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Analysen und Berichte Steuerpolitik DOI: 10.1007/s10273-020-2559-9

Stefan Bach, Marc Buggeln Geburtsstunde des modernen Steuerstaats in Deutschland 1919/1920

Vor 100 Jahren haben die „Erzbergerschen Steuer- und Finanzreformen“ die öffentlichen Finanzen in Deutschland grundlegend umgestaltet. Sie zentralisierten die Finanzverfassung und modernisierten das Steuersystem umfassend. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Erbschaftsteuer wurden deutschlandweit vereinheitlicht und deutlich erhöht, ferner wurden eine Vermögensabgabe eingeführt und die indirekten Steuern ausgebaut. Die gesamtwirtschaftliche Steuer- und Abgabenbelastung verdoppelte sich bis 1925. Diese Reformen prägen die Grundlagen der öffentlichen Finanzen und des Steuersystems bis heute.

Vor 100 Jahren entstanden in Deutschland die wesentli- der öffentlichen Finanzen.2 Deren wesentliche Elemente chen Grundlagen des heutigen Steuersystems. In einem haben bis heute Bestand: die Grundstrukturen des Steu- beispiellosen Kraftakt wurden von Juli 1919 bis März 1920 ersystems und der Finanzverwaltung, die Abgabenord- umfassende Steuer- und Finanzreformen durchgesetzt – nung sowie der zentralistische kooperative Finanzfödera- maßgeblich vorangetrieben vom damaligen Reichsfi nanz- lismus. Auch bei Aufkommen und Belastungen markieren minister , dem führenden Politiker des diese Reformen den Durchbruch des modernen Steuer- linken Flügels der Zentrumspartei.1 und Wohlfahrtsstaats in Deutschland. Das Steueraufkom- men verdoppelte sich nahezu bis 1925. Ohne Übertrei- Hintergrund war die desaströse Lage der öffentlichen bung kann man von einer Jahrhun dertreform sprechen Finanzen nach der militärischen Niederlage im Ersten – die einzige wirklich grundlegende Steuer- und Finanzre- Weltkrieg. Trotz (oder wegen) des extremen Zeitdrucks, form, die es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert bis der schwierigen Wirtschaftslage und des politischen Um- heute gegeben hat. bruchs gelang eine nahezu vollständige Umgestaltung, Modernisierung und Zentralisierung der Besteuerung und „Der Krieg ist der Verwüster der Finanzen“ – mit diesen Worten eröffnete Erzberger seine erste Rede als Reichs- fi nanzminister vor der Weimarer Nationalversammlung © Der/die Autor(en) 2020. Open Access: Dieser Artikel wird unter der 3 Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (https:// am 8. Juli 1919. Finanzpolitisch war das Deutsche Reich creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht. schlecht gerüstet in die Exzesse des Ersten Weltkriegs gegangen. In den Jahren vor 1914 lag die gesamtwirt- Open Access wird durch die ZBW – Leibniz-Informationszentrum Wirtschaft gefördert. schaftliche Steuerquote bei etwa 8 % des Bruttoinlands- produkts (BIP).4 Hinzu kamen Sozialbeiträge von 2 % des 1 K. Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen De- BIP sowie Erwerbseinkommen von bis zu 2 % des BIP, vor mokratie, Frankfurt a. M. 1976, S. 373 ff. allem aus den Überschüssen der Staatseisenbahnen.

Die Gesetzgebungskompetenzen zur Besteuerung und die Steuereinnahmen lagen weitgehend bei den Bundes- ländern. Diese hatten begonnen, ihre Steuersysteme zu Dr. Stefan Bach ist wissenschaftlicher Mitarbeiter

am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) 2 Eine zeitgenössische Übersicht gibt R. van der Borght: Die Reichs- in Berlin. steuergesetze von 1919, in: Finanzarchiv, 37. Jg. (1920) H. 1, S. 136- 222, ders.: Die Reichssteuergesetze von 1919/20 (Schlussbericht), in: Finanzarchiv, 37. Jg. (1920), H. 2, S. 80-92; H.-P. Ullmann: Der deut- Dr. phil. Marc Buggeln ist Visiting Fellow in Clare sche Steuerstaat. Geschichte der öffentlichen Finanzen vom 18. Jahr- hundert bis heute, München 2005, S. 101 ff. Hall (Cambridge) und Gastdozent am Historischen In- 3 M. Erzberger: Einführungsrede, gehalten am 8.7.1919 in der Natio- stitut der Universität Cambridge. nalversammlung, in: ders.: Reden zur Neuordnung des deutschen Finanzwesens, Berlin 1919, S. 3. 4 M. Spoerer: Öffentliche Finanzen, in: T. Rahlf (Hrsg.): Deutschland in Daten, Zeitreihen zur Historischen Statistik, Bonn 2015, S. 106.

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modernisieren. Prägend war die Entwicklung in Preußen, und eine Zentralisierung der Staatsfi nanzen beim Reich. das im Zuge der „Miquelschen Steuerreformen“ 1891 bis Unmittelbar nach Waffenstillstand und politischem Um- 1893 seine Steuern neu geordnet und eine moderne Ein- bruch im November 1918 begannen die Planungen zu kommensteuer sowie eine ergänzende Vermögensteuer umfassenden Steuer- und Finanzreformen.8 Ende Dezem- eingeführt hatte.5 Aufkommen und Belastungen von höhe- ber 1918 wurden erste Leitlinien vorgestellt: Einführung ren Einkommen und Vermögen blieben aber niedrig, un- einer außerordentlichen Kriegsgewinnsteuer; Belastung ter anderem, weil der Spitzensteuersatz der Einkommen- der restlichen Vermögen mit einer allgemeinen Vermö- steuer in allen Bundesländern unter 10 % lag. Das Reich gensabgabe in Fortführung der bereits vor dem Krieg war fi nanziell nur schwach ausgestattet. Seine Einnahmen bestehenden Besitzsteuer; Einführung einer Reichsein- beruhten vor allem auf Zöllen und Verbrauchsteuern. Dar- kommensteuer; Erschließung neuer Steuerquellen, wie über hinaus war es auf Zuweisungen der Länder angewie- Kapitalertrag- und Betriebsertragsteuer; starke Erhöhung sen (Matrikularbeiträge) und galt daher als „Kostgänger der Erbschaftsteuer; Einführung einer Abgabenordnung, der Länder“. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten hohe um die Gesetze wirksam durchzusetzen. Rüstungsausgaben den Reichshaushalt belastet und die Schulden deutlich erhöht. Die zumeist stark konservativ Aus den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar geprägte Reichstagsmehrheit und die Bundesländer blo- 1919 ging die (Mehrheits-)SPD mit 37,9 % der Stimmen als ckierten die Übertragung der Besteuerung von Einkom- Sieger hervor. Zusammen mit der katholischen Zentrums- men und Vermögen auf das Reich, da man befürchtete, partei (19,7 %) und der linksliberalen Deutschen Demokra- dass das umfassende Wahlrecht auf Reichsebene die tischen Partei (DDP) (18,5 %) bildete sie eine Koalitionsre- Macht der Sozialdemokratie weiter ausweiten und diese gierung (Weimarer Koalition). Angesichts der anhaltenden dann die Wohlhabenden mit progressiven Steuern schwer bürgerkriegsähnlichen Zustände in Berlin tagte die Natio- belasten würden. In den Bundesländern galt zumeist ein nalversammlung ab Anfang Februar 1919 in Weimar. Nach Zensuswahlrecht wie das Dreiklassenwahlrecht in Preu- der Verabschiedung eines Gesetzes über die vorläufi ge ßen, bei dem die Stimmen der wohlhabenden Bevölkerung Reichsgewalt wurde der Sozialdemokrat stärker gewichtet wurden. zum Reichspräsidenten gewählt und eine Reichsregie- rung unter dem Sozialdemokraten Die immensen Kriegskosten des Ersten Weltkriegs wur- gebildet. Eugen Schiffer und ab April 1919 Bernhard den weitgehend mit Schulden fi nanziert. Nachdem sich Dernburg (beide DDP) übernahmen das neu geschaffene der Krieg in die Länge zog, enorme Opfer forderte und Reichsfi nanzministerium. Auch Matthias Erzberger ge- immer höhere Kosten verschlang, führte man Kriegsge- hörte der Regierung als Minister ohne Geschäftsbereich winnsteuern und eine allgemeine Umsatzsteuer ein. Diese an. Er war weiterhin für den Waffenstillstand und die Frie- konnten die riesigen Haushaltsdefi zite aber nur geringfü- densverhandlungen zuständig, mit denen er bereits von gig vermindern. Die Verschuldung stieg weiter und wurde der letzten kaiserlichen Regierung betraut worden war zunehmend durch Geld- und Kreditschöpfung dominiert, und als Delegationsleiter den Waffenstillstand unterzeich- was die Geldmenge ausweitete und die Infl ation anheizte.6 net hatte. Deswegen wurde er von der extremen Rechten in Deutschland stark angefeindet. Nach der militärischen Niederlage drohte der fi nanzielle Kollaps. Die gesamte Staatsverschuldung lag Ende 1919 Zentralisierung der Finanz- und Steuerkompetenzen bei über 200 Mrd. Mark7 und damit bei mindestens 150 % des BIP. Hinzu kamen hohe laufende Defi zite durch den Die vorrangige Aufgabe der Nationalversammlung war Schuldendienst, Ausgaben für Demobilisierung, Wieder- es, eine neue Verfassung zu beschließen, zugleich übte ankurbelung der zivilen Wirtschaft, Besatzungskosten sie als Parlament die laufende Gesetzgebung und Regie- und Kriegsopferversorgung. Ferner drohten massive Re- rungskontrolle aus. Bei der Neuordnung der öffentlichen parationsforderungen der Sieger. Finanzen ging es neben der Modernisierung und Auswei- tung vor allem um die Kompetenzverteilung in der neuen Bereits seit der Mitte des Krieges entwickelte die kaiser- bundesstaatlichen Ordnung. Dass dem Reich deutlich liche Reichsregierung Konzepte für Steuererhöhungen größere Finanzkompetenzen zulasten der Länder zukom- men mussten, war allen Beteiligten klar. Umstritten war, wie weit der Zugriff auf die bisher weitgehend den Län- 5 A. Thier: Steuergesetzgebung und Verfassung in der konstitutionellen Monarchie. Steuerreformen in Preußen 1871-1893, Frankfurt a. M. 1999. 6 M. Buggeln: Das Versprechen der Gleichheit. Progressive Steuern und die Reduktion sozialer Ungleichheit 1871-1945, Berlin 2019 (Habi- 8 M. Hacker: Gibt es „Gerechtigkeit“ in der Steuerpolitik? Der politisch- litationsschrift HU Berlin), S. 178-244. philosophische Diskurs über Recht und Gerechtigkeit am Beispiel der 7 M. Erzberger: 4. Rede gehalten am 30. Oktober 1919 in der National- Entstehung des modernen Einkommensteuerrechts in der Weimarer versammlung, in: ders.: Reden, a. a. O., S. 82. Republik, Berlin 2013 (Dissertation FU Berlin), S. 105 ff.

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dern vorbehaltenen „direkten“ Steuern auf Einkommen ab.10 Die Sozialdemokraten hatten seit Jahrzehnten eine und Vermögen gehen sollten. Die Länder hatten dazu Zentralisierung der Steuerpolitik beim Reich, eine Stär- starke Vorbehalte. Viele wollten das Reich weiterhin auf kung der progressiven Einkommens- und Vermögensbe- die indirekten Steuern beschränken und dazu die Um- steuerung sowie deren effektive Durchsetzung gefordert, satzsteuer als allgemeine Verbrauchsteuer ausbauen. was nun auf der Agenda stand. Auch die linksliberale DDP war unitaristisch orientiert und mit der Zentralisierung der Angesichts der dramatischen Finanzlage erwies sich Finanzverfassung grundsätzlich einverstanden. Sie war das als unrealistisch. Im Mai 1919 stimmten die Länder allerdings zurückhaltender bei der Ausweitung der Steu- im Grundsatz einer einheitlichen Einkommensteuer des erbelastung sowie hinsichtlich des Auf- und Ausbaus der Reichs zu, an deren Aufkommen die Länder und Gemein- Steuerverwaltung. Erzbergers Partei, das traditionell fö- den beteiligt werden sollten. Im Verfassungsausschuss deralistische Zentrum, war eher skeptisch, vor allem der der Nationalversammlung wurde die Gesetzgebungs- konservative Flügel und die Bayerische Volkspartei (BVP), kompetenz des Reichs für grundsätzlich alle Steuern und die sich in Bayern vom Zentrum abgespalten hatte, je- Abgaben festgelegt, dabei sollte es auf die Lebensfähig- doch in der Fraktionsgemeinschaft verblieb. Sie konnten keit der Länder Rücksicht nehmen.9 Der Reichsrat als sich aber dem Druck der prekären Finanzlage und der Re- Länderkammer konnte gegen vom Reichstag beschlos- gierungsverantwortung nicht entziehen und wurden von sene Gesetze ein Veto einlegen, das allerdings mit Zwei- Erzberger eingebunden. In Verwaltungsapparaten, Län- drittelmehrheit des Reichstags überstimmt werden konn- dern, Verbänden und in der breiten Öffentlichkeit überwo- te (Artikel 74 Weimarer Reichsverfassung – WRV). gen jedoch Zurückhaltung und zunehmender Widerstand angesichts der umfassenden Reformen und der massiven Im Juni 1919 zerbrach die Reichsregierung unter Philipp Steuererhöhungen. Daher war es eine beachtenswerte Scheidemann (SPD) im Streit um die Annahme des Ver- Leistung, das umfangreiche Reformwerk zügig durchzu- sailler Friedensvertrags. Daraufhin wurde am 21. Juni eine setzen. neue Regierung mit (SPD) als Ministerprä- sident gebildet, die sich weiterhin auf die Weimarer Koali- Reichsfi nanzverwaltung und Steuerverbund tion in der Nationalversammlung stützte. Bauer und Ebert ersuchten Erzberger ausdrücklich, das Amt des Reichsfi - Eine zentrale Weichenstellung und politische Meisterleis- nanzministers zu übernehmen, da sie bei ihm den Willen, tung zu Beginn des Reformprozesses im Sommer 1919 die Tatkraft und das politische Geschick erkannten, die war die schnelle und konsequente Zentralisierung der Fi- umfassenden Steuer- und Finanzreformen zügig durch- nanz- und Steuerkompetenzen beim Reich, einschließlich zusetzen. Um seine Rolle zu unterstreichen, wurde er zu- der Steuererhebung durch die neu aufzubauende Reichs- gleich zum Vizekanzler berufen. fi nanzverwaltung.11 „Der große Steuersouverän der Zu- kunft kann nur das einige Deutsche Reich sein“ erklärte Nach der Annahme des Friedensvertrags durch Regie- Erzberger vor der Nationalversammlung.12 Dies löste na- rung und Nationalversammlung endete Ende Juni 1919 turgemäß anhaltenden Widerspruch bei den Ländern aus, der Kriegszustand, die Seeblockade der Alliierten wur- die bereits ihre Steuerkompetenzen weitgehend einge- de sukzessive gelockert. Ferner wurden die Beratungen büßt hatten. Erzberger und die Finanzpolitiker der Koaliti- zur Verfassung zügig abgeschlossen. Sie wurde Anfang on erkannten, dass für die effektive und gleichmäßige Er- August 1919 verabschiedet. Damit waren die politischen hebung der beträchtlichen Steuererhöhungen eine eigen- und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Re- ständige professionelle Finanzverwaltung, die dem Reich formen der Steuer- und Finanzordnung gegeben, deren unterstellt werden sollte, wesentlich war. In den Ländern Umsetzung Erzberger und seine Mitstreiter umgehend in gab es zumeist keine Fachverwaltung für Finanzen, Steu- Angriff nahmen. ern und Abgaben. Diese Aufgaben wurden von der inne- ren Verwaltung betreut. Entsprechend unzulänglich und Erzberger und das Reichsfi nanzministerium konnten sich ungleichmäßig war die Durchsetzung der Steuerpfl icht. grundsätzlich auf die weitgehende Unterstützung der Ko- Erst einzelne Länder wie Württemberg hatten mit dem alitionsfraktionen in der Nationalversammlung verlassen. Aufbau einer eigenständigen Fachverwaltung für Steuern Sie stimmten sich insbesondere mit der SPD und ihrem und Finanzen begonnen. einfl ussreichen fi nanzpolitischem Sprecher Wilhelm Keil

10 A. Möller: Reichsfi nanzminister Matthias Erzberger und sein Reform- werk, Bonn 1971, S. 17 ff., S. 29 ff. 11 A. Schmidt-Essen: Reichseinkommensteuer und Einheitsstaat, in: 9 Artikel 8 der Verfassung des Deutschen Reichs vom 11.8.1919: Wei- Wirtschaftsdienst, H. 29 vom 18.7.1919; A. Möller, a. a. O., S. 29 ff. marer Reichsverfassung (WRV). 12 M. Erzberger, Eröffnungsrede, a. a. O., S. 7.

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Der Gesetzentwurf zur Abgabenordnung einschließlich der neu geschaffenen Grunderwerbsteuer und 15 % der der Regelungen zur Reichsfi nanzverwaltung wurde unter Umsatzsteuer. Dieses Verbundsystem besteht mit den großem Zeitdruck fertiggestellt und in die Nationalver- „Gemeinschaftsteuern“ bis heute – bei Einkommen- und sammlung eingebracht.13 Durch zähe Verhandlungen mit Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer sowie indirekt bei der den Ländern erreichten Erzberger und seine Mitstreiter Gewerbesteuer mit einer Umlage an Bund und Länder. die Zuständigkeit der Reichsfi nanzverwaltung für fast alle Steuern. Baden, Bayern und Sachsen, die sich bis zuletzt Modernisierung des Steuersystems und massive gesträubt hatten, wurden über Zugeständnisse eingebun- Steuererhöhungen den. So konnten die Länder bei der Einrichtung der Lan- desfi nanzämter als Mittelbehörden mitwirken. Erzberger Die Lage der öffentlichen Finanzen war Mitte 1919 äußerst stellte den reformkritischen Landesfi nanzministern eine prekär. Das Reichsfi nanzministerium schätzte den künfti- Ernennung zu Landesfi nanzamtspräsidenten auf Lebens- gen jährlichen Finanzbedarf auf 24 Mrd. Mark, davon 17,5 zeit in Aussicht, sollten sie der Reform zustimmen.14 Der Mrd. für das Reich.16 Vor 1914 hatten die jährlichen Steu- erste Teil zur Organisation der Finanzbehörden im Ent- ereinnahmen aller Gebietskörperschaften nur bei 4 Mrd. wurf der Abgabenordnung wurde dann als gesondertes Mark gelegen. Durch die Steuererhöhungen im Krieg und „Gesetz über die Reichsfi nanzverwaltung“ eingebracht die Infl ation waren sie bis 1919 auf schätzungsweise 8 und noch vor der Sommerpause verabschiedet, damit der Mrd. Mark gewachsen. Die hohen laufenden Defi zite von Aufbau der Reichsfi nanzverwaltung umgehend im Herbst bis zu zwei Dritteln der Ausgaben wurden zunächst wei- beginnen konnte. Die Regelungen wurden im Dezember ter über die Geld- und Kreditschöpfung mobilisiert. Das 1919 wieder ohne wesentliche Änderungen als erster Teil heizte die Infl ation kräftig an und drohte die öffentlichen in die insgesamt angenommene Reichsabgabenordnung Finanzen zu zerrütten. integriert. Erzberger machte die dramatische Finanzlage bei jeder Auf dieser Grundlage wurde dann eine spezialisierte und Gelegenheit deutlich und verlangte massive Steuerer- professionalisierte Finanzverwaltung aufgebaut. Ferner höhungen, um den Staatsbankrott abzuwenden. In 14 entstand ein eigenständiges Steuerverwaltungsrecht, Gesetzen und weiteren Verordnungen wurden bis Ende das im Wesentlichen bis heute gilt. Mit dem Reichsfi nanz- März 1920 alle wesentlichen Steuern zentralisiert, mo- hof existierte bereits eine oberste Spruchkammer für die dernisiert und deren Belastungen deutlich erhöht. Der Umsatzsteuer und die Verbrauchsteuern, die in den fol- Schwerpunkt sollte bei den „direkten“ Steuern auf Ein- genden Jahren als eigenständige Finanzgerichtsbarkeit kommen und Vermögen liegen, die mittelfristig drei Vier- für alle Steuern mit Landesfi nanzgerichten als regionalem tel des Steueraufkommens erzielen sollten. Die reichs- Unterbau ausgebaut wurde. Auch die Steuerberatung einheitliche und progressive Einkommensteuer sollte die entwickelte sich in den Folgejahren zu einem eigenständi- Haupteinnahmequelle werden, Vermögensteuern sollten gen freien Beruf, was vor allem an der massiven Erhöhung die Wohlhabenden ergänzend belasten. Hier hatte es im der Steuersätze lag, die bei Unternehmen und wohlha- Kaiserreich nur niedrige Belastungen gegeben. „Gerech- benden Bürgern einen Beratungsbedarf entstehen ließen. tigkeit im gesamten Steuerwesen zu schaffen ist mein oberstes Ziel. (...) Ein guter Finanzminister ist der beste Nach weiteren zähen Verhandlungen wurde im März 1920 Sozialisierungsminister“17, erklärte Erzberger in seiner das Landessteuergesetz verabschiedet, das den neuen ersten Rede vor der Nationalversammlung. Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und Gemein- den regelte.15 Das bisher geltende Trennsystem der Steu- Die Einkommensteuer wurde auf das Reich übertragen erquellen wurde durch ein Verbundsystem abgelöst, bei und massiv ausgebaut.18 Sie sollte gut ein Drittel der aus- dem die Gebietskörperschaften mit Anteilen am Aufkom- geweiteten Steuereinnahmen erbringen und wurde nach men der ertragsstarken Steuern beteiligt wurden. Länder langen Debatten zum Ende der Reformperiode im März und Gemeinden erhielten zwei Drittel der Einkommen- 1920 verabschiedet. Eine historische Zäsur waren die und Körperschaftsteuer, 20 % der Erbschaftsteuer, 50 % breite Bemessungsgrundlage und der deutlich progres- sive Steuertarif, verglichen mit den herkömmlichen Be- 13 Bundesministerium der Finanzen: 100 Jahre Abgabenordnung, in: lastungen der Länder-Einkommensteuern. Höhere und Monatsbericht des Bundesministeriums der Finanzen (BMF), Novem- vor allem hohe Einkommen sollten kräftig belastet wer- ber 2019, S. 43 f. 14 P.-C. Witt: Reichsfi nanzminister und Reichsfi nanzverwaltung. Zum Problem des Verhältnisses von politischer Führung und bürokra- tischer Herrschaft in den Anfangsjahren der Weimarer Republik 16 R. van der Borght: Reichssteuergesetze 1919, S. 136 ff. (1918/19-1924), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 23. Jg. (1975), 17 M. Erzberger: Einführungsrede, a. a. O., S. 5. H. 1, S. 48 f. 18 R. van der Borght: Reichssteuergesetze 1919/20, S. 92 ff.; M. Hacker, 15 R. van der Borght: Reichssteuergesetze 1919/20, S. 157 ff. a.a.O., S. 122 ff.; A. Schmidt-Essen: Reichseinkommensteuer, a. a. O.

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den, um die Ziele beim Steueraufkommen zu garantieren. löhne beschlagnahmten. Die Mehrheit der Regierungs- Das Einkommenskonzept war an die „Reinvermögens- fraktionen entschied sich deswegen für den direkten zugangstheorie“ angelehnt und damit weitreichender Lohnsteuerabzug, dessen Nachteile sie als nicht so gra- als die heutige Einkommensteuer. Es umfasste auch das vierend ansahen, zumal ursprünglich nur ein Teil der ab- selbstgenutzte Wohneigentum, Veräußerungsgewinne hängig Beschäftigten überhaupt steuerpfl ichtig gewesen und Lotteriegewinne. Abgezogen werden konnten Wer- wäre. Damit beschloss die Mitte-Links-Koalition letztlich bungkosten, darunter auch Fahrtkosten zum Arbeitsort jene Regelung, die bis zum Ende der Infl ationsjahre zur und Beiträge für Berufsverbände, sowie Vorsorgeaufwen- stärksten Belastung für die abhängig Beschäftigten wer- dungen, Spenden und Beiträge. Ferner wurden außerge- den sollte. Denn die Infl ation trieb in der Folgezeit fast alle wöhnliche Belastungen anerkannt. Eingeführt wurde eine Normalverdiener über das steuerfreie Existenzminimum. Haushaltsbesteuerung, bei der die Einkommen der Ehe- Dadurch, dass sie die Lohnsteuer direkt entrichteten, partner zusammen veranlagt wurden, einschließlich der hatten sie erhebliche Nachteile gegenüber den Einkom- zum Haushalt zählenden Kinder, soweit sie keine Arbeits- mensteuerveranlagten, deren Steuerbeträge auf das Ein- einkommen bezogen. kommen des Vorjahres bei Erreichen der Zahlungspfl icht infl ationsbedingt erheblich an Wert eingebüßt hatten. Als Grundfreibetrag steuerfrei blieben 1500 Mark für eine einzelne Person sowie 500 Mark für jede weitere Person, „Reichsnotopfer“ und Erbschaftsteuer die bei der Zusammenveranlagung einbezogen wurde, bzw. 700 Mark für Personen unter 16 Jahren. Für über- Besonders kontrovers war das „Reichsnotopfer“, ei- steigende Einkommen galt ein Stufentarif, der mit 10 % ne allgemeine Vermögensabgabe, mit der die exzessive einsetzte, über 50 weitere Stufen für die jeweils überstei- Staatsverschuldung abgebaut werden sollte.19 Sämtliche genden Einkommensintervalle um jeweils einen Prozent- Vermögen abzüglich Schulden sollten erfasst werden. Als punkt stieg und den Spitzensteuersatz von 60 % ab steu- Freibetrag waren 5000 Mark für jede Person im Haushalt erpfl ichtigen Einkommen von 500 000 Mark erreichte. Das vorgesehen. Das entsprach 1919 schätzungsweise dem Durchschnittseinkommen rentenversicherungspfl ichtiger 2,5-fachen des Durchschnittseinkommens und wären Arbeitnehmer lag 1919 bei 2000 Mark im Jahr. Anders als heute etwa 100 000 Euro. Der Steuertarif stieg progressiv bei den bisherigen Einkommensteuergesetzen der Län- von 12 % für die ersten 50 000 Mark steuerpfl ichtigen Ver- der war damit die Steuerpfl icht nicht nur auf die wohlha- mögens bis auf 65 % für steuerpfl ichtige Vermögen über benden Bürger beschränkt, sondern reichte bis weit in die 2 Mio. Mark. Juristische Personen wie Kapitalgesellschaf- Mittelschichten und zu gutverdienenden Facharbeitern ten und Stiftungen zahlten 10 %. Die Abgabe sollte über herunter. Angesichts der bisher weit verbreiteten Unter- 30 Jahre gezahlt werden, wobei die Ratenzahlungen mit erfassung der Einkünfte sollte der Steuervollzug durch 5 % verzinst wurden, Abgabenbelastungen auf Grundbe- Quellensteuern wie die Lohnsteuer und die Kapitalertrag- sitz konnten über 50 Jahre verteilt werden. Das Aufkom- steuern effektiver gemacht werden. Die Besteuerung der men wurde auf 70 Mrd. bis 90 Mrd. Mark geschätzt und juristischen Personen wurde in die Körperschaftsteuer sollte zumindest die infl ationstreibende „schwebende“ ausgelagert. Der Körperschaftsteuersatz betrug 10 %, für Verschuldung im Bankensystem beseitigen. ausgeschüttete Gewinne erhöhte sich der Steuersatz bis auf 20 %, die Doppelbelastung mit der Einkommensteuer Auch die Reform der Erbschaftsteuer war durch den ho- wurde nicht gemildert. hen fi skalischen Bedarf motiviert, der vor allem bei den wohlhabenden Schichten realisiert werden sollte.20 Die Im Steuerausschuss und in der zweiten und dritten Le- Erbschaftsteuer war bereits ab 1906 durch das Reich sung des Gesetzes stand dann vor allem der anvisierte vereinheitlicht worden, die Länder hatten aber Ertragsan- direkte Abzug der Lohnsteuer vom Lohn im Mittelpunkt. teile und weitere Gestaltungsmöglichkeiten. Die Reform Insbesondere die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) von 1919 übertrug die Steuer auf das Reich und machte und die Deutsche Volkspartei (DVP) lehnten das Vorhaben erstmals auch Ehegatten und Kinder steuerpfl ichtig. Für ab, weil sie dadurch einen zu großen Verwaltungsaufwand sie galten eine Freigrenze von 5000 Mark und progres- auf die Unternehmen zukommen sahen. Auch einige An- sive Steuersätze von 4 % bis 35 %. Dies hatten Junker gehörige der Regierungsparteien waren skeptisch, weil und Großagrarier im Kaiserreich am schärfsten und er- sie in der vorgezogenen Zahlungspfl icht der Lohnabhän- folgreich bekämpft, weil sie die langfristige Sicherung des gigen eine deutliche Benachteiligung erblickten. Für die Reform sprachen die erhebliche Verfahrensvereinfachung 19 A. Schmidt-Essen: Die große Einmalige, in: Wirtschaftsdienst, H. 30 für die Verwaltung und die Vermeidung von Protesten, zu vom 25.7.1919; R. van der Borght: Reichseinkommensteuergesetze 1919/20, a. a. O., S. 134 ff. denen es immer wieder kam, wenn die Steuerbehörden 20 R. van der Borght: Reichseinkommensteuergesetze 1919, a. a. O., zur Begleichung von Steuerrückständen ganze Wochen- S. 192 ff.

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Familienbesitzes bedroht sahen. Bei ferneren Verwandten durch Einkommensteuer, Reichsnotopfer oder Erbschaft- und Dritten galt nur eine Freigrenze von 500 Mark, der steuer schockierten das „Besitzbürgertum“ und die alten Spitzensteuersatz stieg auf 70 % und wurde noch ange- Eliten, insbesondere im Vergleich zu den bis dahin übli- hoben, wenn der Erbe Vermögen über 100 000 Mark be- chen geringen Belastungen der Vorkriegszeit. Dies führte saß. Zusätzlich wurde generell eine Nachlasssteuer auf zu einer dramatischen Zunahme der Kapitalfl ucht, die in Nachlässe über 20 000 Mark erhoben, deren Steuersätze ähnlicher Weise auch in anderen Hochsteuerländern wie bei höheren Übertragungen bis auf 5 % stiegen. Großbritannien und Frankreich zu beobachten war. Da- durch etablierten sich die ersten Steueroasen dauerhaft, Ferner wurden die „indirekten“ Verbrauch- und Umsatz- wobei die Schweiz die prominenteste Rolle einnahm. Für steuern ausgeweitet, um diese Steuerquellen ebenfalls die deutsche Wirtschaftselite hatten zudem die Niederlan- breit auszuschöpfen.21 Dies war vor allem bei den Sozi- de eine wichtige Funktion als Kapitalfl uchthafen.23 Bis weit aldemokraten unpopulär und brachte große Härten mit in die Mittelschichten hinein wurden nun viele Bürger mit sich, angesichts grassierender Armut in großen Teilen der Lohnsteuer und Einkommensteuer konfrontiert, die Sozi- Bevölkerung durch die anhaltend schlechte Versorgungs- albeiträge stiegen und die ebenfalls kräftigen Erhöhungen lage, die starken Preissteigerungen sowie die steigende von Umsatzsteuer und Verbrauchsteuern belasteten den Arbeitslosigkeit im Zuge der Demobilisierung. Die Um- Massenkonsum. Dies löste politischen Unmut und starken satzsteuer wurde als allgemeine Verbrauchsteuer ausge- Steuerwiderstand aus. Zudem waren die Reparationen baut.22 Hierfür plante das Finanzministerium zunächst mit verhasst, die man nicht mit hohen Steuern mitfi nanzieren einem allgemeinen Steuersatz von 1 % (bisher 0,5 %) so- wollte. Bei vielen konservativen Zeitgenossen galt das für wie einem zusätzlichen Steuersatz von 5 % auf den End- die Republik generell. verbrauch. Dies wurde aber nicht umgesetzt, stattdessen der allgemeine Steuersatz auf 1,5 % und später schritt- Vor allem entwertete die weiter steigende Infl ation die weise auf 2,5 % erhöht. Zusätzlich wurde der „Luxussteu- Steuerzahlungen. Daher scheiterten das Reichsnotopfer ersatz“ für einzelne Produkte des gehobenen Bedarfs und die Erhöhungen bei der Erbschaftsteuer in den Fol- von 10 % auf 15 % angehoben. Ferner wurde die Grund- gejahren weitgehend. Dies galt teilweise auch für die neue erwerbsteuer eingeführt. Auch die speziellen Verbrauch- Einkommensteuer. Ab 1923 wurde das Reichsnotopfer steuern wurden zum Teil empfi ndlich erhöht, vor allem die durch die Vermögensteuer abgelöst, die bis 1996 erho- Tabaksteuer, die Zündwarensteuer, die Spielkartensteuer, ben wurde. Die Erbschaftsteuer wurde in den Folgejahren die Schaumweinsteuer und die Post-, Telegraphen- und deutlich entlastet. Man halbierte 1922 den Höchstsatz der Fernsprechgebühren. Ergänzt wurde die Reform durch Erbanfallsteuer bei den nächsten Verwandten, was vor Gesetze gegen die Steuer- und Kapitalfl ucht. Das „Ge- allem erbenden Kindern zugutekam, denn die Ehegatten setz über Steuernachsicht“ sah eine Amnestieregelung wurden mit der Reform bis auf wenige Ausnahmen wieder für frühere Steuerhinterziehung vor, wenn die Besteue- vollständig steuerfrei gestellt.24 So spielte die Erbschaft- rungsgrundlagen nachgemeldet wurden. steuer im Gegensatz zu Großbritannien und den USA für das Steueraufkommen weiterhin nur eine untergeordne- Durchbruch zum modernen Steuer- und te Rolle und ermöglichte so die weitgehend unbelastete Wohlfahrtsstaat in Deutschland Weitergabe großer Vermögen.

Die Steuer- und Finanzreformen waren zunächst fi skalisch Erzberger selbst erlebte die Weiterentwicklung seiner Re- nur wenig erfolgreich und konnten das Abrutschen in die formen nicht mehr. Nach persönlichen Angriffen durch Hyperinfl ation von 1923 nicht verhindern. Die neu entste- den rechtskonservativen früheren Staatssekretär des hende Finanzverwaltung war am Anfang kaum in der Lage, Reichsschatzamtes, , der vor Gericht we- die stark ausgeweiteten Steuern auf hohe Einkommen und gen seiner Beleidigungen nur zu einer geringen Geldstra- Vermögen sachgerecht zu veranlagen. Viele der schnell fe verurteilt wurde, trat er im März 1920 zurück. Erzberger entwickelten steuertechnischen Regelungen erwiesen wurde zur Symbolfi gur der in bürgerlich-konservativen sich als wenig praktikabel oder verbesserungsbedürftig. Kreisen zumeist abgelehnten Republik. Dazu trugen wohl Bei den Steuerpfl ichtigen waren Bereitschaft und Möglich- auch die Steuer- und Finanzreformen maßgeblich bei. keiten zur Mitwirkung gering. Die auch aus heutiger Sicht Zudem wurde Erzberger von der rechten Propaganda als massiven Belastungen hoher Einkommen und Vermögen „Novemberverbrecher“ geschmäht, weil er sich in den

21 Ebenda, S. 150 ff.; R. van der Borght: Reichseinkommensteuergeset- 23 C. Farquet: La Défense du paradis fi scal suisse avant la seconde ze 1919/20, a. a. O., S. 80 ff. guerre mondiale: une histoire internationale, Neuchatel 2016. 22 A. Schmidt-Essen: Die neue Umsatzsteuer, in: Wirtschaftsdienst, 24 J. Beckert: Unverdientes Vermögen. Soziologie des Erbrechts, Frank- H. 34 vom 22.8.1919. furt a. M. 2004, S. 273 f.

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letzten Kriegsjahren für einen Verständigungsfrieden ein- bäudeentschuldungssteuern der Länder (Hauszinssteu- gesetzt und im November 1918 die deutsche Delegation er), die Schuldnergewinne der Immobilienbesitzer nach geleitet hatte, die den Waffenstillstand unterzeichnete. Im der Währungsumstellung abschöpften. August 1921 wurde er von Rechtsradikalen ermordet, die ins Ausland fl iehen konnten und 1933 von den National- Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Weimarer Republik sozialisten amnestiert wurden. war im Vergleich zum Kaiserreich deutlich interventionisti- scher und wohlfahrtsstaatlicher ausgerichtet. Die sozialen Nach der Währungsstabilisierung 1924 sicherten die Sicherungssysteme und die öffentliche Daseinsvorsorge Steuer- und Finanzreformen dann aber die Konsolidie- wurden ausgebaut. In diesem Kontext entstand eine inten- rung der öffentlichen Finanzen. Diese gelang durch die in- sive Diskussion über die Tragfähigkeit der hohen Steuer- zwischen verbesserte Steuererhebung und konsequente und Abgabenbelastungen für Wirtschaft und Bevölkerung, Ausgabendisziplin. Im Zuge weiterer Reformen wurden in die den heutigen Debatten gleicht.27 Wirtschaftsverbände den nächsten Jahren zahlreiche steuertechnische Män- sowie liberale und konservative Politiker verlangten Ent- gel und Übergangsregelungen beseitigt.25 Ab 1925 re- lastungen, während Sozialkonservative, Linksliberale, So- duzierte die regierende bürgerlich-konservative Koalition zialdemokraten und Gewerkschaften die wohlfahrtsstaat- die Steuerbelastungen, der Spitzensatz der Einkommen- lichen Errungenschaften erhalten und ausbauen wollten. steuer sank auf 40 %, der Umsatzsteuersatz auf 0,75 %. Einkommensteuer und Körperschaftsteuer wurden steu- Revolution und Evolution des deutschen ertechnisch überarbeitet, das Bewertungsgesetz schaffte Steuersystems einheitliche Besteuerungsgrundlagen für sämtliche ver- mögensbezogenen Steuern. Vor 100 Jahren zentralisierten und modernisierten die „Erz- bergerschen Steuer- und Finanzreformen“ das Steuersys- Im Jahr 1925 lag die gesamtwirtschaftliche Steuerbelas- tem und die Finanzverfassung in Deutschland umfassend tung bei 15 % des BIP und hatte sich damit gegenüber und schufen damit Grundlagen, die bis heute wirksam den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nahezu verdop- sind. Die Belastungen mit Steuern und Sozialbeiträgen ver- pelt.26 Auch die Sozialbeiträge waren gestiegen und wur- doppelten sich. Seit dieser Revolution verliefen die Steuer- den weiter erhöht, vor allem durch die Einführung der reformprozesse evolutionär. NS-Regime und Zweiter Welt- Arbeitslosenversicherung 1927. In den Grundstrukturen krieg erhöhten die Belastungen weiter. Seit den 1950er entstand damit nach den Erzbergerschen Reformen das Jahren bewegte sich die gesamtwirtschaftliche Steuerbe- heutige Steuersystem mit Umsatzsteuer und speziellen lastung in Deutschland meist zwischen 22 % und 24 % des Verbrauchsteuern einerseits sowie den Einkommensteu- BIP. Auch die Grundstrukturen des Steuersystems und der ern einschließlich Körperschaft- und Gewerbesteuer an- Finanzverfassung blieben seitdem weitgehend erhalten. dererseits als den beiden Grundpfeilern des Steuerstaats. Hinzu kamen die vermögensbezogenen Steuern, die da- Die einzelnen Steuern und die Zusammensetzung der mals ein viel größeres Gewicht hatten als heute. Dies be- Steuerbelastungen wurden allerdings häufi g verändert. traf Grunderwerbsteuer, Kapitalverkehrssteuern, Grund- Größere Steuerreformen waren der Übergang bei der steuer, die Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und die Ge- Umsatzsteuer zur Mehrwertsteuer Ende der 1960er Jah- re, die Einkommen- und Körperschaftsteuerreformen der 25 M. Buggeln: Die Debatten um staatliche Zugriffsmöglichkeiten auf 1970er Jahre, die schrittweisen Einkommensteuerrefor- den privaten Reichtum. Der Einkommensteuerspitzensatz in Deutsch- men von 1996 bis 2005, die Unternehmensteuerrefor- land 1871-1955, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsge- men 2001 und 2008, die Erhöhung der Mehrwertsteuer in schichte, 105. Jg. (2018), H. 3, S. 337-364; M. Hacker, a. a. O., S. 201 ff.; F. Terhalle: Zur Reichsfi nanzreform von 1925, in: Zeitschrift für die den 1990er und 2000er Jahren sowie die Ausweitung der gesamte Staatswissenschaft, 80. Jg. (1925), S. 289-340. Energiesteuern 1999 bis 2003. 26 S. Bach: 100 Jahre deutsches Steuersystem. Revolution und Evoluti- on, DIW Discussion Paper, Nr. 1767, Berlin 2018, S. 6; ders.: 100 Jahre deutsches Steuersystem: Grundlagen, Reformen und Herausforde- rungen, in: DIW Wochenbericht, Nr. 47/2019, S. 858-863. 27 H.-P. Ullmann, a. a. O., S. 123 ff.

Title: Birth of the Modern Tax State in 1919-1920 Abstract: 100 years ago, the “Erzberger fi scal reforms” fundamentally reshaped public fi nances in Germany. They centralised the fi scal constitution and modernised the tax system comprehensively. Personal income tax corporate income tax, and inheritance tax were har- monised nationwide and signifi cantly increased. Moreover, a capital levy was introduced and indirect taxes were increased. The overall tax burden has doubled since 1925. These reforms shape the foundations of public fi nances and the tax system to this day. JEL Classifi cation: N44, H20, H11

Wirtschaftsdienst 2020 | 1 48