausreichend. Es mußten noch Baracken kehr der deutschen Truppen aus dem aufgestellt und zum Teil weit abgele- Schwarzmeer-Gebiet“, „Der Feldzug im gene andere reichseigene Gebäude wie Baltikum“ und anderes mehr. Proviantämter mit Akten belegt wer- den. Auch die Bestände der Abteilung Einen großen Teil im Bestand bilden Berlin, die eigentlich ja überhaupt in das Unterlagen des Zweiten Weltkriegs. Hier Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 79 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

finden sich wiederum eine Reihe un- „Muß Deutschland Kolonialpolitik trei- verbundener Akten. Der Kommissar für ben?“, „Die deutsche Kriegsernährungs- den Archivschutz, Dr. Zipfel, berichte- wirtschaft“, „Woher und warum die te dem Reichsminis- Stimmung gegen das ter des Innern be- Beamtentum“, „Der reits im Juni 1940 Wert der Einzelper- über die Sicherstel- Das Archivgut deut- sönlichkeit gegen- lung der Archive in scher Provenienz kann man über der Masse“ und den besetzten Gebie- ohne Einschränkungen anderes mehr. ten Hollands, Belgi- ens und Frankreichs. in den Benutzerräumen des Die letzten Akten- Deutsche archivari- RGVA einsehen. eingänge des Reichs­ sche Fachkräfte wur- archivs, die nach den für diese Arbeit Moskau verbracht eingesetzt (Bestand wurden, beziehen 1255k, Verzeichnis 1, Akte 26). Dane- sich auf „Verfügungen und Rundschrei- ben findet man im Bestand die „Verord- ben der Stadt Potsdam. Juni 1945 – nung über die vorläufige Regelung von November 1945“ (Verzeichnis 2, Akte 78). Unterstützungszahlungen an Pensions- empfänger des ehemaligen polnischen Der Bestand „Vom Reichs­ Staates und der polnischen Selbstverwal- archiv (Potsdam) gesammeltes tungsverbände“ vom 9. Dezember 1939, Archivgut“ im RGVA die vom Generalgouverneur für die be- Der Bestand „Vom Reichsarchiv (Pots- setzten polnischen Gebiete, Hans Frank, dam) gesammeltes Archivgut“ (Nr. 1275k) unterzeichnet wurde (Bestand 1255k, enthält 1.730 Akten aus den Jahren Verzeichnis 2, Akte 51). Der Bericht über 1838 bis 1945, die in fünf Inventaren Binnenschifffahrt in der Ukraine im Jah- verzeichnet sind. Das Sonderarchiv re 1943 trägt auch einen Eingangsstem- übernahm diese Archivalien zwischen pel des Reichsarchivs (Akte 58). 1950 und 1975 von der Sowjetischen Mili- täradministration Deutschlands (SMAD) Das Reichsarchiv verfügte außerdem und verschiedenen sowjetischen Archi- über eine große Sammlung von aus- ven. Diese Akten kann man nur unter ländischen Artikeln, Forschungsarbei- Vorbehalt als Unterlagen des Reichsar- ten, Abrissen zur Geschichte der Nach- chivs betrachten. Sowjetische Archivare barstaaten und deren Beziehungen mit berücksichtigten nicht immer die Tat- Deutschland. Die Übersetzungen wur- sache, dass das Heeresarchiv 1936 selb- den im Auftrag des Reichsarchivs von ständig wurde, d.h., dass die meisten Ar- der Übersetzungsstelle des Preußischen chivalien eigentlich dem Heeresarchiv Geheimen Staatsarchivs gefertigt. Eini- zuzuordnen gewesen wären. Deshalb ge von diesen Unterlagen gibt es im Be- findet man in der Sammlung zum gro- stand des Reichsarchivs in Moskau. ßen Teil Archivgut mit dem Stempel des Heeresarchivs und seiner Zweigstellen. So enthält Akte 72 im Verzeichnis 2 eine Reihe von Arbeiten des General- Der Bestand umfasst militärische Doku- direktors des Reichsarchivs, Dr. Zipfel, mentationen verschiedenen Charakters wie „Wegbereiter des Dritten Reiches“, hauptsächlich aus der Zeit des Zweiten 80 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Weltkriegs, obwohl auch Unterlagen des Dieses Gesetz lässt die Rückführung von 19. Jahrhunderts nicht selten zu finden Kulturgütern – einschließlich Archiva- sind. Das sind Akten über Kriegsereignis- lien – in die Gegnerstaaten des Zweiten se, Tagebücher und andere Materialien Weltkriegs, abgesehen von einzelnen einzelner Truppenteile der Wehrmacht, Ausnahmen, nicht zu. Personalakten deutscher Offiziere und Soldaten und anderes mehr. Wir sind aber bereit, die Unterlagen deutscher Provenienz für die Digitali- Sowjetische Archivare versuchten die sierung zur Verfügung zu stellen, um Archivalien bei der Verzeichnung nach einen besseren Zugang zu ermöglichen. thematischen Gruppen und chronolo- Im Jahre 2012 wurde eine Absichts- gisch zu systematisieren; allerdings war erklärung über die Einrichtung einer es nicht immer möglich, diese Ordnung gemeinsamen Datenbank für deutsche einzuhalten. Akten zwischen unserem Archiv und der Max Weber Stiftung unterzeichnet. Nutzung der Unterlagen Die Absichtserklärung sieht unter an- deutscher Provenienz derem vor, dass digitalisierte Kopien Das Archivgut deutscher Provenienz dem Bundesarchiv übergeben werden. kann man ohne Einschränkungen in Die Umsetzung dieses Projekts ist leider den Benutzerräumen des Russischen bis heute noch nicht in Angriff genom- Staatlichen Militärarchivs nutzen. Die men worden. Benutzer bestellen und erhalten Kopien der untersuchten Akten. Es ist möglich, Abschließend möchte ich meiner Über- einzelne Dokumente mit eigenen Ka- zeugung Ausdruck verleihen, dass grau- meras zu fotografieren; dafür wurde im same Kapitel der Vergangenheit unsere Benutzersaal ein Arbeitsplatz eingerich- heutige und zukünftige Zusammenar- tet. Viele Massenmedien interessieren beit nicht verhindern werden. sich für die deutschen Archivalien bei der Vorbereitung von Fernsehprojek- Vladimir Tarasov ist Direktor des Russischen ten, Zeitungsartikeln und Veranstaltun- Staatlichen Militärarchivs (RGVA). gen. Die Unterlagen werden außerdem für Publikationen, Ausstellungen, Kon- ferenzvorträge und ähnliches genutzt. Thematische und genealogische Anfra- gen kommen auch nicht zu kurz.

Rückführung ist keine Option Die Frage nach der Möglichkeit einer Rückführung deutscher Archivalien nach Deutschland muss heute nega- tiv beantwortet werden. Seit 1998 ist in Russland das Gesetz „Über Kulturgüter, die im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs in die Sowjetunion verbracht wurden und sich auf dem Territorium der Rus- sischen Föderation befinden“ in Kraft. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 81 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 83 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Peter Ulrich Weiß Kontinuität der Experten? Zu personellen NS-Belastungen im Bundesarchiv und im Deutschen Zentralarchiv der DDR

s sind viele Fehler gemacht Doch dieser Verzicht blieb die Ausnah- [worden]; wollen wir kei- me – sowohl für das Bundesarchiv als nen Schlußpunkt setzen, auch für das westdeutsche Archivwesen „E zumal wenn man viel- allgemein. So ist in der Forschung be- leicht voraussetzen darf, daß die meis- reits von verschiedenen Seiten konsta- ten doch durch das Ergebnis des Zu- tiert worden, dass in den westdeutschen sammenbruchs innerliche Wandlungen Archiven eine nahezu vollständige Wei- durchgemacht haben? Und wenn man terbeschäftigung von Archivaren statt- dann sich, etwa bei der Betrachtung des fand, die für die Zeit vor 1945 formale Entnazifizierungswesens, sagen muß: oder materiale Momente von NS-Be- entscheidend bleibt doch das, was Gott lastung aufwiesen.3 Auch für das ost- sagen und richten wird.“1 deutsche Archivwesen wird inzwischen von einer erheblichen Belastungsquote Es war mit Georg Winter der designierte ausgegangen, die deutlich höher zu ver- Direktor des Bundesarchivs, der 1950 anschlagen ist, als bislang angenom- diese Sätze seinem Gießener Kollegen men wurde.4 Das hat im Ergebnis dazu Friedrich Matthaesius schrieb, verbun- geführt, dass allgemein die Rede ist von den mit der Anfrage, ob er oder andere der „Kontinuität der Experten“ in Ost Archivare aus dessen Umgebung gegen und West, eine Feststellung, die vor dem den früheren Reichsarchivar Helmuth Hintergrund der zahlreichen, ergeb- Rogge, einen ehemals überzeugten Na- nisreichen Behördenforschungen zu- tionalsozialisten und SS-Mann, öffent- nächst unsere Erwartungen erfüllt und lich vorzugehen gedenken, da Winter sich letztlich auch gut in vergleichende Rogge, obwohl dieser nach dem 20. Juli Studien einpasst. 1944 einen Archivar denunziert hatte, gern als Spezialisten für Nachlasssamm- Allerdings können – wie so manches lungen ins Bundesarchiv holen wolle. Mal – die Dinge ins Wanken geraten, Matthaesius verneinte, doch empfahl er wenn von der Makro- in die Mikroper- seinem Freund Winter eindringlich, das spektive gewechselt wird. Was bedeutet entstehende Bundesarchiv nicht mit eigentlich Kontinuität in einem solch solch einer brisanten Personalie zu ge- prominenten Fall wie Otto Korfes, dem fährden – woran sich schließlich Winter Leiter der Archivverwaltung im MdI schweren Herzens hielt.2 und Direktor des Deutschen Zentralar- 84 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

chivs (DZA) seit 1948? Der 1889 gebore- DZA und Bundesarchiv nur bedingt ge- ne Korfes ging nach einer Offizierslauf- geben hat. Stattdessen offenbart sich die bahn 1920 ans Reichsarchiv, wo er bis personalpolitische Situation der Nach- 1937 in der Kriegsgeschichtlichen Ab- kriegszeit vielfach als eine von Wech- teilung arbeitete. Danach wurde er in selhaftigkeit, Zufälligkeit und Fragilität die Wehrmacht einberufen, geriet nach geprägte Phase, in der die individuelle Stalingrad als Generalmajor in Kriegsge- Diktaturbelastung als ein zeitversetztes fangenschaft, trat dem Nationalkomitee Erbe in Erscheinung trat, mit dem die Ar- Freies Deutschland bei und wurde 1948 chivare und Archive umzugehen hatten. in die DDR entlassen. Das DDR-Archiv- wesen führte er also erst nach einer Kurzlebige Kontinuitäten knapp zwölfjährigen Pause an, bevor er im Osten dann 1952 nach vier Jahren schon wie- Das am 1. Juni 1946 gegründete DZA der aus dem Amt entfernt wurde.5 war eine bewusste Umgründung in der Nachfolge des Reichsarchivs. Trotz Auch Wolfgang Müller, Abteilungslei- kriegsbedingter Gebäudezerstörung auf ter im Bundesarchiv und ehemaliges dem Potsdamer Brauhausberg existier- ­NSDAP-Mitglied (seit 1937), der über- te es auf sowjetische Anweisung und haupt erst 1936 ans Geheime Staatsar- unter wechselnder Führung ehema- chiv Berlin gekommen war, hatte von liger Heeresarchivare weiter und ver- 1941 bis 1953 eine zwölfjährige Pause suchte im Nachkriegschaos irgendwie aus Soldatensein, Kriegsgefangenschaft, zu überleben.7 Buchhändler- und Sparkassenjob durch- zustehen, bevor er in Koblenz Fuß fassen Frühzeitig vollzog sich ein umfassender konnte.6 Wie hier erweisen sich in zahl- Bruch mit NS-belastetem Personal: Alle reichen Fällen die arbeitsbiographischen ehemaligen NSDAP-Mitglieder von den Lücken und Brüche plötzlich größer als gut eineinhalb Dutzend verbliebenen die Phasen der Stetigkeit. Hinzu kommt Mitarbeitern mussten 1946 das Archiv im Westen, dass das Bundesarchiv eine verlassen. Seit 1948 wurde wieder Perso- Neugründung war, also im Unterschied nal eingestellt. Dabei kam es dann erneut zum Potsdamer DZA eine institutionel- zur Einstellung ehemaliger NSDAP-Mit- le Fortsetzung zum Reichsarchiv nur im glieder: Von den 34 zwischen August übertragenen Sinne bestand. 1948 und Juni 1950 eingestellten Mitar- beitern im DZA hatten sogar zehn der An diesen Stellen der Unschärfe möchten NSDAP angehört (29 Prozent).8 Doch die nachfolgenden Ausführungen anset- betraf dies keine leitenden Angestell- zen und das Verhältnis von Bruch und ten – mit Ausnahme des 42-jährigen Kontinuität sowie von Kontingenz und Walter Nissen, der vom Landeshauptar- Planmäßigkeit erörtern. Die Ausgangs- chiv kam und bis zu seiner these lautet dabei, dass es diese übergrei- Übersiedlung in die Bundesrepublik fende Kontinuität im wörtlichen Sinne 1958 die Außenstelle Merseburg führte. einer Fortdauer bzw. eines lückenlosen Referent Walter Haentsch und Archi- Zusammenhangs, vielleicht sogar eines var Rudolf Schatz verfügten zwar über Masterplans zur Wiederinstallation be- Pg.-Status, jedoch verließen sie bis 1953 lasteter Archivare in dem dreigliedrigen das Archiv gen Westen. Mit Ausnahme Institutionenkontext von Reichsarchiv, der Hilfskraft Willy Bohm hatte sich Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 85 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

überdies kein weiterer der 1946 wegen Außenstelle des DZA leitete. Im Zuge ei- NSDAP-Mitgliedschaft Entlassenen er- ner Routinekontrolle des MfS stieß der folgreich um Wiedereinstellung bemüht. Geheimdienst 1978 in den Akten darauf, dass der seit 1946 der SED angehörende, Von den zehn neuen Mitarbeitern, die als politisch äußerst zuverlässig gelten- ehemals NSDAP-Mitglieder waren, hat- de Außenstellerleiter 1939 der NSDAP ten zuvor lediglich Sacharbeiter Hans beigetreten war, dies jedoch in seinen Brumme (kurzzeitig) am Reichsarchiv Bewerbungsunterlagen verschwiegen und der erwähnte Hilfssacharbeiter hatte. Als noch dazu herauskam, dass Bohm beim Heeresarchiv gearbeitet. seine Ehefrau, eine stellvertretende Mit Heinz Riese und Georg Strutz be- Schuldirektorin und SED-Kreistagsab- setzten auf der Referentenebene zwar geordnete, ebenfalls eine verschwiegene keine formal Belasteten, aber ebenfalls Vergangenheit als BDM-Führerin hatte, zwei ehemalige Reichs- und spätere zog man die Reißleine und setzte ihn Heeresarchivare die Posten. Riese war „aus gesundheitlichen Gründen“ ab.9 seit 1948, der 20 Jahre ältere Strutz seit Nach dem Fall des NS-belasteten Karl 1950 am DZA. Doch auch sie flohen Höhnel, der stellvertretender bzw. kom- 1953 aus der DDR. Damit riss am Haus missarischer Leiter der Staatlichen Ar- die fachliche Verbindung zur Vorgän- chivverwaltung in den 1950er Jahren ge- gerinstitution qua persona ab, und das wesen war, stellt dies die – bislang noch Jahr des gescheiterten Volksaufstandes unbekannte – zweite Absetzung eines kann als wichtige Zeitgrenze in der leitenden Archivars dar, der seine braune personellen Abnabelung von der Ver- Vergangenheit bewusst verschwiegen gangenheit betrachtet werden. Davon hatte. Doch sowohl Kesselbauer als auch abgesehen herrschte insbesondere Höhnel blieben Einzelfälle, die überdies Ende der 1940er / Anfang der 1950er offiziell totgeschwiegen wurden. Jahre, aber auch sonst bis zum Mauer- fall eine extreme Personalfluktuation, Die frühe Personalpolitik lag – mit sow- die auch Mitarbeiter mit formaler Be- jetischer Rückendeckung – bis 1952 im lastung erfasste. Wesentlichen in Otto Korfes‘ Händen, wobei einzelne wichtige Personalent­ Diese Befunde relativieren – wohlge- scheidungen mit Vertretern der SMAD-­ merkt aus der Perspektive des DZA – Archivabteilung sowie mit MdI-Staats- die These von den stark ausgeprägten, sekretär Johannes Warnke abzustimmen NS-belasteten Personalkontinuitäten im waren. Gleichwohl beriet er sich auch staatlichen Archivwesen der DDR. Wenn mit anderen Archivdirektoren im Land Mitte der 1960er Jahre unter den rund sowie mit seinen Stellvertretern Jürgen 150 Mitarbeitern nicht einmal eine Hand Sydow und Roland Seeberg-Elversfeld, voll ehemaliger NSDAP-Mitglieder auf die allerdings 1950 bzw. 1953 die DDR der unteren Beschäftigungsebene im verließen. Potsdamer Zentralarchiv arbeiteten, unterstreicht dies den Wandel. Grundsätzlich sind in der Beurteilung der Einstellungspolitik zwei Aspekte zu Gleichwohl gab es auch Ausnahmen, berücksichtigen: Erstens herrschte in wie z.B. den 1921 geborenen Günther der SBZ bzw. frühen DDR ein eklatan- Kesselbauer, der seit 1968 die Coswiger ter Mangel an ausgebildetem Personal. 86 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Die Archivbeauftragten hatten mit Tod, scheidungen. Doch seine Ära endete Kriegsgefangenschaft, West-Abwande- bereits 1952 mit seiner Entlassung, wo- rung und politischer Aussortierung von mit auch die vergangenheitspolitische Fachkräften ebenso umzugehen wie Kulanz in Personalfragen vorbei war. mit dem geringen Prestige, Sozialstatus Nun wurden jüngere, strikt unbelastete und Gehalt, das die Arbeit im Archiv Archivare eingestellt, die von der frisch einbrachte. Gerade auch die fehlenden gegründeten Potsdamer Archivschule Anreize von außen verschärften den kamen. Insofern hinterließ Korfes zwar Bewerbermangel dramatisch. Zugleich im DZA seine personalpolitischen Spu- war jedoch Korfes wie zuvor seine Vor- ren, doch sie waren nicht besonders gänger verpflichtet worden, das DZA tief. Auf den Ex-Generalmajor folgte zu erhalten und innerhalb kürzester der 32-jährige Helmut Lötzke ins Ar- Zeit zügig auszubauen, denn 1948 war chiv, ein ehrgeiziger Nachwuchsarchi- zwischenzeitlich die Auflösung des var, der der SED angehörte und für den DZA im Gespräch. In der Folge griff Übergang in ein sozialistisches Archiv Korfes wie sein Vorgänger Otto Danz sorgen sollte. vereinzelt auf ehemalige Fachleute des Brauhausberges zurück, die sich in den Dass insgesamt nur geringfügige bzw. dortigen Beständen auskannten und kurzlebige personelle Kontinuitäten erste Ordnungsarbeiten unternahmen, vom Reichsarchiv direkt zum DZA be- um das vor 1945 ausgelagerte und nun standen, deckt sich mit der Entwick- aus den Bergwerken in Staßfurt und lung im Bundesarchiv sowie mit der Schönebeck zurückfließende Archivgut Personalentwicklung der beiden deut- aufzunehmen. schen Innenministerien insgesamt.10 Zugleich unterscheidet sie sich damit Zweitens sind für die Beurteilung der vom Trend anderer Institutionen und Einstellungspraxis der SMAD-Befehl Nr. Behörden im Westen, wie dem Justiz- 35 vom 26. Februar 1948 zu berücksich- bereich oder dem Auswärtigen Amt.11 tigen, der offiziell das Ende der Entna- Überdies griffen weder das Deutsche zifizierungszeit in der SBZ verkündete, Zentral- noch das Bundesarchiv auf Ar- sowie vier Wochen später die Amnestie chivpersonal zurück, das vom NS-Regi- für NS-Täter, deren Strafmaß unter ei- me entlassen wurde. nem Jahr lag. Diese Regelung schuf die Grundlage, auf der Korfes einige Monate Neustart der Alten im Westen später mit einer gewissen personalpoli- Anders als in der DDR die Entwick- tischen Toleranz bei NS-Belastungsmo- lung im Westteil Deutschlands: Es ist menten agieren konnte, die noch zwei für die westlichen Zonen bereits in ver- Jahre zuvor undenkbar war. Korfes war schiedenen Arbeiten der nahezu gänz- überzeugt davon, dass ehemalige Mit- liche Wiedereinstieg der überlebenden läufer des NS-Regimes sowohl gesell- Archivare ins Berufsleben konstatiert schaftlich als auch in den Arbeitsmarkt worden.12 Die Kontinuitätsrate NS-be- zu integrieren seien. lasteter Archivare wird dabei mehr oder weniger auf knapp einhundert Prozent In diesem Klima des laisser faire durch geschätzt, wenngleich eine genaue em- die SED entwickelte Korfes seine per- pirische Erhebung noch aussteht. Mit sonalpolitischen Vorschläge und Ent- Ernst Zipfel liegt letztlich nur ein pro- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 87 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

minentes Beispiel für einen belasteten ­GStA-Archivar als Kenner der Archiv­ Spitzenbeamten vor, der nach 1945 im szene eine erhebliche Rolle bei der alli- staatlichen Archivwesen nicht mehr ierten Evaluierung der deutschen Archi­ Fuß fassen konnte. vare.14 Experten wie Wilhelm Rohr, Adolf Diestelkamp, Georg Winter oder Doch der erste Anschein unbeschadeten Wolfgang Kohte, die bald im Dienste des Davonkommens einer ganzen Exper- Bundesarchivs standen, beurteilte er in tengruppe trügt, denn die Spanne der ihrer politisch-ideologischen Nähe zum Konsequenzen und Beeinträchtigun- NS-Regime trotz geographischer Dis- gen unter den Archivaren reichte von tanz erstaunlich präzis – und mit dem folgenloser Weiterbeschäftigung (Bern- Ergebnis, dass von den genannten min- hard Vollmer und Ludwig Dehio) über destens Rohr und Kohte als politisch längere Internierung (Georg Wilhelm untragbar für neue Leitungsaufgaben Sante und Helmuth Rogge) bis zu mehr- eingeschätzt wurden.15 Hätte Posner zu- jähriger Haft (Georg Schnath und Martin gesagt, hätte sich das Bundesarchiv per- Granzin). Die Aktivitäten der so genann- sonalpolitisch sehr wahrscheinlich an- ten Kollegenhilfe des Vereins Deutscher ders entwickelt hätte als unter Winter. Archivare zeugen von den Notlagen, in denen viele Archivare steckten. Winter betrieb seine Planungen von Lüneburg aus seit 1949/50. Doch die Bereits mehrfach und kenntnisreich ist künftige Personalausrichtung entwi- der Weg Georg Winters vom Stadtarchiv ckelte sich anfänglich nicht, wie von Lüneburg an die Spitze des Bundesar- Winter gewünscht, auf der Grundla- chivs beschrieben worden, der keines- ge eines stillen Arrangements hinter wegs ein geradliniger und konfliktfreier den Kulissen. So hatte vor allem der war.13 Der 1895 in Neuruppin geborene SPD-Bundestagsabgeordnete und vor Archivar hatte zuvor eine Karriere am 1945 aus politischen Gründen aus Berliner Geheimen Staatsarchiv, am In- dem Reichsarchiv entlassene Archivar stitut für Archivwissenschaften und im Ludwig Bergsträsser immer wieder öf- so genannten „Archivschutz“ in Frank- fentlich die Personalkontinuitäten kri- reich und in der Ukraine hinter sich tisiert.16 Bergsträssers Diktum lautete, und war trotz arbeitsbedingter Nähe zu dass in einem künftigen Bundesarchiv Ernst Zipfel nicht der NSDAP, SA oder SS weder auf der Direktoren-, noch auf beigetreten, was ihn damit zu einer Aus- der Abteilungsleiterebene ehemalige nahmefigur machte. Festzuhalten ist, NSDAP-Mitglieder zu besetzen seien. dass Georg Winter nach Kriegsende zu- Ihm ging es dabei nicht allein nur um nächst nicht zur ersten Wahl für den Di- ein grundsätzlich formal unbelastetes rektorenposten gehörte und, insbeson- Personaltableau. Vielmehr erhoffte er dere nach der Absage von Ernst Posner, sich dadurch eine Versicherung gegen eher zu den „Übriggebliebenen“ zählte. eventuelle Aktenvernichtung und Zu- gangsbeschränkungen zu Archivgut mit Im Zusammenhang mit Posner ist es da- belastendem Inhalt. bei nicht verfehlt, einer gewissen histo- rischen Kontingenz das Wort zu reden. Dieses Argument leuchtete zunächst So spielte der nach 1933 aus dem Dienst auch Bundesinnenminister Gustav gedrängte und in die USA emigrierte Heinemann ein, der sich Bergsträssers 88 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Forderung nach unbelastetem Personal Was die Ebene der Abteilungsleiter an- anschloss und Winters Bürgschaften für betrifft, bestand von 1952 bis 1965 eine ehemalige Pg.-Kollegen zurückwies.17 durchweg 100-prozentige Rate von Im Ergebnis hatten Bergsträssers In- Beamten, die formale und / oder mate- terventionen ein Stocken der Personal- riale Belastungsmomente aufwiesen. planungen zur Folge. Darüber hinaus Von den 29 Referaten der Abteilungen wurde auch Winters Kandidatur noch standen 1959 numerisch mindestens 17 einmal auf den Prüfstand gestellt, nach- unter Leitung von belasteten Beamten dem seine Zeit als „Archivschützer“ in (60 Prozent), wobei sich die hohe Quo- der Ukraine ruchbar geworden war. Ge- te allerdings auch aus den Doppel- oder stalteten sich diese Einwürfe zunächst Mehrfachfunktionen einzelner Abtei- auch als nervenaufreibend für die lungsleiter ergab. Von einer personalpo- Betroffenen, veränderte sich mit die- litischen Denazifizierung, wie es die Al- ser verbundenen Zeitverzögerung der liierten gefordert hatten, konnte keine rechtliche und politische Rahmen für Rede sein. Gleichwohl gab es auch hier die künftige Personalauswahl. Nach der mit dem 1953 eingestellten Eberhard Bundesamnestie Ende Dezember 1949 von Vietsch prominente Ausnahmen. und mit dem so genannten 131er-Ge- Der 1912 in Südafrika geborene Archi- setz achtzehn Monate später machte var hatte sich vor 1945 überhaupt keiner sich mehr und mehr eine allgemeine NS-Formation angeschlossen, war nach Schlussstrich-Mentalität breit. In der seiner Volontariatszeit am Reichsarchiv Folge verblieb Georg Winter seit Früh- 1939 aus politischer Überzeugung aus- jahr/Sommer 1950 erstens als einziger, gestiegen und hatte als freier Wissen- in Frage kommender Kandidat für die schaftler überlebt.18 Dass Vietsch, der Archivleitung. Zweitens hatte er es nun später Nachlässe betreute und biogra- mit weniger Einschränkungen und Vor- phische Politikstudien verfasste, in Win- behalten von außen zu tun, um seinen ters Personaltableau ein Feigenblatt für Bewerberkreis zu definieren. belastete Kandidaten darstellte, ist vor- stellbar. Andererseits hatte er ihn von Die folgenden ersten zwei Jahrzehnte des Beginn an auf dem Zettel. Bundesarchivs waren mit dem Wirken NS-belasteter Archivare aus der „jungen Winters Personalrekrutierung folgte Front-“ und „Kriegsjugendgeneration“ rückblickend drei zentralen Auswahl- der zwischen 1890 und 1910 Geborenen kriterien: erstens die konkrete fachli- verknüpft. Zu den Protagonisten zählten che Eignung für den jeweiligen Posten, die Direktoren bzw. Präsidenten Georg zweitens frühere Bekanntschaften und Winter, Karl G. Bruchmann und Wolf- Netzwerke und drittens gemeinsame gang A. Mommsen sowie auf Abteilungs- Erfahrungen aus der Zeit vor 1945, ins- ebene die leitenden Beamten Walter besondere mit ideologisch vorgepräg- Latzke, Georg Tessin, Adolf Diestelkamp, tem Osteuropa-Bezug (Ausbildung bzw. Wolfgang Kohte und Erich Murawski, die Tätigkeit am Institut für Archivwissen- unter archivgeschichtlichen Kriterien schaft und geschichtswissenschaftliche als überdurchschnittlich belastet gelten. Fortbildung sowie an der Publikations- Stichworte sind hier: Mitgliedschaften in stelle in Berlin-Dahlem, archivarischer NSDAP und SA, „Ostforschung“ sowie „Osteinsatz“). Dem entsprechend hatte archivarischer „Osteinsatz“. Winter für Wilhelm Rohr, Karl G. Bruch- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 89 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

mann und Wolfgang Kohte 1945 „Persil- Der 1907 geborene Kohte hatte vor 1945 scheine“ verfasst, worin er ihnen politi- der SA (seit 1933) bzw. der NSDAP (1937) sche Unbedenklichkeit bescheinigte. angehört und für die Publikationsstel- le als stellvertretender Geschäftsführer Erst ab Mitte der 1960er Jahre setzte auf wertvolle Arbeit für die „Ost- und West- Abteilungsebene peu à peu ein Genera- forschung“ geleistet – damit galt Kohte tionenwechsel ein, der jedoch noch nicht als belastet. Doch Georg Winter schätz- die Behördenspitze erfasste. So folg- te seine Archivarsqualitäten und seine ten auf Winter Karl G. Bruchmann und Kenntnis zahlreicher moderner Spra- Wolfgang A. Mommsen mit den erwähn- chen, darunter Französisch, Nieder- ten Belastungsmomenten: NSDAP- und ländisch, Polnisch und Englisch sowie SA-Mitgliedschaft sowie Archiveinsatz Russisch, Tschechisch, Spanisch und Ita- in Polen und in der Sowjetunion. Preußi- lienisch, sodass er ihn unbedingt in Ko­ sche Archivtradition in Verbindung mit blenz haben wollte. Obwohl sich Kohte Engagement für das NS-Regime wurde nach dem Krieg allein im Westen nur so zum konstitutiven Merkmal für den schlecht durchschlug, reagierte er skep- Leitungskreis der ersten Stunde.19 Kaum tisch, da er sich als Sozialfall betrachtete. bekannt ist, dass auch Hans Booms, der Er machte seine Zusage von einer hohen nach Mommsen das Bundesarchiv bis Gehaltseinstufung abhängig, die es ihm 1989 führte, als 18-Jähriger freiwillig in ermöglichte, eine große Wohnung im die NSDAP und in die Wehrmacht ein- zerstörten Koblenz zu mieten, um sei- getreten war. Die massenhafte Integra- ne Ehefrau und sechs Kinder im Alter tion NS-belasteter Personen in das BMI von ein bis dreizehn Jahren von Gotha bildete dafür die übergeordnete perso- an den Rhein zu holen. Erst nachdem nalpolitische Blaupause. Winter im Februar 1953 bei Bundesin- nenminister Heuss die Ernennung zum Aber auch hier gilt: Der Einstellungspro- Archivrat durchgesetzt hatte, sagte Kohte zess gestaltete sich keineswegs als Selbst- unter Zögern schließlich zu. Am Ende läufer. Winter hatte komplexe Kandida- war er, dessen Spezialgebiet die Über- tenlisten angelegt, doch das Ergebnis lieferung von nicht-schriftlichen Quel- der Sondierung konnte selten vorausge- len war, der dienstälteste Bundesarchi- sehen werden. Insbesondere unter den var im Haus und vertrat zwischen 1969 angefragten erfahrenen Archivexper- und 1972 Archivpräsident Mommsen in ten, die bereits wieder in Westdeutsch- Abwesenheit. land in Anstellung waren, herrschte vielfach Skepsis gegenüber der neuen Geht man Winters Briefwechsel durch, Behörde vor: fehlende Archivstruktur wird klar, dass er sich erstens über die und keine Akten, nicht vorhandenes in- jeweiligen individuellen Belastungsmo- stitutionelles Renommee, zu erwarten- mente der Archivare stets im Klaren war. de hohe Arbeitsbelastung, Umzug in ein Zweitens entschied er sich als Nicht-Pg. zerstörtes Koblenz mit Wohnraumman- im Zweifelsfall nahezu immer für den- gel, niedrigere Bezahlung als anderswo… jenigen, der eine höhere Belastung auf- Die Liste der Vorbehalte und Schwierig- wies. Begründet hat Winter dies nie, keiten, die es zu überwinden galt, war zumindest lassen sich aus den Quellen lang und ging auch ins Private wie das keine ideologischen Motive herausle- Beispiel von Wolfgang Kohte andeutet.20 sen, auch wenn er bisweilen privat für 90 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Vergessen, Vergebung und zweite Chan- mindestens 20 bis 25 Jahre maß, bevor ce plädierte sowie den archivarischen sich überhaupt wieder so etwas wie ein „Osteinsatz“ ausschließlich als Kriegs- regulärer Archivbetrieb und eine soli- schutzmaßnahme (miss)interpretierte. de Beständeordnung in beiden Zentral- Seine Argumentation gegenüber dem archiven einstellten. Aus erinnerungs- BMI, wo beispielsweise 1954 Wider- kultureller Perspektive kann daher ein spruch gegen die Besetzung der Frank- langer „Gedächtnisausfall“ bzw. eine furter Außenstelle mit dem belasteten amnestische Phase der Zentralarchive Walther Latzke laut wurde, der bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts kons- 1931 der NSDAP beigetreten war, blieb tatiert werden. Die NS-Diktatur war ein immer rein fachlich – und war damit Zeitraum der großen Sammlungsbe- erfolgreich.21 Im Innenministerium schädigung mit Langzeitwirkung. schenkte man allerdings ohnehin der Koblenzer Mini-Behörde, die im Juni Mit diesem Erbe hatte auch der 1929 1952 mit nicht einmal einem Dutzend geborene Heinz Boberach zu tun, der Mitarbeitern und ohne Akten startete, seit 1957 am Bundesarchiv war und sich nur wenig Aufmerksamkeit in jener Zeit. später maßgeblich um die Bestände aus der NS-Zeit kümmerte. Doch nicht nur Vom gemeinsamen Null-Punkt damit: Glaubt man seinen Aufzeich- zur getrennten Nachwirkung nungen, wurden im frühen Bundesar- Die unterschiedliche Entwicklung wirft chiv eine strenge Beamtenhierarchie Fragen über das so genannte Nachle- und ein humorloses preußisches Beam- ben von Diktatur und Diktaturbelas- tenethos gepflegt.22 Der Leitungs- und tung auf. In diesem Zusammenhang Kommunikationsstil war autokratisch muss man zunächst einmal auf einen und bewegte sich in den Bahnen eines gesamtdeutschen Aspekt der Nachwir- Ernst Zipfel aus der NS-Zeit, aber auch kung verweisen, nämlich die zentra- aus den Jahren davor. le archivgeschichtliche Bruchstelle im 20. Jahrhundert, die die NS-Diktatur in Auf Seiten der alten Bundesarchivare Verbindung mit dem Zweiten Weltkrieg war zudem ein Anknüpfen an konserva- und seinen Folgeschäden verursacht tiv-antikommunistische und russopho- hat. Stichworte lauten hier: Kriegsein- be Denkhorizonte zu beobachten. Diese berufungen von Archivaren, Notbe- traten praktisch vor allem dann zutage, trieb der Archive, Auslagerungen von wenn es um Archivzugänge ostdeut- Archivgut, Archivzerstörung, Aktenver- scher oder osteuropäischer Nutzer so- nichtung, Mitarbeitertod, Archivgut- wie um die Deutung des sozialistischen beschlagnahmung, Verbringung und Archivwesens ging. Verbrechen- und schließlich Aktenrückgabe. Der archi- Diktatur-verharmlosende Positionen valische Rückgabeprozess aus den Hän- waren insgesamt selten anzutreffen – den der Alliierten war erst im Verlauf am ehesten noch in vereinzelten Haus- der 1960er Jahre abgeschlossen – ohne publikationen wie „Zur Geschichte der dass das Material damit automatisch für Ordnungspolizei 1936–1945“ (1957) von den Nutzerbetrieb zur Verfügung stand. Georg Tessin (der bereits 1932 in die Dieser Ausnahmezustand der völligen NSDAP eigetreten war), wo unkritische Un-Ordnung umfasste einen Zeitraum, Betrachtungsweise, Quellenselektion, der seit 1938/39 zusammengenommen Beschönigung bzw. sogar bewusstes Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 91 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Verschweigen von Unrecht und Verbre- die auf eine Erhöhung der System- chen im Nationalsozialismus anzutref- trägerzahl abzielte – mit Erfolg.25 Die fen waren, oder auch in den vereinzelten Quote der Mitgliedschaften in der SED militaristischen Zeitungs-Statements und in den staatssozialistischen Forma- vom Leiter des Militärarchivs Hermann tionen sowie die Anzahl der Zuträger Teske, der beispielsweise Anfang der für die Stasi stiegen beständig. Zudem 1960er Jahre in der FAZ den mörderi- sorgte die geheimdienstliche Durch- schen Kadavergehorsam von Offizieren dringung und hypertrophierte Geheim- im Zweiten Weltkrieg glorifiziert hatte – nisschutz-Praxis für ein streng kodifi- ein Auftritt, gegen den allerdings einige ziertes Zugangssystem zu Archiv und Koblenzer Bundesarchivare öffentlich Archivgut, das sich stark einschränkend Stellung bezogen hatten.23 auf den Benutzerverkehr auswirkte und das Archiv als traditionellen Arkanbe- Im Potsdamer DZA hingegen bestand reich zementierte. das Erbe aus der Zeit vor 1945 vor allem in der Herausbildung einer größeren Fazit Gruppe von Mitgliedern der NDPD, Die Zusammensetzung der Mitarbei- einer neu gegründeten Blockpartei zur terschaft in beiden Zentralarchiven Sammlung und Kanalisierung ehemali- wurde entscheidend geprägt durch ger NSDAP-Mitglieder, an deren Spitze eine Gemengelage von bisweilen star- Otto Korfes als brandenburgischer Par- ken Momenten von NS-Belastung, teipolitiker stand. Diese Gruppe konkur- personalpolitischer Kontingenz und rierte – im Verbund mit weiteren, partei- arbeitsbiographischer Diskontinuität. losen Archivaren – mit der SED-Fraktion Zugleich treten deutliche Unterschiede im Archiv, die in den 1950er Jahren kaum in der zeitlichen Abfolge der jeweiligen Rückhalt in der Belegschaft fand. Im Belastungsgeschichten, in der Anzahl Ergebnis blieb das DZA in den Augen der Betroffenen sowie in den berühr- von SED und MdI bis weit in die 1960er ten Statusgruppen zutage. So hatte das Jahre hinein ein „bürgerliches Refugi- Bundesarchiv insgesamt mit einem um“, das es aufzusprengen galt. Das MfS deutlich größeren und länger andau- protokollierte eine konstante Unterzahl ernden Erbe aus der NS-Zeit umzuge- von SED-Mitgliedern, ständige verbo- hen als das Potsdamer Pendant. Dass tene Westreisen der Mitarbeiter und sich das im Koblenzer Archivbetrieb vermeintliche Ausschweifungen einer nur begrenzt auswirkte, ist erstaunlich feierfreudigen zehn- bis fünfzehnköpfi- und verweist unter anderem auf das gen Archivarsgruppe, die sich angeblich fach- und institutionenbezogene Adap- „Existenzialistenclub“ nenne und sich tions- und Integrationsvermögen sei- gegenüber SED und Geheimdienst ab- ner Experten-Vertreter. schotten würde.24 Dr. Peter Ulrich Weiß ist Wissenschaftlicher Nach dem Mauerbau schlug das MfS Mitarbeiter am Zentrum für ­Zeithistorische Forschung Potsdam und Lehrbeauftragter gegen die Zustände im Archiv Alarm. am Institut für Geschichtswissenschaften der Es folgte eine Phase der Politisierung ­Humboldt-Universität zu Berlin. und Ideologisierung sowie der geheim- dienstlichen Infiltration und des Kader- austauschs bis in die höchsten Spitzen, 92 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

1 BArch, N 1333/87: Georg Winter an Friedrich 12 Stellvertretend: Astrid M. Eckert: „Im Fegefeuer Matthaesius, 3.9.1950. der Entbräunung“. Deutsche Archivare auf dem Weg in den Nachkrieg, in: Kretzschmar: Das deut- 2 BArch, N 1333/87: Friedrich Matthaesius an Georg sche Archivwesen (wie Anm. 3), S. 426-448. Winter, 5.9.1950. 13 Hans Booms: Georg Winters Weg zum Grün- 3 Unter anderem: Astrid M. Eckert: Kampf um die dungsdirektor des Bundesarchivs. Hoffnungen Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von und Enttäuschungen des früheren preußischen deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Staatsarchivdirektors, in: Klaus Oldenhage/Hermann Wiesbaden 2004; Stefan Lehr: Ein fast vergessener Schreyer/Wolfram Werner (Hrsg.): Archiv und „Osteinsatz“. Deutsche Archivare im Generalgou- Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg, vernement und im Reichskommissariat Ukraine, Düsseldorf 2000, S. 240-263. Düsseldorf 2007; Robert Kretzschmar u. a. (Red.): Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozia- 14 Ernst Posner: Ein Überblick über die Entwicklung lismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart, des deutschen Archivwesens seit dem Weltkrieg, in: Essen 2007; Tobias Winter: Die deutsche Archiv- Ernst Posner: 3 Vorträge zum Archivwesen der Ge- wissenschaft und das „Dritte Reich“. Disziplinge- genwart, Stockholm 1940; Angelika Menne-Haritz: schichtliche Betrachtungen von den 1920ern bis zu Ernst Posner – Professionalität und Emigration, den 1950er Jahren, Berlin 2018. in: Sven Kriese (Hrsg.): Archivarbeit im und für den Nationalsozialismus. Die preußischen Staatsarchive 4 Lutz Maeke: Kontinuität der Experten. Die Meteoro- vor und nach dem Machtwechsel von 1933, Berlin logie und das Archivwesen im MdI, in: Frank Bösch/ 2015, S. 111-141. Andreas Wirsching (Hrsg.): Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin 15 Eckert: Kampf um die Akten (wie Anm. 3), S. 128ff. nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018, und 154. S. 710-728. 16 Vgl. Stephanie Zibell: Ludwig Bergsträßer und 5 Franziska Kuschel/Lutz Maeke: Ein Neubeginn. Das das deutsche Archivwesen, in: Archivalische Zeit- Innenministerium der DDR und sein Führungs- schrift 87 (2005), S. 7-38. personal, in: Bösch/Wirsching: Hüter der Ordnung 17 Winter: Archivwissenschaft (wie Anm. 3), S. 455f. (wie Anm. 4), S. 182-237, hier S. 188f. Zu Korfes‘ Leben: Sigrid Wegner-Korfes: Weimar – Stalingrad – Berlin. 18 Vgl. BArch, PERS 101/38196. Das Leben des deutschen Generals Otto Korfes. 19 Astrid M. Eckert: Zur Einführung: Archive und Biografie, Bayreuth 1994. Archivare im Nationalsozialismus, in: Kretzschmar: 6 Wolfgang Mommsen: Wolfgang Müller [Nachruf], Das deutsche Archivwesen (wie Anm. 3), S. 11-19. in: Der Archivar 20 (1967), Sp. 95-97. 20 Biographische Angaben zu Kohte im Folgenden 7 Siehe dazu den Beitrag von Simone Walther-von nach: BArch, PERS 101/38195. Jena in diesem Heft. 21 BArch, B 106/21197: Georg Winter (Bundesarchiv) 8 Siehe dazu bereits: Simone Walther: Zum Umgang an den Minister des Innern, 25.11.1953; BArch, mit der NS-Vergangenheit beim personellen Neube- B 106/21197: BMI (Referat Z 2) an MR Wodtke, ginn im zentralen Archivwesen der SBZ/DDR 1945- 2.12.1953; BArch, B 106/21197: Georg Winter 1952. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Friedrich (Bundesarchiv) an MR Wodke, 12.12.1953. Beck u. a. (Hrsg.): Archive und Gedächtnis. Festschrift 22 Heinz Boberach: Archivar zwischen Akten und für Botho Brachmann, Potsdam 2005, S. 217-236. Aktualität, Norderstedt 2004, S. 14ff. 9 BStU, MfS HA IX/11 AK 4279/78: Suchaufträge vom 23 Matthias Manke: Vom Hofhistoriker des Gauleiters 3.9.1978, f. 3f.; BStU, MfS HA IX/11 AK 4279/78: MfS/ zum Militärarchivrat im Bundesarchiv. Der Archi- HA IX/11 an die BVfS Leipzig/KD Leipzig, 24.3.1970, var Georg Tessin im Staatsarchiv Schwerin und f. 10.; BStU, MfS, BV Halle KD Roßlau VIII 2422/83: im Bundesarchiv Koblenz, in: Kretzschmar: Das MfS-Kreisdienststelle Roßlau an die BVfS Halle/ deutsche Archivwesen (wie Anm. 3), S. 281-312; Abt. Kader und Schulung, 6.6.1970, f. 16.; BStU, MfS, Briefe an die Herausgeber: Befehl und Gehorsam, BV Halle KD Roßlau VIII 2422/83: MfS-Kreisdienst- in: FAZ vom 16.10.1962; Briefe an die Herausgeber: stelle Roßlau an die BVfS Halle/Abt. Kader und Im alten Geist, in: FAZ vom 19.10.1962. Schulung, 5.2.1972, f. 24. 24 BStU, MfS – HA VII, Nr. 6708: Hauptabteilung VII: 10 Frank Bösch/Andreas Wirsching: Die deutschen Zusammenfassende Einschätzung über das Archiv- Innenministerien nach dem Nationalsozialismus. material der BV Potsdam, AOP 219/61 unter Be- Eine Bilanz, in: Bösch/Wirsching: Hüter der Ord- rücksichtigung bei der damaligen Bearbeitung nung (wie Anm. 4), S. 729-749. nicht beachteter Zusammenhänge zu Boelcke, 11 Eckart Conze / Norbert Frei /Peter Hayes /Moshe 22.8.1984. Zimmermann (Hrsg.): Das Amt und die Vergangen- 25 Siehe dazu auch Hermann Schreyer: Das Staatliche heit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und Archivwesen der DDR. Ein Überblick, Düsseldorf in der Bundesrepublik, München 2010; Manfred 2008, S. 90ff. Görtemaker / Christoph Safferling: Die Akte Rosen- burg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 93 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 95 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Simone Walther-von Jena Das Zentrale Staatsarchiv der DDR

nfang der 1980er Jahre habe schaftliche Entwicklung des Zentralen ich an der hiesigen Hum- Staatsarchivs skizzieren. Dabei stütze boldt-Universität Archivwis- ich mich im Wesentlichen auf meine senschaften und Geschichte eigenen und die Forschungsergebnisse studiert.A Für meine Diplomarbeit, die unseres ehemaligen Kollegen Hermann sich mit den Ministerkonferenzen im Schreyer.1 Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda beschäftigte, benutzte ich Die Bildung der alliierten Besatzungszo- die im Zentralen Staatsarchiv der DDR nen in Deutschland und die Gründung überlieferten Unterlagen. Die Arbeit soll- zweier deutscher Staaten mit unter- te zur Dissertation erweitert werden – schiedlichen gesellschaftlichen Struk- leider stellte sich schnell heraus, dass turen und politischen Systemen blieb die in der DDR verfügbare Quellenbasis auf das Archivwesen nicht ohne Aus- nicht ausreichend sein würde, und so wirkungen. musste schnell ein neues Thema her. Anfänge in der sowjetischen Die primären Quellen, die ich benötigt Besatzungszone hätte, lagen auf der anderen Seite der Die Sowjetische Militäradministration Mauer, in der Bundesrepublik. Eine in Deutschland (SMAD) schuf in ihrer Benutzung im Bundesarchiv Koblenz Besatzungszone die Grundlagen für den war jenseits jeglicher Realität, denn die Aufbau eines staatlichen Archivwesens Mauer würde ja nach Aussage Erich nach sowjetischem zentralistischen Honeckers noch weitere 100 Jahre ste- Vorbild. Bürgerlich-demokratische Tra- hen. Hätte mir damals jemand gesagt, ditionen hatten da keinen Platz mehr dass nur wenige Jahre später die zer- und verschwanden allmählich gegen rissenen Provenienzen der im Zweiten Ende der fünfziger Jahre – und mit Weltkrieg vielfach zerstörten Überlie- ihnen die Archivare, die oftmals im an- ferung des Reichs- und Heeresarchivs deren Teil Deutschlands ihre Tätigkeit wieder zueinander finden würden, fortsetzten. dann hätte ich ihm jeden Realitätsbe- zug abgesprochen. Unmittelbar nach Ende des Krieges wa- ren u. a. Mitarbeiter der bei der SMAD Innerhalb von 20 Minuten verständ- gebildeten Archivabteilungen und an- lich und umfassend über die 40jährige derer sowjetischer Behörden mit der Geschichte des Zentralen Staatsarchivs Sicherung des in allen Landesteilen der DDR zu referieren, ist schwer mög- verstreuten Archivguts beschäftigt. Ei- lich. Ich werde daher im Weiteren sehr nerseits sollten die von Deutschen ge- verkürzt aus meiner Sicht wichtige raubten Unterlagen ermittelt und zu- Aspekte für die politische und gesell- rückgeführt werden. Andererseits gab es 96 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Bestrebungen, interessantes Archivgut Im März 1946 beantragte Ruppert bei als Wiedergutmachung für die Kriegs- der Abteilung Volksbildung der SMAD verluste zu beschlagnahmen.2 in Berlin-Karlshorst die Bildung eines deutschen Zentralarchivs in der Sow- Dank der Aktenauslagerungen des jetischen Besatzungszone (SBZ). Mit Reichs- und Heeresarchivs Potsdam so- deren Genehmigung regelte der Erlass wie des Geheimen Staatsarchivs Ber- der Deutschen Zentralverwaltung für lin-Dahlem in die Salzschächte Schöne- Volksbildung vom 8. Mai 1946 die Er- beck und Staßfurt konnten wesentliche richtung dieses Zentralarchivs mit Sitz Bestände gerettet werden. in Potsdam, das am 1. Juni 1946 unter der Leitung von Ruppert seine Arbeit Unmittelbar nach dem 8. Mai 1945 be- aufnahm. Wegen von der SMAD und auftragte die SMA Brandenburg3 den der Deutschen Wirtschaftskommission letzten Chef der Heeresarchive, Dr. Karl verfügten Personalkosteneinsparungen Ruppert, mit der Sicherung der dort folgte die Unterstellung unter das Refe- vorgefundenen Restakten. Sie ordnete rat Bibliotheksfragen der Wissenschafts- im August 1945 durch Zusammenle- abteilung der Deutschen Zentralverwal- gung des Reichs- und Heeresarchives tung für Volksbildung. die Bildung einer Archivverwaltung an, die in gewisser Weise als Abwicklungs- Das Zentralarchiv unter der stelle fungierte. Leitung von Otto Korfes Die im Lauf des Jahres 1948 drohende Im Oktober 1945 skizzierte Ruppert und zum 15. Oktober 1948 angeordne- eine von ihm geplante und der Deut- te Schließung konnte durch einen so- schen Zentralverwaltung für Volksbil- fortigen Einspruch von Dr. Otto Korfes dung vorgeschlagene „Reorganisation verhindert werden, der kurioser- und des Archivwesens“. Danach sollten eine glücklicherweise am selben Tag vom Zentralverwaltung der staatlichen Ar- Präsidenten der Zentralverwaltung für chive mit Sitz in Berlin-Dahlem und ein Volksbildung zum Leiter des Zentral- ihr angegliedertes Zentralarchiv entste- archivs bestellt wurde. Korfes, ein ehe- hen. Das Zentralarchiv hätte dabei nach maliger Mitarbeiter des Reichsarchivs, Rupperts Vorstellungen die bisherigen war als Generalmajor der Wehrmacht Aufgaben des ehemaligen Reichsarchivs, in sowjetischer Kriegsgefangenschaft des Heeresarchivs, des Preußischen gewesen.4 Er legte im November 1948 Geheimen Staatsarchivs, des Branden- einen aussagekräftigen Stellenplan vor burg-Preußischen Hausarchivs, des Poli- und suchte in Potsdam und Umgebung tischen Archivs des Auswärtigen Amts nach geeigneten Unterbringungsmög- sowie der Registraturen der aufgelösten lichkeiten. Und er wies die Bedenken Reichsministerien und sonstigen ober­ gegen sein Personal zurück. Wegen der sten Reichsbehörden in übergreifender offenbar bevorstehenden Unterstellung Zuständigkeit übernehmen sollen. Die des Zentralarchivs unter die Deutsche Stadt Potsdam stellte die treuhände­ Verwaltung des Innern (DVdI) über- rische Verwaltung und Finanzierung sandte Korfes seinem Präsidenten, dem der Archivverwaltung zum 1. November damals noch wenig bekannten Erich 1945 ein, aber die Bediensteten gingen Mielke, am 23. Dezember 1948 eine wohl weiter ihrer Tätigkeit nach. Denkschrift5 zur Situation des Archivs Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 97 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

und äußerte: „Sie werden mir glauben, se besonders hingezogen, wurde er Ende dass ich die neue Unterstellung mit Er- September 1952 aus dem Amt gedrängt.6 leichterung begrüße, da ich darauf ver- traue, nunmehr diejenige Unterstüt- Im Februar 1953 verschmolz die zung zu erhalten, die notwendig ist, um Hauptabteilung Archivwesen des MdI aus dem kümmerlichen Wesen, das das mit der Generaldirektion der Staatlichen Zentralarchiv darstellt, ein arbeitsfähi- Archive zur Staatlichen Archivverwal- ges und dem Aufbau nützendes Institut tung der DDR (StAV). Die Vorgaben und zu machen.“ Weisungen der StAV, die in ihrer Tätig- keit ausschließlich von den Beschlüssen Korfes‘ Überlegungen zu einer Neu- der Parteigremien der SED abhing, be- organisation und Zentralisierung des stimmten zunehmend die Tätigkeit der Archivwesens in der SBZ veranlasste Archivare im nunmehrigen Deutschen die Besatzungsmacht zu einem eigenen, Zentralarchiv (DZA).7 dem sowjetischen Modell entsprechen- den Konzept zur Unterstellung der Der „Neue Kurs“ nach 1953 staatlichen Archive unter die Innere Die von der SED verkündeten Thesen Verwaltung. Unter Zustimmung der vom verstärktem Klassenkampf und DVdI nahm unter Leitung von Korfes, der Schaffung der Grundlagen des So- der zugleich als Leiter des Zentralar- zialismus führten zu gesellschaftlichen chivs fungierte, im Frühjahr 1949 die Spannungen in der DDR und zu inner- Zentralstelle für das Archivwesen ihre parteilicher Kritik. Nach Stalins Tod am Tätigkeit auf. Nach Gründung der DDR 5. März 1953 und insbesondere nach ging daraus die Hauptabteilung Archiv- der gewaltsamen Niederschlagung der wesen des Ministeriums des Innern Massendemonstrationen und Arbeits- (MdI) hervor. Mit den Beschlüssen der niederlegungen in der DDR am 17. Juni 2. Parteikonferenz der SED zum Auf- 1953 drängten Stalins Nachfolger Par- bau der Grundlagen des Sozialismus in teichef Walter Ulbricht zum „Neuen der DDR und der damit verbundenen Kurs“. Dieser sah u.a. eine allgemeine Auflösung der fünf Länder sowie der Liberalisierung der Kulturpolitik und anschließend gebildeten 14 Bezirke damit auch eine stärkere Zusammenar- entstand im Herbst 1952 eine General- beit mit der Bundesrepublik vor. direktion der Staatlichen Archive. Trotz heftiger Gegenwehr gegen die Korfes war 1948 der NDPD beigetre- ­sowjetische Bevormundung und trotz ten. Er konnte sich bis Ende 1952 trotz des Ausschlusses seiner Hauptkriti- Misstrauens gegen seine Personalpo- ker Rudolf Herrnstadt, Chefredakteur litik durch die Unterstützung Walter des SED-Zentralorgans „Neues Deutsch- Ulbrichts im Amt halten, dem bewusst land“, und Wilhelm Zaisser, Minister für war, dass Korfes mit der ausdrücklichen Staatssicherheit, wegen „parteifeindli- Billigung der sowjetischen Besatzungs- cher fraktioneller Tätigkeit“ im Juli 1953 macht ins Amt gekommen war. Als die aus dem Politbüro und dem ZK der SED Kritik an seiner politischen Einstellung sowie im Januar 1954 auch aus der SED weiter zunahm, er sei noch immer von konnte Ulbricht sich dem „Neuen Kurs“ seiner bürgerlichen Ideologie geprägt nicht länger entziehen. Er vollzog da- und fühle sich zu Menschen seiner Klas- raufhin eine erstaunliche Wende. Um 98 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

seinen Macht- und Führungsanspruch worden. 1950 wurde das Merseburger zu demonstrieren, setzte sich Ulbricht Archiv als Außenstelle in das Deutsche wie selbstverständlich an die Spitze des Zentralarchiv eingegliedert. Die Bestän- „Neuen Kurses“. Auf dem IV. Partei- de des Geheimen Staatsarchivs und des tag der SED propagierte er Anfang April Brandenburgisch-Preußischen Hausar- 1954 die Notwendigkeit einer deutsch-­ chivs verblieben in Merseburg, die des deutschen Zusammenarbeit auf kul- Reichsarchivs wurden nach Potsdam turellem Gebiet und erregte mit Äuße- abgegeben. rungen über die „Wiedervereinigung Deutschlands“ Aufsehen.8 Die Ära Lötzke – Rückführungen und Erschließung Wie auf anderen Gebieten der kultu- Der Nachfolger von Korfes, Dr. Helmut rellen deutsch-deutschen Annäherung Lötzke, der das Deutsche Zentralarchiv bedeutete auch für die Archivare in der jahrzehntelang – von 1952 bis 1984 – lei- DDR diese Entwicklung, die etwa bis tete, hatte sich in seinen ersten Amtsjah- Ende der 1950er Jahre anhielt, einen ren insbesondere durch umfangreiche tatsächlichen Fortschritt. Auf nationa- Aktenrückgaben aus der Sowjetunion ler und internationaler Ebene kam es einen Namen gemacht. Eine Übersicht zu Begegnungen von Archivaren der über die Bestände des Zentralarchivs DDR und der Bundesrepublik. Im Sep- erschien bereits 1957. Deren Bedeu- tember 1956 wurde die Aufnahme des tung verminderte sich in den Folgejah- Deutschen Zentralarchivs in den Inter- ren, da die beträchtlichen sowjetischen nationalen Archivrat beschlossen. Erst Rückgaben der Jahre 1957 und 1959 – drei Jahre später folgte die Staatliche es handelte sich um Provenienzen von Archivverwaltung. Reichsministerien und Reichsbehörden sowie Archivgut staatlicher und nicht- Die Leitung StAV übernahm 1958 der staatlicher Herkunft – in den Neuaufla- wegen politischer Differenzen mit gen fehlten. Nach den zuerst vom MfS, Walter Ulbricht aus dem Politbüro dann vom Zentralen Parteiarchiv der ausgeschlossene Karl Schirdewan, der SED erfolgten Aktenentnahmen belie- sich aber trotzdem als ein scharfer Ver- fen sich die Übernahmen der „Reste“ auf fechter der SED-Doktrinen erwies. Das fast 2 Millionen Akteneinheiten. wirkte sich zunächst nicht so sehr in der rein archivfachlichen Arbeit, son- Die Sowjetische Kontrollkommission dern mehr in der Personalpolitik aus, übergab 1952 Teile der Archive der Han- die zunehmend auf die Ausbildung und sestädte Lübeck, Bremen und Hamburg Einstellung SED-konformer Mitarbei- im Umfang von ca. 1.500 lfm an das DZA. ter und ein übertriebenes Sicherheits- Umfangreiche Bestände jüdischer Pro- bedürfnis zielte. venienz gelangten 1958 nach Potsdam, die jedoch in den kommenden Jahren Bereits Ende 1948 waren die im Kriege von der SED geheim gehalten und nicht in die Salzbergwerke ausgelagerten und bearbeitet wurden. nicht in die Sowjetunion verbrachten Bestände von der SMA Sachsen-Anhalt Der Erschließungs- und Arbeitsalltag an die dortige Landesregierung über- im DZA wurde zuweilen durch als „Bri- geben und in Merseburg eingelagert gadeeinsätze“ verbrämte Kontrollen des Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 99 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

übergeordneten MdI gestört, bei denen der 1964 erschienenen „Ordnungs- es vor allem um die mangelhafte Durch- und Verzeichnungsgrundsätze für die setzung der führenden Rolle der SED staatlichen Archive der DDR“ (OVG)10. und die Blockpolitik ging, denn in den Das in den OVG vermittelte Wissen 1950er Jahren waren viele der Mitarbei- über die Methoden der Erschließung ter Mitglied der NDPD. von Archivgut ließ sich nur schwer in ein ideologisches Schema pressen, und Die archivfachliche Erschließung er- im Grunde, so Schreyer, „beschränk- wies sich als kompliziert wegen kaum ten sich die politisch-ideologischen vorhandener Findhilfsmittel und der Bezüge der OVG im Wesentlichen auf Tatsache, dass die Unterlagen in der die Festlegungen zur Abgrenzung der Sowjetunion ausgewertet und dabei aus Archivbestände nach den sozialöko- ihrem Entstehungszusammenhang ge- nomischen Gesellschaftsformationen rissen worden waren. Ohne Überarbei- ‚Feudalismus‘, ‚Kapitalismus‘, ‚Sozialis- tung der Findmittel, ohne Neuordnung mus‘, deren ‚gesetzmäßigen‘ Ablauf die und mehr oder weniger intensive Ver- marxistische Geschichtswissenschaft zeichnung der überwiegenden Über- vorgegeben hatte“.11 lieferungsmasse wäre ihre Nutzbarma- chung nicht möglich gewesen. Nach dem Bau der Mauer im August 1961 nahm die Abschottung der DDR vom Schreyer erwähnt, dass Ende der westlichen Ausland, insbesondere der 1950er-/Anfang der 1960er Jahre im Bundesrepublik, zu. Westliche Benutzer DZA eine schöpferische und produktive hatten es zunehmend schwerer, u.a. die Atmosphäre für die Weiterentwicklung Bestände des DZA auszuwerten. In dem der Archivwissenschaft vorherrschte. Maße, wie die Abgrenzung wuchs, stei- So veröffentlichte gerte sich zugleich Gerhart Enders 1965 auch die Überwa- seine national wie chung der Tätigkeit ebenso international Der Erschließungs- der Archivare durch anerkannte „Archiv- und Arbeitsalltag im DZA die Sicherheitsorga- 9 verwaltungslehre“ , wurde zuweilen durch ne, insbesondere der die bis im Jahr 1968 Hauptabteilung VII in drei Auflagen er- ­Kontrollen des übergeord- („Abwehrarbeit MdI“) schien und mit ihren neten MdI gestört. des MfS. Sie stütz- überwiegend sach- te sich auch auf in bezogenen Inhalten der Belegschaft ge- und klaren Begriff- worbene Inoffizielle lichkeiten als Standardwerk sowohl für Mitarbeiter, die sowohl das unmittel- die Ausbildung archivischen Nachwuch- bare Leitungspersonal in Persona von ses als auch für die Mitarbeiter in den Lötzke und seinem Stellvertreter Enders Archiven unmittelbar gelten konnte. wie auch wissenschaftliche und ande- re Mitarbeiter im Dienstlichen wie im In engem fachlichen Austausch zwi- Privaten beobachteten, bespitzelten schen Gerhart Enders, Helmut Lötzke, und Informationen an das MfS weiter- Gerhard Schmid und Hans-Stephan gaben, was sich bis zum Ende der DDR Brather entstanden wesentliche Teile nicht änderte. 100 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ungenügend politisch und ideologisch prägten zeitintensive Erschließungsar- erziehen, so dass diese unfähig für Lei- beiten an den aus der Sowjetunion zu- tungsaufgaben als künftige Staatsfunk- rückgegebenen Beständen und größere tionäre seien. Helmut Lötzke verlor Aktenübernahmen in Folge der Auflö- Ende 1969 wegen „Nichtbewährung“ sung von acht Industrieministerien die nach 20 Jahren Leitung des Instituts Arbeit des DZA. Erheblichen Aufwand diese Funktion. erforderte u.a. die im Mai 1964 vom Mi- nisterrat der DDR beschlossene „Erfas- Der Vorwand zur Ablösung des un- sung und Auswertung der in der DDR bequemen Leiters der Historischen befindlichen Dokumente über die Zeit Abteilung I, Gerhart Enders, gipfelte im der Hitlerdiktatur“.12 Das für die Do- Vorwurf, „faschistische Propaganda“ kumentation herangezogene Personal betrieben zu haben. Unter Druck ge- ohne archivarische Fachkenntnis muss- setzt, schieden Enders, Gerhard Schmid te geschult und angeleitet werden. So- und Hans-Stephan Brather 1970/71 aus genannte „Forschungsbeauftragte“ des politischen Gründen aus dem DZA aus. im April 1964 geschaffenen und mit der Mit ihnen gingen Wissen und Erfah- Organisation und Durchführung be- rung für die archivwissenschaftliche trauten Dokumentationszentrums der Forschung und Ausbildung verloren. StAV sollten die Mitarbeiter des DZA po- litisch-ideologisch „auf Linie“ bringen. Archivarbeit zwischen Immer wieder stand das DZA in der Kri- Entspannungspolitik und tik, allzu großzügig mit Benutzern aus Sicherheitsdenken dem westlichen Ausland umzugehen. Die in den 1970er Jahren sich verstär- kenden ideologischen Auseinanderset- Das Bestreben von MfS und MdI, die zungen als Folge der Entspannungspo- Benutzerbetreuung in ihrem Sinne zu litik, u.a. mit dem Grundlagenvertrag steuern und zu kontrollieren, führte u.a. von 1972 oder der Schlussakte der Kon- im Februar 1964 zur Ernennung von ferenz für Sicherheit und Zusammenar- Walter Hochmut, seit 1963 als politi- beit in Helsinki von 1975, verschärften scher Mitarbeiter im Ministerium für das übertriebene Sicherheitsdenken Auswärtige Angelegenheiten der DDR in MfS und MdI mit spürbaren Aus- tätig, zum stellv. Direktor des DZA. We- wirkungen auf die Mitarbeiter in al- gen der Ablösung Schirdewans und der len staatlichen Archiven. Die Direktive Übernahme von dessen Funktion als des Ministers des Innern zur „Führung Leiter der StAV zum 1. Juni 1965 endete und Leitungstätigkeit“ vom Dezember sein Intermezzo nach knapp einem Jahr. 1972 bereitete die mit sperrigem Titel zum 1. Juni 1973 geltende „Ordnung Bis zum Ende der 1960er Jahre waren über die Wachsamkeit und Geheim- die leitenden Mitarbeiter des DZA po- haltung sowie den Umgang mit Staats- litischen Angriffen seitens der StAV und Dienstgeheimnissen und anderen und besonders der dortigen Anhänger dienstlichen Unterlagen – Geheim- des gestürzten Schirdewan ausgesetzt. haltungsordnung“ (GHO) vor.13 Sie war Das in Personalunion von Helmut mit erheblichen Konsequenzen für das Lötzke geleitete Institut für Archivwis- dienstliche Verhalten und private Leben senschaft würde die Absolventen nur der Archivare verbunden. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 101 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Die neu geschaffenen Stellen der „Sicher- Erschließung und Auswertung. Vor allem heitsbeauftragten“ wurden in der Regel politisch zuverlässige und in der Regel mit ehemaligem Führungspersonal der der SED angehörende Mitarbeiter in der NVA und der Grenztruppen besetzt, die Abteilung Auswertung übernahmen die zugleich der Stärkung der SED-Füh- Betreuung der westlichen Archivbenut- rungsrolle im Mitarbeiterkreis dienten. zer. Sie erteilten die mündlichen und Fast alle dienstli- schriftlichen Aus- chen Vorgänge wur- künfte und zeich- den nun mit einem neten auch für die Geheimhaltungs- In den 1970er Jahren Publikations- und grad versehen. Auch sollten neue Mit- ­ Öffentlichkeitsarbeit waren Türen und arbeiter vor allem den verantwortlich. Fenster bei Nichtan- Anforderungen der wesenheit geschlos- ­Geheimhaltungsordnung In ihrer Personalpo- sen zu halten. Bei litik suchte die SED Ferngesprächen aus genügen. ihre Position zu un- dem Westen durfte termauern. Am 1. Ja- zuerst nur die Ap- nuar 1983 wurde der paratnummer gemeldet und der Name Offizier im besonderen Einsatz (Oibe), erst nach Vorstellung des Anrufenden Roland Leipold, zuletzt Leiter der Abtei- genannt werden. Im Grunde diente die lung XII („Archiv und Auskünfte“) des GHO der Disziplinierung und Kontrolle MfS und bereits seit 1980 stellv. Leiter, der dienstlichen Westkontakte und der an die Spitze der StAV gestellt. Er blieb in Überwachung ggf. bestehender privater einer Planstelle und damit Mitarbeiter Beziehungen zur Bundesrepublik und des MfS. Zu seinen Aufgaben gehörten dem nichtsozialistischen Ausland. v. a. die – wie es wörtlich hieß – „Gewähr- leistung einer hohen Kadersicherheit In den 1970er Jahren wurden neue Mit- und zuverlässiger Geheimnisschutz“, arbeiter zunehmend entsprechend den die „Verhinderung des feindlichen von der SED vorgegebenen Kaderricht- Missbrauchs des Staatlichen Archiv- linien eingesetzt. Sie sollten vor allem fonds der DDR durch Nutzer aus dem den Anforderungen der Geheimhal- Operationsgebiet“ – d.h. der Bundesre- tungsordnung genügen. Ihre Auswahl publik und des westlichen Auslands –, geschah nach Kriterien der sozialen die „leitungsmäßige Absicherung der Herkunft ohne verwandtschaftliche Interessen anderer Diensteinheiten des Bindungen an den Westen und hob die MfS“, die „Sicherung der internationalen Vorbildfunktion als Funktionäre des Tätigkeit des MdI auf dem Gebiet des Ar- Arbeiter- und Bauernstaats hervor. chivwesens gegen feindliche Angriffe.“15 Leipold sicherte auch die nunmehr un- Der Unterstützung der Kontrolle der eingeschränkte Zugriffsmöglichkeit des Beziehungen zum westlichen Ausland MfS auf den Staatlichen Archivfonds diente die Mitte der 1970er Jahre verän- der DDR. So gelangten auf seine Initia- derte Abteilungsstruktur in den staat- tive im Dezember 1982 u.a. mehrere Ar- lichen Archiven. So entstanden auch chivalien aus den Beständen KPD und im Zentralen Staatsarchiv14 zwei Ab- Oberreichsanwalt des Zentralen Staats- teilungen, getrennt verantwortlich für archivs als Dauerleihgabe in das MfS, 102 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

weil, wie er festlegte, „solche Bestände Reinhard Kluge von der StAV und Klaus für die allgemeine Benutzung gesperrt Oldenhage vom Bundesarchiv in Kob- werden müssten“16. lenz arbeiteten gemeinsam von Dezem- ber 1986 bis Oktober 1987 an der Umset- Annäherung zwischen zung dieser Aktion. Kollegial-dienstliche Ost und West Kontakte waren jetzt wieder möglich, Angesichts einer fast pathologischen wenn auch streng überwacht.17 Angst vor westlichen Einflüssen war es kaum vorstellbar, dass die 1980er Jahre Der Besuch des Präsidenten des Bun- wieder eine Lockerung und langsame desarchivs und des Internationalen Annäherung in den deutsch-deutschen Archivrats, Hans Booms, zu Sondie- Archivkontakten bringen würden. rungsgesprächen mit Vertretern der StAV im Mai 1987 in Dresden, sollte Der Politik des KPdSU-Generalsekre- u.a. der Beschaffung von Filmkopien tärs Gorbatschow mit Perestroika und von Archivalien und der Modernisie- Glasnost begegneten die Nachfolger rung der Archivarbeit in der DDR die- Ulbrichts mit Misstrauen und Ab- nen. Die Hervorhebung der „Vorzüge lehnung. Einen neuen Kurs wie nach des einheitlich geleiteten Archivwesens Stalins Tod wollte sich die SED nicht der DDR“ und die „Stärkung des Ein- aufzwingen lassen. Im Bewusstsein ei- flusses der DDR und der anderen sozi- nes möglichen Machtverlustes betrieb alistischen Länder“ im Internationalen das Politbüro des ZK der SED nunmehr Archivrat stießen bei Booms allerdings auch eine Abschottung zum Osten. Da- kaum auf Interesse.18 her kam es u. a. zu grotesken Verboten von sowjetischen Publikationen wie Nachfolgerin des im Dezember 1984 z.B. des „Sputnik“. nach schwerer Krankheit verstorbe- nen Helmut Lötzke wurde Elisabeth Das persönliche Interesse Erich Hone- Brachmann-Teubner. Sie führte die ckers an politischen Kontakten zur Amtsgeschäfte des Zentralen Staatsar- Bundesrepublik, die insbesondere auf chivs bis zur Wiedervereinigung 1990. die Anerkennung der staatlichen Sou- Erwähnt werden sollte, dass nach dem veränität der DDR zielten, trugen si- offiziellen Besuch Honeckers 1987 in cher zum Abkommen über die kultu- der Bundesrepublik mit der nunmehr relle Zusammenarbeit zwischen der verstärkt einsetzenden Hinwendung DDR und der Bundesrepublik Deutsch- zur problematischen Entwicklung der land vom 6. Mai 1986 bei. Auf seiner jüdischen Geschichte und Gesprä- Grundlage konnten große Mengen des chen mit den jüdischen Gemeinden kriegsbedingt verlagerten Archivgutes in der DDR die Erschließung der in in die ursprünglich zuständigen Archi- der Dienststelle Coswig befindlichen ve zurückgeführt werden. So erhielt die jüdischen Bestände beginnen konnte. Bundesrepublik v.a. Bestände der Han- Das war u.a. die Voraussetzung für die sestädte Lübeck, Bremen und Hamburg Neubearbeitung des in erster Auflage sowie der Stadtarchive Mainz und Kiel. 1986 vom Bundesarchiv herausgege- In die DDR gelangten u.a. Bestände der benen Gedenkbuchs für die Opfer der Staatsarchive Schwerin und Dresden so- Verfolgung der Juden im nationalsozi- wie des Universitätsarchivs Greifswald. alistischen Deutschland19. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 103 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Integration in das Bundesarchiv tierung nach unterschiedlicher Sozia- Mit dem Beitritt der DDR zur Bundes- lisierung und Prägung in ideologisch republik verlor das Zentrale Staatsar- gegensätzlichen Systemen erforderte chiv seine Existenzgrundlage. Personal, Zeit und Geduld. Es stellte sich allerdings Bestände und Inventar wurden vom schnell heraus, dass im Kernbereich ar- Bundesarchiv übernommen. chivischer Tätigkeit, der Bewertung und Erschließung, trotz der langjährigen Rückblickend lässt sich aus meiner deutsch-deutschen Trennung die Tra- Sicht sagen, dass der nicht immer ein- ditionen der bürgerlichen Archivlehre fache Prozess der Zusammenarbeit von nicht verschwunden waren. Archivaren des Bundesarchivs und des Zentralen Staatsarchivs insgesamt eine Dr. Simone Walther-von Jena ist Direktorin der Erfolgsgeschichte wurde. Ihre gesell- Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisa- schaftliche und berufliche Neuorien- tionen der DDR im Bundesarchiv.

1 Vgl. im Überblick Hermann Schreyer: Das staatliche S. 42f.; Tobias Winter: Die deutsche Archivwissen- Archivwesen der DDR, Düsseldorf 2008. schaft und das „Dritte Reich“, Berlin 2018, S. 478f. 2 Siehe auch Oxana Kosenko: Sowjetische Archiv- 7 Insgesamt drei Archivverordnungen aus den politik in der SBZ 1945-1949, Aachen 2018. Jahren 1950, 1965 und 1976 regelten nach sowje- tischem Vorbild und entsprechend dem von der 3 Im Bundesarchiv stehen der Forschung ca. 1,4 SED bestimmten gesellschaftspolitischen Entwick- Millionen Filmaufnahmen und Digitalisate von lungsstand die Aufgaben des staatlichen Archivwe- rund 10.000 Akteneinheiten der SMAD und der sens. Sie beschrieben den sogenannten Staatlichen SMA der Länder, deren Originale im Staatsarchiv Archivfonds und definierten Vorgaben für Schrift- der Russischen Föderation verwahrt werden, zur gutverwaltung, Wertermittlung und Kassation. Verfügung. Sie wurden im Rahmen des Mitte der Mehrere Durchführungsbestimmungen legten 1990er Jahre begonnenen und 2010 zum Abschluss sowohl die Struktur und die Zuständigkeit des gebrachten „Deutsch-Russischen Gemeinschafts- staatlichen Archivwesens als auch die Benutzungs- programms zum Studium, zur Auswertung und ordnung fest. Siehe zu den Archivverordnungen und zur Reproduktion der Akten der Sowjetischen ihren Durchführungsbestimmungen GBl. S. 661 u. Militäradministration in Deutschland“ hergestellt. 836f. (1950); GBl. II Nr. 75 S. 567ff. u. 570ff. (1965); GBl. Siehe dazu Kai von Jena: Das SMAD-Projekt – eine I Nr. 10 S. 165ff., 169 ff. u. 172 ff. (1976). erfolgreiche deutsch-russische Archivkooperation sowie Kerstin Risse/Kerstin Weller: Dokumente der 8 Siehe Stenografisches Protokoll des IV. Parteitages der sowjetischen Besatzungsmacht im Bundesarchiv, SED vom 30. März bis 6. April 1954 in: SAPMO-BArch, beide in: Detlev Brunner/Elke Scherstjanoi (Hrsg.): DY 30/40006, S. 23 und DY 30/40051, S. 1060. Hier Moskaus Spuren in Ostdeutschland 1945 bis 1949. äußerte Ulbricht – was uns aus heutiger Sicht wie Aktenerschließung und Forschungspläne (Zeitge- eine Ironie der Geschichte erscheinen muss – unter schichte im Gespräch 22), Berlin/Boston 2015. „lebhaftem Beifall“: „Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen un- 4 Schon 1946 hatte Karl Ruppert der SMAD seinen per- serer Heimat unsere Brüder sind, weil wir unser sönlichen Freund Otto Korfes als seinen Nachfolger Vaterland lieben, weil wir wissen, dass die Wie- vorgeschlagen. Vgl. Simone Walther: Zum Umgang derherstellung der Einheit Deutschlands eine un- mit der NS-Vergangenheit beim personellen Neube- umstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist und ginn im zentralen Archivwesen der SBZ/DDR 1945- jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz 1952. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Robert entgegenzustellen wagt.“ Kretzschmar u. a. (Red.): Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archiv- 9 Gerhart Enders: Archivverwaltungslehre, 2. Aufl., tag 2005 in Stuttgart (Tagungsdokumentationen Berlin 1967. zum Deutschen Archivtag 19), Essen 2007, S. 477ff. 10 Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), S. 99 Anm. 85. 5 Siehe BArch, DO 22.0/1. 11 Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), S. 100f. 6 Korfes wurde Anfang Oktober 1952 in den Dienst 12 Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), S. 120. der KVP übernommen. Vgl. Walther: Umgang (wie Anm. 4), S. 483; Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), 13 Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), S. 157ff. 104 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

14 Mit der auf dem VIII. Parteitag der SED 1971 defi- 17 Siehe Reinhard Kluge/Klaus Oldenhage: Archive nierten „sozialistischen Nation“ in der DDR erhielt im innerdeutschen Dialog. Zur Geschichte der das Deutsche Zentralarchiv zur Vermeidung eines Rückkehr deutscher Akten und Urkunden in deren gesamtdeutschen Blickwinkels die Behördenbe- Heimatarchive im Rahmen des innerdeutschen zeichnung Zentrales Staatsarchiv. Kulturabkommens vom 6. Mai 1986, in: Friedrich Beck u.a. (Hrsg.): Archivistica docet. Beiträge zur 15 Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), S. 213 Anm. Archivwissenschaft und ihres interdisziplinären 3 u. 4. Umfelds, Potsdam 1999, S. 189-203. 16 Zit. bei Simone Walther: Besonderheiten der Archi- 18 Schreyer: Archivwesen (wie Anm. 1), S. 231ff. vierung und Nutzung ministerialer Überlieferung der Bereiche Inneres und Justiz der DDR – Rück- 19 Gedenkbuch – Opfer der Verfolgung der Juden un- blick und Ausblick, in: Dagmar Unverhau (Hrsg.): ter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Hatte Janus eine Chance? Das Ende der DDR und Deutschland 1933-1945, 2., wesentlich erweiterte die Sicherung einer Zukunft der Vergangenheit Auflage, bearb. u. hrsg. vom Bundesarchiv, 4 Bde., (Archiv zur DDR-Staatssicherheit 6), Münster 2003, Koblenz 2006. S. 66 Anm. 65. Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 105 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 107 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

Andrea Hänger Die Geschichte des Bundesarchivs

ls das Bundesarchiv im Juni eine wichtige Rolle spielen müssen, die 1952 in Koblenz seine Arbeit in der Vergangenheit konsequent ver- aufnahm, war es kaum mehr nachlässigt wurde. als eine „archivfachlich legi- timierendeA Adresse“1. Es ging zunächst 1. Abschied von Preußen darum, die Forderung an die Alliierten, Als Gründungsdirektor Winter den ers- das erbeutete Schriftgut der Reichsbe- ten Amtssitz im ehemaligen Gebäude hörden und der NSDAP zurückzugeben, des preußischen Oberpräsidenten am untermauern zu können, indem die Rheinufer in Koblenz bezog, war dies Institution begründet wurde, die dieses durchaus ein symbolischer Ort. Der Ka- aufnehmen sollte. Von dieser Adresse binettsbeschluss vom März 1950 hatte am Rhein bis hin zu der über die ganze dem neu zu gründenden Bundesarchiv Republik verteilten modernen Behörde auch die Zuständigkeit für die preußi- mit mehr als 900 Beschäftigten war es schen Archivalien übertragen. Dies fei- ein langer Weg, der sich grob in vier erte Winter als „symbolisches Zeichen Epochen einteilen lässt. Das wäre zu- für das geschichtlich sinnvolle Aufgehen nächst die Zeit von der Gründung 1952 Preußens in die höhere Einheit des Rei- bis zum Beginn der 1970er Jahre, die ches“2. Nicht nur Winter stammte aus sich als Abschied von Preußen darstel- der preußischen Archivverwaltung, auch len lässt, dann die Zeit bis zur Wieder- sämtliche Kollegen des höheren Diens- vereinigung, in der die Herausbildung tes, insgesamt vier, kamen aus Berlin.3 eines neuen Selbstverständnisses als Zentralarchiv der Bundesrepublik im Winter, nach Kriegsende Staatsarchivlei- Vordergrund stand, gefolgt vom Aus- ter in Lüneburg, war, u.a. da er nicht Mit- nahmezustand der 1990er Jahre, und glied der NSDAP gewesen war, schon seit schließlich der beginnende und sich Dezember 1949 als Gründungsdirektor immer mehr beschleunigende digitale im Gespräch und legte bereits im Juli Wandel in diesem Jahrtausend. Das sind 1950 dem Staatssekretär des Bundes- natürlich sehr grobe Zäsuren und auch innenministeriums, Wende, einen prä- nur eine Möglichkeit von vielen, die Ge- zisen Plan zu Struktur und Aufgaben schichte des Bundesarchivs zu erzählen, des Bundesarchivs vor.4 Außerdem ent- die vieles weglässt, was es ebenfalls wert wickelte er ein Personaltableau von in gewesen wäre zu erzählen. Dass das Frage kommenden Archivaren und war Thema der NS-Belastung vieler Archi- sich dabei der Problematik bewusst, dass vare hier nur eine untergeordnete Rolle er „keinen Nicht-PG für die erste Perso- spielt, ist allein der Tatsache geschuldet, nalausstattung des Bundesarchivs vor- dass hierfür ein eigener Beitrag von Pe- zuschlagen wusste“5. Gleichzeitig ver- ter Ulrich Weiß in diesem Heft vorliegt; suchte er intensiv, die bereits am 11. Juli ansonsten würde dieses Thema hier 1950 vom Bundeskabinett beschlossene 108 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Ansiedlung des Bundesarchivs in Celle das in der ehemaligen, seit Kriegsende zu verhindern und Richtung Bonn als treuhänderisch von der Stadt Frank- Regierungs- ebenso wie als Universitäts- furt verwalteten Außenstelle Frankfurt sitz zu verschieben. des Reichsarchivs verwahrte Archivgut des alten Deutschen Reiches vor 1806, Ob er allerdings der neue Leiter wer- des Deutschen Bundes sowie der Deut- den würde, blieb zunächst unklar. Als schen Nationalversammlung und der er endlich am 9. Oktober 1950 ein lang Reichsministerien von 1848/1849. erwartetes Gespräch mit Innenminister Heinemann führte, fand dieser Termin Die Arbeit in Koblenz bestand im Auf- nicht wie geplant am Vormittag statt, spüren der Reste der zentralen Registra- sondern Stunden später am Abend, nach turen der Reichszeit und im Verzeichnen dem Rücktritt des Ministers. Die Ent- der wenigen kleinen Überlieferungstei- scheidung wurde also vertagt, nicht nur le, die zum Teil als Ersatz herangezogen bis zum Amtsantritt des neuen Ministers, wurden. Noch 1960 wurde dem Bundes- sondern bis zum Dezember 1951, weil archiv bescheinigt, seine archivische Or- das Innenministerium davon in Kennt- ganisation sei zwar ausgezeichnet, aber nis gesetzt wurde, dass Winter eine junge es sei „arm an Archivalien“8. Auch wenn Kollegin schlecht beurteilt hatte, weil sie bereits 1956 die Verhandlungen über die nicht den deutschen Gruß gezeigt hatte. Rückführung der Archivalien der West­ Nach der erfolglosen Suche nach einer alliierten abgeschlossen wurden, konn- möglichen Alternative zu Winter, für die ten erst 1962/63 größere Mengen nach weiterhin galt, dass sie kein NSDAP-Mit- Koblenz verbracht werden – zerrisse- glied gewesen sein durfte, wurde der ne, unvollständige Bestände, deren oft Kontakt zu ihm wieder aufgenommen. weitaus größere Teile, soweit sie nicht Am 20. März 1952 trat er seinen Dienst im Krieg zerstört worden waren, sich im im Innenministerium in Bonn an. Dort Zentralen Staatsarchiv der DDR befan- versuchte er den neu bestimmten Stand- den. Da die Rückgabe der Akten an die ort „wegen des mangelnden wissenschftl. Bundesrepublik mit der Bedingung ver- Fluidums in dem schon immer geistig knüpft war, sie sofort in die Benutzung völlig sterilen Koblenz“6 zu verhindern, zu geben, hatte die Erschließung dieser doch ohne Erfolg. Akten absoluten Vorrang.

Winter war, wie Astrid Eckert formu- Obwohl bereits 1955 im Zuge des Be- liert, hat, ein „König ohne Land“. Kurz schlusses zur Wiederbewaffnung der nach seinem Amtsantritt beklagte er in Bundesrepublik auch eine Abteilung einem Brief an Ernst Posner: „Welch ein Militärarchiv in Koblenz eingerichtet Unterschied zur Errichtung des Reichs- wurde, dauerte es bis 1968, dass auch archivs vor über 30 Jahren! Damals Strö- diese Abteilung Akten übernehmen me von Akten, für die man nur mühsam konnte – allerdings nicht in Koblenz, ein Bette finden konnte, heute ein Bun- sondern in Freiburg. Denn die von den desarchiv eigentlich ohne jeden alten Alliierten 1945 beschlagnahmten mili- Bestand.“7 Die einzige Überlieferung tärischen Akten waren ab 1955 nicht an des Deutschen Reiches, die fast unmit- das Bundesarchiv, sondern an das Amt telbar, nämlich im Juni 1953, und voll- Blank und das spätere Bundesminis- ständig zum Bundesarchiv kam, war terium der Verteidigung zurückgege- Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 109 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

ben und von diesen den Forschern des Selbstverständnisses als Zentralarchiv neu gegründeten und in Freiburg an- der Bundesrepublik wurde. gesiedelten Militärgeschichtlichen For- schungsamtes überlassen worden. Mit 2. Die Phase der dem Beschluss, die Dokumentenzen- Professionalisierung trale des Forschungsamtes in die Ab- Die 1970er und 1980er Jahre waren im teilung Militärarchiv zu übernehmen, Rückblick geprägt durch die Entwick- entstand 1968 die Außenstelle des Bun- lung neuer fachlicher Grundsätze, die desarchivs.9 Bemerkenswert ist hier das Bundesarchiv bis heute ausmachen. auch im internationalen Vergleich, dass Es war ganz maßgeblich Hans Booms, seit diesem Zeitpunkt die militärische der 1972 zum Präsidenten ernannt wur- Überlieferung den gleichen Nutzungs- de, der die Weichenstellungen auf dem bedingungen unterworfen ist wie das Weg zu einem neuen Selbstverständnis zivile Archivgut. unternahm.13 In seiner Festrede zum 25jährigen Bestehen des Bundesarchivs Ebenfalls 1968 endete mit der großen 1977 beschrieb Booms die Neuausrich- archivalischen Flurbereinigung, bei der tung des Bundesarchivs als Zentralar- alle preußischen Bestände an das Ge- chiv der Bundesrepublik Deutschland als heime Staatsarchiv abgegeben wurden „allmählich erst gewachsene[n] Schwer- und die Reichsbestände an das Bun- punkt bundesarchivischen Selbstver- desarchiv kamen, faktisch die Zustän- ständnisses“14. Das als Archiv ohne Ak- digkeit des Bundesarchivs für Preußen. ten gestartete Archiv verfügte nun schon Damit endete die „preußische Epoche“ über mehr als 72 Kilometer Schriftgut im Bundesarchiv, der sich nicht nur und begann methodisch in der Welt mo- Gründungsdirektor Winter, sondern derner Akten, die für die meist an mit- auch seine beiden Amtsnachfolger Karl telalterlichen Urkunden ausgebildeten Bruchmann und Wolfgang A. Mommsen Archivare absolutes Neuland bedeute- verpflichtet fühlten.10 ten, Fuß zu fassen. Booms selbst setzte mit seinem Anspruch, eine gesamtge- Betrachtet man die Herausforderungen sellschaftliche Überlieferungsbildung dieser Zeit, verwundert es nicht, dass die anzustreben, also nicht nur die zentral- Rekonstruktion des Aktenbestandes aus staatliche Ebene, sondern auch andere der Zeit vor 1945 die ganze Aufmerk- wichtige Akteure aus dem nicht-staat- samkeit der Archivare forderte und eine lichen Bereich abzubilden, Maßstäbe.15 Überlieferungsbildung für die Bundes- republik noch nicht stattfand. Das am Das Aufgabenspektrum des Bundesar- 1. Februar 1965 in Bad Godesberg einge- chivs wurde in den 1970er Jahren deut- richtete Zwischenarchiv, das die ersten lich ausgeweitet. Neben der Übertragung Akten der neuen Bonner Ministerien der Aufgabe, die Kabinettsprotokolle aufnahm, diente auch dazu, Zeit zu ge- der Bundesregierung in wissenschaft- winnen, da methodische Konzepte zur licher Form zu veröffentlichen, kamen Bewertung dieser jungen Akten noch auch Aufgaben hinzu, welche außer- fehlten.11 Es sollte noch ein paar Jahre halb der Zuständigkeit herkömmlicher dauern, bis aus diesem „Niemandsland Archive lagen. Dabei handelte es sich zwischen Behörde und Archiv“12 nichts zum einen um die auf die persönliche weniger als die Keimzelle eines neuen Initiative Gustav Heinemanns zurück- 110 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

gehende Gründung der Erinnerungs- setzte sich die Erkenntnis weitgehend stätte für die Freiheitsbewegungen der durch, dass auch die Frage der Zugäng- deutschen Geschichte in Rastatt 197416 lichkeit zu Daten einer gesetzlichen und zum anderen um die 1978 erfolgte Regelung bedarf. So begann 1978 eine Übertragung der Aufgaben eines zent- kleine Arbeitsgruppe im Bundesminis- ralen Filmarchivs für die gesamte deut- terium des Innern mit der Erarbeitung sche Filmproduktion im Verbund kine- eines Gesetzentwurfes.18 Das parlamen- mathekarischer Einrichtungen.17 tarische Verfahren begann – bedingt durch den Regierungswechsel – erst Die 1980er Jahre waren dann vor allem 1984, konnte in der laufenden Legisla- geprägt durch den Abschluss zweier turperiode nicht mehr abgeschlossen Großprojekte von herausragender Be- und musste in der folgenden wieder ein- deutung. 1986 konnte das Bundesarchiv gebracht werden. Ende 1987 wurde das in Koblenz den ersten tatsächlichen Ar- Bundesarchivgesetz beschlossen und am chivzweckbau auf der Ebene des Zen- 6. Januar 1988 ausgefertigt.19 tralstaats beziehen. Der Bau folgte nicht nur internationalen Standards, er setzte Am gleichen Tag wurde auch das Ge- auch internationale Standards, so dass es setz über die zentrale Archivierung heute auf der Welt einige Archivgebäu- von Unterlagen aus dem Bereich des de gibt, die dem Koblenzer stark ähneln. Kriegsfolgenrechts ausgefertigt, das Sein System natürlicher Klimatisierung dem Bundesarchiv die Komplettarchi- ist auch heute noch in seiner Nachhal- vierung der Akten der Ausgleichsver- tigkeit wegweisend für den Archivbau. waltung übertrug. Ziel war es, die Schä- In seiner unprätentiösen Sachlichkeit den der Vertriebenen und Flüchtlinge steht der Bau selbst auch als Symbol der aus den ehemaligen Ostgebieten des Bonner Republik. Deutschen Reiches sowie den deut- schen Siedlungsgebieten in Ost- und Mit dem „Gesetz über die Sicherung Südosteuropa nach dem Zweiten Welt- und Nutzung von Archivgut des Bun- krieg dauerhaft zu dokumentieren. Das des“ vom 6. Januar 1988 wurden der Lastenausgleichsarchiv wurde 1989 in allgemeine Zugang zum Archivgut des Bayreuth als ein thematisches Zentral- Bundes und die Aufgaben des Bundes- archiv eingerichtet. archivs erstmals gesetzlich verankert. Es verpflichtet die Verfassungsorgane, Als Hans Booms im Juni 1989 in den Ru- Behörden und Stellen des Bundes, ihre hestand ging, hinterließ er ein bestelltes nicht mehr benötigten Unterlagen dem Haus. Mit der Ausrichtung des Internati- Bundesarchiv anzubieten, und überträgt onalen Archivtags in Bonn 1984 und der diesem die Aufgabe zu entscheiden, wel- Übernahme der Präsidentschaft des In- chen Unterlagen bleibender Wert zu- ternationalen Archivrates (ICA) für vier kommt, diese Unterlagen als Archivgut Jahre war es ihm gelungen, das Bundes- zu sichern und zugänglich zu machen. archiv auch in der internationalen Fach- Das Bundesarchiv hatte das Projekt Ar- gemeinschaft zu verankern. Unter sei- chivgesetz schon seit den 1950er Jahren ner Leitung hatte sich das Bundesarchiv verfolgt. Aber erst im Zuge der politi- professionalisiert, sein Selbstverständ- schen Diskussionen um das Bundesda- nis als Nationalarchiv der Bundesrepu- tenschutzgesetz vom 27. Januar 1977 blik herausgebildet, einen international Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 111 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

vorbildlichen Archivzweckbau zur Ver- chiv der NVA in Potsdam mit 33 und das fügung und mit dem Bundesarchivge- staatliche Filmarchiv der DDR mit 175 setz eine moderne Rechtsgrundlage. Mitarbeitern.22

Und dann fiel die Mauer. Das folgen- Hinzu kamen Ende 1991 Restaufgaben de Jahrzehnt unter der Präsidentschaft des abgewickelten Gesamtdeutschen von Friedrich P. Kahlenberg lässt sich Instituts mit Personal und im April bedingt durch die historischen Ereig- 1992 die Stiftung Archiv der Parteien nisse nur als Ausnahmezustand be- und Massenorganisationen der DDR. schreiben.20 Hier wurde nach langen Verhandlun- gen mit den anspruchsberechtigten 3. Ausnahmezustand Nachfolgeorganisationen der Parteien Einigungsvertrag und Einigungsver- und Massenorganisationen Archiv- und tragsgesetz sorgten für eine Änderung Bibliotheksgut eingebracht, das nicht, des Bundesarchivgesetzes zum 3. Okto- nicht eindeutig oder nicht vollständig ber 1990 und damit für die Integration als staatlich eingestuft werden konnte.23 der staatlichen Archive der DDR, soweit sie von zentralstaatlicher Bedeutung Zum Juli 1994 stand die Übernahme waren. Durchaus vergleichbar mit der des Berlin Document Centers von der Situation nach 1945 entstand die „Not- amerikanischen Regierung an. Dieses wendigkeit, unter Zeitdruck nach her- Personenarchiv war nach dem Ende des kömmlichen Kriterien noch nicht ar- Zweiten Weltkrieges in Berlin errichtet chivreife, nicht bewertete und vielfach worden, um an einer zentralen Stelle ungeordnete Unterlagen massenhaft zu Unterlagen aus der Zeit des National- übernehmen und bei gesteigertem öf- sozialismus zu sammeln, die zur Vor- fentlichen Interesse sofort zugänglich bereitung für die Nürnberger Prozesse zu machen“21. Integriert werden muss- gegen Kriegsverbrecher benötigt wur- ten ja nicht nur die in der DDR archi- den. Zusammengeführt wurden all die- vierten Reichsbestände sowie die bereits se Bestände in der neuen Liegenschaft 15 Kilometer umfassende Überlieferung in Berlin-Lichterfelde, wo dem Bundes- aus der SBZ und der DDR im Staatli- archiv 1994 das historisch äußerst spe- chen Zentralarchiv, sondern es wurden zielle Gelände der ehemaligen amerika- von März 1990 bis Ende 1991 weitere nischen Andrew Barracks zur Nutzung 25 Kilometer Schriftgut von aufgelös- überlassen wurde, auf dem neben einer ten oder sich in Auflösung befindlichen Kaserne der ehemaligen preußischen Stellen der DDR übernommen. Die Zahl Hauptkadettenanstalt und den Gebäu- der Beschäftigten vervierfachte sich. den aus der amerikanischen Zeit auch So wurden in das Bundesarchiv einge- noch die Gebäude der Leibstandarte SS gliedert: das Zentrale Staatsarchiv der Adolf-Hitler stehen.24 DDR in Potsdam mit 103 Mitarbeitern, das Dokumentationszentrum des MfS Was aus heutiger Sicht diese Zeit und mit 27, das Dokumentationszentrum die Leistung der damals Handelnden so der staatlichen Archivverwaltung mit außergewöhnlich macht, ist die gleich- 32 Mitarbeitern, drei Archivdepots in zeitige Herausforderung von innen und Berlin, Coswig und Dornburg mit zu- außen. Die Integration der DDR-Archive sammen 24 Mitarbeitern, das Militärar- und damit verbunden die Verlagerung, 112 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Zusammenführung, teilweise Neuer- des vierbändigen Gedenkbuches 1999 schließung von Beständen und die da- ein Dauerprojekt, das heute in Form mit verbundene Aushandlung von und einer Datenbank weitergeführt wird.28 Verständigung auf gemeinsame Fach- Ebenfalls intensiv beteiligt war das Bun- grundsätze hätten allein schon ausge- desarchiv an der Nachweisbeschaffung reicht, um alle zu beschäftigen. Aber für die Entschädigung von NS-Zwangs- parallel dazu entstanden ganz neue Fra- arbeitern von 2000 bis 2006.29 gestellungen zur deutschen Geschichte vor 1945 – als Stichworte seien hier nur Neben Dokumentation und Nachweis- die Wehrmachtsausstellung25 und die beschaffung selbst kam und kommt dem Goldhagendebatte26 genannt. Diese De- Bundesarchiv aber auch in immer stär- batten steigerten das öffentliche Interes- kerem Maße die Aufgabe zu, wiederum se an der Überlieferung aus der NS-Zeit die Belege für juristische Aufarbeitung enorm. Hinzu kam die für die meisten und finanzielle Entschädigung zu über- Forscher erstmalige Zugänglichkeit nehmen und der Forschung zugänglich großer Aktenbestände aus der Zeit des zu machen. Paradigmatisch lässt sich das Dritten Reiches, die in der zweiten Hälf- an der 2000 zum Bundesarchiv gekom- te der 1990er Jahre zu nie dagewesenen menen Außenstelle Ludwigsburg dar- und auch danach nicht wieder erreich- stellen, die am Sitz der Zentralen Stelle ten Nutzerzahlen in den Benutzersälen der Landesjustizverwaltungen zur Ver- des Bundesarchivs führte. folgung nationalsozialistischer Verbre- chen errichtet wurde. Alle abgeschlos- Im Bereich der Aufarbeitung natio- senen Ermittlungsverfahren sowie die nalsozialistischen Unrechts kam dem umfangreichen Quellen und Hilfsmittel Bundesarchiv nicht nur die Rolle zu, die der Zentralen Stelle sind so schon für entsprechenden Quellen zugänglich zu die Forschung zugänglich, während die machen. Bereits 1962 war ein Sachgebiet Ermittlungsarbeit der Behörde bis heute „Wiedergutmachung oder Verfolgung andauert. Die Übergabe an das Archiv unrechtmäßiger Handlungen gegen- markiert natürlich auch ein Stück His- über Juden“ eingerichtet worden, das torisierung, aber zeigt gleichzeitig sehr u.a. die Aufgabe hatte, die 1958 gegrün- deutlich, dass dies nicht als Schlussstrich dete Zentrale Stelle der Landesjustizver- zu sehen ist, sondern im Gegenteil einen waltungen zur Aufklärung nationalso- neuen, breiteren Zugang ermöglicht. zialistischer Verbrechen in Ludwigsburg sowie weitere Ermittlungsstellen27 zu 4. Im Digitalen Wandel unterstützen. Ende 1999 stand wieder ein Wechsel an der Spitze des Bundesarchivs an, die Ab 1967 begannen im Bundesarchiv die mit Hartmut Weber erstmals ein Archi- Arbeiten an einem Gedenkbuch, das die var übernahm, der nicht aus dem Bun- Namen aller jüdischen Todesopfer auf desarchiv kam. Er setzte auf dezentrale dem Gebiet des Deutschen Reiches ent- Verantwortungsübernahme und starke halten sollte, dessen erste Fassung 1986 Eigenständigkeit der Abteilungen, die der Öffentlichkeit übergeben wurde. so die Chance hatten, sich nach dem Dieses Projekt wurde 1992 aufgrund der gewaltigen Umbruch der 1990er Jah- verbesserten Quellenlage neu begon- re zu konsolidieren, sich aber metho- nen und bleibt auch nach der Vorlage disch auch auseinanderentwickelten, Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 113 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

zumal fast alle Abteilungen ihre eige- ten – hier sei nur auf die teils erbitterten nen, manchmal sogar konkurrierenden Diskussionen um die Einstellung der IT-Anwendungen entwickelten. analogen Kopierung von Filmen ver- wiesen – noch einfach, und er ist auch Um die Jahrtausendwende begann sich mit Verlusten verbunden, unterbindet das Bundesarchiv mit seinem ersten In- er doch die sinnliche Erfahrung, welche ternetauftritt mit der Frage seiner digi- die Nutzung eines Originals als „sinn- talen Präsenz zu beschäftigen. Während liche Brücke zwischen seinem Benut- der Schwerpunkt der Digitalisierung auf zer und der Zeit und den Umständen, der digitalen Verfügbarkeit der Erschlie- mit denen er sich als Wissenschaftler, ßungsinformationen in Online-Find- Familienforscher oder schlicht als in- büchern lag und die eigentliche Archiv- teressierter Bürger auseinandersetzt,“31 benutzung unverändert blieb, sind die bedeutet. Demgegenüber steht aber die Bemühungen dieser Dekade ganz der geradezu historische Chance, einem weitestgehenden Öffnung von Erschlie- weit größeren Adressatenkreis als bis- ßungsinformationen durch den direk- her die Teilhabe am kulturellen Erbe zu ten externen Zugriff auf die Datenbank ermöglichen. Teilhabe bedeutet auch und dem Einstieg in eine umfassende die Möglichkeit der intersubjektiven Digitalisierung des Archivgutes gewid- Überprüfbarkeit der Quellen für jeder- met. Michael Hollmann, Präsident seit mann – in Zeiten von Fake News ein 2011, hat in seinem programmatischen echter Gewinn für den demokratischen Aufsatz „Archivgut im Zeitalter seiner Rechtsstaat. digitalen Verfügbarkeit“30 mit der nicht zufälligen Anspielung auf Walter Benja- Digitalisierung im Bundesarchiv heißt min hierfür den strategischen Rahmen aber nicht nur die Erstellung digitaler gesetzt, der letztendlich zur Verlagerung Repräsentationen von analogem Aus- der Benutzung des Archivguts in den gangsmaterial; es geht selbstverständlich virtuellen Raum führen wird. auch um die bereits digital entstehende Überlieferung. Seit der Jahrtausendwen- Diese positive Vision des virtuellen Le- de begann sich die Bundesverwaltung sesaals hat Hollmann beschrieben als zunehmend mit dem Thema der elek- tatsächliche Verwirklichung des archiv- tronischen Akten- und Registerführung gesetzlichen Anspruchs, der jeder Per- zu beschäftigen; das papierlose Büro son Zugang zu Archivgut ermöglicht, sollte in wenigen Jahren erreicht sein. sofern die Schutzfristen abgelaufen sind. Der freie Zugang über das Internet lässt Das Bundesarchiv war für den Um- sich somit auch als Erfüllung des institu- gang mit Daten bereits gut aufgestellt, tionellen Zwecks eines Archivs verstehen. hatte es doch im Zuge der Auflösung Ein erster Schritt in diese Richtung ist mit der DDR-Behörden schon eine große dem Portal zu „Weimar, die erste deutsche Menge an damals so genannten ma- Demokratie“ getan, das neben den digi- schinenlesbaren Daten übernommen. talisierten Akten auch einen multipers- Es handelte sich hierbei um Daten, die pektivischen Zugang zum Thema bietet. in der Welt der Großrechner, Lochkar- ten und Magnetbänder der 1970er und Der Weg zu einem virtuellen, frei zu- 1980er Jahre entstanden waren. In Kob- gänglichen Archiv ist weder unumstrit- lenz wurden zwei große Aktenmagazine 114 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

zu Datenmagazinen umgebaut, um die bei der Bewertung und Erschließung, Menge an Magnetbändern sachgemäß sondern verändern auch aufgrund der unterbringen zu können. Heute pas- oft hoch komplexen Technologie das sen alle diese damals übernommenen Anforderungsprofil nicht nur an den Be- Daten auf einen einzigen USB-Stick. ruf des Archivars, sondern in immer stär- Trotzdem sind es wirklich geballte In- kerem Maße auch das Berufsfeld Archiv. formationen, Millionen von Daten- sätzen, wie zum Beispiel die Volkszäh- Um dieser Aufgabe vollständig gerecht lungsdaten der DDR von 1971 und 1981, zu werden, ist aber auch eine permanen- der Kaderdatenspeicher mit allen Partei- te Weiterentwicklung des rechtlichen funktionären, der Datenspeicher gesell- Rahmens erforderlich. So weitsichtig schaftliches Arbeitsvermögen mit allen das Archivgesetz von 1988 auch war, Arbeitnehmern und ihrem beruflichen das bereits den Unterlagenbegriff auch Werdegang mit Stand 1989.32 auf die digitale Überlieferung bezogen hat, entziehen sich die neuen Formen Nach diesem frühen Einstieg in das digitaler Aufzeichnungen in ihrer stän- Thema der digitalen Überlieferung digen Veränderbarkeit den Kategorien konnte das Bundesarchiv den steini- der analogen Welt. Schon 2004 schrieb gen Weg der Einführung elektronischer Hartmut Weber an Knut Nevermann, Verwaltungsformen gut begleiten, auch damals Amtschef des ersten Beauftrag- wenn die Übernahme echter E-Akten ten des Bundes für Kultur und Medien, in großem Stil bis heute auf sich war- Michael Naumann, bei dem das Bundes- ten lässt. Die momentane Situation in archiv seit 1998 ressortierte. Weber bat der Bundesverwaltung stellt sich so dar, damals bereits um eine zügige Anpas- als ob nach fast 10-jährigem Stillstand sung des Archivgesetzes, um die digital besonders bei der elektronischen Akte entstehende Überlieferung sichern zu und der behördenübergreifenden Zu- können.33 Letztlich geht die Gesetzes- sammenarbeit die Konzepte tatsächlich novellierung des Archivgesetzes von realisiert und im Behördenalltag umge- 2017 auf diese Initiative zurück und setzt werden. Allerdings stammen diese nicht, wie es der jüngst erschienene Ge- Konzepte alle aus den 2000er Jahren, setzeskommentar darstellt, auf das Ge- und die Menschen, die damit arbeiten heimhaltungsbedürfnis der Nachrich- sollen, sind in ihrem Alltag an die aktu- tendienste.34 Allerdings löst das neue ellen technischen Möglichkeiten ihrer Archivgesetz noch nicht alle Fragen be- Smartphones gewöhnt. Was das für die züglich der digitalen Daten. Dokumentation der Jetztzeit und ihre spätere Erforschbarkeit bedeutet, ist zur 5. Ausblick Zeit nicht vorherzusagen. Mit der Abteilung Personenbezogene Auskünfte zum Ersten und Zweiten Während die digitalen Akten noch feh- Weltkrieg, der ehemaligen Deutschen len, sind die Abgaben von Fileablagen, Dienststelle, ist im Januar 2019 wieder Fachverfahren und weiteren Daten- ein Stück deutsche Geschichte ins Ar- sammlungen umso vielfältiger. Für sie chiv gekommen – nicht um dort unter gibt es keinerlei Entsprechung in der Verschluss genommen zu werden, son- analogen Welt mehr. Sie erfordern nicht dern um losgelöst vom ursprünglichen nur die Entwicklung neuer Methoden Entstehungszweck der Unterlagen für Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 115 Grußwort Festvortrag Gründung Militär GStA RGVA NS-Belastungen ZStA Bundesarchiv

viele Fragen und für viele Nutzer offen Nachkommen in 100 Jahren die Frage zu sein. Weitere große Veränderungen nach Herkunft und Abstammung nicht stehen an, und es handelt sich hierbei wird beantwortet werden können. Ein nicht nur um die Herkulesaufgabe der fairer Ausgleich zwischen Datenschutz im September 2019 vom Deutschen und Recht auf Erinnern steht hier noch Bundestag beschlossenen Übernahme aus. Ebenso herausfordernd ist die Fra- der Stasiunterlagen. ge nach der angemessenen baulichen Unterbringung des Archivguts, da die Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass die Raumsituation schon vor der Übernah- Weichen für Veränderungen gestellt me der Stasiunterlagen prekär ist. sind. Das digitale Zwischenarchiv konn- te erfolgreich an den Start gehen und Hans Booms, er muss hier noch einmal bietet so eine Garantie, dass die Aufga- zitiert werden, hat 1974 an die Beschäf- ben der Übernahme und Zugänglich- tigten des Bundesarchivs geschrieben, machung des Schriftgutes der Bundes- sie hätten sich mit Einsatzbereitschaft verwaltung auch in die Zukunft geführt und Gestaltungswillen „elastisch“ genug werden kann. Ebenso ist der Einstieg in erwiesen, die eigentlich unerreichbaren die Digitalisierung der analogen Bestän- Ziele zu erfüllen. Damals ging es um de in großem Stil geschafft, und bereits die Errichtung der Erinnerungsstätte in heute können Datenmengen im Peta- Rastatt binnen eines Jahres.35 Der Aus- bytebereich professionell verarbeitet nahmezustand36 ist also fast schon ein werden. Verbesserungswürdig ist wie eingeübter Dauerzustand des Bundesar- erwähnt die rechtliche Grundlage, ins- chivs, so dass damit zu rechnen ist, dass besondere für die Übernahme digitaler diese Institution auch die kommenden Registerdaten, da zum Beispiel die Daten Herausforderungen meistern wird. derjenigen, die in den letzten Jahren neu in unser Land gekommen sind, nicht Dr. Andrea Hänger ist gesichert werden dürfen, und so ihren Vizepräsidentin des Bundesarchivs.

1 Hans Booms: Das Bundesarchiv. Ein Zentralarchiv 5 BArch, N 1333/88, Winter an Clemm, 24.07.1950. 25 Jahre nach der Gründung, in: Hans Booms/Heinz 6 BArch, N 1333/88, Winter an Clemm, 30.03.1952. Boberach (Hrsg.): Aus der Arbeit des Bundesarchivs. 7 Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde und Georg Winter an Ernst Posner, 31.7.1952, zitiert Zeitgeschichte, Boppard 1977, S. 11-49, hier S. 19. nach Astrid M. Eckert: Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem 2 Booms: Zentralarchiv (wie Anm. 1), S. 15. Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 3 Zum folgenden auch Tobias Winter: Die deutsche 2004, S. 148. Archivwissenschaft und das „Dritte Reich“. Diszip- 8 Georg Wilhelm Sante: Deutsche Geschichte, Archive, lingeschichtliche Betrachtungen von den 1920ern Probleme, in: Der Archivar 13 (1960), Sp. 171-178, bis in die 1950er Jahre, Berlin 2018, S. 452-461, sowie hier Sp. 173. Hans Booms: Georg Winters Weg zum Gründungs- 9 Siehe hierzu Eckert: Kampf um die Akten (wie direktor des Bundesarchivs, in: Klaus Oldenhage/ Anm. 7), S. 339-341, sowie Hans-Joachim Harder: Hermann Schreyer/Wolfram Werner (Hrsg.): Archiv Modernisierung im Bundesarchiv-Militärarchiv, in: und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlen- Angelika Menne-Haritz/Rainer Hofmann (Hrsg.): berg, Düsseldorf 2000, S. 240-263. Archive im Kontext. Öffnen, Erhalten und Sichern 4 BArch, N 1333/87, Winter an Wende, 23.07.1950, von Archivgut in Zeiten des Umbruchs. Festschrift ausführlich wiedergegeben bei Booms: Winter (wie für Prof. Dr. Hartmut Weber zum 65. Geburtstag, Anm. 3), S. 254. Düsseldorf 2010, S. 177-195. 116 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

10 Booms: Zentralarchiv (wie Anm. 1), S. 15f. 25 Johannes Klotz: Die Ausstellung „Vernichtungskrieg, Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“. Zwi- 11 Anette Meiburg: Die Zwischenarchive des Bundes- schen Geschichtswissenschaft und Geschichtspoli- archivs. Ein Gewinn für Verwaltung und Archiv, tik, in: Detlef Bald/Johannes Klotz/Wolfram Wette in: Forum. Das Fachmagazin des Bundesarchivs, (Hrsg.): Mythos Wehrmacht. Nachkriegsdebatten Ausgabe 2015, S. 21-25, hier S. 21f. und Traditionspflege, Berlin 2001, S. 116-176. 12 Rudolf Schatz: Niemandsland zwischen Behörden 26 Dieter Pohl: Die Holocaustforschung und Gold- und Archiven (England – Frankreich – Deutschland), hagens Thesen, in: Vierteljahrshefte für Zeitge- in: Archivalische Zeitschrift 62 (1966), S. 66-86. schichte 45 (1997), S. 1-48. 13 Zur Person Booms‘ siehe Rainer Blasius: Hans 27 Heinz Boberach: Die Beteiligung des Bundesar- Booms und das Bundesarchiv, in: Mitteilungen chivs an der Verfolgung und Wiedergutmachung aus dem Bundesarchiv 1/2013, S. 7-23. nationalsozialistischen Unrechts in den sechziger 14 Booms: Zentralarchiv (wie Anm. 1), S. 18. Jahren, in: Festschrift Friedrich P. Kahlenberg (wie Anm. 3), S. 264-274, hier S. 265. 15 Hans Booms: Gesellschaftsordnung und Überlie- ferungsbildung, in: Archivalische Zeitschrift 68 28 https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/. (1972), S. 3-40. 29 https://www.bundesarchiv.de/zwangsarbeit/. 16 Henning Pahl: Die Erinnerungsstätte für die Frei- 30 heitsbewegungen in der deutschen Geschichte – Michael Hollmann: Archivgut im Zeitalter seiner eine Sonderaufgabe des Bundesarchivs, in: Fest- digitalen Verfügbarkeit, in: Archivalische Zeitschrift schrift Hartmut Weber (wie Anm. 9), S. 77-96. 95 (2017), S. 9-26. Die methodische Neuausrichtung des Bundesarchivs findet ihren Niederschlag 17 Friedrich P. Kahlenberg: Die archivische Sicherung auch in der 2013 begründeten Reihe „Forum. Das der deutschen Spielfilmüberlieferung. Zur Begrün- Fachmagazin des Bundesarchivs“, mit der das Bun- dung eines Kinematheksverbundes am 8. Dezem- desarchiv seine methodischen Überlegungen mit ber 1978, in: Der Archivar 32 (1979), Sp. 81-86. der Fachwelt teilen und zur Diskussion beitragen 18 Siehe Bundestagsdrucksache 8/2059. möchte. 31 19 Klaus Oldenhage/Siegfried Becker: Einleitung, Hollmann: Archivgut (wie Anm. 30), S. 11. in: Klaus Oldenhage/Siegfried Becker: Bundesar- 32 Andrea Hänger: Digitale Langzeiterhaltung, in: chivgesetz. Handkommentar, Baden-Baden 2006, Michael Hollmann / André Schüller-Zwierlein (Hrsg.): S. 13-21, dort auch weitere Literatur. Diachrone Zugänglichkeit als Prozess: Kulturelle 20 Zu den Archivbeziehungen zwischen der Bun- Überlieferung in systematischer Sicht, Berlin/ desrepublik und der DDR siehe Klaus Oldenhage: München 2014, S. 229-251; Ulf Rathje: Archi- Archivbeziehungen zur DDR, in: Friedrich P. vierung von DDR-Daten im Bundesarchiv – ein Kahlenberg (Hrsg.): Aus der Arbeit der Archive. Rückblick auf zehn Jahre, in: Historical Social Beiträge zum Archivwesen, zur Quellenkunde Research 28 (2003), S. 57-72. und zur Geschichte. Festschrift für Hans Booms, 33 Dienstakten BArch 1001/6, Bd. 2. Boppard 1989, S. 130-141. Zur Person Kahlenbergs 34 siehe Michael Hollmann: Friedrich P. Kahlenberg†, Christoph J. Partsch: Bundesarchivgesetz. Hand- in: Der Archivar 67 (2014), S. 455f. kommentar, Baden-Baden 2019. 21 Ernst Ritter: Archivierung einer Diktatur – Unter- 35 Hans Booms an die Beschäftigten des Bundesar- lagen aus der DDR im Bundesarchiv, in: Festschrift chivs am 9. Juli 1974, in: BArch, B 198/3568. Hartmut Weber (wie Anm. 9), S. 59-65, hier S. 59. 36 Ob die Kategorie des Ausnahmezustands tat- 22 Siegfried Becker/Dagobert Schierz: Das Bundes- sächlich treffend ist, hat Markus Friedrich in der archiv nach der Wende. Über die Schwierigkeiten Podiumsdiskussion der Konferenz überzeugend eines Integrationsprozesses, in: Festschrift Friedrich in Frage gestellt; vgl. die Zusammenfassung P. Kahlenberg (wie Anm. 3), S. 291-313, hier S. 294. von Mirjam Sprau in diesem Heft. Hier wird zukünftig noch einmal zu fragen sein, welches 23 Ritter: Archivierung einer Diktatur (wie Anm. 21), Bild von Archiven eigentlich in unseren Köpfen S. 60. vorherrscht, wenn Veränderungen immer mit 24 Georg Dillgard: Der dornige Weg des Bundes- Ausnahmen gleichgesetzt werden – und ob nicht archivs nach Berlin-Lichterfelde, in: Festschrift eigentlich der permanente Wandel der „Normal- Friedrich P. Kahlenberg (wie Anm. 3), S. 314-324. zustand“ ist.

118 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Teilnehmer an der Podiumsdiskussion

Prof. Dr. Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische ­Forschungen Potsdam (Moderation) Prof. Dr. Markus Friedrich, Universität ­Hamburg, Lehrstuhl für Europäische ­Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Philipp Gassert, Universität Mannheim, Lehrstuhl für Zeitgeschichte Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke, ehem. TU ­Dresden, Lehrstuhl für Zeitgeschichte Vladimir Tarasov, Direktor des Russischen ­Staatlichen Militärarchivs (RGVA) Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 119

Mirjam Sprau Zusammenfassung der Podiumsdiskussion

n Anknüpfung an die vorangegan- Vetorecht der Grundlagenforschung genen Tagungsbeiträge skizzierte bei dieser „Deutungskontrolle“ und die Moderator Martin Sabrow zu Be- sich daraus ergebende Bedeutung der ginn der Podiumsdiskussion vier Archive. Vor diesem Hintergrund solle, IThemenkomplexe, die das Gespräch im so Henke, durchaus an dem Verständnis Folgenden bestimmten: Die Frage nach eines Zentralarchivs als „Gedächtnis- Bruch und Kontinuität in Bezug auf die speicher des Gemeinwesens“ festgehal- Rolle des deutschen Zentralarchivs, die ten werden. Position staatlicher Archive im politi- schen Raum, die Fragilität von Quellen Durch die Ausführungen von Vladimir im digitalen Zeitalter sowie das Trans- Tarasov erhielt die Frage nach der Ab- parenzversprechen staatlicher Archive. hängigkeit der Archive von politischen Vorgaben der jeweiligen Regierung eine Markus Friedrich setzte sich kritisch mit deutliche Zuspitzung. Für ihn könne dem Selbstbild des Zentralarchivs als sich ein staatliches Archiv niemals ge- „Insel der Beständigkeit im Wandel der gen die Position des Präsidenten oder Zeit“ auseinander und problematisierte Staatschefs eines Landes stellen. Dies sei die Metapher vom Archiv als „Gedächt- eine historische Kontinuität, sichtbar in nis der Nation“. Archivare sollten, statt der NS-Zeit, der Sowjetunion und bis der Vorstellung anzuhängen, zu einem heute. Sabrow griff dieses Statement quasi objektiven „Gedächtnis“ einer auf, indem er die Frage nach der un- Nation beizutragen, in ihrem Selbst- mittelbaren politischen Einflussnahme verständnis mutig annehmen, Akteure erweiterte zu dem Gedanken, dass ein von Geschichtskultur zu sein. Dagegen Archiv immer ein Spiegel der aktuellen betonte Philipp Gassert – mit einem Sei- Disposition der Gesellschaft sei. Dem- tenblick auf die späte Gründung eines nach entspreche das Bundesarchiv heu- Nationalarchivs in den USA – gerade die te dem vorherrschenden Freiheits- und elementare Funktion eines zentralen Transparenzpostulat. Auch Friedrich Staatsarchivs bei der Ausbildung einer sah hier zwei verschiedene Formen der konsensualen nationalen Identität. Einflussnahme – die direkte „Indienst- Klaus-Dietmar Henke brachte hier das nahme“ eines Archivs bei der Steuerung Verhältnis zwischen Archiv und Zeit- der Zugänglichkeit von Archivgut ei- geschichtsforschung in die Debatte ein. nerseits und andererseits die eher mit- Er betonte die hohe Bedeutung dieser telbare Abhängigkeit eines staatlichen Forschung für die Selbstvergewisserung Archivs von der gegenwartsgesteuerten einer Gesellschaft (nach Martin Broszat Geschichtspolitik. Diese setzte Henke in als „nachträgliche Machtkontrolle“), das deutlichen Kontrast zur Einschätzung 120 Forum • 100 Jahre Reichsarchiv

Tarasovs, indem er massive gesellschaft- parenzforderung – als gesellschaftlichen liche Aufarbeitungserwartungen an die Trend im Großen und mit all ihren Zeitgeschichtsforschung konstatierte. Verwerfungen für die Betroffenen im In der Bundesrepublik könne sich dieser Kleinen. So sprächen sich Opfer der „Pflicht zur Aufarbeitung“ keine Insti- SED-Diktatur zwar für einen freien Zu- tution und kein privates Unternehmen gang zu Unterlagen der Staatssicherheit mehr entziehen. Dies verband Henke aus, einer völligen Offenlegung der sie mit dem Hinweis auf eine gewachsene betreffenden Akten begegneten sie den- rechtliche Sicherheit beim Zugang zu noch mit Unbehagen und der Sorge um Archivgut; die Forschung sehe sich von den Verlust von Intimsphäre. der wissenschaftsfreundlichen Archiv- gesetzgebung und der Zugangspraxis Mit Blick auf die durch die Tagung zum in den Archiven deutlich gestärkt. Ausdruck gebrachte Rolle von Reichs­ Die Notwendigkeit klarer rechtlicher archiv und Bundesarchiv attestierte Zugangsregelungen bestätigte auch Sabrow dem Bundesarchiv abschließend Tarasov. Im Russland der 1990er Jahre ein gewisses Maß an „Kontinuitätsbe- habe es gerade aufgrund mangelnder gehren“, dem in der Debatte die „Kon­ Regelungen vorübergehend ein „zu viel trastrealität“ gegenübergestellt worden an Freiheit“ beim Aktenzugang gegeben. sei. Diesem Befund konnte sich der Heute sieht er dagegen ein Problem da- Präsident des Bundesarchivs, Michael rin, dass Forscher oft- Hollmann, durchaus mals gar keine An- anschließen. Für die träge stellen würden, während der Kon- zugleich aber gegen Das Bundesarchiv ferenz wiederholt mangelnden Zugang spiegelt in seiner Arbeit konstatierte „Aus- protestierten. den Anspruch der nahmesituation“ der jeweiligen Realität Der Zugang zu Ar- Gesellschaft auf Teilhabe sei das Bundesar- chivgut wird durch und Transparenz. chiv auf eine lebendi- Digitalisierungen er- ge, offene Diskussion heblich vereinfacht– angewiesen. Dabei sei darüber herrschte in es nicht nur Aufgabe der Runde Einverständnis. Allerdings, des Hauses, mit der Archivierung von Un- so hob Gassert hervor, unterliege die terlagen „ein Erbe anzutreten“, sondern Auswahl von Digitalisaten und ihre zugleich auch „ein Erbe zu schaffen“, eine entsprechende Verwertung mitunter moderne Überlieferung zu bilden, aussa- politischer Einflussnahme – hier seien gekräftige Unterlagen für die zukünftige politische Konflikte, gerade im interna- Forschung einzuwerben. Das ­Interesse tionalen Kontext, absehbar. Die gesell- von Forschung und Gesellschaft gebe schaftlichen Transparenzerwartungen, den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen die abstrakt bejaht werden könnten, dabei die Kraft, „elastisch“ (Hans Booms) würden in der Praxis begleitet von vie- zu bleiben und die künftigen Heraus- len offenen Fragen nach inhaltlichen forderungen anzunehmen. und finanziellen Priorisierungen. Sab- row unterstützte diesen Gedanken mit Zur politischen Abhängigkeit von Ar- Verweis auf die Ambivalenz der Trans- chiven verwies Hollmann in seinem Forum • 100 Jahre Reichsarchiv 121

Schlussstatement darauf, dass das Bun- so Hollmann, seien auf das Grundgesetz desarchiv nicht der politischen Linie ei- verpflichtet; und obgleich das Bundes- ner Exekutive verpflichtet sei, sondern archiv kein Verfassungsorgan sei, „neh- seiner eigentlichen Trägerschaft – der men wir uns diese Höhe, hier ein Stück Gesellschaft und ihrer Rechtsordnung. Verfassungsrecht, das Recht auf Infor- Auf dieser Grundlage könne es prin- mationsfreiheit, für alle zu wahren“. zipiell kein „zu viel an Freiheit“ geben; das Bundesarchiv spiegele in seiner täg- lichen Arbeit den Anspruch dieser Ge- Dr. Mirjam Sprau ist Referentin im Referat GW 1 (Strategische Planung, Leitungs- sellschaft auf Teilhabe und Transparenz. unterstützung, Archivfachliche Grundsatzange- Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, legenheiten) des Bundesarchivs. 100 JAHRE REICHSARCHIV

Fotos: © Michael Magulski 123

Impressum Herausgeber: Bundesarchiv Potsdamer Straße 1 56075 Koblenz Redaktion: Manuela Hambuch, Tobias Herrmann, Mirjam Sprau Gestaltung: cocoköbel GbR, Berlin Druck: Druckerei Neisius, Winningen Fotos: S. 6: BArch, Bild 102-16890 / Pahl, Georg (oben); BArch, Bild 146-1988-103-31 / Rudolph, Paul (unten) S. 12: BArch, Bild 102-16888 / Pahl, Georg (oben); BArch, Bild 146-1988-103-30 / o. Ang. (unten) S. 34: BArch, B 198 Bild-00544 / Schlegel, Sven (oben); BArch, Bild 183-C16343 / Dorneth (unten) S. 48: BArch, DO 6 Bild-66-001 / o. Ang. (oben); BArch, Bild 146-1969-172-27 / o. Ang. (unten) S. 56: BArch, B 198 Bild-00563 / o. Ang. (oben); BArch, Bild 146-1969-178-33 / o. Ang. (unten) S. 74: BArch, B 198 Bild-00572 / o. Ang. (oben); BArch, B 198 Bild-00560 / o. Ang. (unten) S. 82: BArch, B 198 Bild-00551 / o. Ang. (oben); BArch, B 198 Bild-2017-0216-001 / Hacke, Mila (unten) S. 94: BArch, B 198 Bild-00550 / Müller, Michael (oben); BArch, B 198 Bild-00041 / o. Ang. (unten) S. 106: BArch, B 198 Bild-2017-0212-004 / Hacke, Mila (oben); BArch, B 198 Bild-2010-0519-001 / Krause, Torsten (unten) S. 117: BArch, B 198 Bild-2017-0328-001 / Hacke, Mila (oben); BArch, o. Sign. / Christian Körner, Koerner ART, Berlin (unten) S. 122 / 123 (Fotograf Michael Magulski): (1) Dr. Simone Walther‑von Jena, Leiterin der Stiftung Archiv der Parteien­ und Massenorganisationen der DDR im Bundes­ archiv 23.10.2019; (2) Dr. Peter Ulrich Weiß, Wiss. ­Mitarbeiter am ZZF Potsdam und Lehrbeauftragter der HU Berlin, 23.10.2019; (3) Staatsministerin Prof. Monika Grütters MdB, und Dr. ­Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, am Eröffnungsabend, 22.10.2019; (4) Sven Kriese, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, 23.10.2019; (5) Podiums­diskussion am 23.10.2019, v.l.n.r. Prof. Dr. Philipp Gassert, ­Vladimir ­Tarasov, Prof. Dr. Martin Sabrow, Prof. Dr. Klaus‑Dietmar ­Henke, Prof. Dr. Markus ­Friedrich, 23.10.2019; (6) Vladimir Tarasov, Direktor des Russi- schen ­Staatlichen Militärarchivs, 23.10.2019; (7) Am Publikations- tisch, 22.10.2019; (8) Dr. habil. Markus Pöhlmann, Wiss. Direktor am Zentrum für Militärgeschichte und ­Sozialwissen­schaften der Bundeswehr, 23.10.2019; (9) Prof. Dr. Jörn Leonhard, ­Albert‑Ludwigs‑Universität Freiburg, Lehrstuhl für Geschichte des Romanischen Westeuropa, während des Festvortrags am 22.10.2019; (10) Dr. Andrea Hänger, Vizepräsidentin des Bundes­ archivs, 23.10.2019; (11) Blick ins Publikum am Eröffnungs- abend, 22.10.2019, im Zeughaushof des Deutschen Historischen ­Museums (von oben nach unten und von links nach rechts) Koblenz 2019 ISSN 2197-8239 Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck der Beiträge mit genauer Quellenangabe. Ausgabe 2019

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