Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit Chloe

Beihefte zum Daphnis

Herausgegeben von Barbara Becker-Cantarino – Mirosława Czarnecka Franz Eybl – Klaus Garber – Ferdinand van Ingen Knut Kiesant – Ursula Kocher – Wilhelm Kühlmann Wolfgang Neuber – Hans-Gert Roloff – Alexander Schwarz Ulrich Seelbach – Robert Seidel – Jean-Marie Valentin Helen Watanabe-O’Kelly

BAND 43

Amsterdam - New York, NY 2010 Theorie und Praxis der Kasualdichtung in der Frühen Neuzeit

Herausgegeben von Andreas Keller, Elke Lösel, Ulrike Wels und Volkhard Wels The paper on which this book is printed meets the requirements of "ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents - Requirements for permanence".

ISBN: 978-90-420-3104-3 E-Book ISBN: 978-90-420-3105-0 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2010 Printed in The Netherlands

VORWORT

Die hier versammelten Beiträge zur Theorie und Praxis der Kasual- dichtung in der Frühen Neuzeit sind das Ergebnis einer Tagung, die vom 27. bis 29. Juni 2008 von den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Neuere deutsche Literatur (Frühe Neuzeit) der Universität Potsdam im Haus der brandenburgisch-preußischen Geschichte in Potsdam veran- staltet wurde. Die Veranstalter und damit auch die Herausgeber dieses Bandes danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die finan- zielle Unterstützung der Tagung und den “Chloe”-Herausgebern für die Aufnahme in die Reihe. Wie die Tagung, so sei auch dieser Band Knut Kiesant zu seinem 65. Geburtstag gewidmet. Die Beiträge zeigen in der Vielfalt der besprochenen Texte das un- endlich wandelbare Antlitz der ‘Göttin Gelegenheit’. Dabei sind nun unversehens auch die Aufsätze dieses Bandes “Gelegenheitstexte” geworden – nämlich zu Ehren Knut Kiesants. In der Frühen Neuzeit verfasste man für den Patron ein Gedicht – wir überreichen diesen Band. Tempora mutantur.

INHALT

Einleitung. ‘Gelegenheitsdichtung’ – Probleme und Perspektiven der Forschung Von Volkhard Wels ...... 9

Gelegenheitsdichtung. Zehn Thesen – in Begleitung zu einem for- scherlichen Osnabrücker Groß-Projekt Von Klaus Garber ...... 33

Das Testfeld der Poesie. Empirische Betrachtungen aus dem Osna- brücker Projekt zur ‘Erfassung und Erschließung von personalen Gelegenheitsgedichten’ Von Martin Klöker ...... 39

Aus den Schätzen der Sammlung Genealogica der Nürnberger Stadt- bibliothek. Neues zu Johann Hellwig und Johann Christoph Arnschwanger Von Karl F. Otto, Jr...... 85

Fehlende Vorschriften. Zur Normierung der Kasualpoesie in der barocken Reformpoetik und ihrer Verschränkung mit traditionellen Regelkorpora Von Stefanie Stockhorst ...... 97

Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive Von Heiko Droste ...... 129

Theater, Drama und ‘Gelegenheit’ im 16. und 17. Jahrhundert Von Hans-Gert Roloff ...... 147

Bartholomäus Andreades und seine Beschreibung des Heiligen Grabes in Görlitz Von Jörg Jungmayr ...... 173

Andreas Tscherning. Konstruktionen von Autorschaft zwischen universitärem Amt, urbaner Öffentlichkeit und nationaler Literaturreform Von Ralf Georg Bogner ...... 185

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Vier Hochzeiten und ein Todesfall: Schäferliche Gelegenheits- dichtung im 17. Jahrhundert Von Christiane Caemmerer ...... 197

Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei und um Daniel Czepko Von Siegfried Wollgast ...... 211

Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? Das kasuale Substrat der Sonettbücher des Andreas Gryphius Von Thomas Borgstedt ...... 229

Innovation gegen Tradition: Der Berliner Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Von Peter-Michael Hahn ...... 245

Höfische Trauer und die Darstellung der fürstlichen Gemahlin. Zur Funktion des Trauergedichts am Berliner Hof zwischen 1667 und 1705 Von Sara Smart ...... 277

‘Private Gelegenheit’? Die Poesie Ludwigs VI. von Hessen-Darmstadt (1630-1678) zwischen Gelehrsamkeit, Repräsentation und Subjektivität Von Helga Meise ...... 303

Zwischen Tradition und Subversion: Zur Gelegenheitsdichtung des Schlesiers Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau Von Marie-Thérèse Mourey ...... 323

“Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle”. Die lyrische Verarbeitung eines Topos der Hohelied-Exegese in der Kasuallyrik Sigmund von Birkens Von Johann Anselm Steiger ...... 343

Architekturformen und -elemente in der schlesischen Kasualdichtung: Mühlpfort, Christian Gryphius, Hoffmannswaldau Von Ferdinand van Ingen ...... 367

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“Von der Väter Kunst”. Johann Christian Günthers kasualpoetische Selbstpositionierung Von Rudolf Drux ...... 381

Galante versus casuale Poesie. Das Feld der Lyrik im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts Von Dirk Rose ...... 391

Gelegenheit macht Verse. Kasuallyrik bei Johann Gottfried Schnabel Von Dietrich Grohnert ...... 415

Die aufklärerische Kritik an der Gelegenheitsdichtung in Gottlieb Wilhelm Rabeners Satiren Von Winfried Siebers ...... 427

Freundschaft statt Poetik oder Poetik der Freundschaft? Wie Schüler des Elbinger Gymnasiums in der Mitte des 18. Jhs. im Kasualdruck über Gelegenheitsdichtung reflektieren Von Fridrun Freise ...... 439

“Gross durch den Sieg des Königs.” Zur Preußendichtung von Wilhelm Ludwig Gleim und Anna Louisa Karsch Von Barbara Becker-Cantarino ...... 471

“Bodmers Armen entgegen” – Gelegenheitspoesien im Kreis der Zürcher Aufklärer Von Anett Lütteken ...... 489

V o l k h a r d W e l s

EINLEITUNG ‘Gelegenheitsdichtung’ – Probleme und Perspektiven ihrer Erforschung

Ohne dass es die Herausgeber dieses Bandes so geplant oder auch nur geahnt hätten, ist dieser Band vor allem eines geworden, nämlich eine Herausforderung gängiger Überzeugungen. Wer die Beiträge in ihrem Zusammenhang liest, könnte sich fragen, was von der Gattung der ‘Gelegenheitsdichtung’ und den ihr zugeschriebenen Eigenschaften am Ende eigentlich noch übrigbleibt. Ich möchte im Folgenden ver- suchen, die Ergebnisse der Beiträge mit dem Stand der Forschung ab- zugleichen, die Kritik zusammenzufassen und gleichzeitig so zuzu- spitzen, dass einige allgemeinere Perspektiven deutlich werden. Das entscheidende Problem stellt offensichtlich der Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ selbst dar. Zahlreiche der Kriterien, die bisher für die Beschreibung des Phänomens namhaft gemacht wurden, halten der detaillierten Analyse nicht stand. Zu nennen wären: Erstens, eine fehlende ‘Subjektivität’ oder ‘Individualität’ der ‘Gelegenheitsdich- tung’; zweitens deren starke Normierung, mithin der Vorwurf, dass die Gelegenheitsdichtung der Frühen Neuzeit mehr durch das Regel- system der zeitgenössischen Poetiken hervorgebracht sei; drittens eine starke ‘Rhetorizität’, worunter eine Normierung im Sinne der Rhetorik zu verstehen wäre, die diese Gelegenheitsdichtung von der ‘unrhetori- schen’ und deshalb ‘schöpferischen’, ‘subjektiven’ Dichtung des spä- teren 18. Jahrhunderts unterschiede. Den ersten Punkt, die mangelnde ‘Subjektivität’ oder ‘Individuali- tät’ der ‘Gelegenheitsdichtung’, widerlegen nachdrücklich mehrere Beiträge. Thomas Borgstedt macht ihn explizit zum Gegenstand der Diskussion. Anhand einiger Gedichte aus der Sonettsammlung des Andreas Gryphius zeigt Borgstedt, dass es mit der angeblich fehlen- den ‘Subjektivität’ und ‘Individualität’ dieser Sonette nicht weit her ist. Wenn Gryphius Epitaphe auf das Grab des Vaters und der Mutter verfasst oder die Bibliothek seines Mäzens bedichtet, dann sind diese

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Gedichte alles andere als ‘überpersönliche Kennzeichnungen’, die auf alles Affektive, Individuelle und Persönliche zugunsten des ‘Exempla- rischen’ und der ‘Verkündigung allgemeingültiger Werte’ verzichte- ten. Ganz im Gegenteil: Gryphius – so könnte man die Kritik Borg- stedts zuspitzen – geht, ganz wie es später Goethe dekretieren wird, von der Wirklichkeit aus, die ihm “Anlass und Stoff” für seine Ge- dichte liefert, und er bearbeitet diese Wirklichkeit in einer durchaus persönlichen Weise. Was Goethe behaupten wird – “Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter be- handelt”1 –, gilt auch schon für Gryphius. Mit der Analyse Borgstedts ist freilich nicht gesagt, dass es nicht im 17. Jahrhundert zahlreiche Epitaphe auf Mütter und Väter gäbe, die sich tatsächlich auf ‘überpersönliche Kennzeichnungen’ und das Exemplarische eines Lebenslaufes beschränkten. Die Fronten verlau- fen nicht anders als in der Gegenwart: Ganz so, wie es auch heute zahllose Trauerreden gibt, die sich auf diese “überpersönlichen Kenn- zeichnungen” und das Exemplarische eines Lebenslaufs beschränken, gibt es auf der anderen Seite Trauerreden, die die ‘subjektive’ und persönliche Lebensanschauung ihrer Verfasser zum Ausdruck brin- gen. Entscheidend ist die Persönlichkeit des Dichters und Redners und sein Engagement im jeweils konkreten Fall, so trivial diese Feststel- lung klingt. Der Beitrag von Siegfried Wollgast gibt ein schönes Bei- spiel für diese Behauptung, indem er an den Leichenreden Daniel Czepkos genau das zeigt, nämlich wie hier eine höchst individuelle Form der parentatio auf die Prinzessin Louise neben einer üblichen, an den kirchlichen Normen und Erwartungen orientierten Leichenpredigt steht. Auch in der Frühen Neuzeit wusste man zwischen diesen beiden Formen zu unterscheiden, wie die Tatsache zeigt, dass Czepko seine Trauerrede in kleinem Kreis gehalten hat, während die herkömmliche Rede dem offiziösen Rahmen der Feierlichkeiten diente. Der Beitrag von Ralf-Georg Bogner zeigt, dass die beiden Lyrik- sammlungen Andreas Tschernings nicht das Ergebnis “entfremdeten Schreibens” sind, wie Bogner den Sachverhalt der angeblich fehlen- den Individualität und ‘Subjektivität’ bezeichnet. Diese Lyriksamm- lungen sind nicht einfach in Form eines “amorphen und inhomogenen Sammelsuriums” zusammengestellt worden, sondern bilden einen

1 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Le- bens. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 12. Frankfurt a.M. 1999, S. 50 (18. Sept. 1823).

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“prototypischen und teils explizit programmatischen Entwurf von Autorschaft”. Dieser “Entwurf von Autorschaft” entspricht offen- sichtlich nicht den Erwartungen des am 18. und 19. Jahrhundert ge- schulten Lesers, nichtsdestotrotz kommt ‘Individualität’ und ‘Subjek- tivität’ in ihm zum Ausdruck. In dieselbe Richtung geht der Beitrag von Marie-Thérèse Mourey, die sich des Begriffes der “Subversion” bedient, um die ‘Individuali- tät’ und ‘Subjektivität’ der angeblich normierten ‘Gelegenheitsge- dichte’ Hoffmannswaldaus zu beschreiben. Mourey kann zeigen, dass sich die Kasualdichtung Hoffmannswaldaus keineswegs auf die Er- füllung jener Zwänge beschränkte, die ihr die jeweilige Gelegenheit auferlegte. Schon die Tatsache, dass Hoffmannswaldau den Adressa- tenbezug in der Ausgabe seiner gesammelten Dichtungen löschte, im Gegensatz zu den für den Anlass erstellten Einzeldrucken, macht deut- lich genug, dass er, ganz wie Goethe, die Wirklichkeit nur zum “An- lass und Stoff” nimmt. Auch Ferdinand van Ingen zeigt in seinem Beitrag, welch unterschiedliche und höchst individuelle Formen die Verwendung architektonischer Metaphern in den Trauerdichtungen Mühlpforts, Christian Gryphius’ und Hoffmannswaldaus annehmen kann. Ein weiteres eindrückliches Beispiel liefert der Beitrag Helga Meises, die an den Gedichten Ludwigs VI. von Hessen-Darmstadt zeigt, wie die Dichtung als “eigene Wirkmacht” im Leben dieses Dichters etabliert wird, in einem Bruch mit der “überkommenen höfi- schen Ästhetik”, also doch wohl in einer höchst ‘subjektiven’ und ‘in- dividuellen’ Ausprägung. Schon die biographische Tatsache, dass es die Trauer um den Tod der Gattin ist, die Ludwigs poetische Produk- tion in Gang setzt, macht dessen persönliche Motivation deutlich. Eine ‘private Gelegenheit’, wie Meise paradox formuliert, gibt es nicht. Wer die Inschriften für seinen eigenen Sarg dichtet, kann schon allein durch diese höchst individuelle Aneignung der Tradition keine ‘nor- mierte Gelegenheitsdichtung’ hervorbringen. Was Bogner für den universitären, Mourey und Meise für den höfi- schen Kontext zeigen, das gilt schließlich auch für den geistlichen Kontext, wie der Beitrag von Johann Anselm Steiger an einer Passi- onsandacht Sigmund von Birkens demonstriert. Das ungeheure Lite- raturflöz, das die geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts darstellt, bildet mitnichten eine Wiederholung des immer gleichen biblisch vor- gegebenen Materials, bildet mitnichten eine in ihrer Normiertheit

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‘entsubjektivierte’ und entpersönlichte Dichtung, sondern stellt in den Händen eines Dichters wie Birken eine Verfügungsmasse dar, die höchst individuell auf den konkreten Fall bezogen wird. Steiger kehrt den Spieß sogar um und diagnostiziert einen Mangel an Individualität und ‘Subjektivität’ für die ‘Moderne’, die in ihren “sprachlich meist völlig verarmten Todesanzeigen” den Epicedien des 17. Jahrhunderts nicht das Wasser reichen könne. Mit der bloßen Tatsache der Anlassbezogenheit einer Dichtung ist damit – so banal diese Schlussfolgerung scheint – nichts über die ‘Subjektivität’ dieser Dichtung ausgesagt. Genauso wie für die ‘Mo- derne’ gilt für das 17. Jahrhundert, dass das Maß an ‘Individualität’, das ein Dichter seiner Dichtung zu geben bereit ist, von seiner persön- lichen Entscheidung, seinen stilistischen Fähigkeiten, den Ge- schmacksnormen seiner Zeit und dem Ausmaß, in dem er sich diesen zu fügen gewillt ist, abhängt. Diesen aus der Praxis, aus der Analyse von ‘Gelegenheitsdichtun- gen’ abgeleiteten Befund bestätigt die Theorie der Zeit. Während das gängige Vorurteil will, dass die Poetiken der Frühen Neuzeit die In- stanzen sind, in denen die Regeln für die Normierung der Dichtung kodifiziert worden sind, zeigt der Beitrag von Stefanie Stockhorst, dass davon keine Rede sein kann. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt. Die Existenz einer Textgattung “Poetik” in einer bestimmten Zeit besagt nicht, dass die poetischen Texte dieser Zeit sich den Re- geln dieser Poetik fügen. Die Existenz einer Textgattung “Poetik” in der Frühen Neuzeit erzwingt keineswegs die Annahme, dass diese Po- etiken tatsächlich eine normative Funktion ausgeübt haben. Im Blick auf die ältere Forschung wird man sagen müssen, dass die Annahme eines solch simplen Verhältnisses im Sinne von Ursache (Poetik) und Wirkung (poetische Texte) von einer gewissen Naivität zeugt. Der Beitrag von Stockhorst führt in aller wünschenswerten Deutlichkeit aus, dass diese Annahme auch für das angeblich so stark normierte ‘Genre’ der ‘Gelegenheitsdichtung’ nicht zutrifft, ja mehr noch, dass die Poetiken der Zeit keine oder kaum regulative Anwei- sungen für das Abfassen von ‘Gelegenheitsgedichten’ enthalten. Der Dichter der Zeit – wenn er denn überhaupt auf die Idee kam, von Poe- tiken Hilfestellung für den konkreten Fall zu erwarten – war auf sich selbst – und das heißt doch wohl: auf seine ‘Individualität’, ‘Subjekti- vität’ und Persönlichkeit – verwiesen. Erst am Ende der Frühen Neu-

Chloe 43 Einleitung 13 zeit beginnen Poetiken im Sinne von konkreten, regulativen Anwei- sungslehren zu erscheinen. Dieser Befund hat nicht nur Konsequenzen für die Wahrnehmung der Dichtung der Frühen Neuzeit, sondern in zumindest gleichem Maße auch für die Wahrnehmung der Poetiken. Diese müssen als eine eigene Textgattung mit eigenen Traditionen und Gesetzen interpretiert werden, deren Verhältnis zur poetischen Praxis der Zeit grundsätzlich neu zu bedenken ist. Dabei muss die Entwicklung innerhalb der Frü- hen Neuzeit in Betracht gezogen werden, denn es ist ebenfalls offen- sichtlich, dass dieses Verhältnis von Theorie und Praxis starken Schwankungen unterworfen ist. Konrad Celtis’ Ars versificatoria kann in einem anderen Verhältnis zur Praxis stehen als Opitz’ Poeterey, die sich wiederum ganz anders zu dieser verhalten kann als Gottscheds Critische Dichtkunst. Soviel dürfte man der notwendigen Erforschung dieses Zusammenhangs vorwegnehmen können, ohne den Ergebnis- sen vorzugreifen. Insofern dem Befund von Stockhorst in seiner Eindeutigkeit nichts hinzuzufügen ist, komme ich gleich zum dritten Punkt, der ‘Rhetorizi- tät’ der frühneuzeitlichen Dichtung. Indem in dieser Eigenschaft der ‘Rhetorizität’ die angeblich mangelnde ‘Individualität’ resp. ‘Subjek- tivität’ und die angeblich in den Poetiken programmierte ‘Normativi- tät’ der frühneuzeitlichen Dichtung ihr Fundament hat, mag es erlaubt sein, diesen Punkt etwas ausführlicher zu behandeln. Gemeint ist mit der ‘Rhetorizität’ der frühneuzeitlichen Dichtung offensichtlich etwas Ähnliches wie mit deren vermeinter poetologi- schen Normierung, nämlich die Überzeugung, dass diese Dichtung aufgrund der Anwendung rhetorischer Regeln entstand, ‘Subjektivität’ und ‘Individualität’ sich aber nur äußern können, wo keine Regeln zur Anwendung kommen. ‘Individualität’ könnte sich mithin nur in den Nischen und Reservaten äußern, in denen die Rhetorik nicht zur An- wendung käme, wie etwa im ‘schöpferischen Ingenium’ des ‘großen’ Dichters, was auch immer damit gemeint sein soll. Diese Überzeu- gung, wenn auch hier überspitzt formuliert, lag der älteren Forschung in einer Fehlinterpretation der Studien vor allem von Barner und Dyck uneingestandenermaßen über weite Strecken zu Grunde. ‘Rhetorische’ Dichtung galt als ‘gemachte’, ‘künstliche’ und eben damit als ‘unper- sönliche’ und ‘entsubjektivierte’. Dieser Deutung ist mit aller Schärfe entgegenzuhalten, das die Rhetorik kein normatives Regelwerk ist, das man beim Schreiben ei-

Chloe 43 14 Volkhard Wels nes poetischen Textes anwenden (Frühe Neuzeit) oder nicht anwenden könnte (Moderne). Die Rhetorik ist kein normatives Lehrgebäude, das wie eine Maschine Texte produzierte, sondern sie ist eine deskriptive, immer und überall aus dem menschlichen Sprachgebrauch abgeleitete Wissenschaft. Das Mittelalter und die Frühe Neuzeit waren sich dieser Tatsache – im Gegensatz zur ‘Moderne’ – bewusst, indem man die Rhetorik zusammen mit der Grammatik und Logik im sogenannten Trivium zusammenfasste. Denn wie die Grammatik die grammati- schen und die Logik die argumentativen Strukturen von Texten analy- siert, so ist auch die Rhetorik eine deskriptive Technik, mittels derer man die jedem Text zugrundeliegenden, rhetorischen Prinzipien ar- gumentativer und stilistischer Natur analysieren kann. Erst in zweiter Linie – und auch hier in vollkommener Parallele zur Grammatik und Logik – kann man diese rhetorischen Prinzipien dann bewusst aus dem deskriptiven Regelwerk heraus lernen, lehren und zur Anwendung bringen. Während aber kein Mensch davon spricht, dass die Dichtung der Frühen Neuzeit grammatisch wäre, meint man, mit dem Begriff ‘rhetorisch’ ein definierendes Merkmal dieser Dich- tung zu beschreiben. Dem ist entgegen zu halten, dass jede Dichtung auf genau denselben rhetorischen Regeln beruht und sich aus der ‘Rhetorizität’ mithin kein Distinktionsmerkmal der Frühen Neuzeit ergibt. Was mit der angeblichen ‘Rhetorizität’ der frühneuzeitlichen Dich- tung gemeint war, und worin tatsächlich ein Distinktionsmerkmal die- ser Dichtung besteht, ist die Art, in der die Rhetorik in der Frühen Neuzeit praktiziert wurde. Diesen Unterschied in seinen konkreten Ausformungen in der Theorie und Praxis herauszuarbeiten, gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Forschung. Ein Gedicht Goethes ist ge- nauso ‘rhetorisch’ wie jedes beliebige Gedicht des 17. Jahrhunderts. Die entscheidende Frage lautet, wie sich in rhetorischer Terminologie der Unterschied zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert beschrei- ben lässt. Wer die Stilfiguren in Goethes “Über allen Gipfeln ist Ruh” analy- siert, wie es Heinrich Lausberg einmal in einem leider wenig beach- teten Aufsatz programmatisch getan hat,2 der kann an der ‘Rhetorizität’ der sogenannten ‘Erlebnislyrik’ nicht zweifeln. Zahlrei- che sogenannte ‘Gelegenheitsgedichte’ des 17. Jahrhunderts dürften,

2 Heinrich Lausberg: Rhetorik und Dichtung. In: Der Deutschunterricht 18/6 (1966), S. 47-93, zu Goethe S. 73-89.

Chloe 43 Einleitung 15 was etwa die Zahl der Stilfiguren pro Vers betrifft, weit hinter Goethe zurückbleiben. Fast möchte man es da bedauern, dass die große Zeit der Positivisten, die solche Stilfiguren gezählt und beschrieben haben, vorbei ist. Wenn aber nicht die Stilfiguren für die ‘Rhetorizität’ eines Gedichtes verantwortlich sind, was soll diese ‘Rhetorizität’ dann aus- machen? Geht, wer immer von einer solchen ‘Rhetorizität’ spricht, nicht gerade jener “empfindsamen Wende” (die Klaus Garber in sei- nem Beitrag zu Recht für den Verfall der ‘Gelegenheitsdichtung’ ver- antwortlich macht) auf den Leim? Die Antwort auf diese Fragen lautet, dass es sich bei der “empfind- samen Wende” nicht um eine Revolution des Literaturbegriffs han- delt, wie uns die “Empfindsamkeit” (und damit meine ich einen Zeit- raum, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt) glauben machen will, sondern ‘nur’ um eine stilgeschichtliche Revolution. Ergebnis dieser stilgeschichtlichen Revolution ist die Überzeugung, dass ein ‘natürlicher’ Stil, der sich derjenigen Stilfiguren bedient, deren sich auch die ‘Empfindung’ selbst bedienen würde, besser ist als ein ‘künstlicher’ Stil, der gerade die Stilfiguren bevorzugt, die ihre Sel- tenheit, mithin ihre ‘Gesuchtheit’, offensiv vorträgt. Eine “Formge- schichte der deutschen Dichtung”, um hier den Titel des leider gar nicht mehr so berühmten Werkes von Paul Böckmann zu zitieren, hätte die Aufgabe, diese stilgeschichtliche Veränderung in ihren De- tails zu beschreiben. Sie hätte zu erfassen, wie die offensiv-‘künstli- chen’ Stilmittel der Parallelismen, Anaphern, Alliterationen und weit hergeholten Metaphern den Stilmitteln der Inversion, Aposiopese und Exclamatio weichen müssen, im selben Augenblick, in dem das Phantasma der ‘Natürlichkeit’ in der Kultur überhaupt seinen un- glaublichen und bis heute anhaltenden Aufschwung nimmt. Auch Goethe – um diesen Punkt noch einmal klar zu formulieren – bediente sich bei Anfertigung seiner Gedichte der rhetorischen Me- thoden der inventio, dispositio und elocutio, ob er es nun wusste oder nicht. Auch ‘Subjektivität’ und ‘Individualität’ sind rhetorisch kon- struierte Formen der Erscheinungsweisen von Texten. Das ist die Lektion der Rhetorik. Zu dieser Lektion gehört mithin auch, dass es nicht ‘eine’ Rhetorik gibt, die in der Antike erfunden, dann über die Jahrhunderte tradiert worden wäre und dabei jeweils mehr oder weni- ger Beachtung gefunden hätte, sondern dass die Rhetorik so vielfältig ist wie die Geschichte selbst. Zu dieser Geschichte der Rhetorik ge- hörte ihre stark logische Verfasstheit im 16. Jahrhundert, die klassi-

Chloe 43 16 Volkhard Wels zistische Rekonstruktion der antiken Rhetorik im 17. Jahrhundert und die ‘empfindsame Wende’ der Rhetorik im 18. Jahrhundert.3 Die Rede von der “rhetorischen Epoche” der Frühen Neuzeit ist allein insofern gerechtfertigt, als die Rhetorik dort in einer ganz bestimmten, in der Tat sehr offensiven Form, das literarische Antlitz der Zeit prägte. Während das kommunikative Paradigma des 17. Jahrhunderts am Ideal der Kunst und ‘Künstlichkeit’ orientiert ist, ist das kommunika- tive Paradigma nach der ‘empfindsamen Wende’ am Ideal der Natur und ‘Natürlichkeit’ orientiert. Für die ‘Gelegenheitsdichtung’ als ‘Genre’– und damit komme ich wieder zurück zum vorliegenden Band – besagt dieser Befund nichts Geringeres, als dass ihre Existenz in der Frühen Neuzeit höchlichst in Zweifel zu ziehen ist. Auch der inauguralen Studie von Wulf Sege- brecht liegt der “rhetorische Trugschluss” zugrunde, wenn in einem langen Kapitel mit dem Titel “Vollständige und deutliche Anleitung zur Anfertigung von Carmina auf allerhand Gelegenheiten”4 der Ein- druck erweckt wird, dass sich die dort beschriebene ‘Anleitung zur rhetorischen Verfertigung von Gelegenheitsgedichten’ allein auf die ‘Gelegenheitsdichtung’ der Frühen Neuzeit bezöge. Es wird der Ein- druck erweckt, als sei die ‘Rhetorizität’ ein definierendes Merkmal der ‘Gelegenheitsdichtung’. Wenn ‘Rhetorizität’ genauso wenig wie fehlende ‘Subjektivität’ und poetologische Normiertheit ein definierendes Kennzeichen der ‘Gattung’ ist, dann hat der Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ das letzte Merkmal verloren, das ihn als historische Kategorie legitimiert. Das auf den ersten Blick so klar erkennbare Feld der ‘Gelegenheits- dichtung’ verliert mit zunehmender Tiefenschärfe seine Konturen. Es stellt sich die Frage, ob diesem Begriff überhaupt ein historisches Substrat zugrundeliegt, oder ob wir es nicht vielmehr mit einer ideolo- gischen Konstruktion zu tun haben. In der Tat taucht der Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ erst auf, als der eigentliche Höhepunkt dieser ‘Gattung’ überschritten ist, nämlich Mitte des 18. Jahrhunderts. Seit der Studie von Segebrecht gilt Gott- scheds Verwendung des Begriffs im Jahr 1746 als frühester Beleg. Für

3 Zur Rhetorik im 18. Jahrhundert vgl. jetzt grundlegend Dietmar Till: Transforma- tionen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. 4 Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poe- tik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 111-151.

Chloe 43 Einleitung 17 die Neuheit des Begriffs zu diesem Zeitpunkt spricht schon die Tat- sache, dass Gottsched selbst den Begriff im Titel seiner Untersu- chung, ob es einer Nation schimpflich sey, wenn ihre Poeten kleine und sogenannte Gelegenheitsgedichte verfertigen mit einem “soge- nannt” versieht, um seine Ungebräuchlichkeit zu markieren.5 Der Beitrag von Gottsched steht bereits im Zeichen der Apologie eines offensichtlich angeschlagenen ‘Genres’, denn Gottsched vertei- digt, wie es der Titel ankündigt, die ‘Gelegenheitsdichtung’ gegen die Angriffe Georg Friedrich Meiers. Dieser hatte ein Verbot der Gattung ‘Gelegenheitsgedicht’ gefordert, weil sie der Ausbildung eines poeti- schen ‘Geschmacks’ nachteilig sei. Gottsched dagegen verteidigt die ‘Gelegenheitsdichtung’ mit dem Nachweis ihrer Anciennität, mithin der Tatsache, “daß die meisten griechischen und römischen; ja auch unter den Neuern die meisten wälschen, französischen und englischen Dichter, eine Menge solcher kleinen Gelegenheitsgedichte verfertiget; und gleichwohl ihren Nationen dadurch keine Schande, großentheils aber viel Ehre gemachet.”6 Dem ist wohl zuzustimmen, denn in der Tat fragt sich, was von den lyrischen Formen der antiken Dichtung übrigbleibt, etwa von Horaz oder Pindar, wenn man ihr die ‘Gelegen- heitsdichtung’ nimmt. Mit dieser Überzeugung war Gottsched 1746 allerdings ein Rufer in der Wüste, den schon niemand mehr hören wollte. Entscheidend sind weniger die Argumente, mit denen Gottsched die ‘Gelegenheitsdichtung’ verteidigt, als die Tatsache, dass der Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ damit in dem Moment auftaucht, indem diese als ‘Genre’ angegriffen wird und in diesem Angriff als solches konstituiert wird. Die ‘Gelegenheitsdichtung’ entsteht in dem Augen- blick, in dem eine ‘wahre’, ‘echte’, aus dem Gefühl entstandene Lyrik von einer ‘falschen’, bloß ‘gemachten’, ‘rhetorischen’, ‘kalten’ abge- grenzt werden soll. Die These lautet also, dass es vor der ‘empfind- samen Wende’, die sich mit Meier bereits laut und vernehmlich an- kündigt, eine ‘Gelegenheitsdichtung’ als solche gar nicht gegeben hat.

5 Gottscheds Beitrag ist im “Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste”, II. Band, fünftes Stück, Leipzig 1746 erschienen, jetzt auch di- gitalisiert in “Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts online” zugänglich. Zur Kontroverse zwischen Gottsched und Meier vgl. Segebrecht: Gelegenheitsgedicht (s. Anm. 4), S. 255-275. 6 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst. 4. Auflage, Leipzig 1751. Ndr. Darmstadt 1962, S. VI f.

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Die ‘Rhetorizität’ als definierendes Merkmal und die ‘Gelegenheits- dichtung’ als Gattung entstehen im selben Augenblick, nämlich als es darum geht, sich von der Dichtung der Frühen Neuzeit insgesamt ab- zugrenzen. Ein wichtiges Argument für diese Behauptung ist die Tatsache, dass die Poetiken des 17. Jahrhunderts genauso wie die poetischen Samm- lungen selbst eine ‘Gattung’ oder einen spezifischen Bereich der ‘Ge- legenheitsdichtung’ nicht kennen. Die ‘Silven’, in denen die ‘Gele- genheitsgedichte’ bisweilen in Analogie zu Statius zusammengefasst wurden, waren eine Zusammenstellung aller möglichen Kleinformen, ohne dabei aus der ‘Gelegenheitsgebundenheit’ ein definierendes Merkmal zu machen. So heißt es in der Poeterey des Opitz:

Sylven oder wälder sind nicht allein nur solche carmina, die auß geschwin- der anregung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden/ […] sondern/ wie jhr name selber anzeiget/ der vom gleichniß eines Wal- des/ in dem vieler art vnd sorten Bäwme zue finden sindt/ genommen ist/ sie begreiffen auch allerley geistliche vnnd weltliche getichte/ als da sind Hochzeit- vnd Geburtlieder/ Glückwündtschungen nach außgestandener kranckheit/ item auff reisen/ oder auff die zuerückkunft von denselben/ vnd dergleichen.7

Auch aus der zweiten Passage der Poeterey, die in diesem Zusammen- hang immer wieder angeführt wird, kann nicht geschlossen werden, dass Opitz die Gelegenheitsbezogenheit einer bestimmten Art von Dichtung hervorhebe:

Ferner so schaden auch dem gueten nahmen der Poeten nicht wenig die jenigen/ welche mit jhrem vngestümen ersuchen auff alles was sie thun vnd vorhaben verse fodern. Es wird kein buch/ keine hochzeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter. Mann wil vns auff allen Schüs- seln vnd kannen haben/ wir stehen an wänden vnd steinen/ vnd wann einer ein Hauß ich weiß nicht wie an sich gebracht hat/ so sollen wir es mit vnsern Versen wieder redlich machen. Dieser begehret ein Lied auff eines andern Weib/ jenem hat von des nachbaren Magdt getrewmet/ einen andern hat die vermeinte Bulschafft ein mal freundtlich angelacht/ oder/ wie dieser

7 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey. In ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. George Schulz-Behrendt. Bd. II.1: Die Werke von 1621 bis 1626, Stuttgart 1978, S. 331-416, hier S. 368 f. Dieses Argument schon bei Segebrecht: Gelegenheitsgedicht (s. Anm. 4), S. 94 ff.

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Leute gebrauch ist/ viel mehr außgelacht; ja deß närrischen ansuchens ist keine ende. Mussen wir also entweder durch abschlagen jhre feindschafft erwarten/ oder durch willfahren den würden der Poesie einen mercklichen abbruch thun. Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er will/ sondern wenn er kann/ vnd jhn die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd an- dere vom Himmel her zue kommen vermeinen/ treibet. Diese vnbesonnene Leute aber lassen vns weder die rechte zeit noch gelegenheit […].8

Von einer spezifischen ‘Gelegenheitsdichtung’ ist hier nirgendwo die Rede. Nicht die ‘Gelegenheitsdichtung’, die Opitz offensichtlich gar nicht kennt, tut “den würden der Poesie einen mercklichen abbruch”, sondern diejenigen, die dem Dichter nicht genügend Zeit und “Gele- genheit” (also im Sinne von ‘Freiraum’, ‘Möglichkeit’ oder ‘Muße’ zu verstehen) lassen. Schlechte Dichtung ist nach Opitz diejenige, die übereilt gemacht ist, und als solche geht diese mit ihren Widmungs- trägern oder Auftraggebern zu Grunde. Mangelnde Muße qua Gele- genheit erzeugt qualitativ minderwertige Dichtung. Mehr ist aus dem Zitat von Opitz nicht abzuleiten. Gegen Segebrecht9 – der seinerseits völlig zu Recht die älteren Interpretationen zurückweist, die diese Stelle als Absage an die Gelegenheitsdichtung verstehen wollten – ist darauf zu insistieren, dass diese Passage nicht in den Zusammenhang der Silven gehört, sondern Opitz von der Dichtung überhaupt spricht, die er sich nicht anders als gelegenheitsgebunden vorstellen kann. Dies zeigt klar noch einmal die abschließende Formulierung der zitier- ten Stelle, in der von dem Dichter schlechthin die Rede ist: “Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil […]”. Wie auch immer diese ‘Inspiration’ des Dichters zu verstehen ist, Opitz bezieht ihre Forde- rung auf die Dichtung überhaupt, nicht auf die Silven oder auf eine von ihm als solche gar nicht wahrgenommene ‘Gelegenheitsdichtung’. Auch wer von der Praxis der Dichtung in der Frühen Neuzeit aus- geht, kann zu keinem anderen Ergebnis kommen. Denn welche Dich- tung der Frühen Neuzeit sollte denn keine ‘Gelegenheitsdichtung’ sein? Die Liebeslyrik? – Wohl kaum. Das Liebesgedicht, das dann im 18. Jahrhundert zu einem Modellfall der ‘Erlebnisdichtung’ werden wird, ist für Opitz – vergleiche das letzte Zitat – noch schlicht und er- greifend ein Lied auf eine “Bulschaft” oder “eines andern Weib”, an- lässlich der ‘Gelegenheit’ eines zumeist missverstandenen Lächelns.

8 Opitz: Poeterey (s. Anm. 7), S. 349. 9 Segebrecht: Gelegenheitsgedicht (s. Anm. 4), S. 202.

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“Liebe” ist im 17. Jahrhundert noch kein Erlebnis, das den Dichter zum “Ausdruck” seiner Gefühle drängte, sondern eine ‘Gelegenheit’, ein Anlass für Kommunikation und Konversation. Auch das riesige Feld der geistlichen Dichtung kann wohl kaum der ‘Gelegenheitsdichtung’ abgesprochen werden. Ganz im Gegenteil könnte die geistliche Dichtung sogar mit einigem Recht als ‘Gelegen- heitsdichtung’ par excellence bezeichnet werden. Sie entsteht aus der konkreten ‘Gelegenheit’ einer geistlichen Meditation mit dem kon- kreten Zweck der Andacht und Erbauung, und sie ist zum Nachvoll- zug bei einer solchen ‘Gelegenheit’ verfasst. ‘Gelegenheitsgebundenheit’, so lautet der Befund, wurde in der Frühen Neuzeit nicht als definierendes Merkmal lyrischer Kleinfor- men wahrgenommen. Komplementär dazu steht die Beobachtung, dass sich die ‘Gelegenheitsgebundenheit’ auch bei den literarischen Großformen der Zeit findet. Hans-Gert Roloff liefert in seinem Bei- trag ein eindrückliches Beispiel für diese Tatsache, wenn er verschie- dene Formen höfischer und gymnasialer Kasualdramatik auf ihre An- lassgebundenheit und damit auf ihren ‘Gelegenheitscharakter’ hin analysiert. Dieser Befund ließe sich erweitern. Für das schlesische Trauerspiel, das immer noch viel zu isoliert von den anderen dramatischen Formen der Frühen Neuzeit betrachtet wird, gilt er genauso. Allzu bekannt sind mittlerweile die konkreten historischen, theologischen und juristi- schen Hintergründe dieser Dramen – mithin ihre ‘Gelegenheitsgebun- denheit’ –, als dass sie noch ausgeführt werden müssten. Die Catha- rina von Georgien reflektiert präzise und detailliert die Optionen, die einem protestantischen Fürsten im Schlesien der Frühen Neuzeit im Falle einer katholischen Okkupation zur Verfügung standen. – Selbst der Roman ist, denkt man an die Schlüsselromane Anton Ulrichs oder Lohensteins, an die ‘Gelegenheit’ seiner Zeit gebunden, die er eben, als Schlüsselroman, abbildet und deutet. Oder er ist, wie im Falle des Simplicissimus, eine Allegorie für das menschliche Leben in heilsge- schichtlicher Perspektive: mithin ‘Erbauungsliteratur’ im erwähnten Sinne. Sogar die scheinbar so harmlose und verspielte Schäferliteratur, ist, wie es Christiane Caemmerer gleich zu Beginn ihres Beitrags for- muliert, “selten etwas anderes als Kasualdichtung”. Was also bleibt von der Dichtung der Frühen Neuzeit, wenn man die ‘Gelegenheitsdichtung’ außer Betracht lässt? – Offensichtlich nichts. Die gesamte Dichtung der Frühen Neuzeit ist ‘Gelegenheits-

Chloe 43 Einleitung 21 dichtung’, insofern diese Dichtung immer in einen konkreten kommu- nikativen Zusammenhang eingebettet ist. In dieser ‘Gelegenheitsge- bundenheit’ – und das wäre ein letztes Argument – unterscheidet sich die Dichtung nicht von der Malerei oder Musik der Zeit. Weder die Kunst- noch die Musikgeschichte kennt jedoch die Begriffe der ‘Ge- legenheitsmalerei’ oder der ‘Gelegenheitsmusik’, und das, obwohl doch offensichtlich die gesamte Malerei – vom Schlachtengemälde über das Porträt bis hin zur religiösen Malerei – und Musik – von den höfischen Formen über die Oper und Tafelmusik bis hin zur Kirchen- musik – diesen Begriff verdienten. Auch dies zeigt deutlich, dass man es bei dem Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ mit einem ideologi- schen Konstrukt aus dem Geist der ‘Empfindsamkeit’ zu tun hat. Der Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ ist keine brauchbare Kate- gorie, um bestimmte literarische Erscheinungen der Frühen Neuzeit zu bezeichnen. Die Kategorie mag systematisch brauchbar sein, indem sie, durch alle Epochen der Dichtung hindurch, besondere Formen wie Hochzeitsgedicht oder Epitaph bezeichnet, aber als historischer Kate- gorie liegt ihr kein definierendes Merkmal zugrunde. Es handelt sich bei dem Begriff der ‘Gelegenheitsdichtung’ um ein Konstrukt des 18. Jahrhunderts, das in dem Augenblick entsteht, in dem sich ein neuer Begriff der Dichtung bildet. Zu dessen Bestimmung gehört die soge- nannte ‘Autonomie’ als konstituierendes Merkmal, und diese Auto- nomie definiert sich offensichtlich gerade als Abwesenheit jeder Form von Gelegenheitsgebundenheit. Allein deswegen war die ‘Erfindung’ der ‘Gelegenheitsdichtung’ notwendig. Doch bevor auf die Notwendigkeit einer ‘Erfindung’ der ‘Gelegen- heitsdichtung’ noch etwas näher einzugehen ist, muss ein weiterer As- pekt der Beiträge dieses Bandes angesprochen werden. Wer die ‘Ge- legenheitsdichtung’ nicht als zeitweilige Verirrung der Frühen Neuzeit begreifen will, sondern als Fundament, auf dem die gesamte Dichtung dieser Zeit ruht, als Signum und Symbol der Verankerung dieser Dichtung in den historischen, politischen, sozialen und religiösen Ge- gebenheiten, eingebettet in einen konkreten Kommunikationsprozess, der muss vor allem eines tun, nämlich diese Dichtung in ihrer ganzen Breite und Masse studieren. Er darf Opitz, Gryphius und Günther nicht als Einzelfälle und Einzelgestalten zur Kenntnis nehmen, son- dern muss sie in ihrer poetischen Eigenart vor dem Hintergrund jener zahllosen Geburts-, Geburtstags-, Hochzeits-, Beerdigungs- und Trostgedichte, der Epitaphe, Propemptika und Epinikia der Frühen

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Neuzeit lesen. Die Individualität und ‘Subjektivität’ genauso wie die formale Meisterschaft der berühmten Einzelgestalten wird erst vor diesem Hintergrund sichtbar. Wenn der Stadtrat von Danzig – wie Heiko Droste in seinem Bei- trag berichtet – anordnete, “dass alle Nicht-Akademiker ihre Gedichte vor dem Druck zunächst einem Professor am städtischen Gymnasium vorzulegen hätten”, dann wird daraus deutlich, welche klaren Vor- stellungen von poetischer Qualität die Frühe Neuzeit hatte. Um festzu- stellen, wie vielfältig das Feld der ‘Gelegenheitsdichtung’ in der Frü- hen Neuzeit ist, fehlt es uns an detaillierten Studien zu dieser Massen- ware, die einem Professor zur Qualitätsprüfung vorgelegt werden musste. Erst vor ihrem Hintergrund aber könnte die Originalität, Indi- vidualität und ‘Subjektivität’ von Opitz, Gryphius und Günther sicht- bar werden. Grundlagenforschung tut also Not. Insbesondere der Beitrag von Martin Klöker stellt in diesem Sinne das geradezu monumental ange- legte Projekt der Osnabrücker Forschungsstelle vor, in dem es um nichts geringeres geht als die Erfassung und Erschließung von perso- nalen Gelegenheitsgedichten der Frühen Neuzeit. Zweiundzwanzig Bände sind es, die bislang von dem Handbuch des personalen Gele- genheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven vor- liegen. Ganz analog dazu, wenn auch in einem freilich wesentlich kleineren Rahmen, stellt Karl F. Otto Jr. in seinem Beitrag den Kata- log der Sammlung Genealogica der Nürnberger Stadtbibliothek vor. Mit solchen Bestandsaufnahmen wird die Materialgrundlage herge- stellt, von der die Literaturgeschichtsschreibung sich für die Zukunft vor allem eines versprechen darf, nämlich eine sozialgeschichtlich fundierte Analyse der ‘Gelegenheitsdichtung’ als einer ritualisierten, symbolischen Kommunikationsform der Frühen Neuzeit. Wenn Ritu- ale komplexe Formen symbolischen Handelns10 sind und das Dichten bei Gelegenheit ein solches Ritual darstellt, dann sollte die Erfor- schung dieses rituellen Charakters eine zentrale Perspektive der For- schung bilden. Davon kann jedoch bisher nur ansatzweise die Rede sein. Jörg Jungmayr und Sarah Smart geben in ihren Beiträgen Bei- spiele dafür, wie eine solche detaillierte Analyse des rituellen Cha- rakters von ‘Gelegenheitsdichtung’ aussehen könnte.

10 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Symbolische Kommunikation in der Vormo- derne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen. In: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489-527.

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Der Beitrag Drostes führt die theoretische Grundlage dieser Per- spektive vor Augen und ins Bewusstsein der Forschung. “Innerhalb der höfischen wie bürgerlichen Elitenkultur war das Kasualgedicht Teil einer Gabenökonomie” heißt es dort lakonisch, wobei mit “Gabenökonomie” “der Tausch von sozialem, kulturellem und wirt- schaftlichem Kapital in einander sowie in symbolisches Kapital” be- zeichnet werde. Ob der Verfasser dieses “kulturellen Kapitals” sich als Dichter betrachte, sei für die Zeitgenossen zunächst “weitgehend un- erheblich”. Entscheidend ist vielmehr, so darf man ergänzen, die Pat- ronagebeziehung, in die der Dichter als Klient und der Empfänger als Patron eingebunden waren. In einer schwedischen Verordnung aus dem 17. Jahrhundert werde die unaufgeforderte Einsendung von Ka- sualgedichten ausdrücklich neben andere Formen der Bettelei gestellt, schreibt Droste. Ein weiteres Beispiel für das soziale und kulturelle Kapital der Dichtung gibt Bogner in seinem Beitrag, wenn er berich- tet, dass Andreas Tscherning vor seiner Berufung als Professor an die Universität Rostock aufgefordert wurde, seine lateinischen Gedichte zu publizieren. Was Droste in der Theorie zeigt, belegt Peter-Michael Hahn in sei- nem Beitrag an einem exemplarischen Fall. An einem Vergleich des Berliner und des Münchner Hofes zeigt Hahn, wie wichtig das sym- bolische Kapital für die Repräsentation von Macht war und auf welche Strategien der Berliner Hof zurückgreifen musste, um dieses symboli- sche Kapital anhäufen zu können. Hahn rekurriert dabei gar nicht weiter auf die ‘Gelegenheitsdichtung’, sondern ausschließlich auf Ar- chitektur, Kunstkammern, Gartenanlagen usw. In der Tat dürfte aus der Perspektive des Sozialhistorikers die ‘Gelegenheitsdichtung’ an einer der letzten Stellen kommen, was die Größe ihres symbolischen Kapitals betrifft. Auch vor diesem Hintergrund wäre die – wörtlich verstandene – Aufwertung der Dichtung, die Erhöhung ihres symboli- schen Kapitals, zu begreifen, wie sie sich im Begriff der ‘Autonomie’ im 18. und 19. Jahrhundert vollzieht. Die sozialgeschichtliche und die literargeschichtliche Dimension dieses Prozesses müssen als komple- mentäre Aspekte wahrgenommen werden. Und damit möchte ich nun doch noch einmal zurückkommen auf die “empfindsame Wende”, wie sie Klaus Garber betitelt, und die “Windigkeit” jenes “Theorems der Erlebniswahrheit”. Goethe steht mit der vielzitierten Bestimmung seiner Gedichte insgesamt als Gele-

Chloe 43 24 Volkhard Wels genheitsgedichte schon am Ende dieses Prozesses, denn auf den ersten Blick spricht er sich ja für eine Rehabilitation des Begriffes aus:

Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegen- heitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.11

Was Goethe mit dieser Bezeichnung seiner Gedichte als “Gelegen- heitsgedichte” 1823 meint, hat jedoch mit dem, was die Forschung zur Frühen Neuzeit unter diesem Begriff zu fassen versuchte, nichts zu tun. Es handelt sich bei Goethe vielmehr um das, was Wilhelm Dilthey später viel angemessener die “Erlebnislyrik” nennen wird – Segebrecht hat diese Entwicklung detailliert beschrieben. Der entscheidende Umschlag hat sich lange vor Goethe vollzogen. Die seit 1747 entstehenden Oden Klopstocks bilden in diesem Prozess eine wichtige Zäsur, insofern hier bereits alles vorhanden ist, was den neuen Begriff der ‘Lyrik’ ausmachen wird. In den “freien Rhythmen” Klopstocks hat sich die poetische Sprache von ihren metrischen Fes- seln scheinbar befreit, genauso wie die offensiv angewandten Stilmit- tel der Inversion, Exclamatio und Aposiopese jetzt einen ‘natürlichen Ausdruck’ der Gefühle, frei von allen ‘rhetorischen’ Zwängen simu- lieren sollen. An die Stelle des kalkulierenden Verstandes, der aus Anlass der zu bedichtenden Gelegenheit strategisch seine metrischen, rhetorischen und poetologischen Optionen prüft und schließlich ‘kalt’ und ‘kühl’ seine Wahl trifft, ist der ‘Enthusiasmus’ des ‘Sängers’ ge- treten, der von seinen Gefühlen hinweg getragen das Gedicht aus sich herausströmen lässt. Anstatt “zu Strophen zu werden”, also vom Ver- stand gemacht zu werden, solle das Lied “frei aus der schaffenden Seele taumeln”, “ununterwürfig Pindars Gesängen gleich”.12 So will es die Ideologie der ‘Empfindsamkeit’, der man freilich so unbesehen nicht glauben darf. Klopstock zumindest wusste sehr wohl, wie viel Anstrengung des Verstandes, wie viel metrische und rhetorische Ar- beit ihn seine “freien Rhythmen” gekostet haben.

11 Eckermann: Gespräche mit Goethe (s. Anm. 1), S. 50. 12 Friedrich Gottlieb Klopstock: Auf meine Freunde (1747). In ders.: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Karl August Schleiden. München 1962, S. 12.

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Der Freundschaftskult, wie ihn Pyra, Lange oder eben Klopstock in ihren Gedichten betreiben, setzt ein neues Ideal der Freundschaft vor- aus. Mit der Patronage- und Klientelbeziehung, die im 17. Jahrhundert unter diesem Begriff firmiert und die Droste in seinem Beitrag beschreibt, hat diese Freundschaft als unmittelbarer Gefühlsaustausch nur noch wenig zu tun. Die Freundschaftsdichtungen Klopstocks, die einen großen Teil seiner Oden ausmachen, sind keine repräsentativen und offiziösen Bekundungen mehr, die einem Dichter die Protektion eines adligen Patrons sichern sollen, sondern sie sollen das ureigene, persönliche, subjektive, individuelle, echte und wahre Gefühl ausdrü- cken, das der Dichter gegenüber dem Adressaten empfindet. Der Lohn dieser Dichtung besteht weder in ‘symbolischem’ noch in realem Ka- pital, er liegt in der Dichtung selbst, die jetzt eben einen ‘autonomen’ Wert darstellt – und damit von nun an, paradoxerweise, den Lebens- unterhalt des ‘unabhängigen Schriftstellers’ auf dem ‘freien Markt’ sichern soll. Der Untergang der ‘Gelegenheitsdichtung’ ist damit an jenen Prozess gebunden, in dem die höfischen Ideale und Lebensfor- men von den bürgerlichen abgelöst werden. Der Übergang von einer ‘rhetorischen’ ‘Gelegenheitsdichtung’ zu einer ‘natürlichen’ Ausdrucksästhetik hat, das ist offensichtlich, etwas mit dem Übergang von einer höfischen zu einer bürgerlichen Gesell- schaft zu tun, von einer Dichtung, die von und für eine repräsentative Öffentlichkeit geschaffen ist, zu einer Dichtung, die für einen privaten und persönlichen Rahmen geschaffen ist. Das aber heißt nichts ande- res, als dass die Rituale sich ändern, in die die Dichtung eingebunden ist. Aus dem offiziellen Akt, in dem das Gedicht überreicht wird, wird der persönliche Brief, der das Gedicht enthält. Wie man aber offen- sichtlich nicht von einer ‘Entrhetorisierung’ sprechen kann, so sollte man auch hier nicht von einer ‘Entritualisierung’ sprechen. Rituale werden nicht abgeschafft, sondern transformiert. Klopstock, der im Schlafrock seinen ‘Patron’ und Fürsten empfängt (wie es die zeitgenössische Legende kolportiert), ist auch damit – und nicht nur mit seinen “freien Rhythmen” – das Indiz einer solchen Transformation. Die “freien Rhythmen” müssen als literargeschichtli- cher Aspekt jener sozialgeschichtlichen Wende begriffen werden, die Klopstocks Auftritt im Schlafrock bezeichnet. “Dank dir mein Geist, dass du seit deiner Reife Beginn | Beschlossest, bei dem Beschluß ver- harrtest, | Nie durch höfisches Lob zu entweihen | Die heilige Dicht-

Chloe 43 26 Volkhard Wels kunst” heißt es, und das, man kann dies gar nicht genug betonen, aus- gerechnet in der Ode Fürstenlob.13 Den Fürsten zu loben, wie es auch noch zu den selbstverständlichen Aufgaben Klopstocks gehört, ist im 18. Jahrhundert eine schwierige Sache geworden. Einerseits nimmt man das Geld und muss sich dafür revanchieren, andererseits darf der Dank nicht nach Unterwürfigkeit und ‘bloßer Rhetorik’ schmecken. Er muss ‘echt’ klingen, authentisch, und das erfordert ein neues rhetorisches Programm. Die Qualität der Dichtung wird in Abhängigkeit von der moralischen Integrität des Dichters gebracht. Gegenüber dieser “Verinnerlichung” der morali- schen Forderungen war die Dichtung der Frühen Neuzeit geradezu ‘amoralisch’, indem die Forderung einer moralischen Qualität eben immer nur ‘von außen’ an die Dichtung herangetragen wurde, in Vor- reden, Auslegungen oder Poetiken. Jörg Jungmayr gibt in seinem Beitrag ein Beispiel für diese ‘Amoralität’ der frühneuzeitlichen Dich- tung, wenn er die Geschichte von Georg Emerichs zweifelhaften Lei- stungen – eine Vergewaltigung gehört dazu – und ihrer architektoni- schen und kasualpoetischen Verherrlichung erzählt. Die grundsätzliche ‘Amoralität’ der frühneuzeitlichen Dichtung und ihre ‘Rhetorizität’ sind, in den Augen des 18. Jahrhunderts, komple- mentäre Erscheinungen. Die entscheidende Frage lautet deshalb, wie man ein ‘authentisches’, ‘wahres’ Gefühl vermittelt. Die herkömmli- chen Formulierungen sind unbrauchbar geworden, weil sie als ‘rheto- rische’ nun als ‘künstlich’ und damit falsch gelten. So schreibt Haller 1748 in der Vorrede zur Trauerode auf seine Frau: “Diese Ode ist we- nige Wochen nach der traurigen Begebenheit, die sie veranlaßt, aufge- setzt worden. Sie redet mehr die Sprache des Herzens, als des Witzes. Es ist mir immer vorgekommen, als wann einige der beliebtesten Ge- dichte von dergleichen Art zu sehr die letztere redeten.”14 Nur die Au- thentizität der Trauer kann also die literarische Qualität der Ode si- chern. Ich bin mir nicht sicher, ob die Bedeutung dieser Umwertung der Forschung in ihrer ganzen Tragweite schon bewusst geworden ist.

13 Vgl. zum Folgenden Joseph Leighton: Occasional Poetry in the Eighteenth Cen- tury in Germany. In: The Modern Language Review 78 (1983), S. 340-358, dem ich auch einige Beispiele entnehme. 14 Albrecht von Haller: Versuch schweizerischer Gedichte. 4. Auflage, Göttingen 1748, S. 168. Spätere Auflagen enthalten die Sätze nicht mehr: von einem Man- gel an “Sprache des Herzens” konnte offensichtlich keine Rede mehr sein.

Chloe 43 Einleitung 27

Was in dieser Forderung zum Ausdruck kommt, ist, wie man mit einigem Recht sagen könnte, das genaue Gegenteil von Autonomie der Dichtung. Mit der Authentizität wird die Dichtung an einem ex- ternen Kriterium gemessen. Auch diese neue und subtile Verbindung von Dichtung und Moral ist, gegenüber der Frühen Neuzeit, eine “Verinnerlichung” der moralischen Forderung. Die poetische Meister- schaft, die im Werk des Dichters zum Ausdruck kommt, genügt nicht mehr, um die Qualität der Dichtung zu sichern. Vielmehr steht die Rhetorik im Dienst der Authentizität des Gefühls und kann ihre Auf- gabe nur erfüllen, indem sie als solche möglichst unsichtbar bleibt und sich etwa auf solche Figuren beschränkt, wie sie auch der natürliche Gefühlszustand des Dichters hervorbringen würde. Das ist in der Tat, um noch einmal Garber zu zitieren, ein “windiges Theorem”: denn eingeschrieben ist ihm der Selbstwiderspruch, mittels der Rhetorik die Rhetorik verschwinden zu lassen. Dass es sich bei Hallers Versicherung um keinen Einzelfall handelt, zeigt die Debatte um das Naturnachahmungsgebot von Batteux. Um die Gültigkeit der ‘Naturnachahmung’ für alle Arten der Dichtung zu erhalten, hatte Batteux den Dichter, der in einer Ode seinen Schmerz zum Ausdruck bringt (und also nicht ‘nachahmt’, sondern ‘empfin- det’), in diesem Fall zu einem “Nachahmer seiner selbst” erklärt, der nicht die “wirklichen Empfindungen” seines Herzens zum Ausdruck bringe, sondern nur deren Nachahmung. Der Dichter ahmt also im Moment des Dichtens seine eigenen, zuvor gelebten Empfindungen nach. Nur durch diese Konstruktion gelingt es Batteux, für die ‘emp- fundene’ Dichtung die Naturnachahmung als Grundprinzip der Dich- tung aufrecht zu erhalten. Schon Johann Adolf Schlegel, der Übersetzer Batteux’, hatte in sei- ner Abhandlung über den höchsten Grundsatz der Poesie (1758) die- sem Versuch entschieden widersprochen.15 Ein Jahr später nahm Klop- stock Schlegels Argument in seinen Gedanken über die Natur der Po- esie mit großer Emphase auf:

15 Johann Adolf Schlegel: Von dem höchsten und allgemeinsten Grundsatze der Poesie. In ders.: Abhandlungen über verschiedne Materien aus den schönen Künsten. Zweyter Teil. In: Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz. Aus dem Französischen übersetzt und mit Ab- handlungen begleitet von Johann Adolf Schlegel. Leipzig 1770. Ndr. Hildesheim, New York 1976, S. 193.

Chloe 43 28 Volkhard Wels

Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: ‘Wenn du willst, daß ich weinen soll; so muß du selbst betrübt gewesen sein!’ ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fodern, heißt ihn in einen Akteur verwan- deln, der sich vergebens als einen Akteur anstellt. Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! Der ahmt also sich selbst nach?16

Der Dichter, der ein Gefühl zum Ausdruck bringt, ahmt bloß ein Ge- fühl nach, das er selbst in diesem Augenblick gar nicht hat – mit die- ser Behauptung darf man Klopstock nicht mehr kommen, denn genau das wäre die ‘kalte’ und ‘vernunftgemäße’ Rhetorik. Mit ‘Nachah- mung’ der Trauer ist es nicht mehr getan, der Dichter muss vielmehr die Trauer selbst zum Ausdruck bringen. Es ist diese Forderung nach dem “Ausdruck der wirklichen Empfindungen unsers Herzens” (Schlegel) als Paradigma einer angewandten ‘Empfindsamkeit’, das die ‘Gelegenheitsdichtung’ als eine Dichtung ‘nachgeahmter’ Emp- findungen unmöglich werden lässt. Eine weitere Perspektive dieses Prozesses verdient hier ebenfalls angesprochen zu werden, nämlich die bis heute andauernde ‘Entakademisierung’ dieser ‘Lyrik’ als unmittelbarer Ausdruck der Empfindungen. Schule und Universität, die in der Frühen Neuzeit noch die natürliche Brutstätte und Pflanzschule der Dichtung waren, geraten Mitte des 18. Jahrhunderts in Opposition zu dieser. Auch hier ist der Gegensatz von ‘kalter’ Vernunft, wie sie an der Universität herrscht, und ‘natürlichem’ Affekt, wie er den Dichter beherrscht, der entscheidende Punkt. Während Andreas Tscherning – ich zitiere noch einmal Bogners Beitrag – 1644 aufgefordert wurde, seine lateinischen Dichtungen zu publizieren, um seine Professur antreten zu können, und auch Profes- sor Gottsched noch seine Gedichte ohne schlechtes Gewissen publi- ziert, schreibt 1759 Lessing an Gleim, anlässlich des Todes von Ewald von Kleist:

16 Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. In ders.: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989, S. 180-186, hier S. 181.

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Der Professor [Gottlob Samuel Nicolai] wird Ihnen, ohne Zweifel, ge- schrieben haben. Er hat ihm [Ewald von Kleist] eine Standrede gehalten. Ein Anderer, ich weiß nicht wer, hat auch ein Trauergedichte auf ihn ge- macht. Sie müssen nicht viel an Kleisten verloren haben, die das itzt im Stande waren! Der Professor will seine Rede drucken lassen, und sie ist so elend! Ich weiß gewiß, Kleist hätte lieber eine Wunde mehr mit ins Grab genommen, als sich solch Zeug nachschwatzen lassen. Hat ein Professor wohl ein Herz? Er verlangt itzt auch von mir und Ramlern Verse, die er mit seiner Rede zugleich will drucken lassen. Wenn er eben das auch von Ih- nen verlangt hat, und Sie erfüllen sein Verlangen – Liebster Gleim, das müssen Sie nicht thun! Das werden Sie nicht thun. Sie empfinden itzt mehr, als daß Sie, was Sie empfinden, sagen könnten. Ihnen ist es auch nicht, wie einem Professor, gleich viel, was Sie sagen, und wie Sie es sagen – Leben Sie wohl.17

Professoren haben kein Herz. Statt in Tränen auszubrechen und zu verstummen, so lautet der Vorwurf Lessings, hat Nicolai eine Trauer- rede gehalten. Anders als dem Dichter ist es dem Professor “gleich viel”, was er sagt und wie er es sagt. Im Hintergrund steht dabei die Überzeugung, dass die Äußerungen von Professoren schon qua Amt keine authentischen sind. Die ‘Lyrik’ als Ausdruck der wahren Emp- findung und Sprache des Herzens, die in niemandes Sold steht, gerät in scharfen Kontrast zu den ‘kalten’, ‘rhetorischen’ Äußerungen des staatlich besoldeten Professors. Das gilt bis heute. Der maximale Ein- fluss, den der Dichter dem Staat auf seine Dichtung zugestehen kann, ohne seine Authentizität zu verlieren, ist der eines Stipendiums oder eines Preisgelds. Die Entstehung der ‘Erlebnislyrik’ in der Mitte des 18. Jahrhunderts ist damit nicht nur ein literarisches, sondern mehr noch ein soziales und sozialgeschichtliches Phänomen. Der literarische Text, der in der Frühen Neuzeit in der allerselbstverständlichen Weise als Teil einer ‘Gelegenheit’ wahrgenommen wurde – als Ausdruck von Trauer, Freude, Dank oder Trost – hat sein Verhältnis zu dieser Gelegenheit gelockert oder sogar gänzlich aufgegeben und erhebt einen wie auch immer begründeten Anspruch auf ‘Autonomie’. Er richtet sich nicht mehr an einen konkreten Leser, sondern an ein imaginäres Publikum, gerade deshalb, weil er nur noch seinen Gefühlen “Ausdruck” ver-

17 Gotthold Ephraim Lessing: Briefe von und an Lessing 1743-1770. Hg.v. Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Georg Braungart und Klaus Fischer. In ders.: Werke und Briefe Bd. 11/1. Frankfurt 1987, S. 333 (6. Sept. 1759).

Chloe 43 30 Volkhard Wels leiht. Das Verhältnis von Dichtung und implizitem Leser erreicht da- mit eine neue Qualität. Wenn Klopstock schon der Umschlagspunkt in diesem Prozess ist, dann sollte die eigentliche Aufmerksamkeit freilich den unscheinbaren Anfängen dieses Prozesses gelten. Für die hier noch zu leistende Ar- beit liefert eine ganze Reihe der folgenden Beiträge wichtige Hin- weise. Dirk Rose etwa zeigt, wie in den für die galante Epoche reprä- sentativen Bänden der Neukirchschen Sammlung die Kasualdichtung das Feld zunehmend dominiert und gerade damit deren folgende Ab- wertung provoziert. Rudolf Drux arbeitet Johann Christian Günthers – immer wieder als Paradigma eines ersten ‘empfindsamen’ Dichters genannt – Selbstpositionierung heraus. Dietrich Grohnert führt die späten, aber offensichtlich nur durchaus traditionellen kasualpoeti- schen Produktionen Johann Gottfried Schnabels vor. Winfried Siebers zeigt, wie sich, fast zeitgleich mit der Untersu- chung Gottscheds, die Kritik an der Gelegenheitsdichtung in den Sati- ren Gottlieb Wilhelm Rabeners Bahn bricht. Rabeners ironischer Vor- schlag einer Besteuerung der Kasualgedichte offenbart dabei einmal mehr, auch in seiner satirischen Zuspitzung, das ökonomische System, in das die Gelegenheitsdichtung eingebunden war, und das nun eben zunehmend als Widerspruch zum Prinzip der Dichtung wahrgenom- men wird. Fridrun Freise demonstriert in ihrem Beitrag, wie Schüler des Elbinger Gymnasiums zu Beginn des 18. Jahrhunderts über Freundschaft und über den Anspruch der eigenen Gedichte reflektier- ten, und damit innerhalb der Gelegenheitsdichtung selbst zwei litera- rische Wertsysteme zu kollidieren beginnen. Barbara Becker-Cantarino zeigt an der Gelegenheitsdichtung von Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Anna Louisa Karsch, welchen politischen und ökonomischen Schwierigkeiten die Autoren von Ge- legenheitsdichtung im 18. Jahrhundert immer stärker ausgesetzt wa- ren. Insbesondere Karsch, der als Frau ein geregeltes Einkommen fehlte, war gezwungen, von ihren Gedichten und den Zuwendungen ihrer Gönner zu leben, die allerdings zunehmend ausblieben. Die Ge- legenheitsdichtung ist Mitte des 18. Jahrhunderts dabei, ihre soziale und ökonomische Basis zu verlieren, was wiederum damit zu tun hat, dass das soziale Prestige von Kasualdichtung stark im Schwinden be- griffen war. Ganz analog zu den von Freise untersuchten Elbinger Schülern ist sich auch Karsch schon der Minderwertigkeit ihrer eige-

Chloe 43 Einleitung 31 nen Kasualdichtung gegenüber der “hohen Muse” (Zitat Karsch) eines Klopstock bewusst. Anett Lütteken schließlich beschreibt den vorläufigen Abschluss dieses Prozesses, wenn sie zeigt, wie Johann Jacob Bodmer, der Pro- phet der ‘Empfindsamkeit’, nur noch damit beschäftigt ist, sich die Gelegenheitsdichter vom Halse zu halten. Der neue Ton der “Freund- schaftsdichtung”, wie sie meisterhaft der von Bodmer bewunderte Klopstock gehandhabt hat, ist etwas ganz anderes als die Widmungs- gedichte des 17. Jahrhunderts. Das Freundschaftsgedicht ist gezwun- gen, sozusagen gegen seinen eigentlichen Charakter als ‘Gelegenheits- gedicht’, gefühlsechte ‘Authentizität’ und ‘Subjektivität’ herzustellen. Ihr Mangel wird von Bodmer nun als ästhetischer Mangel wahrge- nommen. Wenn damit die Probleme der Forschung, wie sie in den folgenden Beiträgen zur Sprache kommen, auch nur flüchtig abgeschritten sind, so sollte doch zumindest eines deutlich geworden sein: Die ‘Gelegen- heitsdichtung’ der Frühen Neuzeit darf nicht an einem Maßstab ge- messen werden, der aus der ‘sentimentalen’ Epoche stammt. Wer den Begriff der Dichtung aus der ‘sentimentalen’ Epoche ableitet, muss sich nicht wundern, wenn auch nur die sentimentale Dichtung diesem Begriff gerecht wird. “Die Fatalität dieser Operation steht allen ein- schlägigen Äußerungen auf der Stirn geschrieben.” (Garber) Nicht die ‘Gelegenheitsdichtung’ der Frühen Neuzeit war die vor- übergehende Epoche, die dann vom Durchbruch zu einem ‘autono- men’ Dichtungsbegriff beendet wurde, sondern vielmehr war die Au- tonomieforderung eine vorübergehende, in sich selbst höchst wider- sprüchliche Erscheinung, geboren aus den theoretischen Verkramp- fungen der ‘Empfindsamkeit’ und der Installation jenes Götzen des 18. und 19. Jahrhunderts, der ‘Natur’. Aber ist die postsentimentale Epoche tatsächlich schon gekommen, wie Garber meint, wenn er, über den Graben der Jahrhunderte hinweg in einem fernen Echo auf die Untersuchung Gottscheds, das Dichten bei Gelegenheit wieder in seine alten Würden eingesetzt sieht? – Darüber wird wohl noch zu diskutieren sein.

Chloe 43

K l a u s G a r b e r

GELEGENHEITSDICHTUNG Zehn Thesen – in Begleitung zu einem forscherlichen Osnabrücker Groß-Projekt

1. Gelegenheit macht Diebe – und Gedichte. Von Pindar und Sappho bis zu Goethe und Hölderlin spannt sich der Bogen alteuropäischen Dichtens im Zeichen des Bedichtens würdiger Anlässe. Poesie be- stimmt sich durch ein Gegenüber, nicht durch ein des Ausdrucks be- dürftiges Subjekt, wie seit der Empfindsamkeit. Dem der Subjektivität entzogenen Anderen, gleich ob Sache oder Person, die geziemenden und situationsgerechten Worte zu widmen, ist Impetus und Nerv alteu- ropäischen Dichtens. Es bestimmt sich über einen gesellschaftlichen und geselligen Rahmen, dem es sich unterordnet und den es zugleich konstituiert. Nie war das Wort des Dichters bedingter, nie erwünsch- ter. Zeitverhaftung und Zeitentbundenheit – an diesem Bestimmungs- grund aller Kunst hat auch das Dichten bei Gelegenheit uneinge- schränkten Anteil.

2. Frühneuzeitliche Gelegenheitsdichtung schreibt ein Erbe weniger der griechischen, als der hellenistischen und römischen Dichtung fort. Zugleich eröffnen die Dichter der italienischen Frührenaissance mit Petrarca an der Spitze einen zweiten Cursus. Das neulateinische und alsbald das volkssprachige Gelegenheitsgedicht stehen bis in das 18. Jahrhundert nebeneinander in Pflege. Dichtung ist für fünf Jahrhun- derte ein immerwährender Prozess des Reformulierens und Umschrei- bens. Eine liquide Materie wird ständig neu umgewälzt. Kunstgenuss hat in dem Maße statt, wie die Abweichung, die womöglich minimale Differenz, wahrgenommen und gewürdigt zu werden vermag. Ein Ausbruch aus dem System ist nicht vorgesehen und nicht intendiert. Wohl aber das Erhorchen eines bislang nicht vernommenen Tones, das Hintupfen einer bislang nicht wahrgenommenen Farbe. Verhaf- tung an die Tradition und Streben nach Innovation schließen sich nicht

Chloe 43 34 Klaus Garber aus, sondern bedingen sich wechselseitig. Alle Dichtung zwischen Dante und dem jungen Goethe – und so auch das Gelegenheitsgedicht – will aus dieser dialektischen Struktur heraus begriffen und gewür- digt sein.

3. Die Matrix bildet das Lateinische. Alle über fünf Jahrhunderte am Dichten bei Gelegenheit teilnehmenden Personen haben diese ihre Fertigkeit in der lingua franca der Gelehrtenschaft erworben. Sie ge- währleistet die Konsistenz über Zeiten und Räume hinweg. Der Akt der Initiation erfolgt mit dem Übergang in die Volkssprache. Er wird allenthalben als nationale Errungenschaft gefeiert. Und er verbindet sich fortan mit den Namen der Archegeten. Im Nebeneinander von lateinischer und volkssprachiger Poesie, in keiner Gattung so virulent wie im Gelegenheitsgedicht, gelangt ihre klassizistische Statur am reinsten zur Ausprägung. Sie schließt regionale Adaptationen und kommunale Schreibstile keineswegs aus. Die bislang fehlende Ge- schichte der Gelegenheitsdichtung vermöchte auch eine nach Land- schaften und Orten gegliederte zu sein. Das Erwachen der heimischen Idiome im Spiegel des Gelegenheitsschrifttums, die humanistische Akkulturation über das volkssprachige Gelegenheitsgedicht, markiert einen stilbildenden Prozess weitesten Ausmaßes. Im Gelegenheitsge- dicht gewinnen Nationen wie Regionen poetisch über Jahrhunderte hinweg sich selbst. Das Lateinische entlässt unaufhörlich erwachsene Kinder aus seinem Schoße und bleibt als nutrix unerschöpflich frucht- bar.

4. Der Kreis der des Bedichtens würdigen Anlässe ist unbegrenzt. Nicht der Anlass, sondern das je einzelne Gedicht entscheidet über Rang und Dignität des poetischen Vorwurfs. Im ironischen Gelegen- heitsgedicht, einem verstorbenen Lieblingstier, einem belanglosen Utensil, einer frechen Mitgift gewidmet, kommt dieser Überhang der Kunst gegenüber der Natur, des Ingeniums gegenüber dem Stoff, am deutlichsten zum Ausdruck. Artifizialität ist das Signum eines jeden gelungenen Gelegenheitsgedichts. Sie bezeichnet die unverrückbare Grenze gegenüber dem schlichten Machwerk und bietet so oder so den Schlüssel für die Kritik. Noch der unprätentiöse Ausdruck teilnehmen- der Emotionalität ist gesteuert von wachem Kunstverstand. Jenseits des kennerhaften poetischen Kalküls lauert das poetische Nichts. Auch das Gelegenheitsgedicht kennt, verpuppt in seine Poetologie,

Chloe 43 Gelegenheitsdichtung. Zehn Thesen 35 identifizierbare Grade des Gelingens – und also auch eine erkleckliche Rate des Misslingens.

5. Das Gelegenheitsgedicht besitzt mannigfache Spielräume und – vermittelt über sie – mannigfache Freiräume. Ist der Anlass ein per- sönlicher und temporärer, so die Lizenz zum intimen Duktus ein gat- tungskonformer und keinesfalls ein gattungswidriger. Die Kunst des persönlichen Porträts gehört in das Arsenal des gelungenen Gedichts nicht anders als die womöglich noch schwierigere der sparsamen und behutsamen Selbstinszenierung. Das Gelegenheitsgedicht ist der – mit poetologischer Lizenz ausgestattete – einzigartige Ort im alteuropäi- schen Literatursystem, da das Unscheinbare und Geringe nicht anders als das Persönliche und der Zeit Verhaftete zur Sprache gelangen darf – und soll. Das als Dutzendware gescholtene kasuale Poem ist in allen authentischen Zeugnissen ein Vehikel der poetischen Eroberung von Wirklichkeit und von Subjektivität. Es schreibt sich mit jedem gelun- genen Exemplar nicht nur ein in die Geschichte einer literarischen Gattung, sondern zugleich in die Bewusstseinsgeschichte der Gattung Mensch.

6. Anlass- und Zeitgebundenheit sowie Anlass- und Zeitentrücktheit sind die zwei Pole eines jeden zünftigen Gelegenheitsgedichts. Das hic et nunc ist Bestimmungsgrund des Gelegenheitsgedichts. Sie wol- len beim Schopfe ergriffen, einmalig und unwiederholbar vergegen- wärtigt sein. Als in Poesie überführte, den Musen gewürdigte, ragen sie über das Hier und Jetzt hinaus. Dem der Zeit Verhafteten einer je- den ‘occasio’ will ihr Zeitloses entdeckt sein. Alles und nichts ist dem Augenblick geschuldet. Ingeniöser Dichter und aufmerkendes Publi- kum stehen im Bann des Anlasses und sollen doch umschlungen blei- ben von einem der Zeit Entrückten, das Wiederholung und also Einge- denken verbürgt. Im Festkalender über die Zeiten und Generationen hinweg erfüllen sich Leben und Nachleben auch des Gelegenheitsge- dichts.

7. Es ist nicht wider die Natur des Gelegenheitsgedichts, sondern ent- spricht seiner Anlage, wenn es zusammentritt mit seinesgleichen und sich als Sammelwerk eines Dichters oder Dichterkreises präsentiert. Mag der Anlass gewahrt oder getilgt oder ein Mittelweg gefunden sein – ein jedes gelungene Gelegenheitsgedicht ist anthologiewürdig. Und

Chloe 43 36 Klaus Garber das in einem dreifachen Sinn. Das Sammelwerk legt Zeugnis ab von der Meisterschaft eines Poeten in diesem Metier. Es dokumentiert die Spannbreite der bedichteten Anlässe. Und es überantwortet einer je- den des Lesens geneigten Gesellschaft ein Organon von Weltdeutung und Lebenspraxis in Gestalt eines Vermächtnisses, das als unverlier- bares der Gattung fortan zugehört. Der Anlass hat in jedem guten Ge- dicht der Menschheit würdige Maximen gezeugt, in denen er aufge- gangen ist und tradierbar wurde. Dichten bei Gelegenheit und Bewah- ren für die Ewigkeit schließen sich nicht aus. Es waltet im Gegenteil ein Verhältnis ausgezeichneter Affinität.

8. Gelegenheitsdichtung ist gattungstheoretisch und -historisch nicht auf bestimmte Formen festzulegen. Das Gedicht ist eine bevorzugte, keineswegs eine ausschließliche Form der poetischen Begehung eines Anlasses. Frühneuzeitliches Dichten ist allegorisch durchwirkt. Zu dem ingeniösen und inventorischen Vermögen des Poeten gehört die Befähigung, eine jede poetisch behandelte Materie transparent und po- rös zu machen für ein anderes, ihr nicht unmittelbar Anhaftendes. Die Eröffnung einer okkasionellen Perspektive gehört zu den beliebtesten allegorischen Rochaden. Sie wollen entdeckt und nachvollzogen sein. Ein jedes Ballet, ein jeder mythologische Aufzug, eine jede Oper mag sich – wie versteckt auch immer – zugleich als verklausulierte Huldi- gung darzubieten. Je verwobener und verwickelter die referentielle Metaebene, desto größer das Vergnügen der Enträtselung, desto nach- haltiger die Hommage. Kein puristisches Handhaben der Gattungen und poetologischen Normierungen darf daran hindern, eines bestim- menden Zuges frühneuzeitlichen Dichtens über die Gattungsgrenzen hinweg gewahr zu werden und herauszustellen.

9. Das Gelegenheitsgedicht ist in seiner Geschichte begleitet gewesen von Schmähungen. Sie haben seiner Vitalität nichts anhaben können. Die Krise tritt ein, als die gelehrten Grundlagen kultureller Praxis in Frage gestellt werden. Sie geht einher mit einer Auszeichnung distin- guierter und als solcher des Besingens würdiger poetischer Sujets. Das Gelegenheitsgedicht verschwindet nicht mit der Empfindsamkeit. Seine Metamorphose indes impliziert die Aufkündigung seiner alteu- ropäischen Statur. Beglaubigt ist das Gelegenheitsgedicht fortan nicht mehr in seiner Artifizialität, sondern in seiner Emotionalität. Sprache, kenner- und könnerhaft umworbenes Medium kunstvoller Handha-

Chloe 43 Gelegenheitsdichtung. Zehn Thesen 37 bung, bezeichnet eine Schranke gegenüber dem schrankenlosen Ver- langen nach Ausdruck. Im Verstummen und im Weinen gibt sich das intentionslose Gefühl am reinsten kund. Metalinguistische Signale vermitteln zwischen den Gleichgestimmten. Nur sie haben teil an der poetischen Kommunikation. Nur zwischen ihnen zirkuliert das Gele- genheitsgedicht der neuen Schreibart. Auftrag und Poesie reimen sich nicht mehr aufeinander. Das erhabene Medium erheischt das erhabene Sujet. Es ist ein selbstergriffenes, geadelt, nein geheiligt, durch den Odem des Künstlers wie durch die Aufnahme der wenigen Edlen. Der Topos der verborgenen Theologie im Gewande der Poesie hat sich unversehens materialisiert. Seine empfindsame Mutation freilich ist gleichbedeutend mit dem Begräbnis des altehrwürdigen klassizisti- schen Konstrukts.

10. Die Literaturgeschichte hat das in praxi ergangene Urteil ratifiziert vermittels eines Aktes der Hypostasierung. Eine im Blick auf Alteuro- pa kurzlebige Phase der Dichtungsgeschichte wurde zur Norm des Dichtens schlechthin erhoben. Die Fatalität dieser Operation steht al- len einschlägigen Äußerungen auf der Stirn geschrieben. Es bedurfte einer neuerlichen artifiziellen Wende in der literarischen Praxis, um das Theorem der Erlebniswahrheit zu entthronen und seiner Ge- schichtlichkeit wie seiner Windigkeit zu überführen. Die Rehabilitie- rung vorsentimentalen Dichtens und damit die Rettung des Gelegen- heitsgedichts bezeichnet die folgenreichste Rückeroberung verlorenen geglaubten Terrains in der europäischen Literaturwissenschaft. Dich- ten bei Gelegenheit war dem Gelingen nicht anders als der Gesellig- keit verpflichtet. Dessen Wiederauferstehung führt auch die postsen- timentale Poesie zurück in die Bahnen des Umlaufs unter Kennern, die sich auf das gelehrte Spiel verstehen. Der Hieratisierung der Kunst antwortet in einem Akt des Entzauberns die Wiedereinsetzung von ars und techne. Dichten bei Gelegenheit hat nicht nur eine große Vergan- genheit. Den Musen der Gelegenheit winkt auch die Zukunft.

Chloe 43

M a r t i n K l ö k e r

DAS TESTFELD DER POESIE Empirische Betrachtungen aus dem Osnabrücker Projekt zur ‘Erfas- sung und Erschließung von personalen Gelegenheitsgedichten’

Die Erforschung von Gelegenheitsdichtung hat seit Wulf Segebrechts bahnbrechender Studie Das Gelegenheitsgedicht (1977) unbestreitbar eine große Anzahl von wichtigen Untersuchungen und Ergebnissen gezeitigt. Segebrecht hatte keineswegs die allumfassende Darstellung der poetischen Gattung im Sinn, sondern hob ganz bewusst auf die häufigsten und typischen Erscheinungen der Gelegenheitsdichtung – insbesondere das Hochzeits- und das Trauergedicht – ab, um an diesen den Wandel des Literaturverständnisses aufzuzeigen. Die damit ver- bundene literaturwissenschaftliche Neubewertung des Gelegenheitsge- dichts ist als größte Leistung und Ausgangspunkt für jegliche weitere Forschung zu diesem Gegenstand anerkannt. Daneben enthält das Werk für nahezu alle Bereiche die Grundinformationen, die einen ersten Eindruck von der Spannweite der gesamten Gelegenheitsdich- tung geben können; zugleich sind für viele Bereiche – gerade in den Einzelheiten – Forschungsdesiderate benannt.1 In der Folge entstanden zahlreiche Detailstudien in Aufsatzform und einige Spezialuntersuchungen als Monographie, mit denen die Kenntnisse über die Gelegenheitsdichtung bedeutend erweitert werden konnten.2 Abgesehen davon, dass es mittlerweile an einer Zusammen-

1 Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poe- tik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. Da im Folgenden an fast jeder Stelle der Hinweis zu parallelen Ausführungen bei Segebrecht gegeben werden könnte, sollen Verweise nur auf die für den unmittelbaren Kontext wichtigen Abschnitte begrenzt sein. 2 Eine grundlegende Auswahlbibliographie bis zum Jahr 1999 ist zu finden in: Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle ‘Lite- ratur der Frühen Neuzeit’ der Universität Osnabrück. Hrsg. von der Forschungs- stelle ‘Literatur der Frühen Neuzeit’ der Universität Osnabrück, unter redaktio-

Chloe 43 40 Martin Klöker führung der vielen Einzelergebnisse mangelt, fehlen insbesondere übergreifende Darstellungen, die eben jene Spannweite der Gelegen- heitsgedichte in formaler wie inhaltlicher, in räumlicher wie zeitlicher Erstreckung vorführen. Es fehlt gerade an überblickenden Studien zu reichhaltigen Beständen, örtlichen Produktionen und dergleichen, die mehr als nur einen oberflächlichen und allzu oft subjektiven und zu- fälligen Eindruck vermitteln wollen. Insbesondere liegt bisher kein Vergleich von regionalen Ausprägungen der Gelegenheitsdichtung vor, obwohl doch immer wieder betont wird, dass diese literarische Gattung ganz eng an die örtlichen Gegebenheiten gebunden sei. Dabei erfordert die allzu oft kritisch angeführte Massenhaftigkeit der Ge- dichte gerade den Überblick, um dem spontan sich aufdrängenden Eindruck der gleichförmigen Masse die weitaus subtileren Fakten ent- gegenzuhalten, beginnend mit dem Faktum der Vielgestaltigkeit, etwa der Vielfalt an Formen und Sprachen, ganz zu schweigen von den in ihrer quantitativen wie qualitativen Leistung durchaus ganz unter- schiedlich zu bewertenden Autoren.3

neller Bearbeitung von Stefan Anders und Martin Klöker. Osnabrück 2000 (= Kleine Schriften des Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit 3), S. 209- 232. Unter den neueren Monographien seien hervorgehoben: Stefanie Stockhorst: Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsgedichten für den Weimarer Hof. Tübingen 2002 (= Stu- dien zur deutschen Literatur 167); Kristi Viiding: Die Dichtung neulateinischer Propemptika an der Academia Gustaviana (Dorpatensis) in den Jahren 1632- 1656. Tartu 2002 (= Dissertationes Studiorum Graecorum et Latinorum Univer- sitatis Tartuensis 1); Regula Weber-Steiner: Glükwünschende Ruhm- und Ehren- gedichte. Casualcarmina zu Zürcher Bürgermeisterwahlen des 17. Jahrhunderts. Bern u.a. 2006 (= Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 43); Ralf Georg Bogner: Der Autor im Nachruf. Formen und Funktionen der literarischen Memo- rialkultur von der Reformation bis zum Vormärz. Tübingen 2006 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 111); Jan Andres: ‘Auf Poesie ist die Si- cherheit der Throne gegründet’. Huldigungsrituale und Gelegenheitslyrik im 19. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2005. 3 Der Versuch einer regionalen Übersicht, freilich für einen relativ kleinen Zeit- raum, ist enthalten in Martin Klöker: Literarisches Leben in Reval in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Institutionen der Gelehrsamkeit und Dichten bei Ge- legenheit. Teil I: Darstellung, Teil II: Bibliographie der Revaler Literatur. Drucke von den Anfängen bis 1657. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit 112). Vgl. in Kürze darüber hinaus die ältere Arbeit von Ute Széll: Institutionen der Gelehr- samkeit und Dichten ‘bey Gelegenheit’. Ein Beitrag zum literarischen Leben im Osnabrück der Frühen Neuzeit. Diss. phil. Osnabrück 1997 [Druck in Vorberei- tung].

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 41

Um ein ausreichend konturenscharfes Gesamtbild erstellen zu kön- nen, fehlt es daher nach wie vor an den großen übergreifenden Stu- dien, die sich eben nicht dem einzelnen Gedicht zuwenden, sondern eine – je nach Fragestellung variierende – relevante Masse an Ge- dichten analysieren und somit nur auf einer großen Materialbasis möglich sind. Um beispielsweise die Geschichte der Grabschrift (Epitaph) schreiben zu können, benötigen wir jeweils Beispiele aus allen Regionen und zeitlichen Phasen. Zudem wäre zu prüfen, welche Texte für den jeweiligen Entstehungsort repräsentativ sind, da die Spannweite schon hier groß sein kann. Erst dann wäre es möglich, die Differenzen zu markieren bzw. intertextuelle Spuren sichtbar zu ma- chen.4 – Eine solche Materialbasis ist für die Gelegenheitsdichtung jedoch nur in den wenigsten Fällen vorhanden, so dass am Beginn die Sammlung und Verzeichnung selbst stehen müsste – eine angesichts der momentanen bibliographischen Situation kaum zu leistende Vor- arbeit, die allzu leicht den zeitlichen Rahmen von Projekten oder Qua- lifikationsschriften sprengt und als Aufwand für einen Aufsatz kaum gerechtfertigt erscheint. Insofern müssen erst die Voraussetzungen ge- schaffen werden, um die entscheidenden weiteren Schritte in der Er- forschung der Gelegenheitsdichtung gehen zu können.5 Die bibliographische Verzeichnung und Erschließung des frühneu- zeitlichen Gelegenheitsschrifttums als Grundlagenforschung im besten

4 Für das Epitaph liegt freilich eine hervorragende Darstellung vor, die bereits in typologischer Hinsicht die Bandbreite präsentiert: Georg Braungart: Barocke Grabschriften. Zu Begriff und Typologie. In: Studien zur Literatur des 17. Jahr- hunderts. Gedenkschrift für Gerhard Spellerberg (1937-1996). Hrsg. von Hans Feger. Amsterdam, Atlanta 1997 (= Chloe 27), S. 425-487. 5 Vgl. Segebrecht (s. Anm. 1), S. 79-88 und die Ergebnisse einer Umfrage zu den Bibliotheksbeständen ebd. S. 448-480. Dann auch Wulf Segebrecht: Die biblio- graphische Erschließung der Gelegenheitsdichtung des 16.-18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissen- schaft. Referate eines Kolloquiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Deutsches Literaturarchiv Marbach a.N. 5.-7. März 1980. Im Auftrag der Ständi- gen Arbeitsgruppe für germanistische Bibliographie hrsg. von Hans-Henrik Krummacher. Boppard 1981 (= Kommission für Germanistische Forschung Mit- teilung 3), S. 223-256. Mittlerweile sind im unverzichtbaren VD17 zahlreiche Gelegenheitsschriften enthalten, doch bietet die dortige Erfassung für genauere Fragen in aller Regel zu wenig, da neben den bibliographischen Grunddaten le- diglich die Namen der Beiträger (leider nicht immer in der richtigen Reihenfolge) wiedergegeben werden. Hier nach bestimmten Texten zu suchen, ist so gut wie unmöglich, schon die Identifizierung von Autoren ist angesichts des bloßen Na- mens oder sogar nur Kürzeln oft nicht zu leisten.

Chloe 43 42 Martin Klöker

Sinne ist also nach wie vor das Desiderat der Stunde, das sich den im deutschen Wissenschaftsbetrieb mittlerweile fast ausschließlich mög- lichen ‘Projektarbeiten’ innerhalb der Geisteswissenschaften ganz und gar nicht fügen will. Denn eine auf drei Jahre angelegte Dissertation oder ein auf fünf Jahre geplantes Projekt können allenfalls ein Muster für eine Verzeichnung entwerfen und exemplarisch an einem ausge- wählten Bestand erproben. Vor diesem Hintergrund muss es als Glücksfall bezeichnet werden, dass es Klaus Garber in Osnabrück gelungen ist, seit 1990 ein Projekt zur ‘Erfassung und Erschließung von personaler Gelegenheitsdichtung’ mithilfe von finanziellen Mit- teln der Volkswagenstiftung, des Bundesministeriums des Innern und des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur zu etablieren. Als Ergebnis der langjährigen Arbeiten liegen bisher 22 Bände des Handbuchs des personalen Gelegenheitsschrifttums in eu- ropäischen Bibliotheken und Archiven vor, in denen die Bestände aus Bibliotheken und Archiven in Breslau, Thorn, Riga, Reval, Dorpat, Königsberg und Elbing – insgesamt knapp 20 000 Drucke – verzeich- net und durch elf Register erschlossen sind. Parallel erscheinende Mikrofiche-Editionen machen die Drucke im Volltext zugänglich. Da- rüber hinaus wird an einer Internet-Präsentation der in den Handbuch- Bänden versammelten Daten gearbeitet. Zugänglich über die Home- page des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück ist bisher Band 7 (Reval) in vollem Umfang als Datenbank. Als weiterer Schritt zur Erschließung der Gelegenheitsschriften wurde eine ergänzende Datenbank entwi- ckelt, in der sämtliche in den Gelegenheitsschriften auftauchenden Personen – soweit möglich – identifiziert, mit den biographischen Grunddaten angesetzt und mit den Fundstellen verlinkt werden.6

6 Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frü- hen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Uni- versität Osnabrück hrsg. von Klaus Garber. Bd. 1-2 (Breslau, Abt. 1), Bd. 3-6 (Thorn), Bd. 7 (Reval), Bd. 8 (Dorpat), Bd. 9-11 (Breslau, Abt. 2), Bd. 12-15 (Riga), Bd. 16 (Königsberg), Bd. 17-18 (Breslau, Abt. 3), Bd. 19-20 (Breslau, Abt. 4), Bd. 21-22 (Elbing). Hildesheim 2001-2008. Die Bestände sind jeweils mit einer großen bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und einer kommentierten Bibliographie versehen. Für eingehende Informationen zum Projekt vgl.: Göttin Gelegenheit (s. Anm. 2) sowie die Präsentation auf der Homepage des Osnabrü- cker Instituts unter http://www.ikfn.uni-osnabrueck.de/ > Forschung > Gelegen- heitsschrifttum. Dort auch ein genaues Verzeichnis der einzelnen Handbuch-

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 43

Selbstverständlich musste bei der Behandlung der ungeheuren An- zahl von Drucken ein Modell entwickelt werden, das nicht ein analy- tisches oder interpretatorisches Eintauchen in die Textstruktur selbst erfordert, sondern auf der Oberfläche möglichst viele der enthaltenen Daten erfasst und in strukturierter Form zugänglich macht. Obwohl die kritische Lektüre der Gedichttexte für den Literaturwissenschaftler zweifellos den größten Anreiz darstellt, musste diese im Grundsatz daher für die Handbuch-Bearbeitung von vornherein ausgeschlossen sein. Immerhin werden jedoch Hinweise zu engeren literaturwissen- schaftlichen Fragestellungen durch die Erfassung eventuell vorhande- ner Gattungs- oder Formbegriffe geliefert. Diese werden in der Regel nicht standardisiert oder angesetzt, sondern original abgenommen, denn hier beginnt bereits das weite Feld der literaturwissenschaftli- chen Deutung. Auch werden Gedichtformen wie beispielswiese ein Sonett nicht durch formale oder metrische Analysen erschlossen, son- dern lediglich erfasst, wenn der Autor diese in der Überschrift nennt. Ob das Gedicht dann wirklich die angegebene Form hat, wird nicht überprüft. Die spezifische Leistung des Osnabrücker Modells liegt da- rin, die Anzahl der Gedicht-Beiträge in ihrer Zuordnung zum jeweili- gen Autor mit der jeweils verwendeten Sprache und einem ggf. vor- handenen Formbegriff wiederzugeben. Auf diese Weise wird ein Ein- druck vom Charakter der Gesamtschrift gegeben.7 Im Rahmen des Projektes war es zum einen notwendig, eine ganze Reihe von Definitionen und begrifflichen Klärungen zu tätigen, die in der Literaturwissenschaft teils unbekannt, teils umstritten, teils völlig unterschiedlich benannt waren und sind. Zum anderen sind durch die tägliche Arbeit an immer neuen, Tausenden von Gedichten und Dru- cken aufgrund des Zwangs, die jeweilige Ausprägung in ein standar- disiertes Schema zu bringen, neue Erkenntnisse über die strukturellen Eigenarten der Gelegenheitsschriften gewachsen. Beide Aspekte sind ineinander verschränkt und bedingen einander sogar häufig. Deshalb sind im Folgenden definitorische und empirische Informationen nicht

Bände und der Mikrofiche-Editionen sowie der Link zu den beiden Datenbanken, die auf Dauer in einer komplexen Form vereinigt werden sollen. 7 Vgl. die beiden abgebildeten Beispiele für Verfasserschrift und Sammelschrift weiter unten. Das komplette Erfassungsschema bzw. die Grundlagen der Ver- zeichnung und Erschließung sind als ‘Katalogbeispiel’ zu finden in: Göttin Gele- genheit (s. Anm. 2), S. 233-252, inkl. kompletter Abbildung einer exemplarisch erfassten Druckschrift. Darüber hinaus enthalten die Handbuch-Bände jeweils zu Beginn die notwendigen Erklärungen ’Zur Anlage der Kataloge’.

Chloe 43 44 Martin Klöker immer eindeutig voneinander zu trennen. Als Basis für die Ausfüh- rungen dienen in erster Linie die Bearbeitung der Gelegenheitsschrif- ten im Osnabrücker Projekt, dokumentiert und nachzuvollziehen in den Bänden des Handbuchs, sowie die eingehende Analyse der Reva- ler Gelegenheitsdichtung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, die in bibliographischer Tiefenerschließung und überblickshafter Präsen- tation ebenfalls zugänglich ist. Eingeflossen sind darüber hinaus die Erfahrungen bei der Entwicklung und Erprobung der ’biographischen Datenbank’ zur Personenidentifizierung.8 Wenn an dieser Stelle ein erster Versuch der systematischen Prä- sentation der Erfahrungen im Osnabrücker Projekt und der hieraus zu gewinnenden Erkenntnisse vorgelegt wird, dann ist sogleich darauf hinzuweisen, dass es weder angestrebt noch möglich ist, auch nur eine annähernde Vollständigkeit zu erreichen. Vielmehr ist beabsichtigt, die wichtigen Themenfelder zu umreißen und anhand einiger beispiel- haft vorgeführter Ergebnisse – die oft nur als Zwischenergebnisse an- zusehen sind – das Potential sowohl des in den Handbuch-Bänden nebst Datenbanken gebotenen Materials als auch der Gelegenheits- dichtung insgesamt zu präsentieren. Allzu oft sind erste Befunde nur als Ausgangspunkt für neue Fragestellungen zu sehen, indem anhand des Offensichtlichen oder des Anscheins die Notwendigkeit eingehen- der Studien aufgezeigt wird. Dabei werden selbstverständlich auch die Grundlagen der Gelegen- heitsdichtung immer in den Blick genommen, wie sie sich anhand des Quellenmaterials zeigen. Deshalb sollen zunächst die übergreifenden Aspekte im Sinne der Grundlagen des Osnabrücker Projektes, aber auch hinsichtlich der Gelegenheitsschriften thematisiert werden. Be- sonderes Augenmerk wird dann jedoch den einzelnen, das Gelegen- heitsgedicht konstituierenden Faktoren (Autor – Adressat – Anlass – Gedicht) in ihrer komplexen Struktur gewidmet, um abschließend aus den gewonnenen Eindrücken einige Deutungen der Gattung zu for- mulieren.

8 Vgl. Klöker (s. Anm. 3). Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen und können hier nicht in aller Breite wiederholt werden, sie fließen aber vor allem dort stärker ein, wo die Erschließung des Handbuchs nicht weiter in die Tiefenstrukturen der Dru- cke und speziell in die Gedichte eindringen kann.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 45

Grundlagen

Im Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums werden aus- schließlich im Exemplar nachgewiesene Drucke nach Autopsie er- fasst. Damit ist es im strengen Sinn kein bibliographisches Unterneh- men, sondern eines der Bestandsverzeichnung. Das Projekt widmete sich direkt nach Fall des Eisernen Vorhangs der besonders schwieri- gen Frage nach den heute noch auffindbaren Beständen an Gelegen- heitsgedichten in den Bibliotheken der südlichen Ostseeanrainer- Staaten, die Jahrzehnte lang verborgen geblieben waren, will sagen: der westeuropäischen Forschung kaum zugänglich und mithin nahezu völlig vergessen. Mit der Bearbeitung der Bestände in Greifswald und Stettin, Thorn, Danzig und Elbing, Warschau, Vilnius und Königs- berg, Riga, Dorpat und Reval sowie schließlich St. Petersburg wurde zugleich der Plan verfolgt, die aus dem Zweiten Weltkrieg resultie- renden und im Einzelnen noch weitestgehend unbekannten Bestands- verschiebungen zu rekonstruieren und somit der internationalen For- schung endlich wieder einen zuverlässigen Nachweis über das noch Existierende in bzw. aus den historischen Regionen Pommern, West- und Ostpreußen sowie dem Baltikum zu geben. Dass die Verluste auf diese Weise ebenso dokumentiert wurden und werden, versteht sich von selbst.9 Gerade die Erfahrung der massenhaften Vernichtung ist es, die dazu bewogen hat, das schließlich nachgewiesene und katalo- gisch erschlossene Schrifttum in Zusammenarbeit mit den jeweiligen

9 Zum Hintergrund vgl. einerseits die auf Fachtagungen basierenden Sammel- bände: Kulturgeschichte Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber, Manfred Komorowski und Axel E. Walter. Tübingen 2001 (= Frühe Neuzeit 56); Kulturgeschichte der baltischen Länder in der Frühen Neuzeit. Mit einem Ausblick in die Moderne. Hrsg. von Klaus Garber und Martin Klöker. Tübingen 2003 (= Frühe Neuzeit 87); Königsberger Buch- und Bibliotheks- geschichte. Hrsg. von Axel E. Walter. Köln u.a. 2004 (= Aus Archiven, Biblio- theken und Museen Mittel- und Osteuropas 1); Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sabine Beckmann und Klaus Garber. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit 103); Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. T. I-II. Hrsg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders, Holger Luck und Winfried Siebers. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit 111) sowie die einschlägigen Darstellungen von Klaus Garber: Schatzhäuser des Geistes. Alte Bibliotheken und Büchersammlungen im Baltikum. Köln u.a. 2007 (= Aus Archiven, Bibliotheken und Museen Mittel- und Osteuropas 3); ders.: Das alte Königsberg. Erinnerungsbuch einer untergegange- nen Stadt. Köln, Weimar, Wien 2008.

Chloe 43 46 Martin Klöker

Bibliotheken und dem Verlag Olms auch als Volltext auf Mikrofiche zugänglich zu machen. So wird eben auch dem Aspekt der Bestands- sicherung Rechnung getragen, der angesichts mancherorts dubioser Vorgänge und allzu häufig völlig unzureichender Lagerung und Siche- rung in einigen Bibliotheken gerade des Ostens (aber erinnert sei auch an den Brand der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek am 2. September 2004!) durchaus als wichtig bezeichnet werden darf. Für die Gelegenheitsdichtung selbst liegt mit der Mikrofiche-Edition eine beispiellose Quellensammlung vor, die als Ausgangsbasis für die Gattungsgeschichte unumgänglich sein sollte.10 Aus der Bearbeitung von Bibliotheksbeständen ergeben sich ganz unterschiedliche regionale Schwerpunkte für das jeweils Verzeich- nete. Regionales Kleinschrifttum, um das es sich bei der Gelegenheits- dichtung ja in der Regel handelt, wurde und wird vor allem an den re- gionalen Sammelinstitutionen bewahrt. So steht zu vermuten, dass etwa das Revaler und estländische Schrifttum in größter Anzahl in den örtlichen Bibliotheken und Archiven zu finden sein wird. Eine solche Vermutung dient leider häufig – in notwendigem Pragmatismus – als Ersatz für weitergehende bibliographische Recherchen. So wird etwa das Bremer Hochzeitsgedicht anhand der in der Staatsbibliothek Bre- men vorhandenen Bestände untersucht, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, wie diese Bestände zusammenkamen und ob man sie als annähernd vollständig bezeichnen kann.11 Beides kann durchaus der Fall sein, ist es in der Regel aber nicht. Dies kann für die literatur- wissenschaftliche Charakteristik von verheerender Auswirkung sein: Für das Beispiel Reval etwa sind trotz sehr geringer Kriegsverluste die ergänzenden, außerhalb der Stadt und des Landes aufgefundenen Be- stände an Revaler Schriften nicht nur quantitativ, sondern auch hin- sichtlich des Gesamtbildes wichtig. Während die in der estländischen Stadt bewahrten Drucke aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts fast nur das bürgerliche Milieu in der Gelegenheitsdichtung zeigen, sind eine Reihe von Gelegenheitsschriften mit adeligen Verfassern und Ad- ressaten im schwedischen Västerås in einem Sammelband zu finden.12 Sieht man einmal ab von der immer zu stellenden Frage nach Be-

10 In Zusammenarbeit mit den am Projekt beteiligten Bibliotheken werden gegen- wärtig die Möglichkeiten zur Digitalisierung der Gelegenheitsschriften geprüft. 11 Vgl. Juliane Fuchs: HimmelFelß und Glückes Schutz. Studien zu Bremer Hoch- zeitsgedichten des 17. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u.a. 1994 (= Helicon 16). 12 Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 481 und 483-484; T. II, S. 12.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 47 standsverlusten vor Ort, ist eine solche überregionale Streuung der Gelegenheitsdrucke eines der Hauptprobleme der Forschung. Im Os- nabrücker Projekt führt dies zu einem großen Anteil von Gelegen- heitsdrucken aus anderen als den aufgesuchten Regionen. Beispiels- weise sind von den 4683 verzeichneten Gelegenheitsdrucken aus Ar- chiven und Bibliotheken in Riga lediglich 2926 aus der historischen Region Altlivland (Liv-, Est- und Kurland), während die übrigen Dru- cke (immerhin über ein Drittel) in weiter Streuung aus den verschie- denen deutschen Regionen und darüber hinaus stammen. Bei den Tal- linner Beständen sind sogar 73 Prozent der Drucke anderen Regionen zuzuordnen. Folglich sind die Bände des Handbuches schon jetzt, in ihrer Bestandsaufnahme für den südlichen Ostseeraum, zugleich eine Fundgrube für den gesamten deutschen Sprachraum und darüber hin- aus. Doch diese Streuung ist zugleich Ausdruck der zeitgenössischen Praxis: Zahlreiche Gelegenheitsdrucke wurden verschickt oder gelangten durch gezielte Sammlung in der Hand von einzelnen Ge- lehrten in weit entfernt gelegene Bibliotheken und Archive. Wurde also am Entstehungsort manches vernichtet, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass irgendwo vielleicht doch noch ein Exemplar existiert. Inso- fern ist jeder einzelne Nachweis für einen Gelegenheitsdruck gleich welcher Provenienz immer ein Mosaikteilchen, das in dem Bild der jeweiligen regionalen Produktion fehlen könnte. Von Bedeutung ist die Zusammenstellung nach den heute vorhandenen Beständen aber auch, weil sich in diesen die historischen Austauschprozesse und Wanderungsbewegungen spiegeln. Bibliotheks- und provenienzge- schichtliche Untersuchungen können zeigen, auf welche Weise die Gelegenheitsgedichte aus anderen Regionen hierher gelangten. Deut- lich wahrnehmbar sind dabei die regionalen Verbindungen etwa durch den Handel der Kaufleute und die peregrinationes der Studenten. In den baltischen Bibliotheken zeigt sich beispielsweise eine enge Bin- dung der Bestände an Ostpreußen, das mit Königsberg einen der wichtigsten Studienorte für baltische Studenten stellte. Daneben bildet das schwedische Gelegenheitsschrifttum einen Schwerpunkt, da Alt- livland bis 1710 zum schwedischen Reich gehörte; für das 18. Jahr- hundert ist dann hingegen die Zugehörigkeit zum russischen Zaren- reich in der Gelegenheitsdichtung sichtbar. Die Gedichte bieten eine beispiellose Chance zur Analyse der Beziehungen im Einzelnen, da die Texte sowohl im Hinblick auf die ‘offizielle’ Ebene (etwa zu

Chloe 43 48 Martin Klöker staatsrelevanten Anlässen wie Huldigung oder Begrüßung des Re- genten in der Stadt) als auch auf der persönlichen Ebene (beispiels- weise Gratulationen unter Gelehrten) Informationen enthalten, wo- durch wiederum ein Netzwerk in deutlicher Ausdifferenzierung re- konstruierbar ist. Aus Sicht der Literaturwissenschaft sollte die Gele- genheitsdichtung selbst vor allem als Medium und Gegenstand des Kulturtransfers im Blick stehen. In ihr vollzieht sich die Weitergabe von poetischen Neuerungen über große Distanzen ebenso, wie ein- zelne Topoi, Themen und Motive, ja sogar Wortlaute aufgenommen und umgestaltet werden.13 Erfasst werden im Osnabrücker Handbuch lediglich die selbständig gedruckten Gelegenheitsgedichte. Diese pragmatische Festlegung war notwendig, da fast alle Schriften der Frühen Neuzeit Gelegenheitsge- dichte enthalten können: Leichenpredigten umfassen beispielsweise oft Trauergedichte im Anhang, gedruckten Disputationen wurden nicht selten einzelne Gratulationsgedichte beigegeben, und alle Arten von Büchern – von Traktaten bis zu Grammatiken und Wörterbüchern – können Gratulationen an den Verfasser zum Erscheinen des Werkes aufweisen. Die Durchsicht und Erfassung all dieser Gelegenheitsge- dichte hätte jeden zeitlichen Rahmen gesprengt und zudem die Art der Erfassung erschwert, da die jeweilige Quelle für das Gedicht nachge- wiesen werden müsste. Gleichwohl ist zu betonen, dass diese Ge- dichte eine wichtige und im Kern unumgängliche Ergänzung zu den selbständig publizierten Casualia darstellen, da die Publikationsform selbst zunächst ein rein äußerliches, oftmals wohl zufälliges und vom eigentlichen Dichtungsprozess losgelöstes Faktum sein dürfte. Hinzu kommt jedoch, dass je nach Anlass und entsprechendem Schrifttum die Möglichkeit zur Publikation differieren kann, so dass die im Er- gebnis vorliegende Anzahl einer bestimmten Untergattung zu relati- vieren wäre. So ist die Anzahl der selbständig gedruckten Hochzeits- gedichte (Epithalamia) auch deshalb relativ hoch, weil für diese nur in ganz seltenen Fällen die Möglichkeit bestand, als Beigabe zu einer ge- druckten Hochzeitspredigt veröffentlicht zu werden. Bei Trauerge- dichten (Epicedien und Epitaphien) ist dies anders, da Leichenpredig- ten deutlich häufiger im Druck erschienen und somit eine willkom- mene Basis für die kombinierte Publikation darstellten. Hier gab es je nach Ort und Drucker offensichtlich verschiedene Bräuche, die wie-

13 Zu den jeweiligen Bestandsschwerpunkten vgl. die bibliotheksgeschichtlichen Einleitungen und die Register der einzelnen Handbuch-Bände.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 49 derum mit der Zeit verändert wurden. In Reval ist beispielsweise in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Entwicklung von einer ge- trennten zur gemeinsamen Publikation nachweisbar. Dabei sind für den Übergang Mischformen zu entdecken, so dass etwa bei Verwen- dung von vollständigen Titelblättern (inkl. Impressum) lediglich die fortlaufende Bogensignatur auf die Zusammengehörigkeit verwies oder durch typographische Gestaltung der Zwischenüberschriften noch der Eindruck von getrennten Teilen erweckt wurde, obwohl an- hand der Bogenfolge die Zusammengehörigkeit zwingend war.14 Diese Beobachtung hat Auswirkungen auf die Datierung von Gele- genheitsgedichten. Für die separate Publikation darf zumeist von ei- nem direkten Zusammenhang mit dem Anlass ausgegangen werden, so dass die Gedichte möglicherweise schon gedruckt etwa bei der Hochzeit oder der Bestattung überreicht wurden. Das Erscheinen im Anhang hingegen zu beispielsweise einer Leichenpredigt belegt zu- nächst und vor allem die viel spätere Veröffentlichung. In diesem Fall besteht zwar die Möglichkeit, dass die Trauergedichte schon zur Be- stattung vorgetragen oder (handschriftlich) vorgelegt wurden. Dann wäre allerdings noch viel Zeit, die in der Regel erst Monate später und nicht selten auf ausdrücklichen Wunsch im Druck vorgelegte Leichen- predigt mit weiteren oder überhaupt erst mit Trauergedichten auszu- statten. Die mitabgedruckten Gedichte könnten folglich erst Monate nach dem Anlass (dem Todesfall) entstanden sein. Andernfalls be- stand zumindest die Möglichkeit, die Gedichte in aller Ruhe für den Druck zu überarbeiten. – Beides stünde in krassem Gegensatz zu der von Opitz kritisierten und in den Gedichten topisch manifestierten An- fertigung unter Zeitdruck.15 Die Publikationsform unterlag noch einem weiteren Faktor, der ebenfalls massive Auswirkungen auf die örtliche Produktion von Ge- legenheitsgedichten hatte. Obrigkeitliche Ordnungen oder Vorschrif- ten konnten durch direkte Verbote oder Einschränkungen die Rahmen- bedingungen setzen. Beispielsweise wurde in Estland 1665 in der ver- mutlich auf eine schwedische Bestimmung zurückgehenden Erne-

14 So z.B. wenn ein ausführlicher Titel in Art eines Titelblattes auf der Rückseite eines Blattes geboten wird. Vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 495-496. 15 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Hrsg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 19: “Diese vnbesonnene Leute aber lassen vns weder die rechte zeit noch gelegenheit: […].” Vgl. Segebrecht (s. Anm. 1), S. 201 ff., insbes. S. 207-211.

Chloe 43 50 Martin Klöker werte[n] Land-Ordnung festgelegt, dass Gelegenheitsgedichte nicht ohne die Genehmigung des Adressaten angefertigt bzw. überreicht werden durften, da man in der überhand nehmenden eigenmächtigen Darbietung eine Bettelei zu sehen glaubte. In Riga wurde 1674 ver- sucht, die Hochzeitsgedichte zu verbieten, was die Kaufleute jedoch verhinderten. In Thorn wurde in der Revidierten Kleider- Verlöbniß- Hochzeit- Kindtauff- und Begräbniß-Ordnung von 1722 präzise vor- gegeben, wer unter welchen Bedingungen wie viele Gedichte zu wel- chem Preis erhalten oder bestellen durfte.16 Weniger offensichtlich von Bedeutung für die Gelegenheitsgedichte war die vom Revaler Rat getroffene Festlegung, dass nur Priester und Bürgermeister in der Stadt eine gedruckte Leichenpredigt erhalten durften. Auf diese Weise war jedoch allen anderen Bürgern die Mög- lichkeit verwehrt, Trauergedichte unselbständig zu publizieren; oder umgekehrt: für diese anderen Bürger (darunter so herausragende Per- sonen wie Ratsherren, Gymnasialprofessoren oder Ärzte) eröffnete die selbständige Veröffentlichung von Trauergedichten die einzige Mög- lichkeit der Verewigung im Dichterwort mit allen repräsentativen und der Memoria dienenden Funktionen. Dass hiervon nur gerne Gebrauch gemacht wurde, kann nicht weiter verwundern. Erstaunlich ist viel- mehr, dass der allmählich immer weiter um sich greifende Brauch in Reval nicht ebenfalls einer obrigkeitlichen Beschränkung unterworfen wurde.17 Unter den Formaten der selbständig veröffentlichten Gelegenheits- dichtungen waren im 16. Jahrhundert regionenübergreifend vor allem das Oktav und das Quart vorherrschend. Im 17. Jahrhundert war das Quartformat eindeutig vorherrschend, während repräsentativere

16 Ernewerte Land-Ordnung/ Wie es mit Den Kleidungen/ Hochzeiten/ Kindtauffen/ Begräbnüssen und andern im Lande eingerissenen Unordnungen/ und deren Ab- schaffung hinführo soll gehalten werden. Reval/ Gedruckt von Adolph Simon/ Gymn. Buchdr. Anno 1665, hier Bl. B1r-v. [AB Tallinn, IV 3343]. Diese Ord- nung galt nicht in der Stadt Reval und stellte ja auch keine generelle Einschrän- kung dar! Eine parallele Verordnung aus der Stadt ist bisher nicht bekannt. – Erich Trunz: Rezension zu Kurt Tiersch: Deutsches Bildungswesen im Riga des 17. Jahrhunderts. München 1932 (= Schriften der Deutschen Akademie in Mün- chen 10). In: Deutsche Literaturzeitung 54 (1933), Sp. 838-843, hier Sp. 841. Trunz legte seine Quelle für die Rigaer Bemühungen leider nicht offen. – Sabine Beckmann: Die ehemalige Gymnasialbibliothek zu Thorn. Das ephemere Klein- schrifttum als Knotenpunkt des frühneuzeitlichen kulturellen Lebens der Stadt. In: Handbuch (s. Anm. 6) Bd. 3, S. 17-35, hier S. 29. 17 Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 122.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 51

Schriften etwa in Adelskreisen oder auf das Königshaus meistens das Folioformat nutzten, das um 1700 dann immer häufiger verwendet wurde. Daneben sind immer wieder Gelegenheitsschriften unter- schiedlicher Anlässe als Plakatdruck gestaltet worden, ohne dass eine grundsätzliche Erklärung hierfür erkennbar ist. Zu vermuten ist die Verwendung für Aushänge an Türen oder Wänden – wie beispiels- weise anlässlich der Eröffnung der Universität in Dorpat 1632 nach- gewiesen –, doch fehlen in fast allen Fällen die Nachweise für solche Hintergründe. Im 18. Jahrhundert nahmen mit dem zunehmend priva- ten Charakter die Drucke im Oktavformat mit kleineren Drucktypen zu. Eine Sondererscheinung sind ‘Bändchendrucke’, die eben auf ei- nem breiten Seidenband oder einem schmal geschnittenen Papier ge- druckt wurden und vermutlich auf die Sitte der Spruchbänder zurück- zuführen sind, die beim Namenstag dem Adressaten um die Handge- lenke geschlungen wurden. Allerdings fehlen auch hier noch entspre- chende Nachweise.18 In diesem Zusammenhang ist selbstverständlich auf die am Ort vor- handenen Produktionsmöglichkeiten und deren Folgen hinzuweisen. Die Existenz einer Druckerei am Ort schafft in aller Regel erst die Möglichkeit für ein reichhaltiges Gelegenheitsschrifttum, da die Be- auftragung von weiter entfernt gelegenen Offizinen wegen des zeit- lichen Aufwandes und der entstehenden Zusatzkosten für Boten, Fracht und dergleichen kaum attraktiv erschienen. Darüber hinaus sind sowohl die oben erwähnten örtlichen Gepflogenheiten hinsicht- lich der Druckgestaltung als auch die technischen Möglichkeiten der jeweiligen Offizin zu berücksichtigen. Weitgehend vernachlässigt wurde bisher auch die Frage der Zuverlässigkeit des jeweiligen Dru- ckers oder Setzers, wenn es um die Beurteilung von metrischen Unzu- länglichkeiten oder sonstigen Mängeln in der Gele-genheitsdichtung geht, die als Massenware sicherlich nicht den strengsten Kontrollen unterworfen war. In einem Revaler Druck ist beispielsweise anhand sämtlicher Exemplare zu sehen, dass der Drucker eine komplette Ge- dichtzeile vergessen hatte, die dann hand-schriftlich in allen Exemp-

18 Eine größere Anzahl von Bändchendrucken ist bspw. im Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 12-15 zu finden. Martin Klöker: Bibliotheken und Archive in Riga. Literari- sche Kultur im Spiegel der rekonstruierten Sammlungen personalen Gelegen- heitsschrifttums der Frühen Neuzeit. In: Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 12, S. 21-54, hier S. 45-46. Vgl. auch Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 552-554 zum Namenstags- brauch.

Chloe 43 52 Martin Klöker laren nachgetragen wurde.19 Insofern können zeitgenössische hand- schriftliche Zusätze wichtigste Ergänzungen oder Korrekturen liefern, umso mehr, wenn – wie durchaus häufig zu finden – die Drucke vom Autor mit einer handschriftlichen Widmung versehen wurden.20

Autor

Die Rolle des Autors erscheint für die Gelegenheitsdichtung zunächst unspektakulär; scheint doch dieser Faktor hinter der ungeheuren Masse an mehr oder weniger gleichförmigen Gedichten in der Menge der Autoren zu verschwinden, so dass allenfalls der Literaturwissen- schaftler mit viel Mühe die herausragenden Dichter aufspüren könnte. Doch bei genauerem Hinsehen ergeben sich wichtige Details, die von entscheidender Bedeutung für die Gelegenheitsgedichte wie für die Literatur der Frühen Neuzeit überhaupt sind. Hierzu ist vor allem die Konstellation von Autor, Anlass, Adressat und Gedicht ernst zu neh- men, da jeder Faktor für sich allein betrachtet kaum verständlich ist. Vielmehr konstituieren die vier in der jeweils vorliegenden Ausprä- gung und der jeweiligen Art der Verbindung mit den anderen Faktoren erst das Gelegenheitsgedicht.21 Die Art der Autorschaft kann bereits viele Facetten haben, die sich dann selbstverständlich auf die anderen Faktoren und somit auch das Gedicht als Ganzes auswirken. Insge- samt wird Autorschaft bei der Gelegenheitsdichtung in beispielloser Bandbreite ausgestaltet: Vom ‘Standardfall’ eines einzelnen Autors, der ein oder mehrere Gedichte liefert, über Zusammenschlüsse ver- schiedener Autoren (Verfassergemeinschaften), über Institutionen als Autor bis zu einer Reihe von fast zweihundert Autoren eines einzelnen Gedichts. Hier gibt es fast alles, was denkbar erscheint und den Au- torbegriff auf nahezu experimentelle Weise denkbar weit dehnt. Denn die Frage, wer genau bei einer Vielzahl von genannten Autoren oder bei einer Institution als Autor denn das Gedicht wirklich verfasste,

19 Klöker (s. Anm. 3), T. II, S. 18. Zu fehlerhaften Drucken vgl. auch Beckmann (s. Anm. 16) S. 30. 20 Im Handbuch standardisiert als “Hs. Eintrag” notiert. Vgl. auch die ausführlichen Nachweise in den Bemerkungen zum jeweiligen Exemplar bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, beispielsweise Nr. 191 (Ex. Moskau) und Nr. 201 (Ex. Dresden). 21 Segebrecht (s. Anm. 1), S. 68-73.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 53 muss zunächst offen bleiben und wird in vielen Fällen überhaupt nicht zu beantworten sein. Als Grundunterscheidung bietet sich aufgrund des empirischen Be- fundes die auch im Osnabrücker Projekt praktizierte Trennung von der sogenannten ‘Verfasserschrift’ von der ‘Sammelschrift’ an. Eine Ver- fasserschrift stammt in der Regel von einem Autor, der zumeist auch auf dem Titelblatt genannt ist,22 während eine Sammelschrift von di- versen Autoren (‘Beiträgern’) stammt, die sich zu einem Anlass mit ihren Gedichtbeiträgen – häufig (aber nicht zwingend notwendig) un- ter Bezeichnung einer ‘Verfassergemeinschaft’ – zusammengefunden haben.23

Abb. 1: Beispiel für eine Verfasserschrift (aus Handbuch Bd. 12)

22 Zu denken ist beispielsweise an Paul Flemings Gratulationsschrift auf Timotheus Polus (Ode Germanica, Reval 1636), die zunächst eine lateinische Zuschrift (De- dikatorium) und dann das eigentliche Gedicht, eine deutsche Ode, enthält. Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 112. Vgl. auch das abgebildete Beispiel aus dem Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 12. 23 Beispiel für eine Sammelschrift: Hochzeitsschrift der Gymnasialprofessoren auf Luhr und Boysmann, Reval 1634 (5 Beiträger liefern insgesamt 10 Beiträge), vgl. Klöker (s. Anm. 3) II, Nr. 087. Vgl. auch das abgebildete Beispiel aus dem Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 12.

Chloe 43 54 Martin Klöker

Abb. 2: Beispiel für eine Sammelschrift (aus Handbuch Bd. 12)

Diese Grundformen sind jedoch nicht immer so eindeutig und klar ausgeprägt. So gibt es etwa Verfasserschriften, die zusätzlich Gedichte von Beiträgern enthalten. Diese zunächst überraschende Form ist in der Regel leicht damit zu erklären, dass der Hauptautor (= Verfasser), der auf dem Titelblatt genannt wird, seinen Text ins Zentrum des Dru- ckes stellte und dann untergeordnete Texte von anderen Autoren, die nicht auf dem Titelblatt erscheinen, – zumeist kleinere Gedichte – an- gehängt oder vorgeschaltet wurden. Eine solche Kombination von Texten wirft selbstverständlich Fragen auf, etwa die nach der Bezie- hung der Autoren untereinander bzw. zum Adressaten oder jene nach Konnexen unter den Gedichten. Dem Anschein nach handelt es sich nicht um einen von vornherein geplanten oder gleichrangigen Zu-

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 55 sammenschluss, doch müsste spätestens hier die interpretatorische Ar- beit einsetzen.24 Demgegenüber präsentiert sich die Sammelschrift als planmäßiger Zusammenschluss von mindestens zwei Autoren, die dann als im Grundsatz gleichrangige Beiträger zur Gesamtschrift anzusehen sind. Eine Höchstgrenze an Beiträgern gibt es im Prinzip nicht, wie an der in Halle a.d. Saale 1727 gedruckten Trauerschrift auf August Her- mann Francke (1663-1727) zu sehen ist, die Gedichte von insgesamt 199 Beiträgern umfasst. Eine so große Anzahl ist zwar außergewöhn- lich, zeigt aber, dass die Vielzahl an Autoren und Gedichten insgesamt das repräsentative und memoriale Quantum vergrößert. In diese Richtung verweisen auch Bestimmungen im Rahmen von Luxusbe- schränkungen, die mancherorts der immer größer werdenden Flut von Gedichten und Einzelschriften zeitweise Einhalt gebieten wollten.25 Der einzelne Beiträger fügt sich mit seinem Gedichtbeitrag in eine komplexe Architektur ein, die in personaler Hinsicht doppelt struktu- riert sein kann, indem sich die einzelne Person einerseits in eine – möglicherweise institutionell bestimmte – Autorengruppe und ande- rerseits innerhalb dieser in eine Hierarchie einfügt. Die Ausweisung von Autorengruppen oder ‘Verfassergemeinschaften’ geschieht in der Regel auf dem Titelblatt, kann allerdings auch – speziell beim Zusam- menschluss von mehreren Verfassergemeinschaften – in Zwischen- überschriften erfolgen. Die Abfolge der Verfassergemeinschaften ist dann genauso wie die Reihenfolge der einzelnen Beiträger innerhalb jeder Gruppe streng hierarchisch geregelt. Diese Hierarchien sind pa- rallel zu den ständischen Ordnungen und den mancherorts anzutref- fenden Rangstreitigkeiten oder problematischen Einordnungen gerade von einzelnen Gelehrten zu betrachten. Berücksichtigt wurden zu- nächst wohl die Ämter und Titel der Personen, aber offensichtlich auch das Alter und die Amtsjahre, so dass letzten Endes eine auf die

24 Ein Beispiel bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 087: Flemings Ode auf Georg Wil- helm Poemer, Reval 1634. In der doppelten Grundstruktur der Verfasserschrift (Zuschrift – Gedicht, Zuschrift – Gedicht) ist hier nach der ersten Zuschrift ein Anagramm von Timotheus Polus eingeschoben, der vermutlich den Druck der Schrift besorgte. Im Handbuch (s. Anm. 6) vgl. bspw. Bd. 13, Nr. 1498. 25 Die Trauerschrift auf August Hermann Francke bspw. im Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 0011, 0012 und 0711. Zu den Luxusbeschränkungen vgl. etwa die bei Beckmann (s. Anm. 16) präsentierten Angaben aus einer Thorner Ordnung von 1722. Ebd. wird auch auf eine äußerst weitreichende Buchdruckerordnung von 1759 für Danzig hingewiesen.

Chloe 43 56 Martin Klöker jeweilige Person zugeschnittene, sozusagen ‘individuelle’ Einordnung feststellbar ist, die sich überdies durch Änderungen der genannten Faktoren variabel zeigt. Den Anfang markiert der jeweils ranghöchste Autor; die letzte Stelle nehmen für gewöhnlich Schüler ein, die dann meistens eine persönliche Verbindung zum Adressaten besaßen und hier mit ihren ersten Gedichten an die Öffentlichkeit treten konnten.26 Insofern kann eine genaue Analyse der in den Gelegenheitsschriften sichtbaren Abfolge der Beiträger einen Einblick in die ständische Si- tuation und zugleich in die Entwicklungsprozesse am jeweiligen Ort liefern. Hier sind die sozialen Aufstiege der Personen und die Wertig- keiten der Ämter augenscheinlich. Auf lange Sicht können ebenfalls die epochalen Veränderungen der ständischen Fixierung beobachtet werden, denn der zum Ausgang der Frühen Neuzeit immer stärker sichtbare Rückzug der Gelegenheitsdichtung ins ‘Private’ hat selbst- verständlich Auswirkungen auch auf die Frage der Autorenhierarchie. Dies geht einher mit der Zurückdrängung der Titulaturen und Ämter, die ja gerade den genauen Standort in der Ständehierarchie festlegten, und zuweilen sogar der genauen Namensnennung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kommen im akademischen Bereich Gele- genheitsgedichte auf, die ein einziges Gedicht enthalten und von einer großen Anzahl von Verfassern nur mehr in alphabetischer Auflistung unterzeichnet sind. In der Regel sind hier die Vornamen abgekürzt oder überhaupt nicht genannt; rudimentäre Angaben wie eine Her- kunft “aus Ohrdruf” ermöglichen fast nur dem Eingeweihten eine

26 Im Handbuch werden ggf. vorhandene Zwischenüberschriften, die auf Verfasser- gemeinschaften verweisen, unter den Annotationen vermerkt. So etwa in der er- wähnten Trauerschrift auf August Hermann Francke (s. Anm. 25), wo die ver- schiedensten Gruppen – zum Teil mit Binnendifferenzierung – benannt sind: “I. Einiger Einheimischen Gönner und Freunde/ A. Gewisser Corporum. B. Einzel- ner Personen und gewisser Gesellschaften derer Herren Studiosorum. C. Einiger zu den Glauchischen Anstalten gehöriger Personen. II. Einiger auswärtigen Gön- ner und Freunde/ welcher Schriften man nach der Zeit/ wie sie eingesandt wor- den/ rangiret hat. – Einige von Wittenberg den 17. Aug. eingeschick-te Carmina. – Einige von Iena den 20ten Aug. eingeschickte Carmina. – Einige von den 30. Aug. eingeschickte Carmina. – Anhang/ in sich begreifend einige etwas spät eingeschickte Carmina. – QUALECUNQUE MNEMOSYNON ELEGIA- CUM CALENIANUM. – Einige von Königsberg in Preussen geschickte Carmi- na.” – In einer Revaler Trauerschrift von 1709 hingegen sind die Trauergedichte des Gymnasiums nach Lehrern (Beiträger 02-06), Schülern der Prima (07-23) und Schülern der Secunda (24-60) differenziert. Vgl. Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 0588.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 57

Identifizierung der Person. Häufig ist lediglich aus externen Quellen zu eruieren, dass es sich um Studenten einer bestimmten Universität handelt.27 Bei den Verfassergemeinschaften handelt es sich allem Anschein nach um institutionell fixierte oder frei gewählte Gruppenbezeichnun- gen. Am häufigsten und regional übergreifend sind der persönlichen Verbindung entspringende Zusammenschlüsse als ‘Freunde’, ‘Gön- ner’, ‘Verwandte’ und dergleichen zu finden. Offensichtlich sind re- gionale Unterschiede bzw. Sitten und Bräuche, die einen Einblick in örtliche Strukturen gewähren, wobei auch die Frage von Bedeutung ist, welche der jeweils üblichen Gruppen am häufigsten auftritt und gewissermaßen den Takt vorgibt für die Anfertigung von Gelegen- heitsgedichten. In Reval beispielsweise gab es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine klare Orientierung an den Institutionen in Stadt und Land. Führend war das Gymnasium, dessen Lehrende meistens als ‘Gymnasij Revaliensis Rector et Professores’ ihre Gedichte liefer- ten. Unabhängig von der Vollständigkeit der Beiträger – etwa dem Fehlen einzelner Professoren oder der ‘Collegen’ für Tertia und Quarta – waren Varianten der Verfassergemeinschaft üblich, wie etwa “verfertiget im Gymnasio zu Revall”, “ausz dem Gymnasio”, “ab Amicis in Gymnasio”, “von guten Freunden auß dem Gymnasio”, “geschrieben Jm Gymnasio zu Revall”, “à Gymnasij Professoribus & Collegis”, “vom Rectore vnd seinen Collegen” usw. Hinzu kamen ge- trennte Sammelschriften von den Schülern, die als “Gymnasii Alumni” wie alle Gelehrten ihre Gedichte schrieben und veröffent- lichten, um “dem löblichen Gebrauch nachzukommen”.28 Als weitere Verfassergemeinschaften sind dann – deutlich seltener – die Geistli- chen und Schullehrer der Unterstadt (“à Reverendo Ministerio Reva-

27 Vgl. etwa Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 0267: V10 “Koch, der R.B. aus Ohrdruf”. Bei einer Gratulationsschrift zur Disputation aus dem Jahr 1776 (ebd., Nr. 0249) ist beispielsweise lediglich aus den Namen der beteiligten Personen (Adressat Carl Wilhelm Beck und 26 Beiträger als Verfassergemeinschaft “von einigen Freunden”, die mit abgekürzten Vornamen und gekürzter Studienfachan- gabe aufgelistet sind) und der unvollständigen Druckerangabe zu erschließen, dass es sich um einen Leipziger Druck handeln muss und die Studenten folglich an dieser Universität waren. 28 Die zitierten Verfassergemeinschaften sind sämtlich über den Registereintrag zum Gymnasium Reval zu finden bei Klöker (s. Anm. 3), T. II. Das letzte Zitat ebd., T. I, S. 479 aus der Hochzeitsschrift auf Pegau und Schrove, Reval 1643 (nachgewiesen ebd., T. II, Nr. 291).

Chloe 43 58 Martin Klöker liensi”) und jene der Oberstadt (“Ministerium Revaliense Acropolita- num”) zu finden. Autoren aus diesen Gruppen traten jedoch nicht kontinuierlich in einer bestimmten Konstellation auf, vielmehr waren hier die freundschaftlichen bzw. amicalen Verbindungen häufig aus- schlaggebend für die Darbietung, so dass auch die Verfassergemein- schaft lediglich als ‘Freunde’ auftrat und einen gegebenenfalls vor- handenen institutionellen Zusammenhang überdecken konnte. In Riga hingegen war der Autorenkreis zwar größer als in Reval, doch er war nicht so institutionell fixiert. Einzelne Verfassergemeinschaften sind fast nie nach den Institutionen benannt, sondern fast immer als ‘Freunde’ und Gönner oder Kollegen. Selbst eine Leitfigur wie der Oberpastor und Superintendent Johann Brever (1616-1700) war be- ständig mit Gedichten beteiligt und integriert in den Kreis bzw. ran- gierte nach dem Aufstieg stets an der Spitze der Verfassergemein- schaften und stand nicht außerhalb.29 Bei der Betrachtung des einzelnen Autors ist zu ergänzen, dass ver- schiedenste Formen des Versteckspiels – vom wirklichen Anonym bis zum textlich ausformulierten Rätsel – üblich sind. Ein Problem bei der Identifizierung stellen die häufig anzutreffenden Kürzel dar, die in al- ler Regel für die Namensinitialen, akademische Titel und Berufs- so- wie Herkunftsangaben verwendet werden. Auch hier ist die Band- breite an benutzten formalen Spielereien riesig und wurde – da auf die jeweilige Person und den jeweiligen Anlass prinzipiell immer neu be- ziehbar – beständig erweitert. Relativ leicht zu entschlüsseln sind im Kontext der jeweiligen Gesamtschrift und insbesondere des Druck- bzw. Anlassortes die üblichen einfachen Abkürzungen wie beispiels- weise “T.P.P.L.C. & H.A.R.P.” für ‘Timotheus Polus Poeta Laureatus Coronatus & Henricus Arningus Rhetorices Professor’ oder “S.D.” für ‘’.30 Wenn hingegen ein ganzes Feld mit Buchstaben unter sein Gedicht setzt und sich im Mittelpunkt mit sei- nem Kürzel versteckt, dürfte die Identifizierung kaum möglich sein ohne externe Hinweise wie zum Beispiel die Aufnahme des Textes in

29 Ein Eindruck von den Rigaer Gelegenheitsgedichten ist zu finden vor allem im Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 12-15 (Riga). 30 Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 489 und Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 093. Der Nachweis für “S.D.”: Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 289 und 330 (beide noch ohne Zuordnung zu Simon Dach, die erst bei der Personenidentifizierung in der biographischen Datenbank erfolgte).

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 59 eine zeitgenössische Sammelausgabe des Autors.31 Die spielerischen Varianten sind verständlicherweise den fröhlichen Anlässen vorbehal- ten, dennoch ist die ‘Initialnennung’ bei Trauergedichten nicht unüb- lich. Schwer zu entdecken ist die Autorschaft unter anderem Namen, die den Autorbegriff im Grunde genommen sprengt, da doch eine an- dere reale Person die Verfasserschaft reklamiert, wenn der Hinter- grund nicht ausdrücklich genannt ist. Dies scheint jedoch der Normal- fall gewesen zu sein. Für Paul Fleming konnte Johann Martin Lappen- berg eine Reihe von Gedichten identifizieren, die ohne jeden Hinweis auf Flemings Autorschaft im Erstdruck unter anderen Namen erschie- nen sind. Dass dabei selbst der Name seines als potentieller Autor durchaus in Frage kommenden Freundes Hartmann Gramann auf- taucht, muss als alarmierendes Zeichen gewertet werden: Wie viele der vorgegebenen Autorschaften sind dann noch glaubhaft?32 Das Beispiel zeigt, dass es zwingend notwendig ist, bei der Be- trachtung einer Gelegenheitsschrift die einzelnen Autoren im Hinblick auf ihre Eigenschaften zu analysieren, um zumindest ein gewisses Maß an Sicherheit zu gewinnen. Denn bereits ein Vergleich mit ande- ren Gedichten eines Autors – wenn es denn welche gibt – könnte in solch einem Fall weiterhelfen. Zusätzlich ist die sogenannte ‘Produk- tionsmotivation’ zu beachten, die sehr häufig vom Autor selbst auf dem Titelblatt und/oder in der Unterzeichnung des Gedichtbeitrages angegeben wird und Hinweise gibt, warum dieser Autor auf diesen Adressaten bei diesem Anlass ein Gedicht liefert. Die gängige Formu- lierung bei den lateinischen Gedichten bzw. in lateinischer Sprache lautet ‘honoris ergo fecit’, woraus die – überraschend seltene – deut- sche Übertragung ‘zu Ehren angefertigt’ entstand. Dieser Grundhal-

31 Deutsches Namenstagsgedicht in der Gratulationsschrift auf Hartmann Gramann, Reval 1635, Beitrag Nr. 4 vom vierten Autor: “Deß Herren gute Freunde vnd CAMERADEN H.V.S. H.S. H.C.V.V.| H.A.B. M.F. L.B.| H.B.H. W.K.V.B.” Der ’Magister Fleming’ versteckt sich im Mittelpunkt der Kürzel, die das “M.F.” im Druck komplett einschließen und dem Beitrag als Subscriptio folgen. Hand- buch (s. Anm. 6), Bd. 15, Nr. 4067 (hier noch als acht einzelne Beiträger und ohne Zuordnung zu Fleming) und Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 098. Das Gedicht ist zu finden in der noch von Fleming selbst zusammengestellten Edition: Paul Flemings Teütsche Poemata. Lübeck [1646], S. 408-409 (Oden IV, 9). Eingegan- gen auch in Paul Flemings Deutsche Gedichte. Bd. I-II. Hrsg. von J.M. Lappen- berg. Stuttgart 1865 (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 82-83) (Nachdruck: Darmstadt 1965), S. 364-365 (Oden IV, 25). 32 Das Gedicht unter Gramanns Namen findet sich in der Trauerschrift auf Elisabeth Müller (Paulsen), Reval 1635, bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 091, Beitrag 3.

Chloe 43 60 Martin Klöker tung entspricht übrigens auch die zeitgenössische Bezeichnung der personalen Gelegenheitsgedichte als ‘Ehrengedichte’. Daneben sind Formulierungen wie ‘auf Wunsch’, ‘aus Pflicht und Schuldigkeit’, ‘auß schüldiger Freundschafft’ oder ‘aus schwiegerlicher affection’ und dergleichen mehr anzutreffen. Zweifellos wäre eine Analyse der Produktionsmotivationen über Regionen und Zeiten hinweg hilfreich, um Aufschlüsse zur Rolle des Autors in der Frühen Neuzeit zu gewin- nen. Doch hierzu wäre es notwendig, die Angabe als die eine Seite aufzufassen, der selbstverständlich eine Untersuchung der jeweiligen Autor-Adressat-Beziehung gegenüberstehen müsste. Denn neben den abgedruckt zu findenden Motivationen gibt es weitere, die mindestens ebenso wirkungsmächtig sein können, aber nicht zum Abdruck tau- gen: Man denke nur an die vielen Gedichte gerade von Studenten und Hauslehrern oder jungen Gelehrten, die sich mit ihren Gedichten nicht zuletzt beim Adressaten einführen wollten. Mit ihren Beiträgen emp- fahlen sie sich bei der Obrigkeit, speziell also bei Ratsherren und Bür- germeistern oder beim Gouverneur, für ein gelehrtes Amt. Denn die poetische Rede implizierte den Nachweis von Fähigkeiten. Die Be- herrschung vieler Sprachen und in diesen wiederum vieler Versmaße und Gedichtformen belegte zusammen mit der rhetorischen Grund- kenntnis das sprachliche Vermögen, das beispielsweise als Sekretär in Kanzleien oder als Schullehrer gefordert war. Überdies konnte der Autor Sachkenntnis zeigen, indem er etwa passende theologische Po- sitionen im Hochzeitsgedicht darbot oder eine fingierte Gerichtsrede poetisch umsetzte, um nur zwei Beispiele zu nennen.33 In ganz anderer Hinsicht ist die Frage zu stellen, ob der Autor seine Aufgabe nicht qua Amt zu erledigen hatte. Dies ist für die Poesiepro- fessoren an Gymnasien und Universitäten ähnlich zu vermuten, wie für die am Hofe angestellten Dichter. Insofern ist der Poesieprofessor des Revaler Gymnasiums doch wohl als Verfasser eines Gedichts zu vermuten, dessen Autor als ‘vom Gymnasio zu Revall’ zeichnet.34 Die Bestallungen der Poesieprofessoren müssten hier jeweils zu Rate ge- zogen werden, um im Einzelfall Sicherheit zu haben – sofern sie denn etwas Derartiges enthalten. Denn angesichts örtlicher Gepflogenheiten scheint eine solche ‘Vorschrift’ nicht notwendig gewesen zu sein.

33 Zur Produktionsmotivation generell Segebrecht (s. Anm. 1), S. 174-185; für die Revaler Gelegenheitsgedichte Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 485-489. 34 Hochzeitsschrift auf Hotfilter und Stampeel, Reval 1641. Vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 240.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 61

Zumal selbst bei einer Verpflichtung durch das Amt andere Motiva- tionen zusätzlich nicht ausgeschlossen waren. Eine ähnliche Rolle spielte die Frage der Bezahlung. Gehörten die Gedichte aus dem Re- valer Gymnasium zu den vom Drucker kostenlos anzufertigenden Gymnasialdrucken? Die Verträge und Akten zu den Revaler Druckern geben hierüber leider keinen Aufschluss. Dies wäre jedoch eine mög- liche Erklärung für die starke Präsenz des Gymnasiums und zugleich eine wichtige Produktionsmotivation.35

Adressat

Die Spezialität der Gelegenheitsdichtung ist ihr kommunikativer Cha- rakter. Sie erschöpft sich nicht in der Selbstaussprache des Autors, sondern ist an ein Gegenüber gerichtet. Im Gegensatz zur Liebes- dichtung, die ja ebenfalls an eine Person adressiert ist, gibt es – zu- nächst jedenfalls – keinen Rückzug in Zweisamkeit und Intimität, sondern einen mehr oder minder stark ausgeprägten und bewussten Einbezug eines Publikums. Anreden an die Festgesellschaft sind daher keine Seltenheit, obwohl der Vortrag vor dem Publikum beim jewie- ligen Anlass gewiss nicht immer für bare Münze genommen werden kann. In vielen Fällen musste erst durch die Publikation die Öffent- lichkeit hergestellt werden, was jedoch an der prinzipiell intendierten Rede vor Publikum nichts ändert.36 Die Gedichte sind in aller Regel an einen Adressaten gerichtet – mit der einen grundsätzlichen Ausnahme der Hochzeitsgedichte, die selbstverständlich Braut und Bräutigam in den Blick nehmen. Darüber hinaus ergibt sich aus den Gelegenheitsschriften die im Osnabrücker Projekt vorgenommene Differenzierung in ‘anlassstiftende’ und ‘an-

35 Fridrun Freise: Gelegenheitsdichtung und literarisches Leben im Elbing des 17. Jahrhunderts. Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien. Osnabrück 1999 [Typoskript] berichtet (S. 25) für Thorn im 18. Jahrhundert, daß Schüler der Prima und Sekunda für die auftragsmäßige Anferti- gung von Gelegenheitsgedichten vom Unterricht freigestellt wurden. – Umge- kehrt sind Auseinandersetzungen um die Berechtigung eines bestimmten Autors zur Lieferung eines Gelegenheitsgedichts für Thorn in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt. Vgl. Beckmann (s. Anm. 16), S. 21. 36 Als Beispiel für die nachträgliche Zusammenstellung und verspätete Einsendung von Gedichten vgl. die in Anm. 26 genannten Zwischenüberschriften in der Trauerschrift auf August Hermann Francke.

Chloe 43 62 Martin Klöker gesprochene Adressaten’. Insbesondere am Trauergedicht ist dies leicht ersichtlich, denn die verstorbene Person stiftet zwar durch ihren Tod den Anlass, kann aber nicht mehr wirklich angesprochen werden. Der Autor kann sich zwar in seinen Gedichten an den Verstorbenen richten, doch ist diese Rede uneigentlich. Im Gegensatz dazu stehen die Hinterbliebenen wie die gesamte Trauergemeinde als direkte Ad- ressaten zur Verfügung. An diese ist die eigentliche Rede gewandt, auf diese sind die Wirkabsichten gerichtet und von diesen wird der (irdische) Lohn erwartet. So sind einzelne nächste Verwandte bei Trauergedichten in aller Regel als angesprochene Adressaten ange- setzt. Ähnliches gilt für Hochzeitsgedichte, bei denen sehr häufig der Vater der Braut mit in den Blick genommen wird. Allerdings muss hier klar unterschieden werden, ob ein genannter Vater nicht lediglich zur näheren Definition der Tochter erwähnt wird. Denn während der Bräutigam mit Beruf und möglichen Titeln aufwarten kann, bleibt die Tochter bis zur Hochzeit ja gänzlich im Schatten des Vaters, der aller- dings bei der Hochzeit wiederum mit Beruf und Titeln korrekt tituliert werden muss und somit die gesellschaftliche Einordnung der Braut erlaubt. In gleicher Funktion als bloß erwähnte Person sind übrigens verstorbene Ehemänner bei einer erneuten Eheschließung der Witwe zu entdecken. Demgegenüber kommt es vor, dass der Brautvater (seltener eben- falls der Vater des Bräutigams) auch im Gedicht angesprochen wird oder sogar die gesamte Hochzeitsschrift in erster Linie an diesen ge- richtet ist. Die Gründe hierfür können vielfältig sein und rühren für gewöhnlich aus der jeweiligen Beziehung des Autors zu den Adres- saten her; meistens handelt es sich um hochstehende und finanziell potente Persönlichkeiten. Eine Mischung oder Versammlung von Ad- ressaten, wie sie hier noch zaghaft anklingt, ist weitaus deutlicher möglich. Die Abweichungen sind prinzipiell unbegrenzt, bilden je- doch offensichtlich keine neuen Standards, sondern werden je nach Situation und Gusto verwendet. Beispielsweise ist eine Revaler Ge- legenheitsschrift bekannt, in der die Gratulation zur Hochzeit auf Braut und Bräutigam mit dem Glückwunsch zum Namenstag des Va- ters verbunden ist. Obwohl das Titelblatt eindeutig nur eine Adressie- rung an den Vater aufweist, handelt es sich bei der enthaltenen Ode um eine Verschränkung von Epithalamium und Namenstagsgedicht.37

37 Hochzeitsschrift des Gymnasiums auf Asmus Hotfilter und Magdalena Stampeel, Reval 1641. Vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 240.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 63

Bei Anlässen, die mehrere Adressaten gleichzeitig betreffen, wie etwa eine universitäre Graduierung von mehreren Magistern oder ein ge- meinsamer Antritt einer Reise, ist das gemeinschaftliche Auftreten der Adressaten zwar zu beobachten, aber durchaus nicht die Regel.38 In der personalen Gelegenheitsdichtung sind die Adressaten zentral, weshalb es nicht zuletzt bei vielen Sammlungen von Personalschriften bisher üblich war, eine Sortierung oder Erschließung zur Gänze oder vorrangig nach den Adressaten in alphabetischer Folge anzulegen.39 Sie stehen dominant im Zentrum, so dass häufig schon der einzelne Druck reichhaltige Daten über sie liefert, weil sie das Objekt sind, über das gesprochen oder das angesprochen wird. Schon der Anlass selbst ist ja Bestandteil im Leben des Adressaten; darüber hinaus er- fährt man den Namen und gegebenenfalls erworbene akademische Grade oder andere Titel, eine berufliche Tätigkeit oder die Herkunft nach Region oder Stadt. Den größten Informationsgehalt besitzen Trauergedichte, da diese nicht selten Daten zum gesamten Leben ähn- lich der in Leichenpredigten enthaltenen Vita umfassen, und auf diese Weise die Chance nutzen, das poetische Fazit eines Lebens zu ziehen. Für genealogische Studien sind insbesondere Aussagen zur familiären Situation im Hinblick auf Eltern, Ehegatten oder Kinder von Bedeu- tung, die jedoch insgesamt weit häufiger dem gesamten Kontext des Druckes als den direkten Angaben zu entnehmen sind. Hier ist in ers- ter Linie an das Hochzeitsgedicht zu denken, das den Ehestand belegt. Doch zahlreich ist ebenso das Auftreten von Verwandten unterschied- lichen Grades in den diversen Funktionen im Druck. Unter den Auto- ren befinden sich beispielsweise ungezählte Geschwister oder Kinder von Adressaten. Familien lassen sich manches Mal aus einer Hoch- zeitsschrift rekonstruieren, wenn etwa die Tochter heiratet und der Vater erwähnt wird, zusätzlich ein Bruder der Braut (also Sohn des-

38 Vgl. etwa Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 205 mit neun Adressaten, die in Ros- tock den Magistergrad erlangten, oder Nr. 128 mit Vater und Pflegetochter als Adressaten anlässlich der Abreise aus Königsberg. 39 Vgl. etwa die Sammlung ‘Vitae Pomeranorum’ (heute in Greifswald und Stettin), bei der die Bezeichnung zugleich das Sammlungsprofil kennzeichnet: Das Inte- resse war auf die pommerschen Adressaten bzw. deren Lebensläufe gerichtet, obwohl doch weit darüber hinaus auch für sämtliche anderen im Schrifttum be- gegnenden Personen (insbes. Autoren) reichhaltige Daten enthalten sind. – Ed- mund Lange: Die Greifswalder Sammlung Vitae Pomeranorum. Alphabetisch nach Geschlechtern verzeichnet. Greifswald 1898 (= Baltische Studien 1.F., Er- gänzungsband).

Chloe 43 64 Martin Klöker selben Vaters) als Autor erscheint. Auch hier gibt es kaum eine denk- bare Konstellation, die nicht irgendwo und irgendwann einmal in ei- nem Gelegenheitsdruck realisiert wurde. Im Osnabrücker Handbuch sind diese verwandtschaftlichen Beziehungen wo eben möglich mar- kiert.40 Beziehungen von anderer Qualität konnten leider nicht mit er- schlossen werden, da für sie eine kaum zu bewältigende Häufigkeit einer Vielfalt in der feinen Differenzierung gegenübersteht. So verbot sich die im Ergebnis wertlose Generalisierung von bezeichneten per- sönlichen Verbindungen auf ‘freundschaftlicher’ Basis, da hier in aller Regel erst durch den genauen Wortlaut und die genaue Konstellation im gesamten Druck der jeweilige Aussagewert beurteilt werden kann. In gleicher Weise sind die von aktuellen Forschungsansätzen wieder in den Blick gerückten Beziehungen von Patronage und Klientel in der Gelegenheitsdichtung präsent, da das Verhältnis von Autor und Ad- ressat fast durchgängig – aber auf ganz unterschiedliche, nicht selten versteckte Weise – ausgedrückt wird. Hier bietet sich angesichts der bereits bei den Autoren erwähnten Produktionsmotivation ein wohl beispiellos reichhaltiges Material auch und gerade aus der Perspektive der Adressaten.41 Die größte Anzahl der Adressaten entstammt zunächst der Gruppe der Autoren. Hier kann die Gelegenheitsdichtung ihre Herkunft aus der antiken Tradition nicht verleugnen, denn die humanistische Fort- führung der Gattung geschah selbstverständlich zunächst in lateini- scher Sprache. So zeigt sich das ‘Casualcarmen’ im 16. Jahrhundert noch fast ausschließlich in den gelehrten – sprich: lateinkundigen – Kreisen, die mit der lateinischen Rhetorik zugleich das Handwerks- zeug zur Anfertigung von Gelegenheitsgedichten erworben hatten und diese untereinander im ‘freundschaftlichen’ Kontakt austauschten. Dann schon allmählich in weitere Adressatenkreise vordringend, die eben nicht (ausreichend) lateinkundig waren, wird die Gattung mit dem Übergang in die deutsche Sprache einerseits dem neuen Adres-

40 In Form von Kürzeln, die ‘sprechend’ das jeweilige Verwandtschaftsverhältnis bezeichnen, z.B. [Ki] für Kind, [Br] für Bruder usw. Eine Entschlüsselung sämt- licher Kürzel wird über das Siglenverzeichnis im jeweiligen Vorspann der Hand- buch-Bände geboten. 41 Segebrecht (s. Anm. 1) bringt diesen Aspekt im Abschnitt zur Produktionsmoti- vation unter der Bezeichnung “Wegen Recommendation” zur Sprache (S. 177- 178). Zur Patronage und Klientel vgl. zuletzt den Beitrag von Heiko Droste in diesem Band.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 65 satenkreis angepasst und andererseits für immer weitere, nicht latein- kundige Kreise interessant. Von der Forschung bisher vernachlässigt wurde der Umstand, dass die repräsentative Funktion damit auf eine neue Stufe gehoben wurde. Denn in deutscher Sprache vorgetragene Gedichte waren jetzt auch für Analphabeten wie etwa Dienstboten und Tagelöhner zumindest grundsätzlich verständlich.42 Das Trachten der Adressaten musste dahin gehen, möglichst viele Gedichte zu erhalten, um das eigene Ansehen zu vergrößern, doch kann wohl ebenso davon ausgegangen werden, dass bei der Bestellung soweit möglich auf die Qualität der Gedichte – nach den Maßstäben der Zeitgenossen – ge- achtet wurde. Hier genau setzte die Kritik von Martin Opitz in seinem Buch von der Deutschen Poeterey (1624) an: Die Besteller wollten zu viel von den Dichtern, zu häufig sollten diese für eigene Zwecke des Adressaten in Dienst genommen werden, so dass die Qualität der Ge- dichte insgesamt leide. Damit belegt Opitz, dass es eine wachsende Nachfrage für Gelegenheitsgedichte auf Bestellung gab. Zugleich wird ersichtlich, dass die – laut Opitz – sinkende Qualität die Adressaten keineswegs von der Bestellung abhielt. Zählte also doch die bloße Anzahl mehr als die Güte?43

42 Segebrecht (s. Anm. 1), S. 227-228 weist zu Recht darauf hin, dass keineswegs die Bauern als Publikum für die deutschen Gelegenheitsgedichte gesehen wur- den, sondern vielmehr das städtische Bürgertum. Jan Drees: Die soziale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Studien zur deutschsprachigen Gelegenheitsdichtung in Stockholm zwischen 1613 und 1719. Stockholm 1986 (= Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien) bleibt in dieser Hinsicht relativ allgemein, da lediglich auf deutsche Gelegenheitsdichtung (im Verhältnis zur schwedischen) eingegangen wird, die lateinische Dichtung jedoch außen vor bleibt. Vgl. allen- falls ebd., S. 62. Freilich ist die besondere sprachliche Situation in Stockholm wie auch in Altlivland wenig geeignet, eine – wie auch immer geartete – Rezep- tion der deutschen Gelegenheitsgedichte in den unteren Volksschichten zu be- trachten, da hier eben nicht Deutsch gesprochen wurde. 43 Einschlägig zur ‘sozialen Funktion der Repräsentation’: Drees (s. Anm. 42). Opitz (s. Anm. 15), S. 18-19: “Ferner so schaden auch dem gueten nahmen der Poeten nicht wenig die jenigen/ welche mit jhrem vngestümen ersuchen auff alles was sie thun vnd vorhaben verse fodern. Es wird kein buch/ keine hochzeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter. […] Mussen wir also entweder durch abschlagen jhre feindschafft erwarten/ oder durch willfahren den würden der Poesie einen merklichen abbruch thun. Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er wil/ sondern wenn er kan/ vnd jhn die regung des Geistes […] treibet. Diese vnbesonnene Leute aber lassen vns weder die rechte zeit noch gelegenheit […].”

Chloe 43 66 Martin Klöker

So ist die allmähliche, aber unaufhaltsame Ausweitung der Adres- satenkreise nicht verwunderlich. Jenseits der auch als Autoren begeg- nenden Adressaten, also sämtlicher Gelehrten im weitesten Sinne, sind es dann selbstverständlich die hochgestellten Persönlichkeiten, die zu den verschiedensten Gelegenheiten Gedichte empfangen: in erster Li- nie Vertreter der verschiedenen Obrigkeiten wie Regenten samt Fami- lie, ständische Vertreter der Landesherrschaft (Gouverneure, Landräte, Ritterschaftshauptmänner usw.) oder der Stadtherrschaft (Bürger- meister und Ratsherren). Allgemein ist hier ganz offensichtlich das Amt bzw. die Funktion im öffentlichen Leben entscheidend, obwohl die vermeintlich individuelle Person geehrt wurde. Aber mit der Zeit ist eine Erweiterung der Adressaten auch auf die städtische Ober- schicht, also Kaufleute und Bürger bis zu Handwerkern zu entdecken. Dabei ist fraglos eine gewisse Finanzkraft vorauszusetzen, da die Au- toren in aller Regel eine ’Verehrung’ gewissermaßen als Belohnung für ihre Gedichte bekamen, wenn diese nicht sowieso vom Adressaten selbst bestellt, also im Auftrag angefertigt und entsprechend bezahlt wurden.44 Beachtung verdienen ebenfalls die ‘Epitheta ornans’, die üblicher- weise bei bibliographischen Erfassungen des Titelblattes ausgelassen werden und aufgrund allein ihres textlichen Umfanges schon im Osna- brücker Handbuch keine Berücksichtigung finden konnten. Gleich- wohl sind über die verschiedenen Titulaturen mit schmückenden Eh- renformeln Aufschlüsse zur Person zu bekommen, wie etwa das latei- nische ‘Nobilissimus’ ganz eindeutig dem Adel zugehört. Daneben liegt der Wert dieser vielen ’Wohlehrwürdig’, ’Hochwohlgeboren’ oder ‘Hochedelgeboren’ eben genau in der feinen Differenzierung. Denn keines dieser Beiwörter war beliebig, Stand und Amt erforderten genau festgelegte Anreden, wie nicht zuletzt in Titulaturbüchlein im Einzelnen nachzuschlagen ist. Auch hier wäre nach regionalen Unter- schieden oder der Entwicklung der Titulatur über die Zeiten hin zu fragen. Die Titelblattgestaltung einer Revaler Trauerschrift von 1756 zeigt anschaulich, dass zu dieser späteren Zeit eine kritische Distanz

44 Segebrecht (s. Anm. 1) behandelt die Frage der Bestellung und Bezahlung von Gedichten vor allem aus der Autor-Perspektive anlässlich der Produktionsmoti- vation (S. 175 ff.) und der ‘Entlohnung des Dichters’ (S. 193-197).

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 67 möglich war. Hier heißt es: “Fragt hier nicht nach dem Titel/ der sonst die Seite füllt; Herr Doctor Burchart lebet/ da wo kein Titel gilt.”45 Dass auch die Gedichte selbst mancherlei Informationen zu den Ad- ressaten enthalten, versteht sich von selbst. Die unzweifelhaft reiz- volle Aufgabe der Ausschöpfung dieser Daten war jedoch schon des- halb im Osnabrücker Projekt nicht zu leisten, weil jede poetische Aus- sage interpretationsbedürftig ist, und die von der Gattung vorgegebene Glorifizierung des Adressaten nur eine äußerst unscharfe Trennlinie zur objektiven Schilderung aufweist. Gleichwohl sollte das Bemühen um die weitest mögliche Fixierung dieser Trennlinie als vornehmste Aufgabe der Literaturwissenschaft nicht aus den Augen verloren wer- den, gerade weil historische Disziplinen das enthaltene Substrat an Wirklichkeit der vergangenen Zeiten nur zu gerne als Quelle nutzen.

Anlass

Die Anlassbezogenheit gilt schlechthin als das entscheidende Kriteri- um für Gelegenheitsgedichte, da der Impuls zur Anfertigung eines sol- chen Gedichts den Autor nicht vorrangig als Empfindung oder Gefühl erreicht, sondern sozusagen von außen – und damit aus den wirklichen Lebensumständen – an ihn herangetragen wird. Insofern ist die Be- nennung eines datierbaren Anlasses (casus), für den oder auf den das Gedicht entsteht, unbedingte Voraussetzung. Trotz dieser Bedeutung sind die in der Dichtung zu entdeckenden Anlässe bisher kaum auf strukturelle Eigenarten und Differenzen untersucht. Dabei liegt im Anlass ja bekanntlich auch einer der Schlüssel für die Veränderung der Literaturauffassung im 18. Jahrhundert. Goethes so viel Verwir- rung auslösende Äußerung, alle seine Gedichte seien Gelegenheitsge- dichte, bezog sich eben gerade auf den Anlassbegriff.46

45 Vgl. etwa das Büchlein von Heinrich Arninck, in dem u.a. mit direktem regiona- lem Zuschnitt (Estland und Reval) für alle Standespersonen die genaue Anrede vorgegeben wird: Medulla Variarum earumque in Orationibus et Epistolis usita- tissimarum Connexionum et Formularum ex optimis quibusque Autoribus. 1639. Nachweis und weitere Auflagen bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 169. – Das Revaler Trauergedicht von 1756 im Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 0611. 46 An dieser Stelle sei hingewiesen auf die zentralen Überlegungen von Segebrecht (s. Anm. 1), S. 1-14 zur äußerst problematischen Dichotomie von ‘Casualcarmen (Machwerk)’ und ‘Erlebnisgedicht (Kunstwerk)’, die hier jedoch nicht weiter thematisiert werden können. – Goethes Äußerung im Zitat und mit ausführlicher

Chloe 43 68 Martin Klöker

Im Osnabrücker Projekt wurde eine Beschränkung auf Gelegen- heitsdichtung mit personenbezogenen Anlässen vorgenommen. Dies war notwendig, um die Fülle an andersartigem Material trennscharf abgrenzen zu können. Denn die Gelegenheitsdichtung auf sachliche Ereignisse – wie etwa einen Stadtbrand, einen militärischen Sieg oder ein Erdbeben – ohne direkten Bezug auf eine oder mehrere genau be- nannte Personen ist angesichts des fehlenden Adressatenbezugs von ganz anderer Struktur. Daher sind es also die bedeutsamen Ereignisse im menschlichen Leben, die als Anlass vermerkt wurden: vor allem Hochzeit und Tod, aber auch akademische Abschlüsse, der Erwerb des Magister- oder Doktorgrades, Aufbruch zu einer Reise, Antritt ei- nes Amtes, Genesung und dergleichen mehr. Die Reihe ist der Defini- tion entsprechend nahezu endlos erweiterbar. Alles, was einem Men- schen im Leben widerfahren kann, ist denkbar. Die Liste der nachgewiesenen Anlässe ist im Osnabrücker Hand- buch leicht über die Register einzusehen; deshalb soll hier auf eine umfangreiche Präsentation im Einzelnen verzichtet werden. Gleich- wohl mögen einige Schlaglichter das zu entdeckende Potential ver- deutlichen. Die größte Anzahl der Gelegenheitsschriften wurde in al- ler Regel auf Todesfälle verfasst. Trotz der durchaus beachtlichen Be- standsunterschiede ist dieser Befund für die im Osnabrücker Projekt bearbeiteten Quellensammlungen grundsätzlich festzuhalten, aller- dings mit der Einschränkung, dass bei den Breslauer Beständen die komplette Trauerdichtung keine Berücksichtigung finden konnte und somit für diese Bestände keine diesbezügliche Aussage zu treffen ist.47

Erläuterung bei Segebrecht (s. Anm. 1), S. 287-328 sowie ergänzend ders.: Goe- thes Erneuerung des Gelegenheitsgedichts. In: Goethe Jahrbuch 108 (1991), S. 129-136. Vgl. jetzt auch Stockhorst (s. Anm. 2). 47 Die Trauergedichte aus der Breslauer Bibliothek sind – freilich in ganz anderer Erschließungsform – sämtlich zu finden im entsprechenden Leichenpredigten- katalog der Marburger Forschungsstelle für Personalschriften. Da diesbezügliche Arbeiten schon vor unseren Bemühungen angelaufen waren, schien die Überlas- sung angeraten. Gleichwohl bleibt zu beklagen, dass bisher lediglich eine Aus- wahl aus dem reichen Material erschienen ist: Katalog ausgewählter Leichenpre- digten der ehemaligen Stadtbibliothek Breslau. Marburg 1986 (= Marburger Per- sonalschriften-Forschungen 8). Der gesamte Bestand ist – in erheblicher Reduk- tion der Erschließungstiefe – seit Ende 2007 als “Titelblattkatalog der Leichen- predigten und sonstiger Trauerschriften in der Universitätsbibliothek Wroc- law/Breslau” im Internet zugänglich unter http://web.uni-marburg.de/ fpmr/ html/db/tbk_info.html. – Die prozentuale Verteilung im Osnabrücker Handbuch

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 69

Neben der allgemeinen Bezeichnung des Anlasses ’Tod’ sind die weitaus meisten der Trauergedichte unmittelbar zur Bestattung er- schienen, wie dann ausdrücklich erwähnt wurde oder aus der Nennung des Bestattungsdatums zu schließen ist. Daneben gibt es noch einzelne Trauerschriften zur Überführung des Leichnams. Der Anteil der Trauerdichtung erreicht beim – in vieler Hinsicht außergewöhnlichen – Kaliningrader Bestand stolze 86 Prozent, sonst liegt er gewöhnlich um 40 Prozent (z.B. Riga 38 %, Dorpat 42 %, Thorn 46 %). Hochzeitsschriften stehen an zweiter Stelle und bilden etwa ein Drittel (Riga 31 %, Dorpat 25 %, Thorn 38 %, Königsberg 7 %). Unter den weiteren, in der Anzahl deutlich zurückstehenden Anlässen sind Geburtstag und Namenstag für gewöhnlich stark vertreten, daneben ragen der Antritt verschiedenster Ämter, eine oft damit verbundene Ernennung, und die Erlangung von Doktor- oder Magisterwürde heraus. Naheliegende Anlässe für Gelegenheitsgedichte sind etwa die Krönung von Kaisern und Königen oder auch Dichterkrönungen. Doch aufgrund der relativen Seltenheit des jeweiligen Anlasses fällt auch die Dichtung auf diese Anlässe quantitativ kaum ins Gewicht. Auf der anderen Seite sind außergewöhnliche Anlässe nachgewiesen, die wiederum exemplarisch die Spannweite verdeutlichen: Erneuerung eines Adelsdiploms, Dank für eine Wohnungszuweisung, Konversion (vom jüdischen zum lutherischen Glauben), Stiftung von Altar und Kanzel in einer Kirche u.v.m.48 Zumindest prinzipiell ist davon auszugehen, dass es regionale Be- sonderheiten gibt, wo regionalspezifische Anlässe vorkommen. Und dies ist grundsätzlich für jeden Ort vorauszusetzen. Ein naheliegendes Beispiel ist die Universität, die wie kaum eine andere Institution das örtliche Gelegenheitsschrifttum prägt. An Universitätsstandorten sind akademische Anlässe von der Ankunft bis zum Abschied von der Hochschule stark vertreten, besonders die Graduierungen zum Ma- gister oder Doktor, aber auch Annahme von Rektor- oder Dekanswür- den sowie Amtsantritt als Professor usw. Dagegen waren solche An-

ist bei den Breslauer Beständen durch das Fehlen der Trauerschriften natürlich völlig anders, die geschilderte Rangfolge gilt jedoch ebenfalls. 48 Die Beispiele sämtlich aus den Bänden des Handbuchs (s. Anm. 6) (vgl. die dortigen Register). Die präsentierten Zahlen geben wohlgemerkt die Häufigkeit von selbständigen Drucken wieder. Dies ist nicht unbedingt mit der absoluten Anzahl der Gedichte gleichzusetzen, da jeder einzelne Druck ja eine ganz unter- schiedliche Anzahl an Gedichten enthalten kann.

Chloe 43 70 Martin Klöker lässe in Orten ohne Universität äußerst selten und konnten nur in Ver- bindung mit für diesen Ort relevanten Personen begangen werden. Wenn also beispielsweise ein Rostocker Schulrektor als Professor an das Revaler Gymnasium berufen wurde, konnte eine Rostocker Gratu- lationsschrift zum Amtsantritt in Reval erscheinen. Der Anlassort musste keinesfalls mit dem Druckort oder dem Aufenthaltsort des Autors identisch sein, in den weitaus meisten Fällen ist jedoch eine Übereinstimmung gegeben.49 Anhand dieses Beispiels ist ersichtlich, dass im Grunde die Eigenart jeder Region und jeder Stadt – wie ebenfalls jedes Hofes – von Be- deutung ist für die am Ort möglichen Anlässe. Ob und wie diese dann mit Gedichten ausgestaltet wurden, wäre infolgedessen zu fragen. Die Begehung von Hochzeiten oder Bestattungen wie auch anderen Anläs- sen unterlag an allen Orten gewissen regionalen Bräuchen, die in der Gelegenheitsdichtung Spuren hinterlassen konnten. Um diese heraus- zufiltern und regionale Eigenarten überhaupt wahrnehmen zu können, bedarf es eingehender Untersuchungen der jeweiligen örtlichen Aus- prägungen. Am Revaler Schrifttum gelang es beispielsweise, die in den Gedichten enthaltenen Hinweise auf einen nicht nur in Reval im 17. Jahrhundert gängigen Namenstagsbrauch aufzuspüren. Der Adres- sat wurde offensichtlich mit den von Gratulanten überreichten Bän- dern zur Zierde gebunden oder angebunden. Dieses Motiv ist in den Namenstagsgedichten der Zeit ebenfalls in anderen Regionen zu fin- den, so dass eine vergleichende Studie über Eigenarten und Gemein- samkeiten Aufschluss geben könnte.50 Zu beachten ist – sofern nach Quellenlage eruierbar – die Häufig- keit der Anlässe im Verhältnis zu den nachweisbaren Gedichten. Die Frage ist zum Beispiel einerseits, wie viele der am Ort begangenen Hochzeiten im Gelegenheitsgedicht wirklich nachweisbar sind, selbst- verständlich immer mit Blick auf mögliche Verluste in der Überliefe- rung von Drucken. Andererseits kann auf dieser Basis untersucht wer-

49 Vgl. etwa die Gelegenheitsschriften auf Heinrich Vulpius’ Wechsel von Rostock nach Reval bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 064-067 bzw. Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 7, Nr. 487, 488 und 490. Hier ist zugleich deutlich, daß in solchen Fällen die Berufung ins Amt und die Abreise als Anlässe zusammenfallen, so daß vor allem Propemptica entstehen. – Andreas Tscherning erhielt beispielsweise 1644 zur Erlangung des Magistergrades und zum Ruf als Universitätsprofessor in Rostock eine in Oels gedruckte Gratulationsschrift von schlesischen Landsleuten. Vgl. Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 1, Nr. 42. 50 Vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 552-554 zu den Revaler Namenstagsgedichten.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 71 den, um welche Hochzeiten (bezüglich des gesellschaftlichen Standes, Finanzkraft, Jahreszeit usw.) es sich bei den nachweisbaren Epithala- mia handelt und ob es hier vielleicht Gesetzmäßigkeiten gibt, die sich wiederum mit der Zeit veränderten oder sich an anderen Orten in ab- weichender Gestalt zeigten. Wie zu sehen ist, bedarf es noch mancher Anstrengungen, um den ‘Faktor Anlass’ in der Gelegenheitsdichtung wirklich in seiner ganzen Bandbreite und Bedeutung wahrnehmen zu können. Der epochalen Veränderung der Gelegenheitsdichtung von der öffentlich anerkannten hochstehenden Literatur, in der sich die größten Dichter betätigten, zu einer ins Private hinabgestiegenen, nur mehr als Trivialliteratur belä- chelten Poesie für den Hausgebrauch muss insbesondere eine Verän- derung des Anlass-Verständnisses zugrunde liegen. Denn Anlässe wie Tod und Hochzeit sind im Kern heute noch die gleichen wie in der Frühen Neuzeit. Insofern ist der Rückzug ins ‘Private’ – das ja als Kategorie erst zum Ende der Frühen Neuzeit entwickelt wird – auch an den Anlässen ablesbar. Offensichtlich werden die wichtigen Ereig- nisse im Leben eines Menschen zunehmend abgeschirmt bzw. nur dem Blick persönlich ausgewählter Personen zugänglich gemacht, was eine Form des Selbstschutzes sein könnte. Oder aus anderer Perspek- tive: Die Massenhaftigkeit von Gelegenheitsgedichten hat eine so große Flut an Informationen freigesetzt, dass die Wertigkeit des ein- zelnen Anlasses und des einzelnen Adressaten nur mehr im kleinen persönlichen Kreis – und nicht in der ‘Öffentlichkeit’ – Anerkennung erfahren kann. Parallel wären die zu ‘öffentlichen’, also gesamtgesell- schaftlich relevanten Anlässen wie einer Kaiserkrönung, der Eröff- nung einer Universität oder einem Firmenjubiläum noch weit bis ins 19. und sogar 20. Jahrhundert üblichen Gratulationen zu sehen, die in Festschriften gerne gedruckt und gelesen wurden. Die Gelegenheits- dichtung ist nicht verschwunden, sie hat sich lediglich – mit massiven Auswirkungen auf den Faktor Anlass – verändert.51

51 Segebrecht (s. Anm. 1) berührt die Frage der Öffentlichkeit mehrfach (vgl. etwa S. 231 ff. “Der einzelne und die Masse: Abgrenzungsbemühungen als Vorformen der Kontroversen. a. Analyse eines Falles: Massenhaftigkeit und Öffentlichkeit als konzeptionelle Bestandteile der Casuallyrik und als Möglichkeit erster Aus- einandersetzungen”), geht auf den hier skizzierten Zusammenhang jedoch nicht näher ein.

Chloe 43 72 Martin Klöker

Gedicht

Autoren von Gelegenheitsgedichten fügen sich in den Druckschriften in formaler Hinsicht in eine Struktur ein, die durch die Gesamtschrift gewählt oder vorgegeben ist. Bereits die Entscheidung des Autors, ob sein Beitrag in einer Verfasserschrift selbständig oder in einer Sammelschrift in Verbindung mit anderen Beiträgern erscheinen soll, hat weitreichende Konsequenzen für das einzelne Gedicht. Beide Va- rianten bergen zahlreiche Möglichkeiten. Die Verfasserschrift kann im Minimalfall ein einziges Gedicht ent- halten, dessen Titel dann meistens auch das Titelblatt prägt.52 Sollte eine aufwendigere Struktur gewählt werden, die aus mehreren bewusst aufeinander abgestimmten oder aus bunt zusammengewürfelten Ge- dichtbeiträgen besteht, so kann die Zusammenstellung auf dem Titel- blatt in verschiedener Weise bezeichnet werden. Ein herausragendes Beispiel einer komplexen Gesamtstruktur ist die Schäferei, bei der Ge- dichte in einer in Prosa gebotenen Rahmenhandlung präsentiert wer- den. Der formale Zusammenhang mehrerer Gedichte ist aber nicht notwendig anhand der Titelblattbezeichnung zu sehen. Eine der Stan- dardformen der Verfasserschrift, wie sie von Paul Fleming gerne be- nutzt wurde, enthält auf dem Titelblatt etwa die formale Bezeichnung ‘Ode’, während in dem Druck zunächst ein Widmungsgedicht (Dedi- catorium) und erst dann die deutsche Ode abgedruckt sind.53 Auch das Überbringen von Glückwünschen in mehreren Sprachen wird häufig auf dem Titelblatt als herausragende Eigenschaft bezeichnet,54 wäh- rend bei der Darbietung eines einzelnen Alexandrinergedichts – das in der Länge von wenigen bis zu unzähligen Versen variieren kann – oft eher eine thematische Titulatur vorgenommen wird. So ist beispiels- weise eine Hochzeitsschrift von Joachim Rachelius Die gefangene vnd verurtheilte Liebe betitelt, eine strukturell ähnliche von Paul Fleming

52 Ein solcher Titel von Gedicht wie Gesamtschrift wird im Osnabrücker Handbuch ggf. als formale Angabe vom Titelblatt in originaler Schreibung geboten. 53 Vgl. etwa Paul Fleming: Trauerschrift auf Christine Polus, Reval 1635. Nachweis bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 101 [hier allerdings eine Prosa-Zuschrift] oder Paul Fleming: Propempticon auf Hartmann Gramann, o.O. 1635. Nachweis ebd., T. II, Nr. 102. 54 Siehe etwa Reiner Brockmanns ‘Hymenaeus tetraglossos’, Reval 1643 (grie- chisch, lateinisch, deutsch, estnisch). Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 312.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 73

Lieffländische Schneegräfinn.55 Für solche größeren thematischen Ge- staltungen bietet sich selbstverständlich die Verfasserschrift an, da ein solches Gedicht in einer Sammelschrift entweder an Eigenwert verlie- ren oder die anderen Beiträge zu stark dominieren würde. Bei der Sammelschrift ist davon auszugehen, dass es eine wie auch immer herbeigeführte Einigung auf den Zusammenschluss einerseits und die Titelblattgestaltung andererseits gibt. Die Frage, wer für die Sammlung der Beiträge und die redaktorische Arbeit generell zustän- dig war, ist bisher völlig offen. Dabei ist die Gestaltung des Titelblat- tes zwar gewissen Regeln und den zeitgemäßen typographischen Ge- pflogenheiten sowie den technischen Möglichkeiten der jeweiligen Offizin verpflichtet; aber es sind nicht nur regionale und zeitliche Unterschiede offensichtlich. So entstehen parallel minimalistische Ti- telblätter mit kaum den grundlegenden Daten einerseits, und textlich überladene Titelblätter mit allerlei Informationen andererseits.56 Die formalen Angaben für Sammlungen von Beiträgen sind in erster Linie dem jeweiligen Anlass verpflichtet, so dass ein zentraler Begriff nicht selten bereits in der einfachen Gattungsbezeichnung besteht: ‘Epitha- lamia’ etwa beim Hochzeitsgedicht, ‘Epicedia’ oder ‘Epitaphia’ beim Trauergedicht usw. Darüber hinaus wird gerne mit Verbindungen ge- arbeitet, die den Anlass mit einschließen, wie etwa ‘Letztes Ehrenge- dächtnis’, ‘Ehren- und Grabmal’, ‘Hochzeitliche Ehrengedichte’, ‘Odae funerales’ und dergleichen mehr. Der Plural deutet sogleich auf die Sammlung von mehreren Gedichten hin; auch sind metaphorische Begrifflichkeiten zu finden wie ‘Trauer-Cypressen’ oder ‘Lacrumae’. Darüber hinaus gibt es metaphorische Bezeichnungen des Verbundes wie beispielsweise ‘Urnula lacrymarum’ oder ‘Hochzeitlicher Ehren- kranz’. Die Variationen sind zahlreich, es gibt überraschend selten identische Bezeichnungen.

55 Zu der Rachelius-Schrift vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 299 und Martin Klö- ker: Joachim Rachelius in Livland (1640-52). In: Regionaler Kulturraum und in- tellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. Festschrift für Klaus Garber. Hrsg. von Axel. E. Walter. Amsterdam, New York 2005 (= Chloe 36), S. 337-371. Der Nachweis von Flemings ‘Schneegräfinn’ bei Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 114. Beide Gedichte enthalten übrigens einige nachgestellte Verse, die in ähnlicher Funktion zu sehen sind wie eine Zuschrift. 56 Für Beispiele vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. II, Nr. 091 für ein umfangreiches, Nr. 102 oder 112 für ein kurzes Titelblatt. Die minimalistischen Titelblätter sind vor allem bei Verfasserschriften zu entdecken. Im Zuge der allgemeinen Entwicklung im 18. Jahrhundert werden sie freilich insgesamt häufiger.

Chloe 43 74 Martin Klöker

Die Formulierung auf dem Titelblatt kann für die Sammlung von grundlegender Bedeutung sein, wie anhand der ‘Hochzeit-Scherze’ zu sehen ist. Wenn dieser Begriff genannt ist, werden die enthaltenen Gedichte gewissermaßen auf ein Programm verpflichtet. In einer sol- chen Hochzeitsschrift dürften folglich keine Epithalamia mit ernstem Hintergrund, etwa theologischen Betrachtungen des biblischen Ehe- verständnisses, zu finden sein. Für konfessionelle Polemik hingegen ist das Feld des ‘Scherzes’ geeignet. Angesichts der fehlenden Kennt- nisse zur Redaktion einer Sammelschrift und Urheberschaft eines zentralen Begriffs ist fraglich, ob die bei Trauergedichten häufig zu findenden Begriffe von Klage und Trost poetisch bewusst eingesetzt wurden. Das Epicedium umfasst bekanntlich die Teile Lob, Klage und Trost, die in unterschiedlicher Intensität ausgebildet sein konnten. Hatte es also eine Bedeutung, wenn auf dem Titelblatt einzig die Klage genannt wurde? – Solche Fragen struktureller Art müssten in der Breite untersucht werden, um die Spielräume des einzelnen Bei- trägers auszuleuchten.57 Es ist insofern auch unklar, ob ein Beiträger Vorgaben für seinen Beitrag bekam, oder ob die verschiedenen Beiträger sich bei der An- fertigung ihrer Beiträge untereinander abstimmten. Denn trotz der oft beklagten grundsätzlichen Gleichförmigkeit der Gelegenheitsgedichte muss doch die überraschende Vielfalt, ja sogar eine deutliche Diffe- renz im Hinblick auf die einzelnen Gedichte in einer Sammelschrift konstatiert werden. Die inventio aus den Namen der Brautleute ist – zumal bei sprechenden Namen – doch oft so naheliegend, dass es nur verwundern kann, nicht wenigstens mehrere Beiträge mit gleicher oder zumindest ähnlicher inventio zu finden. Stattdessen ist der gegen- teilige Eindruck, also eine stattliche Variation im Hinblick auf die in- haltliche Gestaltung die Regel. Gleiches gilt im weitesten Sinne auch für die Gedicht- oder Versformen, so dass die Frage nach einer mög- lichen Absprache unter den Beiträgern berechtigt erscheint. Dass es diese zumindest in Einzelfällen gegeben hat, belegt beispielsweise eine Leipziger Gratulationsschrift von 1623 auf Herzog Jacob von Kurland, in der fünf Beiträger unter der Titelblattbezeichnung ‘Eu-

57 Immer noch grundlegend für das Epicedium: Hans-Henrik Krummacher: Das ba- rocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 75 phemia Hexaglottos’ ihre Beiträge auf Italienisch, Französisch, He- bräisch-Syrisch-Deutsch und Griechisch darbringen.58 Der Spielraum des einzelnen Beiträgers ist weiterhin an der Frage nach dem zur Verfügung stehenden Platz zu messen. Möglich ist durchaus, dass die Beiträger sich je nach Länge ihres Beitrages an den Druckkosten beteiligen mussten. Jedenfalls ist auffällig, dass die Raumaufteilung in Gelegenheitsdrucken nicht im geringsten mit der Versanzahl korrespondiert, da häufig unterschiedliche Drucktypen verwendet oder Zeilenabstände variiert wurden. Ebenso konnte von einer Bamberger Forschergruppe gezeigt werden, dass die berühmten Beiträger nicht selten lediglich ganz kurze und kaum bemerkenswerte Beiträge lieferten, während relativ unbedeutende Autoren zum Teil umfängliche und poetologisch interessante Gedichte beisteuerten.59 Die Anzahl der in Verfasser- und Sammelschriften enthaltenen Ge- dichte liegt bei den im Osnabrücker Projekt bearbeiteten Beständen im Durchschnitt bei etwa 3,5 mit einer Spannweite unter den einzelnen Beständen zwischen 1,8 (Königsberg) und 4,6 (Breslau St. Elisabeth). Aber diese Zahl allein ist wenig aussagekräftig, da Verfasserschriften in aller Regel wenige, Sammelschriften hingegen deutlich mehr Ge- dichte umfassen. Insofern müsste jeweils der Anteil an beiden Druck- formen Berücksichtigung finden, wodurch allerdings auch ersichtlich ist, dass regionale oder zeitliche Besonderheiten eine Rolle spielen können. Der niedrige Durchschnitt deutet auf das Vorhandensein vie- ler Verfasserschriften, der hohe auf viele Sammeldrucke. Eine häufi- gere Verwendung der Verfasserschrift führt zwar zu einer höheren Anzahl an Druckschriften, würde aber die Anzahl der Gedichte, die auf einen direkten Anlass erschienen sind, nicht verändern. Es ist die Frage, ob im Sinne der Repräsentation viele kleine Verfasserschriften oder eine umfangreiche Sammelschrift von den Adressaten bevorzugt wurden. Doch ist zunächst eine begriffliche Klärung notwendig, was im Projekt unter einem Beitrag und einem Gedicht denn zu verstehen sein soll. Allgemein gesprochen liefert jeder Beiträger seinen ‘Beitrag’ zu einer Sammelschrift. Ein solcher Beitrag kann nun aus verschiedenen

58 Handbuch (s. Anm. 6), Bd. 12, Nr. 419. 59 Vgl. Tübinger Epicedien zum Tod des Reformators Johannes Brenz (1570). Kommentiert von Juliane Fuchs und Veronika Marschall unter Mitwirkung von Guido Wojaczek. Hrsg. von Wulf Segebrecht. Frankfurt/M., Bern, usw. 1999 (= Helikon 24).

Chloe 43 76 Martin Klöker

Gedichten oder auch ’Gedichtbeiträgen’ bestehen. Im Osnabrücker Projekt war für die schematische Erfassung eine pragmatische Lösung notwendig, die zugleich möglichst viel an struktureller Information transportieren konnte. Deshalb wurde alles, was als Beitrag im Sinne eines Gedichtes allein stehen könnte, als eigenständiger Beitrag ge- wertet und erfasst. Wenn also ein Beiträger zwei Sonette zu einer Hochzeit liefert, dann handelt es sich in der Zählung für das Hand- buch auch um zwei Beiträge. Neben dieser noch relativ einfach zu ent- scheidenden Situation gibt es allerdings zahlreiche, die nicht so offen- sichtlich lösbar waren. Bei Chronogrammen wurde nach der von Veronika Marschall vorgelegten Definition verfahren, der zufolge ein Chronogramm prinzipiell ein eigenständiges Gedicht bzw. Beitrag sein kann.60 Probleme bereiten hier eher die Verschränkungen ver- schiedener Formen, beispielsweise ein Sonett, in dem jeder Vers zu- gleich ein Chronogramm ist. Noch schwieriger wird es, wenn etwa drei formal oder sprachlich eigenständige Gedichte eines Beiträgers zu finden sind, die jedoch in eine Gesamtstruktur eingepasst werden, also etwa als ‘Dialog’ in einer ersten Überschrift gekennzeichnet sind. In diesen Fällen wurde in aller Regel der übergeordneten Einheit der Vorzug gegeben und die formale Besonderheit ggf. als Zusatz ver- merkt. Eine Sonderform bilden Anagrammgedichte, die nach Osnab- rücker Definition aus einem Anagramm mit folgender Ausdeutung in Form eines Gedichts bestehen. Da ein Anagramm eigentlich als eigen- ständiger Beitrag gezählt wird, wurde hier aufgrund des engen Zu- sammenhangs die Ausnahme gemacht und das Anagramm im Sinne einer Überschrift gedeutet, wie es optisch dann auch zumeist geboten erscheint. Die Verwendung typographischer und optischer Mittel im Druck insgesamt liefert wichtigste Hinweise zur Strukturierung des Druckes, insbesondere zur Definition von Beginn und Ende eines Beitrags bzw. Gedichts. Die Unsicherheit setzt mit der Frage ein, ob der Autor sei- nen Beitrag in der Überschrift oder in einer Subscriptio namentlich zeichnet. Wenn einzelne Gedichtbeiträge nicht direkt auf die eine oder andere Weise ausgewiesen sind, muss entschieden werden, ob zum vorhergehenden oder zum nachfolgenden Beitrag eine Verbindung be-

60 Veronika Marschall: Das Chronogramm. Eine Studie zu Formen und Funktionen einer literarischen Kunstform. Dargestellt am Beispiel von Gelegenheitsgedichten des 16. bis 18. Jahrhunderts aus den Beständen der Staatsbibliothek Bamberg. Frankfurt/M., Bern, usw. 1997 (= Helikon 22) (zugl. Diss. phil. Bamberg 1996).

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 77 steht. Hier kommen optische Mittel wie Leerzeilen oder überhaupt Abstände und Typengröße ins Spiel, auch sind gedruckte Schmuckele- mente wie Leisten aus Röschen oder Vignetten zu beachten. Über- schriften können ebenfalls eine wichtige Argumentationshilfe sein, obwohl sie in vielen Fällen gänzlich fehlen oder bei Vorhandensein eben auf übergeordnete Strukturen hindeuten können. Wenn – um ein Beispiel zu nennen – in einer Hochzeitsschrift ein Beiträger zwei Ge- dichte liefert, von denen das erste ‘An den Bräutigam’, das zweite ‘An die Braut’ überschrieben ist, kann nur anhand von weiteren Daten über Zusammengehörigkeit oder Trennung entschieden werden. Als zusammengehörig, d.h. als ein Gedicht, würde man sie bezeichnen, wenn das gleiche Versmaß vorläge und eine erste Überschrift die Klammer bildete, z.B. über einen Titel wie ‘Rostockische Anrede an das Brautpaar’. Gegen die Einheit sprächen ein abweichendes Vers- maß und das Fehlen einer übergeordneten Klammer.61 Nicht selten ist hingegen eine Reihung von Beiträgen, die sogar häufig durch Num- mern oder Überschriften wie ‘Ein Anders’ oder ‘Aliud’ bezeichnet wird. Deuten die Überschriften im Hinblick auf die Autorschaft eher auf Zusammengehörigkeit mit dem vorangehenden Beitrag, so ist bei Numerierungen Vorsicht geboten, da zumeist nicht die einzelnen Ge- dichte, sondern die Beiträge nach Autoren gezählt werden. Nur we- nige solche Merkmale sind so eindeutig wie die Überschrift ‘Idem’, die in aller Regel auf die Autorschaft des vorhergehenden Beitrags verweist. Als wichtiges Merkmal bei der strukturellen Differenzierung ist schließlich noch die Sprache zu nennen. Im Allgemeinen wird mit dem Wechsel in eine andere Sprache (und damit verbunden meistens auch in ein anderes Versmaß) ein neues Gedicht markiert. Überset- zungen sind dabei im Sinne der Zeit als eigenständige Leistung und damit als eigener Gedichtbeitrag anzusehen. Aber auch hier gilt, dass übergeordnete Strukturen Vorrang haben, etwa wenn ein Gedicht pro- grammatisch als ‘dreisprachiger Glückwunsch’ überschrieben ist und lediglich aus der Darbietung eines einzigen Textes in drei Sprachen besteht. Die Verwendung der Sprachen in den Gedichtbeiträgen ist in

61 Eine solche Klammer könnte – um die Breite der Variationsmöglichkeiten zu zeigen – auch ein nachgestellter dritter Teil mit der Überschrift ‘An Braut und Bräutigam’ sein. Wobei dies allein noch nicht ausreichte, um eine Einheit im Sinne eines Gedichts zu rechtfertigen.

Chloe 43 78 Martin Klöker den Handbüchern jeweils summarisch in Diagrammform zu sehen.62 Das Lateinische überwiegt zunächst in aller Regel sehr deutlich und wird dann durch das Deutsche abgelöst. Je nach Bestandsschwerpunkt im Hinblick auf das Erscheinungsjahr der Drucke ist daher das sprach- liche Hauptgewicht unterschiedlich verteilt. Doch muss auch darauf hingewiesen werden, dass Schriften aus dem akademischen Bereich noch lange lateinisch geprägt sind, während im Gelegenheitsschrift- tum des städtischen Bürgertums die deutsche Sprache schnell den größeren Anteil ausmacht. Abermals ist das Erscheinungsbild je nach Region durchaus unterschiedlich und bedarf eines genaueren Blickes, als an dieser Stelle möglich. Das Bemühen der Osnabrücker Projekt-Erfassung liegt darin, die strukturellen Eigenarten zu erschließen und für den Benutzer sichtbar zu machen. Dass manches Mal erst eine (zumindest oberflächliche) Lektüre des Textes zum Ergebnis führt, versteht sich angesichts der bisher erwähnten Beispiele für die Vielgestaltigkeit und die Sonder- fälle von selbst. Doch auch dieser Weg führt nicht immer zu einem eindeutigen Ergebnis, da letztlich mit genau den Regularien und Ge- pflogenheiten spielerisch umgegangen wird, die sich zuvor herausge- bildet hatten. Insofern ist die Frage, was denn ein poetischer Beitrag sein kann, untrennbar mit der Definition des Gedichts verbunden. Und diese wurde offensichtlich beständig verändert. Leider war und ist es im Rahmen des Projekts nicht möglich, eine Erschließung der einzelnen Gedichte vorzunehmen, durch die erst das poetische Potential in ganzer Bandbreite sichtbar würde. Immerhin ist das Register der poetischen Formen, die in den jeweiligen Gedicht- überschriften genannt sind oder in Ausnahmefällen (wie beispiels- weise Anagrammgedicht oder Votivtafel) angesetzt wurden, ein erster Schritt in diese Richtung. Obwohl die weitaus häufigsten Ausprägun- gen als Alexandrinergedicht (in deutscher Sprache) oder als lateini- sches Carmen in elegischen Distichen in dieser Liste fehlen, ist doch eine erstaunliche Bandbreite an verschiedenen formalen Begrifflich- keiten zu finden, die zwar im Hinblick auf die Quantitäten nicht reprä- sentativ sein können, aber doch Variantenreichtum und Variabilität sowie formales Bewusstsein offenbaren. Vielleicht ist der deiktische

62 Zu problematisieren ist in diesem Kontext übrigens der Zusammenhang der Titel- blattsprache mit den Sprachen der Beiträge, der jedenfalls nicht eindimensional als Ausdruck eines sprachlichen Übergewichts unter den Beiträgen gedeutet wer- den kann.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 79

Charakter der Gedichtüberschrift, aus der diese Bezeichnungen zu- meist stammen, auch nicht zu vernachlässigen. Denn die Ausweisung eines formalen Begriffs ist immer zugleich eine Hervorhebung in dem Sinne, dass der Autor auf eine mögliche Besonderheit hinweist. So sind eben gerade die Neuerungen in aller Regel markiert, wie etwa in Reval 1643 der Professor für Poesie am Gymnasium mit einer pro- grammatischen Überschrift die “Newe Dactylische Art” im deutschen Gedicht einführte.63 Ob auf diese Weise ausgezeichnet oder nicht – die dynamischen Prozesse in den Gelegenheitsgedichten sind zunächst und vor allem regional zu betrachten. Durch die relativ große Anzahl und den stetigen Fluss an immer neuen Gedichten sind sie oft sehr ge- nau zu beobachten. Auch die so rasche Umsetzung der Opitz’schen Literaturreform ist auf diese Weise als regionales Phänomen in seiner erstaunlichen Breitenwirkung gewissermaßen an der Basis wahrzu- nehmen.

Das Testfeld

Die Gelegenheitsdichtung ist ein kommunikatives Medium. Sie ist zum Gegenstand gewordene Aussage, mit der ein Autor oder Sprecher sein “Ich gratuliere dir und wünsche alles Gute” oder “Ich kondoliere dir und wünsche Trost” auf möglichst kunstvolle Weise dem oder den Adressaten überbringt. Die Funktion der Gelegenheitsgedichte ist insofern vor allem anderen, diese Aussage – nach gewissen Regeln – zu gestalten. Da es sich also im Kern um eine beständige Wiederho- lung handelt, unterliegt die Gattung per se der Gefahr der Einförmig- keit. Diese jedoch ist allein durch Variation in der Ausgestaltung zu vermeiden. Daher ist es der Charakter der Gelegenheitsdichtung, die Bandbreite der Variationen in jeder Hinsicht immer mehr zu erwei- tern. Selbstverständlich ist sichtbar, dass gewisse Ausprägungen wie Gedichtformen, Versmaße, Themen und Motive aufgrund ihrer Be- liebtheit oder aufgrund der Regularien beibehalten wurden. Dies ver- hindert aber keinesfalls das Eindringen von Neuerungen. Der empirische Befund lautet, dass eine beständig zunehmende Vielfalt an Formen und Gestaltungen die Gelegenheitsdichtung aus- zeichnet. Neuerungen oder Variationen jeder denkbaren Art sind zu entdecken. Und ohne die vielen tausend Gedichttexte gelesen zu ha-

63 Klöker (s. Anm. 3) T. I, S. 320 (Nachweis ebd., T. II, Nr. 302).

Chloe 43 80 Martin Klöker ben, lässt sich feststellen, dass sich dies auch auf die inhaltlichen Ge- staltungen erstreckt. Denn gerade die rhetorische Machart und die Verwendung von Topoi als relativ feste Vorgaben erfordern die be- ständig neue Veränderung. Die Muster in Sprache zu bringen und aus- zugestalten, ist die immer wieder gleiche, aber zugleich auf neue Weise zu bewältigende Aufgabe. Und weil diese schon aufgrund der Vorgaben nicht ein jedes Mal völlig neu und anders zu lösen ist, er- streckt sich die Arbeit eben auf das Finden neuer Nuancen und neuer Kombinationen. In diesem Sinne scheinen die als Grundformen er- kennbaren Strukturen eher eine Ausgangsbasis für Besonderheiten zu sein. Der spielerische Umgang mit den Realien wie den Regularien wird zum schöpferischen Akt. Auf diese Weise ist Gelegenheitsdichtung in kaum zu überbietender Weise artifiziell. Formen der Verbindung und Verschränkung, Kombi- nation und Gegenüberstellung sind geradezu Kennzeichen dieser Poe- sie, die darauf aus ist, Eindruck zu machen. Wie Jutta Grub in ihrer Studie über eine lateinische Gratulationsschrift auf die Wahl von Jo- hannes Hellersberg zum Abt von Werden (Köln 1775) so vorzüglich aufgezeigt hat, ist die Artifizialität nicht nur des einzelnen Beitrags oder Gedichts, sondern auch und gerade die Gesamtgestaltung und Gesamtkonzeption einer Sammelschrift auf einen Anlass fast grenzen- los: Ein aufs Genaueste angelegter Aufbau mit verschiedenen Ge- dichten, die für sich wieder komplizierte Formen und Formspielereien aufbieten, inhaltlich und formal aber eine zuvor definierte Funktion innerhalb der gesamten Abfolge erfüllen. So haben etwa die ersten Gedichte einführende Funktion, in der Folge wird bis zur Klimax ge- steigert. Als Höhepunkt dient selbstverständlich die Kernaussage: der Anlass als zu feiernde Begebenheit (‘Hellersberg ist Abt!’), der Ad- ressat als derjenige, dem somit Glück zuteilwurde und wird. An dieser Stelle setzt sich dann die oben erwähnte Grundfunktion der Gelegen- heitsdichtung durch, indem Glückwunsch und Beifall im Gedicht aus- gesprochen werden.64 Solche bewussten Durchgestaltungen ganzer Gelegenheitsschriften sind bei oberflächlicher Betrachtung kaum zu erkennen, sondern er- wecken auf den ersten Blick eher den Anschein von lediglich bestän-

64 Jutta Grub: Mons Resplendens. “Poesis artificiosa” in einer Kölner Gratulations- schrift des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1992 (= Beihefte zum Euphorion 26). An dieser (im Faksimile enthaltenen) Gelegenheitsschrift ist beispielhaft die Proble- matik einer Beitragszählung zu erkennen.

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 81 digen Wiederholungen. Es erfordert enorme rekonstruktive Anstren- gungen, um die Komplexität der kunstvollen Gestaltung aufzudecken. Angesichts der Verknüpfung von diversen formalen, sprachlichen wie inhaltlichen Gestaltungsmitteln, einem aufwendigen Spiel mit der ge- samten Bandbreite insbesondere an poetischen Formen ist als Ergeb- nis der Analyse in erster Linie das Erstaunen vorherrschend. Dies umso mehr, als deutlich wird, dass es sich keinesfalls um eine sinnent- leerte Formspielerei handelt, sondern alles in funktionaler Bedeutung für die Gesamtschrift und den Anlass bzw. die künstlerische Verewi- gung steht. Das Beispiel zeigt, dass die Artifizialität prinzipiell immer weiter gesteigert werden konnte und dem Autor viel Arbeit abverlangte. Gleichwohl kann von einem spielerischen Umgang mit den Vorgaben gesprochen werden. Sowohl die von Rhetorik und Poetik vorgegebe- nen Regularien als auch die immer weiter anwachsende Anzahl an Beispielen werden produktiv aufgenommen. Intertextuelle Bezüge sind speziell in den regionalen Ausprägungen der Gelegenheitsdich- tung sichtbar, wo zum Teil offensichtlich auch mit den Kenntnissen des Publikums im Hinblick auf die bis dato erschienenen Gedichte ge- spielt wird. In Reval lässt sich beispielsweise eine Reihe von Gedicht- anfängen nachweisen, die eine so auffällige Variation bilden, dass auch und gerade von einer bewussten Spielerei ausgegangen werden muss, die dem Publikum sofort ins Auge fiel – oder beim Vortrag An- klänge an zuvor Gehörtes weckte.65 In diesem Sinne bewirkt die spielerische und produktive Aufnahme von Regularien und Beispielen zugleich eine kollektive Weiterent- wicklung der Gattung. Jeder Autor fügt mit seinem Gedicht eine – wenn auch nur winzige – Kleinigkeit, eine Nuance hinzu und erweitert die realiter vorhandene Spannweite an Möglichkeiten. In der Masse und über die Zeiten hinweg ergibt sich ein enormes Anwachsen des Gestaltungsspielraumes, der an den Rändern und in den Übergangsbe- reichen zu anderen Formen zugleich unschärfer wird. Denn das Aus-

65 Vgl. Klöker (s. Anm. 3) T. I, S. 298-299. Die Anfänge der Gedichte von Paul Fleming und Heinrich Arninck lauten: Jst Er itzo schon von hinnen, (14.03. 1635), JSt schon nichts nicht mehr zu finden/ (08.04.1635), JSts denn wieder schon verloren? (03.05.1635), JST den wiederümm verhanden/ (29.06.1635), JSt auch was gelassen mir? (25.01.1636), JST dann nun die reige kommen/ (14.04. 1636), JSt dan nun die reige kommen/ (22.12.1636), JSt dann jemand noch ver- borgen/ (16.02.1637), JSt dann je ein Höbel funden/ (20.11.1637), JST dann nicht des Menschen Leben (14.01.1639).

Chloe 43 82 Martin Klöker testen des Spielraumes führt mit der Zeit zu Formen, die sich nur schwer noch aus dem Blickwinkel der Gattungsstandards eindeutig definieren lassen. Die Autoren nutzen diese großen Spielräume und testen Neues; sie probieren Sprache und Formen, Bilder und Themen, Scherze und Rätsel und dergleichen mehr in immer neuen Kombina- tionen und Variationen und bemühen sich mit diesen um Anerken- nung – die sicher nicht in allen Fällen zu bekommen war (und ist). In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass bei ausschließli- cher Betrachtung der gedruckten Gedichte die mögliche Ausscheidung von ‘misslungenen’, also vom Adressaten (aus welchen Gründen auch immer) als nicht des Druckes oder der Aufbewahrung für würdig er- achteten Gedichten berücksichtigt werden muss. Leider ist die Über- lieferung von handschriftlichen Gelegenheitsgedichten so dürftig, dass auf diesem Gebiet bisher keine allgemeinen Aussagen getroffen wer- den können. Immerhin kann zuweilen der Extremfall Aufschlüsse bieten: Einzelne Gelegenheitsgedichte, die zum Gegenstand von ju- ristischen Auseinandersetzungen wurden, sind in Archiven verwahrt. Freilich konnte in solchen Fällen auch die Vernichtung aller Exem- plare angeordnet werden.66 Jedenfalls ist insgesamt davon auszugehen, dass der Großteil von gerade jenen Gedichten, die in den Augen der Zeitgenossen als minderwertig galten, heute eben nicht mehr nach- weisbar ist. Auf der anderen Seite müssten die Gedichtsammlungen der früh- neuzeitlichen Dichter systematisch auf Gelegenheitsgedichte durch- gesehen werden, um eine zusätzliche Quelle für das einst Vorhandene zu nutzen. Anhand von Paul Flemings Teutschen Poemata (1646) ist ersichtlich, dass zahllose Gedichte Aufnahme fanden, die heute nicht mehr im Erstdruck nachweisbar sind – und zum Teil wohl auch nie zuvor gedruckt worden waren. Wenn jedoch ältere Erstdrucke vorlie- gen, sind die editorischen Veränderungen am Text genau in den Blick zu nehmen. An einem Beispiel Flemings ist zu sehen, dass die An- lassbindung tendenziell zurückgenommen wurde, indem die unmittel- bare Vortragssituation und die Zweckbestimmung für einen Aktus ge- tilgt wurden. Ähnlich ist zu beobachten, dass die genauen Rahmenda- ten (Anlassdatum, Namen der Adressaten usw.) nicht erneut mit ab- gedruckt wurden. Auf diese Weise erhalten die Gedichte einen deut- lich allgemeineren Charakter. Doch reicht dies als Erklärung aus für

66 Beispiele hierfür bei Joachim Rachelius in Dorpat (vgl. Klöker (s. Anm. 3)) und bei Philipp von Zesen in Reval (vgl. Klöker (s. Anm. 3), T. I, S. 466-473).

Chloe 43 Das Testfeld der Poesie 83 die bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu beobachtende Tendenz der Entfernung der Anlassbindung bei Gedichtsammlungen, während die Anfertigung der Texte doch noch ganz im Zeichen der individuellen Anlässe steht? An den Gedichtsammlungen zeigt sich ebenfalls der Aspekt des Testfeldes: Nahezu alle Autoren betätigen sich auf dem Gebiet der Gelegenheitsdichtung und erproben ihre Fähigkeiten, sei es auch le- diglich als Schüler. Genau hier setzt jedoch das Testen ein. Denn die poetischen Leistungen werden einem in aller Regel noch kleinen regionalen Publikum überantwortet, das Anerkennung in unterschied- lichem Maße zollen kann – sei es auch ‘nur’ finanzieller Art. Dies spornt an zu weiterer Tätigkeit als Gelegenheitsdichter, die immer zu- gleich ein Buhlen um die Gunst der Adressaten und des Publikums ist. Wem gebührend Lob zuteil wird, der kann seine solchermaßen er- probten oder getesteten Gelegenheitsgedichte in Sammlungen zusam- mengefasst erneut publizieren und damit einem größeren, dann Lese- Publikum präsentieren. Der empirische Befund aus den rund 63.000 Gedichten, die bisher im Osnabrücker Projekt bearbeitet wurden, lautet jedenfalls, dass die Spannweite an Gestaltungen immer größer wurde. Zwar sind offenbar beliebte Formen und Arten in der Gelegenheitsdichtung zu vermerken, die sich zu Standards entwickeln und dann auch in den Anweisungs- poetiken vor allem seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts für quasi jedermann reproduzierbar dokumentiert werden. Doch über die Standards hinaus ist der Eindruck zu gewinnen, dass es nichts gibt, was nicht doch irgendwo an kombinatorischen Varianten oder als neu im Sinne der Erweiterung des zuvor realisierten Bestandes probiert wurde. Daher sind die Gelegenheitsgedichte auch mit dem Aufkom- men der Empfindsamkeit nicht etwa verschwunden. Vielmehr wird unter Beachtung der äußeren Umstände die Klopstock’sche Sprache der Innerlichkeit aufgenommen – sozusagen als weitere ‘Drehung an der Schraube’ der Erweiterung und Weiterentwicklung der Gelegen- heitsdichtung. Mit dieser Sprache und der Ablehnung der alten, von der Rhetorik gewissermaßen ‘gebundenen’ Sprache ist zugleich je- doch die Artifizialität verloren. Wo nur noch ‘Gefühl’ und Ausdruck der ‘Empfindungen’ zählen, hat die Formkunst keine Basis. Das Tes- ten der Grenzen hat hier seine Grenze erreicht, indem es der Gattung selbst allmählich einen anderen Ort im Leben zuweist. Nicht mehr die Repräsentation, die publikumswirksame und öffentliche Rede mit ei-

Chloe 43 84 Martin Klöker ner Glorifizierung des Adressaten nach anerkannten und allgemein nachvollziehbaren Regularien ist gefordert, sondern persönlicher Aus- druck und Innerlichkeit, die dann dem Bereich des ‘Privaten’ zuge- wiesen werden. Und genau dorthin zieht sich die Gelegenheitsdich- tung folgerichtig zurück.

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K a r l F. O t t o, J r.

AUS DEN SCHÄTZEN DER SAMMLUNG GENEALOGICA DER NÜRNBERGER STADTBIBLIOTHEK Neues zu Johann Hellwig und Johann Christoph Arnschwanger

Vor fast genau dreißig Jahren, es waren die Monate Januar und Feb- ruar 1979, hatte ich die Gelegenheit, mit einem Stipendium von IREX [International Research and Exchanges Board], zwei Monate lang in der damaligen DDR, vor allem in Halle und Zwickau zu verwielen und zu forschen, wobei mein Interesse vor allem den exzellenten, da- mals im großen und ganzen noch völlig unbekannten und unerforsch- ten Sammlungen von Gelegenheitsschriften in der UB Halle/Witten- berg und der Ratsschulbibliothek Zwickau galt. Abgesehen von der kleinen, aber wertvollen Sammlung der Commerzbibliothek Hamburg bildeten diese Sammlungen eigentlich meine Einführung in die Welt der Gelegenheitsschriften, eine Welt, die seitdem immer größer und immer interessanter geworden ist. Damals hatte ich jedoch mehr als genug zu tun, nur die unbekannten Zeseniana, also kleinere Gedichte von Philipp von Zesen, zu finden und abzuschreiben und ein paar No- tizen über Gedichte aus Zesens Bekanntenkreis zu machen; es waren vor allem Gedichte von Mitgliedern seiner Sprachgesellschaft, der ‘Deutschgesinnten Genossenschaft’. Erst etwa fünfzehn Jahre später, im Anschluss an die Veranstaltun- gen zum 350-jährigen Jubiläum der Gründung des ‘Pegnesischen Blumenordens’ in Nürnberg hatte ich wieder die Gelegenheit, mich der Gelegenheitsdichtung zu widmen. Ich suchte damals eigentlich nur Gedichte von den beiden Klesch-Brüdern, Daniel und Christoph, die im 17. Jahrhundert wegen ihres Glaubens und infolge der Gegen- reformation aus ihrer Heimat in der Zips vertrieben wurden und zuerst in Nürnberg landeten. In Nürnberg, der Stadt, die mit zu den allerers- ten zählte, die die Reformation angenommen und akzeptiert hatten, fanden die beiden Brüder – wenn auch nur vorübergehend – eine zweite Heimat. Christoph und Daniel Klesch waren beide wichtige

Chloe 43 86 Karl F. Otto, Jr.

Mitglieder der ‘Deutschgesinnten Genossenschaft’; es war vor allem Daniel, der sehr eifrig dabei war, weitere Mitglieder für die Sprachge- sellschaft zu identifizieren und aufzunehmen. Ich ging also zur Stadt- bibliothek Nürnberg, fand aber nichts in den Katalogen. Daraufhin setzte ich mich mit Frau Beare, der damaligen Leiterin der Hand- schriftenabteilung in Verbindung. Sie verwies mich auf die Sammlung Genealogica, nahm mich mit ins Magazin, in den Keller, und zeigte mir diese Sammlung, die aber, wie sie gleich hinzufügte, nur “unvoll- ständig katalogisiert” sei und in der man eigentlich suchen müsse, wenn man überhaupt etwas finden wolle. Ich habe mich bei ihr be- dankt und gesagt, dass ich mich wieder melde. Ich ging in den Kata- logsaal zurück und suchte in dem handschriftlichen Katalog dieser Sammlung nach dem Namen ‘Klesch’, der natürlich nicht zu finden war. Etwas verblüfft ging ich zur Auskunft und fragte, wie dieser Ka- talog denn angelegt sei. Die Antwort, die ich bekam, hatte ich aller- dings nicht erwartet: Er sei eigentlich nur nach den Adressaten geord- net, dies aber auch nicht immer. Nach Autoren dürfe man da eigent- lich nicht suchen, es sei denn, derselbe Autor sei auch Adressat gewe- sen. Wie, fragte ich, findet man denn die Gedichte eines spezifischen Autors? “Ja”, sagte mir die Frau, “sie müssen einfach suchen, Blatt für Blatt.” Ich wollte es ihr nicht glauben, bekam es dann aber im Lese- saal bestätigt: Ein Verzeichnis der Autoren existierte nicht. Etwas nie- dergeschlagen habe ich dennoch um ‘Buchstabe K’ gebeten. Nachdem mir die Dinge dann an einem Freitagnachmittag aus dem Magazin ge- holt wurden, war ich nicht nur etwas niedergeschlagen, sondern gera- dezu deprimiert. Es wäre eine unmögliche Aufgabe, alles so durchzu- sehen. Der Aufsicht sagte ich nur, “ich komme Montag wieder” und machte mich auf den Weg in das nächste Wirtshaus. Abends ins Hotel zurückgekehrt überlegte ich mir, was man tun könnte. Am Montag sprach ich wieder mit Frau Beare, und wir einig- ten uns auf einen Plan: Ich sollte im darauffolgenden Sommer anfan- gen, die Sammlung zu katalogisieren, allerdings ohne finanzielle Hilfe von der Bibliothek, unterstützt aber durch Forschungsfonds von mei- ner Universität (University of Pennsylvania in Philadelphia). Wir lie- ßen es auf sich beruhen. Was mir Frau Beare allerdings nicht gesagt hatte, war, dass sie bis zum folgenden Sommer schon im Ruhestand sein würde. Als ich dann im nächsten Sommer nach Nürnberg kam, stellte ich fest, dass sie nicht mehr da war – sie wohnte jetzt in Berlin. Mit ihrer Nachfolgerin, Frau Dr. Sommer, habe ich mich jedoch auch

Chloe 43 Aus den Schätzen der Sammlung Genealogica der Nürnberger Stadtbibliothek 87 gleich geeinigt und ich begann mit der Aufnahme. Zwischen den bei- den Nürnberg-Aufenthalten hatte ich mich mit den Aufnahmekriterien etwas auseinandergesetzt, mir einen neuen Computer zugelegt, zusam- men mit einem Datenbank-Programm, und ich fing an – Buchstabe A. Inzwischen ist die Aufnahme fertig. Die Datenbank enthält etwa 21 600 Einträge. Das heißt – etwa 21 600 einzelne Gedichte, Musik- stücke, Leichpredigten, Leichabdankungen und andere Gelegenheits- schriften. Zunächst wurde der Zeitraum, die Epoche, begrenzt, und zwar nicht genau aufs 17. Jahrhundert, also nicht 1600 bis 1699, son- dern alles, was zwischen 1580 und 1720 erschienen ist, fand Auf- nahme. Dabei wäre noch hinzuzufügen, dass die Sammlung auch äl- tere Stücke und viele neuere Stücke beinhaltet – es kommen jährlich heute noch neue Sachen hinzu. Jedes Schriftstück aber, das innerhalb des angegebenen Zeitraums erschienen ist, sollte einzeln aufgenom- men werden – gibt es eine Sammelschrift mit zehn Gedichten, so gibt es elf Einträge in der Datenbank – einen allgemeinen, wobei die Rei- henfolge der Beitragenden auch angegeben wird, und einen einzelnen Eintrag für jedes Gedicht. Zu jedem Eintrag in dieser Datenbank fin- det man, wenn sie angegeben sind, folgende Details: 1. Verfassername (Familienname, Vorname). Sind nur Initiale im Original angegeben, so findet man hier auch nur diese Buchsta- ben, es sei denn, der Verfasser kann mit Sicherheit identifiziert werden. Manchmal sind die alten Initialen mit alter Hand auf- gelöst. 2. Information, die den Verfasser genauer identifiziert – etwa dass er Schulrektor ist, oder dass er Dr. theol. oder Dr. phil. ist, oder dass er Pastor oder ‘Diener am Wort Gottes’ an der Sebalduskir- che oder der Ägidienkirche ist. Solche Auskünfte sind wichtig, vor allem wenn man zwei Personen gleichen Namens hat, aber sie tragen auch zur Biographie des Autors bei. 3. Name des Adressaten (Familienname, Vorname). Diesem Na- men folgen dann etwaige Information zur Person, obwohl man hier nicht alles aufnehmen konnte, denn manchmal, etwa bei ei- ner Leichpredigt oder bei Epicedien, gibt es eine richtige Bio- graphie. 4. Die ‘Occasion’, die Gelegenheit zu der dieses Gedicht verfasst wurde, z.B. Geburtstag, Beerdigung, Hochzeit.

Chloe 43 88 Karl F. Otto, Jr.

5. Titel der Schrift, in der man das Gedicht findet, wobei der Titel meist gekürzt wird, und zwar auf die ersten sieben Worte, da die meisten Titel einfach zu lang sind. 6. Signatur in der Sammlung Genealogica. Da sämtliche Signaturen aus dieser Sammlung kommen, wurde darauf verzichtet, immer wieder ‘Gen’ zu notieren. Sollte jedoch ein Gedicht oder eine Leichpredigt in der Bibliothek bestellt werden, so muss man ‘Gen’ vor der Nummer mit angeben. Das heißt, findet man in der Datenbank “K-4-21”, so muss man “Gen. K-4-21” bestellen. 7. Bibliographische Einzelheiten – etwa Erscheinungsort und -jahr, gegebenenfalls Drucker oder Verleger sowie Format (Quart, Oktav, usw.). 8. Titel des Gedichts, obwohl nur wenige einen Titel tragen. 9. Details zum Umfang des Gedichts, zum Beispiel, dass es sich um ein Sonett handelt oder um eine Sestina oder dass es sechs vierzeilige Strophen sind. 10. Incipit, die Anfangszeile, da man sie als Hilfsmittel zur Identifi- zierung eines Gedichts gebrauchen kann, wenn man zum Bei- spiel ein Gedicht ohne Verfassernamen in einem Sammelband findet. 11. Sprache des Beitrags – meistens Deutsch oder Latein, aber auch mehrere andere Sprachen kommen vor, zum Beispiel Griechisch, Hebräisch, Französisch, Holländisch, Englisch, Spanisch. 12. Bemerkungen – ein weites Feld. Hier findet man verschiedene Informationen, beispielsweise etwas Bibliothekarisches (es wur- den zum Beispiel zwei Teile einer Schrift als separate Werke ka- talogisiert – hier wird der Zusammenhang gezeigt und begrün- det), oder manchmal etwas zum Gedicht selbst (zum Beispiel, dass dasselbe Gedicht für zwei verschiedene Gelegenheiten be- nutzt worden sei). Jeder, der an eine solche Datenbank denkt, hat sofort Fragen. Die erste Frage wird beantwortet, bevor sie gestellt werden kann, nämlich: “Was gibt es nun eigentlich in der Sammlung? Habe ich ‘Entdeckun- gen’ gemacht?” Ja und Nein. Leider musste ich zum Beispiel feststel- len, dass ich nach all der Arbeit weder von Christoph Klesch, noch von seinem älteren und bekannteren Bruder Daniel eine einzige Zeile gefunden hatte! Vielleicht befindet sich eins ihrer Gedichte in einer anderen, noch unkatalogisierten Nürnberger-Sammlung, etwa der Will

Chloe 43 Aus den Schätzen der Sammlung Genealogica der Nürnberger Stadtbibliothek 89

Sammlung – aber in der Sammlung Genealogica war absolut nichts – kein einziger Buchstabe! Von anderen Autoren jedoch gibt es viele interessante Sachen. Es sind zum Beispiel Gedichte von weiblichen Autoren vorhanden, Auto- ren von denen man bislang nichts wusste. Für die Erforschung spezifi- scher Autoren aus der Literatur des 17. Jahrhunderts sind wahrschein- lich die Birken-Funde am wichtigsten. Die Birken-Forscher, die an der Bibliographie und der Gesamtausgabe seiner Werke arbeiten, können die Einzelheiten nennen, aber es sind viele Beiträge von dabei, auch bislang unbekannte. Statt aber über Birken zu spre- chen, der an anderer Stelle behandelt wird, möchte ich zwei weitere Beispiele nennen. Circa 1993 gab Max Reinhart eine hervorragende und umfassende Descriptive Bibliography der Werke des prominenten Nürnberger Arztes Johann Hellwig (1609-1674) heraus.1 Hellwig, der auch Mit- glied des ‘Pegnesischen Blumenordens’ war, ist wohl vor allem als Arzt bekannt, aber Reinhart konnte, abgesehen von typischen literari- schen Werken, siebenundfünfzig einzeln erschienene Gelegenheitsge- dichte dieses Mannes nachweisen. Dies zeigt, dass Hellwig am sozia- len Leben der Stadt teilnahm. Seine Gedichte galten nicht nur dem Pa- triziat, sondern auch normalen Einwohnern. Im Zusammenhang mit der Katalogisierung der Sammlung Genea- logica der Nürnberger Stadtbibliothek gelang es, weitere neunzehn einzeln erschienene Werke bzw. Sammelwerke nachzuweisen, die ins- gesamt weitere dreißig Gelegenheitsgedichte von Hellwig aufwiesen; das bedeutet ein Plus von etwa fünfzig Prozent (siebenundfünfzig ge- gen dreißig). Dazu kommen sechzehn Gedichte, die Reinhart schon gefunden hatte, also einfach weitere Exemplare dieser Gedichte. Das heißt, es gibt in der Sammlung sechsundvierzig Gedichte, von denen dreißig bislang unbekannt geblieben waren. Schauen wir uns eine Liste dieser Gedichte an. Es werden in jedem Fall folgende Informa- tionen angegeben: Jahr, gekürzter Titel, Erscheinungsort und -jahr, ggf. Verleger oder Drucker, Datum der ‘Occasion’, die ‘Occasion’ zu- sammen mit den Namen der Geehrten, ggf. Titel des Gedichtes bzw. Bemerkungen zum Gedicht selbst, Incipit, Signatur, und ggf. Bemer- kungen zu Hellwig selbst.

1 Max Reinhart: Johann Hellwig: a descriptive bibliography. Columbia, SC 1993.

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1630 CARMINA GRATULATORIA In honorem Nuptiarum Clariss. Viri Nürnberg: Halbmayer 1630. 13. April 1630. Zur Hochzeit von Johann Heinrich Kirchberger und Dorothea Strömerin. Vatiduas juveni liceat si reddere voces, K-31-3

1634 BONA VERBA PRO SECUNDO SUCCESSU NUPTIARUM TERTIARUM Nürnberg: Jeremias Dümler 1634. 13. November 1634. Zur Hochzeit von Jacob Koch und Margaretha Catharina Kleewein. Sunt, quos delectat virides percurrere plantans, K-54-12

1634 BONA VERBA PRO SECUNDO SUCCESSU NUPTIARUM TERTIARUM Nürnberg: Jeremias Dümler 1634. 13. November 1634. Zur Hochzeit von Jacob Koch und Margaretha Catharina Kleewein. Titel: Quatrain Wann der Klee nimbt weg das Gifft/ vnd der Wein das Herz erfrischt/ K-54-12

1641 NUPTIAS VIRI Clarissimi & consultissimi Dn. GEORGII Nürnberg: Endter 1641. 22. Februar 1622. Zur Hochzeit von Georg Christoph Dreher und Barbara Geigerin. Marchiacus dùm ortu es, Doctor max mactus abîsti D-47-1

1641 NUPTIAS VIRI Clarissimi & consultissimi Dn. GEORGII Nürnberg: Endter 1641. 22. Februar 1622. Zur Hochzeit von Georg Christoph Dreher und Barbara Geigerin. Nicht vnlangst sich begab/ daß eine Nymph von Sitten D-47-1

1643 NUCES OLYMPIÆ: Nobilißimo & florentißimo Viro, DN Nürnberg: Jeremias Dümler 1643. 13. März 1643. Zur Hochzeit von Johann Theodor Löffelholtz von Colberg und Clara Grundherrin. Non minor est Virtus socii sub regmine lecti L-55-293

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1643 NUCES OLYMPIÆ: Nobilißimo & florentißimo Viro, DN Nürnberg: Jeremias Dümler 1643. 13. März 1643. Zur Hochzeit von Johann Theodor Löffelholtz von Colberg und Clara Grundherrin. Deutsches Chronogram L-55-293

1643 JOHANNIS GEORGII VOLCKAMERI, Med. D. & Lectißimæ Virginis Nürnberg: Wolfgang Endter 1643. 7. August 1643. Zur Hochzeit von Johann Georg Volckamer und Barbara Führerin. Copula conjugium sit vel privatio, quondam V-28-6, V-28-6-a (= zwei Exemplare)

1643 JOHANNIS GEORGII VOLCKAMERI, Med. D. & Lectißimæ Virginis Nürnberg: Wolfgang Endter 1643. 7. August 1643. Zur Hochzeit von Johann Georg Volckamer und Barbara Führerin. Titel: Ringelgedicht Wolgemacht ist vorbedacht V-28-6, V-28-6-a (= zwei Exemplare)

1644 Congratulationes votivæ faustæq[ue] Acclamationes, honoribus & boni Nürnberg: Endter 1644. 3. Juni 1644. Zur Hochzeit von Georg Hilling und Elisabetha Nürnberger. Quod Tibi Pilsna procul, Bojitanen invida monstrat H-104-1

1644 Congratulationes votivæ faustæq[ue] Acclamationes, honoribus & boni Nürnberg: Endter 1644. 3. Juni 1644. Zur Hochzeit von Georg Hilling und Elisabetha Nürnberger. Kommet jhr Musen/ und lasst uns singen/ H-104-1

1646 SOLENNES NUPTIAS VIRI Nobilißimi, ac maximè Strenui Nürnberg: Dümler 1646. 14. September 1646. Zur Hochzeit von Johann Wilhelm Ebner und Susanna Maria Löffelholtz. Wie? hat dan[n] Mavors noch nicht seinen Durst gestillet/ E-1-3

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1646 VOTA NUPTIALIA Viro Clarissimo Dn. CHRISTOPHORO NICOLAI Nürnberg: Endter 1646. 26. January 1646. Zur Hochzeit von Christoph Nicolai und Magdalena Betzoltin. Tempore nos veluti primum hoc decerpimus anni N-14-1

1646 VOTA NUPTIALIA Viro Clarissimo Dn. CHRISTOPHORO NICOLAI Nürnberg: Endter 1646. 26. Januar 1646. Zur Hochzeit von Christoph Nicolai und Magdalena Betzoltin. Gleichwie fast dieser Zeit im Jahr man freudig brichet N-14-1

1646 VOTA, PRO auspicatissimis Nuptiis, VIRI Humanissimi atque Nürnberg: Sartorius 1646. 22. Juni 1646. Zur Hochzeit von Christian Betulius und Anna Maria Rubinger. Euge: bonis avibus, sacrosancti fœdera pangis B-44

1646 Festivitas nuptialis Nobilissimi atque præstrenui Viri, DN. GEORGII Nürnberg: Wolfgang Endter 1646. 31. October 1646. Zur Hochzeit von Georg Christoph Volckamer und Maria Magdalena Hars- dörfferin. Pusio quid, quæsò hîc? quidve hâc sub imagine monstrat? V-28-165

1646 Festivitas nuptialis Nobilissimi atque præstrenui Viri, DN. GEORGII Nürnberg: Wolfgang Endter 1646. 31 October 1646. Zur Hochzeit von Georg Christoph Volckamer und Maria Magdalena Harsdörfferin. Was wil der kleine Knab? was Waffen er wol träget? V-28-165

1647 EPITHALAMIA festivitate nuptiali Excellentissimi & Experientissimi … Nürnberg: Wolfgang Endter 1647. 9 February 1647. Zur Hochzeit von Paul Freher und Anna Catharina Salmuth. Sic variant mentes, nulla est constantia nostri; F-41-1

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1647 GAMELIA, Viro Humanitatis laude Artisq[ue] peritâ præstantissimo Nürnberg: Jeremias Dümler 1647. 30. August 1647. Zur Hochzeit von Johann Adam Kunman und Ursula Vollandin (Witwe). Titel: Allusio ad Sponsi Nomen Audax in præceps fertur, per nulneru mortem K-96-2, K-96-2-a (= zwei Exemplare)

1647 GAMELIA, Viro Humanitatis laude Artisq[ue] peritâ præstantissimo Nürnberg: Jeremias Dümler 1647. 30. August 1647. Zur Hochzeit von Johann Adam Kunman und Ursula Vollandin (Witwe). Titel: Allusio ad Sponsi Nomen Wer sich kühnmütig schickt nach Gottes Gnadenwillen/ K-96-2, K-96-2-a (= zwei Exemplare)

1648 Carmina votiva in Connubialem Festivatem Nobilissimi ac Nürnberg: Endter 1648. 7. August 1648. Zur Hochzeit von Philipp Jacob Tetzel von Kirchensittenbach und Maria Helena Bayerin Omina conveniunt, Pacis spes alta reposta est, T-1-6

1649 THALASSI Festivitati Nuptiali Viri-Juvenis Genere & Virtutis Nürnberg: Endter 1649. 2. April 1649. Zur Hochzeit von Wolfgang Achatz Gutbrod und Helena Koch. Fit velut ex multis Panis massa unica granis, G-90-1, G-90-1-a, G-90-1-b (= drei Exemplare)

1649 THALASSI Festivitati Nuptiali Viri-Juvenis Genere & Virtutis Nürnberg: Endter 1649. 2. April 1649. Zur Hochzeit von Wolfgang Achatz Gutbrod und Helena Koch. Titel: Dreyständiges Sinnbild Wer etwas Liebs erwehlt G-90-1, G-90-1-a, G-90-1-b (= drei Exemplare)

1649 PARI SPONSORUM GRATIOSSISIMO VIRO Clarissimo & Nürnberg: Wolfgang Endter 1649. 20. August 1649. Zur Hochzeit von Moritz Hoffmann und Anna Margaretha Sambstag ge- nannt Sampffer.

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Hactenus AltdorphI vegeto Tu sanguine cassum H-118-1, H-118-1-a (= zwei Exemplare)

1649 Bona Verba, Festivitati Nuptiarum, VIRI Præstantissimi atq[ue] Regensburg: Christoph Fischer 1649. 27. November 1649. Zur Hochzeit von Johann Lorenz Mann und Eva Cordula Mylius (Witwe). Tete Virum sistant, Laurenti, Pharmaca dudum M-6-1

1649 Bona Verba, Festivitati Nuptiarum, VIRI Præstantissimi atq[ue] Regensburg: Christoph Fischer 1649. 27. November 1649. Zur Hochzeit von Johann Lorenz Mann und Eva Cordula Mylius (Witwe). Ach lasset die Müllerin weinen und klagen M-6-1

1654 VOTA Festivis Nuptiis Nobilissimi & Splendidissimi … Altdorf: Georg Hagen 1654. 9. October 1654 Zur Hochzeit von Georg Abraham Pömer von Diepeltsdorf und Anna Magdalena Guglin Titel: Ad Insignia Nobiliss. Sponsorum Cùm Pietatê struunt Sponsi la quearia Templi, P-48-15 Hier nennt sich Hellwig “Medicus” des Bischofs von Regensburg

1654 VOTA Festivis Nuptiis Nobilissimi & Splendidissimi … Altdorf: Georg Hagen 1654. 9. October 1654 Zur Hochzeit von Georg Abraham Pömer von Diepeltsdorf und Anna Magdalena Guglin Reinem Hertze/ das vertrauet Drei vierzeilige Strophen mit drei Kupferstich-Emblemen P-48-15 Hier nennt sich Hellwig “Medicus” des Bischofs von Regensburg

1660 Festivitati Nuptiali, Cui Connubilaem TOBIÆ Felicitatem adesse … Nürnberg: Wolfgang Eberhard Felsecker. 6. August 1660 Zur Hochzeit von Tobias Tucher von Semmelsdorf und Helena Sophia Oelhafin von Schöllenbach Bellorum satis est. Martis discedite pulli, T-35-4

Chloe 43 Aus den Schätzen der Sammlung Genealogica der Nürnberger Stadtbibliothek 95

1661 Solemnia Nuptialia, Prænobilis, Strenui & consultissimi Domini Regensburg: Christoph Fischer 1661. 14. May 1661 Zur Hochzeit von Georg Tobias Oelhafen von Schöllenbach und Susanna Catharina Gumpelsheimerin Quis vetet, Oelhafi, elogio indulgere beati O-25-80, O-25-80-a (= zwei Exemplare) Hier nennt sich Hellwig “Medicus” des Bischofs von Regensburg

Die Gedichte kommen also nicht nur aus Nürnberg selbst, sondern auch aus Altdorf und Regensburg. Sind dies alles ausgezeichnete Ge- dichte? Nein, aber sie sind typisch für das poetische Werk von Hell- wig. Interessant ist, dass diese dreißig Gedichte alle Epithalamien sind, also Hochzeitsgedichte, von denen Reinhart relativ wenig gefun- den hatte. Reinhart hatte gemeint, Hellwig habe vor allem Begräbnis- gedichte geschrieben, dies muss nun revidiert werden. Unser Bild von Hellwig als ‘Beerdigungsdichter’, der vielleicht mit seinem Beruf als Arzt zusammenhängt, ist nicht ganz richtig – am fröhlichen Aspekt des Nürnberger Stadtlebens hatte Hellwig auch Anteil, wie diese Hochzeitsgedichte belegen. Ein weiteres Beispiel biete das Werk des Nürnberger Pastors Jo- hann Christoph Arnschwanger (1625-1696). Martin Bircher und An- dreas Herz haben eine Biographie und eine Bibliographie dieses Pas- tors geliefert.2 Es wiederholt sich das, was bei Hellwig der Fall war: In der Sammlung der Stadtbibliothek gibt es weitere einunddreißig Ge- dichte dieses Pastors. Ohne hier eine detaillierte Liste zu geben, kann gesagt werden, dass genau wie bei Hellwig so auch hier die überwälti- gende Mehrzahl der Gedichte für Hochzeiten verfasst wurde – es sind zwanzig neue Hochzeitsgedichte, nur neun neue Begräbnisgedichte und zwei neue Gratulationsgedichte zu anderen Anlässen. In der Sammlung Genealogica gibt es insgesamt 129 Gedichte von Arn-

2 Martin Bircher und Andreas Herz: Die Fruchtbringende Gesellschaft unter Her- zog August von Sachsen-Weißenfels. Süddeutsche und österreichische Mitglie- der. Johann Christoph Arnschwanger (der Unschuldige), Michael Frankenberger (der Erscheinende), Hieronymus Ambrosius Langenmantel (der Wenigste), Mi- chael Praun d.J. (der Vorstellende), Joachim von Sandrart d.Ä. (der Gemeinnüt- zige). Mit Sigmund von Birkens und Martin Limburgers Prosa-Ekloge ‘Ehren- Preiß Des Durchleuchtigst-Fruchtbringenden Teutschen Palmen-Hains’ in Joa- chim von Sandrarts ‘Iconologia Deorum’ (1680). Tübingen 1997 (= Die Frucht- bringende Gesellschaft Reihe II, Abt. C: Halle, Bd. 2).

Chloe 43 96 Karl F. Otto, Jr. schwanger! Somit kann es wohl sein, dass er nach Johann Michael Dilherr (1604-1669) der Nürnberger Dichter ist, der die meisten Gele- genheitsgedichte verfasst hat. Aus diesen zwei Beispielen sollte man allerdings nicht schließen, dass eine große Mehrzahl der Gedichte in der Sammlung Hochzeiten galten. Die Sammlung enthält viele Epicedien sowie Geburtstagsge- dichte, Namenstagsgedichte und Gedichte zu weiteren Anlässen. Es sind viele Dichter in der Sammlung vertreten – bekannte wie der erwähnte Johann Michael Dilherr und der Wittenberger Professor Au- gust Buchner (1591-1661) sind mit vielen Gedichten dabei; es gibt auch bislang unbekannte Schäfereien von Mitgliedern des ‘Pegnesi- schen Blumenordens’ (vor allem betreffen diese andere Mitglieder des Ordens). Es gibt aber auch völlig unbekannte Dichter, die mit einem einzelnen Gedicht vertreten sind. Diese Katalogisierung der Samm- lung Genealogica und ähnlicher Werke bildet erst den Anfang der Forschung – nun hat man zu den einzelnen Gedichten wenigstens ei- nen besseren Zugang. Es bleibt die Aufgabe, die einzelnen Gedichte und die einzelnen Autoren zu erforschen. In dieser Hinsicht ist eine zweite Frage bestimmt von Bedeutung: Wie kommt man an diesen Katalog, diese Bibliographie? Mitgeteilt werden kann nur, dass er wohl im Laufe des nächsten Jahres in Nürn- berg vorhanden sein wird. Ob er auch online sein wird, darüber wer- den die Techniker noch entscheiden müssen!

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S t e f a n i e S t o c k h o r s t

FEHLENDE VORSCHRIFTEN Zur Normierung der Kasualpoesie in der barocken Reformpoetik und ihrer Verschränkung mit traditionellen Regelkorpora1

1. Einleitung

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden gegenüber dem Zeitalter der Regelpoetik zwar mit unterschiedlichen Gründen, aber allemal in Verkennung der zugrundeliegenden Dichtungsauffassung gravierende Vorwürfe erhoben. Dazu gehören vor allem stilistische Hypertrophie und Artifizialität, mangelnde Originalität, bestenfalls exemplarischer Gefühlsausdruck sowie vor allem die scheinbar unbedingte Verpflich- tung auf rigide Herstellungsanweisungen.2 Mit der ‘rhetorischen Wende’ um 1970 gelang es, diese Vorurteile beweiskräftig zu wider- legen, indem die Phänomene von schulmeisterlicher Hölzernheit und Schwulst ins rechte Licht historischer Schreibweisen und Darstel- lungsintentionen etwa der aemulatio oder der ars combinatoria gerückt wurden.3 Gleichwohl blieb der Eindruck einer substantiellen Regel- orientierung barocker Dichtkunst auch im traditionellen Zusammen- hang mit der Rhetorik bestehen. Seit gut einem Jahrzehnt bildet indes

1 Ich danke Dr. Jürgen Donien (1968-2008) für seine findigen, kritischen und humorvollen Anregungen (nicht nur) zu diesem Beitrag. 2 Vgl. im Überblick: Der literarische Barockbegriff. Hrsg. von Wilfried Barner. Darmstadt 1975 (= Wege der Forschung 358). 3 Vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradi- tion. 3., erg. Aufl., Tübingen 1991 [zuerst 1966] (= Rhetorik-Forschungen 2); Renate Hildebrandt-Günther: Antike Rhetorik und deutsche literarische Theorie im 17. Jahrhundert. Marburg 1966; Klaus Dockhorn: Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne. Bad Homburg 1968 (= Respublica Literaria 2); Ludwig Fischer: Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland. Tübingen 1968 (= Studien zur deutschen Literatur 10); Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970.

Chloe 43 98 Stefanie Stockhorst die Frage nach der Tragweite poetologischer Normen einen zentralen Arbeitsbereich der Barockforschung. Die Vorstellung einer umfassen- den oder zumindest recht weitgehenden Normiertheit barocker Dich- tung wurde inzwischen gründlich revidiert. Eine ganze Reihe von Stu- dien machte aufmerksam auf das spannungsreiche Verhältnis von Norm und Abweichung,4 auf eklatante Leerstellen im Regelsystem, aus denen sich offenbar durchaus gewollte Spielräume5 und Lizenzen6 ergaben, sowie auf Instanzen alternativer Normbildung außerhalb der monographisch kodifizierten Poetik.7 Zunehmend rücken außerdem nicht-regulierbare Faktoren wie die Notwendigkeit von furor poeticus und ingenium8 sowie auch subjektive Anteile barocker Dichtungspro- duktion9 in den Blickpunkt der Erkenntnis.

4 Vgl. Harald Fricke: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst. München 2000; ders.: Norm und Abweichung – Gesetz und Freiheit. Probleme der Verallgemeinerbarkeit in Poetik und Ästhetik. In: Germanistik und Komparatis- tik. Akten des XVI. Germanistischen Symposions der Deutschen Forschungsge- meinschaft 1993. Hrsg. von Hendrik Birus. Stuttgart 1995 (= Germanistische Symposien Berichtsbände 16), S. 506-527; sowie ders.: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981; sowie teils ohne hinreichende Forschungsreferenz Andreas Härter: Digressionen. Studien zum Verhältnis von Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik. Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel. München 2000 (= Figuren 8). 5 Vgl. Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Bd. 1. Wiesbaden 2000 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockfor- schung 35/1), S. 33-67; sowie Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abwiechun- gen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004 (= Studien zur deutschen Literatur 173). 6 Vgl. Conrad Wiedemann: ‘Dispositio’ und dichterische Freiheit im Barock. In: Innovation und Originalität. Hrsg. von Walter Haug und Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (= Fortuna vitrea 9), S. 239-250; Stefanie Stockhorst: Die ‘dispositio’ in der Barockpoetik als Fall der ‘licentia’? Zur Frage der dispo- sitionellen Defizite in den praecepta und ihrer Kompensation. In: Euphorion 98 (2004), S. 323-346. 7 Vgl. z.B. Dirk Niefanger: Sfumato. Traditionsverhalten in Paratexten zwischen ‘Barock’ und ‘Aufklärung’. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguis- tik 25 (1995), S. 94-118; sowie Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Pa- ratexten. Tübingen 2008 (= Frühe Neuzeit 128). 8 Vgl. Dietmar Till: Affirmation und Subversion. Zum Verhältnis von ‘platoni- schen’ und ‘rhetorischen’ Elementen in der frühneuzeitlichen Poetik. In: Zeit- sprünge 4 (2002), S. 181-210, bes. S. 198; dagegen die überzeugend fundierten Einwände bezüglich der von Opitz vertretenen Dichtungsauffassung bei Volk-

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 99

Besonders augenfällig treten die teils erheblichen Normierungslü- cken in der Reformpoetik zutage, also im Bereich jener Dichtungs- lehre, die sich zum Ziel gesetzt hatte, “ohne Behuf der Lateinischen Sprache”10 auszukommen. Die Theoriedefizite betreffen nicht zuletzt auch die Gelegenheitsdichtung, wo sie sich nicht nur als willkomme- ner Freiraum, sondern auch als Manko bemerkbar machen konnten. Und zwar dann, wenn Laien oder Neulinge in einem Zeitalter, das doch prinzipiell die Lehr- und Lernbarkeit der ars poetica voraus- setzte, in die Verlegenheit gerieten, ein deutschsprachiges Gelegen- heitsgedicht vorlegen zu müssen, wozu sie handfester Anleitung be- durft hätten. Das von den Zeitgenossen ohnehin leidenschaftlich dis- kutierte Dilettantismusproblem, das zu einer breiten Schelte gegen sog. Reimenschmiede, Versificatoren und Pritschmeister führte, mani- festierte sich daher auf dem Gebiet der Gelegenheitsdichtung in be- sonders virulenter und für das Genre rufschädigender Weise. So darf es als ebenso bezeichnend wie berechtigt gelten, wenn beispielsweise im Rahmen einer pauschalen Klage über qualitative Män- gel in der deutschsprachigen Poesie auf einige formal besonders un- zulängliche Hochzeitsgedichte zu sprechen kommt,

in derer einem alleine ich vber 200. Vitia gemercket/ vnd hatte der Autor offt zwölff oder mehr Verse allzumahl Fœmini Generis nach einander hin- gesetzet vnd bald darauff 8. oder 10. Masculinos, bald fandt ich vnter den Alexandrinis einen kurtzen Verß von 10 Syllaben/ welche die Frantzosen sonst Verß communs nennen/ vnterweilen hatte ein Versus Fœmininus 15. oder 16. Syllaben/ welche an stat daß sie Trochaisch seyn solten/ Jambisch

hard Wels: ‘Verborgene Theologie’, Enthusiasmus und Andacht bei Martin Opitz. In: Daphnis 36 (2007), S. 223-294, hier S. 281. 9 Vgl. z.B. Michael Feldt: Lyrik als Erlebnislyrik. Zur Geschichte eines Literatur- und Mentalitätstypus zwischen 1600 und 1900. Heidelberg 1990 (= Reihe Sie- gen; Germanistische Abteilung 87), S. 45-61; sowie Barbara Bauer: Naturver- ständnis und Subjektkonstitution aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Rhe- torik und Poetik. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Laufhütte. Bd. 1. Wiesbaden 2000 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 35/1), S. 69-132. 10 So der richtungweisende Untertitel bei Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Spra- che/ in VI. Stunden einzugießen. Nürnberg 1648-53. [Nachdr. Hildesheim 1971].

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gesetzet wahren/ der so harten Ellypsium, Pleonasmorum, vnd anderer ver- drießlichen Figuren/ die heuffig darin zufinden/ zugeschweigen.11

Rists Beanstandungen zeigen, dass die Mängel offenbar bereits im Gebrauch von Metrik und Stilistik überhandnehmen. Während solche Fehler insofern unnötig gewesen wären, als sich die korrekte Hand- habung dieser elementaren Techniken in jeder beliebigen Poetik des 17. Jahrhunderts nachlesen ließ, stellt sich die Normierungslage für weitergehende Feinheiten der Gelegenheitsdichtung, besonders, was die Disposition und die spezifische Pragmatik von aptum und deco- rum angeht, ungleich viel spärlicher dar. Dabei bedurfte es gerade für das Gelingen einer Kasualdichtung nicht nur des metrischen, sondern auch des rhetorischen und sogar diplomatischen Fingerspitzengefühls, um den ebenso situationsangemessenen wie zweckdienlichen Ton zu treffen. Denn Gelegenheitsdichtung verweist auf Strukturen und Posi- tionen in der sozialen Wirklichkeit, durch deren sprachliche Aktuali- sierung sie zum Machtfaktor werden kann.12 Stärker noch als andere Gattungen, die sich mitunter den Anschein der Referenzlosigkeit ge- ben, hängt Gelegenheitsdichtung nicht nur von literarischen Traditio- nen und Konventionen ab, sondern auch von den sozialen Sinnkons- truktionen, Setzungen und Hierarchien ihres gesellschaftlichen Ent- stehungs- und Wirkungszusammenhanges.13 Wulf Segebrecht unternahm 1977 das verdienstvolle Experiment, aus der Fülle der Kodizes ein systematisches Extrakt dessen zusam- menzutragen, was die Barockpoetik insgesamt an praecepta zur Gele- genheitsdichtung bot. So erhellend dieser Querschnitt auch für die idealtypische Anatomie des Genus auf dem Stand an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert ist, so wenig repräsentiert er, wie Segebrecht freilich selbst einräumt, das, worauf man sich als Dichter während des 17. Jahrhunderts tatsächlich stützen konnte, weil etliche der von ihm

11 Johann Rist: WolEdler/ Gestrenger/ Manhaffter/ Edle/ Ehrnveste/ Hochgelahrte/ Hochweise/ Ehrwürdiger/ Wolgelahrte/ Hochgeehrte Herren [Widmungsvorrede]. In: ders.: Musa Teutonica. Das ist: Teutscher Poetischer Miscellaneen Erster Theil. Hamburg 1640, [19 S. o. Paginierung], hier S. [5]. 12 Vgl. Rudolf Drux: Artikel ‘Gelegenheitsgedicht’. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 653-667, hier Sp. 655. 13 Vgl. zu den Interessenlagen seitens des Autors bzw. des Adressaten Wulf Sege- brecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deut- schen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 175-185 bzw. S. 185-188.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 101 kompilierten Handreichungen zur Invention und Disposition über- haupt erst in den späten, auf die schulische bzw. universitäre Grund- ausbildung hin verfassten Poetiklehrbüchern etwa von Rotth, Omeis, Hübner oder Hunold vorkommen.14 Vor diesem Hintergrund besteht das Ziel dieses Beitrags darin, in einem historischen Längsschnitt zu sondieren, welche normativen Vorgaben für die Anfertigung deutsch- sprachiger Gelegenheitsgedichte in den poetologischen Kodizes im Laufe des 17. Jahrhunderts überhaupt bereitgestellt wurden – dabei richtet sich das Augenmerk auch auf die bei Segebrecht ausgesparten lateinischen Kompendien – und welche Hinweise aus anderweitigen Hilfsmitteln (in Frage kommen neben Exponenten der lateinischen Normierungstradition vor allem Briefsteller und Rhetoriken) ergän- zend hinzugezogen werden konnten. Auch bei dieser Herangehens- weise handelt es sich um ein heuristisches Konstrukt, da das Erschei- nen eines Handbuches zu einem bestimmten Zeitpunkt natürlich noch nicht bedeutet, dass es auch für jeden Interessierten zugänglich gewe- sen ist – gerade Laiendichtern wird kaum die ganze Bandbreite aller potentiell existenten Leitfäden zur Verfügung gestanden haben. Der Fokus der untersuchten Quellenauswahl richtet sich deshalb auf be- sonders verbreitete, auflagenstarke oder für eine bestimmte Normie- rungstradition typische Texte, von denen wenigstens einige mit hoher Wahrscheinlichkeit eingesehen werden konnten. Die aus diesen Erhe- bungen resultierenden Beobachtungen berühren erstens den Stellen- wert der Gelegenheitsdichtung im Rahmen der Reformpoetik, zwei- tens die Frage, inwieweit die deutschsprachige Dichtungslehre trotz ihres Selbständigkeitspostulates doch auf traditionelle Normierungs- systeme verwiesen ist, sowie drittens den Normierungsgrad der Gele- genheitsdichtung insgesamt.

2. Normen in den Pioniertexten der Reformpoetik

Als repräsentative Gebrauchsform machte gerade die Kasuallyrik quantitativ einen Großteil der deutschsprachigen Dichtungsproduktion des Barock aus. Sie kann spätestens ab der Jahrhundertmitte nicht mehr anders denn als Massenware bezeichnet werden. Trotz ihres ho- hen Verbreitungsgrades in der Praxis spielten die Auffindung der pas- senden loci topici sowie ihre dispositionelle Organisation in der Theo-

14 Vgl. ebd., S. 111-151.

Chloe 43 102 Stefanie Stockhorst rie lange Zeit nur eine äußerst randständige Rolle.15 Stattdessen setzt sich Martin Opitz im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) gleich zu Beginn der deutschsprachigen Reformpoetik in wegweisender Art mit der heiklen Wertungsproblematik auseinander, welche der Ka- sualpoesie notorisch anhaftet. Einerseits trugen die Dichter einen er- heblichen Anspruch an das Genus heran, welches aufgrund seiner Massenhaftigkeit und Zweckbindung andererseits traditionell immer wieder als eiliges, kunstloses Machwerk kritisiert wurde. In diesem Sinne klagt Opitz nicht ohne Spott: “Es wird kein buch/ keine hoch- zeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter.”16 Wegen der großen Nachfrage nach Dichtungen anlässlich der verschiedenen Wechselfälle des Lebens gerate man als Dichter, wie Opitz bemerkt, in ein Dilemma zwischen künstlerischer Inspiration und sozialen Zwängen:

Mussen wir also entweder durch abschlagen jhre feindschafft erwarten/ oder durch willfahren den würden der Poesie einen mercklichen Abbruch thun. Denn ein Poete kan nicht schreiben wenn er will/ sondern wenn er kan/ vnd jhn die regung des Geistes welchen Ovidius vnnd andere vom Himmel her zue kommen vermeinen/ treibet.17

Die göttliche Eingebung als Grundvoraussetzung der Poesie schließt dezidiert auch die Gelegenheitsdichtung mit ein, die somit als künstle- risch vollwertiges Genus verteidigt wird.18 Opitz versucht, dem traditionell schlechten Ruf als “carmina/ die auß geschwinder anre- gung vnnd hitze ohne arbeit von der hand weg gemacht werden”, ent- gegenzutreten, indem er auf die vielfältigen Erscheinungsformen der “Sylven oder wälder” hinweist, deren Genusbezeichnung nicht von ungefähr “vom gleichniß eines Waldes/ in dem vieler art vnd sorten Bäwme zue finden sindt/ genommen” sei. Neben eiligen Machwerken gehörten dazu nämlich vor allem auch “allerley geistliche vnnd weltli-

15 Vgl. zu dieser Inkongruenz von Theorie und Praxis der Kasualpoesie ebd., S. 99- 110. 16 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey. Hrsg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1991 (= RUB 8397) [EA 1624], S. 16. 17 Ebd. 18 Vgl. Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Untersuchungen zu Ge- schichte und Formen des Schreibens ‘bei Gelegenheit’. Heidelberg 1988 (= Beihefte zum Euphorion 22), S. 128 f.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 103 che getichte/ als da sind Hochzeit- vnd Geburtlieder/ Glückwündt- schungen nach außgestandener kranckheit/ item auff reisen/ oder auff die zurückkunft von denselben/ vnd dergleichen”.19 Außer einer programmatischen Aufwertung des Genres und einem Minimalinventar möglicher occasiones bietet Opitz für den Gelegen- heitsdichter keine weitergehende praktische Unterweisung, was aller- dings durchweg nicht zu den primären Zielen der deutschsprachigen Poetiken in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gehörte. Vielmehr bildeten vor allem technische Fragen der Versreform einen zentralen Ansatzpunkt der frühen Dichtungslehren, denn zum einen ließ sich das antike Konzept der quantifizierenden Fußmetrik schwerlich auf die prosodischen Gegebenheiten der vernakulären Poesie übertragen, so dass zunächst die Metrik im Prinzip komplett neu organisiert werden musste. Zum anderen fehlte es an Erfahrung mit dem Gebrauch der Muttersprache für eine artistisch ambitionierte Dichtung. Fast alle Po- etiken klären daher – nach einer prinzipiellen, meist mit einer sprach- geschichtlichen Abhandlung verbundenen Apologie des Deutschen als Dichtungssprache – sehr ausführlich den Bereich der elocutio. Behan- delt werden insbesondere die Eigenheiten der deutschen Morphologie, der Prosodie und Metrik mit den Teilaspekten der Reim- und Vers- lehre sowie der Strophik. In den 1640er Jahren treten dann zunehmend auch Aspekte der adä- quaten Wort- und Bildwahl hinzu. Als repräsentativ für diese Ten- denz, die sich in der Folgezeit durchsetzt, kann Johann Peter Titz gel- ten. Das gesamte zweite Buch seiner Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen (1642) widmet er ausschließlich elokutionären Fra- gen, indem er die reine hochdeutsche Sprache, ihre Morphologie und Phraseologie sowie die rhetorischen Figuren im Deutschen themati- siert.20 Derartige Einlassungen nützten selbstverständlich mittelbar auch dem Gelegenheitsdichter, denn für das kunstgerechte Verfahren mit Metrik, Sprache und Stil bleibt die Okkasionalität ohne nennens- werte Konsequenzen. Direkt für die kasualpoetische Praxis verwerten ließen sich dementsprechend auch die Angaben zu Gedichtformen wie Ode und Sonett, die derart häufig in der Kasuallyrik verwendet wur- den, dass bereits die in den frühen Poetiken abgedruckten Mustertexte zur Illustration der jeweiligen Strukturschemata oftmals okkasionaler Natur waren.

19 Opitz (s. Anm. 16), S. 30. 20 Vgl. Stockhorst (s. Anm. 7), S. 44-51.

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3. Normen in den praxisorientierten Kodizes der zweiten Jahrhundert- hälfte

Erst mit der zunehmenden Verbreitung auch unter Amateuren setzte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein breiterer normativer Dis- kurs ein, der zunehmend praktische Handreichungen bereitstellte, aus denen indes nicht hervorging, wie den ebenso komplexen wie emp- findlichen sozialen Funktionszusammenhängen des Genus unter dem Aspekt des decorum begegnet werden musste.21 Auf die formalen Kennzeichen der Kasualcarmina legt erstmals Balthasar Kindermann in Der deutsche Poet (1664) einen deutlichen Schwerpunkt. Er ver- wendet zwar in Anlehnung an Opitz den Begriff der ‘Sylven oder Wälder’ in einem positiven Verständnis, versteht aber darunter keine Kasualpoesie im engeren Sinne, sondern vielmehr Bücher, “darinnen allerley von der Hand geschriebene Gedichte/ gleich wie in einem Walde mancher art Bäume/ gefunden werden”.22 Er inauguriert damit die Gelegenheitsdichtung nachgerade als Inbegriff der Poesie, denn “dergleichen Materien zugestalten/ und mit einer zimlichen Erfindung auszubilden” sei nicht weniger als das, “was wir dichten und Dicht- kunst nennen”.23 Propädeutisch äußert er sich zunächst im zweiten Buch zu den In- ventionstechniken in der okkasionalen Dichtkunst,24 indem er genau erklärt, wie man entweder von der “Geschicklichkeit/ oder Tugend” der Adressaten “oder von einiger Weissagung/ wie es nemlich dersel- ben ins künfftige werde ergehen/ oder von dero Treu und Redligkeit/ oder von der Freundschaft und Liebe/ oder vom Handel und Wandel/ oder von derselben heroischen Thaten”25 sprechen soll. Es folgen zwei ganze Kapitel zum geschickten Umgang mit den loci circumstantia- rum, davon eines zu den Umständen des Ortes, das andere zu denen der Zeit.26 Beim Lobpreis biete es sich an, mit Vergleichen zu arbei- ten, da sie eine besonders eindrückliche Wirkung zeitigten: “Oder/ wie

21 Vgl. Joseph Leighton: Occasional Poetry in the Eighteenth Century in Germany. In: The Modern Language Review 78 (1983), S. 340-358, bes. S. 341. 22 Balthasar Kindermann: Der deutsche Poet. Nachdruck Hildesheim 1973 [EA 1664; fehlerhafte Paginierung beibehalten], S. 282 f. 23 Ebd., S. 49. 24 Vgl. ebd., S. 165-193. 25 Ebd., S. 165. 26 Vgl. ebd., Kap. VIII, S. 194-203 u. Kap. IX, S. 204-230.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 105 der Sonnen-Stral/ vermittelst eines HohlSpiegels hefftiger brennet/ also durchdringet und beflammet auch die Gleichniß der Menschen Sinn.”27 Für die technische Ausführung der Vergleiche empfiehlt er, “bald kleines mit großen; bald gleiches mit gleichen; bald großes mit kleinen/ [zu] vereinbahren.”28 Systematisch widmen sich dann die Bücher vier und fünf den diver- sen kasualpoetisch relevanten Anlässen mit genauen Instruktionen zur Auswahl zugehöriger Topoi und passender Bilder. Dieser raumgrei- fende Katalog ist aufgeschlüsselt nach Buchstaben, die zum leichteren Auffinden der Stilmittel im Textanhang entsprechend auch am Rand der zahlreichen Beispiele vermerkt sind. Auf rund 350 Druckseiten veranschaulicht Kindermann Geburts-, Namenstags-, Hochzeits-, Be- gräbnis-, Krönungs-, Begrüßungs- und Festgedichte, ferner Nachtmu- siken zu allen freudigen Anlässen, Reisegedichte sowie Glück- wunschgedichte zu Erhebungen in den Adelsstand oder in neue Äm- ter, zu akademischen Abschlüssen und zu Dichterkrönungen.29 Indem Kindermann vergleichsweise kleinteilige Hilfestellungen für die elocutio im Gelegenheitsgedicht gibt, weist er schon deutlich auf die umfassenden Anleitungen der berüchtigten Schulpoetiken voraus. Er liefert einen Katalog antiker Götter und Halbgötter, welcher deren Verwendungsmöglichkeiten als Personal vorzugsweise in der Gele- genheitsdichtung angibt,30 empfiehlt aber auch “leblose Dinge”31 als Bildschmuck. Nicht zuletzt, so liest man weiter, lieferten die loci cir- cumstantiarum selbst überaus dankbare Anstöße für eine gefällige Amplifikation. Entsprechendes Material könne man “von unserer Per- son/ wan wir etwa die ursachen/ so uns zu etwas reitzen/ oder auch unsere Geschäffte/ unsere Wenigkeit; ingleichen unsere Freund- schafft/ Freude/ Schmerzen Poesie/ u. d. g. einführen”.32 Vergleichsweise breiten Raum nimmt die Gelegenheitsdichtung mit fast hundert Druckseiten auch in Sigmund von Birkens Teutscher Rede- bind- und Dicht-Kunst (1679) ein. Ein deutlicher Akzent liegt

27 Ebd., S. 230. 28 Ebd., S. 231. 29 Vgl. ebd., S. 304-358 u. S. 581-660. 30 Vgl. ebd., S. 65-128. 31 Ebd., S. 129. 32 Ebd., S. 151.

Chloe 43 106 Stefanie Stockhorst hier ebenfalls auf der elocutio.33 Einzelne Formen der Kasualpoesie dokumentiert Birken jeweils durch Beispiele und gibt dazu übergrei- fende Anregungen für ihre poetische Realisierung. Zu nennen wäre dabei insbesondere der Hinweis auf die adressatenabhängige Gestal- tung der Texte, “da dan von Fürsten/ Kriegs-Helden/ Gelehrten/ El- tern/ Kindern/ EhGatten/ Befreundeten und Freunden/ verschiedent- lich zu reden ist”.34 Neben der Behandlung der Adressaten erklärt er den Umgang mit den verschiedenen casus (in Geburtstags-, Hoch- zeits-, Leich-, Lob-, Glückwunsch-, Ehren-, Sieges-, Dank-, Reise-, Abschieds- und Willkommensgedichten) sowie mit ihren spezifischen loci jeweils recht detailgenau. Dazu exemplifiziert er den für Lobpreis bzw. Klage angemessenen Bildschmuck, wobei er aufgrund der pane- gyrischen Erfordernisse des Genus vor allem zu Metaphern, Verglei- chen und Sinnbildern rät. Um eine rhetorisch interessante und anre- gende Wirkung zu erzielen, empfiehlt er schließlich Frage- und Rätselformen.35 Für Klagelieder hingegen halte er die Form der Elegie für angebracht.36 Ihren Gegenstandsbereich umreißt er folgenderma- ßen: “Es wird damit der Untergang/ nicht allein großer Leute/ sondern auch der Städte und Länder/ beschrieben.”37 Solche Trauergedichte seien, wie er betont, nach dem festen rhetorischen Gliederungsschema laudatio – lamentatio – consolatio aufgebaut.38

4. Normen in den spätbarocken Dichtungslehrbüchern

Von den 1680er Jahren an dienen die Poetiken immer weniger der Auseinandersetzung über Grundsatzprobleme einer deutschsprachigen Kunstdichtung unter Gelehrten, sondern sie richten sich nunmehr in erster Linie an den an Schulen und Universitäten auszubildenden Nachwuchs. So werden zwar durchaus auch programmatische Neuan- sätze im Zeichen von Stilsenkung und Galanterie vertreten, aber vor- rangig geht es um die Inventarisierung und Erläuterung von dichteri-

33 Vgl. Sigmund von Birken: Teutsche Rede- bind- und Dicht-Kunst. Nachdruck Hildesheim 1973 [EA 1679; fehlerhafte Paginierung beibehalten], S. 197-292. 34 Ebd., S. 229. 35 Vgl. ebd., S. 230-234. 36 Vgl. ebd., S. 235. 37 Ebd., S. 221. 38 Vgl. ebd., S. 226.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 107 schem Handwerkszeug für den Anfängerunterricht. Besondere Auf- merksamkeit galt dabei der Kasualpoesie, die als Gebrauchsform am dringlichsten erlernt werden musste. So behandelt Kaspar Stieler die- ses Genre in seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Verspoetik (1685) ohne nähere Definition, stellt aber mit Blick auf die Praxis lange Rea- lienverzeichnisse, Anweisungen zum Gebrauch von Stilmitteln und eine nach Anlässen geordnete Auflistung von Mustertexten zusam- men.39 Da der relativ größte Anteil barocker Gelegenheitslyrik auf Hochzeitscarmina entfällt, mag der casus der Eheschließung hier als stellvertretendes Beispiel für Stielers artistisch formulierte Normie- rungen dienen. Seine Aufmerksamkeit gilt dabei wie in den früheren Poetiken vorrangig der elocutio, wenngleich er statt der Metrik die Stilistik in den Blick nimmt. Als mögliche Gegenstände, Bildsphären und Sprachspiele im Hochzeitsgedicht listet er daher auf:

So: Soll zum Hochzeitfest ein Freudenlied erklingen; pflegt man der Freihenden Verdienste vorzubringen Amt, Adel, Tugend, Guht, der Braut Vortrefflichkeit an Sitten und Gestalt: Die Artlichkeit der Zeit, gewogner Sternen Stand, des Himmels Huldgeschicke, der keuschen Liebe Wehrt, Verlangen, Küße, Blicke: Der Einsamkeit Beschweer, der schnellen Jahre Flucht: Des Ehstands Altertum, und Ursprung, Freud’ und Frucht. Man scherzet auf den Ort, und spielt mit beyder Nahmen, führt beyde redend ein: wünscht Glück, gebeut der Famen mit Segen laut zuseyn. Hier finden Fabeln statt: vom Amor, Zyprien, und was vor Wollust hat das Reich von Amathus. Man schwatzt von Charitinnen, von Hämon, Ilithyj’ und unsern Pimpleinnen: beseufzt den Jungfertod, klagt an die kühne Nacht, bringt Rätzel auf die Bahn, macht Grabschrift, spalkt und lacht.40

Neben immer kompakteren Materialaufzählungen begegnen nunmehr auch didaktisch aufbereitete Herstellungsregeln. Um die Verfertigung lyrischer Dichtungen insgesamt zu veranschaulichen, nutzt beispiels- weise Albrecht Christian Rotth in seiner Vollständigen Deutschen Po- esie (1688) die Gelegenheitsdichtung als Modellfall. Zunächst gibt er

39 Vgl. Kaspar Stieler: Die Dichtkunst des Spaten (1685). Hrsg. von Herbert Zeman. Nachdruck Wien 1975 (= Wiener Neudrucke 5), S. 60-75. 40 Ebd., S. 60.

Chloe 43 108 Stefanie Stockhorst eine präzise “Anleitung zu Allerhand Materien/ welche sowohl sonst in der Rede-Kunst/ als insonderheit in der Poesie nützlich zu gebrau- chen seyn”.41 Darüber hinaus demonstriert er ausführlich anhand von zahllosen Anekdoten aus seiner Unterrichtspraxis und von selbstver- fertigten Textproben, wie aus den loci circumstantiarum und den dazu passenden epitheta mögliche Erweiterungen eines Gedichts auf deri- vativem Wege gewonnen werden können, wie die Ausarbeitung simplex bzw. compositum vonstatten gehe, und schließlich, wie der dispositionelle ordo naturalis bzw. artificialis zu handhaben sei.42 Zur Invention in der Gelegenheitsdichtung empfiehlt Rotth, von den loci circumstantiarum auszugehen, wobei möglichst die “Haupt-Sa- che/ und zwar von derselben am meisten/ als um derwillen man schreibt” als Angelpunkt gewählt werden solle, während man nur hilfsweise “Nebenwercke”, die den Autor oder den Adressaten und sein engstes persönliches Umfeld betreffen, heranziehen dürfe.43 Die weiteren Verfahrensweisen fasst Rotth in zehn säuberlich durchnum- merierten Vorschriften zusammen, die er zunächst vergleichsweise abstrakt formuliert, um dann auf knapp sechzig Druckseiten weitläu- fige Erklärungen und Anwendungsmöglichkeiten nachzuliefern. Seine kompakten Anweisungen stechen in ihrer Schulmäßigkeit von den sonst weniger engmaschigen Normierungsansätzen der Reformpoetik ab:44

Die erste Regul: Die Erzehlung der Sache/ so geschehen ist oder geschehen sol/ gibt an und vor sich eine feine Materie/ wenn man nur dieselbe auff ge- ziemende Art ausarbeiten kan. […] Die andere Regul: Ein iedes unter den umständen eines Dinges/ wenn das- selbe nur weitläufftig beschrieben wird/ gibt eine Materie an die Hand; mehr aber/ wenn alle Umstände zusammen genommen/ und vorgebracht werden. […]

41 Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie. Hrsg. von Rosemarie Zeller. 2 Bde. Nachdruck Tübingen 2000 (= Deutsche Neudrucke; Reihe Barock 41) [EA 1688], Bd. 1, S. [125]. 42 Vgl. ebd., S. [125]-[744]. 43 Ebd., S. [153]. 44 Vgl. allerdings zum hohen Verbindlichkeitsgrad der wenigen expliziten Vor- schriften in der Reformpoetik anhand der sprachlichen Modi Jörg Wesche: Spu- ren der Vielfalt. Spätbarocke Poetiken als Orientierungsbücher. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hrsg. von Jörg Wesche, Sylvia Heudecker und Dirk Niefanger. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit 93), S. 143-164, bes. S. 151-154.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 109

Die dritte Regul: So viel feine neue und nachdenckliche epitheta oder Bey- worte zu einem ieden untergedachten Umständen können ersonnen und ge- setzt werden/ so viel neue Erfindungen hat man zu einem Gedichte. […] Die vierdte Regul heist also: So vielmahl einer unter den Umständen kan an statt der vocabulorum propriorum durch vocabula impropria & tropica gegeben werden/ so vielmahl wird auch das thema oder die Materia/ zum wenigsten was das äusserliche Ansehen anlanget/ verändert. […] Die fünffte Regel ist: So vielmahl ein Substantivum oder eins von den Um- ständen durch Synonyma (wozu denn ihrer Maaß auch die tropica vocabula gehören) kann verwechselt und das Erwechselte mit neuen epithetis ausge- zieret werden/ so viel neue Erfindungen geben sich an. […] Die sechste Regel sol folgende seyn: Vielmahl können aus denen epithetis, welchen den Umbständen obangeführetermassen beygesetzt worden sind/ solche Substantiva gezogen werden/ die/ wenn man sie mit neuen und zu- vor nicht vorhandenen gewesenen epithetis geschmückt hat/ gantz neue Materien an die Hand geben; Ebenfals geschicht dieses auch/ wenn aus den Adverbiis Substantiva gezogen werden. […] Die siebende Regel kan nachfolgende seyn: Offt geben auch die zufälligen Dinge der Umstände (dergleichen denn sind die actiones und passiones, auch die daher rührende Status) einen sonderlich schönen Anlaß zu einer neuen Materie/ wenn man nemlich selbige ausdrückt und mit feinen anstän- digen epithetis auszieret. […] Die achte Regel soll diese seyn: So viel als man generalia pronunciata oder allgemeine Aussprüche und Lehren bey und von einigen unter allen Um- ständen machen kan/ die sich zu gegenwärtigen Vorhaben schicken/ so vielerley propositiones und folglich auch so vielerley Materien findet man zu einem Gedichte. […] Die neundte Regel: So vielerley Vermahnungen/ und Abmahnungen an ei- nes der Umstände können gethan werden/ so vielerlei gibts Materien. […] Die zehende Regel kan man von dem Letter- oder Buchstaben-Wechsel hernehmen und heist dieselbe also: Wie vielmahl man durch Versetzung der Buchstaben aus ein oder mehren Worten (sie seyn nun genommen von welchen Umstande sie wollen) ein anders oder mehrere Worte kan heraus bringen/ die eine deutliche und feine Meynung geben/ so vielmahl wird auch die Materie verändert; Ja so vielmahl solche durch Letter-Wechsel herausgezogene Worte mit neuen manierlichen epithetis können gezieret werden/ so vielmahl wird die Materie geändert.45

Mit geradezu enzyklopädischer Sorgfalt behandelt auch Magnus Da- niel Omeis in seiner Gründlichen Anleitung (1704) die Großgruppe der Kasualdichtung, anhand derer er auch anderweitig gebräuchliche

45 Rotth (s. Anm. 41), S. [157]-[176].

Chloe 43 110 Stefanie Stockhorst

Formen wie z.B. das Sonett erklärt. Er ordnet diesen Bereich der Dichtung nach Anlässen (Geburtstag, Namenstag, Neujahr, Ehrungen, Lob, Dank, Sieg, Hochzeit, Beerdigung, Genesung, Abreise, Begrü- ßung) und reguliert detailgenau die jeweils gebotene Verwendung der loci circumstantiarum, und – bei ihm als Fremdwort noch im Genitiv – der im Einzelfall zu verwendenden ‘generis’, ‘adjunctorum’, ‘effecto- rum’, ‘etymologiae’, ‘causae’, ‘antecedentium’, ‘consequentium’, ‘ex- emplorum’, ‘similium’ bzw. ‘comparatorum’. Exemplarische Texte druckt er dazu zwar nicht ab, stellt aber dafür eine lange Liste mit Lektüreempfehlungen zusammen. Die Herstellungsrezepte, deren ver- meintliches Vorherrschen das Barock in nachfolgenden Epochen so sehr in Verruf gebracht haben, sucht man allerdings auch hier vergeb- lich, obschon das repräsentative Gebrauchsgenus massenweise benö- tigt und daher auch von weniger versierten Dichtern erzeugt wurde. Allein Johann Hübner führt in seinem Lehrbuch die Komposition von Gelegenheitsgedichten mustergültig nach dem rhetorischen Drei- schritt inventio – dispositio – elocutio vor. Das in die einzelnen Her- stellungsschritte zerlegte Arrangement eines Hochzeitsgedichts mag hier stellvertretend zur Illustration für sein Verfahren stehen:

CASUS. Glückwunsch an einen Bräutigam. Dispositio. Form. init. Ich wunderte mich, daß ich keinen Brief von ihm bekam. Antec. Indem hörte ich, daß er ein Bräutigam wäre. Insin. Und zwar mit einer Braut, die mir liebens-würdig ist beschrieben worden. Connex. Weil ich nun allemahl Theil an seinem Glücke genommen habe: Cons. So gratuliere ich demselben auch anietzo. Form. final. Wer weiß, was GOtt vor mich aufgehoben hat. Elaboratio. Ich war schon Sorgen-voll, warum in so viel Wochen Mich kein geliebter Brief von seiner Hand ergötzt? Ich dachte schon bey mir, ich hätte was verbrochen, Das mich durch meine Schuld aus seiner Gunst gesetzt. Nun ist es offenbar, was ihm die Hand gebunden, Daß sie zur Schreiberey so faul gewesen ist. Er hat durch GOttes Zug ein schönes Kind gefunden, Das er nun höchst-vergnügt, als seine Liebste küst. Ich kenne die zwar nicht, die ihm ihr Herz ergiebet, Indessen mach ich doch den unbetrognen Schluß:

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 111

Weil er von Jugend auf die Tugend hat geliebet, Daß sein erwehlter Schatz auch Tugend lieben muß. Wohlan ich bin mit ihm zugleich betrübt gewesen, Und habe mich auch offt zugleich mit ihm erfreut: Nachdem ich nun von ihm den Hochzeit-Brief gelesen, So nehm ich jetzt auch Theil an seiner Fröhlichkeit. GOtt, der mich wunderlich, doch weißlich hat geführet, Der segne ferner ihn mit lauter Wohlergehn! Damit er so viel Lust in neuem Stande spüret, Als Fisch im Meere sind, und Stern am Himmel stehn. Ich will von weiten sehn, wie er wird Hochzeit halten, Es ist noch nichts versäumt, kömmt Zeit, so kömmt auch Rath, Ich lasse meinen GOtt in allen Dingen walten, Wer weiß, was er vor mich noch aufgehoben hat.46

Abgesehen von diesen schulmäßigen Exerzitien enthalten Hübners Ausführungen zur Kasualpoesie neben einer Aufzählung der Anlässe den bereits bei seinen Vorgängern häufig anzutreffenden Hinweis, für die Invention könnten diejenigen loci topici, welche jeweils mit diesen Anlässen in Verbindung stehen, als Materialfundus ausgeschöpft wer- den.

5. Hilfestellungen durch Kanzleiwesen und Redekunst

Wie man im Deutschen gute, also nach Metrum und Reim gemäß den sich im Laufe des 17. Jahrhunderts leicht wandelnden Standards feh- lerlose Verse zu machen hatte, lässt sich der barocken Reformpoetik von Anfang an mühelos entnehmen. Auch gängige Strophenmaße und feste Schemata wie Sonett und Ode werden klar und zunehmend de- tailgenau normiert. Fragen des Stils sowie des passenden Bild- schmucks werden zwar für die Dichtkunst im allgemeinen erörtert, aber den spezifischen Anforderungen der okkasionalen Gestaltung von Inhalt und Strukturgliederung eines Gedichts beginnen die Poeti- ken erst deutlich nach der Jahrhundertmitte Rechnung zu tragen. Trotz großer empirischer Verbreitung der Gelegenheitsdichtung mangelte es also lange Zeit in der deutschsprachigen Dichtungslehre an systemati-

46 Johann Hübner: Neu-vermehrtes Poetisches Hand-Buch, Das ist eine kurtzgefaßte Anleitung zur Deutschen Poesie, Nebst Einem vollständigen Reim- Register, Den Anfängern zum bestem zusammengetragen. Nachdruck Bern 1969 [EA 1712], S. 170 f.

Chloe 43 112 Stefanie Stockhorst scher Unterfütterung aus einer Hand. Diese Sachlage stellte gerade kasualpoetische Anfänger und Amateure vor gewisse Herausforderun- gen, wenn sie nach konkreten Herstellungsanweisungen suchten. Ne- ben der Reformpoetik stand freilich noch anderweitige Ratgeberlite- ratur aus den Bereichen der Rede- und Dichtkunst zur Verfügung, de- ren Normenbestände sich durch selbständige Transferarbeit für die ei- genen Bedürfnisse fruchtbar machen ließen. Insbesondere kamen Hilfsmittel wie die folgenden in Betracht: Auskunft über die korrekten Anredeformen für das dedikatorische Beiwerk gaben Titularhandbücher und Briefsteller, welche seit Johann Rudolf Sattlers Teutscher Rhetorick Epistelbüchlein (1604 u.ö.)47 auch in deutscher Sprache florierten.48 Außerdem gaben etliche der Muster- briefe, die sich solchermaßen im Umlauf befanden, Auskunft über den passenden Duktus von Glückwunsch-, Lob- und Trostschreiben, wenngleich die Kanzleisprache naturgemäß fast ganz auf bildhafte Ausschmückungen verzichtet. So hört sich beispielsweise ein Lobbrief aus Harsdörffers Teutschem Secretarius (1655 u.ö.) folgendermaßen an:

Tit. WJe soll ich Wort finden/ E. G. beglückten Tugendruhm/ wie ich solchen in meinem Sinne ausgebildet/ genugsamen vorzustellen? Verwunderlich ist daß die Zwo Feindinne/ Tugend und Glück/ sich in Euer Gn. Person ver- einbart/ und mit gleichern Gaben/ sich Gunst geflissenen erweisen. Viel kommen ohne Tugend zu hohen Ehren: viel sind ohne Ehre der Tugend ge- ben. Niemand aber ist rechtmässiger und warhafftig glückseliger/ als der tugendliche weise Mann/ welcher/ gleich E. G. der Glücksgüter verständig zu gebrauchen/ und mit seinem Wolstand/ andern zu dienen und zu helffen bemühet ist/ deßwegen auch Salomon den Reichthumb/ die Cron der Weiß- heit genennet/ und Sirach sagt nachdencklich: Was soll einem Lauser (Geitzhals) Das Geld[.]

47 Johann Rudolph Sattler: Teutsche Rhetoric [!]/ Titular: vnd Epistelbüchlein […]. Basel 1607 [zuerst als ‘Teutsche Rhetorick vnd Epistelbüchlein’, Basel 1604, von der Folgeauflage 1607 an mit Titularhandbuch]. 48 Vgl. die bibliographische Übersicht bei Reinhard Martin Georg Nickisch: Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Göt- tingen 1969 (= Palaestra 254), darin zum 17. Jahrhundert S. 260-280.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 113

Jn solcher E. G. Zufriedenheit/ weiß dersoselben ich nichts mehr anzuer- wünschen/ als die Beständigkeit in erstgemeldtem Glückstand/ welcher auch die beharrlich Freundigkeit vermehren wird/ E. G. eigenergebnem Knecht N. N.49

Darüber hinaus konnten monographische Thesauren, darunter z.B. die beiden Straßburger poetischen Schatzkammern, die anonym Auß den vier und zwantzig Büchern des Amadis (1597) bzw. Auß den Fünff Büchern der Schäffereyen von der schönen Juliana (1617) extrahiert wurden,50 Daniel Richters Thesaurus oratorius novus (1660)51 oder Michael Bergmanns Deutsches Ærarium (1675)52 sowie auch überaus seitenstarke Reimlexika, wie sie bereits seit Philipp von Zesens Deut- schem Helicon (1640/41)53 zunehmend in den Poetiken begegnen, für den Feinschliff in der Elokution herangezogen werden. Im Bereich der Invention und Disposition schließlich lag es nahe, Grundlagenwerke der Rhetorik zu konsultieren, zeigt sich doch in den späten Schulpoe-

49 Georg Philipp Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius: Das ist: Allen Cantzleyen/ Studir- und Schreibstuben nutzliches/ fast nohtwendiges/ und zum drittenmal vermehrtes Titular- und Formularbuch. Nürnberg 1656 [Nachdruck Hildesheim 1971], Der ander Theil, S. 51 f. (Nr. LXXI). 50 [Anonym]: Schatzkammer/ Schöner/ zierlicher Orationen/ Send-briefen/ Gesprä- chen/ Vorträgen, Vermahnungen/ vnd dergleichen: Auß den vier und zwantzig Büchern des Amadis aus Franckreich zusammen gezogen […]. Straßburg 1597; sowie [anonym]: Schatzkammer Von allerley der schönsten/ zierlichsten/ auß- bündigsten Orationen/ Sendbrieffen/ Gesprächen/ Discursen/ Glückwünschun- gen/ Dancksagungen/ Vermahnungen/ und dergleichen/ Auß den Fünff Büchern der Schäffereyen/ von der schönen Juliana/ zusammen gezogen […]. Straßburg 1617. 51 Daniel Richter: Thesaurus oratorius novus. Oder Ein neuer Vorschlag/ wie man zu der Rednerkunst/ nach dem Ingenio dieses Seculi, gelangen/ und zugleich eine Rede auf unzehlich viel Arten verändern könne. Nürnberg 1660. 52 Michael Bergmann: Deutsches Ærarium Poeticum, oder Poetische Schatz-Kam- mer/ in sich haltende Poetische Nahmen/ RedensArthen und Beschreibungen/ so wohl Geist- als Weltlicher Sachen/ Gedicht und Handlungen; Zu Verfertigung eines zierlichen und saubern Reims/ auff allerhand fürfallende Begebenheiten […]. Landsberg an der Warthe 1675 [Nachdruck Hildesheim 1973]. 53 Vgl. Philipp von Zesen: Deutsches Helicons Erster und Ander Theil/ Oder Unter- richt/ wie ein Deutscher Vers und Getichte auf mancherley Art ohne fehler recht zierlich zu schreiben [2., verm. Aufl., 1641]. Sämtliche Werke. Bd. 9. Bearb. von Ulrich Maché. Berlin und New York 1971 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 25), das Reimlexikon S. 71-242 u. S. 415-570; in der erweiterten Fassung von 1656 sogar noch ausführlicher.

Chloe 43 114 Stefanie Stockhorst tiken unverkennbar, wie sehr die barocke Gelegenheitsdichtung den Kompositionsprinzipien der ars oratoria verpflichtet war. Die ersten beiden Produktionsschritte, also die inventio und die dispositio, verlie- fen im Grunde vollkommen analog, denn zunächst einmal galt es, ein schematisches Textgerippe zu umreißen. Erst im dritten Schritt, der elocutio, bedurfte es unterschiedlicher Techniken, je nachdem, ob ein Text als Gelegenheitsrede in Prosa oder aber als Gelegenheitsgedicht in Versen ausformuliert werden sollte. Daher lohnt sich ein Seiten- blick in die zeitgenössischen Handbücher der Redekunst, um festzu- stellen, was sie womöglich an okkasionalem Rüstzeug enthalten. Als eine der wirkungsmächtigsten und zumal vergleichsweise frü- hen deutschsprachigen Barockrhetoriken gilt zu Recht Johann Matt- häus Meyfarts Teutsche Rhetorica/ Oder Redekunst (1634). Die redne- rischen Darbietungsstrategien, die dort vermittelt werden, zeichnen sich durch eine starke Situations- und Adressatenorientierung aus und könnten damit als Leitlinie für die Gelegenheitsdichtung prädestiniert gewesen sein. Allerdings steht hier wie in der Dichtungslehre vor al- lem die Apologie der Muttersprachlichkeit im Zentrum der Bemühun- gen, wie Meyfart eingangs erklärt: “Die Majestet der Teutschen Sprach ist ein geraume Zeit verborgen gelegen/ aber niemahls in dem Elende umbgeschweiffet: Sie ist verschwiegen blieben/ aber noch niemahls verstummet/ Jnmassen aus angemeldeter Poëterey zuspü- ren.”54 Im Bestreben, auch die deutschsprachige Redekunst aufzuwer- ten, gelten die 441 Druckseiten des ersten Buches vollständig den rhetorischen Figuren, die für eine zierliche elocutio im Deutschen ge- braucht werden sollten, während das zweite Buch auf 54 Druckseiten praktische Tipps zur pronunciatio, also zum performativen Akt des Vortrags bietet. Über die inventio und dispositio erfährt man darin in- des genauso wenig wie über die pragmatischen Spezifika der Gelegen- heitsrede. Deutlich später tritt Balthasar Kindermann diesem Defizit entgegen, indem er in seinem Deutschen Redner (1660) fast ganz auf grundle- gende Einlassungen theoretischer oder historischer Art verzichtet, um stattdessen Musterreden auf “Verlöbnüsse/ Hochzeiten/ Kind-Tauffen/ Begräbnüsse/ auf Empfah- Huldig- Glückwunsch- Abmahn- und Ver- söhnungen/ Klag und Trost: wie auch Bitt Vorbitt und Dancksagun-

54 Johann Matthäus Meyfart: Teutsche Rhetorica oder Redekunst. Hrsg. von Erich Trunz. Nachdruck Tübingen 1977 (= Deutsche Neudrucke; Reihe Barock Bd. 25) [EA 1634], S. 3.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 115 gen”55 bereitzustellen. Auch hier durfte der angehende Gelegenheits- dichter hellhörig werden, denn in der üblichen Dreiertypologie von Gerichts-, Beratungs- und Lobrede steht letztere als genus demonstra- tivum den Zwecksetzungen der Kasualpoesie durchaus nahe. Während Kindermann zu den verschieden Anlässen vorrangig jeweils mehrere ausformulierte Redevarianten je nach Art der Umstände abdruckt, nennt er doch wenigstens zu Beginn eines jeden Themenkomplexes die generalisierbaren Bestandteile des betreffenden Redegenres. Im Falle der Gratulation etwa teilt er mit:

BEy den Glückwünschungen ins gemein/ wird Anfänglich gesehen auf die grosse Freude/ die wir an unsern Freunden ha- ben/ dafern dieselben zu hohen Ehren-Aemtern sind befördert worden. Hernach auf die Wichtigkeit des erhaltenen Amtes/ daß es eine grosse Bürde mit sich trage Vnd Endlich auf den Wunsch an sich selbsten den wir unserem Nechsten und Freunde bey so gestalten Sachen mittheilen.56

Nimmt man diese dispositionellen Eckdaten mit den Angaben zur Auszierung bei Meyfart und denen zur Vers- und Strophenlehre bei Opitz und seinen Nachfolgern zusammen, so lässt sich anhand dieser doctrinae mutmaßlich mit etwas gutem Willen ein Gelegenheitsge- dicht zustande bringen. Jedoch war eine Zusammenschau auf diesem Niveau erst 1660 möglich, so dass man, wenn man nähere oder kom- paktere Auskünfte beziehen wollte, in der ersten Jahrhunderthälfte letztlich auf die neulateinische Anleitungstradition verwiesen war. Zu denken wäre da an die zeitgenössische Rhetorik und Poetik in latei- nischer Sprache sowie an die rinaszimentale Aristoteles-Exegese. Die Commentariorvm Rhetoricorvm, sive Oratoriarvm Institutio- nvm Libri sex (1606 u.ö.) von Gerhard Johannes Vossius gehörten – wenngleich meist in der Kurzfassung der Rhetorices Contractae (1621) – zu den meistverwendeten Rhetoriklehrbüchern im Unterricht

55 So im Untertitel von Balthasar Kindermann: Der Deutsche Redner/ Jn welchen unterschiedene Arten der Reden auff allerley Begebenheiten Auff Verlöbnüsse/ Hochzeiten/ Kind-Tauffen/ Begräbnüsse/ auf Empfah- Huldig- Glückwunsch- Abmahn- und Versöhnungen/ Klag und Trost: wie auch Bitt Vorbitt und Dancksagungen […] enthalten sind. Frankfurt/Oder 1660 [Nachdruck Kron- berg/Ts. 1974]. 56 Ebd., S. 315.

Chloe 43 116 Stefanie Stockhorst an protestantischen Gymnasien.57 Mit ihrem Inhalt dürften mithin ge- rade die Anhänger der deutschsprachigen Reformpoetik durch ihren regulären Bildungshintergrund vertraut gewesen sein. Schlägt man bei Vossius nach, so findet man dort eine umfassende Grundlegung der Redekunst, in der sich die beiden ersten Bücher mit der Invention be- fassen, das dritte mit der Disposition, das vierte mit der Elokution, das fünfte mit den rhetorischen Schemata und das sechste schließlich mit dem Vortrag. Dabei werden neben den Dispositionstypen des ordo naturalis bzw. artificialis die drei Redegenera (deliberativum, demon- strativum, iudiciale) alle gleichermaßen sorgfältig eingeführt und er- läutert.58 Das Auffinden der loci erfolgt hier weitaus differenzierter als im nachgerade sprichwörtlich gewordenen scholastischen Inventions- hexameter (Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?)59 und reicht auf dem Gebiet des genus demonstrativum, das allein knapp 70 Druckseiten einnimmt, von den Techniken des laus persona- rum bis hin zu den modi amplificandi facta.60 Vossius stellt also eine sowohl reichhaltige als auch verbreitete Quelle für die Prinzipien der Lobrede dar, vermittelt jedoch ausschließlich rhetorische, nicht aber poetologische Kenntnisse.

6. Übertragbare Anweisungen aus der neulateinischen Poetik

So scheint es geboten, wenigstens stichprobenartig zu überprüfen, was die lateinische Dichtungslehre des Barock im Bereich der Kasualpoe- sie aufweist, denn parallel zur deutschsprachigen Dichtungslehre existierte die lateinische Tradition in bestimmten repräsentativen Zu- sammenhängen weitgehend ungebrochen fort. Die protestantischen Kompendien, vertreten etwa durch Georg Fabricius’ über Jahrzehnte

57 Vgl. Georg Braungart: Poetik, Rhetorik, Emblematik. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3. Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung. Späthumanismus, Barock. 1570-1740. Hrsg. von Harald Steinhagen. Reinbek 1985, S. 219-236, bes. S. 219; sowie Barner (s. Anm. 3), S. 265-274. 58 Vgl. zur Klassifizierung Gerhard Johannes Vossius: Commentariorvm Rhetorico- rvm, sive Oratoriarvm Institutionvm Libri fex [!], Ita tertiâ hac editione castigati, atque aucti, ut novum opus videri poßint. Leiden 1630 [EA 1606; Nachdruck der 3. Aufl., Kronberg/Ts. 1974], S. 16-19. 59 Vgl. zu dem Matthieu de Vendôme zugeschriebenen Merkvers Heinrich Plett: Einführung in die rhetorische Textanalyse. 8. Aufl., Hamburg 1991, S. 12. 60 Vgl. Vossius (s. Anm. 57), S. 42-111.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 117 hinweg immer wieder neu aufgelegte De re poetica libri VII (1566 u.ö.) oder die Gießener Poetica latina nova (1607 u.ö.),61 präsentieren umfangreiche Normenbestände für die Bereiche der Metrik und Elo- kution in leicht verständlicher Form.62 Die Umsetzung der Regeln wird dabei konsequent mit Zitaten aus Dichtungen antiker Vorbilder illustriert. Obwohl diese Kompendien nicht nur metrisches Grundwis- sen aufarbeiten, sondern darüber hinaus auch in jedweder Art von poetischer Ausdrucksnot helfen, setzen sie sich mit der Kasualdich- tung nicht eigens auseinander. Überhaupt treten die Dispositionslehre sowie die Regulierung einzelner genera carminum hinter der allge- meinen Vers- und Auszierungslehre zurück. Bei Fabricius wird dies notdürftig kompensiert durch den eingeschobenen Teilabdruck von Horaz’ Pisonenbrief, in dem die gebotene Proportionalität der Dich- tung mit eingängiger Körpermetaphorik veranschaulicht wird.63 Brauchbar für die Gelegenheitsdichtung erscheint in De re poetica im- merhin ein Inventar von Tugenden und Lastern, welche sich poetisch in Lob und Tadel übersetzen lassen. Anregungen für die enkomiasti- sche Invention könnten demnach aus folgenden Topoi gewonnen wer- den:

LAVDANDI A bonis animi A pietate in deos A pietate in patriam A fortitu- dine Ab artibus imperatorijs A clementia A vitæ integritate Ab animi can- dore A fide. Ab animarum coniunctione Ab amicitia cum prima ætate in- cœpta Ab amicitia siue amore A charitate Ab vsu & consuetudine A ioco- rum seriumque communitate A studiorum societate Ab eloquentia Ab in- genio a studijs A nobilitate virtuti coniuncta A pudicitia & fide coniugali. LAVDANDI A bonis corporis A forma Puerorum Mulierorum A procis A cultu Varia A corpore. LAVDANDI A bonis externis Ab equitandi pugnandi- que peritia A generis nobilitate A celebritate nominis A diuitijs A varijs re- bus.64

61 Vgl. [Kaspar Finck, Christoph Helwig, Conrad Bachmann]: Poetica Latina Nova, Methodo Perspicua Tradita, Commentariis Luculentis declarata, exemplis tum veterum, tum recentiorum Poëtarum illustrata, duobus Libris ita conscripta, ut non tam Classibus quam Academiis & Scholis publicis utilis esse possit; Per Scholæ Giessenae Nonnullos Professores Philosophos. Gießen 1607. 62 Vgl. zur Verbreitung dieser Texte und ihrem Verhältnis zur Reformpoetik die Hinweise bei Wels (s. Anm. 8), S. 229 f. 63 Georg Fabricius: De re poetica libri VII. Leipzig 1589 [zuerst 1566], S. 771-788, die Dispositionsanleitung S. 772. 64 Ebd., S. 68 f.

Chloe 43 118 Stefanie Stockhorst

Demgegenüber gilt das Hauptaugenmerk in der Poetica latina nova den allgemeinen Grundlagen der Poesie im Bereich der Metrik und Stilistik, wobei Herstellungsverfahren nach dem rhetorischen Drei- schritt von inventio, dispositio und elocutio nahegelegt werden. An poetischen Genera werden Epigramme, Oden, Lieder, Tragödie, Ko- mödie, Schäferdrama und Versepos vorgestellt, ohne dass okkasionale Verwendungsmöglichkeiten thematisiert würden. Allerdings verfolgt dieser Kodex eine dreigliedrige Systematik, welche die Dichtarten ex constitutione pedum, ex materia und ex modo tractandi aufarbeitet. In der ex materia gewonnenen Rubrik nun wird eine Reihe von okkasio- nalen Sonderformen der Poesie aufgeführt, und zwar mit den Genus- bezeichnungen Genthliacum, Epithalamium, Propemticum, Apobate- rion, Epibaterion, Epinicion, Scolion, Soterion, Encomiasticon, Pane- gyricum, Pædeuterion und Epicedion bzw. Epitaphium.65 Da es in die- sem Zusammenhang ausschließlich um den Gesichtspunkt der materia geht, fallen die Bestimmungen freilich entsprechend lapidar aus, so etwa im Falle des Hochzeitsgedichts: “Epithalamium est carmen nup- tiale, seu, quo nuptiæ celebrantur: alio nomine Gamelion; & Hyme- næus, & Talassio.”66 An ganz anderer Stelle, nämlich im Abschnitt DE POESE S ETHICA, bietet die Poetica latina nova außerdem einen ge- nerellen Hinweis zur Dekorumlehre, der allerdings wohl kaum ir- gendwo größere Bedeutung erlangen kann als in der Gelegenheits- dichtung: “Decorum igitur primò in eo consistit, ut cuivis personæ congruus sermo, facta, affectus, mores, attribuantur, pro ætatis, status aliarumque; circumstantiarum conditione.”67 Neben den großen Kompendien aus dem Bereich der protestanti- schen Schulpoetik richtet sich auch die zwar schmale, aber verbreitete Taschenpoetik von Johann Buchler mit dem Titel Officina Poetica (1604), wie die Überschrift der Leservorrede bekanntgibt, Ad stvdio- svm poetices adolescentem. Es handelt sich dabei im Prinzip um einen Abriss der metrischen Formenlehre mit zahlreichen Beispielversen, der, obwohl als Anfängerlehrbuch gedacht, ebenfalls gänzlich auf ei- nen spezifischen Bezug zur Kasualpoesie verzichtet.68

65 Vgl. [Finck, Helwig, Bachmann:] Poetica latina nova (s. Anm. 61), S. 295-301. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Vgl. Johann Buchler: Officina poetica in qua carminum appellationes […] exem- plis […] illustratae, luculenter et breviter pertractantur. Köln 1605 [zuerst in Ni- colas Nomesy, Parnassus poeticus, Köln 1604].

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 119

Fernerhin soll die intellektuell brillante Poetik der Societas Jesu nicht unerwähnt bleiben, gereichte sie den deutschsprachigen Kodizes doch in mancher Hinsicht zum Vorbild, obwohl sie sich konsequent von muttersprachlich ausgerichteten Interessen distanzierte.69 Exemp- larisch dafür mögen hier zwei ebenso auflagenstarke wie elaborierte Texte stehen, namentlich Jacobus Pontanus mit seinen Poeticarum in- stitutionum libri tres (1594 u.ö.) als vergleichsweise früher Vertreter sowie Jacob Masens Palaestra eloquentiae ligatae (1654-57 u.ö.), die ihre Wirkung jedoch wiederum erst in der zweiten Jahrhunderthälfte entfaltete. Bei Pontanus liegt der Schwerpunkt programmatisch auf der geist- lichen Dichtung, die als vornehmster Rechtfertigungsgrund für die ne- cessitas artis ins Feld geführt wird. Die Abhandlung umfasst neben Epik, Dramatik und Bukolik70 zunächst den üblichen lyrischen For- menkanon von Elegien, Oden, Hymnen, Satiren und Epigrammen. Da- rüber hinaus enthält sie einen umfangreichen Abschnitt zur okkasional geprägten Sonderform der Epitaphien. Das Kapitel De epitaphio sev fvnebri Poesi ist nach verschiedenen Adressatengruppen aufgeschlüs- selt, darunter Freunde und Verwandte, Standespersonen sowie Amts- und Würdenträger weltlicher und geistlicher Art.71 Dort erfährt man beispielsweise, dass es bei der Grabschrift auf Regenten und andere Edelleute (De epitaphio Imperatorum, Regum, Principium, Nobilium, & Illustrium) darauf ankomme, die Macht und Bedeutsamkeit der Verstorbenen zum Ausdruck zu bringen. So merkt Pontanus zu diesem Subgenus der Grabschrift, das als literarische Gebrauchsform im höfi-

69 Vgl. zur Programmatik der ‘propaganda fidei’ Barbara Bauer: Jesuitische ‘ars rhetorica’ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Frankfurt/Main. 1986 (= Mikrokos- mos 18); Jean-Marie Valentin: Jesuiten-Literatur als gegenreformatorische Pro- paganda. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 3. Zwischen Gegen- reformation und Frühaufklärung. Späthumanismus, Barock. 1570-1740. Hrsg. von Harald Steinhagen. Reinbek 1985, S. 172-205; Guillaume van Gemert: Ober- deutsche Poetiken als Forschungsproblem. Zur Dichtungslehre des ‘Parnassus Boicus’ (1725/1726). In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 277-296; sowie Dieter Breuer: Oberdeutsche Literatur 1565-1650. Deutsche Literaturgeschichte und Territorialgeschichte in frühabsolutistischer Zeit. Mün- chen 1979 (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte; Beihefte 11). 70 Dieses Genus, das sonst tendenziell als Versekloge unter die Lyrica fällt, wird hier unverhofft eingeschoben als ‘Capvt XXIII: De Bvcolica Poesi.’ – Vgl. Jaco- bus Pontanus: Poeticarum institutionum libri tres. Ingolstadt 1594, S. 121 f. 71 Vgl. ebd., S. 212-250.

Chloe 43 120 Stefanie Stockhorst schen Kontext am stärksten dem okkasionalen Protokoll unterliegt, im Einzelnen an:

GEnvs hoc, quoniam id ipsarum personarum auctoritas, amplitudo, maies- tas, & nobilitas reverentia postulat, tum verborum, tum sententiarum lumi- nibus debet esse grauissimum, lectorumque animis multam admirationem parere: siquidem vt nvllorum hominum potentia maior, vita splendidior, fama perugatior: ita nullorum occasus vulgatior: addo etiam mirabilior, in- speratior, & sæpenumero calamitosior. Celsæ enim grauiore casu decidunt turres, ait Lyricus.72

Des Weiteren legt er dar, welche Herrscherqualitäten es in einer sol- chen Grabschrift herauszustellen gelte, wobei die sittlich-religiösen Vorzüge gegenüber den weltlichen nicht zur kurz kommen dürften:

Nec verò silebitur eorum felicitas in propagandis imperiis, sapientia, iusti- tia in administrandis regnis, prouinciis, clementia in ignoscendis subiecto- rum peccatis, comitas in congressu, fortitudo & prudentia militaris: hæc enim sunt decora Principum. Maximè autem proferetur pietas in benefactis erga homines, in templis conditis erga deum, in tuenda & propaganda reli- gione orthodoxa, in persequendis hæreticis, in puniendis flagitosis, & c.73

Obschon dieser Tugendkatalog den Tenor eines höfischen Epitaphs schon recht präzis festlegt, betont Pontanus sicherheitshalber, dass in diesem Genre allein die Größe und Wichtigkeit des Abgeschiedenen thematisiert werden dürfe, wohingegen jegliche Sentimentalitäten zu unterbleiben hätten: “Mollities illa, teneritudo, & commiseratio in his- ce tumulis locum non habet: omnia siquidem ad acumen, grauitatem, admirationem, maiestatem conferenda sunt.”74 Schließlich finden sich noch einige Hinweise auf mögliche Quellen für zweckmäßige loci, darunter an erster Stelle die alte Abstammung und das Vermögen: “In nobilitate consideratur antiquitas familiæ: quo enim quæque vetustior, hoc nobilior. […] Hinc altera laus nascitur à diuitiis.”75 Auf die hier referierten Anweisungen folgen bei Pontanus noch einige knapp er- läuterte Textbeispiele sowie im Anhang des Buches ein unkommen- tiertes, aber höchst umfangreiches Musterkorpus von Texten aller Art,

72 Ebd., S. 217. 73 Ebd., S. 217 f. 74 Ebd., S. 218. 75 Ebd., S. 219.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 121 das mit Tyrocinivm poeticvm überschrieben ist.76 Geht es also bei Pon- tanus in Sachen Kasualdichtung ausschließlich um Grab- und Trost- gedichte zur Beförderung der Glaubensgewissheit im Angesicht des Todes, so zeigen seine Einlassungen doch, dass neben genuin poeti- schen Kenntnisse auch einige Gewandtheit auf jenem Gebiet vonnöten war, das im damaligen Sprachgebrauch ‘politisch’ hieß. Was dieser Kodex für die Epitaphien empfiehlt, lässt sich mit etwas induktivem Geschick von einem aufstrebenden Gelegenheitsdichter auch auf an- dere casus übertragen. Der Abschnitt zur Lyrik in Masens Palaestra bietet ebenfalls einige Hilfestellungen zur Gelegenheitsdichtung, die allerdings insofern auch nur mittelbar zu verwerten sind, als sowohl in den theoretischen Aus- führungen als auch in den zahlreichen Mustertexten unter der Rubrik Lyrica Poemata Veterum ac novorum generum77 primär die geistliche Lobode verhandelt wird. Masen hält einigermaßen lapidar fest, wessen es bedarf, um ein solches Gedicht zu verfassen: “Ad conceptum hujus carminis brevis alicujus rei propositio, expositio, aut descriptio, ratio item una rei faciendae, aut omittendae, sufficit.”78 Auch seine weiteren Herstellungsanleitungen, welche das exordium, die narratio, die epi- sodia, die ornamenta, die elocutio sowie verschiedene rationes imi- tandi umfassen,79 geben ihre Herkunft aus der Rhetorik unmissver- ständlich zu erkennen. Demnach geben die oberdeutsch-katholischen Poetiken ihren lern- begierigen Lesern etwas substantiellere Ratschläge an die Hand als die deutschsprachigen Kodizes, denn neben handwerklichen Fertigkeiten behandeln sie auch die nötige Ausrichtung auf die bei den Adressaten zu erzielende Wirkung. Trotzdem helfen auch diese Anleitungen ei- nem deutschsprachigen Gelegenheitsdichter nur bedingt weiter, was nicht nur ihrem Zuschnitt auf die Gegebenheiten der lateinischen Sprache geschuldet ist, sondern auch ihrer thematischen Einschrän- kung des Okkasionalen auf das laus dei, was auch die Zusammenstel- lung der Beispielkorpora prägt. Nicht von ungefähr verwiesen die je-

76 Vgl. ebd., S. 220 f. bzw. S. 251-588. 77 Vgl. Jacob Masen: Palaestra eloquentiae ligatae. Novam ac facilem tam concipi- endi, quàm scribendi quovis Stylo poëtico methodum ac rationem complectitur, viamque ad solutam eloquentiam aperit. 2 Bde., Köln 1682/83 [zuerst 1654-57], S. 348-482. 78 Ebd., S. 327. 79 Vgl. ebd., S. 330-342.

Chloe 43 122 Stefanie Stockhorst suitischen Dichtungslehren sehr engmaschig auf ältere praecepta, was als Absicherung der eigenen Ausführungen und weiterführende Lektü- reempfehlung zu verstehen ist. Während Masen die Belegführung in den Fließtext integriert, zählt Pontanus seine auctoritates aus der poe- tologischen und rhetorischen Tradition gleich unter dem Inhaltsver- zeichnis in zwei Spalten auf, und zwar in dieser Reihenfolge: Aristo- teles, Plutarch, Horaz, Scaliger, Viperano, Minturno, Robortello, Vida, Cicero und Quintilian. Der Rückbezug auf antike und rinaszimentale Vorgängertexte spielt auch in der deutschsprachigen Barockpoetik eine zentrale Rolle. Oft- mals behaupten die Theoretiker sogar, dass sie diesen eigentlich nichts mehr hinzufügen könnten. So resümiert Opitz die poetologische Nor- mierungstradition: “Bey den Griechen hat es Aristoteles vornehmlich gethan; bey den Lateinern Horatius; vnd zue unserer Voreltern Zeiten Vida vnnd Scaliger so außfuehrlich/ das weiter etwas darbey zue thun vergebens ist.”80 Bei Kindermann führt die Reverenz bis zur Apothe- ose, mit der die eigene genustheoretische Zurückhaltung begründet wird – “gestalt dan solches von dem Göttlichen Scaliger, und deren theuren Männern ohne diß zur gnüge/ mit deutlichen Worten/ ist dar- gethan und gewiesen worden”.81 Auch sonst wird die Reformpoetik nicht müde, Scaligers Poetices libri septem (1561) ins Feld zu führen, wenn sie detaillierte Auskünfte im Bereich des aristotelisch verbürg- ten Formenkanons einsparen möchte. Scaliger nimmt für sich in Anspruch, unter anderem mit größter Anstrengung erstmals eine systematische, fachkundige und verständ- liche Zusammenstellung der für die Lyrik insgesamt gültigen Regeln vorgenommen zu haben, welche, wie er selbst die deplorable Lage zu- sammenfasst, “aut a nullo ante nos explicabantur aut sine arte dispersa indigestaque iacebant penitus aut etiam vel inepta vel inepte prodita”82 waren. Auch bei Fragen speziell zum Comment der Gelegenheits- dichtung empfiehlt es sich, dieses Kompendium zu Rate zu ziehen. In den Kapiteln 99 bis 122 des dritten Buches setzt Scaliger sich derart gründlich mit den anlassbedingt vielfältigen Arten der sylvae ausein- ander, dass sein Vorgehen hier nur kursorisch angedeutet werden

80 Opitz (s. Anm. 15), S. 11. 81 Kindermann (s. Anm. 22), S. 243. 82 Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Bd. 3. Buch 3, Kapitel 95-126m, und Buch 4. Hg., übers., eingel. und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart 1995 [EA 1561], S. 216.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 123 kann. Gleich zu Beginn erklärt Scaliger seinen ausdrücklichen Ver- zicht darauf, die nötigen rhetorischen Grundlagen der Lobrede zu re- kapitulieren, weil man sie in einschlägigen Lehrbüchern nachschlagen könne. Für seine Zwecke genüge es, sich die Prinzipientrias von ne- cessitas, utilitas und delectatio zu vergegenwärtigen und auf die Plau- sibilität der Dichtung zu achten.83 Für das Hochzeitsgedicht, um erneut dieses Subgenre als Beispiel zu bemühen, legt Scaliger eine sechsteili- ge Struktur dar. Sie umfasst erstens die Sehnsüchte des Brautpaares, zweitens beider Herkunft und Vorzüge, drittens die Glückwünsche, viertens ausgelassene Scherze, fünftens die Hoffnung auf baldigen Kindersegen und sechstens die daran anschließende Ermunterung, wach zu bleiben, während die anderen schlafen, oder im originalen Wortlaut:

Eius carminis argumentum consistit e sponsi sponsaeque desideriis. […] Secundo loco explicabuntur laudes utriusque a patria, genere, animi studiis, corporis praestantia. Tertius bene ominabitur. Quarti lascivia lususque est totius alterutrum aut utrumque blande appellando […]. Quinto loco sobo- lem pollicetur, vota facit, vaticinatur. Postrema pars exhortationem continet ad somnum, ac somnum quidem aliis, illis vero vigiliam.84

Als Anregung für die amplificatio dieses formalen Gerüstes liefert Scaliger einen reichhaltigen Fundus von Episoden aus der antiken Mythologie, von überlieferten Hochzeitsbräuchen, von gängigen Bil- dern sowie von loci topici im Zusammenhang mit der Hochzeitsthe- matik. Darauf folgt eine Differenzierung der Hochzeitscarmina in das Skolion zum Festmahl, das eigentliche Epithalamium, mit dem das Paar ins Schlafgemach verabschiedet werde, und in eine dritte Unter- form, die den Vollzug der Ehe zum Gegenstand habe.85 Der Abschnitt endet mit einer knapp kommentierten Zusammenschau ausgewählter antiker Hochzeitsverse.86 Trotz dieser Informationsfülle verrät Scaliger jedoch letztlich nur, wie man ein rinaszimentales, nicht jedoch ein ba- rockes Gelegenheitsgedicht herstellt. Somit bleibt hier nicht nur die Umsetzung in deutscher Sprache, sondern auch die zeitgemäße stilisti-

83 Vgl. ebd., S. 63. 84 Ebd., S. 64 ff. 85 Vgl. ebd., S. 90. 86 Vgl. ebd., S. 92-98.

Chloe 43 124 Stefanie Stockhorst sche und thematische Ausgestaltung aufgrund der historischen Distanz notwendig ungeklärt.

7. Fazit

Für die Gelegenheitsdichtung setzt ein nennenswerter normativer Dis- kurs innerhalb der kodifizierten Reformpoetik erst deutlich nach der Jahrhundertmitte ein, und nicht eher als an der Wende zum 18. Jahr- hundert tauchen vereinzelte Anleitungen auf, welche die Herstellung von Gelegenheitsgedichten für Unterrichtszwecke wirklich klein- schrittig vor Augen führen. Aus diesem Befund lassen sich freilich keinerlei Rückschlüsse auf eine womöglich geringe Wertschätzung der Gelegenheitsdichtung ziehen, zumal die praktische Relevanz die- ses Genres außer Zweifel stehen dürfte. Eher noch ließe sich umge- kehrt argumentieren, dass sein hoher Verbreitungsgrad eine umständ- liche theoretische Aufarbeitung redundant erscheinen lassen musste. Auch gehörte ein solides rhetorisches Rüstzeug zur selbstverständli- chen Allgemeinbildung eines jeden frühneuzeitlichen Gelehrten, was möglicherweise erklärt, warum die Reformpoetiken so etwas nicht ei- gens wiederholen. Davon abgesehen galt die Aufmerksamkeit der Po- etiken vorerst nicht der Gelegenheitsode, sondern der deutschsprachi- gen Ode, weil auf diesem Gebiet ungleich viel mehr an Pionierarbeit geleistet werden musste. Was in den Kodizes noch bis in die 1660er Jahre hinein an Normie- rungen erfolgt, bewegt sich im Rahmen einer gelehrten Selbstverstän- digung auf der Ebene des sprachpatriotischen Diskurses mit seinen Implikationen für die Möglichkeiten und Bedingungen einer vernaku- lären Dichtung nach den Standards der romanischen Nationalliteratu- ren. Aus diesem Grund leisten die frühen Reformpoetiken keine regel- förmige Aufbereitung bekannter Wissensbestände für Schüler, son- dern erschließen das Neuland der Deutschsprachigkeit im Experten- zirkel. Wenn also die Regulierungen zur Kasualpoesie in den deutsch- sprachigen Kodizes lange Zeit entschieden zu knapp ausfallen, um Anfängern und Laien als verlässliche Anleitung dienen zu können, mussten die erforderlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten auf Umwe- gen erschlossen werden. Da es sich bei der Gelegenheitsdichtung um ein stark rhetorisch geprägtes Genre handelt, erweisen sich die Lehr- bücher der Redekunst in manchen Grundsatzfragen als überaus ergie- bige Ressource. Ihr entstammt nicht nur die Dispositionslehre, son-

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 125 dern auch die schickliche Topik im genus demonstrativum sowie die gesamte Pragmatik von aptum und decorum. Während nun das Gele- genheitsgedicht mit der Gelegenheitsrede im Bereich der res weitge- hend übereinstimmt, fällt die Einkleidung in passende verba im Mo- dus der Poesie völlig anders aus. Bei der elocutio vermögen die rhe- torischen Kodizes demzufolge kaum eine Hilfestellung zu bieten. Suchte man dahingehende Auskünfte, konnte man zunächst die allge- meinen Teile zur Prosodie und Versifikation in den Reformpoetiken hinzuziehen. Weitergehende poetologische Anleitungen, die speziell auf die Kasualpoesie zugeschnitten waren, fanden sich einstweilen nur in der neulateinischen Normierungstradition, sei es bei jesuitischen Theoretikern wie Pontanus und Masen oder in dem altbewährten Re- naissance-Kodex Scaligers. Außerdem ist davon auszugehen, dass die kasualpoetische Praxis in hohem Maße als Leitbild fungiert hat, kommt doch letztlich kaum eine barocke Lyriksammlung ohne Gele- genheitsgedichte aus, an denen man sich orientieren konnte. Die in der vorgängigen Untersuchung skizzierte Diskrepanz von Theorie und Praxis der Kasualpoesie macht in frappierender Weise deutlich, dass die Eigenständigkeit, welche die Reformpoetik pro- grammatisch für sich in Anspruch nimmt, gerade auf diesem Gebiet nur äußerst bedingt den Tatsachen entspricht. Ohne rhetorisches Grundwissen und erst recht nicht ohne profunde Kenntnisse der zeit- genössischen und rinaszimentalen lateinischen Poetik ließen sich ka- sualpoetische Ambitionen wenigstens bis zur Mitte des 17. Jahrhun- derts nur äußerst bedingt verwirklichen. Die kaum überschaubare Fülle der barocken Gelegenheitsdichtung in deutscher Sprache ent- stand somit in produktiver Wechselwirkung zwischen rhetorischen Schlüsselqualifikationen, Zusatzwissen aus traditioneller und innovati- ver Poetik, Mustertexten auf Lateinisch und Deutsch sowie einer ganz eigenen Art der ars combinatoria, da allemal Analogiebildungen, In- duktionsschlüsse und Transferleistungen nötig waren, um die nötige dichterische Kasusflexibilität zu erlangen. Den Dichtern oblag die selbständige Auswertung und Verknüpfung von Regeln und Mustern unterschiedlicher Provenienz, was zwar einige Anstrengung kosten mochte, zugleich aber auch erhebliche Freiräume schaffte, die nach ästhetischem Gutdünken auszufüllen waren. Im Überblick erscheint die Kasualpoesie deshalb nicht annähernd so reguliert, wie ihr Ruf es vermuten lässt. Insbesondere stellen die wenigen akribischen Herstellungsvorschriften des Spätbarock eine

Chloe 43 126 Stefanie Stockhorst solche Ausnahmeerscheinung dar, dass sie keinesfalls stellvertretend für die Normierung der Gelegenheitsdichtung stehen können.87 Des weiteren verliert keine einzige Anleitung, weder aus dem rhetorischen noch aus dem poetologischen Kontext, auch nur eine Silbe über das augenfällig Unkonventionelle in der Gelegenheitsdichtung, also über Momente des Originellen (im Sinne der aemulatio), Spielerischen, Satirischen, Erzieherischen oder Herrschaftskritischen, über Ansätze zum individualisierten Gefühlsausdruck oder über die kasualpoetische Artikulation von gelegenheitsfremden Eigeninteressen persönlicher oder ästhetischer Natur. Der Vollständigkeit halber sei außerdem an- gemerkt, dass sich sämtliche theoretischen Äußerungen zur Gelegen- heitsdichtung ausschließlich auf die Lyrik beziehen, während alle an- deren Formen während des 17. Jahrhunderts überhaupt keine Erwäh- nung finden. Dementsprechend steht zu vermuten, dass nicht zuletzt auch eine auf überliefertem Wissen und persönlicher Erfahrung der Gymnasial- und Universitätsprofessoren im alltäglichen Umgang mit der Kasualdichtung gründende mündliche Vermittlungstradition beim Erlernen des Genres eine maßgebliche Rolle gespielt hat, zumal es der gute Ton verlangte, etablierte Standards nicht nur zu erfüllen, sondern sie zu überbieten. Aus den lückenhaften und unsystematischen Normbeständen resul- tierten nicht nur potentielle Gestaltungsspielräume, sondern, wie sich anhand etlicher Fallstudien aus jüngerer Zeit immer deutlicher zeigt, sie wurden auch erstaunlich variantenreich ausgeschöpft.88 So kenn-

87 Nicht von ungefähr griff die aufklärerische Dichtungstheorie gerade Hübners Poetik gern als abschreckendes Beispiel für den vermeintlichen Dogmatismus des Barock heraus; vgl. bereits Bruno Markwardt: Geschichte der deutschen Poetik. Bd. I. Barock und Frühaufklärung. Berlin 1937 (= Grundriss der germanischen Philologie 13/1), S. 331. 88 Vgl. neben den im vorliegenden Band versammelten Fallstudien z.B. Joseph Leighton: The Poet’s Voices in Occasional Baroque Poetry. In: Literary Culture in the Holy Roman Empire, 1555-1720. Hrsg. von James Andrew Parente, Richard Erich Schade und George Schoolfield. Chapel Hill 1991 (= University of North Carolina Studies in the Germanic Languages and Literature 113), S. 236- 246; Nicola Kaminski: ‘Eugen ist fort” – und der Poet? Panegyrisches Programm und poetisches Konzept in Johann Christian Günthers Eugen-Ode. In: Euphorion 91 (1997), S. 139-156; Klaus Conermann: Opitz auf der Dresdner Fürsten- hochzeit von 1630. Drei satirische Sonette des Boberschwans. In: Daphnis 27 (1998), S. 587-630; Knut Kiesant: Berliner Gelegenheitsdichtung im Span- nungsfeld von Stadt und Hof. Nicolaus Peucker (um 1620-1674). In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber.

Chloe 43 Fehlende Vorschriften 127 zeichnet sich barocke Gelegenheitsdichtung letztlich mitnichten durch “die Formelhaftigkeit der Rede, die Austauschbarkeit der Adressaten, die Übertragbarkeit auf vergleichbare Situationen oder die allgemeine Gültigkeit der transportierten Botschaften”,89 wie ihr in einem recht aktuellen Einführungsartikel noch immer nachgesagt wird. Ganz im Gegenteil: Es kann offenbar nicht genug betont werden, dass Gele- genheitsdichtung trotz ihrer sozialen Zweckbindung90 durchaus auch als künstlerisches Ausdrucksmittel ernst genommen werden muss. Durch die fehlenden Vorschriften ist die Kasualdichtung als im besten Sinne proteisches Genre angelegt, dessen theoretische Grundlagen nur höchst zögerlich aufgedeckt werden, so dass es praktisch nicht nur in immer wieder neuen Erscheinungsformen auftreten kann, sondern dies offenbar auch soll.

Bd. 1. Tübingen 1998 (= Frühe Neuzeit 39/1), S. 260-278; Stefanie Stockhorst: Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hrsg. von Markus Joch und Norbert Christian Wolf. Tübingen 2005 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108), S. 55-71; Wilhelm Kühlmann: Huldigung als Warnung. Poetischer Rat für den Heidelberger Kurfürsten, 1620. In: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Aufsatzsammlung Wilhelm Kühlmann. Hrsg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt und Hermann Wiegand. Tübingen 2006 [zuerst 1996], S. 453-456. 89 Claudia Stockinger: Kasuallyrik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 2. Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München 1999. S. 436-452, hier S. 436. 90 Vgl. dazu im Einzelnen immer noch Segebrecht (s. Anm. 13), S. 175-188.

Chloe 43

H e i k o D r o s t e

DAS KASUALGEDICHT DES 17. JAHRHUNDERTS IN SOZIAL- HISTORISCHER PERSPEKTIVE

Das Kasualgedicht war in der Frühen Neuzeit als Gattung für eine Reihe von ‘Gelegenheiten’, das waren durch Herkommen und spezifi- sche Kulturformen definierte Anlässe, ausdifferenziert. Im Rahmen dieser zumeist öffentlichen Gelegenheiten erfüllte das Gedicht die Funktion einer dem Anlass angemessenen Gabe. Diese Gabe wiede- rum wurde als Bestandteil einer spezifischen Sozialbeziehung ver- standen. Sie erfüllte darüber hinaus klar definierte Funktionen in einer für die Gelegenheit typischen Performanzsituation.1 Der eindeutigen soziokulturellen Verortung entsprach die stark ausgeprägte Regelhaftigkeit der Gedichte in literarischer Hinsicht. Die literarische Topik der Gedichte, ihre zeremoniell ausdifferenzierte Aufführung wie ihr sozialer Sinn als einer Gabe innerhalb einer Sozialbeziehung gingen dabei Hand in Hand. Das Gedicht konnte und sollte als Gabe anlassbezogen ‘individualisiert’ werden. Das heißt, es wurde mit Blick auf den Adressaten hin entworfen. Es bot dem Verfasser damit einen Freiraum zu eigenen Überlegungen zur geehrten Person wie auch zur Gattung. Das geschah allerdings in dem engen Rahmen einer durch literarische wie soziale Normen geprägten Gattung, die gerade in der Erfüllung der topisch vorgeprägten Erwar- tungshaltung ihren Gabencharakter sicherstellte. Das Kasualgedicht war somit keineswegs Ausweis poetischer Originalität und sollte das auch nicht sein. Es galt für den Verfasser vielmehr, den Nachweis be- stimmter rhetorischer Fähigkeiten zu erbringen.2 Diese poetischen

1 Stefanie Stockhorst: Art.: Gelegenheitsdichtung. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Band 4, Stuttgart 2006, Sp. 354-362. 2 Dies ist Stand der Forschung seit der grundlegenden Studie von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977.

Chloe 43 130 Heiko Droste

Fähigkeiten waren im Übrigen Teil der rhetorischen Schulung der oberen Schichten.3 Das Kasualgedicht gehört somit in das Feld einer barocken Litera- tur. Das heißt, es war zumindest ansatzweise Gegenstand poetologi- scher Überlegungen der Verfasser, die die Regeln variierten konnten.4 Wichtiger scheint freilich die Zugehörigkeit der Kasualdichtung zur höfischen und bürgerlichen Elitenkultur, den Feldern Hof, Universität, Kirche und Stadt. In ihnen erfüllte es weniger literarische als vielmehr soziale Funktionen – das Kasualgedicht war ein Medium höfischer wie bürgerlicher Interaktion und folgte den sozialen und kulturellen Normen des genannten Feldes, wobei die bürgerliche Kasualdichtung die höfische zu imitieren scheint. Innerhalb der höfischen wie bürgerlichen Elitenkultur war das Ka- sualgedicht Teil einer Gabenökonomie. Diese auf Gegenseitigkeit an- gelegte Gabenökonomie war wiederum zentral für die internen Bezie- hungen der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft, am Hof, in der Uni- versität, in der Kirche wie in der Stadt. Mit Gabenökonomie wird der Tausch von sozialem, kulturellem und wirtschaftlichem Kapital in ein- ander sowie in symbolisches Kapital bezeichnet. Das symbolische Kapital (Ehre bzw. Kredit) konnte anschließend wiederum in andere Kapitalformen transferiert werden. Diese Form der Ökonomie findet sich in vormodernen wie modernen Gesellschaften, wie der französi- sche Soziologe Pierre Bourdieu überzeugend beschrieben hat.5 Spezi-

3 Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970. 4 Dieser Gedanke wird von Stockhorst in einem Aufsatz zum Feld der Gelegen- heitsdichtung und mit Bezug auf die Soziologie Bourdieus ausgeführt; Stefanie Stockhorst: Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relati- ven Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hrsg. von Markus Joch und Norbert Chr. Wolf. Tübingen 2005, S. 55-71. Stockhorsts Ausführungen sind in sich schlüssig, wobei der Zusammenhang des von ihr beschriebenen Feldes zum Feld der höfi- schen und bürgerlichen Eliten nicht näher ausgeführt wird. Er soll auch hier un- beachtet bleiben, da meine Überlegungen dezidiert auf die Kasualdichtung als ei- nem Massenphänomen der frühneuzeitlichen Literatur und deren sozialer Einbet- tung abzielen. Der sozialhistorische Hintergrund wird im Übrigen beispielhaft bei Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes August des Starken. Tübingen 1997, ausgeführt. 5 Das Werk von Pierre Bourdieu ist sehr reich. Zudem hat er sein Kapitalkonzept vielfältig ausgeführt, erweitert, nuanciert und in ein Habituskonzept eingebaut. Als Einführung in sein Denken sind zu empfehlen: Pierre Bourdieu: Ökonomi-

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 131 fisch für die Gabenökonomie der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft war, dass dieser Tausch wesentlich stärker als in der Moderne in per- sonale Beziehungen eingebettet war. Er fand vor allem zwischen Freunden und Verwandten statt, da ihnen das notwendige Vertrauen in das Gelingen des Tauschs entgegengebracht wurde. Diese Beziehun- gen stellten Legitimität und Verlässlichkeit des Tausches her und er- füllten damit Funktionen einer sozialen Institution. Die Teilnahme an der Gabenökonomie war ohne diese Freunde kaum möglich, zumal diese gegenüber Dritten die Vertrauenswürdigkeit des Teilnehmers an einem Tausch bezeugen konnten. Eine Analyse der Kasualgedichte muss die Bedingungen dieser Ökonomie mit bedenken. Dazu gehören einerseits die Analyse der je- weils beteiligten Sozialbeziehung hinsichtlich ihrer Stabilität bzw. Qualität. Zu den Bedingungen der Ökonomie gehören freilich auch der jeweilige Anlass und seine Inszenierung, denn sie legten die Re- geln für den Tausch fest. Die Überreichung und Distribution der Ge- dichte konnte ganz unterschiedliche Formen annehmen, die jeweils eigene Tauscharten darstellten. Schließlich müssen diese Gedichte in ihrer Gabenfunktion von anderen Formen der frühneuzeitlichen Öko- nomie unterschieden werden, etwa vom Mäzenatentum und der Ab- fassung von Gedichten als einer ‘gewerbsmäßigen’ Tätigkeit von ‘Be- rufsliteraten’. Beide Formen stehen für ein anderes Verständnis sozi- aler Beziehungen, auf das aus Gründen der Abgrenzung ebenfalls ein- gegangen werden soll. In diesem Zusammenhang ist vom 17. zum 18. Jahrhundert eine deutliche Entwicklung zu erkennen, die den Stellen- wert der Kasualgedichte teilweise veränderte. Es soll im Folgenden freilich vor allem um das Gedicht als Form einer Gabe innerhalb einer personalen Beziehung gehen. Mit Blick auf dieses Interesse scheint mir eine präzise Definition der Gattung Ka- sualgedicht sinnvoll. In der literaturwissenschaftlichen Debatte gibt es ausgehend von Überlegungen zur Gelegenheit (zum Kasualen oder Okkasionalen) eine definitorische Unschärfe, die mit Blick auf das aktuelle Frageinteresse vermieden werden soll. Die folgende Defini-

sches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Soziale Ungleichheiten. Hrsg. von Reinhard Kreckel. Göttingen 1983, S. 183-198; ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main 1993. Darin Kapitel: Das symbolische Kapital, S. 205-221.

Chloe 43 132 Heiko Droste tion erfüllt daher eine heuristische Funktion und betont die sozial- historische Einbettung der Gattung.6 Gelegenheit bezeichnet einerseits die Bindung der Dichtung an ein (einmaliges) Ereignis, das den Anlass zu seiner Abfassung darstellt. Diese Gelegenheiten bezogen sich in der Frühen Neuzeit in aller Re- gel auf eine begrenzte Anzahl von besonderen Ereignissen meist ein- deutiger öffentlicher Relevanz: Hochzeiten, Todesfälle, Taufen und akademische Feiern. Diesen Ereignissen gemeinsam war ihr hoher Stellenwert im sozialen Leben der höfischen wie bürgerlichen Eliten. Daraus folgte wiederum die feste Erwartung auf eine dichterische Würdigung dieser Gelegenheiten. Diese Erwartungshaltung erst ließ die Kasualdichtung im 17. Jahrhundert zu dem Massenphänomen werden, dem von obrigkeitlicher Seite mit einer Vielzahl von Verord- nungen begegnet wurde. Die Verordnungen belegen damit nicht nur die Alltäglichkeit der Gattung. Die in ihnen ohne jede Erklärung ge- brauchte Sammelbezeichnung der ‘Carmina’ für diese Gedichte belegt zudem ein Gattungsbewusstsein, das eben diese begrenzte Anzahl von öffentlichen Gelegenheiten als Definitionsmerkmal betonte. Vor die- sem Hintergrund scheint es sinnvoll, die Gattung der Kasualdichtung auf diese öffentlichen Gelegenheiten zu reduzieren. Es gab daneben eine reiche Dichtung (vor allem in höfischen Kontexten) zu anderen, einmaligen Gelegenheiten, sowie eine Diskussion zur Gelegenheitsab- hängigkeit jedweder Dichtung. Diese im weiteren Sinn okkasionalen und einmaligen Gelegenheiten lassen sich hingegen nicht mit dem er- wähnten Verständnis der Carmina fassen. Diese Werke gehorchten an- deren Regeln, da sie eine andere Beziehung des Dichters zur Gelegen- heit und zum Adressaten erkennen lassen.

Freundschaft als soziale Institution

In der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft wurden private und ver- wandtschaftliche, öffentliche und herrschaftliche Beziehungen als per- sonale Beziehungen gestaltet. Als wichtigste Form dieser Beziehung galt seit der Antike die Freundschaft. Diese hat freilich wenig mit der romantischen Auffassung von Freundschaft gemein, wie sie das mo- derne Denken seit dem 18. Jahrhundert bestimmt. Das Verständnis von Freundschaft wurde vielmehr stark durch die Nikomachische

6 Vgl. Überblick von Stockhorst in: Enzyklopädie der Neuzeit (s. Anm. 1).

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 133

Ethik des Aristoteles,7 römische Philosophen8 und alttestamentliche Weisheitslehren (vor allem Ben Sira)9 bestimmt. Dieser Diskurs über Freundschaft umfasste durchaus unterschiedliche Konzepte, die auch auf verwandtschaftliche Beziehungen angewandt wurden. Im Zusam- menhang mit dem Erbrecht behauptete die Freundschaft seit dem Mittelalter eine rechtliche Qualität, wobei diese Vorstellungen im 17. Jahrhundert stark an Bedeutung verloren. Der zeitgenössische höfi- sche wie gelehrte Diskurs beschrieb im 17. Jahrhundert hingegen eine personale, nicht-justiziable und auf Gegenseitigkeit angelegte Bezie- hung zwischen einzelnen Personen. Diese Beziehungen waren auf das Gute, Lust oder den partikularen Nutzen ausgerichtet; sie wurden in den ständisch ausdifferenzierten Gesellschaften der Frühen Neuzeit in aller Regel zwischen sozial Ungleichen geschlossen.10 Der enge Bezug auf Normen der Gegenseitigkeit wie des patriarchalen Gesellschafts- ideals, die für die frühneuzeitliche Ständegesellschaft kennzeichnend waren, ließ die Freundschaft zu einer grundlegenden sozialen Institu- tion werden.11 Angestoßen durch ethnologische und soziologische Arbeiten12 ent- wickelte sich unter Historikern seit den 1980er Jahren ein starkes In-

7 Aristoteles: Nikomachische Ethik, Kapitel 8. 8 Aspects of friendship in the Graeco-Roman world. Proceedings of a conference held at the Seminar für Alte Geschichte, Heidelberg, on 10-11 June, 2000. Hrsg. von Michael Peachin. Portsmouth, RI: Journal of Roman Archeaology (2001). 9 Freundschaft bei Ben Sira. Beiträge des Symposions zu Ben Sira. Salzburg, 1996. Hrsg. von Friedrich V. Reiterer. Berlin, New York 1996. 10 Daneben gab es seit der Antike das Ideal einer meist auf männliche Freunde be- schränkten Freundschaft unter ‘Gleichen’, gleich im Sinne gemeinsamer ethi- scher und intellektueller Überzeugungen wie Interessen. Diese Freundschaft spielte in den zeitgenössischen Diskursen wie in der Kasualdichtung freilich eine eher begrenzte Rolle. 11 “Institution ist eine soziale Einrichtung, die soziales Handeln in Bereichen mit gesellschaftlicher Relevanz dauerhaft strukturiert, normativ regelt und über Sinn- und Wertbezüge legitimiert.” Definition nach Richard Pieper: Art.: Institution. In: Soziologie-Lexikon. Hrsg. von Gerd Reinhold [u.a.], 4. Auflage, München, Wien 2000, S. 295. 12 Beispielhaft: Shmuel N. Eisenstadt und Luis Roniger: Patron-Client Relations as a Mode of Structuring Social Exchange. In: Comparative Studies in Society and History 22 (1980), S. 42-77; vgl. auch Verena Burkolter-Trachsel: Zur Theorie sozialer Macht. Konzeptionen, Grundlagen und Legitimierung, Theorien, Mes- sung, Tiefenstrukturen und Modelle. Bern 1981.

Chloe 43 134 Heiko Droste teresse an dieser Freundschaftskultur.13 Am Anfang stand dabei die Beobachtung, dass die frühneuzeitliche Staatsbildung des 16. bis 18. Jahrhunderts in ganz Europa nicht nur durch eine zunehmende Büro- kratisierung gekennzeichnet war, aus der der moderne Institutionen- Staat hervorging. Die frühneuzeitlichen Gesellschaften waren auch durch ein unendlich feines und dichtes Netz von Freundschaftsbezie- hungen geprägt. Diese Beziehungskultur entsprach zeitgenössischen Vorstellungen vom Menschen als einem sozialen Wesen, das ohne Freunde nicht existieren kann. Danach waren Freundschaften auf ge- genseitiges Vertrauen sowie den Austausch von Gaben gegründet. Letztere schufen eine fortdauernde Verpflichtung und damit eine mo- ralische Beziehung.14 Diese Kultur nahm ihren Ausgang am Hof, wo die nicht-justiziable Freundschaftsbeziehung in einem langen Prozess die rechtlich ausge- prägte Lehensbeziehung ablöste. Später findet sich diese Freund- schaftskultur auch im Militär, in der Kirche, an den Universitäten und in anderen bürgerlichen Institutionen. Innerhalb dieser Beziehung leistete der sozial Untergeordnete Dienste, die vom sozial Übergeord- neten durch Beförderung der Interessen des Untergeordneten vergol- ten wurden. Die wichtigste Gabe war eine – im Idealfall gegenseitige – Korrespondenz bzw. eine Aufwartung per Brief oder in Person. Diese Freundschaften wurden einerseits als unersetzlich angesehen. Andererseits galten Freundschaften zwischen sozial Ungleichen, die auf einen konkreten Nutzen bzw. auf partikulare Interessen abzielten, als gefährdet bzw. wenig verlässlich. Eine Flut höfischer und didakti- scher Traktate beschrieb diesen Widerspruch und versuchte Lösungen aufzuzeigen, also besondere Verhaltensweisen, mit denen Verlässlich- keit hergestellt werden sollte. Dieser zeitgenössische Diskurs ist eben-

13 Als beste Einführung in die historische Forschung darf gelten: Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Antoni Mczak. München 1988. 14 Das zeitgenössische Verständnis der Freundschaft in ihrer Vielschichtigkeit von ‘natürlicher’ und ‘moralischer’ Freundschaft wird mustergültig bei Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon, darinnen die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pnevmatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und Kunst- Wörter erkläret und aus der Historie erläutert [...] werden. Leipzig, 1726. Band 1, Sp. 995-1001, beschrieben.

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 135 so reich wie pessimistisch, was die Möglichkeit verlässlicher Freund- schaften betrifft.15 Diese nutzenorientierten Freundschaften werden heute mit einem analytischen Begriff als Patronage- bzw. Klientelbeziehungen be- schrieben; sie wurden in der Frühen Neuzeit durch eine Reihe nicht sehr spezifischer Anreden ausgedrückt: Patron und Klient, Gönner, Beförderer, Freund, Fautor, Mäzen und anderes mehr. Die Archive der Frühen Neuzeit sind randvoll mit Belegen für diese Beziehungen. Die gebräuchlichsten und hier verwendeten Begriffe waren Klient, für den sozial Untergeordneten, sowie Patron, für den sozial Überge- ordneten. Es war vor allem für den Klienten nötig, durch eine regel- mäßige Korrespondenz, Aufwartungen, kleine Geschenke zu Neujahr und bei anderen Gelegenheiten, seine Freundschaft zu belegen und zu perpetuieren. Im Gegenzug beförderte der Patron als Empfänger die- ser Gaben die Interessen seines Klienten durch symbolische Formen der Anerkennung (Briefe, Audienzen), durch Hilfestellungen bei einer Eheschließung oder durch Fürsprache bei Stellenbesetzungen und ganz allgemein durch Rekommandationen der Vertrauenswürdigkeit des Klienten. Die Patron-Klient-Beziehung war auf Dauer angelegt und betonte die gegenseitige Verpflichtung. Es geht hier um Jahre der Beziehungs- pflege, Jahre, in denen vor allem der Klient belegen musste, dass er die Förderung durch den Patron verdiente. Und zwar verdient in ei- nem doppelten Sinn, einerseits aufgrund seiner langjährigen Treue und der fortgesetzten Gaben, verdient andererseits durch den Nach- weis, dass er besondere Fähigkeiten besaß, die dem Patron nützlich erschienen. Es handelte sich somit um eine potenziell meritenorien- tierte Beziehung, eine Form der Erziehung. Der Klient erwarb Fähig- keiten und Verdienste, was ihm schließlich eine Beförderung seiner Interessen ermöglichen sollte. Die Förderung eines unfähigen Klienten war durchaus möglich und wurde diskutiert. Sie konnte freilich auf das Ansehen des Patrons zurückfallen. Die Patronageforschung der letzten Jahrzehnte versuchte, die Exis- tenz dieser Beziehungen nachzuweisen und ihre Funktionsweise zu klären. Das Ergebnis ist eindeutig und war es schon für die Zeitgenos- sen. Insbesondere in den Bürokratien wie dem Militär und der Kirche

15 Vgl. hierzu Heiko Droste: Die Erziehung eines Klienten. In: Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Hrsg. von Stefan Braken- siek und Heide Wunder. Köln [u.a.] 2005, S. 23-44.

Chloe 43 136 Heiko Droste wurden Entscheidungen in und mit Rücksicht auf Freundschaftsbezie- hungen getroffen. Nicht jede Freundschaft führte zu einem konkreten Ziel; sie war aber der entscheidende Kommunikationskanal für die Formulierung und Umsetzung von Interessen. Patron-Klient-Bezie- hungen wurden folglich als ubiquitär wahrgenommen und bestätigten damit eine entsprechende Erwartungshaltung. In der Patronageforschung ist vor einigen Jahren darüber hinaus eine Debatte aufgekommen, die noch nicht beendet ist. Sie fragt nach der Bewertung dieser Beziehungen mit Blick auf den Staatsbildungs- prozess als der bedeutendsten historischen Entwicklung der Frühen Neuzeit überhaupt. Die vorherrschende Sicht ist dabei, dass Patro- nagebeziehungen in Konkurrenz zu den bürokratischen Institutionen mit ihrer rationalen Verfahrenslogik zu sehen sind, dass die Patronagebeziehung die Durchsetzung des modernen Staates durch den fortwährenden Verstoß gegen diese rationale Logik für einige Jahrhunderte zumindest behindert hat.16 Die Gegenposition betont die stabilisierende Funktion dieser un- zähligen personalen Beziehungen. Sie stellten trotz ihres partikularen, nicht-justiziablen sowie auf sozialer Ungleichheit basierenden Cha- rakters ein wichtiges Strukturelement im Staatsbildungsprozess dar. Freundschaft bzw. Patronage war eine vergleichsweise verlässliche soziale Institution – und zwar unabhängig vom möglichen Scheitern jeder einzelnen Beziehung. Die wichtigste Funktion dieser Beziehung lag in der Vorbereitung des Klienten auf öffentliche Aufgaben, die vom Patron aus seinem Eigeninteresse kontrolliert wurde. Der Patron stellte sicher, dass der Klient den jeweiligen Anforderungen an Aus- bildung, Auftreten, Kenntnissen und anderem mehr genügte, dass er also insgesamt ehrenhaft war. Die Zeitgenossen zogen diese persön- lichen Rekommandationen von Seiten als ehrenhaft wahrgenommener Patrone den verrechtlichten Formen von Diplomen vor, nicht zuletzt da der Begriff der Befähigung und der Meriten weit gefasst war und selbstverständlich auch das Auftreten wie den Charakter der betref- fenden Person umfassten. Diese ‘Erziehung’ kann nun in den Formen einer Gabenökonomie interpretiert werden. Ein wichtiges Merkmal ist in diesem Zusammen- hang ihre Dauer, die Jahre der Ausbildung an Schulen und Universitä-

16 Heiko Droste: Patronage in der Frühen Neuzeit – Institution und Kulturform. In: Zeitschrift für Historische Forschung 30 (2003), S. 555-590, bietet eine ausführ- liche Erörterung dieser Position.

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 137 ten, auf Reisen sowie auf Stellen, die gering oder gar nicht entlohnt waren. Der Klient investierte folglich erhebliche Geldmittel, bevor er sein Ziel einer Lebensstellung oder einer Ehe erreichte. In vielen adli- gen wie bürgerlichen Familien konnten diese Investitionen nur dem ältesten Sohn zugedacht werden.17 Im Rahmen dieser Ausbildung er- warb der Klient kulturelles Kapital. Darunter fallen hoch bewertete Sprachenkenntnisse, Universitätsstudien, aber auch ein standesgemä- ßes Benehmen und rhetorische Fähigkeiten sowie nicht zuletzt ein si- cheres Auftreten in der höfischen wie bürgerlichen Öffentlichkeit. Schließlich galt es, im Rahmen der Ausbildung Freunde zu gewinnen und Kontakte aufzubauen. Dieses soziale Kapital der Klienten war von größter Bedeutung, denn nur ein angesehener Freund, ein Patron oder ein naher Verwandter mit Einfluss konnte die Befähigung des Klienten für eine Beförderung, eine Ehe, eine Ehre von Seiten der Ob- rigkeit, im Wesentlichen also jede Form der Anerkennung vermitteln. Der akademische Titel war kein Ersatz für solche Rekommandationen.

Das Kasualgedicht als Gabe in einer Patron-Klient-Beziehung

Zu den vielfältigen Gaben und Investitionen des Klienten gehörte auch das Kasualgedicht an den Patron bzw. einen Freund. Es erfüllte gleich mehrere Funktionen, indem es den Patron öffentlich ehrte, be- vorzugt in gedruckter Form. Es belegte zudem, dass der Verfasser über die notwendigen rhetorischen Fähigkeiten zur Abfassung eines solchen Gedichts verfügte und dass er die im Gedicht ausgedrückten Werte und Umgangsformen als verbindlich akzeptierte. Es war somit Ausweis einer gelungenen Erziehung nach den vorherrschenden gesellschaftlichen Idealen. Das Gedicht war damit ein doppeltes Ver- dienst für den Verfasser. Im Gegenzug verpflichtete es den Adressa- ten, sich der Interessen des Verfassers anzunehmen. Das Gedicht ist dabei freilich nur eine mögliche Gabe des Klienten an den Patron, die dem Ziel der Förderung seiner Interessen diente. Es muss als eine unter mehreren rhetorischen Gaben gesehen werden, wie sie für das jeweilige Feld kennzeichnend waren. Dazu gehören die

17 Stefan Brakensiek: Fürstendiener – Staatsbeamte – Bürger. Amtsführung und Lebenswelt der Ortsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830). Göt- tingen 1999; Antje Stannek: Telemachs Brüder. Die höfische Bildungsreise des 17. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2001.

Chloe 43 138 Heiko Droste

Reisebeschreibungen ebenso wie Gedichte jedweder Art, die politi- sche wie höfische Korrespondenz, und die öffentliche Rede.18 Vor der Abfassung eines solchen Gedichts hatte der Klient somit zunächst zu entscheiden, ob es als Gabe überhaupt erwünscht war. War diese Form der Gabe en vogue? à la mode? Würde sie das Ziel erreichen, den Klienten beim Patron angenehm zu machen? Während mehr als eines Jahrhunderts scheint diese Frage beinahe prinzipiell bejaht worden zu sein. Viele Klienten scheinen daher wenigstens ein oder ein paar dieser Gedichte verfasst zu haben, um zu belegen, dass sie diese Fähigkeit besaßen. Der Dichter hatte freilich auch zu überlegen, wie er das Gedicht im Rahmen der betreffenden Gelegenheit übermitteln sollte. Galt das Ge- dicht dem Patron, hatte der Klient gewissermaßen stets Audienz, so- wohl persönlich als auch per Brief. Dieser Zugang ist ein wesentliches Merkmal der zwischen beiden bestehenden Freundschaft.19 Die Überreichung eines Gedichts konnte hingegen auch als Versuch der Kontaktaufnahme zu einem zukünftigen Patron eingesetzt werden. Dazu musste der Kontakt erst über einen Vermittler hergestellt wer- den, in der Hoffnung, dass dem möglichen Patron das Gedicht ange- nehm war. Julius Bernhard von Rohr weist allerdings noch im Jahr 1728 in seiner Ceremonialwissenschaft darauf hin, dass Privatperso- nen nur unter besonderen Umständen unaufgefordert an einen Frem- den oder Unbekannten schreiben dürften. Dazu müsse die Gnade und Hilfe des Höhergestellten entweder unumgänglich nötig sein oder aber der Brief primär die Interessen des Höhergestellten betreffen.20 Diese Situation der nicht existierenden Beziehung zwischen Autor und Emp- fänger nehmen etwa schwedische Verordnungen zum Anlass, das Ge-

18 Georg Braungart: Die höfische Rede im zeremoniellen Ablauf. Fremdkörper oder Kern? In: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neu- zeit. Hrsg. von Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. Tübingen 1995, S. 198- 208. 19 Vgl. Mark Hengerer: Amtsträger als Klienten und Patrone? Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt. In: Ergebene Diener ihrer Herren. Herrschaftsvermitt- lung im alten Europa. Hrsg. von Stefan Brakensiek und Heide Wunder. Köln [u.a.] 2005, S. 45-78; sowie Heiko Droste: Die missglückte Aufwartung. Zu den Barrieren höfischer Kommunikation im Brief. Erscheint in: Anwesenheit unter Abwesenden. Distanzmedien, Interaktion und Integration in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Mark Hengerer. 20 Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft der Privat- Personen. Hrsg. und komm. von Gotthardt Frühsorge. Nachdr. Leipzig 1989 (Originalausgabe Berlin 1728), S. 323.

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 139 dicht an sich zu verbieten (s.u.). Die Überreichung bzw. Distribution war somit keineswegs unproblematisch. Für das Verständnis der Gedichte sind daher die Begleitumstände, und das heißt nicht zuletzt die Begleitschreiben zu den Gedichten, in den Blick zu nehmen. Sie wurden vom Verfasser in aller Regel ge- nutzt, um seine Deutung des Gedichts und damit der Beziehung an sich zu kommunizieren. Ein Beispiel: Der in schwedischen Diensten stehende Sekretär Michael Friedeborn schickte zwei seiner Werke an seinen Patron, den am Stockholmer Hof tätigen Kanzleibeamten An- ders Gyldenklou. Er wird von Friedeborn im Begleitschreiben als “vornehmer Gönner und Beförderer” tituliert, dem gar “die ehre des ersten Grads billig gebueret”. Friedeborn möchte mit Hilfe der über- reichten Schriften genau “davon zeugnis geben”. Im Weiteren emp- fiehlt Friedeborn dann ein ganz konkretes Anliegen dem Favor seines Patrons.21 Falls es dem Klienten gelang, das Gedicht mit Hilfe der Empfeh- lung einer dritten Person an den Patron zu übergeben, akzeptierte die- ser damit die Verpflichtung zur Gegengabe. Worin diese bestand und wann diese Verpflichtung erfüllt wurde, lag freilich im Belieben des Patrons. Falls das Gedicht Mittel der Kontaktaufnahme22 war, war die Verpflichtung auf Seiten des Patrons noch sehr gering. Der zukünftige Klient hatte zunächst nur um die Erlaubnis nachgesucht, sich auch weiterhin verpflichten zu dürfen. Ähnlich problematisch sieht die Kontaktaufnahme bei den unzähli- gen Kasualgedichten aus, die dem Fürsten gewidmet wurden. Der Fürst war in aller Regel nicht in die Patronagebeziehungen an seinem Hof verwickelt. Im Gegenteil, durch die seit dem 16. Jahrhundert im- mer dominierender werdende Stellung des Fürsten als von Gott einge- setzten und schließlich gottgleichen Herrschers, wurde er der persona- len Beziehungen an seinem Hof weitgehend enthoben.23 Es war nicht möglich, den Fürsten durch Gaben zu einer spezifischen Gegengabe

21 Vgl. Michael Friedeborn an Anders Gyldenklou, Greifswald, den 25. September 1651; Reichsarchiv Stockholm kanslitjänstemäns koncept och mottagna skrivel- ser, vol. 16. 22 Manfred Beetz: Soziale Kontaktaufnahme. Ein Kapitel aus der Rhetorik des All- tags in der Frühen Neuzeit. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch. Band 10: Rhetorik der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Joachim Dyck. Tübingen 1991, S. 30-44. 23 Kleine Herrschaften waren voraussichtlich von einer anderen Beziehungsstruktur zwischen Fürst und höfischer Elite gekennzeichnet. Hierzu fehlen allerdings noch eingehendere Untersuchungen.

Chloe 43 140 Heiko Droste zu verpflichten. Alle Fürstengaben waren Gnaden, die nicht verdient werden konnten. Zudem war der Zugang zum Fürsten selbst für den Höfling stark beschränkt.24 Auch in diesem Zusammenhang war der Patron eine zentrale Ge- stalt für den Klienten/Dichter. Der Patron gründete einen wesentlichen Teil seiner übergeordneten Stellung auf seinen Zugang zum Ohr des Fürsten. Der Hof als soziales Universum war auf Anwesenheit und Nähe zum Fürsten gegründet.25 Der Patron konnte die Interessen des Klienten bei Hof vertreten, weil er in der Lage war, diese dem Fürsten mit Aussicht auf Erfolg vorzulegen. Der Patron vermittelte an den Klienten somit nicht seine eigenen Ressourcen, sondern die des Fürs- ten, der den Klienten ohne Vermittlung des Patrons vermutlich gar nicht kennen würde. Das bedeutet im Zusammenhang der Gedichte nichts anderes, als dass der Empfänger des Kasualgedichts keineswegs dieselbe Person sein musste wie der Adressat. Das war nur dann der Fall, wenn der Verfasser direkten Zugang zum Adressaten hatte – und das war bei einem Fürsten in aller Regel nicht gegeben. Auch das Kasualgedicht an den Fürsten galt einem bestimmten Anlass, bei dem der Dichter in aller Regel jedoch gar nicht in Erscheinung trat. Das Gedicht wurde entweder vom Patron vorgetragen, der den Zugang zum Fürsten auch in zeremoniellen Zusammenhängen hatte, oder von diesem mit einem Komplimentierschreiben bzw. einer kurzen Rede übergeben. Folglich konnte der Patron in der repräsentativen Öffentlichkeit des Hofs auch den symbolischen Gewinn der Übergabe für sich verbuchen. Er über- reichte das Gedicht in Form einer kurzen Ansprache, in einer Audienz oder hinter verschlossenen Türen; er gewann Ansehen beim Fürsten. Er war damit eine Art Kommunikationskanal für das Gedicht; er war damit auch Empfänger einer Gabe seines Klienten. Es war somit gar nicht wichtig, dass der Fürst bzw. das höfische Publikum in jedem Fall erfuhr, wer der tatsächliche Autor des Gedichts war. Wichtig war für den Autor vielmehr das Ansehen bei seinem Patron, dem Über- mittler, der in der Folge – den ungeschriebenen Regeln der Patronage- beziehungen zufolge – Grund hatte, sich der Interessen seines Klien- ten verstärkt anzunehmen. Der Patron hatte daher ebenfalls Grund,

24 Hierzu ausführlich Heldt (s. Anm. 4), S. 14-18. 25 Jay M. Smith: The Culture of Merit: Nobility, Royal Service, and the Making of Absolute Monarchy in France. 1600-1789. Ann Arbor, 1996. S. 4-5.

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 141 sich vor der Überreichung von der Qualität des Gedichts wie des Dichters zu überzeugen. Ob es sich beim Verfasser also um einen ‘Poeten’ im modernen Sinn handelt oder nicht, ist für die Zeitgenossen zunächst weitgehend unerheblich. Die meisten Autoren schrieben nach Lage der Forschung ohnehin nicht mehr als einige wenige oder gar nur ein Gedicht, das sie dem Patron übergaben, um solchermaßen ihre Kenntnisse und Fertig- keiten zu belegen.26 Das Gedicht war eben eine unter vielen möglichen Gaben. Über die anlassbezogene Abfassung und Überreichung hinaus gab es auch die Möglichkeit, die Gedichte unter eigenem Namen zu ver- öffentlichen. Finanziell war diese Zweitverwertung meist wenig aus- sichtsreich, obwohl gerade hohe Adlige zuweilen bereit waren, grö- ßere Geldbeträge als eine Form der Gnadenzuweisung auszuteilen.27 Damit betreten wir freilich einen anderen Bereich höfischer Kultur, das Mäzenatentum. Der Mäzen ging im Gegensatz zum Patron keine gegenseitigen Verpflichtungen ein, er handelte nicht als Freund, son- dern als Wohltäter.28 Er unterhielt somit keine sozialen Beziehungen zum Künstler im oben beschriebenen Sinn. Er finanzierte ihn, so wie auch Verfasser von Kasualgedichten zuweilen nennenswerte Geldbe- träge erhielten. Dieses Mäzenatentum ist zudem typisch für die Gesellschaften des 18. Jahrhunderts, die nicht zuletzt ein anderes Ver- ständnis von Freundschaft entwickelt hatten.29 Patronagebeziehungen verschwanden zwar nicht aus den öffentlichen Arenen, änderten aber ihren Charakter wie ihre Inszenierung bei Hof.

26 Heldt (s. Anm. 4), S. 35 ff. zu den Verfassern höfischer Kasualgedichte; vgl. auch Jan Drees: Die soziale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Studien zur deutschsprachigen Gelegenheitsdichtung in Stockholm zwischen 1613 und 1719. Stockholm 1986, S. 169 ff. zu der hohen Zahl von Verfassern. 27 Drees (s. Anm. 26), S. 159 ff., über die Zahlungen des schwedischen Adligen Carl Gustav Wrangel für einzelne Kasualgedichte. 28 Insofern ist Kunstpatronage ein ganz anderes Thema, auf das hier nicht näher ein- gegangen werden soll. 29 Friedrich H. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zu einer Soziologie der persön- lichen Beziehungen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 431-456.

Chloe 43 142 Heiko Droste

Die normative Auseinandersetzung mit der Gelegenheitsdichtung

Das Kasualgedicht wird in seiner Gabenfunktion durch die zeitgenös- sischen Verordnungen zusätzlich konturiert. Diese Verordnungen re- gelten nicht zuletzt den Tausch von ökonomischem, sozialem und kulturellem Kapital, das in den Erwerb von symbolischem Kapital (der Übergabe eines Gedichts) investiert wurde. Die Abfassung eines Gedichts belegte ein gewisses kulturelles Kapital, da der Autor mit dem Gedicht rhetorische Fähigkeiten demonstrierte und im Gedicht selbst die Anerkennung höfischer oder bürgerlicher Normen aus- drückte. Der Autor bewies mit der Übergabe zudem das soziale Kapi- tal, das für den Zugang zum Geehrten oder zum Fürsten notwendig war. Kulturelles und soziales Kapital wurden im Moment der ge- glückten Überreichung in symbolisches Kapital (Ehre) verwandelt. Die dafür notwendige Ausbildung wie auch ganz konkret der Druck des Gedichts erforderten durchaus substantielle finanzielle Mittel. Die spätere Edition sollte den Gewinn des Dichters auf Dauer stellen. An- gesichts der sehr großen Zahl von Anlässen und Gedichten sollte die Bedeutung dieser Drucke freilich nicht überbewertet werden. Das Ge- dicht war eine unter vielen Gaben zu einer von vielen Anlässen in ei- ner jahrelangen Beziehung. Wichtiger als der Druck dieser Gedichte scheint vielmehr, dass der Klient belegte, dass er einer Erwartungshal- tung auf ein solches Gedicht entsprochen hatte, dass er also der “Ge- bühr” genügt hatte, einer Gebühr, die aus der Alltäglichkeit der Ge- dichte in den ubiquitären Freundschaftsbeziehungen folgte. Die Verordnungen des 17. Jahrhunderts zu den Carmina greifen an mehreren Stellen in diese Ökonomie ein. Zum einen verbietet etwa die schwedische Krone die unaufgeforderte Einsendung von Kasualge- dichten zu Feiern der adligen Elite. Als unaufgefordert wurde jedes Gedicht verstanden, das außerhalb einer bereits existierenden Bezie- hung entstand. Damit sollte sowohl verhindert werden, dass zukünf- tige Klienten sich den adligen Patronen in ungeregelter Form näher- ten. Damit sollte auch vermieden werden, dass die Adligen öffentlich um ein Honorar angegangen wurden, mit dem die Verpflichtung einer Gegengabe direkt erfüllt wurde. Das Kasualgedicht wurde in der Ver- ordnung somit ausdrücklich neben andere Formen der Bettelei ge- stellt.30

30 Kongl. May.tz Stadga och Påbudh/ öfwer åthskillige Miszbrukz och Oordningar affskaffande widh Ridderskapets och Adelens Trooloffningar/ Bröllop/ Gäste-

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 143

Eine öffentliche Kontrolle galt auch dem Inhalt der Gedichte. Da- hinter stand die Befürchtung, dass den Erwartungen an eine dem An- lass angemessene Topik nicht entsprochen wurde. So musste der schwedische Dichter Lars Johansson (genannt Lucidor) im Jahr 1669 einen Rechtsstreit mit dem hochadligen Empfänger eines Kasualge- dichts ausstehen, weil dieser sich verunglimpft fühlte. Johansson wur- de dafür zeitweilig mit Gefängnis bestraft, zumal er keinen expliziten Auftrag vorweisen konnte.31 Eine andere Sorge der Obrigkeit galt den mangelnden poetischen Fähigkeiten der Dichter. Der Stadtrat von Danzig ordnete daher an, dass alle Nicht-Akademiker ihre Gedichte vor dem Druck zunächst einem Professor am städtischen Gymnasium vorzulegen hätten.32 Wieder andere Verordnungen regelten die Länge und Gestaltung der Gedichte wie ihren Vortrag im Rahmen des Festes.33 Diese Ver-

budh/ Barndoop och Begraffningar. Gifwin Stockholm den 19. Decembr. Åhr 1668. Diese Luxusordnung aus dem Jahr 1668 beruft sich auf eine Vorlage aus der Regierungszeit von Königin Christina, 17. Dezember 1644. Die Verordnung richtet sich allein auf Hochzeiten von Adligen und Rittern. Der letzte Punkt regelt die Gelegenheitsschriften, die als Brautschriften, Neujahrs- und andere Bettel- schriften beschrieben werden: “Ingen skal fördrista sigh om han icke warder be- din/ skrifwa någon Graffskrifft/ widh 12. Daler Sölfwermynts böter. Om Brudhs- kriffter/ Nyåhrsskriffter/ alla andre Tiggiare Skriffter/ och thet Bättlerij/ som sker medh Stamböker/ item om Tiggerij aff hwariehanda slags Folck/ såsom Tromsla- gare/ Pipare/ Siungare/ Kutskar/ Kockar och gemeene Folck medh Maijstånger/ wari samma Lagh.” 31 Drees (s. Anm. 26), S. 133-139. 32 Die Stadt Danzig erließ schon 1645 eine neue Druckordnung, die unter anderem auf die Qualität der Gedichte abzielte, die für die Drucker eine wichtige Einnah- mequelle darstellten: “Extract aus E.s E. hochw. Rahts Ordnung, für die Buch- drucker dieser Stadt den 12. Aprilis Anno 1645 den Buchdruckern insinuirett: So wie aber vielfältige abusus mit Carminibus und dergleichen gratulatorijs scriptis verlauffen, die numero, materia et forma pecciren, als soll hinfüro bey Leichbe- gengnüßen und auff Hochzeiten nur 3 oder 4 Carmina außerhalb wan es publicis personas status berühret, in druck passiret werden.” In einer im selben Jahr über- arbeiteten, ausführlicheren Fassung ordnet der Rat dann an: “da den dj jenige welche sich mit solchen Carminibus herfurthun, die selbe zuvor einem Professorj in Gymnasio herfürthun, pro Correctione unterwerffen, undt hernach dem Secre- tario praesentiren sollen, ehe es zum druck zuverstatten, worunter doch nicht zu- verstehen sein die Praeceptores und Collegae bei den Schulen auch andere gra- duirte Pershonen, welcher ihre Freiheit hierinnen gelaßen wird.” 33 So in einer Hochzeitsordnung der Stadt Danzig aus dem Jahr 1657: “Zu welchem Ende die gratulationes bey dem Eintreten in dem Hochzeit-Hause mit wenigen Worten/ allein an die Braut und dem Bräutigam verrichtet werden sollen. Die

Chloe 43 144 Heiko Droste ordnungen gehören deutlich zum Kreis der Luxusordnungen, indem sie zu verhindern suchten, dass die Dichter sich im Bemühen um ihr öffentliches Ansehen finanziell verausgabten.34 Dass die Gedichte auch unter diesen Bedingungen noch zum Alltag der frühneuzeitlichen Gesellschaften gehörten, belegt nicht zuletzt die Einführung einer Art “Massendrucksache” durch die schwedische Post im Jahr 1693. Nach der Einführung der ersten einheitlichen Portotabellen für ganz Schwe- den war den Bediensteten aufgefallen, dass der linear gewichtsabhän- gige Tarif die Versender von Kasualgedichten übermäßig benachtei- ligte. Diese beauftragten an Stelle der Post daher einen eigenen Boten, weil das für sie preiswerter war.35

Zusammenfassung

Innerhalb bestimmter sozialer Felder der frühneuzeitlichen Ständege- sellschaft (Hof, Universität, Kirche, Stadt) gab es die beinahe selbst- verständliche Würdigung bestimmter Anlässe durch ein Gedicht. Die- ses Gedicht wurde normalerweise innerhalb einer spezifischen Sozial- beziehung verfasst und überreicht. In diesem Zusammenhang sollte die Frage der möglichen Bezahlung nicht überbewertet werden. Eine geregelte Entlohnung des Dichters passte nicht zu einer auf Dauer und gegenseitige Verpflichtungen gegründeten Freundschaftsbeziehung. Zudem waren von Seiten des Dichters für den Druck hohe Anfangsin- vestitionen zu leisten. Die oben genannten Verordnungen ‘schützten’ die Dichter vor dieser finanziellen Verausgabung.

Frauen aber und Jungfern/ werden die Zeit zu gewinnen/ das Glückwünschen nur einstellen/ und es bey der alten Weise bewenden lassen.” Hochzeit-Ordnung der Stadt Dantzig/ Wie dieselbe von einem Hochweisen Raht jedermänniglich zum Besten von nu an einzuführen und zu halten ist geschlossen worden. Dantzig, 1657. 34 Ebenfalls aus der Danziger Hochzeitsordnung aus dem Jahr 1657: “Schließlich/ weil auch bißhero mit den Carminibus ein grosser Mißbrauch eingeschlichen/ welche zu grossen unnötigen Unkosten Ursach gegeben/ als wird hiemit geord- net/ daß bey einer Hochzeit auffs höchste nicht mehr als was auff drey Bogen ge- druckt werden kann passiret werden sol/ und wird hiemit dem Drucker des Gym- nasii/ als deme es alleine vergönnet/ aufferleget/ kein Carmen zudrucken/ ohne Consens dessen/ dem es angehet/ bey der poen 10. Reichtsthl: an die Hauß-Ar- men zu befallen. Signatum auff unserm Rahthauß den 10. Julii Anno 1657.” 35 Karl XI. an das Kanzleikollegium wegen der neuen Posttaxa, Stockholm, den 31. Mai 1693, Reichsarchiv Stockholm, Kanslikollegium, E I C:2.

Chloe 43 Das Kasualgedicht des 17. Jahrhunderts in sozialhistorischer Perspektive 145

Zentral für das Verständnis der Gelegenheitsdichtung scheinen vielmehr jene Werke zu sein, mit denen der Verfasser dem Empfänger – und nicht notwendig dem Adressaten – einen besonderen Dienst er- weisen wollte. Er übermittelte eine modische, zeittypische Gabe, die belegen sollte, dass der Verfasser über die für eine Beförderung not- wendigen rhetorischen Fähigkeiten verfügte und dass er sich den Re- geln einer auf Freundschaft gegründeten öffentlichen Erziehung unter- warf. Diese Gedichte wurden voraussichtlich immer mit einem Be- gleitschreiben versehen oder im Rahmen einer Audienz übergeben. Sie beschrieben damit – möglicherweise öffentlich – die Qualität der Beziehung zwischen Klient und Patron und boten für den Klienten zu- dem die Möglichkeit der Präsentation eigener Interessen. Für den Patron wiederum galt es am Hof gegenüber anderen Patro- nen wie dem Fürsten zu demonstrieren, dass er über eine ausreichend große Zahl von Klienten verfügte, die willig und fähig waren, ihre Aufwartung in angemessenen Formen vorzutragen. Diese Gedichte waren damit unabhängig von ihrem literarischen Wert Ausweis der Ehre und Anerkennung der geehrten Person bzw. – im Fall des Fürs- ten – des Überbringers. Das Gedicht belegte, das der Geehrte so eh- renvoll – sprich einflussreich – war, dass es sich lohnte, ihm ein ent- sprechendes Gedicht zu widmen. Ein Gedicht, das für Geld in Auftrag gegeben worden war, konnte diesen Beleg nur bedingt erbringen.

Chloe 43

H a n s - G e r t R o l o f f

THEATER, DRAMA UND ‘GELEGENHEIT’ IM 16. UND 17. JAHRHUNDERT

In der dritten Ausgabe des Reallexikons der deutschen Literaturwis- senschaft (1997) findet sich beim Stichwort ‘Kasualpoesie’ der Hin- weis auf ‘Gelegenheitsgedicht’ und dort unter diesem Begriff die Ab- handlung zu diesem Sujet – aus der kompetenten Feder von Wulf Se- gebrecht.1 Und im Historischen Wörterbuch der Rhetorik gibt Rudolf Drux,2 ebenfalls unter dem Stichwort ‘Gelegenheitsgedicht’, die Definition: “Im G[elegenheitsgedicht] wendet sich ein Autor an einen bestimmten Adressaten zu einem Ereignis in dessen Leben” und fährt, Wulf Segebrechts Grundposition gewissermaßen ergänzend fort: “Der weitere Begriff ‘Gelegenheitsdichtung’ (auch ‘Kasualpoesie’) zeigt an, dass diese Definitionskriterien auch auf andere, nicht lyrische Gattungen wie den Schäferroman oder das Festspiel zutreffen kön- nen”; zehn Spalten seines fundierten Artikels später erweitert Drux die Vorstellung von Kasualpoesie perspektivreich zu einer Grundforma- tion literarischer Werk- und Wertelehre insofern, “daß die Autoren von Opitz bis Weise auch in anderen Gattungssparten wie Libretto, Oratorien, Festspielen und Prosaeklogen bestimmte Ereignisse gefei-

1 Wulf Segebrecht: Gelegenheitsgedicht. In: Reallexikon der deutschen Literatur- wissenschaft. Berlin 1997, S. 688-691. Basis der langen Diskussion über Prob- leme der Kasualpoesie ist immer noch Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsge- dicht. Stuttgart 1977. – Im Reallexikon wird eine allgemeine Definition und um- fangreiche Auflistung der Anwendungsgebiete gegeben: “Ein für bzw. auf ein be- stimmtes Ereignis geschriebenes oder aus einer bestimmten Veranlassung heraus entstandenes Gedicht”, das seit dem 19. und 20. Jahrhundert nur als poetisches Nebenwerk gewertet wird und Texte bietet zu Geburt, Hochzeit, Tod, Geburtstag, Namenstag, Reisegeleit, Empfang, Bewillkommnung, Leichbegängnis, wiederer- langter Gesundheit, Lob bzw. Glückwunsch zu Berufsveränderung/ Promotion, Jubiläen, Amtsantritten, Erscheinen von Publikationen, Einweihungen usw. usw. 2 Rudolf Drux: Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 653-662.

Chloe 43 148 Hans-Gert Roloff ert haben.” Trotz dieser Perspektive hat sich Drux im Rahmen des Le- xikonartikels auch nur wesentlich auf das Gelegenheitsgedicht bezo- gen, gleichwohl aber eine Tür in die weite literarische Landschaft der Mittleren Literatur geöffnet. Wie unstet der Begriff der Occasionslite- ratur noch ist, lässt sich auch an Klaus Garbers instruktiver Einleitung zum Gesamtwerk des Handbuchs des personalen Gelegenheits- schrifttums ablesen: Garber spricht von “Schreiben bei Gelegenheit”, um den Akt der Konzeption zu definieren, was eigentlich meint: Schreiben zu einer gegebenen Gelegenheit. Fraglich erscheint auch, ob die Termini “Personalschrifttum” und “Gelegenheitsschriften” und “kasuale Dichtung” identisch sind. Kompliziert wird die Sache für die Definition, wenn Garber in sein Handbuchkonzept die “Schäferdich- tung” einbezieht, “die ihrer großen Masse nach zumindest doch im 17. Jahrhundert gleichfalls Gelegenheitsdichtung ist und mit dieser die durchgängige Diskriminierung teilte”. Damit kämen in dieses Feld, das bisher nur dem ‘Gedicht’ gewidmet ist, auch die bukolischen Textsorten wie Spiel/ Drama, Oper, Roman etc. hinein. Sowohl Kenntnisse über die Textbeschaffenheit, als auch deren pragmatische Analysen werden erst in Zukunft, fußend auf Garbers Materialdokumentationen, zutreffende Definitionen gestatten. Ich möchte in meinem Vortrag – mit Segebrecht und Drux im Rü- cken – einen kurzen Spaziergang in die literarische Landschaft wagen und zwar dorthin, wo die Welt der Spiele und des Theaters angesiedelt ist. Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschungsdiskussion um die poetologische Wertigkeit des Gelegenheitsgedichts erhebt sich denn doch die Frage: Ist Kasualpoesie nur auf Lyrik und speziell deren vor- nehmlich sozial bedingte Erscheinungsweise zu beziehen – oder ist das Begriffsfeld: Kasualpoesie, Kasualliteratur, Gelegenheitsdichtung, Okkasionsliteratur nicht weiter auszudehnen – auf andere literarische Genera als nur die Lyrik? Ich möchte dazu ein paar Beobachtungen an Texten des dramati- schen Genus vorlegen, von denen ich meine, sie decken ihrerseits wie- testgehend die konstanten Merkmale der Kasuallyrik ab. Gehen wir von der Beschreibung aus, die Segebrecht im Reallexikon gibt: Dem- nach ist die Basis für das Entstehen eines Gelegenheitsgedichtes ein bestimmtes Ereignis bzw. eine bestimmte Veranlassung. Die Auflis- tung der Anlässe für ein Gedicht ist praktisch unerschöpflich, denn alles, was für eine Person, im weiteren für ein Lebewesen oder auch

Chloe 43 Theater, Drama und ‘Gelegenheit’ 149 für ein Ding, individuell bedeutsam und sein Leben bestimmend ist, kann bedichtet werden, d.h. in eine mehr oder weniger stilisierte, poin- tierte und ausdrucksstarke Sprachform gestellt werden. Doch hätte es über den Anlass hinaus keine allgemeine Verbindlichkeit. Ich greife hier nur folgende mögliche Anlässe heraus: Geburtstag, Bewillkomm- nung, Lob, Glückwunsch, Amtsantritt, Einweihungen, Todesfälle usw. Bereits der ‘Anlass’ enthält die prinzipielle Grundvoraussetzung der Kasualliteratur, nämlich dass der Anlass bzw. die Gelegenheit einma- lig datiert ist und keine Wiederholung duldet: man kann nur einmal geboren werden bzw. gestorben sein, in einem bestimmten Amte nur einmal befördert werden, für eine bestimmte Tat nur einmal gelobt werden usw. Andernfalls verschöben sich die Koordinaten. D.h. Ka- sualtexte sind auf feste Voraussetzungen angewiesen: auf Adressat, Anlass und dessen auf den Punkt gebrachte Wertung. Sollte das nur auf Gedichte beschränkt sein? Ich meine, andere Gat- tungen bzw. Textsorten partizipieren an dieser zweckgebundenen Ausrichtung eines Textes in gleichem Maße. Ich möchte Ihnen das an sechs verschiedenen Dramentexten kurz explizieren: 1. Conrad Celtis: Ludus Dianae (1501) 2. Triumphus Divi Michaelis (Münchner Kirchweih St. Michael) (1597) 3. Georg Schottelius: Friedens Sieg (1642) 4. Sophie Elisabeth zu Braunschweig-Lüneburg: Der Minervae Ban- quet (1655) 5. Nicolaus Avancini: Pietas Victrix (1659) 6. Christoph Coler: De antiqua et nova Germanorum Poesi (1639)

1. Conrad Celtis: Ludus Dianae (1501)

Der Ludus Dianae3 des Conrad Celtis wurde 1501 in Linz im Schloss vor und mit Kaiser Maximilian gespielt, und zwar in Anwesenheit der Kaiserin Bianca Maria Sforza und des engeren Hofes – ein scheinbar kleines Stück, etwa zweihundert neulateinische Verse umfassend,

3 Conradus Celtis Protucius: Ludi Scaenici. Ed. Felicitas Pindter. Budapest 1945. – Heinz Kindermann: Der Erzhumanist als Spielleiter. In: Maske und Kothurn 5 (1959), S. 33-43. – Cora Dietl: Repräsentation Gottes – Repräsentation des Kai- sers. Die Huldigungsspiele des Konrad Celtis. In: Das Theater des Mittelalters. Hrsg. v. Christel Meier. Münster 2004, S. 237-248.

Chloe 43 150 Hans-Gert Roloff bietet es Rezitationen, Gesang und Tanz, weist aber eine für die Zeit ‘moderne’ Struktur in fünf Akten auf. Allerdings: mit den Celtis be- kannten römischen Komödien und Dramen von Plautus, Terenz und Seneca besteht keine Übereinstimmung; möglicherweise liegt italieni- scher Einfluss durch die in Florenz und Mailand bei Hofe üblichen Huldigungsspiele vor. Im ersten Akt tritt Diana, die Göttin der Jagd, mit Nymphen und Faunen auf und spricht den Kaiser direkt an:

Caesar, ave, auspicio superum qui dirigis orbem … ades venator maximus.

Nach der Laudatio – Celtis nennt es “carminis recitatio” – folgt ein Loblied, das Diana, die Nymphen und Faunen auf das Kaiserpaar vier- stimmig singen. Den zweiten Akt bestreiten der Waldgott Silvanus, Bacchus, die Faune und Satyre. Wieder gibt es eine Rede an den Imperator: Der Kaiser – hier als Rex tituliert –, dessen Name bis zu den Sternen rei- che, sei den Sterblichen vom Himmel gesandt worden. Nach dieser Rezitation folgen wieder Gesang und Tanz des Chors zu Flöte und Zither. Und dann der bedeutsame dritte Akt: Bacchus mit dem Efeu- stab, begleitet von Silen und Bacchiden, verkündet ein langes Lob auf den Wein, vor allem auf den österreichischen – und dann passiert et- was Besonderes:

Post recitationem illius carminis conticuere omnes intentique ora tenebant et mox Recitator choriambi huius ad pedes regis provolutus lauream his carminibus a rege petiit: Si qua mihi est virtus doctrinaque maxime Caesar, Imponas capiti laurea serta meo. Per superos ego iuro tibi et per sceptra tonantis: Cantabo laudes hic et ubique tuas! Poeta igitur caeremoniis solitis per manus regias creato totus chorus gratia- rum actiones regi cantavit tribus vocibus […] Regis aeternas resonemus omnes Incliti laudes […]

Der Rezitator, der sich dem Imperator zu Füssen wirft und um den Lorbeerkranz bittet, ist der Schlesier Vinzentius Longinus, ein bei Hofe einflussreicher Freund des Celtis. Szenisch war alles vorbereitet, Maximilian spielte die ihm zugewiesene Rolle und krönte Vinzenz

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Lang zum Poeta laureatus. Ein höfischer Festakt in einer Spielse- quenz! Im vierten Akt reitet Silen auf einem Esel in die Szene und er- sucht den Kaiser um die Gunst, essen und trinken zu dürfen:

Illis nunc faveas, rex Maximiliane, rogamus Atque hos Caesareis, rex bone, pasce cibis. Hinc rursus silentium et pocula aurea et paterae per regios pincernas cir- cumlatae et inter pocula pulsata tympana et cornua […]

Auch der Umtrunk ist vorher verfügt und er wird nun aufs Stichwort durch einen Wink des Imperators kredenzt. Der fünfte Akt enthält ein Schlusstableau: Dank und Lob für das kaiserliche Paar. – Berichtet wird, dass Maximilian tags darauf die vierundzwanzig Spieler zu einem opulenten Mahl geladen und sie kö- niglich beschenkt habe. Was liegt uns hier vor? – Ein Theaterstück, das revueartig konzi- piert ist und keine bündige Handlung aufweist, sondern einen einmali- gen Akt in launiger Feier und höfischer Festlichkeit darstellt: ein Pro- motionsakt, der gleichzeitig den Promovenden und den Promotor aus- zeichnet. Die Kasualien, die uns hier begegnen, sind in die geschlos- sene höfische Gesellschaft eingebettet. Lob des Herrschers und Loya- lität und Freigebigkeit des Herrschers sind kasuell bedingt, insofern konnte Celtis sie als Basis seines Spiels voraussetzen, und Maximilian ließ sich huldvoll feiern und betätigte sich aktiv, nicht nur als genie- ßender Zuschauer, an diesem Theaterspiel. Die poetische Diskretion seiner Aktion ist bezeichnend, sie hat sich möglicherweise ohne Worte vollzogen, mindestens scheint sich Celtis nicht getraut zu haben, ihm welche vorzuschreiben. Wichtig scheint mir für diesen Ludus Dianae, dass Maximilian in den Spielablauf aktiv eingebunden ist; d.h. er konnte nur einmal der Gelegenheit entsprechen, die Poeten-Promotion zu vollziehen. Das Spiel ist ein einmaliger Akt; eine Wiederholung der Aufführung ist in ihrer Grundkonzeption nicht möglich. Andernfalls wäre der Kaiser in der Situation eines Komödianten und der Akt der wiederholten poeti- schen Nobilitierung wäre juristisch nicht möglich, es sei denn, man spielte ihn in anderer Besetzung nach, aber dann wäre die einmalige Gelegenheit zerstört. Diese einmalige Gelegenheit (casus) ist durch Datum, Präsenz des Imperators, das Fest und den Akt der Verleihung bestimmt. Voraussetzung für diese szenische Celebration ist der ge- schlossene soziale Raum, die höfische Gesellschaft im hier wohl eng-

Chloe 43 152 Hans-Gert Roloff sten Kreis. Für uns ist der Text ein höchst interessantes Geschichtsdo- kument, das einen einmaligen Einblick in höfische Verhältnisse und kultivierte Spielformen enthält. Es ist kein wie immer geartetes histo- risches Dramolett etwa!

2. Das große Münchner Kirchweihspiel von 1597

Der Triumphus Divi Michaelis4 ist in seiner vorbildlich erschlossenen Edition eine große Bereicherung unserer Kenntnisse von Funktion und Wesen des Theaters um 1600! Die umsichtigen und problembewuss- ten Herausgeber haben den Text so aspektreich erschlossen, dass man ihre Einsichten nur dankbar für eigene spezielle Probleme anwenden und auswerten kann. Es zeigt sich nämlich, dass dieses Kirchweihspiel in hervorragendem Maße dem Typ des okkasionellen Theaterspiels entspricht und sich damit von anderen Dramen seiner Zeit abhebt. Der Anlass für dieses Kirchweihspiel in großem Stil war die Ein- weihung der Münchner Jesuitenkirche St. Michael im Juli 1597: ein fünfaktiges Spektakel, 2756 neulateinische Verse, ca. 90 Sprechrollen, dazu personenreiche Chöre: Chor der Engel, Chor der verbrannten Christen, Chor der trauernden Christen, Chor der Seligen, Soldaten- chor. Spendabler Finanzier der höchst prunkvollen Theateraufführung des Triumphus Divi Michaelis war der Bauherr der Michaelerkirche, der Bayernherzog Wilhelm V. aus dem Hause Wittelsbach. Der Spielort war ein Podest vor der Michaelerkirche; die Spieler waren Schüler des Münchner Jesuitenkollegs. Der Text ist in einer Spielhandschrift überliefert, dazu gibt es zwei Periochen der Auffüh- rung, je eine in Latein, eine in Deutsch. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, dass das Spiel keine weiteren Aufführungen erfahren hat und weder durch Abschriften oder gar Drucke bekanntgemacht wurde. Man wird Barbara Bauers Bewertung von Text und Auffüh- rung ohne Vorbehalt zustimmen: Das Stück ist “Höhepunkt der ka- tholischen Festkultur im konfessionellen Zeitalter” (S. 10 f.). Der Bau und die Weihe der St. Michaels Kirche waren für Wilhelm V. die ersehnte Gelegenheit zu einem demonstrativen politischen Akt,

4 Triumphus Divi Michaelis Archangeli Bavarici. Triumph des Heiligen Michael, Patron Bayerns (München 1597). Einleitung – Text und Übersetzung – Kommen- tar. Hrsg. v. Barbara Bauer und Jürgen Leonhardt. Regensburg 2000 (= Jesuiti- ca 2).

Chloe 43 Theater, Drama und ‘Gelegenheit’ 153 in dem sich die katholische Kirche als Universalkirche der Welt (s. die Botschafter aus aller Welt im 5. Akt!), und die Machtposition der Wittelsbacher demonstrieren ließen. Verständlich dabei ist, dass aus der Perspektive der gegenreformatorischen Politik Luthertum, Calvi- nismus und antike Mythologie satirisch disqualifiziert wurden und als Identifikation des Teuflischen erscheinen. Auffällig ist insgesamt, dass das Okkasionelle diese Festaufführung bestimmt und trotz einer gelehrten fünfaktigen Struktur keine durch- gehende Handlung aufkommen lässt. Das zeigt sich z.B. im Umgang mit den Märtyrern der frühen christlichen Geschichte, deren Reliquien z.T. in St. Michael stationiert werden. Wilhelm V. galt als bekannter Reliquien-Verehrer, der Reliquien in reichem Maße sammeln ließ und der Kirche übereignete. In der Ordensgeschichte des Ignatius Agricola (1729) wird auf diese einzigartige Verflechtung ausdrücklich hinge- wiesen: Herzog Wilhelm

hatte zwei Dinge ganz besonders dem Spielleiter ans Herz gelegt: erstens, daß in dichter Folge solche Spektakel darin vorkämen, von denen man an- nehmen dürfte, sie würden durch die unerhörte Raffinesse ihrer Technik die hochrangigen Fürsten […] königlich unterhalten, zweitens schaute Wilhelm als katholischer Fürst auch in den Spielen, die er auf die Bühne brachte, nicht auf bloße Befriedigung leerer Sensationsgier, sondern auf die Verehrung Gottes und darauf, die Seligkeit derer, die in der wahren Kirche Gottes leben, zu würdigen; schließlich wollte er auch eine fromme Mei- nung von der Heiligkeit des Kirchengebäudes erzeugen. Er hatte dieses jüngst nämlich nicht nur dem Schutz Michaels, den die Kirche zum Vertei- diger und Gott zum Beschützer seines Ruhms gegen Luzifer hat, großartig erkannt und geweiht, sondern auch durch die Reliquien sehr vieler Heiliger, ja geradezu durch die Hoffnung, die man auf ihre Fürsprache setzen konnte, höchst verehrungswürdig gemacht.5

Die Recherchen der Herausgeber haben ergeben, dass “im Drama […] nur solche Glaubenszeugen auftreten, von denen Reliquien in St. Mi- chael verwahrt werden”.6 Das belegt bestens die Verquickung von Text und Gelegenheit im Drama: die Einmaligkeit des Spieltextes und seiner nur hier und bei dieser Gelegenheit aufführbaren szenischen Realisierung. Eine Inszenierung an einem anderen Ort wäre schon al-

5 Triumphus (Anm. 4), S. 34. 6 Triumphus (Anm. 4), S. 45.

Chloe 43 154 Hans-Gert Roloff lein durch den einmaligen Reliquien-Bezug von Spiel und Kirche sinnlos und irritierend gewesen! Die Basis des Triumphus ist die Apokalypse, und zwar die Allego- rie der ecclesia Christi als mulier parturiens. Der apokalyptische Dra- chenkampf dient als Rahmenhandlung der Heilsgemeinde in der Ge- stalt der mulier parturiens und der Verfolgung ihrer Anhänger bis zum Sieg. Das gute Ende im fünften Akt zeigt die Fesselung des Drachen durch Michael und das Bekenntnis der Gesandten der Welt zur Kir- che. Und der Engel Bayerns verkündet Land und Kirche den Schutz Gottes und die Gunst Michaels: Der spricht zum Schluss zu den Zu- schauern:

Wie hätte ich nicht Bayern, seine Fürsten und Untertanen fördern, schützen und verteidigen sollen? Wie hätte ich mir nicht in München einen festen Sitz erwählen sollen, wo eine Kirche meinem Namen errichtet ist? […] Fahre daher fort, Bayern, fahrt fort, ihr Fürsten, ihr Angehörigen des mitt- leren, höchsten und untersten Standes, den wahren Glauben und die wahre Gottesverehrung mit lauteren Werken zu verbinden: […] Bayern soll stark sein, blühen und an Gütern zunehmen!

Die Okkasion von Text und Aufführung darf nicht verstellen, dass uns in allem, was wir von der Aufführung wissen, ein grandioser politisch- kirchengeschichtlicher Event vorliegt, der seinerseits auch als ästhe- tisches Gesamtkunstwerk zu würdigen ist, wenn es ihm naturgemäß an ästhetischer Allgemeinverbindlichkeit auch mangelt. Das Grandiose kann auch, wie gerade dieser Spieltext zeigt, im okkasionellen Mo- ment seinen überraschenden Ausdruck finden, wenn Anlass, Ziel und intellektuell begnadeter ‘Macher’ zusammenfinden, was hier gesche- hen zu sein scheint. Die Gelegentlichkeit zeigt sich eben im Anlass: Kirchweihe und Propaganda des bayerischen Katholizismus nach dem Tridentinum, im festen Datum: Juli 1597, das eine Aufführung an anderem Ort wegen der Münchner Interna unsinnig machte und in voller Realisierung nur durch das Engagement des Kurfürsten möglich war, wodurch – wie berichtet wird – die Hofkasse insolvent geworden sein soll. Dennoch war der Akt politisch wichtig: Präsentation des bayrischen Zusam- menhalts von Regentschaft und Kirche.

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3. Georg Schottelius: Friedens Sieg (1642)

Auch das Freudenspiel des Georg Schottelius,7 das 1642 in Braun- schweig auf der Burg im großen Speisesaal “nach gehaltener Taffel” aufgeführt wurde, ist ein gutes Beispiel für den Typ des Gelegenheits- dramas. Die Spieler bzw. Mitspieler waren hier die jungen Prinzen des Wolfenbütteler Hofes, Anton Ulrich und Ferdinand Albrecht; Schot- telius war deren Lehrer; ferner wirkten junge Adlige und Eleven des Hofes mit. Die Zuschauer bildeten eine geschlossene Gesellschaft: der Wolfenbütteler Hof mit Herzog August d.J., der Herzogin Sophie Eli- sabeth, die die Musik dazu komponiert hatte, und der Kurfürst von Brandenburg und andere des Hoch- und Landadels. Der Anlass war politisch bedeutend: das Friedensabkommen, der Goslarer Separatfrieden vom 16. Januar 1642, der zwischen dem Wel- fenhaus und dem Kaiser in Wien und unter Beteiligung Brandenburgs geschlossen worden war – und das sechs Jahre vor dem vertraglichen Ende des Dreißigjährigen Krieges! Kein Wunder, dass das Stück von einer Welle der Sehnsucht nach dem Frieden getragen wird. Bezeich- nenderweise wurde der Text erst 1648 veröffentlicht und kein weiteres Mal gedruckt. Die Ausgabe ist ein höfischer Festdruck, der in reiz- vollen Kupferstichen die einzelnen Szenen des Spiels festhält. Die gedankliche Struktur des Spiels tendiert dahin, zu verdeutli- chen, dass das Unheil der Welt durch den Glauben an Fortuna zu- stande kommt, und dass Auswirkungen dieses Verhaltens sich im Deutschland des 17. Jahrhunderts in der Ausplünderung des Nähr- standes und der Zerstörung bzw. Verwüstung des Landes zeigen. Man ventiliert Möglichkeiten zur Sanierung. Die Spielstruktur ist bemerkenswert: es ist ein Allegorienspiel in drei Handlungen und zwei Zwischenspielen. Eine Bühne ist nicht nö- tig; die Spielfläche ist der leergeräumte Speisesaal der Braunschwei- ger Burg. Das höfische Publikum saß am Rande der drei Seiten des blanken Spielfeldes; eine Tür in einen anderen Raum an der vierten

7 Friedens Sieg. Ein Freudenspiel von Justus Georg Schottelius. 1648. Hrsg. v. Friedrich E. Koldewey. Halle a.S. 1900 (= Neudrucke Deutscher Literaturwerke 175). Der Titel der Originalausgabe lautet: Neu erfundenes FreudenSpiel genandt Frieden Sieg. In Gegenwart vieler Chur- und Fürstlicher auch anderer Vorneh- men Personen in dem fürstl. BurgSaal zu Braunsweig im Jahr 1642. von lauter kleinen Knaben vorgestellet. Auf vielfältiges begehren mit kupfer Stucken gezie- ret vnd verlegt durch Conrad Büno In Wolfenbüttel Im Jahr 1648 (benutztes Ex- emplar: HAB Wolfenbüttel: Lo 6992).

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Seite ermöglichte die Auftritte. Die nötigsten Spielrequisiten waren: Wagen, Kugelgestell für Fortuna, Weltkugel für Cupido, eine Schwe- beeinrichtung, um von oben auf die Spielfläche zu gelangen. Auffällig ist eine starke Choreographie der Figuren, besonders natürlich in den Zwischenspielen. Das Spiel hat einen beachtenswerten philosophischen Tiefgang: die leichtsinnige, dem Glücksdenken geweihte Lebensweise ist die Ursa- che der Kriegskatastrophen der Menschheit. Die ernsthafte Rückkehr zu den christlichen Lebensprinzipien garantierte hingegen den ewigen Frieden und den sozialen Wohlstand. Die Wahl für die Extreme liegt beim Menschen, der sich falsch entscheidet gegen die Vernunft, ver- führt vom Glücksdenken nach Wohlstand. D.h. für Schottelius und den friedvollen Kreis um Herzog August d.J. war der Dreißigjährige Krieg ‘nur’ eine auf Eitelkeit beruhende menschliche Katastrophe. Schottelius dokumentiert und führt in die- sem höfischen Spiel den latenten Pazifismus des Wolfenbütteler Hofes vor, intern und abgeschlossen, nicht als öffentliche Protestforderung, weshalb der Text eben auch erst sechs Jahre später als höfischer Pri- vatdruck erschien. Wir können hierin ein gutes Beispiel für höfische Kasuistik sehen! Schottelius kam es auf eine demonstrative Abrechnung mit dem Fortunadenken seiner Zeit an. Dass er in der durch Fortuna verkörper- ten Säkularisierung ein Zeichen für das Schwinden der Werte des Christentums sah, verbindet ihn mit anderen Zeitgenossen des nord- deutschen Raums, aber interessant ist, dass er das nicht in einem Es- say zusammentrug, sondern eben in einem Theaterstück zu einer offi- ziellen politischen Kundgebung. Besser als jeder Essay oder jede höfi- sche Oratio bot gerade das Genus des Freudenspiels die Gelegenheit, gedanklich detailliert und gleichzeitig plastisch die Entlarvung des fal- schen Glaubens der Menschen an Fortuna vorzuführen. Bereits in der ersten Handlung, im Auftritt der Fortuna, wird das allegoriter konkretisiert: “Die Fortun wird in ihrem Glükswagen auf- geführt, welcher von der eisernen Not vorn gezogen, von der Hofnung und Verzweiflung zu beiden Seiten, wie auch von der verblendeten Vernunft hinterwärts begleitet wird” (16): Not, Hoffnung, Verzweif- lung und verblendete Vernunft sind die Koordinaten des Fortuna- Glaubens. Es entspricht der Argumentationstechnik dieser Dichtung, dass sie zwar bildlich, aber doch klar begreifbar die moralischen wie unmoralischen Gravamina gedanklich und imaginär vorführt. So lässt

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Schottelius, ganz auf die Rezeption kalkuliert, Fortuna in einer langen Sermocinatio sich definieren: Sie wäre die “mächtigste Göttin und al- lein regierende Königin des ganzen Weltkreises” (16), sie bestimme nach eigener “Beliebung” über Kronen und Zepter, Macht, Pracht, Reichtum, Ehre, Wollust, Liebesgunst, Krieg und Frieden, Wohlfahrt und Verderben. Launisch balanciert sie unverbindlich auf der Kugel und lässt sich von ihren Gehilfinnen Not, Hoffnung, Verzweiflung und verblendete Vernunft Gefolgsleute zutreiben: die Menschheit sucht bei ihr ihr Heil! Mars ist ihr treuester Bundesgenosse, denn die “tobende Wollust zu kriegen” (18) ist unsterblich. Europa und Teut- schland sind seine Haupttätigkeitsfelder – und Fortuna versichert, dass das noch lange so bleiben werde. Cupido macht Fortuna seine Auf- wartung und bittet, Fortuna sollte “aller ersinlichen Liebeszufrieden- heiten übersüssen” (20) und sparsam mit der “Liebeswiderwertigkeit” (20) umgehen. Und dann treten die europäischen Kriegshelden auf und bekennen sich als Jünger der Fortuna: der Spanier, der Türke, der Franzose, die sich ihres Kriegsglücks rühmen und bei Fortuna instän- dig um weitere Förderung ihrer eigensüchtigen Eroberungspläne nachsuchen; der Türke etwa fordert “Gieb dein Gedeyen, daß die Christen jhres eigenen Blutes ferner begierig und unter sich aufgerie- ben werden” (23), der Franzose fleht um die Liebeserfüllung einer Herzensdame. Und dann stellt Schottelius den Teutschen auf die Szene: er tritt einerseits mit reicher Siegeszeichengarnitur auf – ande- rerseits mit teutonischer Rabautzigkeit. Sein auszeichnendes Kriegs- glück – bezeichnende Kritik! – erscheint ihm als Unglück: eine Um- polung der eitlen Werte: “Hei, des Unglükkes des alzuvielen Glük- kes!” (27). Das Kriegsglück hat in Deutschland nur Elend bewirkt – Trümmer, Verwüstungen, Blutgier und Hungersnöte! Gleichwohl will der Teutsche dem Türken, dem Franzen und dem Spanier mit dem Degen zu Leibe rücken – ! Das wird von Mars verhindert, Fortuna zieht sich wortlos zurück. Zur seelischen Auflockerung der Zuschauer, die zuletzt mit den Eindrücken des Krieges konfrontiert wurden, schaltet Schottelius zwei kleine Zwischenspiele ein: Cupido trägt ein Couplet vor und ver- schießt Liebespfeile ins Publikum, wobei er die traditionelle Herz- Schmerz-Thematik vorträgt; das andere Spiel ist ein Gesangsquartett von zwei Schäfern und zwei Schäferinnen, die sich jeweils für Tugend oder für Glück einsetzen.

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In der “anderen Handlung” – einer Reminiszenz auf Frischlins Iu- lius redivivus – lässt Schottelius durch Merkur alte teutsche Helden des niedersächsischen Raums aus der Unterwelt in die Zeit des 17. Jahrhunderts bringen: Arminius und Kaiser Heinrich den Vogler. Sie kontrastiert er mit typischen Zeitgenossen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: dem niederdeutschen Bauern, dessen Sprache sie nicht verstehen, dem Bolderian, einem Cavalier der Zeit, der à la mode ge- kleidet ist und ebenso redet – eine köstliche Parodie auf die Gesell- schaftssprache der Zeit! – und dem Teutschen, der seinen Zustand in beachtenswerter Klarheit definiert:

Ich bin der Teutscher, den viele Außländer durch hülfreichen Beystand unterdrükken, der wegen seiner tapferen Tahten swach wird, der durch sein eigenes Siegen überwunden und bestrikket ist (52) […] Krieg und Uneinigkeit hat mir Adern und Sehnen gelähmet, meine Sieges- zeichen bestrikken mich und das innerste Mark in meinen Knochen ist durch und durch von verhoftem Kriegesglükk vergiftet worden. Aus mei- nem Lande ist das alte Vertrauen und Teutsche Redligkeit meistentheils vertrieben, die Tugend samt ihren Töchtern gutenteihls ins Elend verjaget, hergegen die Uneinigkeit, Mißtrauen, Kriegeswüte, Lastersäuche samt der verdamten Frömdgierigkeit beliebet und belobet werden, also daß ich dahin sinke, dahin sterbe und verderbe, wo nicht die höchsterfreuende Friedes- göttinn ein erquikkendes Laabtrünklein mir bald, bald mit gütiger Hand darreichen wird. (53 f.)

In der sprachlich-begrifflichen Abstraktion sind hier die Gravamina der Zeit und zugleich eine verdeckte Anklage gegen die politischen Instanzen, die die Schuld am Kriege tragen, griffig formuliert. Schot- telius analysiert die Mentalität der Menschheit, vor allem der oberen Schichten auf deren Fortuna-Denken hin und zeigt den Verlust an Mo- ral des christlichen Glaubens, was ihm als Ursache des großen Krieges gilt und was uns heute als eine kluge und weise Diagnose der wahren Ursachen des Krieges erscheint. Der Mensch sei durch “Eigenwitz und Hofnung” (9), den “zwey betrieglichen Rahtgebern und Fuchs- swentzern” (9) verblendet und ziele nur auf Prosperität und Vorteile um jeden Preis. Das menschliche Herz sei “Glükkgierig” (9) – und nicht eingedenk der Launenhaftigkeit des Glücks, das sich 20:1 in Unglück wandle. Die Meinung der Welt vom Glück sei “eine grosse Tohrheit”, da sie dadurch gleichzeitig die “ewige Vorsehung des allein mechtigen und alles erhaltenden Gottes” (10) missachtet. Ja, es geht soweit, dass die “Weltkinder” die

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Regierung des Allmechtigen noch unter das Glükke gesetzet, und muß der durch den Sohn Gottes uns selbst kundgetahne unwandelbahre Wille Got- tes sich also lenken, leiten, erklären, drehen und verstehen lassen, wie der Welt Sitten und Begierde es erleiden und vertragen können und wollen und muß nur dasselbe aus dem Worte Gottes und aus dem natürlichen Rechte gelten, was die herrschende Gewonheit der Welt als gütig zulesset, beliebet und erkennet. (10)

Das sei die Lebensmaxime “so wol in hohem, als niedrigem Stande, so wol im allgemeinen, als Privatwesen” (10). Diese kritischen Auslassungen lassen bestens erkennen, welch ho- her historischer Wert einem scheinbar so abseitigen Gelegenheitstext wie dem Wolfenbütteler Friedens Sieg-Spiel zukommt. Das ist – de- chiffriert – schärfste Absolutismus-Kritik, wie sie vielleicht nur aus dem stark irenisch orientierten Musenhof des Wolfenbütteler Fürsten hervorgehen konnte. Das Zwischenspiel nach der zweiten Handlung thematisiert auf eine reizvoll ins poetische transponierte Weise die unselige Kriegslage. In Form von Gesang und Ballet werden die Auswirkungen des Kriegs- wesens in Erinnerung gebracht: Schottelius lässt eine Waldnymphe ein Klagelied auf Angst und Qual des bösen Krieges mit fast verge- hender Stimme singen, während eine zweite Stimme hinter dem Vor- hang mit “Weh O Weh” (55) respondiert: Die Sentimentalität schlägt aber in Aggression um: es heißt: “Mars springet darauf bei angehen- dem klaren Trompeten Schall mit blossem Degen herauß, deme als- bald folgen der Todt, der Hunger, Armuth und Ungerechtigkeit. Mars bringet dieselben an ihre Stelle mit seinem Degen und grimmigen Ge- bärden.” (56) Während die vier allegorischen Figuren sich als Kriegs- unheil darstellen, “tummelt” Mars sich mit dem Degen auf der Spiel- fläche und führt sie bedräuend wieder weg. Aggressivität und kata- strophale Auswirkungen des Krieges szenisch-poetisch und nach der Mode der Zeit mit Gesang und Ballet erfahrbar zu machen, ist Schot- telius hier einmalig gelungen. In der dritten Handlung spielt Schottelius – vor der Zeit – mit der verlockenden Vision des ersehnten Friedens für das Reich; die Frie- densvereinbarungen zwischen dem Kaiser und Braunschweig und zwischen Braunschweig und Brandenburg 1642 boten die punktuelle Gelegenheit für das vorliegende höfische Spiel. Die Sermocinatio- Technik gewährt die szenische Möglichkeit, die Voraussetzungen und

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Konstituenten eines deutschen Gesamtfriedens in den Blick zu brin- gen. Die “Wahre Vernunft” geht gedanklich wie spieltechnisch dem Frieden voraus; sie beruft sich auf die Grundlagen eines künftigen Friedens: Gott, Tugend, Gerechtigkeit, Einigkeit, Gottesfurcht und Wohlstand. Die Musen, d.h. die Literatur, werden mit Liedern in den Friedensdienst gestellt. Der Friede wird auf goldenem Wagen herein- gefahren – Schottelius merkt süffisant an, dass der Wagen aus eigener Kraft ohne jegliche menschliche Manipulationen rollt! – er verkündet “ruhige Freiheit” (61) und “Das Gute wird alsdan belohnet, das Böse gestraffet, Recht und Gericht gehandhabet, Kirchen und Schulen wol- erhalten und fortgepflantzet, Akker und Garten werden wol bestellet, Dörffe, Städte und Schlösser gebauet […]” (62). Die Utopie der “Gül- denen Zeit” steht in der Perspektive: wenn die Gerechtigkeit be- stimmt, “kein Krieg noch Zwietracht entstehet auß meiner Entschei- dung” (64); der Friede hängt von der Entscheidungsgewalt des Rechts ab. Als Ursachen des derzeitigen Krieges gelten “Frömdgierigkeit und hochfahrende Eitelsucht” (68); interessant ist, dass der alte Kaiser, Heinrich der Vogler, deutlich macht, dass “die durchfestete Teutsche Macht und Sterke von keiner anderen menschlichen Macht, Menge und Sterke als nur durch ihre eigene Teutsche Faust und Hertz ge- schwächet und zerbrochen worden” (69). Es mangelt in Deutschland an politischer Einheit! Und die wahre Vernunft führt ein gewichtiges Beispiel an: Wenn die eine christliche Partei die andere blutig besiegt hat, stimmt sie das Te Deum Laudamus an; sobald die Besiegten eben- solche Rache nehmen, stimmen sie den gleichen Dankeshymnus an! So sei es kein Wunder, dass Gott “seinen Donnerstarken Arm zu Ra- che ausgestrekket und den Lasterkampf der Erden durch seinen Zorn bebend gemacht” habe. (71) Aber: der Augenblick ist ein erfreulicher: die Herrscher von Braun- schweig und Brandenburg haben ein Friedensabkommen geschlossen und werden dafür von den Musen mit einer Friedensgabe ausgezeich- net: Der Große Kurfürst und Herzog August erhalten personaliter auf der Szene ihre Auszeichnung; die Musen singen dazu:

Euterpe: Last uns zieren unsern Herren. Calliope: Den wir schauen nah und ferren. Melpomene: Den Churfürsten Fürst Augustum

Chloe 43 Theater, Drama und ‘Gelegenheit’ 161

Calliope: Tugendfreund. Melpomene: FriedensVater. Calliope: KriegesFeind.

Die Spielanweisungen machen deutlich, dass die Musen nun die “Frie- dens-Kräntzlein” den hohen Herrschaften verleihen, worin der Höhe- und eigentliche Zielpunkt der internen Aufführung zu sehen ist. Es heißt bei Schottel: “Hie gehen sie [die vier singenden Musen Euterpe, Thalia, Melpomene, Calliope] in feiner Ordnung allsämtlich nebst den Musis fort und nahen sich zu S. Churf. Durchl. [und] S. Fürstl. Gna- den” und weiter: “Hie werden die Friedens-Kräntzlein samt gebühr- licher Ehrbeweisung dargereichet” (72 f.): also eine Art Ordensverlei- hung an den Großen Kurfürsten und Herzog August! Damit ist das Moment des höfischen Gelegenheitsdramas voll er- füllt. Eine Wiederholung dieser Theaterstück-Aufführung ist nicht möglich, denn die beiden Fürsten stehen anderen Aufführungen nicht zur Verfügung.8 Das Spiel enthält eine beachtenswerte Friedenslehre, die sicherlich den Anliegen und Vorstellungen Herzog Augusts voll entsprach und die Schottelius in diesen einzigen Theaterabend bannte, der den Anlass der regionalen Friedenskonstituierung feiern sollte. Schottelius lässt das Spiel mit einem Freudentanz ausklingen, in dem zunächst ein Bauernpaar, dann ein Schäferpaar und schließlich ein Adelspaar “einen lustigen, wolanständlichen Ehren- und Freuden- Tantz” vollführen. Schottelius bemerkt dazu: “Anzudeuten, dass alle Stände in der Welt, so wol der niedrige, mittlere und hohere, eintzig und allein über den lieben Frieden sich hertzlich und also zu erfreuen haben” (77). D.h. den mittleren Stand repräsentieren die Schäfer – sie

8 In der Forschung wird von weiteren Aufführungen berichtet: “1648 und 1649 jeweils mindestens einmal im Schloß zu Wolfenbüttel und am 16. und 18. Januar 1649 im Rathaus in (Berlin-) Kölln auf Veranlassung des Großen Kurfürsten” (Jörg-Jochen Berns: Trionfo-Theater am Hof von Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Daphnis 10 (1981), S. 674.) Die Quelle für diese Daten und für die Spieler ist leider nicht genannt, ebensowenig scheinen die Spielfassungen dieser Auffüh- rungen erhalten zu sein. Sie müssen im Zielpunkt des Stückes, der Verleihung des “Friedens-Kräntzlein” an den Großen Kurfürsten und Herzog August, zur Ur- fassung von 1642 variant gewesen sein. Die im Spiel zum Ausdruck kommende starke Friedenssehnsucht und die reizvolle Theatralik mögen die Mutierung zum Bühnenstück bewirkt haben, sozusagen als eine Art Erinnerungs-Produktion. Aber der autonome Gelegenheitseffekt der Braunschweiger Erstaufführung ist nicht reproduzierbar.

Chloe 43 162 Hans-Gert Roloff wären demnach zu verstehen als das ins Schäferkostüm geflüchtete Bürgertum.

4. Sophie Elisabeth zu Braunschweig-Lüneburg: Der Minervae Ban- quet (1655)

Der Wolfenbütteler Hof hatte schon seit Herzog Heinrich Julius eine gewisse Affinität zum Theater und zu dramatischen Formen. Nicht nur aus Anlass der regionalen Friedensvereinbarungen ergab sich die Ge- legenheit, mit Schottelius’ Friedens Sieg im begrenzten höfischen Rahmen Sehnsucht und weitreichende utopische Idee eines Friedens für Deutschland zu artikulieren, sondern auch die Geburtstage des verehrten Herzogs August boten die punktuell fixierten Anlässe zu theatralischen Inszenierungen, die im engsten höfischen Kreis stattfan- den. Die Herzogin Sophie Elisabeth, Herzog August d.J. dritte Ge- mahlin, war nicht nur als Schütz-Schülerin kompetente Komponistin weltlicher und geistlicher Lieder und höfischer Musiken, sondern auch geschätzte und sprachlich ausdrucksversierte Dichterin. Sie konzi- pierte mehrere dramaturgisch-choreographisch strukturierte Festspiele – jeweils zum festen Datum des Geburtstags des Herzogs. Die Szenare wurden hinterher gedruckt und fanden Austausch mit anderen be- freundeten Höfen – in den profanen Buchhandel sind sie natürlich nicht gelangt.9 Zielpunkt der Spieltexte war immer der zu ehrende Herzog an sei- nem Geburtstag; Gegenstand, Intention und Datum standen also fest, ebenso der Spielraum: das Wolfenbütteler Schloss. Variabel war je- weils nur der Vorgang der Feierlichkeiten. Für den Typus des okkasionellen Dramas ist außerdem entschei- dend, dass die Zielfigur, der Herzog, realiter anwesend war – ohne seine Mitwirkung wäre das Spiel jeweils sinnlos gewesen, ebenso ir- relevant wäre es, wenn bei einer theoretisch möglichen Wiederholung der Herzog durch einen anderen Spieler ersetzt worden wäre. Das ok- kasionelle Drama ist nur existent in der Erfüllung seiner konstitutiven Voraussetzungen: Einmaligkeit von Zielperson bzw. Vorgang, Anlass und Datum. Die literarische Ausgestaltung kann in allen formalen und

9 Die zitierten Texte finden sich in: Sophie Elisabeth, Herzogin zu Braunschweig und Lüneburg: Dichtungen. Erster Band: Spiele. Hrsg. v. Hans-Gert Roloff. Frankfurt/M. 1980 (= Arbeiten zur Mittleren Deutschen Literatur und Sprache 6).

Chloe 43 Theater, Drama und ‘Gelegenheit’ 163 sprachkünstlerischen Ambitionen oszillieren – je nach Fähigkeit des Autors. Insofern zeigen die Wolfenbütteler Festarrangements der Her- zogin künstlerisches Gewicht und Rang und machen verständlich, wa- rum gelehrte Zeitgenossen ihr den Ehrentitel ‘Juno’ verliehen. Ein Beispiel aus diesem Wolfenbütteler Festreigen mag das ver- deutlichen:

Der Minervae Banquet, Welches zu sonderbaren Ehren/ auff den LXXVII. Geburts-Tag Des Durchläuchtigen Hochgebohrnen Fürsten und Herrn/ Herrn Augusti/ Hertzogs zu Brunswyg und Lunäburg/ Nemlich den 10. Ap- rilis, deß 1655. Jahrs zu halten bestimmet gewesen/ […]. (45)

Die Herzogin, selbst die Rolle der Minerva spielend, bildete zunächst einen Triumphzug aus, der von ihren Gemächern ausging in den Spei- sesaal, wo man die Kulisse eines stabilen Parnasses aufgebaut hatte. Der Zug hatte als Gefolge: Prometheus, Minerva, die sieben Freien Künste, die neun Musen; sie alle nahmen auf dem Parnass Platz (es gibt eine Zeichnung dazu); danach holt Prometheus den Apollo, dem Orpheus, Arion und Amphion folgen, danach die sieben Weisen, da- nach die sieben Unfreien Künste. Sie stellen sich im Speisesaal gege- nüber dem Parnass auf. Darauf befiehlt Minerva vom Parnass her, Prometheus solle den Fürsten und Herrn, also Herzog August, aus dessen Gemach einholen. Unter Vorantritt des Prometheus holen Apollo, die Dichter, die sieben Weisen und die sieben Unfreien Künste Herzog August aus seinem Kabinett und geleiten ihn in den Speisesaal – “woselbst S. Fürstl. Gn. gleich gegen den Parnassum über an den Tisch Sich stellete” (52) – August weiß also über seine Rolle Bescheid! – Danach trägt Apollo ein umfangreiches lateinisches Carmen auf August vor, dann geschieht Folgendes: “Immittels ging Prometheus hin zum Parnasso, halff der Minerva herunter (!!) vom Berge/ Welcher dann gleich folgeten die sieben Freyen Künste/ und die neun Musae, und fürete Sy vor Se. Fürstl. Gnaden: Als Sie nun biß dahin gelangeten/ that Minerva folgende Glückwünschung […]” (54). Der Gratulation der Herzogin und Gattin schließen sich die Glück- wünsche der anderen maskierten Mitspieler an – dreizehn mehr oder weniger lange Gedichte werden vorgetragen! Und dann passiert das, was den Charakter des Okkasionellen dieses Textes voll bestätigt: “Hierauff haben Se. Fürstl. Gn. durch dero Cantzlern und geheimbde- sten Rathe D. Johann Schwartzkopffen/ Obigen ins gesamt folgender Gestalt antworten lassen” (60) – d.h. der Herzog kannte seine Rolle.

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Hier ließ er den Kanzler für sich reden, was verständlich ist, denn der Herzog war 77 Jahre geworden und vermutlich etwas schwächlich. Die Rede enthält Dank, Anerkennung und die Zusicherung, Kunst und Wissenschaft im Herzogtum, vor allem durch die Universität Helm- stedt, weiterhin zu fördern. Anschließend findet ein barockes Schauessen statt; die Teilnehmer sitzen an Tischen um den Parnass herum; nach dem Essen tritt Homer aus dem Parnass hervor, hält eine lange Laudatio auf den Herzog, dann folgt Musik und das Ballet der Zeit im ‘Komödiensaal’. Man sieht: ein choreographisch durchstrukturierter Festablauf in Wort und Pantomime, einmalig, unwiederholbar und repräsentativ für den Wol- fenbütteler Hof, aber intern abgeschottet und ohne didaktische Ele- mente.

5. Nicolaus Avancini: Pietas Victrix (1659)

Auch die berühmten habsburger Kaiserspiele, die Ludi Caesarii des Jesuitendichters Nicolaus Avancini kann man zum Kreis der Gelegen- heitsdramatik rechnen, ohne ihnen dadurch irgendwelchen Abbruch an ihrer imposanten, staunenswerten Theatralik anzutun. Am 21. und 22. Februar 1659 wurde auf der Bühne des Jesuiten- Kollegs in Wien das Schauspiel Pietas Victrix sive Flavius Constanti- nus Magnus De Maxentio Tyranno victor aufgeführt.10 Es wurde, wie das Titelblatt ausdrücklich vermerkt, “Augustissimo Romanorum Im- peratori, Hungariae Bohemiaeque Regi Leopoldo” – für den erha- bensten Römischen Imperator und König von Ungarn und Böhmen – von der akademischen Jugend des Kollegs gespielt. Ein paar Um- stände der Gelegenheit der Aufführung sind wichtig: Leopold I. war am 1. August 1658 zum Römischen Kaiser gekrönt worden. Avancini hatte schon vorher Kaiserspiele konzipiert – so zur Krönung Ferdinands IV. zum ungarischen König 1647 die Saxonia Conversa, so 1650 zum Friedensschluss Pax imperii sive Joseph, die Aufführung fand in Anwesenheit von Ferdinand IV., Leopold und Si- gismund statt. Eine Aufführung des Stückes Curae Caesarum 1654

10 Nicolaus Avancini S.J.: Pietas victrix – Der Sieg der Pietas. Hg., übersetzt, einge- leitet und mit Anmerkungen versehen von Lothar Mundt und Ulrich Seelbach. Tübingen 2002 (= Frühe Neuzeit 73).

Chloe 43 Theater, Drama und ‘Gelegenheit’ 165 unterblieb wegen des Todes von Ferdinand Maria, Sohn von Ferdi- nand III. Die Ludi Caesarii sind die theatralischen Präsentationen der fort- schreitenden habsburgischen Machtentfaltung. Sie sind nicht konfes- sions- oder moraldidaktisch konzipiert, wie wir es von anderen Jesui- tendramen – etwa bei Bidermann oder Balde oder Adolph – kennen, sondern sie feiern Beständigkeit und Macht des Hauses Habsburg. Eine Gelegenheit wie die Krönung Leopolds I. zum Römischen Kaiser ist ein Akt zum Feiern, den sich das Jesuitenkolleg nicht entgehen ließ, und wofür es auch vom Hof subventioniert wurde. Insofern kön- nen Stück und Aufführung als okkasionelle Präsentation gelten, die in Anwesenheit des Kaisers, des Hofes und illustrer Adelsgeschlechter stattfand. Ob ‘an die 3000’ Zuschauer teilnahmen, ist zurecht ange- zweifelt worden und ebenfalls ist bedenklich, ob das Stück an einem Tag aufgeführt werden konnte; es umfasst in der ersten Fassung 3.897 Verse und beansprucht wegen seines vielgerühmten und heute noch in der Idee begeisternden technischen Theaterapparats viel Spielzeit. Allein für die annähernd 4000 lateinischen Verse wird man, wenn man sechs bis sieben Verse pro Minute für sinnvolles Bühnensprechen rechnet, etwa zehn Stunden benötigen. Die großräumigen Dekoratio- nen der Höllenszene oder die einstürzende Tiber-Brücke und der rei- che Flugverkehr der guten und bösen Geister – all das verlangt reale Zeit! Und die Stunde war damals genau so lang wie heute. Hatten Kaiser und Hof das Sitzvermögen für gut und gern 15 Stunden netto Theater ensuite?! Oder hat man das Festspiel an zwei Tagen gespielt – wie es das Titelblatt der editio princeps fol. A2r angibt: “Mense Feb- ruario, die XXI. & XXII. Anno M. DC. LIX.” Hinzu kommt, dass Kaiser und Hof, auf die und deren Anwesenheit das Stück bezogen ist, keinesfalls bei einer Wiederholung dabei waren! Die Umstände der – einzigen – Aufführung sind ungeklärt; auch eine gekürzte Bühnenfas- sung ist bisher nicht bekannt geworden. Ich neige dazu, diesem über- aus bedeutenden Stück Theaterkultur okkasionelle Einmaligkeit zuzu- erkennen, unbenommen, dass der Text in späteren Avancini-Drucken – ohne Szenenangaben – publiziert wurde – als Dokument eines histo- rischen Habsburgerereignisses. Der Sieg Kaiser Konstantins des Großen über den Tyrannen Ma- xentius wird dargestellt als ein Teil der Heilsgeschichte: die Provi- dentia divina verkündet der Pietas, dass Konstantin siegen werde: “Numquam stetit sine pietate firma Regnorum salus” (17 f.) – ohne

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Pietas steht keine Herrschaft fest. Und dem Flavier Konstantin er- scheint im Traum die christliche Kreuzfahne als Fanal des Sieges über die nichtchristliche Welt. Als Sieger in Rom führt der Kaiser dauer- haft das Christentum ein. Als Triumphator beruft er sich auf Gott:

Quando me iussit Deus Terrae imperare Caesarem, iussit quoque Animum parentis sumere, et Cives meam Amare sobolem. (3415-7) Als Gott mir befahl, als Kaiser über die Erde zu herrschen, befahl er mir auch, das Gemüt eines Vaters anzunehmen und die Bürger als Kinder zu lieben.

Dieser christliche Flavier wird von Avancini hier zum kaiserlichen Amtsvorfahren des habsburgischen Hauses stilisiert, und zwar in der wichtigen 4. Szene des fünften Aktes, die handlungsmäßig kaum et- was mit dem Schauspiel zu tun hat, sondern die Gelegenheit der Habsburg-Feier geschichtlich-mythisch legitimieren möchte. Der heiligen Helena, Konstantins Mutter, erscheint in ihrer Fürbitte für den Sohn und das flavische Geschlecht die Jungfrau Maria und teilt ihr mit: 1. den Sieg und Triumph des Sohnes in Rom 2. Flavius wird als erster Krone und Zepter Christus unterstellen, 3. alles weitere soll Helena von einem bestickten Tuch ablesen, das sie ihr reicht. Die Abbildungen auf dem Tuch werden von Engeln erläutert und He- lena erfährt nach und nach den Tod ihres Enkels Crispus, Herrscher wird Konstantin der Jüngere, geprägt von Pietas und Iustitia. Dann wird das Bild der Germania sichtbar: es ist die deutsche Nation, wel- che über die Völker herrschen wird; nach einer langen Reihe von Her- zögen und Königen wird sie Erzherzöge hervorbringen, deren Macht sich über ein ungeheures Reich erstrecken wird. Und dazu steht ge- schrieben: “Als letzte Macht wird Österreich die Erde beherrschen”. Und dann folgen die Namen der österreichischen Kaiser: Rudolf, Alb- recht, Friedrich, Albrecht II., Friedrich, Maximilian, Karl V., Ferdi- nand, Maximilian II., Rudolf II., Mathias, Ferdinand II., Ferdinand III., Ferdinand IV., Leopold! Hier stoppt Avancini die Liste – mit dem Hinweis der Engel: in späteren Zeiten mehr! “Und falls der Himmel die Wahrheit verkündet, so wird der Glanz der Herrschaft über das

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Deutsche Reich niemals von Österreich weichen, solange die Sonne am Himmel ihre Kreisbahn ziehen wird:”

nec, si polus Mihi vera loquitur, Imperi Alemanni iubar Unquam recedet Austriâ, dum se dies Coelo rotabit. (3693-96)

Der Spieler der Helena bricht hier in das Vivat auf Kaiser Leopold I. aus, der vor der Bühne sitzt:

Vivat! ô vivat meus Post fata gentis Flaviae ad solium datus Leopoldus orbis! Sistite in cursum incitos, O astra, Soles, serus ut sidus piis Accedat astris. (3696-3700) Es lebe, o, es lebe mein Leopold, der nach dem Untergang des Fla- viergeschlechts dem Thron der Welt geschenkt wurde! O Sterne, verzögert den raschen Lauf der Tage, auf daß er spät erst als Gestirn zu den frommen Sternen aufsteige!

Der Ludus Caesarius, das Kaiserspiel, bestätigt gelegentlich der Kai- serkrönung Leopolds I. die unendliche politische Präsenz des Hauses Habsburg! Die persönliche Anwesenheit des Kaisers ist die beste Be- stätigung für den Sinngehalt des Spiels, eben eines Gelegenheitsdra- mas!

6. Christoph Coler: De antiqua et nova Germanorum Poesi (1639)

Blicken wir aus dem engeren Bereich von Lyrik und Dramatik in weitere Felder der Kommunikation, so zeigt sich, dass das konstitutive Phänomen der Okkasion durchaus eigenständige Textmodelle schaf- fen kann, deren Aussagekraft nur für den Augenblick konzipiert ist, die aber unter dem Aspekt des Historischen zu einem intellektuellen Dokument werden können, weniger für sich selbst als vor allem für das, was sie in den fixen Augenblick transportieren wollten und was eben vom Augenblick und seinen Konstituenten bestimmt ist. Wir kennen aus dem 17. Jahrhundert z.B. sogenannte ‘Rede-Akte’, auch ‘Schulactus’ genannt, deren Redebeiträge zwar einem Thema ver- pflichtet sind, das sie kaleidoskopartig beleuchten, aber einer chorog-

Chloe 43 168 Hans-Gert Roloff raphischen Rhetorik-Konzeption unterworfen sind. Sie begegnen üb- rigens heute in den restlos textentschlackten Sprachoratorien der der- zeitigen Theatervorführungen! Ein Beispiel für das 17. Jahrhundert mag das erläutern: Nach dem frühen Tod von Martin Opitz im August 1639 fühlte sich sein jüngerer Freund Christoph Coler, Professor der Historie am Eli- sabeth-Gymnasium in Breslau veranlasst, am Martinstag desselben Jahres, also am 11. November 1639, des edlen Dichters in einer Feier zu gedenken. Seine Absicht war, Opitz’ literarische Leistung zu me- morieren und dessen Verdienst um die Pflege der deutschen Gemein- sprache gebührend zu würdigen – durch Redeakte der Schüler. Coler versandte eine Einladungsschrift, in der er einen Problemaufriss gab und die geplante Darbietung in einem streng strukturierten Programm vorstellte. Der Titel der Veranstaltung lautete: De antiqua et nova Germanorum Poesi; die Schrift ist erhalten.11 Colers Intention war, in Orationen und Textrezitationen auf die Entstehung einer deutschsprachigen Literatur und auf ihre derzeitige Blüte hinzuweisen und in diesem Festakt in aller Ausführlichkeit des kurz zuvor gestorbenen Martin Opitz zu gedenken.12 Die Einladungs- schrift wertet als erstes die Ausgabe des Anno-Liedes durch Opitz als ein Bindeglied zur älteren deutschen Literatur:

Martinus Opitius singularis vernacula lingua illustrator ac Poetica vindex primus ac princeps, paulo ante fatalem morbum, tanquam cygneam cantio- nem, Animadversionibus illustratum, ineditum antea, Germaniae suae in arctissimum studii pignum ac ultissimum Vale commendavit.

Die Maxime der Veranstaltung war: “Nemo Opitium referre quirit ac Opitius”! Coler lud zu seiner Festveranstaltung, die er bezeichnenderweise “rerum scena” nennt, in weitem Umkreis die Honoratioren der Stadt Breslau ein:

Non vero totius et securius in portu judicii publici, quam vesta, Magnifici, Nobilissimi, Amplissimi, Reverendi, Excellentissimi, Doctissimi, Claris-

11 De antiqua et nova Germanorum Poesi. 1639. (UB Wroclaw 550872). 12 Siehe hierzu auch Max Hippe: Christoph Köler, ein schlesischer Dichter des sieb- zehnten Jahrhunderts. Breslau 1922, S. 49-52. – Klaus Garber: Handbuch des Personalen Gelegenheitsschrifttums. Bd. 17. Hildesheim 2005, S. 22, Anm. 7. – Die Edition der Opitz-Rede Colers befindet sich in Vorbereitung.

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simi Viri, Maecenates, fautores, amici, indulgentiâ, faventiâ et lubentiâ sublevatus acquiescam: quos submissè, obnixè et humaniter invito, ut pro amore et studiis in Germaniae libertatem, fidem, linguam et decus atque ejusdem Vindices acerrimos, huic rerum scenae interesse, atque Disserta- tiones nostras aquis auribus et animis accipere dignemini.

Das in unserem Zusammenhang Interessante ist, dass Coler auch ein Programm der Veranstaltung mitteilt, das streng strukturiert ist und erkennen lässt, dass der Festakt den ganzen Tag ausfüllte. Ich gebe den Passus hier wieder, um die szenische Struktur eines solchen Fest- akts deutlich werden zu lassen:

I. Matutinis: 1. Prologus: benevolam attentionem orans carmine Germanico: Johannes Georgius Hackenwald (Oppar. Sil.) 2. De Laude Poëses Germanicae in 1. Carmine 1. Graeco: Elias Myhmer (Glogov. Sil.) 2. Germanico: Georgius Gebhardus (Nimicens. Sil.) 2. Oratione Latinâ: Samuel Scholtz (Leorinus Sil.) 3. Epilogus, pro attentione gratiam habens, petensque, ut â meri- die horâ primâ iterum compareant Auditores: Fridericus Voll- gnadt (Vratislav. Sil.) II. Pomeridianis: 1. Prologus benevolam aurium operam orans: Philippus Jacobus Sachs (Vratisl.) 2. Lugentes 1. Oratione Latinâ: Marcus Queißer (Bolesl. Sil.) 2. Carmine 1. Latino: Caspar Kirchnerus (Bolesl. Sil.) 2. Germanico: Christianus Calixtus (Vratisl.) 3. Consolantes 1. Oratione Latinâ: Samuel Hartmann (Wolav. Sil.) 2. Carmine Germanico: Andreas Scholtz (Bolesl. Sil.) 4. Epilogus: Gratias pro attentione aget: Johann Tilgnerus (Vrat.)

Die Vortragenden waren Schüler, die namentlich genannt wurden, und die vielleicht auch einen Teil der Texte, mindestens die Carmina, ver- faßt hatten. Die lateinische Rede auf Opitz scheint Marcus Queißer verlesen zu haben, der bezeichnenderweise aus Bunzlau stammte.

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Im ganzen: ein Festakt, der gelegentlich und einmalig blieb und von dem sich wohl nichts weiter erhalten hat als Colers Rede auf Opitz, die aber erst später in den Druck gelangte. Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass das Okkasionelle durchaus auch geschichtlich-mentalitätsgebunden ist, wenn es in späteren Zei- ten historisch betrachtet wird. Die Oratorik ist ein interessantes Feld hierfür, auch in der modernen Gestalt der Festtagungen zu Dichtern, Politikern, denkwürdigen Wissenschaftlern. Die Analyse solcher ‘Gelegenheitsfeiern’ verrät weitgehend die Mentalitäten, die zeitge- bunden dahinter stehen. Man untersuche die Goethe-Feier-Reden zum Jahre 1949 aus Ost und West und man wird überrascht sein, was alles zu diesem Datum abgeladen wurde.

* * *

Fassen wir die einzelnen Beobachtungen an den Texten zusammen, so zeigt sich Folgendes: Zentraler Befund ist die Einmaligkeit der Gelegenheit, die Okka- sion, der einmalige Anlass: Geburtstag, Einweihung, Krönung, ge- schäftliches Ereignis wie ein Friedensabkommen, eine Erinnerungsfei- er usw. Die zur Feier erstellten Texte beziehen sich auf einen intimen Kreis, sei das Familie, Freundschaft, Hof, Kirche, Schule bzw. Aka- demie; eine spektakuläre Publizität ist nicht erstrebt; meist bleiben diese Texte zu ihrer Funktionszeit in der Handschrift, seltener im Pri- vatdruck; wenn sie später gedruckt werden sollten, geschieht das im Sinne eines historiographischen Dokuments. Dieses kann in sprach- künstlerischer Hinsicht hochrangig oder minderwertig sein – je nach der intellektuellen Befähigung des Produzenten. Die betrachteten Dramentexte waren alle auf ihre Weise zu ihrer Zeit qualitätvolle lite- rarische Leistungen. Der Focus-Effekt des Textes bringt jeweils An- lass und Thema auf den Punkt: der gute Imperator, der absolute Reli- gionsanspruch, die interne Friedensfeier, die Celebration imperialer Erhabenheit, die Genius-Feier. In jedem Fall gibt es Laudationes statt exemplarischer Nutzlehre. Eine anwendbare allgemeine Didaxe ist nicht gegeben, so dass die für die Zeit verbindliche allgemeine An- wendbarkeit sehr eingeschränkt ist und bestenfalls über eine Art Por- trait-Funktion erreicht werden kann. Alle Gelegenheitstexte zeichnen sich durch individuelle Wertungen aus und sind punktuell, regional und sozial begrenzt.

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Was das Theater betrifft, so haben wir es bei dieser Art von Texten mit einer Präsentatio von Laudationen von Personen bzw. Ideen zu tun und nicht mit wiederholbaren Repräsentationen lehr- und lernbarer politisch-moralischer Aussagen über exemplarische Vorgänge. Letztlich ist das Okkasionelle in der Literatur ein Phänomen, das geeignet ist, uns Besonderheiten des ad hoc im Fluss des Geschicht- lichen zu zeigen. Denn was bewusst unter dem Stempel des Okkasio- nellen geschaffen wird, ist für Tag und Stunde gedacht, nicht für die Beeinflussung der Geschichte bzw. der Weltläufte. Idee und Form dieser einmaligen Texte werden im Handumdrehen Dokument der Hi- storie, sozusagen als ein erstarrtes Stück Geschichte. Das wirft die Frage auf: gibt es eine Differenz zwischen dieser präsentativen Litera- tur und ihrer didaktischen Kontrahentin? Einerseits sind es Dokumen- te des Soseins, andererseits Exempel des Lehrens und Lernens. Auffällig an den betrachteten Texten ist, dass der literarisch existenten Feier keine humane Existenzproblematik anhaftet; sie sind präsente Festkultur des Tages und werden im Rückblick aus der Zu- kunft vergessen und nicht als denkweisende Memoriale empfunden: Avancinis Pietas Victrix ist feierliches Fazit einer jahrhundertealten politischen Machtdemonstration – im Vergleich dazu ist Gryphius’ Carolus Stuardus ein immer gültiges Gleichnis über das Menetekel der Herrscherkaste. So stehen sich einerseits ‘Feier’ und andererseits ‘Mahnung an die Menschheit’ gegenüber. Die Frage bei diesem men- talen Kontrast ist, ob sich darin ein literarischer, ästhetischer, ethischer Qualitätsunterschied zwischen dem Sprachkunstwerk, veranlasst aus der Gelegenheit, und dem Sprachkunstwerk, veranlasst aus ethisch-di- daktischem Mahnungsbewusstsein, äußert. Ist nicht vielmehr das Ter- tium comparationis die Qualität des sprachkünstlerischen, wirkungsäs- thetischen Einsatzes in der Gestaltung des Feier- oder Mahnungsanlas- ses? Sie kann in jedem Falle miserabel und ebenso in jedem Falle vor- züglich sein. Viele wollen den Pegasus reiten und fallen schon vor dem ersten Hindernis aus dem Sattel – der poetische Könner reitet ihn in jedem Fall zum Ziel, wissend um den genauen Parcours zum Ziel des Feierlichen oder Moralisch-Mahnenden. Weder die ‘Gelegenheit’ noch der Anspruch auf ‘Ewigkeit’ bestimmen die Qualität, sondern die poetische Gestaltungskraft, die für die eine Art der Darstellung genauso nötig ist wie für die andere, wenn’s ‘was’ sein soll. Seriosität und Miserabilität dichterischer Produktionen hielten sich sicherlich die Waage, wenn man sie auswiegen könnte. Auch wenn – wie in der

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Frühen Neuzeit – gewisse poetisch zu verklärende Anlässe zum Kul- turmarkt und zum Kulturgehabe der Gesellschaft gehörten, sind doch diese Produkte nach ästhetischen Kriterien der Zeit beurteilbar und demnach zu loben oder zu tadeln, zu affirmieren und als kultureller Ausdruck der Zeit zu tradieren, oder unbeachtet zu lassen. Die Aufgabe der Literaturwissenschaft, die Existenz- und Wer- tungskriterien für die eine wie für die andere Art aufgrund ihrer ziel- gerichteten Funktionen zu eruieren, ist immer noch nicht erfüllt, ge- schweige denn abgeschlossen.

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J ö r g J u n g m a y r

BARTHOLOMÄUS ANDREADES UND SEINE BESCHREIBUNG DES HEILIGEN GRABES IN GÖRLITZ

Wer sich heute ein anschauliches Bild von der historisch gewachsenen Stadtkultur Schlesiens machen will, der wird im gegenwärtigen Schle- sien zwar auf eine beeindruckende Fülle von Einzeldenkmalen stoßen, die Wunden aber und Narben, die der 2. Weltkrieg und die Nach- kriegszeit hinterlassen haben, sind so groß, dass sich kaum mehr der Eindruck eines geschlossenen Stadtganzen einstellen will. Unterwegs auf der Suche nach der verlorenen Zeit findet man dann doch noch sein Ziel, eine schlesische Stadt in ihrer architektonischen Unver- sehrtheit, wenn man nach Görlitz kommt, einen Ort, der das Konti- nuum seiner Geschichte durch eine einzigartige Bausubstanz, die vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert reicht, dokumentieren kann.1 Das an säkularen wie sakralen Kunstdenkmalen so reiche Görlitz weist eine Kuriosität auf, mit der sich eine ganz besondere Geschichte verbindet: ein aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert stam- mendes Bauensemble, das westlich außerhalb des altstädtischen Mau- errings auf einer Anhöhe gelegen ist und das die Kalvarienstätten in Jerusalem nachbildet und diese in die städtische Topographie implan- tiert.2 Das Ensemble liegt in einem Garten und besteht aus der

1 Zur historischen Topographie und Kunstgeschichte der Stadt Görlitz vgl. vor al- lem: Richard Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz. 1,2: Topographie der Stadt Görlitz, umfassend die Teillieferungen 7-12 und Register. Mit zahlr. Abb. und 2 Karten. Görlitz 1927-1934. – Reprint mit einem Vorwort von Ernst-Heinz Lem- per. Görlitz 1996; Ernst-Heinz Lemper: Görlitz. Eine historische Topographie. Görlitz [u.a.] 2001. 2 Zum Hl. Grab in Görlitz S. Gustaf Dalman: Das Heilige Grab in Görlitz und sein Verhältnis zum Original in Jerusalem. In: Neues Lausitzisches Magazin 91 (1915), S. 198-244, Taf. I-IX; 92 (1916), S. 211-214. – Reprint des Sonderdrucks aus dem Neuen Lausitzischen Magazin 91 Görlitz 1991; Ernst-Heinz Lemper: Kreuzkapelle und Hl. Grab Görlitz. 1. Aufl. München [u.a.] 1992. 2., neu bearb. Aufl. München [u.a.] 2004; Michael Rüdiger: Nachbauten des Heiligen Grabes in

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Kreuzkapelle, dem Salbhaus und der Kopie des Heiligen Grabes in der Gestalt, wie sie sich von 1099 bis 1555 dem Pilger dargeboten hat. Die Pläne für die Kreuzkapelle reichen bis in die Jahre 1464/65 zu- rück. 1481 wird mit dem Bau begonnen, der sich bis 1504 hinzieht; die Baumeister kommen aus der Bauhütte der Görlitzer Peter- und Paulskirche. Bei dem Bau handelt es sich um eine spätgotische Dop- pelkapelle, die aus der unteren Adamskapelle und der oberen Golga- thakapelle besteht – die niedrige Unterkapelle wird deswegen als Adamskapelle bezeichnet, weil sich der Legende nach das Kreuz Christi über dem Grab Adams erhob. Hinter dem Altar an der Ost- wand der Adamskapelle ist ein künstlicher Riss in der Wand ange- bracht, der auf Mt 27, 51/52 hinweist: “Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke, von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen […].” Die Ostseite der lichten Oberkapelle durchzieht ein Podest, in das die Pfostenlöcher für die drei Kreuze von Golgatha eingelassen sind. In der linken, südöstlichen Ecke erhebt sich über dem Pfostenloch für das Kreuz des unbußferti- gen Schächers ein Altartisch; mit dieser Anordnung wird das Erlö- sungswerk Christi versinnbildlicht. In der Mitte des Podestes befindet sich rechts neben der mit INRI bezeichneten mittleren Kreuzesstelle eine Rinne, eine piscina, die ihrerseits mit dem Mauerriss in der Un- terkapelle verbunden ist; in ihr soll symbolisch das vergossene Blut Christi aufgesammelt werden. Eine Inschrift in der Wand über der rechten Kreuzesstelle, die an den bußfertigen Schächer erinnert, zitiert die Worte Jesu aus Lk 23, 43: “Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.” Zum Abhängigkeitscharakter der Adams- und Golgathakapelle von ihrem Vorbild in Jerusalem bemerkt Ernst-Heinz Lemper:

Die Identität von Raumform, Detailgestalt und absoluten Maßen lag[en] nicht im Programm einer solchen Nachbildung, wohl aber die Gleich- rangigkeit der Bedeutungsträger. Der Felsspalt, der in Jerusalem im Boden

Jerusalem in der Zeit von Gegenreformation und Barock. Ein Beitrag zur Kultge- schichte architektonischer Devotionalkopien. Regensburg 2003; Till Meinert: Die Heilig-Grab-Anlage in Görlitz. Architektur und Geschichte eines spätmittelalter- lichen Bauensembles. Esens 2004; Lausitzer Jerusalem. 500 Jahre Heiliges Grab zu Görlitz. Begleitpublikation zur Ausstellung im Kulturhistorischen Museum Görlitz, Barockhaus, vom 10. Sept. bis 23. Januar 2005. Hrsg. v. Ines Anders und Marius Winzeler. Görlitz u.a. 2005 (= Schriftenreihe der Städtischen Sammlun- gen für Geschichte und Kultur N.F. 38).

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liegt, wird in der Adamskapelle zum senkrechten Mauerriß und Symbol für den zerrissenen Tempelvorhang. In Görlitz wie in Jerusalem sind das Übereinander beider Kapellen, die nördliche Treppenanlage und ihre Ab- winkelung der oberen Stufen sowie die Erhöhung mit den drei Standorten der Kreuze, die Blutrinne […] und die Eckstellung des Altars der Kalva- rien- oder Golgathakapelle festzustellen.3

Zwischen Kreuzkapelle und Hl. Grab steht das sog. Salbhaus, das sich in einem Flachbogen hin zur Nordseite der Kreuzkapelle öffnet und in seinem nischenförmigen Inneren eine spätgotische Pietà aufnimmt. Der Abstand zwischen Kreuzkapelle und Salbhaus ist derselbe wie der zwischen Kalvarienkapelle und Salbstein in Jerusalem. In der nord- westlichen Ecke des Gartens erhebt sich, wiederum in den Abstands- messungen des Jerusalemer Vorbilds, der architektonisch interessante- ste Teil des Ensembles, die Kopie der Grabeskapelle in Jerusalem in ihrer mittelalterlichen Gestalt. Die Görlitzer Kopie ist mit Ausnahme des östlichen Eingangs in orientalischen Rundbogenformen gehalten und wird von einem von sechs Säulen getragenen Kuppelaufsatz be- krönt. Über einen von einem Kreuzgratgewölbe überdeckten Vorraum gelangt man zu einer Tür, die so niedrig gehalten ist, dass man durch sie nur auf Knien in die eigentliche Grabkammer gelangen kann. Bei der architektonischen Umsetzung des Vorbilds konnte der Baumeister auf die um 1500 in Holzschnitten weit verbreitete Darstellung des Grabes Christi zurückgreifen, wie sie sich etwa in Bernhard von Breydenbachs Peregrinatio4 oder in Konrad von Grünembergs Pilger- fahrt5 findet. Die Geschichte des Görlitzer Kalvarienkomplexes ist mit einem handfesten Skandal verbunden, der sich bald zu erbitterten Fraktions- kämpfen ausweiten und die Stadt in eine tiefe Krise stürzen sollte. Georg Emerich,6 der Spross einer angesehenen Patrizier- und Groß-

3 Lemper: Kreuzkapelle (s. Anm. 2), S. 9 f. 4 Bernhard von Breydenbach: Die Reise ins Heilige Land. Ein Reisebericht aus dem Jahre 1483. Mit 17 Holzschnitten, 5 Faltkarten und 6 Textseiten in Faksi- mile. Übertragung und Nachwort von Elisabeth Geck. Wiesbaden 1977, S. 21. Außerdem Lausitzer Jerusalem (s. Anm. 2), S. 15. 5 Meinert (s. Anm. 2), S. 278. Außerdem Lausitzer Jerusalem (s. Anm. 2), S. 15. 6 Zu Georg Emerich, zu seiner politischen Position in Görlitz und zu seiner Rolle als angeblicher Stifter des Hl. Grabes in Görlitz S. Richard Jecht: Urkundliche Nachrichten über Georg Emerich. In: Neues Lausitzisches Magazin 68 (1892), S. 85-164, Beilagen, Tafel I-V. Außerdem: Till Meinert: Der Görlitzer Bürger- meister Georg Emmerich – Stifter und Initiator der Anlage? In: Meinert (s.

Chloe 43 176 Jörg Jungmayr handelsfamilie, hatte am Pfingstsonntag 1464 Benigna, die Tochter des Ratsherrn Nikolaus Herschel “in camera supra cistam in domo patris” – es handelt sich hierbei um das Haus zum Goldenen Baum, Untermarkt 4 – vergewaltigt.7 Nikolaus Herschel und sein Schwager Martin Lauterbach forderten die Eheschließung (“gelobde unde ee”) um die Ehre seiner Tochter wieder herzustellen, und strengten zu die- sem Zweck ein Gerichtsverfahren an. Emerich behauptete zunächst, nicht das Gericht von Görlitz, sondern das Leipziger Universitätsge- richt sei für ihn zuständig, dann entzog er sich der zunehmend eska- lierenden Situation durch eine Pilgerreise ins Hl. Land. Am 11. Juli 1465 ließ er sich zum Ritter des Hl. Grabes schlagen,8 wodurch er volle Absolution erlangte und nicht mehr von dem bischöflichen Ge- richt in Bautzen, das für die Entehrung einer Jungfrau zuständig gewe- sen wäre, belangt werden konnte.9

Anm. 2), S. 211-229; ders.: Der Bürgermeister Georg Emmerich und das Heilige Grab. In: Lausitzer Jerusalem (s. Anm. 2), S. 17-19, vgl. auch S. 19-21. 7 Bartholomaeus Scultetus: “Benigna Hurschel viciata [geschändet] ab Emerico anno 1464. May 20. Sontag. Pentecostes. in camera. supra cistam. Post facta uxor Balthasar Salfeldter.” Zitiert bei Gustav Köhler: Magister Bartholomeus Sculte- tus gesammelte Nachrichten über die Pulververschwörung in Görlitz. In: Neues Lausitzisches Magazin 35 (1859), S. 333-336, hier S. 333. So übernommen von Sebastian Francke in seiner ‘Genealogia civium Gorlicensium’. Zitiert bei [Gus- tav] K[öhler]: Lausitzische Miscellen. In: Neues Lausitzisches Magazin 27 (1850), S. 234. Vgl. hierzu Jecht: Urkundliche Nachrichten (s. Anm. 6), S. 96. S. auch Sebastian Francke, ‘Historicae relationes’: “Intra celebritatem Pentecostes […] Benigna primum in domo patris stuprata [geschändet].” Zitiert bei Jecht: Ur- kundliche Nachrichten (s. Anm. 6), S. 96. 8 Bartholomaeus Scultetus: “Anno 1465. Julii 11. Georg Emerich vber dem heil. Grabe zu Jerusalem zu Ritter geschlagen.” Zitiert bei Köhler: Bartholomeus Scultetus (s. Anm. 7), S. 333. 9 Jecht: Urkundliche Nachrichten (s. Anm. 6) zitiert in diesem Zusammenhang eine in dem ‘Diarium’ des Görlitzer Stadtschreibers und Bürgermeisters Johannes Frauenburg überlieferte Urkunde, die deutlich macht, dass sich Emerich der Gör- litzer Jurisdiktion und damit seiner möglichen Verurteilung mit allen rechtlichen Finten zu entziehen suchte. Der Rat verpflichtete die gegnerischen Parteien, sich bis zur Hauptverhandlung friedlich zu verhalten, um so die zunehmend eskalie- rende Situation zu entschärfen: “Georgius Emmerich ist vorburgit von dem rathe dorumbe, das er eyne citacio hoth ussgebrocht von dem subconszervatore der pri- vilegien der studenten zen Lipczk widder [Martin] Luterbach unde [Nikolaus] Horsel, das er sulche citacio solle abethun, unde hoth er der sachen halben etwas widder dy gnanten burger, das er sy nyndert anders wo hyn zchiehn unde muen sall, sunder der sachen halben zcu usstrage komen vor den gerichten, dor sy ingehoren, unde ouch gein den gnanten widderpart fredlich unde beschedenlich

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Nun standen beide Familien in unterschiedlichen politischen La- gern: die Herschels waren Anhänger des böhmischen Königs Georg Podiebrad, während die Emerichs mit dem ungarischen König Matt- hias Corvinus sympathisierten, der dynastische Ansprüche auf Böh- men, Mähren, Schlesien und die Lausitz erhob.10 Die Stadt Görlitz hatte zwar Georg Podiebrad den Treueid geleistet, aber seine Anhän- ger drohten in einen Konflikt mit der römischen Kirche hineingezogen zu werden, denn der böhmische König war Utraquist, d.h. ein gemä- ßigter Hussit, der Ende 1466 von Paul II. exkommuniziert wurde. Die Parteigänger des ungarischen Königs, der 1469 die Herrschaft über Böhmen erringen sollte, standen dagegen auf der Gewinnerseite, und zwar nicht nur deswegen, weil Matthias Corvinus katholisch war, sondern auch deswegen, weil er seine Anhänger mit der Erschließung neuer Handelsräume an sich binden konnte. In der sog. Pulververschwörung von 1466 wollten die Anhänger Podiebrads den Abfall der Stadt von der böhmischen Krone unterbin- den, die Verschwörung wurde jedoch entdeckt, und ihre Anhänger wurden 1468, nachdem sich der Rat der Stadt am 8. Juni 1467 offiziell vom böhmischen König losgesagt hatte, in einem blutigen Prozess ab- geurteilt. Nikolaus Herschel kam zwar mit dem Leben davon, wurde aber zu einer “schlimmen Bestrickung”, d.h. zu einer Haftstrafe ver- urteilt.11 Damit war er gesellschaftlich erledigt, während die gegneri-

halden mit worten unde werken bisz zcu der houptsache ustrage. Sunder will der dy houptsache anlangende gelobde unde ee vornehmen, wirt er, sint dem mol dy sache geystlich ist, seynen richter wol finden. Do vor haben gelobt N. Rose, N. Munczer, Urban Emmerich der junger und Wenzcel Emmerich [die Brüder Georgs]. Desz glich sunt vorburget Luterbach unde Niclasz Horsel, das sy esz weder fredlich und beschedenlich mit worten unde werken halden wellen, bys sy mit Jorgen zcu ausstrage der houptsachen komen. Sunder dy hauptsache, dy ee unde gelobde anlangende, mogen sy vornehmen, wor sihe iren richten irkennen. Dovor haben geloubet N. Karlewicz, N. Spisz, Peter Haupt, N. Hofeman. Actum anno domini etc. 65 feria quarta proxima post festum conceptionis beate virginis [11. Dezember], sedente consilio” (Jecht: Nachrichten, S. 96). 10 Zur Geschichte der Stadt Görlitz unter Georg Podiebrad und Matthias Corvinus vgl. Richard Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz. 1,1: Allgemeine Geschichte der Stadt Görlitz im Mittelalter. Görlitz 1926, S. 194-240. Außerdem: Lemper: Kreuzkapelle (s. Anm. 2), S. 4-5; Joachim Bahlcke: Der verhinderte Unionsstaat. Der böhmische Länderverband des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit aus der Sicht des Markgraftums Oberlausitz. In: Die Oberlausitz und Sachsen in Mitteleuropa. Festschrift zum 75. Geburtstag von Karlheinz Blaschke. Hrsg. von Martin Schmidt. Görlitz u.a. 2003, S. 11-28. 11 Jecht: Geschichte der Stadt Görlitz (s. Anm. 10), S. 200 f.

Chloe 43 178 Jörg Jungmayr sche Familie Emerich gestärkt aus dem Konflikt hervorging und ihre innerstädtische Machtposition beträchtlich ausbauen konnte. Die Ver- gewaltigung Benigna Herschels war unter diesen Umständen kein Thema mehr, und Georg Emerich wurde bereits am 28. September 1470 zum Ratsherrn gekürt.12 In der Folgezeit bemühte sich die Fami- lie Emerich, in der Öffentlichkeit das Bild von Georg als dem Spiritus Rector und Stifter der Grabkapelle zu verbreiten, obwohl sich dessen Beteiligung am Bau urkundlich gar nicht belegen lässt – der ur- sprüngliche Skandal wurde zu einer großherzigen Stiftung Georgs umgelogen. Der familiengeschichtliche Mythos vom frommen Pilgersmann, der sich eigens einen Werkmeister engagiert, um mit diesem ein zweites Mal nach Jerusalem zu reisen – in Wirklichkeit hat eine zweite Pilgerfahrt Georgs nie stattgefunden – und an der Origi- nalstätte einen Bauplan für die Görlitzer Kopie zu erstellen, nimmt hier ihren Anfang. In der Emerichschen Familienchronik aus dem Jahr 1612 wird diese Legende folgendermaßen erzählt:

Georg zog 1476 das zweite Mal nach Jerusalem mit einem Werkmeister und anderen Gefährten und hat das Moster vom heiligen Grabe, allda er alles wohl hat abmessen lassen, mit sich genommen, […] Solches habe ich [Hans Emrich, der Urenkel Georgs] von meinem seligen Vater Hansen Em- rich etliche Male gehöret, der es meinem Bruder und mir erzählet und ge- saget, er hätte es von seinem Vater als meinem Großvater oftmals gehöret, der es also seinen Kindern vermeldet, und er mein Grossvater hätte es seine älteren Brüder viel und oft hören gedenken.13

Die Reformation kam der Etablierung der familiengeschichtlichen Le- gende sehr entgegen – die Baulichkeiten des Heilig-Grab-Komplexes wurden der ursprünglichen kultischen Nutzung entzogen und konnten dadurch in ein Mausoleum für Georg Emerich umgewandelt werden, das die Familie als ihr persönliches Eigentum reklamierte. 1578 ließen die Emerichs das Dach und Dachreiter der Kreuzkapelle restaurieren14 und über der Kreuzigungsstelle Christi in der Oberkapelle ein bemal-

12 Jecht: Urkundliche Nachrichten (s. Anm. 6), S. 108. 13 Jecht: Urkundliche Nachrichten (s. Anm. 6), S. 105 f. 14 Meinert: Heilig-Grab-Anlage (s. Anm. 2), S. 126. Wahrscheinlich war die Fami- lie Emerich bereits an den Erneuerungsarbeiten an den Fenstern von 1569 betei- ligt; vgl. hierzu Meinert, S. 222.

Chloe 43 Bartholomäus Andreades 179 tes Sandsteinepitaph mit deutscher Inschrift für den Ahnherrn Georg gleichsam mit der sakralen Funktion eines Altars anbringen.15 Erst im Anschluss an Dalmans Publikation über das Heilige Grab von 1915 wurde dieses Epitaph in die Unterkapelle versetzt; an seiner ursprünglichen Stelle befindet sich heute ein Kruzifix. Ebenfalls von 1578 stammt die Gedenktafel mit zwei lateinischen Inschriften auf Georg Emerich, die sich noch heute an der Westseite der Oberkapelle befindet.16 Die obere der Inschriften enthält ein in Distichen gehalte- nes Virtus-Gedicht mit knapper Sentenz, die untere einen kurzen Pro- sabericht über Georgs Jerusalemfahrt “cum opifice et duobus eum sequentibus comitibus” und den danach von ihm durchgeführten Bau der Görlitzer Grabkapelle.17 Bemerkenswert ist, wie in den oberen Distichen die historische Realität einfach umgedreht wird: war es in Wirklichkeit Georg Emerich, der auf Grund eines Sexualverbrechens aus Görlitz fliehen musste, so sind es in den Distichen die Sirenen – die Sirene ist das Wappentier der Familie Emerich –, vor deren wol- lüstigem Lotterleben Emerich ins Hl. Land flieht, um sie nach seiner Rückkehr zu besiegen und zu domestizieren:

Sirenum instar habent ignvo perdita luxu, Lustra, domus, silvae, rura, popna, Venus: Quae fugiens Emerice, cum trabe caerula sulcas, Multa solo passus, multa pericla salo. […] Sic geminas tendes palmas passoque capillo, victam se Siren sub tua rura dedit.

[Nach Art der Sirenen verursachen durch unsinnigen Aufwand Verderben: | Bordelle, Häuser, Wälder, Ländereien, Kneipen und Venus, | Welchen du fliehst, Emmerich, und auf gehöhltem Balken das Blaue durchpflügst: | Viel auf dem festen Boden erlitten hast, viele Gefahren auf dem Salzigen, | […] | So streckt die Sirene beide Hände aus bei offenem Haar, | So begibt sie sich besiegt unter deine Ländereien.18]

15 Text der deutschen Inschrift abgedruckt bei Meinert (s. Anm. 2), S. 127 f. 16 Text der beiden lateinischen Inschriften, die wahrscheinlich auf Bartholomaeus Scultetus zurückgehen, abgedruckt bei Meinert (s. Anm. 2), S. 128 f. 17 Die deutsche Übersetzung des unteren Prosatextes findet sich auf dem Epitaph, das sich heute in der Unterkapelle befindet (vgl. Anm. 15). 18 Deutsche Übersetzung von Meinert (s. Anm. 2), S. 129. Der Text der oberen lateinischen Inschriften mit deutscher Übersetzung findet sich auch im Internet: http://12koerbe.de/arche/grab-l.htm. Uma und Hans Zimmermann, Görlitz: Quel-

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In den Kontext von Etablierung und Propagierung eines familienge- schichtlichen Mythos, der dazu dient, die Spuren eines früheren Ver- brechens zu verwischen, gehört auch das 1569 in Görlitz bei Ambro- sius Fritsch gedruckte Cenotaphium Salvatoris […] quod visitur Gor- licii […] excitatum cura & impensis summi viri Georgii Emrich, also: “Das Grab des Erlösers in Görlitz, das auf Veranlassung und auf Kosten des Georg Emerich errichtet wurde”, was, wie wir wissen, den historischen Tatsachen keineswegs entspricht.19 Als Verfasser des zehn Blätter umfassenden Werkleins nennt sich Bartholomäus Andreades, über den nur wenig bekannt ist.20 Andreades wurde in Schweidnitz geboren und immatrikulierte sich als “Bartholomaeus Andreas Schwitznicensis” 1558 an der Viadrina in Frankfurt an der Oder. 1567 amtierte er als Lehrer am neuerrichteten Gymnasium in Görlitz, 1570 ist er als Rektor in Striegau nachweisbar, weitere Lebensdaten konnten bisher nicht ermittelt werden. Das Œuvre des Andreades umfasst nur wenige Titel. Im gleichen Jahr wie das Cenotaphium hat er eine Elegie auf den Märtyrer Polykarp Vita et martyrium D. Polycarpi veröffentlicht. Die Vita ist zum einen ein Bei- spiel für die Beschäftigung des Protestantismus mit Leben und Werk frühchristlicher Märtyrer, die als Vorläufer von Hus und Wiclef ge- deutet werden. Zum andern dokumentiert sie die konfessionelle Ko-

len zum Weltbild des Mittelalters. Heiliges Grab in Görlitz. Lateinische Inschrif- ten in der Kapelle Zum Heiligen Kreuz. 19 Cenotaphium Salvatoris D. Nostri Iesv Christi Qvod Visitvr Gorlicii Ad Instar Hierosolymitani, excitatum cura & impensis summi viri Georgii Emrich eiusdem vrbis quondam Consulis. In Honorem ClarissiMae Et Honestissimae Familiæ Emericorvm, Descriptum A Bartholomæo Andreadæ. Silesio S. Gorlicii excudebat Ambrosius Fritsch. Anno M.D.LXIX. Zitiert wird im Folgenden nach dem Exemplar 11 in: Xc 566R der Staatsbibliothek zu Berlin. Zu den weiteren Beschreibungen des Heiligen Grabes in Görlitz vom 16.-19. Jahrhundert vgl. Meinert (s. Anm. 2), S. 123-141. Vgl. außerdem: Arwed Arnulf: Mittelalterliche Beschreibungen der Grabeskirche in Jerusalem. Stuttgart 1998 (= Colloquia academica. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz: G, Geistes- wissenschaften, 1997); ders.: Architektur- und Kunstbeschreibungen von der Antike bis zum 16. Jahrhundert. München u.a. 2004 (= Kunstwissenschaftliche Studien 110). S. 137-214: Beschreibungen der Grabeskirche in Jerusalem. 20 Zu Andreades S. Jörg Jungmayr, Ernst-Heinz-Lemper: Andreades, Bartholomae- us (Andreas). In: Die Deutsche Literatur. Biographisches und bibliographisches Lexikon. Hrsg. von Hans-Gert Roloff. Reihe II: Die Deutsche Literatur zwischen 1450 und 1620. Abt. A: Autorenlexikon. Band 2. Lieferung 6-10. Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. 684-688; Meinert (s. Anm. 2), S. 121-123.

Chloe 43 Bartholomäus Andreades 181 existenz in Schlesien: Andreades hat die Elegie dem Abt des Augusti- ner-Chorherrenstifts in Sagan, Franz II. Kratzer, gewidmet. 1570/71 gab Andreades die Gedichte des ebenfalls aus Schweidnitz stammen- den Arztes Johannes Bartholomaeus heraus. Doch zurück zum Cenotaphium. In der Vorrede, die er an den En- kel Georg Emerichs, Hans, und dessen beide Söhne richtet, legt der Verfasser die Grundpositionen dar, von denen aus er die Beschreibung des Hl. Grabes in Görlitz angeht: er will nicht den Aberglauben der früheren Zeit, sprich des Katholizismus, weiterverbreiten, auf der an- deren Seite auch nicht der “prophanitas” der Jetztzeit das Wort reden. Das Görlitzer Grab ist Abbild desjenigen Monuments, das die Apostel beschrieben haben, und verdient deswegen eine eingehende Darstel- lung. Mit dem Zitat aus dem 3. Buch der Aeneis “Sollennes cum forte dapes [Opfermahl] et tristia dona, Ante vrbem etc.”21 – es handelt sich um die Stelle, in der Vergil beschreibt, wie Aeneas auf seinen Irrfahr- ten an der Küste bei Buthrotum landet und auf Andromache stößt, die früh die Stadt verlassen hat, um am nachgebauten Grabhügel Hektors zu opfern – weitet der Autor den Bezugsrahmen auf die Form- und Bildsprache der Klassischen Antike aus. Dieses Vorgehen greift Andreades in der Exposition des in elegischen Distichen gehaltenen Gedichts wieder auf: die Grabstätte Christi kann ohne die Unterstüt- zung der Musen und Apolls gar nicht adäquat beschrieben werden:

Bvsta Redemptoris Chriti, felicia Buta, Æmula ed tantum fictaque, Buta cano. […] Nonne reus Muis Phœboque tenebitur ille, Condere quem pigeat veribus ita uis?22

Deswegen der Musenanruf, ihm bei seinem Vorhaben behilflich zu sein:

Ergo age Mua precor mecum hunc decurre laborem, Quæque iubet pietas carmina ferre, feras.23

21 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. A2v. 22 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. A3r. 23 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. A3r.

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Der zweigipflige Hügel in Görlitz, auf dem sich der Heilig-Grab- Komplex erhebt, ist nicht nur die Sterbestätte Christi, sondern gleich- zeitig auch der Parnass, der Sitz der Musen – auch der Parnass ist ein zweigipfliger Berg:

Vrbs et Parnai bìfido [bìfidus = in 2 Teile gespalten] contermina cliuo, Gorlicium Slauis nomine dicta viris.24

Andreades entleert die Görlitzer Stadtlandschaft von ihren konkreten historischen Bezügen, um in dieses Vakuum einen doppelt veranker- ten Mythos implantieren zu können. Christliche Allegorese sowie an- tik-mythologische Gewandung haben die Funktion, von der eigentli- chen Entstehungsgeschichte abzulenken bzw. diese zu verdrängen. Die Versdichtung, die von einem Sinnspruch von Peter Vietz auf das Emerich’sche Sirenenwappen25 und der bereits erwähnten Wid- mungsvorrede eingeleitet wird, gliedert sich in 3 Teile: 1.) Baubeschreibung der Grabkapelle mit Dachtempietto, den Ab- schrankungssteinen, die den Eingang flankieren und dem Verschluss- stein der Grabestür, des weiteren der Hl. Kreuz-Doppelkapelle mit ih- rer symbolträchtigen Ausstattung – so wird etwa der Altar der Unter- kapelle als Geldkasten des Hohen Priesters gedeutet, aus dem Judas seinen Lohn empfing – und des Salbhauses. Außerdem werden die to- pographischen Verhältnisse der Jerusalemer Kalvarienstätten auf die Görlitzer Stadtlandschaft übertragen.26 2.) Encomion auf Georg Emerich, der wie ein römischer Konsul sein Privatleben zugunsten des öffentlichen Wohls zurückstellt, und Bericht über dessen in Wirklichkeit nie erfolgte zweite Pilgerfahrt, die er im fortgeschrittenen Alter antritt (“penè senex actis melioribus an- nis”) und die ihn über Venedig, Rhodos und Zypern nach Damaskus, Jaffa und Jerusalem führt.27 Dort befiehlt er dem Baumeister, der mit ihm gereist ist, das Heilige Grab abzuzeichnen und zu vermessen:

Dixerat: & ecum per mille pericula vecti Hæc iubet artificis pingier [alte Infinitiv Passivform] arte viri,

24 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. A3r. 25 Jn Insignia Honoratissimæ Familiæ Emericorum quæ est Gorlicij (Bl. A1v). 26 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. A3r-A5v. 27 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. A5v-B1v.

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Jnsuper et radijs [Zeichenstäbe] et dimetirier vlnis [Elle], Et decripta omni parte referre domum.28

3.) Geschichte des Hl. Grabes und der Kreuzauffindung durch Helena, endend mit einem Aufruf an die Nachkommen, sich des Vorfahren würdig zu erweisen.29 Den Abschluss des Ganzen bilden ein Lobspruch auf Andreades von seinem Kollegen Lorenz Ludwig30 sowie ein griechisches Epi- gramm von Christoph Manlius31 auf den nachfolgenden Holzschnitt, der ältesten Ansicht des Heilig-Grab-Komplexes.32 Die Publikation des Cenotaphium blieb nicht ohne Resonanz: Georg Fabricius verfasste 1567 ein Epigramm auf seinen Verfasser (“Gorlicium Christi sculpsit venerabile bustum; Andreades pictum carmine monstrat idem”), und noch die historisch-antiquarische For- schung des 18. Jahrhunderts griff auf Andreades’ Darstellung zurück. 1719 gab der Görlitzer Gymnasiallehrer Christian Gabriel Funcke das Cenotaphium mit deutsch-lateinischen Erläuterungen und Kupfersti- chen heraus,33 und im gleichen Jahr erschien der kommentierte Text in den Scriptores rerum Lusaticarum des Christian Gottfried Hoff- mann.34 Kasualpoesie lässt sich definieren als eine Gattungsform, die auf einen konkreten Anlass35 bezogen ist, dem sie unter den entsprechen-

28 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. B1r. 29 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. B1v-B3r. 30 Bartholomæo Andreadæ, Collegæ cariss. ingenio fideque præstanti S. 31 Jn picturam Cenotaphij Epigramma. 32 Cenotaphium (s. Anm. 19), Bl. Brv-B4r. 33 Sacrum D. Salvatoris Nostri Cenotaphium, […] Una Cum Descriptione Germani- ca, Simul Additionibus Qvibusdam Historicis Et Genealogicis Illustratum, […] Gorlicii: typis Michaelis et Jacobi Zipperiorum o.J. <1719>. Vgl. hierzu Meinert (s. Anm. 2), S. 131. Außerdem: Thilo Böhmer: Das Heilige Grab in Görlitz. Sei- ne Beschreibungen und Abbildungen in der Literatur des 16.-18. Jahrhunderts. In: Bibliotheksjournal der Christian-Weise-Bibliothek Zittau 1 (1998), S. 27-40. 34 Sacrum D. Salvatoris nostri Cenotaphium, […]. In: Christian Gottfried Hoff- mann: Sriptores Rerum Lusaticarum. Tom 1, pars 2. Lipsiae & Budissae: sumpt. Davidis Richteri, literis Andreae Zeidleri 1719, S. 115-125, 1 Kupferstich. 35 Vgl. hierzu Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hrsg. von Cornelius Sommer. Bibl. erg. Ausg. Stuttgart 1991 (= UB 8397), S. 16: “Es wird kein buch/ keine hochzeit/ kein begräbnuß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter. Mann will vns auff allen Schüsseln vnd kannen haben/ wir stehen an wänden vnd

Chloe 43 184 Jörg Jungmayr den Vorgaben aus Topik und Rhetorik einen öffentlich-repräsentati- ven Rahmen verleiht. Neben dem konkreten Anlass gibt es einen kon- kreten Auftraggeber, der gegen Bezahlung von einem Autor ein litera- risches Produkt erwirbt, das, wenn es die erforderlichen quantitativen und qualitativen Standards aufweist, dem Auftraggeber zu einem ge- sellschaftlichen Prestigegewinn verhilft. Im Fall des Cenotaphiums kennen wir den Auftraggeber – Hans Emerich und seine Söhne – ebenso wie den Verfasser, Bartholomäus Andreades. Der konkrete Anlass – die faktische Inbesitznahme des Heilig-Grab-Komplexes durch die Familie Emerich, wird aber hier verschleiert. Was im Gewande der Beschreibung einer touristischen Sehenswürdigkeit daherkommt, hat nicht die Aufgabe, den tatsächli- chen Zusammenhang zwischen dem Görlitzer Hl. Grab und der Pilger- fahrt des Ahnherrn Georg Emerich aufzuzeigen, vielmehr soll dieser Konnex durch die Installation eines familiengeschichtlichen Mythos prestigeträchtig umgedeutet werden.

steinen/ vnd wann einer ein Hauß ich weiß nicht wie an sich gebracht hat/ so sollen wir es mit vnsern Versen wieder redlich machen. Dieser begehret ein Lied auff eines andern Weib/ jenem hat von des nachbaren Magdt getrewmet/ einen andern hat die vermeinte Bulschafft ein mal freundlich angelacht/ oder/ wie die- ser Leut gebrauch ist/ viel mehr außgelacht; ja deß närrischen ansuchens ist kein ende. Mussen wir also entweder durch abschlagen jhre feindschafft erwarten/ oder durch willfahren den würden der Poesie einen mercklichen abbruch thun.” Im Widerspruch zu Opitzens abfälligen Bemerkungen zur Kasualpoesie muss im Fall des ‘Cenotaphiums’ allerdings festgehalten werden, dass dessen hochmanie- rierte Stillage keineswegs eine poetische Leistung minderer Klasse darstellt. Zur Kasualpoesie vgl. außerdem: Rudolf Drux: Casualpoesie. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hrsg. von Horst Albert Glaser. Band 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. Hrsg. von Harald Steinhagen. Reinbek b. Hamburg 1985, S. 408-417; Wulf Segebrecht: Gelegenheitsgedicht. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Klaus Weimar. Band 1. Berlin 1997, S. 688-691.

Chloe 43

R a l f G e o r g B o g n e r

ANDREAS TSCHERNING Konstruktionen von Autorschaft zwischen universitärem Amt, urbaner Öffentlichkeit und nationaler Literaturreform

Jeder Barockgermanist kennt ihn – und niemand kennt ihn wirklich. Jeder hat seinen Namen da und dort gelesen – und kaum einer einen seiner Texte. Die Germanistik tut ihn mit den abgeschmacktesten Werturteilen ab, z.B. wegen der Glätte, Flachheit und Konventionali- tät seines Werks, was auch immer genau damit gemeint sein mag.1 Die Rede ist von Andreas Tscherning. Berühmt geworden ist der Rostocker Poesieprofessor mit seinen beiden Gedichtsammlungen Deutscher Getichte Früling2 von 1642 und Vortrab Des Sommers Deutscher Getichte3 von 1655. Beide Kompilationen bilden auf den ersten Blick ein unüberschaubares, ungeordnetes Sammelsurium der unterschiedlichsten Texte, ein amorphes und inhomogenes Durchein- ander von poetisch, formal und thematisch vollkommen unzusammen- gehörigen lyrischen Gebilden.4 Gelegenheitscarmina zu Hochzeiten,

1 Vgl. z.B. Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes. Vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. Darmstadt 1959, S. 62; Helmut Henne: Hochsprache und Mundart im schlesischen Barock. Studien zum literarischen Wortschatz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Köln 1966, S. 36; Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Zur Einführung. Stuttgart 1979, S. 134; David G. Halsted: Andreas Tscherning. In: German Baroque Writers 1580-1660. Hrsg. v. James Hardin. Detroit u.a. 1996, S. 344-349, hier S. 348; Susanne Schulte: And- reas Tscherning. In: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, http:// www.bautz.de/bbkl/t/tscherning_a.shtml (17.10.2008). – Grundlegend für die Tscherning-Forschung ist nach wie vor: Hans Heinrich Borcherdt: Andreas Tscherning. Ein Beitrag zur Literatur- und Kultur-Geschichte des 17. Jahrhun- derts. München, Leipzig 1912. 2 Andreas Tscherning: Deutscher Getichte Früling. Breslau 1642. 3 Andreas Tscherning: Vortrab Des Sommers Deutscher Getichte. Rostock 1655. 4 Der vorliegende Beitrag fragt danach, welche Texte sich in den beiden Sammlun- gen zusammengestellt finden. Der Frage ihrer Anordnung innerhalb der Samm-

Chloe 43 186 Ralf Georg Bogner

Geburtstagen und Trauerfällen stehen neben Kriegs- oder Liebesge- dichten, Rollenlyrik – etwa sprechende Hände, Bäume oder Zwiebeln oder die selbst redende Melancholie – findet sich neben einem Lob des Weins, der Würdigung einer literarischen Neuerscheinung und ei- nem kleinen biblischen Drama. Keine der gängigen Kategorisierungen der Literaturwissenschaft bietet hier auf den ersten Blick ein geeigne- tes Werkzeug für die Beschreibung und Untersuchung dieser eigenar- tigen Kompilationen mit ihrer scheinbar wahllos zusammengewürfel- ten Fülle von Texten. Diesem heillosen Lektüreeindruck vermag der Blick in die For- schungsliteratur tatsächlich keine Abhilfe zu schaffen. Die vorliegen- den Studien charakterisieren die beiden Gedichtbände fast durchgän- gig als Sammlungen von mehr oder weniger zufällig entstandener Gelegenheitslyrik, die als Zeugnis entfremdeten Schreibens interpre- tiert wird. Tscherning habe demgemäß seine dichterische Kraft auf- grund eines vielfach unglücklich gebrochenen, außerordentlich schwierigen Lebenslaufes fast ausschließlich für eine anlassbedingte literarische Produktion verbrauchen müssen (zum Beispiel wegen der regelmäßig ausbleibenden Gehaltszahlungen an der Universität Ros- tock), statt seine Begabung wirklich auf dem eigentlichen Gebiete der Poesie – wie auch immer dasselbe zu denken wäre – entfalten zu kön- nen. Solche Einschätzungen stehen freilich in krassem Widerspruch zu den emphatischen Urteilen der Zeitgenossen über Tschernings beide Lyriksammlungen. Insbesondere Deutscher Getichte Früling zählt in den literarischen Diskussionen jener Jahre neben Martin Opitz’ Welt- lichen und Geistlichen Poemata, Paul Flemings Teutschen Poemata und Andreas Gryphius’ Deutschen Gedichten zu den ersten und pro- minentesten Gedichtbänden deutscher Zunge.5 Darauf verweisen auch die ästhetischen Urteile anderer Autoren, die sich – einer gängigen Praxis der Zeit folgend – Tschernings eigenen Versen sowohl im Frü- ling als auch im Vortrab vorangestellt finden. Autoritäten wie Martin

lungen wäre eine eigene Untersuchung zu widmen; sie kann hier nicht beant- wortet werden. 5 Vgl. exemplarisch die herausragende Bedeutung innerhalb der zeitgenössischen Literatur, die ihm in Nachrufen zugewiesen wird, vgl. Ralf Georg Bogner: Der Autor im Nachruf. Formen und Funktionen der literarischen Memorialkultur von der Reformation bis zum Vormärz. Tübingen 2006 (= Studien und Texte zur So- zialgeschichte der Literatur 111), S. 143.

Chloe 43 Andreas Tscherning 187

Opitz, Johann Georg Dorsch, Augustus Buchner oder Johann Heer- mann bescheinigen ihrem Kollegen hier seine herausragenden poeti- schen Fähigkeiten, sehen ihn gar als direkten Nachfolger Opitz’:

[…] jhr seyd mit Ruhm und Ehren/ Weil unser Opitz todt/ anjetzt der deutsche Schwan: Der jhm in allem gleich/ und wie er/ singen kann. […] Es ist doch weit und breit Nicht/ der jhn übertrifft an Kunst und Liebligkeit.6

Wichtiger noch als das hier formulierte überschwängliche Lob, das immer unter Rekurs auf die unterschiedlichsten Motive wie etwa die rhetorische Übertreibung relativiert werden könnte, ist die Tatsache, dass die Laudatoren allesamt nicht auf eine mutmaßlich ungeordnete Vielfalt und störende Inkohärenz der Sammlungen abheben. Noch 1724 heißt es hierzu in einer Darstellung der drei bedeutendsten Ba- rockpoeten, nämlich Martin Opitz’, Simon Dachs und Tschernings ohne jeden Tadel: “Die Schrifften unseres Tschernings bestehen nicht in großen Operibus, sondern kleinen und angenehmen Piecen”.7 Das für den modernen Leser undurchschaubare Nebeneinander unter- schiedlichster Genres, Formen und Themen ist für den Zeitgenossen und den frühneuzeitlichen Nachfahren offenkundig kein Problem. Das Befremden darüber kann des Weiteren auch nicht im Rückbe- zug auf spezifische Konzepte der Poetik des Barock – wie etwa Mo- delle der Gattungs- und Stilmischung oder eine Ästhetik der Monstro- sität – aufgelöst werden. Diese Ideen greifen erst später, während Tschernings Sammlungen der Frühzeit der Phase der Konstitution der deutschsprachigen Literatur gleich nach der Opitzschen Reform zuzu- rechnen sind. Die beiden Gedichtbände entstehen und erscheinen wäh- rend jener Jahre, als zuerst einmal die neuen Regeln aus dem Buch von der Deutschen Poeterey praktisch erprobt und ausgelotet werden. Wendet man auf diesem Hintergrund den Blick von den persönli- chen und biographischen Kontexten der beiden Lyrikkompilationen hin zum literaturgeschichtlichen Umfeld, kann man ihre Titel auch anders interpretieren, als dies bisher geschehen ist. Der erste Band

6 Tscherning: Vortrab (s. Anm. 3), Bl. [4]. 7 Anonym: Andres Stück Der POETIschen Meister-Stücke, enthaltend: Andreas Tscherningen Und Simon Dachen Lebens-Beschreibungen, und Beste VERSE. Rostock, Parchim 1724, S. 11.

Chloe 43 188 Ralf Georg Bogner braucht nicht unbedingt auf den Lebenslenz des Verfassers als Entste- hungszeit zu verweisen. Vielmehr sind die Texte ein Beitrag zum ak- tuellen Frühling der deutschsprachigen Dichtung. Die Gedichte der zweiten Sammlung werden dreizehn Jahre später in eine nun durch zahlreiche inzwischen hervorgetretene weitere junge Schriftsteller und ihre Werke veränderte literarhistorische Situation hinein veröffent- licht, welche metaphorisch eben als Beginn eines Sommers mit einer zu erwartenden reichen poetischen Ernte charakterisiert werden kann. Zwei weitere Argumente lassen das Befremden über die scheinbare Inhomogenität der beiden Gedichtbände als Rezeptionsproblem des heutigen Lesers und seines unzureichenden literaturwissenschaftlichen Instrumentariums erscheinen. Erstens muss der Eindruck von Unord- nung und Disparatheit der beiden Kompilationen schlichtweg täu- schen, da sie sich trotz der dreizehn Jahre, die zwischen ihrem Er- scheinen liegen, in Inhalt und Zusammenstellung auffallend ähneln. Das betrifft den Anteil an unterschiedlichen lyrischen Formen, Genres und weltlichen respektive geistlichen Themen oder die Integration je eines kurzen Dramas nach einem biblischen Stoff in die beiden Bände. Die Forschung hat dies durchaus bemerkt und dem Autor einen Man- gel an Fähigkeit zur Weiterentwicklung seines Talents vorgeworfen. Solche modernistischen Urteile sind aber der Anthropologie der Frü- hen Neuzeit wenig angemessen und verhindern die weitere Suche nach Organisationsprinzipien dieser Werke. Zweitens ist es extrem unwahrscheinlich, dass diese beiden so gleichartigen Sammlungen in ihrer Kompilation nicht spezifischen Prinzipien folgen, handelt es sich bei Tscherning doch um einen hochreflektierten Autor. Dies gilt nicht nur deshalb, weil er als Professor die Poesie ja an der Rostocker Uni- versität lehrt. Wie aus seinen Korrespondenzen hervorgeht, befasst er sich schon seit seiner Jugend detailliert mit dichtungstheoretischen Fragestellungen und veröffentlicht 1658 schließlich – ein Jahr vor sei- nem frühen Tod – eine eigene Poetik, das Unvorgreiffliche Bedencken über etliche mißbräuche in der deutschen Schreib- und Sprach-kunst/ insonderheit/ der edlen Poeterey.8 Noch entscheidender freilich ist es, dass Tscherning in seine beiden Gedichtsammlungen eine ganze Reihe von kunst- und literaturtheore- tischen Überlegungen in lyrischer Form integriert. Sie finden sich vor-

8 Andreas Tscherning: Unvorgreiffliches Bedencken über etliche mißbräuche in der deutschen Schreib- und Sprach-kunst/ insonderheit/ der edlen Poeterey. Lü- beck 1658.

Chloe 43 Andreas Tscherning 189 rangig in den zahlreichen Würdigungen anderer Werke zeitgenössi- scher Autoren. Der Rostocker setzt sich lyrisch mit diversen wichtigen Neuerscheinungen auseinander, unter anderem von Johann Rist und .9 Diese ganz spezifische Form von Gelegenheitsly- rik, die man durchaus als Literaturkritik bezeichnen kann, hat die bis- herige Forschung weitestgehend übersehen. Solchen Rezensionen fehlen noch die unmittelbare Aktualität der Reaktion und das Medium der periodisch erscheinenden Zeitschrift.10 Dennoch eignet diesen Be- sprechungen in Gedichtform vieles, was dieses Genus des Räsonne- ments über Dichtung später integral kennzeichnen wird. Dazu gehört die Einordnung eines Werkes in die aktuelle literaturgeschichtliche Situation, die Reflexion der Vorbilder und Prototypen, der Vergleich mit anderen rezenten poetischen Leistungen, die Kontextualisierung mit spezifischen Entstehungsbedingungen wie beispielsweise dem greisen Alter des Autors und schließlich die Gesamtwürdigung. Auch die Maßstäbe für Kritik überhaupt oder die Funktion von Literatur sind Gegenstand dieser Rezensionen. Das Gedicht über Johann Rists Himmlische Lieder beispielsweise11 bestimmt eingangs den transzendenten Ursprung der Poesie, grenzt die wahre, göttliche Dichtung sodann polemisch von der weltlichen, vor allem der amourösen Dichtung ab, skizziert hierauf nicht unkri- tisch den Weg Opitzens von der frühen galanten Dichtung zum Gipfel in der Psalterübersetzung und stellt dieser nun Rists Neuerscheinung als gleichbedeutend an die Seite, um – noch allgemeiner – mit der si- cheren Erwartung zu schließen, dass der Autor sich durch das vorlie- gende Werk in den innersten Zirkel des deutschen Parnasses einge- schrieben habe und seine Verse ewige dichterische Geltung erlangen würden. Diese und ähnliche Stellungnahmen lassen eine der zentralen Funktionen der beiden Lyriksammlungen Tschernings erkennen. Sie sind als ein wesentlicher Bestandteil der von Opitz initiierten Neube- gründung einer Nationalliteratur zu verstehen und reflektieren und be- fördern poetisch die Ausbildung eines dichterischen Kanons in deut- scher Sprache.

9 Vgl. Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 196 f. 10 Zur Literaturkritik vor Thomasius vgl. zusammenfassend Ralf Georg Bogner: Die Formationsphase der deutschsprachigen Literaturkritik. In: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hrsg. v. Thomas Anz und Rainer Baasner. Mün- chen 2004 (= Beck’sche Reihe), S. 14-22. 11 Tscherning: Vortrab (s. Anm. 3), Bl. C6-8.

Chloe 43 190 Ralf Georg Bogner

Diese Arbeit an der Auswahl der wichtigsten Dichter deutscher Zunge und ihrer bedeutendsten Werke ist weit von einer bloßen ge- genseitigen Lobhudelei entfernt. Die argumentative Begründung und Vermittlung der Maßstäbe für den Kanon der neuen Nationalliteratur schließt auch die Kritik der Kritik mit ein. So stellt Tscherning sich in einem Gedicht des Vortrabs gegen ein ihm übertrieben erscheinendes Lob zweier mit ihm befreundeter Rezensenten seines Werkes:

Die Augen sind nicht richtig/ So ist kein Urtheil tüchtig Das bloß die Liebe fällt. Was ewre Faust auch hat Bißher mir zugeschrieben Rührt alles her vom Lieben/ Jst an Verstandes stat.12

Die Abwehr des Lobes ist allerdings zugleich weit von einer hypertro- phen Herabsetzung der eigenen Leistung entfernt. Der Autor ist sich seiner Bedeutung gewiss, und er schließt den Text mit der kühnen Bemerkung, dass nun durch denselben neben dem eigenen Namen auch die Namen der beiden übertriebenen Lobredner der lesenden Nachwelt überliefert würden. Poetologische und kritische Auseinandersetzungen im Dienste der Ausfaltung einer Nationalliteratur deutscher Zunge bilden einen ge- wichtigen Teil der Gedichte in Tschernings beiden Sammlungen. Ne- ben rezensionsartigen Texten finden sich dabei allgemeinere Reflexi- onen über Literatur und Kunst, zum Beispiel eine Klage über die ver- breitete Vielschreiberei, oder poetische Episteln, etwa an Georg Phi- lipp Harsdörffer.13 Eine zweite große Gruppe von Gedichten in den beiden Lyrikbänden lässt sich hingegen um das Studium und die Pro- fessorentätigkeit des Autors an der Universität Rostock gruppieren. Hierzu zählen beispielsweise ein Text über eine Dichterkrönung,14 ein Hochzeitsgruß an den Marburger Amtskollegen ,15 ein Casualcarmen An Herrn Peter Laurembergen: Als ihm

12 Tscherning: Vortrab (s. Anm. 3), Bl. L6. 13 Vgl. Tscherning: Vortrab (s. Anm. 3), Bl. J4-J5. 14 Vgl. Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 31-34. 15 Tscherning: Vortrab (s. Anm. 3), Bl. J5-J7.

Chloe 43 Andreas Tscherning 191 zu Rostock von den Studenten eine Music zu abend gebracht ward,16 oder ein Gedicht zur Beendigung von dessen Amtszeit als Rektor.17 Nicht alle diese Beiträge enthalten theoretische Reflexionen auf die Zusammenhänge zwischen universitärer Ausbildung und literarischer Praxis zwischen dem Amt eines Poesieprofessors und seiner dichteri- schen Produktion. Gerade die hierher gehörende Rollenlyrik weist in vielen Fällen weniger einen selbstreflexiven als vielmehr einen pro- totypischen Charakter mit Blick auf die Nachahmung durch die Schüler auf. Dies gilt auch für die beiden kleineren, biblischen Dra- men, die offenbar für die Aufführung an der Universität konzipiert sind. Dennoch trägt eine ganze Reihe dieser Texte programmatische Züge. Die Kunst wird in ihnen in verschiedenen Variationen als eine von Gott dem Menschen verliehene Fähigkeit dargestellt, die durch die akademische Lehre vermittelbar sei und wiederum ihrem eigentli- chen Schöpfer, nämlich dem Herrscher über Himmel und Erde, zu dienen und ihn lobzupreisen habe. So leitet die Würdigung Laurem- bergs als eines vorbildlichen Poesielehrers ganz allgemein auf die Ak- zentuierung der herausgehobenen Bedeutung der Dichtkunst über:

Es ist vns/ Lauremberg/ ein helles Beyspiel worden Zu dringen durch die Zeit/ zu kommen in den Orden/ Der nimmer vntergeht. Wer nicht nach diesem strebt/ Der ist kaum was er ist/ vnd stirbet wie er lebt.18

Dem kontrastiert, ganz im Sinne der Zeit und der lutherischen Theo- logie, sub specie aeternitatis in einem anderen der Texte aus dem aka- demischen Milieu die Hinfälligkeit und Nichtigkeit aller Bestrebungen – auch der künstlerischen und universitären – und die absolute Ab- hängigkeit des Menschen von Gottes Allmacht:

Der Mensch mit seinem tichten Weiß wenig außzurichten/ Das gut zu heissen sey.

Drumb sey nicht zuverwegen Auff deines Amptes Stegen/ Vnd bilde dir nicht ein/

16 Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 34 f. 17 Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 81-83. 18 Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 35.

Chloe 43 192 Ralf Georg Bogner

Alß köntest du vertrawen Auff deine Kräfften bawen/ Die doch kaum deine sein.19

Die Universität Rostock als traditionsreiche Bildungseinrichtung wird von Tscherning in seinem Gedichtwerk stets mit dem größten Respekt attribuiert. Öffentliche Kritik hätte er sich als Diener an der ehrwürdi- gen Institution niemals herausgenommen. Die zahlreichen Klagen im lyrischen Werk über persönliche Verfolgungen, Anfeindungen und widrige Schicksale richten sich in keinem Fall auch nur andeutungs- weise gegen die Universität. Aus Korrespondenzen und amtlichen Akten allerdings können wir sehr wohl große, ja größte Unzufrieden- heit mit der Bildungsinstitution, für die Tscherning arbeitet, erschlie- ßen.20 Die Bestellung Tschernings zum Professor der Poesie beispiels- weise fällt 1644 in eine Zeit des drastischen Niedergangs der Univer- sität.21 Mehrere Lehrstühle sind vakant und können aufgrund mangeln- der Attraktivität – in finanzieller Hinsicht wie in Bezug auf die weni- gen und völlig demoralisierten Studenten – nicht wiederbesetzt wer- den. Trotzdem wird Tscherning, ein inzwischen weithin berühmter Dichter, der bereits einen Ruf nach Wittenberg abgelehnt hat,22 keines- wegs mit offenen Armen in das Kollegium aufgenommen. Einerseits wirft man ihm Nähe zum Calvinismus vor, welche unvereinbar mit der Verpflichtung aller Professoren auf die lutherische Konfession ist. Nach Ausräumung dieses Streitpunktes findet man neue Gründe für eine Hinauszögerung der Berufung. Er sei zwar ein berühmter Dichter im Deutschen, doch seine Fertigkeit im Lateinischen nicht hinreichend belegt. Tscherning muss, um diesen absurden Vorwurf zu entkräften, eine Auswahl aus seiner umfänglichen lateinischen Gedichtproduktion zusammenstellen und eilig auf eigene Kosten in Druck geben. Jetzt stellt man Tscherning den baldigen Ruf in Aussicht, sieht für ihn aber ein derart bescheidenes Gehalt vor, dass er sich mit einem Brief an einen Gönner mit der Bitte um Unterstützung während der nächsten Jahre wendet, weil andernfalls ein Überleben in Rostock nicht möglich sei. Der Mäzen empfiehlt als Alternative die Heirat mit

19 Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 1. 20 Vgl. dazu Borcherdt (s. Anm. 1), passim. 21 Vgl. Borcherdt (s. Anm. 1), S. 123-128. 22 Vgl. Borcherdt (s. Anm. 1), S. 71.

Chloe 43 Andreas Tscherning 193 einer reichen Witwe zur Sicherung der Existenz als Professor an der Alma Mater Rostochiensis. Tscherning wird diesem Rat folgen. In- zwischen stellt die Universität aber zur Erlangung der Professur eine weitere Anforderung, nämlich eine Promotion. Auch dieser Prozedur unterzieht sich der hochgebildete Gelehrte. Nach Heirat und endlich auch Übernahme des Professorenamtes bleiben freilich die Geldsorgen bestehen. Stets wohnen im Haushalt etliche Studenten zur Kost, die einen erheblichen Teil der Einkünfte bei den Tschernings bilden sollen, oft genug aber die verabredeten Summen für Kost und Logis schuldig bleiben. Die enormen Außen- stände der in der Familie einquartierten jungen Leute kommen sogar mehrfach in den Konzilsakten der Universität Rostock zur Sprache.23 Die Übernahme der Poesieprofessur ist mindestens ebenso mühsam und schwierig wie die ersten Jahre nach der Gründung von Haushalt und Familie.24 Bei der Amtseinführung gibt es einen lächerlichen Zwist darüber, ob zuerst Tscherning oder dem neu berufenen syste- matischen Theologen oder dem neuen Hebraisten in der öffentlichen Ernennungsfeier der Professorentitel verliehen werden solle. In den unglückseligen Streit über die Reihenfolge, der vom Konzil heftigst ausgefochten wird, mischt sich dann zu allem Überfluss auch noch die Politik in Person des Schweriner Herzogs mit ihren eigenen Vorstel- lungen ein. Tscherning willigt schließlich ein, als letzter der drei in den Professorenstand erhoben zu werden. Trotzdem muss er die ziem- lich teure Ernennungsfeierlichkeit auf eigene Kosten ausrichten, noch bevor er das erste Gehalt angewiesen bekommen hat. Nun kann er aber nicht mit den Lehrveranstaltungen anfangen, da ihm keinerlei Bücher zur Verfügung stehen. Seine eigene kleine Bib- liothek ist in den Kriegswirren untergegangen, die Universität verfügt über keinerlei brauchbare Literatur für die Poesievorlesungen, und an den monetären Mitteln, sich selbst mit den einschlägigen Lehrbüchern auszustatten, gebricht es ihm. Wenige Monate nach Übernahme der Rostocker Professur schreibt er in einem Brief, er stecke

fürwar in Kummer […] biß über die Ohren. Die gantze Zeit meines Lebens biß hieher bin ich in Rosen gesessen, nun sehe ich aber und fühle von allen

23 Vgl. Borcherdt (s. Anm. 1), S. 129-133 u.ö. 24 Vgl. Borcherdt (s. Anm. 1), S. 137-146 u.ö.

Chloe 43 194 Ralf Georg Bogner

Seiten Dornen, Mangel und Sorgen, dergleichen ich mir zuvor frey und le- dig nicht habe einbilden können. Jedoch Gott wird außhelfen.25

Die Räumlichkeiten der Universität sind so heruntergekommen, dass sich viele Studenten – wie Tscherning an anderer Stelle epistolarisch mitteilt – aus Angst, ihre Kleidung zu beschmutzen, nicht in die Vor- lesungen zu setzen getrauen. So steht der Professor oft vor leeren Hör- sälen, und gleichzeitig bekommt er kein Gehalt. Seit Jahren dringt kaum je Geld aus Schwerin nach Rostock, und wenn denn doch ein- mal, bedienen sich zuerst einmal die alteingesessenen Professoren, die auf enorme Ausstände verweisen können. Tscherning reagiert darauf mit der im 17. Jahrhundert weithin üblichen Abhaltung von gebühren- pflichtigen Privatvorlesungen in seinem Haus und mit dem Streben nach höheren universitären Ämtern. Mehrfach wirkt er als Dekan und als Rektor, und in diesen Positionen fallen ihm zum Beispiel wenigs- tens Teile der ansehnlichen Gebühren für Promotionen zu. Tscherning bleibt insgesamt 15 Jahre Professor in Rostock. Er stirbt, nachdem er schon lange gekränkelt hat, 1659 im Amt. Die Ge- haltsrückstände sind so enorm, dass das Abstottern der Schulden an die Erben durch den Landesherrn insgesamt 45 Jahre in Anspruch nimmt und die gesamten Außenstände erst 1704 getilgt sind.26 Alle diese Kalamitäten finden keinen Niederschlag in Tschernings Werk. Er nimmt sie nie zum Anlass persönlich lamentierender Gele- genheitsdichtung. Das poetologische Programm steht für Tscherning im Vordergrund seines Schreibens – auch wenn das in der Moderne schwer nachvollziehbar ist –, und die Institution, mit der er dasselbe verwirklichen kann – wenn auch unter Schwierigkeiten –, bleibt um des Programms willen außerhalb der Kritik. Eine dritte Gruppe von Gedichten in Tschernings Lyriksammlung ist um das urbane Umfeld der stadtbürgerlichen Öffentlichkeit zen- triert. Es handelt sich um Texte, die zum Teil in Rostock und zum Teil in Breslau situiert sind, wo der Autor einige Jahre lebt, weil er auf- grund finanzieller Nöte zeitweilig außerstande ist, sein Studium fort- zusetzen und zu beenden. Gerade hier handelt es sich überwiegend um gelegenheitsliterarische Produkte, denen freilich eine nicht zu unter- schätzende Funktion innerhalb von Tschernings poetologischem Pro- gramm zukommt. Die Gedichte an wichtige Persönlichkeiten der

25 Zit. nach Borcherdt (s. Anm. 1), S. 139. 26 Vgl. Borcherdt (s. Anm. 1), S. 240 u.ö.

Chloe 43 Andreas Tscherning 195

Stadt, an befreundete Gelehrte, an Gönner und Mäzene und an Fami- lienangehörige sind als Beiträge zur Konstitution einer gebildeten ur- banen Öffentlichkeit zu verstehen, welcher die sich erst konstituie- rende Nationalliteratur als Rezipienten ja unabdingbar bedarf. Dies wird zum Beispiel im Gedicht auf die Einsetzung von Christoph Koe- ler als Bibliothekar der Maria-Magdalena-Kirche zu Breslau deutlich:

Jch besorge wir geriethen/ Jn die Nacht der Barbarey/ Stünd’ vns nicht die Hand zu bieten Einer vnd der ander bey/ Der Gehirn vnd Weißheit führet/ Wie sie noch von Rom her rühret.27

Ein vorzüglich, das heißt klassisch gebildetes, kunstsinniges und lite- rarisch interessiertes, urbanes Publikum wird somit als die primäre Trägerschicht der jungen reformierten Poesie deutscher Zunge kontu- riert. Die Gelegenheitsdichtung für wichtige Repräsentanten der städ- tischen Kultur ist somit keineswegs als Lohnschreiberei, lästige Pflichterfüllung oder Liebedienerei zu begreifen, sondern neben aktu- ell-kritischer Kanonisierung und universitärer Poesieausbildung als eine weitere dritte – und zwar die rezipientenorientierte – Facette der nationalen Literaturreform. Das Resümee dieser skizzenhaften Sichtung von Tschernings bei- den Lyriksammlungen liegt nahe. Die Texte entwerfen teils prototy- pisch, teils explizit programmatisch ein spezifisches Modell von Au- torschaft innerhalb der nationalen Literaturreform der 1630er bis 1650er Jahre. Sie führen praktisch und theoretisch einen Dichter vor, der sich intensiv an den poetologischen Diskursen und an der Ent- wicklung eines literarischen Kanons beteiligt, der zugleich der studie- renden Jugend die Poesie an der Universität unterrichtet und im eige- nen stadtbürgerlichen Umfeld für die Akzeptanz der neuen deutsch- sprachigen Poesie wirbt. Dieses Konzept ist komplex, vielleicht auch ein wenig unübersichtlich, relativ stark spezialisiert und zeitgebunden. Hieraus resultieren die Schwierigkeiten eines heutigen Rezipienten, für die Zusammenstellung der Gedichte in den beiden Bänden eine plausible Erklärung zu finden. Und schließlich sind die literarischen Texte, die aus diesem Konzept heraus erarbeitet werden, wie die For-

27 Tscherning: Früling (s. Anm. 2), S. 185.

Chloe 43 196 Ralf Georg Bogner schung richtig und zugleich ziemlich abschätzig festgestellt hat, wenig persönlich gefärbt. Sie beziehen sich zwar häufig auf die Biographie und auf die Lebenskontexte ihres Verfassers. Für Idio-synkrasien oder private Grillen ist jedoch in diesen Sammlungen, die sich vor allem in den Dienst eines literarischen Reformprogramms stellen, keinerlei Raum. Von Subjektivität im modernen Sinne sind innerhalb eines sol- chen Autorprogramms nicht einmal Spuren zu erkennen – und Andre- as Tscherning hat dies an keiner Stelle bedauert.

Chloe 43

C h r i s t i a n e C a e m m e r e r

VIER HOCHZEITEN UND EIN TODESFALL Schäferliche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert

Es kann im Folgenden nicht darum gehen, die Entwicklung und Funktionalität sämtlicher Spielarten der bukolischen Gelegenheits- dichtung1 in Gänze vorzustellen. Aber es soll doch darum gehen, eine für das 17. Jahrhundert höchst wichtige Schreib- und Ausdrucksform wieder in Erinnerung zu bringen, die eigentlich selten etwas anderes ist als Kasualdichtung, und die gleichzeitig auf fast atemberaubende Weise einen strikten Formenkanon mit einer sehr breiten Einsetzbar- keit zu allen Anlässen in allen sozialen Ständen miteinander verbindet. Drei Zitate sollen in das Thema einführen:

Wen ich frühling sage, so dencke ich allezeit ahn meinen armen bruders, wie er Silvius war undt Gendt Mirtillus; daß macht mich doch gantz trawe- rig, wen ich dieße glückliche zeitten betrachte undt wie sie nun vorbey; kan also mitt Mirtillus sagen: Ach, früling, deß jahres jugendt, schöne mutter der blühmen, der grünen kreütter undt der neüen liebe, du kommst zwar wider herbey, aber die holden undt glückseelichen tagen meiner freüde kommen nicht wieder; die seindt leyder lengst vorbey, aber ahnstadt freü- den finden sich betrübtnuß, angsten undt sorgen.2 so schreibt Liselotte von der Pfalz zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus ihrer Sommerresidenz St. Cloux an ihre Stiefschwester, die Rauhgrä- fin Luise. Sie erinnert sich hier an ein Fest, bei dem in den sechziger

1 Vgl. hierzu die kanonisch zu nennende Untersuchung von Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht: ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, und in jüngerer Zeit die über die Einzelstudie durchaus hinausge- hende Arbeit von Stefanie Stockhorst: Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof. Tübingen 2002. 2 Briefe der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orléans aus den Jahren 1721 und 1722. Hrsg. von Wilhelm Ludwig Holland. Tübingen 1881, S. 90-91.

Chloe 43 198 Christiane Caemmerer

Jahren des 17. Jahrhunderts eines der die Gattung konstituierenden Schäferspiele, der Pastor Fido des Italieners Giovanni Battista Gua- rini in der Übersetzung von Statius Ackermann von Mitgliedern des kurpfälzischen Hofes aufgeführt wurde.3 Das Sprechen im bukolischen Sprachgewand und unter schäferli- chem Namen ist im nicht-literarischen und literarischen Bereich eine Möglichkeit, über Empfindungen und Gefühle, über ‘private’ bzw. ‘nicht öffentliche’ Ereignisse zu sprechen. Es bestimmt spätestens seit Ende des 16. Jahrhunderts in wachsendem Maße die höfische Litera- tur, Teile der höfischen Kommunikation und das höfische Festwesen nicht nur in Italien und Frankreich, sondern auch in Deutschland. Die- sen frühen Zeitpunkt belegen die Übernahme kleiner Episoden aus dem Pastor Fido zu Hoffesten4 sowie die Übersetzungen und die be- geisterte Rezeption französischer Schäferromane wie die der schönen Juliana von Montreux und natürlich d’Urfés Astrée. Ein Beispiel da- für ist die Stellungnahme von Mitgliedern der fruchtbringenden und der tugendlichen Gesellschaft zum verzögerten Erscheinen der Astrée- Bände.5

3 Dass es sich unter den durchaus zahlreichen Übersetzungen des ‘Pastor Fido’ in die deutsche Sprache um genau diese Übersetzung handelte, wurde herausgear- beitet von Johannes Bolte: Schauspiele am Heidelberger Hof, 1650-1687. In: Eu- phorion 31 (1930), S. 578-591. 4 So erschien bereits 1607 eine ‘Pastor Fido’-Übersetzung in lateinischer Sprache, die der Hofbeamte J. Valentin Winther für die Hochzeitsfeierlichkeiten Philipps II. von Pommern mit Sophie zu Holstein-Sunderburg hergestellt hatte. Bekannt ist auch der Auftritt des Myrtill aus dem ‘Pastor Fido’ bei dem von Georg Ru- dolph Weckherlin mit Texten ausgestatteten Tauf- und Hochzeitsfest in Stuttgart im Jahre 1618. Vgl. hierzu Georg Rudolf Weckherlin: Kurtze Beschreibung Deß zu Stutgarten/ bey den Fürstlichen Kindtauf und Hochzeit/ Jüngst-gehaltenen Frewden Fest Verfärtiget durch Georg Rodolfen Weckherlin. Tübingen 1618. In: Stuttgarter Hoffeste. Texte und Materialien zur höfischen Repräsentation im frü- hen 17. Jahrhundert. Hrsg. von Ludwig Krapf und Christian Wagenknecht. Tübingen 1979 (= Neudrucke Deutscher Literaturwerke. Neue Folge 26), S. 189- 296. 5 Der Brief ist nachzulesen in: Briefe der Fruchtbringenden Gesellschaft und Beila- gen: Die Zeit Fürst Ludwigs von Anhalt-Köthen 1617-1650. Hrsg. von Klaus Co- nermann. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 251-253. Siehe hierzu auch Friedrich Wil- helm Barthold: Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft. Sitten, Ge- schmacksbildung und schöne Redekünste deutscher Vornehmen vom Ende des XVI. bis über die Mitte des XVII. Jahrhunderts. Berlin 1848. Reprint: Hildes- heim 1969, S. 127-147. Gerhard Dünnhaupt: Merkur am Scheideweg. Eine unbe- kannte Schwesterakademie der Fruchtbringenden Gesellschaft. In: Virtus et For-

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Ein weiteres Beispiel sind die Briefe, die die Mitglieder des anhal- tinischen Hofes und der befreundeten Adelsfamilien miteinander wechselten, und in denen sie bei der Beschreibung von Festen oder Besuchen adliger Nachbarn gerne auf die von ihnen angenommenen schäferlichen Namen zurückgreifen,6 lange ehe Harsdörffer und viel konsequenter noch Birken in Nürnberg anfingen, die schäferliche Fik- tion nicht nur in ihrer Literatur zu etablieren, sondern auch für die Schilderungen aus dem eigenen Leben zu verwenden.7 Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland diente das schäferliche Dekorum immer wieder als Ausdrucksmittel für höchst persönliche Empfindun- gen, wie dieses erste Beispiel zeigt. Liselotte von der Pfalz verwendet hier die Gestalt von Guarinis Hauptfigur Myrtill, um ihre eigene Be- findlichkeit beim Erleben des kommenden Frühjahrs im von Paris weit entfernten Schloss zu beschreiben. Dabei weiß sie, dass die Adressatin die Verbindung von arkadischem Wunschreich (hier die erinnerte schöne Jugendzeit) und Leiderfahrung sofort erkennen und einordnen kann. Das durchaus auch politisch begründete Liebesleid des Myrtill bietet Madame das Ausdrucksmittel für den Hinweis auf die politische Leiderfahrung des Pfalzgrafen und ihre eigene politi- sche, gesellschaftliche und persönliche Leiderfahrung. Der Rauhgräfin ist dies klar. Uns muss es heute erklärt werden. Wir müssen uns die Funktion der höfisch-schäferlichen Kommunikation neu zugänglich machen, denn sie liegt trotz zunehmender Belege und Wiedemanns

tuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Hrsg. von Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr. Bern, Frankfurt/M., New York 1983, S. 384-392, hier S. 324 ff., Renate Jürgensen: Die deutschen Übersetzungen der ‘Astrée’ des Honoré d’Urfé. Tübingen 1990 (= Frühe Neuzeit 2), S. 173 ff. sowie S. 361 ff., Christiane Caemmerer: Frühe Zeugnisse deutschsprachiger Schäferspiele des 17. Jahrhun- derts an deutschen Fürstenhöfen. Überlegungen zur Konstituierung eines Text- korpus. In: ‘Germanistik im Konflikt der Kulturen’. Akten des XI. Internationa- len Germanistenkongresses Paris 2005. Hrsg. von Jean-Marie Valentin u.a. Bd. 5. Bern etc. 2008, S. 339 f. 6 Als Beispiel hierfür siehe einen Brief, den eine der jungen Dessauer Fürstinnen an ihre Kusinen in Hessen-Kassel schrieb in: Briefe der Fruchtbringenden Ge- sellschaft (wie Anm. 4), S. 277-285. 7 Vgl. hierzu: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearb. von Joachim Kröll. 2. Bde. Würzburg 1971-1974.

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These von der Freiheit zur Rolle und in der Rolle8 in ihren Einzelhei- ten noch ziemlich im Dunkeln. Das zweite Zitat führt nach Brandenburg-Preußen und beginnt auch nicht vergnügter:

Das Sternen-Hauß war neulich eingehüllt/ Im trüben Flor; die blaß-gestriemte Strahlen/ Die sonst bey Nacht wie Gold und Silber prahlen/ Die waren gantz mit Dunkel angefüllt/ Auch was vor Schmuck sonst Flora pflegt zu haben/ Lag gantz vertiefft im tieffen Schnee vergraben.

Kein Wolcken-Volck/ als die verhaßte Eul’ Und Fleder-Mauß ließ sich im Dumpern blikken/ Man hörte nichts die Geister zu erqvikken/ Als dann und wann der Wölffe Schrök-Geheul Und Bär-Gebrumm; Das wilde Wind-Getümmel Vermehrte noch das gräßliche Gewimmel; ALs der betrübte Prutenio/ seinen Trübnüß-Gedancken nach zudencken/ die Schäffer-Hütte verlassend/ sich ins öde Feld begab [...]. So recht/ sagte Er bey sich selbst/ nun hab ich einmal erlanget/ wornach meinen Begierden so lang verlanget hat. Dieser düstere Hayn vergleichformet sich mit der Düsterheit meiner Seelen; Seiner Bäum Blätter lose Zweige zeugen von der Trost-losen Hoffnung meines Gemüthes/ die nur in dem eintzigen nicht übereinstimmet/ daß jene bey Herannahung des Frühlings von newen er- freuet/ ich aber von der Hertz-fressenden Unruhe nimmer kan beruhiget noch befreyet werden.9

Noch scheint Prutenio, im Klarnamen der preußische Pegnitzschäfer Michael Kongehl, in einem parallel zum locus amoenus gebauten lo- cus terribilis, der empathisch seine Stimmung aufnimmt, in Vers und Prosa über sein eigenes Unglück zu klagen. Dies aber ist nur der Vor- bote einer Tragödie, die es im Folgenden ausführlich in all’ den For- men und Versarten zu beklagen gilt, die Martin Opitz in deutscher

8 Conrad Wiedemann: Heroisch-Schäferlich-Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammen-hang barocker Rollenhaltungen. In: Schäferdichtung. Hrsg. von Wilhelm Voßkamp. Hamburg 1977 (= Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 4), S. 96-122. 9 Michael Kongehl: Trauer-Hirten-Spiel/ über den Hochseligen/ aber leyder! Viel zu zeitigen Abscheid aus dem Zeitlichen/ Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Caroli Aemilii, Marggraffen und ChurPrinzen zu Brandenburg [...] von dem Pegnitz-Schäffer Prutenio [1675].

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Sprache vorgeführt und in die von ihm neukonzipierte Gattung der Prosaekloge exemplarisch aufgenommen hatte: denn Karl Emil, der Kurprinz von Brandenburg ist gestorben und seiner gilt es zu geden- ken. Wir schreiben das Jahr 1674. Die Rezeption der schäferlichen Literatur und des schäferlichen Dekorums blieb als Ausdrucksmittel nicht dem Hof und der Hofliteratur vorbehalten, sondern wurde im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts von den gelehrten Autoren über- nommen. Es war Martin Opitz, der im Rahmen seines Einsatzes für eine deutschsprachige Nationalliteratur noch einmal sämtliche bukolische Gattungen von der Lyrik und Liebeslyrik über eine Hoheliedüberset- zung (1627), die Oper Daphne (1627) bis zur Übersetzung des Schäferromans Arcadia von Philipp Sidney in exemplarischen Publi- kationen präsentierte. Der in diesem Zusammenhang wichtigste Text aber ist seine 1630 erschienene Schäfferey von der Nimfen Hercinie –, eine die Elemente der Eklogenzyklen der Romania aufgreifende Dichtung, die formal durch den Wechsel von Vers und Prosa ausge- zeichnet ist, für den Sannazaros Arcadia das Vorbild bot. Dabei wer- den in den lyrischen Teilen die neue deutsche Prosodie in Form des Jambus und die neu rezipierten Gedichtformen, wie z.B. das Sonett, das Echogedicht und der Wechselgesang, die Opitz in seiner Poetik favorisiert hatte, in der Praxis vorgestellt. Einige inhaltliche Elemente werden später zu Grundelementen der Textsorte. Dies sind das Auftreten des Autors und seiner Freunde un- ter – bei Opitz sehr lockerer – schäferlicher Fiktion: der Biographis- mus; die Stellungnahme zu aktuellen politischen und gesellschaftli- chen Themen – hier der dreißigjährige Krieg und das große Thema ‘Liebe zwischen Affekt und Vernunft’, der – wie Klaus Garber ihn bezeichnet hat – Feuilletonismus und im Mittelteil die Panegyrik, hier die höchst differenzierte Huldigung des Hauses Schaffgotsch in einer großartigen Grottenbeschreibung und Bildnisauslegung, die von der Nymphe Hercinie initiiert wird.10 Opitz’ Wunsch, auch andere mögen die deutsche Literatur “mit dieser nicht weniger nutzbaren als lustigen

10 Über den Text ist inzwischen viel geschrieben worden, immer noch grundlegend für die ‘Hercinie’ als bukolischer Text aber ist nach wie vor Klaus Garber: Mar- tin Opitz’ ‘Schäfferey von der Nymphe Hercinie’ Ursprung der Prosaekloge und des Schäferromans in Deutschland. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Per- son. Hrsg. von Barbara Becker-Cantarino. Daphnis 11 (1982) 3, S. 547-603.

Chloe 43 202 Christiane Caemmerer art schriften mehr vndt mehr [...] bereichern”,11 sollte in Erfüllung ge- hen. Bereits 1635 schrieb Paul Fleming seine Schäferei aus Anlass der Hochzeit von Reiner Brockmann in Reval. Auch die beiden großen Schäfereien der Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens sind von Harsdörffer, Klaj und Birken für Hochzeiten geschrieben worden.12 Im panegyrischen Preis der sich hier verbindenden Familien und im Ein- satz nicht nur für die deutschsprachige Literatur, sondern auch für die deutsche Nation bringen sich die Autoren als Garanten für die Un- sterblichkeit der Gepriesenen ein. So wie letztlich auch Kongehl, der Autor unseres Beispiels, indem er mit seiner Feder den zu früh gestor- benen Thronfolger auf alle Zeit in das kulturelle Gedächtnis ein- schreibt, wie das Zitat an diesem Ort zeigt.13 Dieses Zitat zeigt darüber hinaus, dass neben Hochzeiten und Ge- burtstagen auch Todesfälle mit schäferlichen Texten bedacht werden konnten, ohne dass eine große Umformung der einzelnen Textele- mente von Nöten ist, da zur Schäferdichtung immer auch die Liebes- und die Zeitklage gehört, die sich gut zur Totenklage umwidmen lässt.14 Wenn auch die Hercinie im engeren Sinne keine Gelegenheits- dichtung ist, so stellte Opitz mit der Prosaekloge ein sowohl literari-

11 Martin Opitz: Die Schäfferey von der Nimfen Hercinie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1630. Hrsg. und eingeleitet von Karl F. Otto, Jr. Bern, Frank- furt/Main 1976, S. 5-6. 12 Pegnesisches Schäfergedicht in den Berinorgischen Gefilden angestimmet von Strefon und Claius. Nürnberg 1644. Fortsetzung Der Pegnitz-Schäferey [...] Nürnberg 1645. Nachdruck Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1966 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 8). Ausführlich zu diesem Text kürzlich Klaus Garber: Pastorale Aufrichtigkeit. Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs ‘Pegnesisches Schäfergedicht’. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hrsg. von Claudia Benthien und Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 191-206. 13 Ausführlich über diese Ekloge und über das Gesamtwerk von Kongehl wird be- richtet in Andreas Keller: Michael Kongehl (1646-1710). Transitorische Text- konstitution und persuasive Adressatenlenkung auf der Basis rhetorischer Gene- seprinzipien im Gesamtwerk des Pegnitzschäfers in Preußen. Berlin 2004. (= Studium Litterarum. Studien und Texte zur deutschen Literaturgeschichte 2). Zur zitierten Ekloge vgl. die S. 158-163. 14 Zu den Trauerschäferspielen siehe Maria Fürstenwald: Letztes Ehren-Gedächt- nüß und Himmel-klingendes Schäferspiel. Der literarische Freundschafts- und Totenkult im Spiegel des barocken Trauerschäferspiels. In: Daphnis 2 (1973), S. 32-53. Vgl. auch die Textausgabe: Trauerreden des Barock. Hrsg. von Maria Fürstenwald. Wiesbaden 1973 (= Beiträge zur Literatur des 15. bis 18. Jahrhunderts 4).

Chloe 43 Vier Hochzeiten und ein Todesfall 203 sches als auch inhaltliches Experimentierfeld für Gelegenheitsdich- tung zur Verfügung, das von seinen Zeitgenossen gerne genutzt wurde. Dass es möglich war, nicht nur Hochzeiten und Todesfälle, sondern alle Ereignisse des privaten, gesellschaftlichen und politischen Lebens unter dem gemeinsamen Dekorum des Schäferlichen zu gestalten, war vor langer Zeit vorbereitet worden, und dies zeigt das dritte Zitat:

Meliboeus: Tityrus, du liegst geruhsam im Schatten breitwipfelnder Buche, bläst dir dein ländliches Liedchen auf einfacher Flöte des Hirten. Ich aber muß mein Heim, mein liebes Gütchen, verlassen, denn man treibt mich ins Elend: du, Tityrus, ruhend im Schatten, lässt “Amaryllis ist schön” erschal- len im Echo der Wälder. Tityrus: O Meliboeus, ein Gott war’s, der uns diese Muße vergönnt hat: ihn werde stet ich als göttlich anschaun, und seine Altäre wird oft ein Lamm von den meinen mit Opferblute benetzen. Sein Wort gab meinen Rindern die Weide frei, ihm auch verdank ich’s, daß ich auf ländlicher Flöte, wie mir’s beliebt musiziere. (1, 1-10).15

So beginnt die erste Ekloge Vergils, der damit die Eklogenliteratur durchgängiger als sein Vorgänger Theokrit auch der Panegyrik öff- nete. Die komplexe Entwicklung des schäferlichen Schreibstils, der sich im Deutschland des 17. Jahrhunderts über alle literarischen Gat- tungen erstrecken kann und in unterschiedlicher Gewichtung panegy- rische, politische und gesellschaftliche sowie gesellschaftspolitische Elemente enthält, hat ihre Wurzeln in Vergils Theokrit-Rezeption. Der Autor übernimmt aus den Idyllen Theokrits formale, aber auch inhalt- liche Gestaltungsmittel wie den Wettkampf zwischen zwei Hirten, die Liebesklage, das Liebeslied und verbindet diese nun stärker als sein Vorgänger mit panegyrischen Elementen, der Erwähnung von Zeitge- nossen und aktuellen politischen Themen.16 Dazu tritt als Handlungsort eine befriedete Naturlandschaft, die in seinen späteren Eklogen ‘Arkadien’ genannt wird, und die weniger ein geographischer als vielmehr ein emotionaler Ort des Friedens ist. Da- her können Tityrus und Meleboeus einander gegenübersitzen und der

15 Zitiert nach: Vergil: Hirtengedichte (Eklogen). Übersetzt und herausgegeben von Harry C. Schnur. Stuttgart 1968, S. 3. 16 Bernd Effe: Die Genese einer literarischen Gattung: Die Bukolik. Konstanz 1977 (= Konstanzer Universitätsreden 95), sowie Bernd Effe und Gerhard Binder: Die antike Bukolik. Eine Einführung. München, Zürich 1989.

Chloe 43 204 Christiane Caemmerer eine beschreibt seinen augenblicklichen Aufenthaltsort als locus terri- bilis und der andere den seinen als locus amoenus. Arkadien kann seither zeitlich verstanden werden und auf Vergangenes und Zukünf- tiges verweisen und es kann räumlich definiert werden und einen na- hen oder entfernten Ort meinen. Denn Arkadien manifestiert sich auch in der sozialen oder emotionalen Zufriedenheit des Einzelnen.17 Die Etablierung dieser Möglichkeit, ein Wunschreich, eine Utopie18 zu ge- stalten, und die Öffnung der Eklogendichtung zur Allegorese bestim- men ganz entscheidend die Funktion der Bukolik in der Kasualdich- tung19 des 17. Jahrhunderts. Bereits in den Poetiken ist die Engführung der schäferlichen Lite- ratur mit der Gelegenheitsdichtung unzweifelhaft. Opitz spricht hier von den “Eclogen oder Hirtenliedern”, die “von schaffen/ geißen/ see- werck/ erndten/ erdgewächsen/ fischereyen vnnd anderem feldwesen” reden und “alles worvon sie reden/ als von Liebe/ heyrathen/ abster- ben/ buhlschafften/ festtagen vnnd sonsten auff jhre bäwrische vnd einfältige art vor zue bringen” pflegen.20 Es sind der einfache Stil und das freundliche Thema – Liebesgeschichten – die die Schreibart für die Ausschmückung von Festen und Feiertagen prädestinieren. Ge- rechtfertigt wird dies meist durch die in den Ursprungsmythen der bu- kolischen Dichtung festgeschriebene Paradoxie, sie sei als die älteste Dichtung sowohl die erhabenste als auch die schlichteste Dichtung. So bietet sich die bukolische Schreibform dafür an, einfach über die grundlegenden Dinge des menschlichen Lebens sprechen zu können.21

17 Bruno Snell: Arkadien. Die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: Europäi- sche Bukolik und Georgik. Hrsg. von Klaus Garber. Darmstadt 1976 (= Wege der Forschung 355), S. 14-43. 18 Die Idee der arkadischen Utopie hat vor allem Klaus Garber ausführlich herausgearbeitet. Siehe hierzu den Überblicksartikel Klaus Garber: Arkadien- Utopie. In: Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften. 4. Bd. Hamburg 1990, S. 685-690. 19 Zur engen Verbindung der Silven/ Gelegenheitsgedichte mit der bukolischen Literatur vgl. auch Wolfgang Adam: Poetische und Kritische Wälder. Untersu- chungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‘bei Gelegenheit’. Heidelberg 1988, S. 64-66. 20 Opitz, Martin: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hrsg. von Cornelius Sommer. Stuttgart 1970, S. 28. 21 So unter anderem auch Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Faksimile- Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561 mit einer Einleitung von August Buck. Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. 6. Diese Vorstellung wurde später von Sigmund von Birken, Albrecht Christian Rotth und anderen wieder aufgenommen.

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Auch August Buchner, der ein großer Förderer vor allem des schä- ferlichen Dramas war, betont die kasuale und panegyrische Funktion der bukolischen Dichtung, indem er in seiner Poetik die Eklogen im Zusammenhang mit den Lobgesängen, Geburtstags-, Hochzeits- und Begräbnisgedichten nennt.22 Und so gibt es bukolische Dichtung zu den genannten Festtagen und einer ganzen Reihe weiterer festlicher Augenblicke des menschlichen Lebens wie Friedensfeiern und fürstli- che Besuche, Magisterexamen und Promotionen. Der Filmtitel Vier Hochzeiten und ein Todesfall gibt dabei fast exakt das statistische Mengengerüst wieder, von dem ausgegangen werden kann: Signifi- kant häufiger als andere Ereignisse des menschlichen Lebens, so wei- sen es die von Klaus Garber initiierten Bände zum Gelegenheits- schrifttum nach,23 bieten Hochzeiten Anlass für Gelegenheitsdichtun- gen und ebenso signifikant häufig – dies lässt sich den Untersuchun- gen von Fridrun Freise zu den Thorner Gelegenheitsschriften entneh- men24 – wird für die dichterische Ausstattung einer Hochzeit die schä- ferliche Schreibform gewählt. Dabei ist diese Schreibform nicht eindeutig der traditionellen Gat- tung zugeordnet. Gerade die schon bei Theokrit und Vergil reichlich vertretenen Dialoge führen zu einer semidramatischen Form, die sich in allen traditionellen Gattungen manifestieren kann. Und so gehören zur bukolischen Kasualdichtung neben der Prosaekloge auch die Vers- ekloge, die gerne das dialogische Element des Wettgesanges auf- nimmt, und das Schäferspiel, das Schauspiel, Ballett, Präsentation pa- negyrischer Gedichte an einem als bukolischer Ort ausgestatteten Spielort, Oper oder eine Mischform, die alle Elemente verbindet, sein kann. Wie weit auch die epische Gattung des sogenannten Schäferro- mans in Deutschland anlassgebundene Schlüsseldichtung ist und da- mit zu den Kasualdichtungen gehört, kann im Augenblick noch nicht

22 August Buchner: Anleitung zur deutschen Poeterey. Wittenberg 1665. Reprint Hrsg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1966 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Barock 5), S. 10. 23 Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber. Hildesheim 2002 ff. 24 Fridrun Freise: Das Kasualgedicht als öffentlicher Raum. Strategien der Reprä- sentation und sozialen Selbstvergewisserung in Thorner Gelegenheitsschriften des frühen 18. Jahrhunderts. In: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Caroline Emelius u.a. Göttingen 2004, S. 251-268.

Chloe 43 206 Christiane Caemmerer gesagt werden. Hier fehlen immer noch zu viele Informationen zu die- ser bukolischen Schreibvariante.25 Die genannten Formen können mit unterschiedlichen Distributions- formen zusammengehen, die den gängigen Distributionsformen inner- halb der Kasualdichtung entsprechen. Die Texte können nur gedruckt und zugeschickt werden, nur gedruckt, aber überreicht, und sie können präsentiert, gedruckt und überreicht werden. Für den bürgerlich-ge- lehrten Bereich bieten sich hier Birkens Tagebücher als Informations- quelle für die Distribution von Prosaeklogen oder Eklogen an.26 Diese unterschiedliche Form der Distribution gilt erstaunlicherweise auch für die dramatische Gattung der Schäferliteratur. Nicht immer ist hier der Fokus auf eine Aufführung gerichtet. Bereits die Entstehung von Guarinis Pastor Fido zeigt dies. Er war als Antwort auf Tassos Aminta zehn Jahre nach dessen erster Aufführung konzipiert worden und sollte auf der Hochzeit von Vincenzo Gonzaga mit Eleonora de Me- dici im Jahre 1584 aufgeführt werden, wurde aber erst ein Jahr später vom Autor dem Grafen Emanuel von Savoyen überreicht, als dieser mit seiner Braut in Mantua einzog, worauf im Prolog auch angespielt wird. Aufgeführt wurde das Spiel erst ein Jahr später am gleichen Ort in Anwesenheit von Vincenzo Gonzaga und Catharina von Öster- reich.27 Einen ähnlichen Fall zeigt Johann Christian Hallmanns Umgang mit seinem Schäferspiel Rosibella. Es wurde zunächst auf der Bres- lauer Schulbühne aufgeführt und zwei Jahre später zu einem aufwen- digen höfischen Festspiel umgearbeitet, das nun unter dem Titel Die Sinnreiche Liebe oder der Glückseelige Adonis und die vergnügte Ro- sibella auf die bevorstehende dynastische Verbindung zwischen Kai- ser Leopold und Claudia Felicitas Bezug nimmt und dabei im Vor- und Nachspiel das ganze panegyrische Potential der Gattung aus-

25 Vgl. hierzu Christiane Caemmerer: Deutsche Schäffereyen. Texte zwischen Text- sorten, Allianzen zwischen Texten. Dargestellt an Christian Brehmes ‘Schäfferey von der schönen Coelinden [...]’. In: Textallianzen am Schnittpunkt der germani- stischen Disziplinen. Hrsg. von Alexander Schwarz und Laure Abplanalp Luscher. Bern 2001. (= Tausch. Textanalyse in Unterricht und Schule. 14), S. 527-542. 26 Vgl. Anm. 7. 27 Hierzu Walter W. Greg: Pastoral poetry and pastoral drama. A literary inquiry, with special reference to the prerestoration stage in England. New York 1959. [Erstdruck: 1906], S. 206 f. hier vor allem Anm. 1.

Chloe 43 Vier Hochzeiten und ein Todesfall 207 nutzt.28 Hallmann überreichte 1673 das Spiel in Wien dem Kaiserpaar während der Feierlichkeiten zu ihrer Hochzeit. Wird in der Forschung darüber berichtet, so schleicht sich hier immer leicht der Tonfall des bedauernden Mitleides mit dem Autor ein: ‘nur überreicht’. Aber war es hier wirklich um mehr gegangen? War nicht die kasuale Aufgabe schon mit dem Überreichen erfüllt? Dennoch entwickelte sich auch die Aufführung von Schäferspielen oder kleinen panegyrischen Schäferaufzügen bereits zum Ende des 16. Jahrhunderts zu einem wichtigen Element innerhalb des höfischen, des adligen Festwesens. Anlass waren ‘private’ Familienfeiern ‘großer Herren’wie Taufen, Geburtstage, Verlobungen und Hochzeiten. Hier repräsentierten die Fürsten in ‘Ansehung ihrer eigenen Personen und ihres Hauses’, wie es Julius Bernhard von Rohr in seinem Zeremonial- buch29 schreibt, und dies war auch das Umfeld der bukolischen Kasu- aldramatik. Während in Bayern und Österreich die Aufführungen in italieni- scher Sprache stattfanden, bedienten sich die übrigen Regionen der deutschen Sprache. Bis Mitte des 17. Jahrhunderts waren die Spiel- vorlagen Übersetzungen und Bearbeitungen von französischen oder italienischen Schäferspielen, die inhaltlich in den festlichen Rahmen und in das politische und gesellschaftliche Umfeld des jeweiligen Ho- fes integriert wurden. Dass dies über Prologe oder Vorspiele ge- schieht, ist ein gängiger Usus bei Schauspielen, die auf höfischen Festen gespielt wurden und nicht auf Schäferspiele beschränkt. Diese jedoch eignen sich aufgrund einiger textsortenspezifischer Elemente besonders gut für die argumentative Integration des Festortes und der Zuschauer. Im Augenblick des Spiels wird der Aufführungsort mit dem Spielort identifiziert, was bedeutet, dass der jeweilige Hof, an dem die Handlung gerade stattfindet, zum arkadischen Friedensreich wird. Dies gilt vor allem für die kleinen Aufzüge, die häufig von den Mitgliedern des Hofes selbst entworfen30 und zum Teil dann von den

28 Vgl. Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder Triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele des 17. Jahrhunderts dargestellt in einzelnen Untersu- chungen (= Arbeiten und Editionen zur Mittleren Deutschen Literatur. NF 2), S. 437-457. 29 Julius Bernhard von Rohr: Einleitung zur Ceremonial-Wissenschaft der großen Herren. Berlin 1729. Hierzu 1. Theil: Von dem Privat-Ceremoniel der grossen Herren in Ansehung ihrer eigenen Personen/ und ihres Hauses. 30 Hirten-Lust Und Schäffer-Freude/ Auff deß in allen Landen Höchstberühmbten Hessischen Hirtens Daphnis, Den 25. Jenner glücklich erschienenen Geburts-

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Kindern der fürstlichen Familie und ihrem Tanzmeister aufgeführt wurden.31 Dies gilt aber ebenso für die größeren Spiele. Vorgeführt hatte auch dies schon Guarini. Er ließ den Prolog zum Pastor Fido von Alpheus sprechen: dem Flussgott, der auf der Suche nach der Flußnymphe Arethusa sein Flussbett und Arkadien verlässt und durch die Länder Europas streift, dabei aber das arkadische Potential seiner Heimat mit- nimmt. So kommt er auch nach Mantua und preist dort Carlo Ema- nuelle. Aber so kann er natürlich auch nach Dresden kommen. Dies schreibt jedenfalls der in den 1650er Jahren für das Festwesen des Dresdner Hofes zuständige Ernst Geller in die Vorrede zur Pastor Fido-Aufführung einer Wanderbühne hinein, die 1653 zum Namens- tag der drei Fürsten Johann Georg veranstaltet wurde. “Die Hürten sag’ ich/ die/ die der Ferrarer Schwaan/ | Sehr prächtig hat geführt auf den Toskanschen Plaan/ | Die Hürten lassen sich auch albereit erfin- den | Hier um den Elbenstroom/ und dessen grünen Gründen [...].”32 Das Friedensreich Arkadien ist in jede Gegend transponierbar, be- inhaltet für den Adressaten der Aufführung aber auch eine Verpflich- tung, und daher ist häufig in die panegyrischen Prologe oder Epiloge ein Fürstenspiegel integriert, dessen genaue Zielrichtung meist erst eine detailliert Untersuchung des tagespolitischen Umfeldes eines Ho- fes offenbart. So lässt Caspar Stieler seine Bearbeitung eines Spiels von Montchrestien, die 1667 unter dem Titel Basilene in Schwartz- burg-Rudolstadt33 zum Geburtstag des Fürsten Albert Anton aufge- führt wurde, anstatt von Cupido – wie in der Vorlage – vom kriegs-

Tag. [...] Durch Deß so Hochbenamten treffliche Hirtens Hertzgeliebte Schönste Schäfferin Galatheen ersonnen [...]. Darmstadt 1671. Zu Elisabeth Dorothea als Autorin vgl. Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Re- präsentation in Hessen-Darmstadt 1624-1790. Darmstadt 2002, S. 389-402. 31 Kurtzes Schäffer-Spiel/ An dem glücklich erlebten Geburts-Tage der Durch- lauchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen Christina/ Hertzogin zu Sachsen. Gotha [nach 1680]. Hier tanzten die Kinder des Herzogs Friedrich I. von Sachsen-Gotha zum Geburtstag ihrer Stiefmutter, von ihrem Tanzmeister unterstützt, ein schäfer- liches Ballett. 32 Ernst Geller: Arkadischer Hürten-Aufzug [...]. Dresden [1653]. 33 Zu Stielers Basilene und seiner Vorlage siehe Caemmerer (s. Anm. 28), S. 197- 242. Zu den Festspielen Stielers für den Hof Schwartzburg-Rudolstadt vgl. auch Wolfgang Neuber: Ästhetik als Technologie des fürstlichen Selbst. Caspar Stie- lers Rudolstädter Festspiel ‘Der vermeinte Printz’ (1665) und das Zeremoniell. In: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. v. Jörg Jochen Berns und Thomas Rahn. Tübingen 1995, S. 250-265.

Chloe 43 Vier Hochzeiten und ein Todesfall 209 müden Mars einleiten: “Du sterblichs Volk/ erzitter nicht vor mir/ | Ob ich schon schrecklich bin! | Dir gilt es nicht. [...]” (Prolog, Bl Aiijv) und von der friedenbringenden Irene beenden: “Umfange mich mein Freund/ Albert Anthon / | Mich/ deinen Gast/ mich deiner Tugend Lohn!” (Epilog, Bl. Kivv). Was aber die Voraussetzung für den Auf- enthalt des Friedens ist, wird vom Autor deutlich benannt: Achtung vor der Religion und Einhaltung des Rechts: “So lange Du wirst ob derselben halten/ | Das edle Recht in würden lassen stehen/ | Dein Re- giment mit Frömmigkeit verwalten | Soll mein Geleit/ das sichre/ mit dir gehen/ | Biß endlich ich in Frieden und in Ruh| Dich trage nach den Ewigkeiten zu.” (Ebd.) Dieser Appell an Sitte und Gesetz beschließt das heitere Schäfer- spiel, in dem schlussendlich alle Paare zueinander gefunden haben. Gleichzeitig bieten hier und in anderen Schäferspielen die feststehen- den Handlungskonzepte die Möglichkeit, nicht nur über Prolog und Epilog Panegyrik und Fürstenspiegel zu verbinden und zu transportie- ren. Zwei Grundmuster bestimmen die Texte. Zum einen ein Spiel- muster, in dem es nach dem Motto: ‘Ein Jüngling liebte ein Mädchen, das hat einen anderen gern’ um Fragen der Partnerwahl geht. Der Sieg der Liebe, mit dem jedes dieser Spiele endet, ist immer auch eine Re- ferenz an das Herrscherhaus, das es gerade zu feiern gilt. Denn das glückliche Ende wird mehr als einmal einem fürstlichen deus ex ma- china verdankt, der die Paare zusammenbringt. Hier wird mit dem Sieg der Liebe ganz generell die Macht des jeweiligen Fürstenhauses affirmiert. Zum anderen gibt es ein Spielmuster, in dem die höfische Welt mit der schäferlichen Welt konfrontiert wird. Hier gibt die Liebe zwischen Schäferin und Fürst die Möglichkeit zu deutlicher Hofkritik. Dabei ist die geliebte Schäferin weniger Vertreterin des niederen Standes als vielmehr Personifikation herrschaftlicher Tugenden, mit denen sich der Fürst des Spiels verbindet. Der Fürstenspiegel wird hier vom Au- ßenbereich des Prologs oder Epilogs in den Binnenbereich des Stü- ckes gebracht, und das gattungsdefinierende glückliche Ende führt zu einem politisch und gesellschaftspolitisch versöhnlichen Schluss. In diesem versöhnlichen Schluss bleibt dann auch die Utopie-Kompo- nente der Schäferliteratur, die in den Prosaeklogen noch durchaus aus- führlicher aufgefächert wurde, stecken. In der bukolischen Gelegenheitsdichtung verbinden sich immer wieder die Tradition des höfischen Kommunikationsmodells, wie es

Chloe 43 210 Christiane Caemmerer bei Liselotte von der Pfalz im ersten großen Zitat vorgestellt wurde, die schäferlichen Liebesgeschichten aus den italienischen und franzö- sischen Stücken und die gelehrt-literarische Tradition, wie sie die Schäfferey von der Nimfen Hercinie verkörpert. So gibt es zum Bei- spiel parallel zur allegorischen Auslegung von Emblemata in den Pro- saeklogen die feinsinnigen Auslegungen von Himmelszeichen in ei- nem Spiel zum Geburtstag von Gustav Adolph von Mecklenburg- Güstrow34 und immer wieder Adaptionen des Cupido-Prologs aus dem Pastor Fido auf bürgerlichen Hochzeiten. Häufig wird das Signal ‘schäferlich’ aber nur über das gedruckte Titelblatt oder die Über- schrift gesetzt. Dennoch zitiert auch das kleinste Lied immer die gro- ßen Traditionen mit und macht Hoffnung auf ewigen Frieden oder ewige Liebe, und darin liegt bestimmt auch die große Beliebtheit des schäferlichen Schreibstils für festliche Gelegenheiten.

34 Hirten-Spiel Auff den Geburts-Tag Des Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn Herrn Gustaff Adolphen/ Hertzogen zu Mecklenburg. [...] Güstrow 1671.

Chloe 43

S i e g f r i e d W o l l g a s t

ZUR KASUALDICHTUNG UND KASUALREDE BEI UND UM DANIEL CZEPKO

Daniel Czepko, der 1636 den ererbten Adelstitel von Reigersfeld wie- der annahm und dies 1656 bzw. 1658 von Kaiser Leopold I. bestätigt erhielt, wurde am 23. September 1605 in Koischwitz, unweit Liegnitz geboren.1 Ein Jahr nach seiner Geburt wurde sein Vater Pastor der protestantischen Gemeinde in Schweidnitz. Er studierte zunächst in Leipzig Medizin, 1624 in Straßburg vornehmlich Jurisprudenz. Mat- thias Bernegger übte auf den nur kurze Zeit in Straßburg verbleiben- den jungen Czepko eine große Wirkung aus. Er erfuhr in Straßburg,

daß mehr als die Mauerkirche das innere Wort sei, daß die reine Lehre oberhalb der Konfessionsstreitigkeiten stehe, und so kam Czepko zu der sein ganzes Leben beherrschenden religiösen Stellung eines Mannes, der vermeinte, ein frommer Protestant zu sein, und dessen religiöse Lehren mit der lutherischen Tradition doch vielfach nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, weil eine Fülle älterer und neuerer Lehren aus Mystik und Magie, aus Neuplatonismus, Paracelsismus und Pansophie in sie eingegan- gen ist.2

Im Jahre 1626 kehrte Czepko nach Schweidnitz zurück. Die Unterdrü- ckung der Protestanten – sie erreichte 1628/29 in Schlesien einen er- sten Höhepunkt – und persönliche Probleme zwangen ihn jedoch,

1 Vgl. zum Folgenden Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung 1550-1650. 2. Aufl., Berlin 1993, S. 826-852. Zu Czepkos Lebensgang vgl. Daniel Czepko: (Entwurf einer Autobiographie). In ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitarb. von Ulrich Seelbach hrsg. von Hans-Gert Roloff und Marian Szyrocki †, Bd. VI: Briefwechsel und Dokumente zu Leben und Werk. Bearb. von Lothar Mundt und Ulrich Seelbach. Berlin, New York 1995, S. 202-227; Matthaeus Hoffmann: Personalia. In: ebd., S. 228-239. 2 Werner Milch: Daniel von Czepko. In ders: Kleine Schriften zur Literatur- und Geistesgeschichte. Mit e. Nachwort von Max Rychner hrsg. von Gerhard Burk- hardt. Heidelberg-Darmstadt 1957, S. 107.

Chloe 43 212 Siegfried Wollgast nach zwei Jahren die Stadt erneut zu verlassen. Er hielt sich in Brieg, dann auf den Gütern verschiedener schlesischer Freunde auf, arbeitete zeitweilig als Hauslehrer in Oberschlesien. Seine Lage besserte sich erst, als er im Jahre 1632 auf das Gut Dobroslawitz, unweit Cosel, übersiedelte, das den Baronen Karl Heinrich, Hans Georg und Wenzel Friedrich Czigan gehörte. Hans Georg Czigan und Lazarus Henckel von Donnersmarck unterhielten enge Verbindung zu Bernegger, auch zu Abraham von Franckenberg. Die Czigans hatten während ihres Studiums mit mystischen Kreisen Verbindung, vielleicht auch zum Kreis um Jakob Böhme.3 Nach Schweidnitz zurückgekehrt, heiratete Czepko 1636 eine Arzttochter. Deren große Mitgift ermöglichte ihm, trotz empfindlicher materieller Verluste während des Dreißigjährigen Krieges ein unab- hängiges Leben als Privatmann zu führen. Er entwickelte eine rege politische und soziale Tätigkeit, gab mehrere politische und histori- sche Schriften heraus, erarbeitete einen Vorschlag zur wirtschaftlichen Sanierung der schlesischen Städte, wandte sich scharf gegen die Un- terdrückung der schlesischen Protestanten und forderte Religionsfrei- heit. 1657 wurde Czepko Rat bei Christian von Wohlau-Ohlau (1618- 1672), dortiger Herzog seit 1639, und siedelte an dessen Hof nach Ohlau über. In den Jahren 1659 und 1660 befasste er sich in dessen Auftrag mit der Untersuchung und Neueröffnung der Gruben in Rei- chenstein an der Grenze zur Grafschaft Glatz. Während einer Besich- tigung der Grubenschächte erlitt er eine Gasvergiftung und starb wohl an deren Folgen am 8. September 1660.4 Czepko schrieb außer zahlreichen poetischen, politischen und histo- rischen Werken auch Abhandlungen über Rechtsfragen, über Bergbau und Medizin. Er gilt als einer der Hauptvertreter der antihöfischen Moralsatire seiner Zeit. Ein abgerundetes Urteil über den Pansophen Czepko kann erst gefällt werden, wenn eine systematische Untersu-

3 Werner Milch: Daniel von Czepkos Stellung in der Mystik des XVII. Jahrhun- derts. In: Archiv für Kulturgeschichte 20 (1929/30), S. 264; Daniel von Czepko: Geistliche Schriften. Hrsg. von Werner Milch. Breslau 1930 (Reprint Darmstadt 1963), S. XVII. 4 Werner Milch: Drei zeitgenössische Quellen zur Biographie Daniel Czepkos. In: Euphorion 30 (1929), S. 257-281. Vgl. Zacharias Allert: Bericht-Schreiben an Graf Ernst von Gelhorn (24. Aug. 1674). In: Czepko: Sämtliche Werke Bd. VI (s. Anm. 1), S. 244f.; Sigismund Grassius: Historia morbi Danielis a Czepko. In: ebd., S. 262-265, S. 268-271.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 213 chung seiner Theologie, Philosophie, Gesellschaftstheorie und Dich- tung – bei der die Kasualdichtung einen gewichtigen Anteil ausmacht – erfolgt ist. Czepko ist, indem er für die weitere freie lutherische Re- ligionsausübung in den katholisch gewordenen schlesischen Fürsten- tümern eintritt, Vertreter der religiösen Toleranz, der Urform der weltlichen Toleranz. Er ist gegen die Kriege seiner Zeit und gegen den Glaubenshass. Für Czepko ist der Neuplatonismus prägend. Mystik, Magie, Alchemie und Kabbala spielen in seinen 1648 abgeschlosse- nen Sexcenta Monodisticha sapientum, einer Sammlung von 600 Ale- xandrinerreimpaaren, eine große Rolle. Die am 17. März 1660, wenige Monate vor seinem Tode, von Czepko im “Fürstlichen Leid-Zimmer” des Schlosses zu Ohlau nach der Beisetzung der noch nicht dreijährigen Prinzessin Louise gehal- tene Abdankung fällt aus dem Rahmen üblicher Leichenpredigten her- aus.5 Czepko gestaltete sie auf Befehl seines Herrn, des Herzogs, vor “Fürstlichen und anderen fürnehmen Standes-Personen”, während sich sein Kollege, Regierungsrat Rudolph Gottfried Kniche, derselben Aufgabe zur gleichen Zeit im Schlosshof vor dem niederen Adel, der Geistlichkeit und der Bürgerschaft zu unterziehen hatte. Ist es schon ungewöhnlich, dass nach ein und derselben Beisetzung zwei Leichenpredigten vor dem nach Ständen abgestuften Trauerge- folge stattfinden, so ist es noch ungewöhnlicher, dass die zentrale Lei- chenfeier, im Beisein der hinterbliebenen Eltern gehalten, in der Lei- chenpredigt auf Louise, die wenig später in Brieg gedruckt wurde, nicht enthalten ist, während die von Kniche vorgetragene – nach Wer- ner Milch “eine end- und kunstlose Reihung konventioneller Welt- klage-Topoi” – darin aufgenommen wurde. Erst vier Jahre später sollte Czepkos Abdankung stark gekürzt, ohne Bezug zum Kasus und in einer von Kabbala wie Mystik gereinigten Form im Druck erschei-

5 Zur Leichenpredigt vgl. Rudolf Lenz: De mortuis nil nisi bene? Leichenpredigten als multidisziplinäre Quelle unter besonderer Berücksichtigung der Historischen Familienforschung, der Bildungsgeschichte und der Literaturgeschichte. Sigma- ringen 1990, zu Czepko dort S. 145 f. und Magorzata Morawiec: Die Schweid- nitzer Leichenpredigten als Quelle zur Erforschung der Literatur einer schlesi- schen Provinzstadt an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert. In: Zur Literatur und Kultur Schlesiens in der Frühen Neuzeit aus interdisziplinärer Sicht. Hrsg. von Mirosawa Czarnecka. Wrocaw 1998, S. 61-96. Zu Czepkos Parentatio vgl. Sibylle Rusterholz: Rhetorica mystica. Zu Daniel Czepkos Parentation auf die Herzogin Louise. In: Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Hrsg. von Rudolf Lenz. Marburg/Lahn 1979, Bd. 2, S. 215-253, bes. S. 251, 249.

Chloe 43 214 Siegfried Wollgast nen. Sie ist in dem um 1665 in dem von Fellgiebel in Breslau heraus- gegebenen Sammelband von Trauerreden und Abdankungen zu fin- den.6 Welche Gründe Herzog Christian, den Vater Louisens, bewogen haben mögen, eine Doppel-Parentation zu veranlassen, kann nur ver- mutet werden. Sicher wusste der Herzog bereits bei der Auftragser- teilung an Czepko, von welcher spiritualistisch-mystischen Geistes- haltung dessen Rede getragen sein würde, kannte er ihn doch seit Jah- ren. Nicht zuletzt aus diesem Grunde wird er Kniche mit der zweiten Abdankung, die dann auch der gedruckten Leichenpredigt beigegeben werden konnte, beauftragt haben. Sollte Herzog Christian Czepkos Auffassung teilen, sie billigen oder um ihren oppositionellen Charak- ter wissen? Dafür spricht, dass Czepko seine Rede nur im engsten Kreise fürst- licher- und Standespersonen sowie in Abwesenheit der Geistlichkeit gehalten hat und dass diese von heterodoxem Geist geprägte Rede wohl in der Leichenpredigt nicht publiziert wurde, um bei der weltli- chen und geistlichen Obrigkeit keinen Anstoß zu erregen. Die Ori- ginalausgabe ist in der Werkausgabe wieder enthalten.7 Auch diese Parentatio auf die Prinzessin Louise reflektiert jenes spekulative Sys- tem, “das Czepko im Gefolge seiner Berührungen mit pansophisch- mystischen Zeitströmungen ausbildete und das seinen Niederschlag […] bereits in der frühen Consolatio ad Baronissam Cziganeam sowie in der aus dem Jahre 1652 stammenden Prosavorrede zur Semita Amo- ris Divini gefunden hat.”8 Czepkos Rede auf Prinzessin Louise birgt, wie schon seine Consolatio ad Baronissam Cziganeam, Ideen der neuplatonischen Emanationslehre, nach der sich das Sein stufenweise aus dem Nichts entfaltet.

6 Vgl. Hans-Joachim Koppitz: Der Verlag Fellgiebel. In: Kulturgeschichte Schlesi- ens in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 2005. Bd. 1, S. 445-512, hier S. 466. 7 Czepko: Parentatio auf Herzogin Louise. I. Vortrags-, II. erweiterte, III. Druck- fassung. In ders. Sämtliche Werke. Bd. V: Prosa-Schriften II. Berlin, New York 1992, S. 393-474. Ich berücksichtige nur die Fassungen I (S. 393-408) und II (S. 409-447). Vgl. zu diesem Anlass Czepko: Fürstlicher Leichen-Schmuck. Auff den Sarg der […] Fürstin und […] Fräulein Louise, gebohrner Hertzogin in Schlesien, zu Liegnitz, Brieg und Wohlau. In ders.: Sämtliche Werke. Bd. II: Vermischte Gedichte. T. 2: Deutsche Gedichte. Bearb. von Lothar Mundt u. Ul- rich Seelbach. Berlin, New York 1997, S. 242-244. 8 Rusterholz: Rhetorica mystica (s. Anm. 5), S. 242.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 215

Czepko ist weit von der lutherischen Orthodoxie seiner Zeit und de- ren Normen entfernt. Zur “Tröstung, Erbauung und Belehrung”, wie sie zu den Aufgaben der Leichenpredigt gehören,9 bietet er, der Laie – in Schlesien wurde Mitte des 17. Jahrhunderts die Parentation zumeist von einem weltlichen Parentator gehalten – Reflektionen über Leben, Leid und Tod, Auferstehung und Jüngstem Gericht aus philosophisch- theologischer Sicht. So schon 1633 in der Consolatio ad Baronissam Cziganeam, obitum Sororis Plangentem für deren jüngere, von ihm verehrte Schwester Barbara Dorothea von Czigam und dann 1660 für die Eltern der Prinzessin Louise. In der Parentatio an die Herzogin Louise nehmen auch der Glaube an und die Ausrichtung auf Christus eine wichtige Rolle ein, doch sie werden in einen Zusammenhang gestellt, in dem mystische Gedanken gleichberechtigt neben das lutherische sola-fide-Denken treten. Der Ausgangspunkt und das Ziel aller mystischen Spekulationen, der ‘Ur- grund’, wird hier wieder bedeutend. Die Magie erscheint zunächst als die Kraft, die alles Seiende aus dem ‘Urgrund’ herausführt. Dieser Magiebegriff ist stark von Jakob Böhme abhängig, bei dem die Magie, vereinfacht gesagt, die Potenz in Gott wie auch im Menschen bedeu- tet, die des Willens Wollen in die Realität umsetzt, wobei sie als neu- trales Prinzip Böses und Gutes gleichermaßen wirkt. Umgekehrt macht aber die Magie auch die Rückkehr in den Anfang, in den ‘Ur- grund’, möglich und um diese Rückkehr10 geht es in der Parentatio hauptsächlich. Die Alchemie hat dabei eine hinweisende Funktion. Das Gold und seine Eigenschaften, Ziel und Zweck alchemistischer Bemühungen, repräsentiert im geistlichen Bereich die Vollkommen- heit des Geistes, die in der Vereinigung der Seele mit ihrem Ursprung, dem Ziel aller mystischen Bemühungen, besteht. Der Kabbalist muss vor allem anderen ein rechter Christ sein. Hier dürfte eine Beeinflus- sung durch Abraham von Franckenberg vorliegen. Czepkos Mystik verbindet sich mit humanistischen, weitgehend Paracelsus angenä- herten, und mit pantheistischen Ideen. Sein gesellschaftliches und na- turphilosophisches Denken ist mit Mystik allein nicht zu erklären.

9 Lenz: De mortuis nil nisi bene? (s. Anm. 5), S. 9. 10 Jakob Böhme: Sex puncta, theosophica, oder Von sechs Theosophischen Puncten hohe und tiefe Gründung (1620). In ders.: Sämtliche Schriften. Faksimile-Neudr. der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, neu hrsg. von Will-Erich Peuckert. Bd. 4, Stuttgart 1957, S. 93-96.

Chloe 43 216 Siegfried Wollgast

Schon in der Consolatio ad Baronissam Cziganeam sagt Czepko seinen Zuhörern, “das Himmelreich ist inwendig in euch”. Durch Al- chemie, Magie und Kabbala könne “der Geist der Wiedergebohrnen in seine Vollkommenheit gesetzet werden”.11 Dieses, “sein geistliches Hauptwerk der Jugendzeit”,12 ist unter dem Aspekt der zur Kasualdichtung gezählten Leichabdankungen meines Erachtens noch nicht untersucht worden, ebenso noch nicht seine Trostschrift für den Doktor der Philosophie und Medizin Christian Charisius (1605-1663), auf den Tod von dessen Frau aus dem Jahre 1654. Nach Czepko ver- drängen wir häufig den Gedanken an den Tod. Leben heiße sterben. Beide seien nicht voneinander zu trennen. Ausflüchte dazu seien nicht haltbar. Der Tod sei eben Zerstörung und Gebärung zugleich. In seiner Argumentation benutzt Czepko zugleich Naturwissenschaft, Alche- mie, Philosophie, Bibel und Christentum. Gott wirke alles in der Na- tur, durch die Natur, und er ist die Natur. Wir sind seine Teile und Glieder,

ausser allem ist nichts, weil alle Sachen und Dinge dis ist, was die Natur beschleust. Alles schleust in sich die Natur, als eine eintzige Enthältnüs al- ler sichtbaren und unsichtbaren Dinge und Wesen. Was nun ausser den Dingen ist und ausser dem Wesen, das ist ausser der Natur. Denn es ist aus- ser allen und ist nichts. Aber ein solches nicht, das doch etwas, ich weiß nicht was, sol und muss genennet werden. Daraus alle Dinge gemacht und wieder gebracht werden. Gleichwie nun Gott der Natur einverleibet ist, als ein Gemüthe, das nichts anders wircket, als was die Natur ist und leidet, weil sie eines sind, und nirgend wohnet, als in der Ewigkeit, daraus denn folget, daß die Natur nicht allein ihm gleich, sondern auch die Ewigkeit selbst sey.13

11 Czepko: Parentatio (I) auf Herzogin Louise (Vortragsfassung). In ders.: Sämt- liche Werke Bd. V (s. Anm. 7), S. 431, 433-442. 12 Milch: Czepko (s. Anm. 2), S. 108. Nach Milch ist Czepkos Consolatio ad Baronissam Cziganeam “eine Gelegenheitsschrift nach dem Tode von Barbaras Schwester, die des jungen Czepko Lehrgebäude in voller Klarheit enthält”. Milch: Czepkos Stellung in der Mystik (s. Anm. 3), S. 264. Zu Charisius vgl.: Czepko: Trostschrift an Christian Charisius […] im Jahr M.D.C.LIV. In ders.: Sämtliche Werke Bd. V (s. Anm. 7), S. 309-362. 13 Czepko: Consolatio ad Baronissam Cziganeam. In ders.: Sämtliche Werke Bd. V (s. Anm. 7), S. 147-308, hier S. 207, vgl. S. 172. Vgl. zur Mystik bei Czepko: Alois M. Haas: Daniel Czepko von Reigersfeld. In ders.: Mystik im Kontext. München 2004, S. 382-387.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 217

Besser kann man den mystischen Pantheismus kaum auf den Punkt bringen. Kasualdichtung und -prosa verdeutlicht die Zeitsituation und die eigene Position, hier enthalten sie auch ein Bekenntnis zur Mystik. Gleichzeitig vertritt Czepko die Auffassung, Gott stehe in einem ewi- gen Weltschöpfungsprozess, er habe “nicht sich und das Gantze mit allem vor etliche tausend Jahren geschaffen”.14

Es ist nur eine Natur, darumb ist sie ewig, durch die Gott alles macht: In ihr hat sich Gott offenbahret, und durch sie wird erkannt, daß auch die himmli- schen Dinge natürlich sind. Alles, was nun ist, das ist Gott, denn es ist, in- dem es ist, von seinem Wesen, wollen, würcken und können, und dis ist in Gott alles eins. Dann was er wil, das würcket er, und kan nichts, als was er wil und wircket, und ist das beste. Er wircket alles in der Natur, durch die Natur, und ist die Natur. […] So wird die Natur gebohren in Gott, daß sie ist, und Gott wird in die Natur.15

Ich halte diese Stelle für eine fast klassische Formulierung des idea- listischen Pantheismus. Czepko sagt in dieser Abdankung auch:

Also ist Gott der Natur einverleibet und wircket alle Dinge darinnen, aber seine Allmacht und Weißheit wird aus der Behältnüs der Natur ausge- schlossen. Denn es bestehet ausser ihr und bildet viel höhere Dinge vor, als die Natur begreiffen mag.16

Zudem wird festgestellt: “Gott und die Seele kan man nicht unter- scheiden. […] Und also ist Gott in dem Menschen, und also ist der Mensch eine vollkommene Entwerffung der Zeit und Ewigkeit.”17 Im- mer wieder wird die Einheit von Mikro- und Makrokosmos dargetan. So ist auch diese Abdankung, wie alle Abdankungen Czepkos, zu- gleich ein theologisch-philosophisches Bekenntnis. Es geht hier nicht darum, die ganze Fülle oppositionellen Christentums in Czepkos Con- solatio ad Baronissam Cziganeam darzulegen, einige weitere solcher Gedanken, die nach Czepko der “Erbauung und Belehrung” des Auf- traggebers bzw. Adressaten dienen, seien jedoch angeführt. Das Unsichtbare offenbart sich im Sichtbaren. Das Geistige konk- retisiert sich in der körperlichen Realität. Dafür benutzt Czepko das

14 Ebd., S. 208. 15 Ebd., S. 227. 16 Ebd., S. 234. 17 Ebd., S. 242f.

Chloe 43 218 Siegfried Wollgast

Bild des Kreises: Der Mittelpunkt, das “Mittel”, in dem das Leben punktförmig enthalten ist, dehnt sich in der leiblichen Gestalt zum Kreis. Umkreis und Mittelpunkt bilden zusammen ein in sich ge- schlossenes Gebilde. Die Verbindung der Gegensätze zu einem Gan- zen ist das große Wunder. Zwischen Seele und Leib liegt “das uner- forschliche Mittel der heimlichen Vereinigung”.18 “Mittel” meint in diesem Zusammenhang einerseits, was in der Mitte zwischen zwei Dingen liegt, andererseits ist es das Verbindende oder das Binde-Mit- tel, das zwei Dinge zu einem Ganzen zusammenfügt. Gott sei der Mittelpunkt, von dem alles Leben ausgeht. Die Sonne sei jener Mittelpunkt, der allen Körpern und Wesen in seinem Um- kreis Leben verleiht. Bei den Metallen vertrete Gold die Stelle der Sonne, und bei den vier Elementen sei das Feuer das lebengebende Prinzip. Wenn Czepko Gott, Sonne, Gold und Feuer zueinander in Beziehung setzt, so steht er auch damit in einer mystisch-alchemisti- schen Tradition. Die Vorstellung, dass wesengleiche Dinge sich zu Ketten oder Reihen zusammenschließen, ist auch in der neuplatonisch geprägten Naturphilosophie der Renaissance weit verbreitet. Czepkos Analogien sind diesem neuplatonischen Ansatz verpflichtet. An seinen Ausführungen über das göttliche und irdische Feuer wird deutlich, dass er im Grunde ein Identitätsverhältnis meint.19 Das irdische Feuer ist dem “ersten Licht” bei allem Abstand doch gleich. Das Feuer ist Gott. In der Analogiereihe kann eines für das andere stehen. Wenn Czepko den Anteil der vier Elemente am menschlichen Organismus betrachtet, so setzt er das Feuer, das dem Körper vom Blutkreislauf aus Wärme spendet, mit der Seele gleich. Vor diesem Hintergrund er- hält das Wort vom “Seelenfunken” konkrete Bedeutung. Schöpfung geschieht jetzt und ewig. Der Emanation schließt sich die rückläufige Bewegung an, zurück in den Ursprung, womit sich der Kreis – die neuplatonische goldene Kette – schließt. Da alles ewig aus dem Einen fließt und so immer in ihm bleibt, ist das Ziel aller Bewe- gung wieder das Eine, das ‘Nichts’ oder die Ruhe. Der Rückgang in

18 Ebd., S. 240. 19 Vgl. ebd., S. 217. Czepko spricht auch Ferdinand III. Kenntnisse und Interessen am Reich der Natur zu. Vgl. Czepko: Inscriptio sive Epigramma Perpetuum Divi Ferdinandi Tertii Tumulo ad bonae Famae Fanum erecto (Inschrift oder fortlau- fende Aufschrift, dem beim Heiligtum des Ruhmes errichteten Grab des göttli- chen Ferdinand III. dargebracht, gewidmet und geweiht.) In ders.: Sämtliche Werke. Bd. II: Vermischte Gedichte, T. 1: Lateinische Gedichte. Bearb. von Lo- thar Mundt u. Ulrich Seelbach, Berlin, New York 1996, S. 484-487.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 219 den Anfang ist ein allmähliches Absterben der Kreatürlichkeit, denn er bedeutet das Abtun von Gestalt und Körperlichkeit und schließlich das Zurückgehen in die vollkommene Ruhe. Sterben bedeutet eine stu- fenweise Läuterung, die zum ersten und höchsten Prinzip zurückführt. Immer wieder wird man hier an Paracelsus, Valentin Weigel, Jakob Böhme erinnert, und an ihre direkten und indirekten Quellen – bis hin zum Neuplatonismus, zu Nicolaus Cusanus und den italienischen Na- turphilosophen. Auch die Gesetze von Läuterung und Sterben wiederholen sich auf allen Schöpfungsstufen. Das Samenkorn erstirbt in der Erde, um dann in höherer Gestalt, als Pflanze wieder zu erstehen. Nach alchemisti- scher Lehre hat das Erz die Tendenz, sich zu veredeln, bis es zu Gold wird. Bei der Verbrennung vollzieht sich eine Verwandlung des Nie- deren in das Höhere, des Holzes in das Feuer. Der Prozess, den die Speise vor ihrer Zubereitung bis zur Verwandlung in die Körpersäfte durchmacht, die schließlich die geistigen Funktionen tragen, wird als allmähliches Sterben oder als Läuterung des Stofflichen zum Geisti- gen gedeutet.20 In der ewigen Ordnung der Dinge ist der Mensch als Kreatur zwar den anderen Geschöpfen analog, doch nach der im neuplatonisch be- einflussten Denken verbreiteten Entsprechung von Mikro- und Mak- rokosmos ist er zugleich “der Beschluß aller Dinge, der Abriß Him- mels und der Erden”.21 Er enthält alle Dinge in sich und ist über ihnen, “er ist eine Ursach aller Dinge, die in ihm bestanden, und wann er wolte, es wären noch nicht alle Dinge, wäre er aber nicht, so wäre auch Gott nicht.” In seinen Gedichten formuliert er:

Die Kirche Gottes ist die Welt, Da lobt Gott Sonn und See und Feld: Die Kirche Gottes ist der Ort: Da sein Volck ehrt und hört sein Wort. Die Kirche Gottes, Mensch, bist du, Da Gott spricht deiner Seelen zu: Drey Kirchen hast du allermeist, O Mensch, den Leib, die Seel und Geist:

20 Vgl. ebd., S. 166, 244f. 21 Ebd., S. 221.

Chloe 43 220 Siegfried Wollgast

Dieselben hast du allbereit Dem Vater, Sohn und Geist geweiht.22

Mensch und Gott stehen für ihn zunächst in einer ungeteilten Einheit. Erst wenn der Mensch sich von Gott scheidet, erkennt er ihn als ver- schieden von sich selbst. Nun trennt sich das Irdische von Gott. Diese Trennung existiert aber nur für den Menschen; er hat sich aus seinem Bezug zum Ganzen gelöst und sucht die Welt absolut zu nehmen. Der Mensch vermag jedoch noch zu seinen Lebzeiten die Trennung rückgängig zu machen. Dann ist er nicht mehr Mensch im Sinne eines Einzelwesens, das sich von Gott und den Dingen unterscheidet. Er ist wieder der Mensch der anfänglichen Einheit. Zur Überwindung der Trennung verhilft ihm nach Czepko die Erkenntnis. Ein Ding kann danach nur im Unterschied zu seinem Gegenteil erkannt werden.23 So wäre das Licht ohne Finsternis nicht zu erfassen. Wenn Czepko die Erkenntnis Gottes in der Zeit fordert, so ist das die notwendige Ergän- zung zu diesen Sätzen. Erkenntnis ist einzig in der Zeit, im Zustand der Trennung möglich. Nur wenn ich die Zeit kenne, weiß ich, was Ewigkeit ist: der Gegensatz der Zeit. Nach der Zeit gibt es keine Er- kenntnis mehr, denn dann sind alle Gegensätze aufgehoben. Das Prin- zip der Erkenntnis einer Sache aus ihrem Gegenteil kommt bei Czepko nicht isoliert vor, sondern beruht auf dem Prinzip von Wurf und Gegenwurf in der Schöpfung. Das unsichtbare Göttliche gibt sich immer nur unmittelbar in seinem sichtbaren Gegenwurf zu erkennen.24 Da der Gegenwurf, in dem Gott sich offenbart, die Kreatur ist, wird diese wiederum zum Ausgangspunkt der Erkenntnis Gottes. Da Aus- fließen aus dem Ganzen immer zugleich Zurückgehen in den Ur- sprung bedeutet, verweist gerade das Niederste auf den Ursprung.25 Erkenntnis bedeutet, den Gegenwurf als solchen zu erkennen und so das Irdische für das Göttliche transparent zu machen. Czepkos Erkenntnisauffassung berührt sich mit dem Gedanken von den Spuren Gottes in der Natur. Erkenntnis Gottes aus der Natur be- deutet aber nicht einfach naturwissenschaftliche oder naturphilosophi- sche Erkenntnis. Nach dem neuplatonischen Grundsatz, dass Gleiches

22 Ebd., S. 205; Czepko: Die Kirche Gottes ist die Welt. In ders.: Sämtliche Werke Bd. II/2 (s. Anm. 7), S. 467. 23 Vgl. ebd., S. 249, 190. 24 Vgl. ebd., S. 215. 25 Vgl. ebd., S. 209.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 221 nur durch Gleiches erkannt wird, bedeutet Erkenntnis eine Anglei- chung des Erkennenden an das zu Erkennende. Das zu Erkennende ist die Natur und in der Natur schließlich Gott. Erkenntnis wird so zum mystischen Weg, der die Einswerdung mit Gott zum Ziel hat. Ich habe mystische, pansophische, bzw. überhaupt heterodox-reli- giöse Aspekte in Czepkos Consolatio hervorgehoben. Der Terminus ‘Consolations-Reden’ wurde schon durch des Boethius Consolatio philosophiae (um 524) bekannt. Bereits die antike Trostschrift hatte die vierteilige Gliederung: laudatio, lamentatio, consolatio, gratiarum actio (Lob, Klage, Trost und Dank). Wir finden diese Vierteilung auch im Barock, und Czepko ist nicht der Einzige, der ein Element, die consolatio, heraushebt. Seine Consolatio ad Baronissam Cziganeam charakterisiert Ferdinand van Ingen mit den Worten: “Rationalität und Erfahrung bilden die ersten Argumente der Tröstung. Ihnen treten eine rhetorisch bewegte Emotionalität und eine glühende mystisch-spiritu- alistische Ausdrucksweise zur Seite. ”26 Hier wird Rationalität – viel mehr als im 17. Jahrhundert üblich – durch Emotionalität ergänzt, durch Liebe etwa. Siegfried Sudhoff sagt zu Czepkos Consolatio, sie sei “nichts anderes als eine mystische Auslegung der Gottesvorstel- lung, wie sie für weite Bereiche in der ersten Hälfte des 17. Jahrhun- derts repräsentativ war […] ähnliche Vorstellungen haben sein weite- res Leben und auch sein poetisches Werk bestimmt.”27 Übrigens war Czepko, der sich um die

Drucklegung seiner ihm ganz eigenen Werke wenig oder gar nicht be- mühte, ängstlich auf den Druck seiner repräsentativen Poesie bedacht […] Alle seine Huldigungsgedichte sind in Drucken der Zeit überliefert und zwar häufig in der äußeren Ausstattung, die dem 17. Jahrhundert repräsen- tativ erschien.28

Statt seiner eigentlichen Werke hat Czepko “größtenteils unwichtige Gelegenheitsarbeit” drucken lassen, so 1648 bis 1656 “nur einige De- dikations- und Repräsentationsgedichte an den Kaiserlichen Hof und

26 Ferdinand van Ingen: Daniel von Czepkos Consolatio ad Baronissam Cziganeam. In: Daphnis 29 (2000), S. 197-220, hier S. 214. 27 Siegfried Sudhoff: Daniel von Czepko. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhun- derts. Ihr Leben und Werk. Hrsg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 227-241, hier S. 231. 28 Werner Milch: Daniel von Czepko. Persönlichkeit und Leistung. Breslau 1934, S. 77. Vgl. ebd., Anhang III, Bibliographie der Quellen, Liste I, Frühe Drucke.

Chloe 43 222 Siegfried Wollgast die Landeshauptleute”. Was er veröffentlicht, “ist Glückwunsch, Dank und Trostwort, gesellschaftliche Verpflichtung an Freunde und Leh- rer, der er gehorsam nachkommt. […] Er schreibt tändelnde Scherz- strophen […] zur Unterhaltung der Freunde […] Repräsentationspoe- sie.” Dann verfasst er “Satiren, saftige und in ihren Pointen häufig un- appetitliche, zotenreiche Epigramme […]. Daß zur Satire notwendig die Huldigung gehört, bedingt die Weiterführung der großen Reprä- sentationsdichtung.”29 Dabei schreibt Czepko vornehmlich deutsch. Seine Kurtzen satyrischen Gedichte machen einen Großteil seiner späteren weltlichen epigrammatischen Gedichte aus den vierziger Jah- ren des 17. Jahrhunderts aus.

Ganz neu sind jetzt die zeitkritischen Verse, Gedichte, die häufig den Inhalt der politischen Schriften umschreiben. Hier erscheinen Anklagen gegen falsche Anordnungen staatlicher Stellen, Angriffe auf die Haltung einzelner Führer während der Kriegsereignisse, bittere Sentenzen, und gleichzeitig übt Czepko herbe Kritik an Zersetzungserscheinungen in der kulturell füh- renden Schicht. Das à la mode-Wesen wird gegeißelt, das Stutzertum ange- griffen, der Hof ist nicht mehr das Zentrum aller Bildung, sondern vielmehr die Sammelstätte nichtswürdiger, speichelleckerischer und kriecherischer Existenzen, gegen ihn wird die biedere Ehrlichkeit des friedliebenden Landmannes ausgespielt.

Meines Erachtens sind auch Czepkos satirische Epigramme weitge- hend der Casualdichtung zuzuordnen. Wie überall, so ist auch bei Czepko die Casualdichtung eine direkte Verbindung zum wirklichen Leben. Sie informierte darüber, was man voneinander dachte. Vieles wüsste man über Leben und Handeln mancher Personen, über ihr Denken voneinander überhaupt nicht, wenn wir nicht die Casualdich- tung hätten. Der schottisch-polnisch-schlesische Arzt Johann Jonston (1603- 1675) hatte 1652 das Rittergut Ziebendorf bei Lubin in Schlesien ge- kauft und 1656 zum Wohnsitz gewählt.30 Hier hat er als Arzt und Wis-

29 Milch: Czepko. Persönlichkeit und Leistung (s. Anm. 28), S. 213, 28, 53-55. 30 Milch: Czepko. Persönlichkeit und Leistung (s. Anm. 28), S. 75, 78; vgl. Czepko: Kurtze satyrische Gedichte. In ders.: Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans-Gert Roloff u. Marian Szyrocki, Bd. I/1: Lyrik in Zyklen. Berlin, New York 1989, S. 175-349. Siegfried Wollgast: Johann Johnston (1603-1675). Ein Arzt zwischen Schottland, Polen und Schlesien. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilun- gen, 20 (2001), S. 474-518; Siegfried Wollgast: Der Polyhistor Johann Jonston

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 223 senschaftler noch fast zwanzig Jahre gewirkt und einen umfangreichen Briefwechsel unterhalten. Er war mit Andreas Gryphius und mit Ni- colaus Henel von Hennenfeld gut bekannt. Czepko hat er 1660 bzw. 1670 sein Buch De festis Hebraeorum et Graecorum schediasma ge- widmet. Beide Familien sind sich häufig begegnet. Bislang habe auch ich Czepkos Poematum fasciculi variorum (Zwölf Bändchen ver- mischter Gedichte) nicht beachtet. Das fünfte Bändchen ist Jonston gewidmet und beginnt:

An den hochansehnlichen Herrn Dr. med. Johannes Jonston, Physicus ordi- narius des erlauchten Grafen von Lissa. […] maßlos rühmt sich, wie wir sehen, die literarische Welt deiner Beredsamkeit, maßlos rühmen sich die Reiche deiner beruflichen Kunst, die Großen des Landes deiner Geistes- kraft. Betrachte mit mir den Feuerbrand der Kriege!31

Gegenstand von Czepkos V. Fasciculus ist der Dreißigjährige Krieg. Warum wird “der Feuerbrand der Kriege” gerade bei Jonston zum Gegenstand? Hintergrundwissen, über das wir nicht verfügen, ist hier von nöten. Wieviel Forschungsarbeit noch aussteht, zeigt sich etwa darin, dass der IX. Fasciculus mit einem Lobgedicht auf den “aller- würdigen Herrn Jakob Thamm” (1610-1676), Bürgermeister von Schweidnitz, beginnt, die Bearbeiter der Werkausgabe aber bei einem der Texte in diesem Bändchen gestehen, dass er “wegen unserer nicht zu behebenden Unkenntnis der hier angesprochenen regionalge- schichtlichen Vorgänge großenteils so gut wie unübersetzbar” sei.32 Eine informierende und wertende Lebensbeschreibung Czepkos kommt ohne seine Kasuallyrik gar nicht aus. Das bezieht sich auf re- spektvolle Grüße, Wünsche für seinen Vater Daniel Czepko d.Ä., auf die Hochzeit von Bekannten, auf den Tod von Freunden, Bekannten und Fürsten, auf Neujahrsglückwünsche, Nachrufe, Trostgedichte, auf Festreden, auf Gedichte zu offiziellen Anlässen, auf Dankgedichte usw. Auch die Verse Czepkos über seine Ehe mit Anna Catharina

zwischen Schottland, Polen und Schlesien. In ders: Zur Frühen Neuzeit, zu Patri- otismus, Toleranz und Utopie. Gesammelte Aufsätze. Berlin 2007, S. 13-88. 31 Czepko: Sämtliche Werke Bd. II/1 (s. Anm. 19), S. 56-69, hier S. 57; lat. Origi- nal ebd., S. 56: “Clarissimo Viro Iohanni Ionstono M.D. Illustriss(imi) Com(itis) in Leszna Physic(o) ordin(ario).”: “Ionstone, cuius ore literaturam, | Professione regna, mente Magnates, | Intemperanter cernimus superbire. | Incendium mecum tuere bellorum!” 32 Ebd., S. 114-117, hier S. 117; vgl. ebd., S. 809.

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Heintze (1620-1656) sind Gelegenheitsdichtung. Auch sie bergen zu- gleich viel theoretische bzw. philosophische Überlegungen. So die Überschrift des BrautBettes:

[…] Zwey Cörper von einem Hertzen, Zwey Waysen unter einem Vormünden, Zwey Freunde von einer Seelen. […] Gleiches Standes sind sie: Denn es betrifft einen Junggesellen, und eine Jungfrau. Gleiches Glückes sind sie: Denn, was ihre Eltern verlassen, Hat theils die böse Zeit, theils die üble Vormundschafft übel gleiche gemacht. Gleicher Sitten sind sie: Denn gleiche GottesFurcht und Tugend hat sie bey gleichen Ehren und Nahmen erhalten: Gleiches Gemüthes sind sie: Denn, wie sie einerley Glauben gegen Gott, Also sind sie auch einerley Sinnes gegen einander, Wer wil sich nun was ungleiches von einer solchen Gleichheit befahren?33

Diese Dichtung vermeldet auch die Geburt von Czepkos Tochter Anna Theodora (1638), der er wiederum zu ihrer Hochzeit mit Chris- tian Tralles 1657 ein zweizeiliges Gedicht widmet.34 Czepko zitiert Gryphius, der auf Horaz zurückgreifend darlegt, dass das Leben auf dieser Erde nicht vergeblich ist: “Gantz sterben werd ich nicht.”

Ein Theil ist tod: Ein Theil zeigt sich in Kindern hier. Ein Theil im Ruff: Ein Theil in schöner Bücher Zier. Ein Theil im Rath: Ein Theil in guter Freunde Noth. So lebt das gröste Theil, das minste das ist todt. Iedoch, was sind die Theil? Es lebt die Seele ja. Ob alle Theile hin, genung, ist sie nur da.35

Dem Landeshauptmann Heinrich Freiherr von Bibran (gest. 1642) ist ein Druck Czepkos von 1635 gewidmet, in dem er schon einleitend

33 Czepko: Überschrift des BrautBettes. Dem H. Ehestande zu Ehren. In ders.: Sämtliche Werke Bd. II/2 (s. Anm. 7), S. 6f. 34 Ebd., S. 11-15; vgl. ebd., Bd. II/1 (s. Anm. 19), S. 502f. 35 Ebd., S. 94.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 225

“das Haus Österreich” hochleben lässt, ebenso “Ferdinandum III. Re- gem victoriosissimum” und “Regem invictissimum”.36 Czepko war stets ein Anhänger der kaiserlich-österreichischen Herrschaft, was ihm im protestantischen Schlesien wie auch in den kaiserlichen Ländern nicht positiv angerechnet wurde. Die katholischen Österreicher hegten gegen die pro-österreichischen Äußerungen des protestantischen Pas- torensohns und bekennenden Lutheraners Misstrauen. Czepko hat das genannte Trophaeum zum Prager Frieden geschrie- ben, den Österreich mit Sachsen 1635 geschlossen hatte. Danach mussten sich die Schlesier dem Kaiser unterwerfen, nur die Piasten in Liegnitz, Brieg und Wohlau sowie die Podiebrads im Fürstentum Oels konnten für ihre Länder die Religionsfreiheit bewahren. In seinem Triumph Bogen von 1640 weiht Czepko Kaiser Ferdinand III. (1608/1637-1657)

unverbrüchlich nicht allein diesen (meinen) Geist und diese Arme, die, wenn die Umstände es erfordern, immer noch Wehr und Waffen zu tragen vermögen, sondern […] auch, als Bürgen glücklicher historischer Ereig- nisse, diese Lettern, diese Anstrengungen eines aufrechten Geistes. Indem ich mich so, in der vordersten Linie […] an den siegreichen Kämpfen be- teilige, werde ich den einen oder den anderen davon überzeugen, daß die Sache Österreichs eine gerechte ist, und ich werde […] mit dem die Zeiten überdauernden Rüstzeug der Schrift und unter dem öffentlichen Beifall des Menschengeschlechts feierlich erklären, daß es einen Gott – einen Gott, sage ich – gebe und dieser bisher von seinem höchsten Herrscherthron aus ein Abkommen mit dem huldvollen, gerechten und starken Ferdinand III. geschlossen habe.37

Im Nostizischen Freudenfest besingt Czepko Wahl und Krönung Fer- dinand IV. und sagt:

36 Czepko: Trophaeum Bibranum De Pace Imperatoriae Domus Austriacae. In ders.: Werke Bd. II/1 (s. Anm. 19), S. 261-285, zit. S. 264f., 267f., 278. 37 Czepko: Triumph Bogen […] Zu Glückseligem Eintritt deß M.D.C.XLI. Jahres […]. In: ebd., S. 287-314, zit. S. 295. Vgl. S. 294: “Eius quippè Maiestati, non tantum hos animos ac lacertos, qui adhuc arma ac ferrum, si res & conditio pos- cit; ferre possunt, sed has literas…hos ingenii erecti conatûs, submississimis votis obstringo, vel uni atque alteri, victoriosis immixtus conflictibus in primâ […] fronte caussam Austriacam approbaturus, vel coràm omnibus, quâ lucet, gentibus ac populis, aeterno literarum apparatu ac publicâ Humani generis acclamatione asserturus, Deum, Deum, inquam, esse, & hactenùs quidem de summo Imperio cùm Pio, Iusto ac Forti Ferdinando III transegisse.”

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[…] alles freuet sich. Die Königliche Wahl/ Ist unser Schutz und Trost; und Alles überall: Nunmehr erkennen wir des Höchsten Wunderwercke: Und wie er Österreich umschantzt mit Gut und Stärke.38

Solche Huldigungen Österreichs finden sich in Czepkos Kasualdich- tung und -reden immer wieder. So schreibt er am Schluß des Leichen- gedichtes auf Matthaeus von Püschel (gest. vor 1640): “Das Haus von Oesterreich wird herrschen stets und grünen, | Kein andre Freyheit ist, als diesem Hause dienen.”39 Czepko schreibt auch einen Panegyricus auf Graf Georg Ludwig von Starhemberg (1602-1650), Oberbefehlshaber des kaiserlichen Heeres in Schlesien und Landeshauptmann der Fürstentümer Schweidnitz und Jauer, weil er Schweidnitz vor der schwedischen Belagerung am 26.12.1639 errettet habe.40 Der “rettende Herkules” Graf Starhemberg kommandierte ein katholisches Heer, Czepko aber war Lutheraner, die Schweden waren es ebenfalls. Gerade die lateini- schen Gedichte und Gedichtzyklen Czepkos ‘besingen’ immer wieder die jeweiligen Landeshauptleute, die obersten Verwalter des einstigen Herzogtums, Otto IV., Freiherr von Nostitz (1608-1665) und Georg Ludwig Graf von Starhemberg. Des Todes von Kaiser Ferdinand IV. (1654) wird ausführlich gedacht.41 Zu Czepkos Satirischen Gedichten gehören auch seine Gesetze der Liebe, Birawa, 21. Mai 1632 datiert. Die dreizehn Gesetze sind mit Versen versehen. Diese “können nicht anders aufgefaßt werden, denn als Beiträge zu gesellschaftlicher Belustigung und Unterhaltung; […] sie verweisen in den höfischen Kreis”.42 Ernst zu nehmen sind sie wohl keineswegs. So heißt es: “II. Trachte nach Ergetzung, und verlaß

38 Czepko: Nostizisches Freudenfest über Wahl und Krönung Ferdinand des Vier- den […] im Jahre Christi 1653. Vollzogen und gehalten. In: ebd., S. 323-346, hier S. 337. 39 Czepko: In Funere Nobilis cuiusdam Medici et Chymici. In: ebd., S. 438. 40 Czepko: Panegyricus de asserta Svidnicio illustrissimo Heroi Georgio Ludovico Starhembergio dictus. 1641. (Panegyrikus auf die Rettung von Schweidnitz, dem erlauchtesten Helden Georg Ludwig von Starhemberg gewidmet). In ders.: Sämtliche Werke Bd. II/1 (s. Anm. 19), S. 243-279. Vgl. Czepko: Epigramme auf Georg Ludwig von Starhemberg. In: ebd., S. 602-605. 41 Vgl. ebd., S. 311-455. 42 Milch: Czepko. Persönlichkeit und Leistung (s. Anm. 28), S. 72.

Chloe 43 Zur Kasualdichtung und Kasualrede bei Czepko 227 alle Melancholey […] IV. Schwere mit doppelter Meinung […] V. Gieb niemals dein Vornehmen in den Tag […] VI. Erdencke allerhand Schein Gunst zu haben […] X. Liebe eher ohne Liebe, als ohne Genuß […] XII. Laß ab, ehe du gezwungen […] XIII. Liebe niemahls recht.”43 Czepko hat wahrscheinlich diese seine Aussagen nie befolgt, seine Ehe vier Jahre später war offenbar eine Liebesheirat. Von der Innigkeit seiner Gefühle zeugt auch ein Zyklus von drei Gedichten, in dem es heißt:

[…] Also werden Dieser Daniel und diese Anna Catharina einander lieben. Sie sehen einander an: Und sehen ineinander, wie sie Gott einander versehen, Sie verehren einander: Und nehmen von einander, was sie miteinander behalten, Sie wünschen einander: Und gewehren einander, was sie von einander begehren, Und nimmermehr wird von einander trennen können: Auch wann sie sterben, werden sie nicht sterben, Dann ihr Leben bestehet nicht im Leibe, sondern in der Liebe, Die von keinem Sterben weiß […]44

Sicher sind die Liebesbezeugungen zu jeder Zeit höchst überschäu- mend, doch Czepkos Schilderung des Endes seiner Frau bezeugt 1656 die hier 1636 geschriebenen und wohl auch gesprochenen Worte. Das ist mehr, als man ohnehin dazumal im Hochzeitscarmen verlangt, schon allein durch die Tiefe der ausgedrückten Gedanken. Dass sich unter Umständen gegenüber heutigen Glückwünschen le- diglich die Form – Prosa statt Poesie – geändert hat, bezeugt folgendes Glückwunschgedicht von Czepkos Sohn Christian: “Ein langes Leben, ferner eine Ehe in Eintracht und einen gütigen Gott, verbunden mit einem reichgedeckten Tisch, das wünsche ich, Christian Deodat, dir, Schwager Christian, und dir, Schwester Theodora.”45

43 Czepko: Sämtliche Werke Bd. II/2 (s. Anm. 7), S. 48-53. 44 Czepko: Teppicht Hochzeitlicher Freuden […]. In ders: Sämtliche Werke Bd. II/2 (s. Anm. 7), S. 9f., vgl. Milch: Czepko. Persönlichkeit und Leistung (s. Anm. 28), S. 17. 45 Czepko: Sämtliche Werke Bd. VI (s. Anm. 1), S. 383. Original ebd., S. 382: “Aetatem longam, concordem posteà lectum, | Atque Deum, mensâ cum locuple-

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Aus gleichem Anlass gratuliert Baron Melchior Friedrich von Ca- nitz (1629-1684) Czepko dazu, dass er seine Tochter verheiratet hat: “Ich gratuliere also dir und gratuliere auch den Brautleuten selbst. Glück dem (Geld-) Beutel, dem Keller, der Küche, dem Bett.”46 Auch damals lud man zu Festlichkeiten Leute von Ruf und von Einfluss ein: von Canitz war Rat und Marschall bei Georg Rudolf, Herzog von Liegnitz und Wohlau (1595/1609-1653), auch Landrichter in Guhrau. Bei Beurteilung des Werkes Czepkos tritt “zur Überlieferung der höfischen, der humanistisch-gelehrten und der antihöfisch-norddeut- schen Schriftform […] als vierte die der unterliterarischen Prosa aus dem Geiste der Irenik und der Naturspekulation”.47 Das gilt auch für seine Kasualdichtung und -rede. Immer wieder werden in diesem Zu- sammenhang die Worte Goethes an Eckermann vom 18. September 1823 zitiert:

Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegen- heitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden.48

Auch Gelegenheitsprosa und Leichenpredigten sind in dieser Weise zu fassen. Gelegenheitsdichtung gibt stets die Möglichkeit, Sinnfragen zu äußern und zu beantworten. Bei Czepko haben seine Äußerungen zu Hochzeiten, zum Tod und zum Leben philosophischen Eigenwert, sie sind, um mit Goethe zu sprechen, “durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden”.

te, bonum, | Christianus, Christiane, Deodatus et Theodora | Opto Tibi affinis, et Soror opto Tibi.” 46 Ebd., S. 379. Original: “Gratulor ergo, Tibi, Sponsis congratulor Ipsis, | Felix sit Saccus, cella, culina, Thorus” (ebd., S. 378). 47 Milch: Czepko. Persönlichkeit und Leistung (s. Anm. 28), S. 103. 48 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Le- bens. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 12. Frankfurt a. M. 1999, S. 50.

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T h o m a s B o r g s t e d t

SOZIALGESCHICHTE ODER AUTORINSZENIERUNG? Das kasuale Substrat der Sonettbücher des Andreas Gryphius

1. Kasualdichtung als sozialgeschichtliches Paradigma der Literatur- wissenschaft

Kaum ein Bereich der modernen Frühneuzeitforschung repräsentiert den sozialgeschichtlichen Paradigmenwechsel der Literaturwissen- schaft der 1970er Jahre so unmittelbar, wie derjenige der Kasualdich- tung. Er steht beispielhaft für die emphatische Ausweitung des Lite- raturbegriffs, der in den methodologischen Diskursen der Zeit ausge- rufen wurde, und er hob ganze Kontinente – oder auch unter der Ober- fläche verborgene ‘Eisberge’1 – an literarischen Landschaften ins Be- wusstsein. Nirgendwo sonst ließ sich so unmittelbar studieren, wie sich das rhetorische Paradigma der frühneuzeitlichen Poesie in die ar- gumentative Struktur von Texten umsetzte. Kasualdichtung avancierte zum Modellfall gattungspoetischer und traditionsgeschichtlicher Fra- gestellungen. Reichlich fanden sich Auskünfte zu gesellschaftlichen Wirklichkeiten, die einer ästhetisch ausgerichteten Forschung wenig zu sagen gehabt hatten. Es öffnete sich eine geradezu ideale Textland- schaft mit Einblicken in eine soziale Realität, die sich den Blicken des Literarhistorikers relativ ungetrübt von Verzerrungen durch die Be- dingungen des Fiktionalen oder einen allzu ambitionierten Kunstcha- rakter darbot. Dennoch ist bereits aus Perspektive der zeitgenössischen Poetik mit dem Anlassbezug ein Problem der literarischen Wertigkeit verbunden. Opitz selbst hat es in seiner plastischen Schilderung der kasualliterari-

1 Vgl. für die Metapher Klaus Garber: Schmelze des barocken Eisberges? Eine Zwischenbetrachtung anlässlich der Studie von Wolfgang Müller: Die Drucke des 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum. Untersuchungen zu ihrer Ver- zeichnung in einem VD 17. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliogra- phie 38 (1991), S. 437-467.

Chloe 43 230 Thomas Borgstedt schen Auswüchse seiner Zeit mit deutlichen Worten gekennzeichnet. Er beschreibt diese als eine Unterbietung der ‘Würde der Poesie’.2 Es gibt also bereits hier einen grundlegenden Konflikt mit Fragen der ästhetischen Wertigkeit. Der kasuale ‘Kontrakt’ stellt ein ökonomi- sches und kulturelles ‘Geschäft’ dar, bei dem der Dichter dem Auf- traggeber etwas von seinem literarischen Potential und kulturellen Kapital spendet, indem er diesen in den literarischen Textraum auf- nimmt. Damit ist der Erwerb eines Anteils an der potentiellen ‘Ewig- keit’ des poetischen Nachruhms verbunden. Umgekehrt verdient der Dichter bei diesem Kontrakt zwar Geld, er kann aber nur im Ausnah- mefall kulturelles Kapital erwerben, da die anlassbezogenen Texte sich nicht den hohen Zielen der Dichtung, den bedeutsamen Mustern der Überlieferung, den wertig geschätzten Gattungen und den würdig- sten Gegenständen der Poesie widmen. Hierin scheint für ambitio- nierte Autoren eine Motivation zu liegen, bei diesem Austausch sozi- aler Energien stärker als es sonst angebracht war die eigene Autorpo- sition hervorzukehren, die das Scharnier bildet, über die die poeti- schen Wertigkeiten vermittelt werden. Die ausdrückliche Benennung der ‘Verewigungsleistung’ des jeweiligen Dichters bildet aus diesem Grund einen Topos der Kasualdichtung. In verschobener und nochmals verschärfter Weise stellt sich der la- tente Konflikt zwischen sozialer Funktion und poetischem Anspruch der Gelegenheitsdichtung schließlich dann dar, wenn es um die Prä- sentation der poetischen Leistung des Autors selbst in Büchern und Sammlungen seiner Gedichte geht. Während der Einzeldruck des Ge- legenheitsgedichts noch unmittelbar auf die soziale Situation – auf den ‘Anlass’ – bezogen war, verändert sich mit der Aufnahme in eine Textsammlung oder Werkausgabe die performative und mediale Stellung des Texts. Er tritt tendenziell aus der sozialen Situation her- aus und wird Teil einer neuen kommunikativen Konstellation, die auf Publizität, Überlieferung und damit auf Situationsenthobenheit und auf Dauer ausgerichtet ist. Wie aber lässt sich dieser Sachverhalt be- grifflich fassen, ohne zwischen situativ und institutionell eingebunde- nen Kasualtexten einerseits und ‘bloß’ literarischen, die dann keine konkrete soziale Funktion mehr erfüllen, andererseits kategorisch zu

2 Martin Opitz: Buch von der deutschen Poeterey (1624). Hrsg. von Herbert Jau- mann. Stuttgart 2006, S. 18 f. (Kap. III): “Mussen wir also entweder durch ab- schlagen jhre feindschafft erwarten/ oder durch willfahren den würden der Poesie einen mercklichen abbruch thun.”

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 231 unterscheiden, ohne also den überkommenen Begriff der Kasualdich- tung in problematischer Weise aufzuspalten? Es handelt sich hierbei um eine Frage der Gattungsbestimmung. Sie lässt sich nicht beantworten, solange man an einer fixen Merkmals- komplexion für Kasualtexte festhält, die die situative und institutio- nelle Einbindung des Texts in bestimmte soziale Handlungszusam- menhänge zu ihrer Voraussetzung und zur Grundlage ihrer Gattungs- bestimmung macht. Es genügt deshalb nur unter bestimmten Ein- schränkungen, das Gelegenheitsgedicht als “ein für bzw. auf ein be- stimmtes Ereignis geschriebenes oder aus einer bestimmten Veranlas- sung heraus entstandenes Gedicht” zu bestimmen,3 oder es unter der kontextbezogenen Bedingung, dass “sich ein Autor an einen bestimm- ten Adressaten zu einem Ereignis in dessen Leben” wende,4 zu fassen. Etwas differenzierter bestimmt Rudolf Drux die Kasualdichtung im Zeichen der sozial determinierten ‘Gelegenheit’, wobei es sich um ein ‘tatsächliches gesellschaftliches Ereignis’ handeln soll,

das, in der Regel institutionalisiert, aus dem alltäglichen Leben herausragt, benannt und datiert werden kann; sie [die Gelegenheit] wird von einem Autor poetisch wahrgenommen, einem bestimmten Adressaten zugewiesen und im sprachlich-literarischen Gewand der Öffentlichkeit unterbreitet.5

Dennoch erscheint diese übliche Bindung der Gattung an eine ‘tat- sächliche’ Gelegenheit zu soziologisch und zu wenig ‘literarisch’ ge- dacht. Wie andere literarische Gattungen – also etwa das Lied oder die Tragödie – emergiert die Gelegenheitsdichtung zwar im Rahmen au- ßerliterarischer Bedingungen, hat hier also gleichsam einen ursprüng- lichen ‘Sitz im Leben’.6 Andererseits muss aber auch für die Gelegen-

3 Wulf Segebrecht: Gelegenheitsgedicht. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1: A-G. Hrsg. von Harald Fricke. Berlin, New York 1997, S. 688-691, hier: S. 688. Ähnlich: Karl Trost: Gelegenheitsdichtung. In: Metzler Literaturlexikon. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 21990, S. 171 f. 4 Rudolf Drux: Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 653-667, hier: Sp. 653. 5 Rudolf Drux: Casualpoesie. In: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572-1740. Hrsg. von Harald Steinhagen. Reinbek b. Hamburg 1985 (= Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte 3), S. 408-417, hier: S. 409. 6 Vgl. für die gattungstheoretisch geläufige Metapher: Hermann Gunkel: Die israelitische Literatur. In: Die Kultur der Gegenwart. Teil 1,7: Die orientalischen

Chloe 43 232 Thomas Borgstedt heitsdichtung die Möglichkeit der Literarisierung in Betracht gezogen werden, durch die der Text “vom ursprünglichen Anlaß gelöst”7 in eine veränderte und potentiell transhistorische Kommunikationssitua- tion überführt werden kann. Auch in diesem Fall muss von Gelegen- heitsdichtung gesprochen werden, und zwar im Sinne einer historisch- literarischen Gattung.8 Mit anderen Worten: Die Ablösung vom spezifischen historischen Kasus beraubt die Gelegenheitsdichtung nicht ihrer literarischen Gattungsspezifik. Andernfalls müssten wir nämlich zwischen ‘echter’ und ‘uneigentlicher’, zwischen ‘gesell- schaftlicher’ und ‘literarischer’ Kasualdichtung unterscheiden, was zu zahlreichen Folgeproblemen führen würde und nicht ratsam erscheint.9 Bei den genannten Gattungsmerkmalen geht es nicht selten um gra- duelle Abstufungen. In Rechnung zu stellen ist nicht nur eine voll- ständig fiktionalisierte Gelegenheitsdichtung, der kein historisch kon- kreter Kasus mehr entspricht. Viel eher ist mit graduellen Situations- verschiebungen zu rechnen. Ein Kasualtext wird etwa allein schon da- durch verwandelt, dass er mit dem Buchdruck in eine veränderte Pu- blikationssituation überführt wird, also etwa in die Werkausgabe eines bestimmten Autors. Es sind sehr verschiedene Möglichkeiten der tex- tuellen Distanz zur konkreten, sozial verortbaren ‘Gelegenheit’ denk- bar, durch die der Text gleichwohl nicht seinen kasualen Gattungscha- rakter verliert. Kehren wir zum Ausgangsproblem der Konkurrenz von kasualer und poetischer Signifikanz zurück, so zeigt sich gerade hier sehr deut- lich, inwiefern die Tendenzen zur Literarisierung und damit zur Über- steigung der konkreten sozialen Situation der Gattung grundsätzlich

Literaturen. Berlin, Leipzig 1906, S. 51-102, hier: S. 53; dazu: Andreas Wagner: Gattung und ‘Sitz im Leben’. Zur Bedeutung der formgeschichtlichen Arbeit Hermann Gunkels (1862-1932) für das Verstehen der sprachlichen Größe ‘Text’. In: Texte – Konstitution, Verarbeitung, Typik. Hrsg. von Susanne Michaelis und Doris Tophinke. München, Newcastle 1996, S. 117-129; Klaus Grünwaldt: Her- mann Gunkel und der ‘Sitz im Leben’. In: Anthropologie der Literatur. Poetogene Strukturen und ästhetisch-soziale Handlungsfelder. Hrsg. von Rüdiger Zymner. Paderborn 2004, S. 324-337. 7 Drux: Casualpoesie (Anm. 5), S. 409. 8 Vgl. für ein solches Konzept einer ‘historisch-literarischen Gattung’ Verf: Topik des Sonetts. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009 (= Frühe Neuzeit), S. 86-116. 9 Dieses Argument antwortet auf die kritische Diskussion, die unter den Tagungsteilnehmern um den Begriff einer ‘(Pseudo-)Kasualliteratur’ bei Gry- phius geführt wurde.

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 233 eingeschrieben sind. Schon indem der Auftraggeber den Poeten be- stellt, bezweckt er ein Moment der Überhöhung, das auf überindivi- duelle und überhistorische Anbindung seines Kasus zielt. Und indem der Autor des Gelegenheitsgedichts dem Stifter sein Können und seine Reputation leiht, vollzieht sich ein spezifischer Konnex von situativer und literarischer Konstruktion, der sich in den autorbezogenen Veröf- fentlichungen der Texte in nochmals veränderter Weise fortschreibt. Im Folgenden geht es um die Stellung von Gelegenheitsgedichten innerhalb der Gedichtsammlung eines prominenten Autors und um die Frage, welchen Stellenwert dabei die Selbstpositionierung des Dich- ters – seine Autorinszenierung – für die spezifische Konstitution der Kasualgedichte besitzt, wie man diese fassen und beschreiben kann. Es liegt nahe, dass sich diese Selbstpositionierung vom Dichter am besten dann durchführen lässt, wenn die ‘Gelegenheit’ bzw. die Per- son des Anzudichtenden biographisch möglichst in der Nähe der Per- son des Dichters lokalisiert ist. Dann nämlich ist die Selbstthematisie- rung am zwanglosesten möglich. Martin Opitz nutzt beispielsweise das Hochzeitsgedicht an seinen Freund Nüßler zu einer exzessiven Darstellung seiner eigenen Verhältnisse in Sachen Eheschließung, wobei er seine erotische Exzentrik des Nicht-Heiratens in eine pro- duktive Verbindung mit seiner Poetentätigkeit bringt.10 Dass ein sol- ches Verfahren der Selbstthematisierung auch dazu geeignet ist, die Aufwertung der eigenen Poesie zu betreiben, möchte ich im folgenden an den Kasualgedichten im ersten Buch der Sonette des Andreas Gry- phius vorführen.

2. Die Kasualgedichte in Gryphius’ Sonettbüchern

Sonette haben aufgrund ihrer relativen Kürze eine eingebaute Tendenz zur Zyklusbildung. Dies lässt sich bereits seit dem Mittelalter beo- bachten. Schon mit dem Sprung der Gattung vom sizilianischen Kai- serhof in die Städte der Toskana erhält die Sonettdichtung ein narrati- ves Substrat.11 Guittone d’Arezzo unterlegt noch im 13. Jahrhundert seinen Sonetten einen heilsgeschichtlichen Verlauf, der zu einer Zwei-

10 Martin Opitz: An Nüßlern. In ders: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hrsg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1968 ff. (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart), Bd. II/2, S. 646 ff. 11 Vgl. dazu im Einzelnen: Verf: Topik des Sonetts (Anm. 8).

Chloe 43 234 Thomas Borgstedt teilung des Zyklus in einen Teil vor und einen nach der Bekehrung führt. Spätestens mit Petrarcas Canzoniere wird diese Zweiteilung – in vita und in morte di Laura – kanonisch. Sie kehrt prominent beispiels- weise bei Shakespeare in der Abfolge von young-man- und dark-lady- Sonetten wieder. Nun sind narrative beziehungsweise heilsgeschichtlich aufgeladene Ordnungsprinzipien nicht die einzig möglichen. Was sie jedoch in je- dem Fall auf markante Weise leisten, ist die stilistische Aufwertung der Sonette. Diese sind als einzelne doch nur eine Kleinform, die nicht viel Aufmerksamkeit zu erregen vermag. Als Zyklus mausern sich die kurzen Gedichte dagegen zum repräsentativen Werk, was nicht zuletzt mit einem von der größeren Form getragenen Zugewinn an Bedeut- samkeit zu tun hat. Ein verwandtes Problem stellt sich aus anderen Gründen für die Kasualdichtung. Per definitionem ist sie auf einzelne Anlässe bezogen, in denen sich ihr Sinn gewöhnlich erschöpft. Das schmälert ihre Dignität. Die Dichter sehen sich darüber hinaus vor das Problem gestellt, ihre häufig umfangreiche kasuale Produktion ihren Gedichtsammlungen einzugliedern. Dabei ergibt sich eine neue Re- zeptionssituation, da die Leserschaft mit einer Buchveröffentlichung zur Zukunft hin geöffnet und potentiell auf Dauer gestellt wird. Dies erhöht den Legitimationsdruck, der auf den Einzeltexten liegt. Wohin also mit den Kasualgedichten und wozu Kasualgedichte im poetischen Diskurs der Ewigkeit? Eine der wenigen überlieferten Formen der Tradierung von Casua- lia bildet das Modell der ‘Silvae’ oder ‘Poetischen Wälder’. Gelegen- heitsgedichte sind hier in einer lockeren Ordnung zusammengefügt. Das spätantike Vorbild dieser Sammelform, die Silvae des Statius, war in fünf Bücher unterteilt, die jeweils zwischen fünf und neun Einzel- gedichten in unterschiedlichen Gattungen enthielten, und die nach Ge- sichtspunkten der Proportion verteilt waren.12 Neben diesem Prinzip der variatio erfolgt die Anordnung anhand der angedichteten Perso- nen, Objekte und Anlässe vornehmlich nach ständisch-hierarchischen Kriterien.13 Nicht zuletzt diese panegyrische Ausrichtung machte Sta-

12 Publius Papinius Statius: Silvae recognovit breviqve adnotatione critica instrvxit E. Courtney. Oxford 1990, index carminvm, S. xxxvi f.; vgl. zu den Ordnungs- prinzipien Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‘bei Gelegenheit”. Heidelberg 1988 (= Beihefte zum Euphorion 22), S. 75-78. 13 Adam (Anm. 12), S. 39-46.

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 235 tius zu einem interessanten Vorbild für die Dichter der Frühen Neu- zeit. Auch Opitz folgt ihm gerade hinsichtlich dieser hierarchischen Ordnungsprinzipien, wobei der ständischen Hierarchie vorgeordnet noch die Unterscheidung in geistliche und in weltliche Gedichte ist.14 In dieser Anordnung haben von vornherein sehr heterogene Formen und Gegenstände Platz. Bei Opitz zielt die Ordnung der Poetischen Wälder offenbar darauf, das humanistische Poesieprogramm mög- lichst umfassend und in den verschiedensten Varianten zu präsentie- ren. Anders stellt sich die Sache von Beginn an bei Andreas Gryphius dar. Er tritt zu Anfang ausschließlich mit Sonetten auf.15 Dabei spielt die repräsentative Erfüllung des humanistischen Gattungsspektrums offenbar keine Rolle. Gryphius orientiert sich vielmehr mit seinem poetischen Programm an der religiös motivierten Dichtung gegenre- formatorischer Autoren, mit seinen sakralen Sonetten mit der präg- nanten vanitas-Thematik ebenso wie im nachfolgenden Entwurf des barocken Trauerspiels, das nach dem Muster jesuitischer Märtyrer- dramen gearbeitet ist. Der humanistische und moraldidaktische Impuls bei Opitz weicht bei Gryphius einem markanten Willen zu einer ent- schieden religiös geprägten Dichtung. Dabei widmet er sich zunächst stark der Präsentation seiner Sonettdichtung. Schon für die Lissaer Ausgabe hat man zahlensymbolische Anordnungsprinzipien namhaft gemacht, die man aber nur mehr oder weniger spekulativ rekonstruie-

14 Vgl. zur Bedeutung dieser Ordnungskonzepte: Conrad Wiedemann: Barockdich- tung in Deutschland. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See, Bd. 10: Renaissance und Barock, Frankfurt a. M. 1972, Teil 2, S. 177-201; Rudolf Drux: Nachgeahmte Natur und vorgestellte Staatsform. Zur Struktur und Funktion der Naturphänomene in der weltlichen Lyrik des Martin Opitz, in: Naturlyrik und Gesellschaft. Hrsg. von Norbert Mecklenburg, Stuttgart 1977, S. 33-44; vgl. für die Anordnung der Opitzschen Gedichtausgaben: Janis Little Gellinek: Die weltliche Lyrik des Martin Opitz, Bern/München 1973, S. 11-25; Adam (Anm. 12), S. 132-143; Verf: Nachahmung und Nützlichkeit: Renaissancediskurse, ‘Poeterey’ und Monumentsonette. In: Martin Opitz (1597- 1639). Nachahmungspoetik und Lebenswelt. Hrsg. von Thomas Borgstedt und Walter Schmitz. Tübingen 2002, S. 53-72, hier: S. 66ff; Verf: ‘Silvae’ und ‘Poe- mata’. Martin Opitz’ doppelte Einteilung seiner Gedichte und ihr Mißverständnis bei Druckern und Forschern. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 31 (2004), H. 1, S. 41-48. 15 Andreas Gryphius: Sonette. Hrsg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1963 (= Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke 1), S. 1-92 (im Folgenden mit Sei- tenzahlen in Klammern im fortlaufenden Text zitiert).

Chloe 43 236 Thomas Borgstedt ren kann.16 Dass ein Wille zu numerologischer Signifikanz in der An- ordnung vorhanden ist, zeigt die folgende Anordnung in Sonettbü- chern zu je 50 Gedichten und die der Sonn- und Feiertagssonette in zwei Büchern mit insgesamt 100 Gedichten. Es ergibt sich eine strenge numerische Ordnung von vier Büchern mit insgesamt 200 So- netten. Auch in den Gesamtausgaben seiner Dichtungen verfolgt Gry- phius ein hierarchisches Ordnungsprinzip, indem zuvörderst die Trau- erspiele stehen, weit vorne auch die Kirchhofgedanken, während sich die kleineren Gedichte nach Gattungen geordnet in drei Oden- und vier Sonettbüchern am Ende der Sammlungen finden. Hier müssen sich dann auch die Gelegenheitsgedichte einfügen. Mit seiner frühen Sonettdichtung ergreift Gryphius eine neue poeti- sche Option. Opitz hatte die Sonette ja ausdrücklich in das Pantheon der gültigen lyrischen Formen aufgenommen, und er konnte sich dafür auf die inzwischen gewaltige europäische Tradition berufen. Entspre- chend repräsentativ übersetzt er Petrarca, Veronica Gambara und Ronsard. Andere Akzente setzt Gryphius mit seiner Hervorkehrung der Sonette. Er schließt an neuere Beispiele einer sakralen Sonett- dichtung an, die das mittelalterlich-christliche Erbe der Sonettform nutzt, um die petrarkistische Leitform explizit geistlich zu wenden. Womöglich schien die Sonettdichtung hier den antiken Formen über- legen, weil sie nicht ausschließlich deren humanistischen Säkularis- mus repräsentierte, sondern eben auch eine christlich-heilsgeschicht- lich geprägte Tradition besaß. Nicht zuletzt kam diese in der zahlen- symbolischen Anordnung der Sonettzyklen zum Ausdruck, wie sie ja den Canzoniere Petrarcas selbst bereits prägte. Sonette sind also Gryphius’ erste Wahl für seine geistliche Erneue- rung der Dichtung in opitzianischer Tradition. Die sakrale Überfor- mung seiner Sonettbücher führt er mit großer Konsequenz durch. So gibt er den einzelnen Büchern eine deutlich heilsgeschichtlich ge- prägte Rahmenstruktur. An den Anfang stellt er einen christlich ge- wendeten Musenanruf, der sich An Gott den Heiligen Geist richtet. Es folgen Gedichte über die Passion Christi, eines auf ein biblisches Thema und dann die Reihe der berühmt gewordenen vanitas-Sonette. Wie nun lassen sich Kasualgedichte in ein solch ambitioniertes und hochsignifikantes Ordnungsschema einfügen? Thematisch müssen sie abfallen, wo es sich tatsächlich um gelegenheitsbezogene und damit

16 Zuletzt nochmals markant vertreten von Nicola Kaminski: Andreas Gryphius. Stuttgart 1998, S. 60 ff.

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 237 vom historischen Zufall vorgegebene Texte handelt. Diese können schlechterdings nicht die gleiche repräsentative Sinnhaftigkeit gene- rieren, wie sie das sakralisierte Rahmenprogramm aufruft. Es zeigt sich, dass Gryphius’ Sonettbücher doch sehr viel heterogener sind, als es das Rahmenprogramm verspricht. Es finden sich im Anschluss an die dem Irdischen gewidmeten vanitas-Gedichte Kasualgedichte, Spottgedichte und sogar einige petrarkismuskritisch geprägte Sonette mit im weitesten Sinne erotischer Thematik. Wolfram Mauser hat in seiner Ausdeutung dieser Ordnungsstruktur einen mehr oder weniger geschlossenen, heilsgeschichtlich motivier- ten Ordnungscharakter unterstellt, der die Kasualgedichte als reprä- sentative Texte einstuft, die in ihrer laudativen Anlage Beispiele für die Erfüllung eines gottgefälligen, tugendhaften Lebens innerhalb der Welt vertreten. Dagegen scheint zunächst wenig einzuwenden zu sein. Man muss diesen ordnungsbezogenen Aspekt gegenüber ihrem Ka- sualcharakter sogar noch hervorheben. Je stärker die Texte allerdings in einer solchen Weise zyklusbezogen konzipiert sind, desto mehr konfligiert dies letztlich mit ihrem vorausliegenden Kasualcharakter. Bei genauerem Zusehen stellt man nämlich fest, dass es mit diesem Kasualbezug in lebenspraktischer beziehungsweise institutioneller Hinsicht nicht sehr weit her ist. Vielmehr führt das repräsentative Moment der Gedichtsammlung dazu, dass Gryphius solche ‘Andich- tungen’ präsentiert, die in Bezug auf seine eigene Person maximale Dignität besitzen. Auch hier befolgt er das Prinzip der hierarchischen Anordnung, aber er gruppiert nicht einfach die würdigsten Panegyrica nach vorn und die einfacheren nach hinten. Er verfährt nach einem Maximalprinzip, wobei der Fokus der Anordnung von der eigenen Person, von Andreas Gryphius selbst gebildet wird. Die ersten beiden der Casualia sind nämlich die Grabgedichte auf den Vater und die Mutter. Bemerkenswert ist dabei nicht nur die Selbstbezüglichkeit, sondern auch die Tatsache, dass beide Elternteile bereits sehr viel frü- her verstorben sind, der Vater, als der Dichter vier Jahre alt war. Völ- lig korrekt bietet er deshalb auch kein Begräbnissonett, sondern ein Epitaph, ein Sonett auf das Grab Pavli Gryphii Theologi (36). Der Vater wird im weiteren Titel als parens desideratissimus – als ‘ver- misstestes Elternteil’ – bezeichnet. Damit kann man anders als bisher angenommen feststellen, dass es sich nur in eingeschränkter Weise um ein Sonett ‘bei Gelegenheit’ handelt. Es handelt sich vielmehr um ein Sonett, das im Zusammenhang mit der Komposition des Zyklus ent-

Chloe 43 238 Thomas Borgstedt worfen wurde. Das gleiche gilt für das nachfolgende Gedicht auf das Grab der Mutter Annae Erhardinae | Optimae Matris (37), die 1628 verstarb, als Gryphius elf Jahre alt war. Das Waisenkind Andreas Gryphius ‘konstruiert’ also Gelegenheitsgedichte für seinen Sonett- zyklus, er scheint sie speziell hierfür abzufassen, und er gibt seinen früh verstorbenen Eltern dabei die erste Stelle. Wie bedeutsam ist bei einer solchen Konstruktion eigentlich die Stellung der Autor-persona? Gewinnt sie eine herausgehobene Position, weil sie durch die Präsen- tation ihrer wichtigsten persönlichen Bezugspersonen zum Fokus des eigenen Texts wird? Wolfram Mauser hat hervorgehoben, dass bei der Gestaltung der an die Familienmitglieder gerichteten Gedichte eine klare Tendenz zur überpersönlichen Kennzeichnung herrscht, die auf den exemplari- schen Lebensvollzug abheben soll und persönliche Bezüge völlig zu- rückdränge. So heißt es zum Gedicht auf das Grab der Mutter, dass ihr “aufgrund der zeitlichen Distanz das Element spontanen Schmerzes fehl[e]. Alles Affektive, das den Sinn trüben könnte, [sei] überwun- den.”17 Daran dürfen Zweifel erlaubt sein. Man war im Zeichen der traditionsgeschichtlichen Barockforschung oft allzu sehr bemüht, die überindividuellen Ordnungsperspektiven zu verabsolutieren und jeden Anschein persönlicher Betroffenheit zurückzudrängen. Der Tendenz nach ist es natürlich richtig, dass die Autoren der Zeit intensiv um Strategien der Objektivierung von Erfahrung bemüht waren.18 Es bleibt dennoch zu bedenken, dass wir es in der Frühen Neuzeit in der Regel nicht mehr mit dem Entwurf einer durchgreifend gültigen meta- physischen Weltsicht zu tun haben. Das Insistieren auf den überindi- viduellen Ordnungsprinzipien hat hier vielmehr eine stark kompensa- torische Qualität. Es kündet gerade von der Gefährdung jener Ord- nungen, die durch die humanistische und konfessionelle Pluralisierung der Traditionen, durch die Säkularisierungstendenzen der Renais-

17 Wolfram Mauser: Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die ‘Sonette’ des Andreas Gryphius. München 1976, S. 202. 18 Dafür steht exemplarisch der Aufsatz von Conrad Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners ‘Ba- rockrhetorik’. In: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 27.-31. August 1973. Vorträge und Berichte. Hamburg 1976, S. 21-51; sowie ders: Bestrittene Individualität. Beobachtungen zur Funktion der Barockallegorie. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979, S. 574-591.

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 239 sance, durch die Freisetzung von individuellen Handlungsoptionen in den neuzeitlichen Politikdiskursen in Gang gesetzt wurden. Gerade die Resakralisierungspoetik von Andreas Gryphius macht dieses Mo- ment der Reaktion sehr deutlich: Reaktion auf die Ansprüche säkula- rer Liebeskonzepte, Reaktion auf die etatistischen Autonomiebestre- bungen der Staatsraisonlehren, Reaktion auf die Aushöhlung des sak- ralen Status der Obrigkeit in den Überlegungen zum Widerstands- recht, usw. Deshalb ist es gerade kein Widerspruch, in den traditiona- listischen Ordnungsentwürfen der Zeit die Fermente der Modernität wahrzunehmen, die Spuren aufkeimender Individualität zu notieren, die Widersprüche von Traditionswillen und zukunftsgerichteten Per- spektiven aufzuzeichnen. Und deshalb muss man nicht um jeden Preis behaupten, dass es ausschließlich um das Verkünden allgemeingülti- ger Werte geht. Wolfram Mauser schreibt:

Trotz der offenkundigen Beziehung, die diese Personen zum Leben des Dichters hatten, sind die Sonette in ihrer ethischen Substanz nicht Zeug- nisse einer realen Biographie, sondern losgelöst davon Exempel eines Le- bens, das Gottesfurcht, Gottgefälligkeit, Bekennertum, Treue, Weisheit, Demut und Redlichkeit kennzeichneten. [Mauser, S. 202]

Im Fall des Gryphschen Gedichts auf das Grab des Vaters trifft es zu, dass hier ganz auf das Exemplarische des Lebens abgehoben wird. Allein in jener lateinischen Formulierung im Titel – parentis deside- ratiss. – klingt das persönliche Drama an, dass es für Gryphius eben ein ‘vermisster’ Vater war, ja ein ‘vermisstester’. Anders klingt es im Gedicht auf die ‘beste Mutter’ – Optimæ matris – deren Tod der Autor in einem Alter bewusst erlebt hat, in dem dies wohl am allerschmerz- haftesten erfahren wird. Auch hier reihen die ersten Verse Tugendprä- dikate aneinander: “ACh Edle tugendt blum” (v. 1), “O spiegel der gedult” (v. 3), “O richtschnur keuscher frauen!” (v. 4), um fortzufah- ren:

5 Ach hatt die todes seens! Hatt die euch weggehawen! Im mittag ewrer zeitt! Deckt dieser marmorstein Den leib/ den feber/ angst vnd schwindtsucht brachen ein! Ach! wollte Gott der welt euch länger nicht vertrawen? Gott rieß euch von vns weg gleich als sein grim entbrandt. 10 Als seelen noth vnd krig verheerten kirch vnd landt. Itz seht ihr Christum selbst mitt süsser frewd vmbfangen Vndt seine herlikeit/ wir schawen glutt vnd schwerdt/

Chloe 43 240 Thomas Borgstedt

O Mutter/ ihr seid euch gar eben von der erdt! Mir aber gar zu früh! Ach gar zu früh entgangen. (37)

Die rhetorische Evokation des Leides ist das affektive Wirkungsziel aller Trauerdichtung.19 Gryphius führt dies hier mit seinen eindrucks- vollen sprachlichen Möglichkeiten vor: “Hatt die euch weggehawen! | Im mittag ewrer zeitt!” ist von deutlicher Gewaltsamkeit, “Als seelen noth vnd krig verheerten kirch vnd landt” weist auf die Zeitumstände, die das Überleben für den zurückgebliebenen Sohn besonders schwie- rig machten. Die Trostgründe, dass die Mutter nun im Himmel sei, finden sich ebenfalls, doch sie beschließen das Gedicht nicht: “O Mutter/ ihr seid […] Mir aber gar zu früh! Ach gar zu früh entgangen” macht nicht den Eindruck, als sei hier ‘alles Affektive überwunden’ und handle es sich in jedem Fall um bloße ‘Exempel’ musterhaften Lebens. Das dritte Widmungsgedicht der Gryphschen Sonette betrifft die Bibliothek des Georg Schönborner. Auch hier dreht es sich gerade nicht um das panegyrische Lob des gebildeten Mäzens, wie es Mauser herausstellt. Das Gedicht ist vielmehr dessen Bibliothek gewidmet: In Bibliothecam [...] Georgii Schonborneri, &c. (38). Diese Bibliothek wird aber nicht als das Bildungsdomizil Schönborners beschrieben, wie es Mauser sieht, sondern vielmehr als das Bildungsinstitut des Dichters. Mehr noch als im Gedicht auf die Mutter spricht Gryphius hier ab Vers 5 von sich selbst:

5 Hier les ich was vorlängst gott seinem volck geschworen Hier sindt gesetz vndt recht’ hier wird die grosse welt In büchern/ vnd was mehr in bildern vorgestelt. Hier ist die zeitt die sich von anbegin verlohren. Hier find ich was ich will/ hier lern’ ich was ein Geist. 10 Hier seh ich was ein leib/ vnd was man tugend heist. Schaw’ aller städte weiß’ vnd wie man die regiret. Hier blüht natur vnd kunst/ vndt was man seltzam nänt. Doch als ich diesen mann/ der alhier lebt erkänt; Befandt ich/ das ihn diß vndt mehr den dises zihret. (38)

19 Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der deut- schen Schiller-Gesellschaft 18 (1974), S. 89-147.

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 241

In den Terzetten werden die Schätze der Bibliothek auf jenes lesende ‘Ich’ bezogen, das sich alles einverleibt – “Hier les ich”, “Hier find ich”, “hier lern’ ich”, Hier seh ich”, hier “Schaw’” ich –, ein rheto- risch verachtfaches Ich, das dem Mangel von Vater und Mutter hier die Fülle und präsentische Gegenwart der Bücher entgegensetzt und damit im organisatorischen Zentrum seines ersten Gedichtbuches ei- nen Abriss der eigenen Existenz bietet. Noch das Schlusslaudativum auf Schönborner wird von diesem ‘Ich’ gespendet, das über dessen geistige Zierde ‘befindet’. Auch das Bibliothekssonett ist also kein anlassgesteuertes Kasual- gedicht. Es ist keiner ‘Gelegenheit’ geschuldet. Es gibt keinen institu- tionellen Anlass der Aufführung. Es gibt keine Situation der Über- gabe. Es sucht die Gelegenheit vielmehr auf, um eine spezifische Aus- sage zu ermöglichen. Dafür bietet das Kasualgedicht das brauchbare Gattungsmodell. Es ist wie die Elterngedichte dem Programm des So- nettbuchs geschuldet und repräsentiert in dessen Zentrum auf ebenso indirekte Weise wie diese die Person des Autors als Bildungssubjekt. Hat man dieses Verfahren einmal durchschaut, so lässt sich in den weiteren Widmungsgedichten problemlos die Fortschreibung erken- nen. Das folgende Sonett auf den Halbbruder Paul (39) – als frater dulcissimus gekennzeichnet – bleibt ganz im Sinne Mausers dem Tu- gendlob verschrieben und hat von jenem Prädikat des ‘süßesten Bru- ders’ abgesehen nichts Persönliches. Im Blick auf das Bildungssubjekt des Autors allerdings füllt es offene Posten, indem es vom Bruder sagt: “Der eyvers voll von Gott hatt tag und nacht gelehret/ | Den Christus hatt erleucht/ den gottes geist regirt” (v. 1 f.), usw. Hier wird im Bruder der Streiter im Glauben präsentiert, ähnlich wie im näch- sten Schritt der Stiefvater Michael Eder, der Lehrer und Pfarrer war, und der ebenfalls unter den konfessionellen Auseinandersetzungen zu leiden hatte (40). Auch Eder repräsentiert die Verteidigung des Glau- bens im Bildungsprogramm des Sonettbuchs. Auf die genannten Gedichte folgen drei Sonette, die Büchern bzw. Texten gewidmet sind: zunächst wird mit “seines Herrn Brudern Pauli Gryphii Geistliche[m] Schuldbuch” (40) ein ‘Buch’ im übertragenen Sinn bedichtet. Das darauffolgende Sonett auf Gryphius’ Danziger akademischen Lehrer Peter Crüger – Astronom und Mathematiker – präsentiert eine scharfsinnige Pointe zu dem Faktum, dass es sich um ein Lobsonett handelt, das gerade nicht auf Crügers Grab gedichtet sei, sondern das dessen Bildungsgaben mit einem Sonett des ‘leben-

Chloe 43 242 Thomas Borgstedt den’ Dichters vergilt (41 f.). Auch hier tritt das ‘Ich’ der Dichterper- son prominent auf. Das dritte dieser Gedichte ist an sein eigenes Buch gerichtet anlässlich der Übersendung an den Danziger Stadtsekretär Michael Borck und zum Dank für dessen Lob (42 f.):

Er ists/ der mir vil Ehr’ und mehr’ als Ehr’ erweist/ Er ists/ der mich nicht nur ins Angesicht gepreiß’t. (v. 12 f.)

Auch hier erfüllt das diesmal vollwertige Kasualgedicht den Zweck, die Person des Autors qua Autor zu spiegeln und ins Licht zu rücken. Man kann die vorgetragene Argumentation an den folgenden Ge- dichten weiterverfolgen, also etwa an den beiden Eugenien-Gedichten (44 f.) – die sich mit moralistischem Impetus gegen das petrarkistische Schönheitslob von Liebesgedichten wenden –, an den Hochzeitsge- dichten (45-47), die sich in konzeptistischen Wortspielen mit den Fa- miliennamen üben, und in den satirischen Gedichten (47 u.ö.), die ihre Adressaten nicht mehr identifizieren, sondern typisieren, und die da- mit tatsächlich keine Kasualgedichte mehr sind. Das vorgetragene Ar- gument ist aber an der Folge dieser ersten kasualartigen Gedichte be- reits deutlich gemacht worden. Es handelt sich dabei offenbar nicht um eine Abfolge musterhafter Lebensläufe, die zufällig auch in einer Verbindung zur Person des Autors stehen. Es handelt sich vielmehr um exemplarische Gedichte, die den existentiellen Lebens- und Bil- dungsweg des Autors Andreas Gryphius bis zu dem Punkt markieren, an dem er selbst als Autor auftritt. Damit werden die Leidenserfah- rungen und die poetische Autorschaft des Dichters im Zentrum des ersten Sonettbuchs miteinander verklammert und zu einer existentiel- len Chiffre gefügt, die in einer Abfolge von Kasualgedichten aufgeho- ben ist. Die Signifikanz dieser Abfolge wird auch daran kenntlich, dass sie beinahe unverändert bereits im Lissaer Sonettbuch vorliegt und in genau dieser Konstruktion in den späteren Ausgaben beibehal- ten wurde. In der Lissaer Ausgabe ist das Moment der persönlichen Präsenz und Betroffenheit sogar noch deutlicher markiert. Hier ist nämlich das vor den Grabgedichten auf die Eltern stehende Threnen in schwerer Kranckheit (34) noch ausdrücklich als Kasualgedicht ausge- führt unter dem Titel: Trawrklage des Autoris/ in sehr schwerer Kranckheit. A. [1636] Mense Febr. (8), eingeordnet unter den vanitas- Sonetten. Ferner findet sich unmittelbar vor den Eltern-Sonetten ein später ausgeschiedenes Gedicht Der Autor vber seinen Geburts-Tag den 29. Septembr. des [1616] Jahres (9 f.), auch dies ist ein nachträg-

Chloe 43 Sozialgeschichte oder Autorinszenierung? 243 lich verfasstes Kasualsonett, das die Autor-Positionierung hier noch sehr viel deutlicher einleitet, als in den späteren Sammlungen. Die sozialgeschichtliche Relevanz der vorgestellten Kasualsonette im ersten Sonettbuch des Andreas Gryphius ist unbenommen, doch handelt es sich bei ihrem Konstruktionsprinzip offensichtlich nicht um eine nachträgliche hierarchische Anordnung einer Reihe von Gedich- ten, die zu heterogenen kasualen Anlässen entstanden sind. Sie sind vielmehr gezielt für die Sonettsammlung geschrieben worden, um de- ren Konstruktionsprinzip zu ergänzen. Und hier bilden sie ein Sinn- zentrum, das um die existentielle Konstitution der Autor-Persona Andreas Gryphius kreist. Letztlich lassen sich die Texte dann auch so lesen, dass die Vanitasklage und die heilsgeschichtliche Rahmung des Sonettzyklus als ästhetische Konsequenz und poetische Überhöhung der als Leidens-, Glücks- und Sterbeweg erfahrenen Dichter-Vita er- scheint. Der ‘Kasus’ bildet bei den besprochenen Gedichten nicht mehr den primär gesellschaftlich initiierten ‘Anlass’ und Ursprung der Texte, er bildet vielmehr eine Funktion der Gedichte und wird von ihnen meist erst generiert. Darin kommt eine Literarisierungstendenz zum Aus- druck. Die Kasualgedichte werden unabhängig von ihrer gesellschaft- lich-institutionellen Gebrauchsfunktion im Sinne einer historisch-lite- rarischen Gattung genutzt und in einem genuin literarischen Überliefe- rungskontext platziert. Sie dienen vornehmlich dazu, die Lebensge- schichte und die Person des Autors selbst im Zentrum des Zyklus zu repräsentieren. Dank der Gattungscharakteristik der Kasualgedichte geschieht dies auf eine epochentypisch objektivierende und also nicht- subjektive Weise. Dabei generiert das Werk, also die Sammlung der Sonette, in mehrfacher Hinsicht einen Wertigkeitstransfer. Zunächst profitieren natürlich der angedichtete Kasus und die dabei bedichteten Personen, also die Eltern, Freunde und Bekannten des Dichters, von dessen poetischer Dignität. Im vorliegenden Fall ist dies aber nicht der wichtigste Zweck der Gedichte. Entscheidender ist die Tatsache, dass über die Kasualgedichte die biographischen Lebensumstände des Dichters, seine Herkunft, der frühe Verlust seiner Eltern, seine religiö- sen Wurzeln, seine Bildungsgeschichte, seine poetische Reputation, mit dem eigenen Werk und mit dessen Signifikanzbehauptung ver- klammert werden. Diese Signifikanzbehauptung ist nennenswert, denn sie wird von der zyklischen Anordnung des Sonettenzyklus nach heilsgeschichtlich-eschatologischen Prinzipien gestützt und so von ei-

Chloe 43 244 Thomas Borgstedt nem eminenten Wahrheits- und Sinnanspruch getragen. Umgekehrt wird dieser Wahrheits- und Sinnanspruch durch die in den Kasualtex- ten aufgehobene Authentizität der Lebensgeschichte beglaubigt. Die Kasualsonette des Andreas Gryphius stehen also wesentlich im Dienst einer Autorinszenierung, die den überindividuellen Deutungsrahmen seiner Sonette beglaubigt und mitträgt. Diese überindividuelle Sinn- behauptung ist somit dezidiert an eine subjektive poetische Instanz zu- rückgebunden. Darin kommt eine spezifische Modernität dieser Ge- dichte zum Ausdruck, die für ihre poetische Überzeugungskraft über die Jahrhunderte hinweg mit verantwortlich ist.

Chloe 43

P e t e r - M i c h a e l H a h n

INNOVATION GEGEN TRADITION: DER BERLINER HOF IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 17. JAHRHUNDERTS

1. Vorüberlegungen

Wie kaum ein anderer historischer Gegenstand dieser Epoche steht das höfische System opulenter Prachtentfaltung für die Umsetzung dy- nastischer Ambitionen in politische Praxis unter den Bedingungen ei- ner fortwährenden Konkurrenz unter Gleichgestellten. Wie bei keiner anderen Lebensform der Vormoderne spielte sich das höfische Ge- schehen unter den Augen einer kritischen Öffentlichkeit frühneuzeitli- cher Formung ab. In dieser galt in erster Linie das Urteil der Aristo- kratie, und im speziellen der Standesgenossen. Es beruhte oftmals auf Eindrücken und Erfahrungen, welche die Prinzen in ihrer großen Mehrzahl auf Kavalierstouren durch das höfi- sche Europa gemacht hatten. Zumeist wurde dieses Wissen in von Hofmeistern angelegten Diarien festgehalten. Später kam die Korres- pondenz mit Familienangehörigen und Verwandten zu Fragen höfi- scher Lebensart hinzu. Solchen Briefwechseln waren nicht selten Zeichnungen und Kupferstiche als Illustrationen hinzugefügt. Schließlich berichteten Residenten und Gesandte an ihre fürstlichen Auftraggeber regelmäßig über das höfische Leben in der Ferne. So stand jeder mehr oder minder unter der Beobachtung aller Gleichran- gigen. Aus der Perspektive des einzelnen Hofes betrachtet bedeutete dies: Der Fürst bediente sich dessen als eines höchst differenzierten Zeichensystems mit medialer Funktion, um sich in dieser eng um- grenzten Gemeinschaft eine unverwechselbare Identität beizulegen. Das dynastische Interesse wies dem fürstlichen Handeln Form und In- halt zu. In diesem Kontext musste man seinen Hof als statusgemäße Bühne eines Erdengottes präsentieren. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens kam es nicht zuletzt darauf an, durch die spezifische Ausgestaltung

Chloe 43 246 Peter-Michael Hahn weit verbreiteter Handlungsmuster und durch die spezifische Adaption bekannter Kunstformen ein unverwechselbares Profil zu schaffen und damit eine Form von Haustradition zu begründen.1 Dies sicherte der Auftrag gebenden Familie vor allem dynastische Würde und Bedeut- samkeit in der europäischen Fürstengesellschaft. Ein sachgerechtes Urteil über die in Berlin – während der Epoche des Hochbarocks – erreichten höfischen Standards zu fällen, stößt bis heute auf Probleme, deren Ursachen nicht jedermann sofort bewusst sind. Erst bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die damalige Situ- ation – und dies gilt nicht nur für die politische Rolle Brandenburg- Preußens, sondern auch für Berlin als ein höfisches Zentrum – mehr als einmal im Lichte späterer Ereignisse und Leistungen von Histori- kern aller Art und politischen Publizisten verklärt wurde und gelegent- lich noch wird. Eine fundierte Bewertung des Berliner Hofes und seiner Bestrebun- gen in der Epoche nach dem Westfälischen Frieden hängt im Wesent- lichen von zwei Gesichtspunkten ab: Wie hoch schätzt man das kul- turelle Kapital ein, das Kurfürst Friedrich Wilhelm bei seinem Regie- rungsantritt vorfand, um der oben skizzierten Aufgabe mittels seines Hofes nachzukommen? Und ferner, wie sind die Leistungen von Vater und Sohn bis 1700 auf der Grundlage dieser Basis zu bewerten, das höfische Profil im Vergleich mit anderen Dynastien ähnlichen Ranges zu schärfen. Letzteres kann selbstverständlich im Rahmen eines Vortrages nur ansatzweise geschehen, aber eine knappe Betrachtung des bayerischen Kurhauses, also eines Standesgenossen, der ebenfalls eine Statusver- änderung erfolgreich durchführte, erlaubt uns doch, zu einigen vor- sichtigen Einschätzungen über höfische Standards im Alten Reich und im Besonderen unter weltlichen Kurfürsten zu gelangen, die als Maß-

1 An dieser Stelle kreuzten sich innovative Eigendynamik der Künste und fürstli- cher Wunsch, die Magnifizenz des eigenen Hauses zu versinnbildlichen. Wie in der Folge eine Residenz als das Zentrum fürstlicher Macht und Herrlichkeit aus- geziert wurde, war davon abhängig, welche dynastischen Leitgesichtspunkte ei- nerseits und welche kulturelle und materielle Ressourcenverteilung andererseits den Prozess einer internen Differenzierung der Zeichen steuerten, mit denen dy- nastische Identitätssymbole visualisiert wurden. Allerdings ist zu beachten, daß sich die Komplexität eines höfischen Vokabulars, dessen sich eine Dynastie und ihre Mitglieder über die Jahrhunderte bedienten, in dem Maße verändern konnte, wie die primäre Differenzierung dynastischer Individualität etwa durch einen Wechsel der Allianzen oder eine Statuserhöhung eine neue Richtung annahm.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 247 stab für eine Bewertung heranzuziehen sind. So ist es zudem möglich, in vergleichender Perspektive nach Formen und Voraussetzungen so- zio-kultureller Dynamik in Brandenburg zu forschen, die der Förde- rung einer dynastischen Identität dienen sollten. Entscheidend bleibt jedoch, eine für uns anschauliche Vorstellung von der Wirkung eines Fürstenhofes auf die Standesgenossen zu ge- winnen. Zeitgenössische Begriffe wie Pracht und Magnificentia, die in dem Kontext zumeist verwandt wurden, verlangen, bezogen auf den einzelnen Hof, daher eine bilanzierend erklärende Annäherung, um für unsere Vorstellungswelt die zwischen den Höfen bestehenden Diffe- renzen in der Außen-Wirkung sichtbar zu machen.2 Sämtliche Maß- nahmen, welche einst die Außen-Wahrnehmung eines Hofes im Sinne einer ‘Lesbarkeit der Welt’ veränderten, sollten deshalb in die Be- trachtung der höfischen Ressourcen einbezogen werden. Um deren veränderliche Größe zu verdeutlichen, wollen wir im Folgenden von einem symbolischen bzw. kulturellen Kapital spre- chen, das ein Fürstenhaus im Laufe der Zeit um sich auftürmte, um mittels dieser Ressourcen Ansehen und Rang seinen dynastischen Konkurrenten mitzuteilen.3 Das symbolische Element hebt dabei eher auf den sowohl sinnstiftenden als auch sozial verweisenden Charakter der Handlungen und materiellen Güter ab, die im höfischen Kapital einer Dynastie vereint worden waren, während der kulturelle Bezug vornehmlich darauf abstellt, daß sämtliche, hier zu summierende Ein- zelposten auf speziellen Kulturtechniken und besonderen Materialien beruhten, die entweder im Inland generiert oder teuer im Ausland hinzu gekauft wurden. Im Detail richtet sich unser Blick vor allem auf diejenigen Bestand- teile des symbolischen Kapitals, die als traditionssetzend anzusehen sind. Was meine ich mit Traditionsgut solcher Art im Einzelnen? Sämtliche Güter, nicht allein Kunstkammer-Objekte, sondern alles, was entweder durch seine kostbare Materialität, eine außergewöhnlich aufwendige Verarbeitung und Formgebung oder aber einen festlichen

2 Vgl. Peter-Michael Hahn: Wahrnehmung und Magnifizenz. In: Pracht und Herr- lichkeit. Adlig-fürstliche Lebensstile im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. von Peter-Michael Hahn und Hellmut Lorenz. Potsdam 1998, S. 9-43. 3 Ausgangspunkt für diese Überlegungen: Pierre Bourdieu: Elemente zu einer so- ziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung. In ders.: Zur Soziologie der sym- bolischen Formen. Frankfurt/Main 1974, S. 159-201 (= suhrkamp tb 107).

Chloe 43 248 Peter-Michael Hahn

Gebrauch durch die Herrscherfamilie als ein sichtbares Zeugnis dyna- stischer Identität und Würde anzusehen war.4 Um die Sprachmächtigkeit der Zeichen zu erhöhen, kam es vielfach innerhalb der Residenzen als der maßgebenden Kommunikations- struktur zu einer immer stärkeren internen Differenzierung nach Form, Funktion und Materialität. Sämtliche höfischen Zeichen vereinte je- doch der Zweck, die Altehrwürdigkeit eines Hauses und davon abge- leitet dessen legitime und gerechte Herrschaft zu feiern.5 Ausgeblendet werden jedoch im Kontext der höfischen Kommunikation von uns aus pragmatischen Gründen rituelle und zeremonielle Handlungsformen, die in Bildwerken und Dichtung verewigt auch Tradition bildend und damit in der höfischen Bilanz Kapital mehrend wirkten.6 Für dieses Modell einer Veranschaulichung zeichenhafter Pracht- entfaltung durch die Fürstengesellschaft spricht, dass spätestens seit dem 15. Jahrhundert Gelehrte bemüht waren, visuelle Argumenta- tionsformen in ihrer Ausführung einem rationalen Diskurs zu unter- werfen. Dieser richtete sich nicht primär an die Angehörigen der höfi- schen Gesellschaft, deren Mitglieder sich nur selten zu den von ihnen bevorzugten visuellen Programmen und deren Zeichensystemen äu- ßerten. Diese Debatten wandten sich vielmehr an Künstler, die mit der praktischen Umsetzung der Erwartungen der höfischen Gesellschaft beauftragt wurden. Unter den frühen Vertretern, welche diese Diskussion nachhaltig beförderten, sei nur Leon Battista Alberti hervorgehoben, der die Re- geln der Rhetorik, d.h. die argumentative Präsentation von Wissen, auf die bildenden Künste übertragen hatte. Damit lag neben der kirch-

4 Als Überblick: Marina Belozerskaya: Luxury Arts in Renaissance. London 2005, bes. S. 47 ff. 5 Dabei kam dem Schlossbau als dynastischem Zeichen besonderes Gewicht zu: Michael Müller: Spätmittelalterliches Fürstentum im Spiegel der Architektur- Überlegungen. Zu den repräsentativen Aufgaben landesherrlicher Schlossbauten um 1500 im Alten Reich. In: Principes. Dynastien und Höfe im späten Mittelal- ter. Hrsg. von Cordula Nolte u.a. (= Residenzenforschung 14) Stuttgart 2002, S. 107-145. 6 Höfische Verfahrensweisen stellten durch ihre Sichtbarkeit Legitimität her und erzeugten damit längerfristig betrachtet, indem Handlung auf Handlung sich be- zog, auch ein Mehr an herrschaftlicher Tradition, wodurch das symbolische Ka- pital des Hofes wiederum gesteigert wurde. Zu den Bedingungen einer sowohl schichtinternen als auch schichtübergreifenden Kommunikation in einer hierar- chisierten Gesellschaft vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Seman- tik. Bd. 1. Frankfurt/Main 1980, S. 21-24, 73 ff.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 249 lichen Tradition, Gottes Herrlichkeit in Bauten, Bildern und Handlun- gen angemessen zu verdeutlichen, eine weitere Strategie visualisierter Argumentation vor. An diesen konnte man sich orientieren, um Bild- werke aller Art und zeichenhafte Handlungen im Interesse dynasti- scher Würde und Repräsentation gezielt einzusetzen, d.h. um bei de- ren Betrachter wohl kalkulierte Wirkungen auszulösen. Wie stark solche Konzepte auf die Vorstellungswelten der Gelehr- ten eingewirkt hatten, verdeutlichte im Zeitalter nach dem Dreißigjäh- rigen Krieg z.B. Joachim von Sandrarts Teutsche Academie, in wel- cher der Autor auf großartige Weise den Versuch unternahm, die für die Tätigkeit eines Künstlers notwendigen Wissensbestände zu erfas- sen und zu ordnen.7 Dabei verfolgte er zwar das Ziel, dem durch den Krieg im Alten Reich darnieder liegenden Kunstschaffen zu neuer Blüte zu verhelfen, aber dessen zentrales Aufgabenfeld war und blieb die Auszierung des Hofes. Deshalb ist der unmittelbare Bezug zu un- serem Thema nicht zu übersehen. Sandrarts Werk gewährt uns beispielhaft Einblick in die Entste- hungsbedingungen höfischer Zeichen. Denn es zeigt Wissensbestände, Denkweisen und Argumentationsmuster auf, die für die Erzeugung kunstvoller höfischer Güter unverzichtbar waren. So legt es nicht nur die Funktionsweise einer Gedächtnis-Kunst offen, die in unserem Kontext dynastische Verdienste vor dem Zugriff der Vergänglichkeit zu schützen vermochte, sondern erklärt auch die Wirkungsmöglich- keiten von materiellen Bildern, wie sie jedem Hof in mehr oder min- der großer Zahl zur Verfügung standen. Im Idealfall sollten diese den Betrachter dazu anhalten, gespeicherte Kenntnisse und Gesehenes in einem neuen, aktualisierten Merk-Bild zu vereinen. Genau dies lag in der Absicht sämtlicher höfischer Inszenierungen, was den Besucher einer Residenz wiederum veranlassen sollte, deren Pracht und Mag- nifizenz zu würdigen. Auch wenn wir nicht sicher sein können, daß sämtliche dort präsen- tierten Wissenstechniken und Funktionsweisen der höfischen Gesell- schaft im Detail geläufig waren, so erlaubt Sandrarts Publikation doch davon auszugehen, daß diese Mechanismen kunstvoller Rhetorik all- gemein verbreitet und geläufig waren. Den europäischen Höfen war seit dem 15. Jahrhundert durch schöpferische Aneignung und Aktuali-

7 Hierzu vgl. jetzt Michael Thimann: Gedächtnis und Bild-Kunst. Die Ordnung des Künstlerwissens in Joachim von Sandrarts ‘Teutscher Academie’. Freiburg i. Br. 2007, S. 33 ff., bes. S. 75 ff.

Chloe 43 250 Peter-Michael Hahn sierung des antiken Erbes ein breites, beinahe kanonisiertes Funda- ment an visiblen Formen und historischen Wissensbeständen zuge- wachsen, um dynastisches Ansehen und Würde zu imaginieren. Äußerst treffend brachte 1647 Georg Philipp Harsdörffer diesen funktionalen Zusammenhang auf den Punkt, wenn er schrieb:

Man kann sich dieser Sachen auf viele Wege bedienen/ sonderlich zu Aus- zierung der Schauplätze/ zu Aufrichtung der Siegesbögen/ zu den Traur- und Freudenspielen/ zu den Grabseulen/ zu Erfindung der Gedichte/ der Gemählde/ der Sinnbilder/ zu allerhand Lustgebeuden/ Seulen/ Brunnen/ Bücher titeln/ und was dergleichen mehr ist.8

Es stand jedoch auf dieser gemein-europäischen Wissens-Basis jeder Dynastie frei, wie unsere Beispiele veranschaulichen werden, unter den je spezifischen Bedingungen ihren Weg höfischer Selbstdarstel- lung zu erkunden und in der von ihr gewählten höfischen Symbolspra- che umzusetzen. Daher kommt es für unser Verständnis darauf an, nicht nur deren kunstvolles Vokabular zu beschreiben, sondern auch immer unter dem Aspekt einer höfischen Gesamtbilanz die Gleich- oder Verschiedenrangigkeit der medialen Bedeutungsträger mit zu wägen. Allerdings eröffnet diese Perspektive auch neue Einblicke in die schwierig zu erfassende Erfolgsbilanz fürstlicher Häuser, die nicht allein am Schlachterfolg oder dem territorialen Wachstum zu messen sind.

2. Das höfische Niveau in Kurbrandenburg vor 1640: Ein Mangel an Tradition

Betrachten wir zuerst den Zustand des Berliner Hofes um 1650. Dabei wollen wir bilanzierend unser Augenmerk darauf richten, inwieweit es den Hohenzollern gelungen war, mit den beschriebenen Mitteln ihre Residenz entsprechend ihres Ranges zu formen. Was erwartete den fürstlichen Besucher des Berliner Hoflagers an symbolischem Kapital, wenn er nach einer langen Reise durch dichte Wälder und dünn besie- delte Regionen dort eintraf? Es gab keine prächtige, mit Kupferstichen ausgestattete Residenzbeschreibung, an der sich ein Gast im Vorfeld hätte orientieren können, auf welche markanten Zeichen er seinen

8 Zitiert nach Thimann, (vgl. Anm. 7), S. 15.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 251

Blick hätte lenken sollen. Stattdessen war es dem Herrscher und sei- nen Amtsträgern vorbehalten, den Gästen die dynastischen Würdezei- chen des Ortes zu präsentieren. Der offizielle Besuch einer Residenz kam stets dem Gang durch eine dynastische Gedächtnislandschaft gleich, die mit ihren indivi- duellen Zügen den politischen Anspruch ihrer Besitzerfamilie in Ver- gangenheit und Gegenwart versinnbildlichte. In diesem Kontext kam nicht nur den Architekturen9 eine gleichermaßen sowohl sinnstiftende als auch repräsentative Funktion zu, sondern auch sämtliche anderen zur Schau gestellten Bild-Werke, die oftmals in vieldeutigen Verbin- dungen Aussagen zur Dynastie transportierten, sind als Faktoren höfi- scher Fremd-Wahrnehmung angemessen zu berücksichtigen. Stadt und Schloss waren im Gegensatz etwa zur Münchner Resi- denz, die von den schwedischen Söldnern im Dreißigjährigen Krieg schwer heimgesucht worden war, nicht geplündert worden.10 Zwar hatte die Mark sehr unter der Soldateska im Allgemeinen gelitten, aber nicht deren Hauptstadt. Der Hof hatte sich zeitweise aus Furcht vor fremden Heeren nach Spandau zurückgezogen. Schließlich hatte der Kurfürst über einen größeren Zeitraum sein Lager sogar im vom Krieg nicht betroffenen fernen Königsberg aufgeschlagen. Nach Kriegsende in Brandenburg zog es Kurfürst Friedrich Wil- helm bis etwa 1668 immer wieder über viele Monate nach Kleve oder Königsberg, um dort zu residieren.11 Allein aktuelle politische Motive werden für dieses Verhalten nicht ausschlaggebend gewesen sein. Dem binnen weniger Jahre rapide gewachsenen Fürstenstaat fehlte ein adäquates dynastisches Zentrum mit einer reichen Symbolsprache. Berlin erhob sich zu diesem Zeitpunkt keinesfalls über die anderen alten Herrschaftssitze dieser monarchischen Union von Territorien. Dies lag nicht daran, dass die Hohenzollernresidenz an der Spree etwa unter dem Krieg besonders gelitten hätte. Keine außergewöhnli- chen materiellen Kriegsverluste an Kunstgut sind aktenkundig gewor- den. Daher ist es wichtig festzuhalten, dass der Kurfürst bei der Aus-

9 Vgl. Ulrich Schütte: Architekturwahrnehmung, Zeichensetzung und Erinnerung in der frühen Neuzeit. In: Gehäuse der Mnemosyne. Architektur als Schriftform der Erinnerung. Hrsg. von Harald Tausch. Göttingen 2003, S. 123-149. 10 Hierzu noch immer: Eberhard Faden: Berlin im Dreißigjährigen Kriege. Berlin 1927. 11 So residierte Friedrich Wilhelm während seiner Ehe mit der Oranierin (1646- 1667) etwa ein Drittel (!) der Zeit in Kleve. Vgl. Klaus Flink: Kleve im 17. Jahr- hundert. 2. T. Kleve 1979, S. 11, 15 ff.

Chloe 43 252 Peter-Michael Hahn stattung der Schlösser in Berlin und Potsdam nach 1650 nicht oder äußerst selten auf ältere, d.h. aus der Zeit vor 1618 stammende Güter zurückgriff, in denen sich für die höfische Gesellschaft eine dynasti- sche Tradition hätte widerspiegeln können.12 Das ist eine Aussage, die in unserem Kontext natürlich einer nähe- ren Begründung bedarf, weil sie so ganz und gar nicht dem Bild von dynastischer Identität und höfischer Traditionsbildung im Allgemei- nen entspricht. Deshalb müssen wir das bis 1640 akkumulierte höfi- sche Kapital der Hohenzollern etwas genauer bilanzieren. Unser erster Blick gilt deren Bautätigkeit. Der Berliner Hof fiel eher durch Mittelmäßigkeit als Prunk auf. Unter Joachim I. und sei- nem gleichnamigen Sohn hatte Berlin-Cölln als eine hochfürstliche Residenz erstmalig Statur gewonnen. Dem Stadtschloss fehlte es auf Grund seiner Formensprache nicht an fürstlichen Würdezeichen, aber für ein kurfürstliches Haus zeigte es doch vergleichsweise wenig Indi- vidualität im Sinne einer Unverwechselbarkeit. Der Bau wurde näm- lich im frühen 16. Jahrhundert mit Hilfe sächsischer Architekten und Handwerker nach dem Muster von Schloss Hartenfels bei Torgau über einer kleinen Burg des 15. Jahrhunderts errichtet.13 In der Folge wurde der Gebäudekomplex in mehreren Etappen er- weitert. Allerdings wurde dabei weder innen noch außen ein besonder- er künstlerisch-dynastischer Anspruch, der über das übliche Maß hin- ausreichte, verwirklicht. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde aber- mals der sächsische Kurfürst um Überlassung fähiger Bauhandwerker gebeten, um einen größeren Um- und Anbau zu erstellen. Nichts be- leuchtet besser einen Mangel an kulturellen Ressourcen bzw. ein Un- vermögen Brandenburgs, im dynastischen Interesse architektonisches Profil zu entwickeln. Ein Beleg für die geringe Wertschätzung dieses Gebäudes deutet sich in dem Umstand an, dass uns aus der Zeit vor 1618 kaum eine aussagekräftige Bildquelle zum Cöllner Herrschaftssitz zur Verfügung steht. So sehen wir auf einem großen Porträt des alten Kurfürsten Jo- hann Georg (vor 1598) im Hintergrund eine Landschaft mit einer idea-

12 Allein Rüstungen und Waffen aus älterer Zeit in Rüstkammer bzw. Marstall wer- den nach 1650 erwähnt. 13 Eher beiläufig erfährt man die zentrale Rolle sächsischer Handwerker und des sächsischen Vorbilds für diesen Schlossbau: Liselotte Wiesinger: Das Berliner Schloß. Darmstadt 1989, S. 33, 37, 44 f., 60.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 253 len Schlossarchitektur.14 Erst ein Nachfahre, Georg Wilhelm, ließ sich nach 1633 mit einer Ansicht des Königsberger Schlosses abbilden. Außerdem gab es in der Residenz keine repräsentative Grablege des Fürstenhauses. Nach ersten Bemühungen wurde auch in dieser Hin- sicht kein spezieller Bau, der einen höheren dynastischen Anspruch dokumentiert hätte, in Auftrag gegeben. Ein Mangel an Hausteinen, der hohe Preis für Marmor und fehlende handwerkliche Ressourcen stellten gewiss nur eine Ursache dar, weshalb man in Berlin eine so wichtige fürstliche Bauaufgabe vernachlässigt hatte und sich mit ei- nem schlichten Erbbegräbnis begnügte. Eine Wende auf der höfischen Ebene fürstlicher Repräsentation trat auch nicht ein, als mit dem Anfall des Rheinischen Erbes 1604 erst- malig ein altes würdiges Residenzschloss, die Klever Schwanenburg, deren bauliche Anfänge tief in die Vergangenheit (11./12. Jh.) zurück- reichten, in den Besitz der Berliner Hohenzollern gelangte. Aber sie war damals ohne jede Innenausstattung, weil das zuletzt regierende Fürstenhaus überwiegend in Düsseldorf residiert hatte.15 Mit dem Erwerb des Herzogtums Preußen 1618 verfügte man im nicht minder fernen Königsberg sogar über eine dritte Fürstenresi- denz. Das erst aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammende Schloss war im 16. Jahrhundert umgebaut und erweitert worden. Es war seit 1457 an die Stelle der durch den Deutschen Orden an das Königreich Polen abgetretenen Marienburg getreten. Allerdings wurden unter dem letzten Herzog, der seit 1567 unter der Vormundschaft seines fränki- schen Vetters, Markgraf Georg Friedrich, stand, nur geringe Verände- rungen durchgeführt. Damals wurde ein großer Saal erbaut, der nach 1701 als Moskowitersaal bezeichnet wurde.16 Die mobile Ausstattung war angemessen, aber nicht prunkvoll. Die gut bestückte herzogliche Silberkammer wurde bereits 1613 von den preußischen Oberräten ver- äußert, um die leere Staatskasse aufzufüllen.17

14 Vgl. Ekhart Berckenhagen: Die Malerei in Berlin vom 13. bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert. Berlin 1964, Nr. 51. 15 Vgl. Gerard Lemmens: Die Klever Burg. In: Land im Mittelpunkt der Mächte. Die Herzogtümer Jülich Kleve Berg. Hrsg. vom Städtischen Museum Haus Koekkoek. 2. Aufl. Kleve 1984, S. 269-290. 16 Vgl. Wulf D. Wagner: Das Königsberger Schloß. Eine Bau- und Kulturgeschich- te. Bd. 1. Von der Gründung bis zur Regierung Friedrich Wilhelms I. (1255- 1740). Regensburg 2008, S. 155-157. 17 Vgl. Wagner (Anm. 16), S. 139 f., 197, 221, 224.

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Der kinderlose Administrator, der die Regierungsgeschäfte zumeist aus der Ferne dirigierte, war in der politisch prekären Situation des Herzogtums vor allem daran interessiert gewesen, das preußische Le- hen seiner Dynastie zu sichern. Für eine aktive höfische Politik in Preußen hätte sowohl ein geeigneter Repräsentant als auch ein mög- licher Adressat gefehlt. Verschärfend kam hinzu, dass es sich um ein Herzogshaus handelte, das gerade einmal zwei Generationen alt ge- worden war und jetzt vor dem sicheren Aussterben stand. Doch kommen wir auf die Verhältnisse in der Berliner Residenz zu- rück. Von Joachim I. und seinem gleichnamigen Sohn wird behauptet, dass sie prächtig Hof gehalten hätten. Einige Feste vom Ende des Jahrhunderts werden gewöhnlich als ein Beleg für den höfischen Le- bensstil herangezogen. Tatsächlich mangelt es aber an einer größeren Zahl eindeutiger materieller Zeugnisse, die eine solche Sichtweise in einem umfassenden, d.h. auch traditionssetzenden Sinne untermauern könnten.18 Es hätte bleibender Zeichen höfischer Lebensart bedurft, um ein solches Urteil im Sinne einer Traditionssetzung in symboli- schen Formen zu rechtfertigen. Wo waren aber die materiellen dynastischen Gedächtnisspeicher? Einen schwachen Hinweis auf Ansätze zur Prachtentfaltung bietet nur der gesicherte Besitz einiger Familienporträts und Altarbilder aus der Cranach-Werkstatt aus dem frühen 16. Jahrhundert. Von späteren Ho- henzollern ist jedoch nicht überliefert, dass sie als Mäzene, Käufer und kenntnisreiche Sammler hochwertiger Hof- und Schatzkunst, wie sie in Italien, Frankreich, den Niederlanden, aber auch Oberdeutsch- land produziert wurde, auftraten, um ihrer Residenz mittels dieses dy- nastischen Zierrates ein unverwechselbares Signum in Form materiali- sierter Merk-Bilder zu verleihen. Es gibt jedoch ein sehr glaubhaftes Zeugnis, das offenbart, dass man in Berlin vor 1618 bei der materiellen Präsentation fürstlicher Würde im Vergleich mit anderen hochfürstlichen Häusern sehr wenig unternommen hatte: der ausführliche Bericht des berühmten Kunst-

18 Wettiner und Wittelsbacher haben ihre festlichen Handlungen häufig in Schrift und Bild sorgfältig protokollieren lassen, ebenso die Habsburger. Vgl. z.B.: Wir sind Helden. Habsburgische Feste in der Renaissance, bearb. von Alfred Auer u.a. Hrsg. von Wilfried Sepel. Wien 2005, S. 11 ff., 45 ff. – Für Brandenburg lie- gen einige knappe Beschreibungen vor (vgl. Anton Balthasar König: Versuch ei- ner Historischen Schilderung […] der Residenzstadt Berlin. Bd.1. Berlin 1792, S. 132 ff.) sowie drei Drucke, die das Berliner und Küstriner Schloß als Hinter- grund zeigen (vgl. Berckenhagen, wie Anm. 14, Nr. 34-36).

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 255 agenten Philipp Hainhofer aus dem Jahre 1617. Auf seiner Reise nach Pommern, um den dortigen Herzog bei dem Aufbau einer Kunst- sammlung zu beraten, hatte er sich zweimal für einige Tage in Berlin aufgehalten. Seinem geschulten Blick wäre, wie seine kurze Charakte- ristik des Außenbaues andeutet, nichts von künstlerischem oder auch materiellem Wert auf seinem Gang durch das Berliner Schloss ent- gangen, zumal er diesen in Begleitung eines kurfürstlichen Kammer- herrn machte.19 Über den stattlichen Festsaal vermerkte er nur lapidar dessen Aus- dehnung und das Nicht-Vorhandensein von Säulen, stattdessen erzähl- te er summarisch von einer Galerie mit stattlichen Geweihen, den be- kannten Arbeiten aus der Cranach-Werkstatt und dem Bilderschmuck der kurfürstlichen Gemächer. Ferner werden etliche Kammern mit Waffen und Gerät erwähnt, selbst ein geschickter Bernstein-Schnei- der, der auf dem Schloss arbeitete. Schließlich beklagte er, dass in ei- nem feuchten Gewölbe die einst von märkischen Kirchen in Auftrag gegebenen und dann säkularisierten Kleinodien verrotteten. Diese Objekte bezeichnete er ausdrücklich im Gegensatz zur Silberkammer als den “Schatz”. Dagegen findet sich bei ihm nicht der geringste Hinweis auf die Existenz einer Kunstkammer zu diesem Zeitpunkt. Ein solcher Bericht schließt nicht aus, dass man auch in Berlin über Ausstattungsgut für höfische Repräsentation verfügte, aber es dürfte sich dabei entsprechend unserer Prämissen kaum um Gegenstände ge- handelt haben, die als symbolische Zeichen von Wert anzusehen wa- ren und die sich vor allem zu fürstlicher Identitätsstiftung und Traditi- onssetzung geeignet hätten. Sie hätte man gewiss dem Experten Hain- hofer zur Begutachtung präsentiert. Im Gegensatz dazu steht aber ein Kunstkammer-Inventar von 1603/05 aus der Regierungszeit Kurfürst Joachim Friedrichs (gest. 1608), der fast 30 Jahre in Halle als Administrator residiert hatte. Es hatte also Ansätze gegeben, eine gewisse Sammlungstätigkeit zu be- gründen.20 Hainhofers Schweigen lässt daher nur einen Schluss zu:

19 Vgl. Philipp Hainhofers Reise-Tagebuch, enthaltend Schilderungen aus Franken, Sachsen, der Mark Brandenburg und Pommern im Jahr 1617. In: Baltische Stu- dien 2 (1834), S. 11-16, 116-126. 20 Auf diese Quelle verweist bereits mehrfach Walter Stengel: Alte Wohnkultur in Berlin und in der Mark. Berlin 1958. Die Bestände waren um 1605 – geordnet – auf einigen Regalen und in mehreren Schränken in einem “Gewölbe”, das Hain- hofer wohl sah, verwahrt. Seine Reaktion zeigt jedoch, dass diesem Ort 1617 keine repräsentative Funktion im Sinne einer Kunstkammer zukam.

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Der nachfolgende Kurfürst Johann Sigismund hatte diesem Thema keine Aufmerksamkeit geschenkt. Daher konnte nichts dynastisch Merk-Würdiges aus dieser oder einer früheren Epoche in die späteren Sammlungen von Friedrich Wilhelm und seinem Sohn integriert wer- den.21 Die im 16. Jahrhundert durchgängig angespannte Haushaltslage der brandenburgischen Kurfürsten und das nicht vorhandene künstlerische Potenzial in den märkischen Mittel- und Kleinstädten reichen als Er- klärung eines solchen, doch ungewöhnlichen Befundes nicht aus, schließlich hätte man über den Handel kostbare Güter aus der Ferne beziehen können. Es dürfte noch andere Motive gegeben haben, der materiellen Selbstdarstellung eine vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit zu schenken. Das in diesen Umständen zum Ausdruck kommende man- gelnde Interesse an Fragen dynastischer Traditionsbildung mit künst- lerischen Mitteln könnte bis zu einem gewissen Grad als Zeichen einer politischen und sozialen Randstellung des Fürstenhauses im 16. Jahr- hundert interpretiert werden. In diesen Kontext wäre insbesondere die kulturelle, politische und ökonomische Abhängigkeit Brandenburgs von Kursachsen vor 1618 zu nennen.22 Ferner muß es tiefer liegende Wurzeln für dieses Verhalten gegeben haben. Sie können nur in der mittelalterlichen Vergangenheit des Herrscherhauses begründet sein: die nicht-fürstliche Herkunft der Ho- henzollern. Vielleicht wäre es für sie nicht ratsam gewesen, mittels der

21 Bereits Kugler hatte beobachtet, dass die Berliner Kunstkammer nur Gegenstände umfasste, die seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts angeschafft worden waren. Dennoch gab er an, dass die Kunstkammer von Joachim II. um die Mitte des 16. Jahrhunderts gegründet worden sei. Vgl. Franz Kugler: Beschreibung der in der Königl. Kunstkammer zu Berlin vorhandenen Kunstsammlung. Berlin 1838, S. 92, 157, 239. Diese Sichtweise wiederholt Christian Theuerkauff: Zum For- schungsstand. In: Die Brandenburgisch-Preussische Kunstkammer. Eine Aus- wahl aus den alten Beständen. Staatliche Museen preußischer Kulturbesitz, Kat. Berlin 1981, S. 13. Auch dieser Autor ging nicht der sich im Vergleich mit ande- ren fürstlichen Sammlungen aufdrängenden Frage nach, warum sich darin kein Gegenstand, von Waffen abgesehen, befand, der mit Sicherheit einem Samm- lungsbestand vor 1620 zuzuordnen ist. Schließlich gibt es kein Beispiel im Reich, welches belegt, dass eine fürstliche Kunst- oder Schatzsammlung durch Plünde- rung oder Vernachlässigung ad hoc gänzlich untergegangen sei. Stets haben sich stattliche Bestände wie etwa in München, Heidelberg oder Prag erhalten. 22 Schon Paul Haake: Kursachsen oder Brandenburg-Preußen? Geschichte eines Wettstreits. Berlin 1939, beschreibt dies ausführlich.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 257 wenigen bis dato im Alten Reich üblichen, kodierten Ausdrucksfor- men von Altehrwürdigkeit ihren dynastischen Rang zu präsentieren, weil dies automatisch den Blick der Zeitgenossen auf die fragwürdi- gen Anfänge des Geschlechtes gelenkt hätte. So war ein Versuch, sich in die Tradition der Askanier zu stellen, aus bisher unbekannten Gründen rasch abgebrochen worden. Es wäre durchaus nicht unüblich gewesen, sich durch eine solche Form der Präsentation einer genealogischen Kontinuität zu legitimieren. Gerade in Zeiten des politischen Überganges konnte die Aneignung des histo- rischen Erbes für dynastische und territoriale Identität sorgen.23 Die beiden ersten in Berlin-Cölln residierenden Kurfürsten, Johann (gest. 1499) und sein Sohn Joachim I. (gest. 1535), waren nämlich im aska- nischen Hauskloster Lehnin beerdigt worden. Joachim II. ließ deren Särge jedoch um 1545 in die Berliner Domkirche überführen.24 Auf die mittelalterlichen, nicht-fürstlichen Vorfahren der Hohenzollern aus Franken wurde im höfischen Raum Berlins keinerlei sinnstiftender Bezug genommen. Nur in dickleibigen Geschichtschroniken, Genealo- gien und den Familien- oder Hausverträgen sollte dieser Zusammen- hang lebendig gehalten werden. An diesem Punkt ist auf unsere eingangs formulierte Frage nach den Strategien dynastischer Identitätsstiftung zu verweisen. Der Berli- ner Hof verfügte im Vergleich zu anderen reichsfürstlichen Häusern über keine weit zurückreichende Herrschaftstradition. Dies hatte weit- reichende Folgen für dessen höfische Außen-Darstellung. Die im Rahmen höfischer Selbstinszenierung bis dato kodierten Ausdrucks- formen ließen sich nur schwerlich als ein legitimierendes Argument einsetzen. An dieser Schnitt-Stelle von dynastischer Herkunft und hö- fischer Selbstdarstellung könnte daher eine erste Erklärung zu finden sein, warum sich die Berliner Hohenzollern im 17. Jahrhundert einer anderen Strategie als viele ihrer Standesgenossen bedienten, um ihren Hof mit Symbolkraft zu erfüllen und mit einer Identität auszustatten.

23 Hierzu im Allgemeinen: Gründungsmythen – Genealogien – Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität. Hrsg. von Gert Melville und Karl-Siegbert Rehberg. Köln u.a. 2004. 24 Vgl. Winfrid Schich: Anlage und Funktion des Schlosses und Schlossbezirks in Mittelalter und Renaissance. In: Schloss und Schlossbezirk in der Mitte Berlins. Hrsg. von Wolfgang Ribbe. Berlin 2005, S. 40.

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3. Der bayerische Hof 1550-1679. Tradition als Herrschaftsmerkmal

Um unseren Blick für diese höchst unübersichtliche Gemengelage von Faktoren bei der Stiftung dynastischer Identität und Würde zu schär- fen, ist es deshalb angezeigt, ein Fürstenhaus zu betrachten, das in sei- nem Gebaren an seinem hohen dynastischen Rang nie den geringsten Zweifel aufkommen ließ: die bayerischen Wittelsbacher. Außerdem sorgte deren steter Blick auf den habsburgischen Kon-kurrenten in Wien und die enge Verbindung zu den oberitalienischen Höfen dafür, dass man sich bei der kunstvollen Gestaltung und Formulierung seiner höfischen Symbolsprache auf höchstem Niveau bewegte. Die Münchner Situation verdeutlicht in vielfältiger Hinsicht, auch vor dem Hintergrund eines sozialen Aufstieges, nämlich 1623 zur Kurwürde, welcher Strategien höfischer Zeichensetzung sich Fürsten- häuser im 16. und 17. Jahrhundert im Allgemeinen bedienten, um ihr höfisches Profil durch immer neue Präsentationsformen dynastischer Merk-Bilder zu schärfen.25 Dadurch gewinnen wir wiederum eine, wenn auch vage Vorstellung, wie es um die symbolische Kapitalstärke des Berliner Fürstenhauses und deren kulturelle Grundlagen bestellt war. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts begann das bayerische Herzogs- haus seinen Herrschaftssitz, dessen bauliche Ursprünge sich bis in das 12. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, durch mehrere Bauten unter- schiedlicher Bestimmung prächtig auszugestalten. So verlieh Wilhelm IV. (gest. 1550) seiner Residenz durch einen Rosengarten, dessen Mittelpunkt ein Brunnenhaus bildete, besondere Attraktivität. Dieses barg nicht nur einen Säulenraum mit einem vielfigurigen Bronzebrun- nen in sich, sondern dessen darüber liegender Festsaal war ge- schmückt mit Gemälden, die von der Hand hochberühmter Maler die- ser Zeit, wie etwa Albrecht Altdorfer, stammten.26 Das fürstliche Hausdenken fand seinen sichtbaren Ausdruck darin, dass der Herzog durch Barthel Beham eine stattliche Sammlung halb- figuriger Porträts von sämtlichen lebenden Angehörigen des gesamten Hauses Wittelsbach, d.h. einschließlich der regierenden Pfälzer Für-

25 Einen informativen Überblick zu den Wittelsbachern bietet bereits: Gerhard Händler: Fürstliche Mäzene und Sammler in Deutschland von 1600-1620. Strass- burg 1933, S. 59 ff., 88 ff., 96 ff. 26 Wesentliche Details z.B. bei Norbert Lieb: München. Lebensbild einer Stadtkul- tur. München 1952, S. 66 ff.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 259 sten, anfertigen und in der Residenz aufstellen ließ.27 Am Rande sei nur auf die ebenfalls in dieser Epoche im italienischen Stil errichtete Landshuter Stadtresidenz seines Bruders Ludwig verwiesen, vielleicht das außergewöhnlichste fürstliche Bauprojekt dieser Zeit im gesamten Alten Reich, das sich aber nur schwerlich in eine Haustradition ein- fügen ließ.28 Deren Nachfolger Herzog Albrecht V. (gest. 1579) begnügte sich mit diesem reichen Erbe jedoch nicht. Er gilt als institutioneller Grün- der sowohl der Hofbibliothek, einer Antiken- und Münzsammlung als auch einer besonderen Schatz- und Kunstkammer. Solche Bestände gehörten in Italien und Westeuropa zu den wichtigsten Bausteinen, um ein höfisches Merk-Bild von hoher Visibilität zu etablieren. Hierbei zeigte Albrecht sich als ein kenntnisreicher Sammler. Außerdem zog er bedeutende niederländische und italienische Musiker an seinen Hof. Auch als Bauherr trat Albrecht in Erscheinung. In die Neuveste ließ er als höfischen Festort den St. Georgssaal einbauen, dessen üppige Ausstattung uns in einem zeitgenössischen Stich überliefert ist. Bald darauf entstand nahebei der Münzhof, dessen aufwendiger Innenhof durch eine dreigeschossige Arkadenanlage geprägt war. Deren Bogen- spannungen wurden jeweils von stattlichen Säulenordnungen gehal- ten. Im Untergeschoß war der fürstliche Marstall untergebracht. Darü- ber befand sich, erstmalig in einem deutschen Fürstenschloss, in meh- rere Abteilungen gegliedert, die von ihm stark vermehrte fürstliche Schatz- und Kunstkammer. Damit war Albrechts Streben, seinen Hof nach dem Vorbild italie- nischer Residenzen großartig auszuzieren und als ein dynastisches Monument herauszustellen, jedoch nicht befriedigt. Bis 1572 ließ er das Antiquarium errichten, in dem die von ihm in Italien erworbenen Antiken und eine von den Fuggern angekaufte Bibliothek als beson- dere Sammlungsbestände präsentiert wurden. Mit einer Länge von 69 Metern war dies einer der größten profanen Räume in einem deut- schen Fürstenschloss, der überdies durch seine einzigartige Ausstat-

27 Zu den verschiedenen Ahnengalerien der Münchner Residenz vgl. die Beiträge von Peter Diemer, Johannes Erichsen und Monika Bachtler in: Quellen und Stu- dien zur Kunstpolitik der Wittelsbacher vom 16. bis 18. Jahrhundert. Hrsg. von Hubert Glaser. München 1980, S. 129 ff., 179 ff., 191 ff. 28 Hierzu: Die Landshuter Stadtresidenz. Architektur und Ausstattung. Hrsg. von Iris Lauterbach u.a., München 1998.

Chloe 43 260 Peter-Michael Hahn tung, dem Zusammenwirken von wandfester Malerei und den in 34 Nischen aufgestellten Antiken, den Besucher überwältigte. Unter Albrechts Sohn Wilhelm V. (reg. bis 1597), der zuvor in Landshut auf der nahen Burg Trausnitz residiert hatte,29 zog der Münchner Hof eine große Kolonie von italienischen und flämischen Künstlern an, die der fürstlichen Selbstdarstellung neue Kraft und Ei- genständigkeit, im Sinne eines sichtbaren Zuwachses an kulturellen Ressourcen, verlieh. Nicht der Bau der Maxburg fiel während seiner Regentschaft besonders ins Gewicht, sondern der Grottenhof mit sei- nen Grottenhallen, ein intimes Gartenschloss mit kostbarer Ausstat- tung nach norditalienischen Vorbildern. Den Innenhof prägte ein prächtiger Perseus-Brunnen, neben dem ein mit weiteren großen Bronzewerken gezierter Garten angelegt wurde. All dies wurde jedoch in seinen baulichen Dimensionen durch einen von ihm initiierten Kirchbau übertrumpft. Von 1583 bis 1597 wurde das Jesuitenkolleg Sankt Michael errichtet. In ihm verbanden sich der Anspruch der Gegenreformation und der Herrschaftsanspruch seines fürstlichen Stifters. Von der Giebelfassade blickte daher dem Besu- cher eine stattliche Reihe von Herrschern des Hauses Wittelsbach ent- gegen. In der Michaelskirche plante der Herzog überdies, ein Famili- engrab anzulegen. Sämtliche dieser Anstrengungen vermochte sein Sohn Maximilian (gest. 1651) in seiner ein halbes Jahrhundert währenden Regentschaft zu bündeln und in ihrer Gesamtwirkung auf den fürstlichen Besucher noch zu steigern. Aus der Fülle des Geschehens können nur einige be- sonders ins Auge fallende Maßnahmen herausgegriffen werden, mit denen das symbolische Kapital seines Hauses erheblich verstärkt wurde.30 So ließ Maximilian 1601 einen der Festsäle, den Herkulessaal, um- bauen, um dessen Wandflächen mit großformatigen Historienbildern zu schmücken. Sie zeigten bedeutende Taten Wittelsbacher Herrscher des 13. bis 15. Jahrhunderts. Ergänzt wurde dieses Programm durch

29 Zu den künstlerischen Ambitionen seiner Prinzenzeit vgl. Berndt Ph. Baader: Der bayrische Renaissancehof Herzog Wilhelms V. (1568-1579). Straßburg 1943, S. 217 ff. 30 Eine Fülle von Details hierzu: Brigitte Volk-Knüttel: Maximilian I. von Bayern als Sammler und Auftraggeber. Seine Korrespondenz mit Philipp Hainhofer 1611-1615. In: Quellen und Studien zur Kunstpolitik (Anm. 27), S. 83 ff., bes. 84 ff., 96 ff.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 261 eine Serie von 102 Ansichten bayerischer Orte und Burgen in den Stichkappen und Fensterlaibungen des Antiquariums, welche die Wit- telsbacher Landesherrschaft feierten. Diese Form dynastischer Ge- schichtspropaganda fand ihren krönenden Abschluss in einer opulen- ten Teppichserie, die politische Ereignisse aus dem Leben des ersten Wittelsbacher Herzoges, des 1183 gestorbenen Pfalzgrafen Otto, prunkvoll glorifizierte. Zu ihrer Herstellung war eine besondere Werkstatt mit flämischen Handwerkern in München begründet worden. Diese Objekte waren der kostbarste Schmuck, den man in dieser Zeit der Hofgesellschaft überhaupt präsentieren konnte. Dementsprechend wurden sie aus der Schatzkammer nur zu besonderen Festlichkeiten geholt, um die zen- tralen Räume der Residenz mit höchstem dynastischen Anspruch aus- zustatten. Außerdem gehörte zum Bestand der 1607 eingerichteten Kammergalerie eine Bildnisreihe, die sämtliche regierenden Wittels- bacher und ihre Ehefrauen umfasste. Als genealogischer Ahnherr wur- de in dieser Reihung Karl der Große angeführt. Nochmals unterstri- chen wurde dieser dynastische Bezug zum Kaisertum durch das in der Frauenkirche für Kaiser Ludwig den Bayern errichtete, außergewöhn- lich prachtvolle Grabmal. Darüber hinaus suchte der Herzog in der Nachfolge Kaiser Rudolfs II. für seine Bildersammlung alte Werke führender europäischer Mei- ster (Grünewald, Dürer, Tizian), aber auch moderne Kunst, wie die ei- nes Rubens, zu erwerben. Wie uns die Korrespondenz Maximilians mit Philipp Hainhofer offenbart, war der Herzog auch permanent da- mit beschäftigt, Kunsthandwerk von höchster Qualität anzuschaf-fen. Diese Objekte mussten, wie man an der vom Herzog getroffenen Aus- wahl unschwer erkennt, vor allem seinem dynastischen Rang entspre- chen. Ein überzeugendes Beispiel dafür bildete etwa der in sechsjäh- riger Arbeit für ihn aus Elfenbein gefertigte Münzschrein. All dies bedurfte nach den Maßstäben der Zeit einer angemessenen baulichen Hülle, also eines Bauwerks, dessen architektonische Würde- formen den Rang seines Besitzers spiegelten.31 Anfangs hatte Maximi- lian an verschiedenen Stellen des Münchner Residenzkomplexes ein- zelne kräftige Akzente gesetzt, so z.B. durch die reiche Kapelle, ge-

31 Zusammenfassend: Horst H. Stierhof: Zur Baugeschichte der Maximilianischen Residenz. In: Um Glauben und Reich. Kurfürst Maximilian I. Beiträge zur Baye- rischen Geschichte und Kunst 1573-1657. Hrsg. von Hubert Glaser. München 1980, S. 269-278.

Chloe 43 262 Peter-Michael Hahn weiht 1607 oder den um 1600 fertiggestellten Wittelsbacher Brunnen mit dem bronzenen Stifterdenkmal des Pfalzgrafen Otto. Um 1610 machte sich Maximilian jedoch daran, die Vielzahl der Bauten durch Überformung und einen stattlichen Neubau, gruppiert um fünf Innenhöfe, zusammenzuschließen. Den Kern des bis 1619 vollendeten Residenzbaues bildete der sogenannte Kaisertrakt, eine symmetrische Vierflügelanlage. Der breit gelagerte Neubau zeichnete sich nach außen durch eine strenge und einheitliche Formgebung aus. Dessen hoher Rang fand seinen Ausdruck in einer reichen Architek- turmalerei anstelle von Haustein und zwei mächtigen Marmorportalen. Erst im Inneren wurde jedoch überbordender fürstlicher Glanz sicht- bar. Erwähnt seien nur die gewaltige Kaisertreppe mit ihren imposan- ten, auf mächtigen Marmorsäulen ruhenden Bögen und die sich an- schließenden Festsäle, ferner die Steinzimmer, die mit kostbaren Ta- pisserien ausgeziert waren. Maximilian und seine drei unmittelbaren Vorgänger hatten mit Kennerschaft und Beharrlichkeit ein stabiles Fundament gelegt, von dem aus ihre Nachfolger mit Gelassenheit und dynastischem Stolz zu- gleich Fragen höfischer Repräsentation behandeln konnten. Auch nach der umfänglichen Modernisierung durch Maximilian I. erfüllte die Re- sidenz die wesentliche Funktion einer ‘gebauten Ahnengalerie’, also eines Bauwerkes, das in seiner gewachsenen Substanz einem Speicher des fürstlichen Gedächtnisses gleichkam. Die äußere bauliche Erschei- nung der Residenz blieb daher lange weitgehend unverändert. Damit war es durchaus zu vereinbaren, dass in den folgenden Jahr- zehnten regelmäßig Innenräume bzw. Raumfluchten, wie durch Hen- riette Adelheid von Savoyen, dem fürstlichen Geschmack angepasst wurden.32 Außerdem wurden einige höfische Funktionsbauten mit gro- ßem Aufwand errichtet, wie ein besonderes Ballhaus für Festlichkei- ten oder ein erster freistehender Opernbau nach dem Vorbild von Vi- cenza, und nicht zu vergessen die Theatinerkirche, eine Hofkirche im italienischen Stil von großer architektonischer Wucht. Aber auch die Sammlungstätigkeit wurde nicht vernachlässigt, sondern konsequent gepflegt, wenn etwa kurz vor 1700 mit hohen Kosten auf einen Schlag

32 Vgl. die Beiträge von Peter Volk und Reinhold Baumstark in: Kurfürst Max Emanuel. Bayern und Europa um 1700. Bd. 1. Zur Geschichte und Kunstge- schichte der Max-Emanuel-Zeit. Hrsg. von Hubert Glaser. München 1976, S. 125 ff., 171 ff.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 263 in Antwerpen eine große Zahl anerkannter erster Meister angekauft wurde. Welche Einsichten, so wird man resümierend fragen, vermittelt uns dieser sehr kursorische Überblick über die höfische Traditionssetzung und die mediale Spezifik dynastischer Selbstinszenierung der Wittels- bacher in Bezug auf unser eigentliches Thema, die Lage des kurbran- denburgischen Hofes bzw. dessen kulturellen Kapitalstand um 1650 und sein Streben nach dynastischer Identität in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts? Nur auf den ersten Blick mag der Schluss banal wirken: Je höher der fürstliche Rang und damit der Herrschaftsanspruch war, desto breiter in seiner materiellen und funktionalen Beschaffenheit musste das Repertoire an kunstvollen Medien beschaffen sein, um im oben beschriebenen Sinne die Aufgabe einer dynastischen Milieu-Beschrei- bung erfüllen zu können, die in unserem Bild des symbolischen Kapi- tals eine modellhafte Annäherung findet. Die Bildung eines hohen kulturellen Kapitalsockels war jedoch an verschiedene Voraussetzun- gen geknüpft, die sich auf Grund der bayerischen Gegebenheiten rela- tiv präzise benennen und daher vergleichend betrachten lassen. Ein so vielgestaltiges und sprachmächtiges dynastisches Zeichen- system wie eine Residenz ließ sich nicht in einer Generation hervor- bringen. Nur eine Herrscherfamilie, die sich über lange Zeit als enga- giert und kenntnisreich erwies, konnte eine solche Aufgabe erfolg- reich meistern und ihren höfischen Glanz steigern. Aber dynastischer Wille allein genügte nicht. Es musste ein erhebli- ches kulturelles Potenzial im Land dauerhaft etabliert und durch per- manenten Austausch mit anderen europäischen Kulturzentren fortent- wickelt werden, um stets auf höchstem Niveau den Wandel der höfi- schen Moden verarbeiten zu können, ohne die sozialen Kosten aus- ufern zu lassen. Allein dies verhieß unverwechselbare visible Identität unter Wahrung des dynastischen Anspruches. Auf Kurfürst Friedrich Wilhelm und seinen Erben Friedrich III. be- zogen können wir daraus mehrere Schlüsse für ihre Strategie höfischer Selbstdarstellung ziehen: Sie mussten in ihrer höfischen Argumenta- tion andere ideelle und materielle Grundlagen als diejenigen unter ih- ren Konkurrenten wählen, die bei ihrer Visualisierung auf die Traditi- onssetzungen von Generationen und eine eigene reiche Kunstland- schaft zurückgreifen konnten. Bei ihrer Form der symbolischen Ka- pitalbildung, um einen ‘eigenen’ Weg zu markieren, musste der Zu-

Chloe 43 264 Peter-Michael Hahn stand der Ressourcen ihres Landes ebenso Berücksichtigung finden wie die besonderen dynastischen Befindlichkeiten ihres fürstlichen Hauses. Die Hohenzollern waren daher klug beraten, bei der Wahl ihrer hö- fischen Zeichensysteme solche zu vermeiden, die zu einem direkten Vergleich mit anderen Fürstenhäusern herausgefordert hätten, weil eine Gleichrangigkeit der symbolischen Bedeutungsträger fürstlicher Würde nicht gewährleistet schien. Dazu gehörten sowohl hochwertige Sammlungen mit raren Objekten wie Gemälden bereits damals aner- kannter alter Meister, bronzene oder antike Großplastiken und Pretio- sen von hoher handwerklich-technischer Beschaffenheit, als auch aus- gefeilte Architekturprogramme, die zeichenhaft Modernität und dyna- stische Vergangenheit miteinander verknüpft hätten. Dagegen konnten sie höfische Zeichensetzungen anderer Fürsten- häuser, mit denen sie nicht unmittelbar konkurrierten, weitgehend adaptieren. Außerdem konnten sie sich unbedenklich mit sämtlichen Würdeformen schmücken, die in ihrer Aussage nicht mit einer be- stimmten Dynastie in Verbindung gebracht wurden. Positiv formu- liert: Da sie durch keinen ‘tradierten’ Hausgebrauch in der Wahl ihrer Würdeformen beschränkt waren, konnten sich die Hohenzollern bei der Visualisierung ihres fürstlichen Anspruches nach Belieben neuer Ausdrucksmittel (Militär!) und natürlich des gesamten antiken For- menschatzes bedienen.33 Fehlende dynastische Tradition sicherte den Hohenzollern also eine relative Handlungsfreiheit bei der Wahl ihres höfischen Instrumentari- ums, die einer ressourcenarmen Dynastie bei der Stiftung von Identität gut anstand. Im Ergebnis konnte man sich entweder dem – modern ge- sprochen – im Augenblick herrschenden Trend zuwenden oder sich sogar in der stillen Verachtung des Aktuellen präsentieren, wie ein späterer Geschichtsverlauf verdeutlichen soll.

33 Mit Bezug auf die Architektur verwies auf diesen Kontext: Hellmut Lorenz: Tradition oder ‘Moderne’? – Überlegungen zur barocken Residenzlandschaft in Berlin-Brandenburg. In: Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Ge- schichte NF 8 (1998), Heft 1, S. 1-23.

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4. Der Berliner Hof 1650-1700. Die Stiftung einer brandenburgischen Identität im Spannungsfeld von dynastischem Traditionsmangel und den Erfordernissen höfischer Prachtentfaltung

Durch die politischen Ergebnisse des Dreißigjährigen Krieges und den Erwerb der Souveränität im Herzogtum Preußen hatten die Berliner Hohenzollern erheblich an Gewicht gewonnen. Auf deren westliche und östliche Territorien richtete sich nämlich fortan der Blick der eu- ropäischen Großmächte, weil sie in ihren militärischen Planungen eine nicht unwesentliche strategische Rolle spielten. Brandenburg reagierte darauf mit vermehrten militärischen Rüstungen, um sich jeweils der meist bietenden Partei als Auxiliarmacht zur Verfügung stellen zu können. Dieser Zuwachs an politisch-dynastischer Bedeutsamkeit fand über längere Zeit keine angemessene zeichenhaft höfische Entsprechung in der Berliner Residenz. Wie hätte sich der Kurfürst auch in Fragen hö- fischer Repräsentation orientieren sollen, um rasch zu einem sichtba- ren Erfolg zu gelangen? Es fehlte bekanntlich an allem. Aus konfes- sionellen wie statusmäßigen Gründen kam für ihn in dieser Situation eine kulturelle Ausrichtung weder an den drei weltlichen Kurfürsten des Reiches noch am Kaiserhof in Betracht. Daher sollte sich die oranische Heirat Friedrich Wilhelms 1646 als eine dynastische Option erweisen, die nicht nur konfessionelle und geopolitische Interessen in sich vereinte. Sie gab ihm auch einen kul- turellen Schlüssel in die Hand, um höfische Identität und dynastische Traditionsbildung unabhängig von seinen politischen Konkurrenten auf einem – wenn auch im Vergleich zu Bayern – niedrigen Niveau zu verwirklichen.34 Dabei kam der oranischen Gemahlin als treibender Kraft gewiss große Bedeutung zu. Bei der Planung und Umsetzung dieser kunstvollen Ambitionen nahm der oranische General und gleichzeitig brandenburgische Statthalter von Kleve, Johann Moritz von Nassau-Siegen, auf Grund seiner praktischen Erfahrungen und

34 Vgl. die Beiträge von Klaus Vetter, Konrad A. Ottenheyn und Claudia Horbas in: Onder den Oranje Boom. Niederländische Kunst und Kultur im 17. und 18. Jahr- hundert an deutschen Fürstenhöfen. Textband Hrsg. von Horst Lademacher. München 1999, S. 214 ff., 218 ff., 291 ff., 299 ff. Ergänzend: Die Niederlande und Deutschland. Hrsg. von der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz u.a. Dessau 2005, S. 9 ff., 33 ff., 43 ff.

Chloe 43 266 Peter-Michael Hahn seiner Verbindungen zu niederländischen Kunst-Handwerkern aller Art die Schlüsselrolle ein.35 Er verkaufte Friedrich Wilhelm im Rahmen seiner Verhandlungen über einen Eintritt in den kurfürstlichen Dienst einen Grundstock für eine kleine Kunstkammersammlung. Die zumeist exotischen Gegen- stände hatte er während seiner Tätigkeit für die Generalstaaten in Amerika erworben. Johann Moritz war es als klevischer Statthalter auch gestattet, dort seine ambitionierten Pläne als ein höfischer ‘Land- schaftsgestalter’ in die Tat umzusetzen. Er verwandelte die Umgebung der Schwanenburg in ein höfisches Gartenreich nach modernsten Prinzipien. Sein Gedankenflug wirkte bis ins ferne Brandenburg nach. Insbe- sondere die in den 1660er Jahren vom Kurfürsten mit aller Macht be- triebenen Planungen um Potsdam, dort ein dem Geschmack der Zeit entsprechendes höfisches Quartier zu errichten, dürften auf den Statt- halter zurückgehen. Die Auswahl des Ortes unter dem Gesichtspunkt höfischer Lebensart, die Wahl der Architektursprache und die Pläne zu einer Strukturierung der umgebenden Landschaft verweisen auf Jo- hann Moritz als Ideenspender. In Potsdam entstand ein würdevolles Landschloss, dem aber in sei- ner Frühzeit jeder eindeutig individualisierende dynastische Bezug in Ausstattung und Architektursprache fehlte. Es handelte sich um einen modernen Bau in niederländischer Tradition, der auf jedwede lokale Traditionssetzung verzichtete. Ähnliches traf auf die Gartenanlage zu, insbesondere die dort verwandte Großplastik, die selbstverständlich ebenfalls fürstliche Würde signalisierte und auf die Niederlande als Entstehungsort verwies. Mit der oranischen Prinzessin war eine Vielzahl glaubensverwand- ter Handwerker, Ingenieure und Künstler in die Mark gekommen, de- ren Spuren sich allenthalben in den märkischen Sand und in den höfi- schen Alltag eingruben. Allerdings verstetigte sich ihr kultureller Ein- fluss am Ort kaum, denn den weiten Weg nach Berlin hatten nur we- niger prominente Künstler und Handwerker auf sich genommen. Viele kehrten nach einigen Jahren der Mark wieder den Rücken. Dies mag nicht zuletzt mit dem frühen Tod der oranischen Prinzessin 1667 zu erklären sein.

35 Grundlegend zu seiner Person: Soweit der Erdkreis reicht: Johann Moritz von Nassau-Siegen 1604-1679. Hrsg. von der Stadt Kleve. 2. Aufl. Kleve 1980.

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Spätestens mit dem Frieden von Nimwegen (1679), der Ludwig XIV. als ungekrönten Herrscher Europas installierte, geriet Branden- burg nicht nur politisch in französisches Fahrwasser. Schon zuvor hatte der Kurfürst insgeheim französische Gelder, um sein Militär zu finanzieren, angenommen, jetzt wurde es offiziell. Mit dem französi- schen Gesandten Rebenac erhielt Brandenburg einen ersten, aber ge- heimen ‘Kulturminister’, wie seine regelmäßigen Berichte nach Paris zu erkennen geben.36 Über verschiedene Kanäle bahnte sich der französische Einfluss unaufhaltsam einen Weg in die Berliner Residenz und zu deren höfi- schen Bewohnern. Es waren vor allem die zweite Gemahlin des Kur- fürsten, Dorothea von Holstein, und einige hohe Amtsträger, die sich mit neuesten und kostbaren Erzeugnissen der französischen Luxusin- dustrie beschenken ließen und damit dem Geschmack bei Hofe eine klare Richtung gaben. Außerdem brachte Rebenac französische Fest- kultur nach Berlin – eine Lebensart, die bislang im calvinistischen Berlin stark vernachlässigt worden war. Diese Form höfischer Entwicklungshilfe berührte natürlich auch die gesamte Palette der für einen würdevollen Lebensstil notwendigen Gegenstände, von der Garderobe bis zum Mobiliar und den Beleuch- tungskörpern. All dies befand sich auf der Rebenac’schen Geschenk- liste. Währenddessen mehrte der Kurfürst eher unspektakulär seinen mobilen zeichenhaften Besitz durch den Ankauf kleinerer Sammlun- gen, aber vor allem 1675 durch den Anteil seines Hauses am reichen Erbe seiner oranischen Schwiegermutter Amalie von Solms. Mit wenig Glück agierte er, als er in den 1680er Jahren daran ging, die bis dahin weitgehend vernachlässigte Berliner Residenz durch Um- und Einbauten in ihrer Repräsentativität ein wenig zu heben. Dort waren seit 1640 vor allem Reparaturarbeiten durchgeführt wor- den, ohne den Gesamteindruck zu verändern. Der Lustgarten war zwar durch einen Pavillon aufgewertet worden, dem aufmerksamen Besu- cher blieb jedoch nicht verborgen, dass der wichtigste Zierrat und Träger dynastischer Botschaften, die Gartenplastik, entweder Marmor vortäuschte oder aber, dass an Stelle kostbarer Bronze gestrichene

36 Seine herausragende Rolle am kurfürstlichen Hof wird in den kaiserlichen Ge- sandtschafts-berichten dieser Zeit aus Berlin sichtbar. Ausführlich thematisiert und beleuchtet von Hans Prutz: Aus des Grossen Kurfürsten letzten Jahren. Zur Geschichte seines Hauses und Hofes, seiner Regierung und Politik. Berlin 1897, S. 85-154, bes. S. 337, 376-378.

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Bleigüsse verwandt worden waren.37 Später traten einige höfische Funktionsbauten wie ein neuer Marstall hinzu. Die Wirkung der Berliner Residenz auf kundige höfische Zeit- genossen war dementsprechend mäßig, wie das harte Urteil des weit gereisten schwedischen Hofbaumeisters Nikodemus Tessin d.J. über die kurfürstliche Baupolitik anlässlich seines Berlinaufenthaltes Ende der 80er Jahre belegt (“siehet man von den gebeuden nicht das gering- ste artiges”). Ein wenig besser fiel sein Urteil über die kurfürstlichen Gemäldeankäufe aus. Eine große Anzahl von Gemälden habe der alte Kurfürst angeschafft, aber “doch nur von Brabandern.” Bibliothek und Medaillensammlung erhielten jedoch das Prädikat “considerabel”.38 Auffällig zumindest für eine hochfürstliche Residenz ist an diesem knappen Bericht noch ein weiterer Umstand: Er enthält keinerlei Hin- weis auf eine Kunstkammer oder eine separat aufgestellte Sammlung von Pretiosen und Raritäten aller Art, die auch in Berlin dank der Be- mühungen Friedrich Wilhelms wie in jedem Residenzschloss von Be- deutung anzutreffen waren.39 Diese Ambitionen wurden von dem schwedischen Hofarchitekten jedoch nicht als ein besonderes nen- nenswertes Merkmal des Ortes wahrgenommen. Der fachmännisch kühlen Bewertung Tessins über den Berliner Hof ist vor allem im Gegensatz zu oft zitierten, überschwänglichen Stim- men von politisierenden und auf kleine Gaben bedachter Schriftsteller wie Leti oder Toland wegen der sozialen Stellung des Autors wesent- liche Beachtung zu schenken. Grundsätzlich bestätigt wird Tessins Sichtweise auch durch eine andere Quelle. Sämtliche gothaischen Prinzen machten sich im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert auf, die Kunstkammern und Sammlungen in der Mitte und im Norden des

37 Vgl. Der Grosse Kurfürst. Sammler, Bauherr, Mäzen. Hrsg. von der Generaldi- rektion der Staatlichen Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci. Potsdam 1988, S. 120 f. 38 Vgl. Nicodemus Tessin. Studieresor i Danmark, Tyskland, Holland, Frankrike och Italien. Hrsg. von Oswald Siren. Stockholm o.J., S. 227-228. 39 Das Gewicht solcher Sammlungsbestände für das hochadlige Selbstverständnis beleuchtet z.B.: Hohenlohe: Das Kirchberger Kunstkabinett. Hrsg. Von Armin Panter. Sigmaringen 1995, S. 25 ff. 35 ff.; Gottorf. Im Glanz des Barock. Bd. 2. Die Gottorfer Kunstkammer. Bearb. von Mogens Bencard [u.a.]. Schleswig 1997, S. 11 ff.; Ekkehard Schmidberger, Thomas Richter: Schatzkunst 800-1800. Wol- fratshausen 2001, S. 10 ff.

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Alten Reiches aus eigener Anschauung kennenzulernen. Darüber führ- ten sie Buch. Keinen sollte jedoch sein Weg nach Berlin führen.40 Erst jetzt, Mitte der 1680er Jahre, erhielt das alte Stadtschloss wie- der einen rang-gemäßen Festraum, den Alabastersaal. Sein zentraler Schmuck bestand aus einer in den Niederlanden hergestellten Serie von elf überlebensgroßen Herrscherstatuen, die schließlich von Fried- rich III. mit seiner eigenen abgeschlossen wurde. Allein deren Mate- rialität, Marmor, ließ den hohen Anspruch des Raumes und seines fürstlichen Auftraggebers erkennen.41 Bei dieser anspruchsvollsten Präsentation dynastischer Würde in Berlin stellte sich das Haus Brandenburg, wie dies auch andernorts der Fall war, in eine Reihe mit großen Herrschern der Geschichte. Dies geschah in einer sehr allgemeinen Form, die sich nur bedingt als dyna- stische Traditionsstiftung bzw. als eine Ahnengalerie ansehen ließ. Der übliche Hinweis auf einen genealogisch fixierten Herrscherahnen fehlte nämlich, stattdessen wurde ein zeitloser imperialer Herrschafts- anspruch reklamiert.42 Mit Julius Cäsar und Konstantin sowie Karl dem Großen und Ru- dolf von Habsburg als Repräsentanten einer imperialen Herrschaftstra- dition setzte die Reihe der Hohenzollern mit Markgraf Friedrich I. be- ginnend ein. Als erster Vertreter seines Hauses hatte er eine kurfürst- liche Würde inne. Er war jedoch ein Zeitgenosse des 15. Jahrhunderts. Zu diesem Zeitpunkt konnten konkurrierende Fürstenhäuser in ih- ren Bildprogrammen bereits eine lange Ahnenreihe aufwiesen. Die ältere Geschichte des Hauses Hohenzollern war weder hier noch an einem anderen Ort der Residenz bildlich existent. Sie spielte im dy- nastischen Selbstverständnis der Berliner Linie keine markante Rolle. Daher konnte ‘Altehrwürdigkeit’ als Grundlage einer Traditionsbil- dung wie sie Habsburger, Welfen, Wettiner oder Wittelsbacher ver- folgten, nicht zum Thema höfischer Repräsentation erhoben werden.

40 Vortrag von Dominik Collet, Göttingen, auf der Tagung: ’Vorbild, Austausch, Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung’. Wien 2008. 41 Vgl. Liselotte Wiesinger: Das Berliner Schloß. Darmstadt 1989, S. 114-120. 42 Vgl. ergänzend Michael Thimann: ’wass eigentlich die Historie seyn soll’. Zur Ikonographie der Deckengemälde in den Königlichen Paradekammern des Berli- ner Schlosses. In: Preußen 1701. Eine europäische Geschichte, Bd. 2 Essays. Hrsg. vom Deutschen Historischen Museum und der Stiftung Preussische Schlös- ser und Gärten Berlin-Brandenburg. Berlin 2001, S. 317-324.

Chloe 43 270 Peter-Michael Hahn

Stattdessen orientierte man sich in Berlin an dem Bild einer idealen Kaiserherrschaft, das in den biographischen Studien zu den ersten zwölf römischen Cäsaren durch Sueton begründet worden ist. Um 1470 erschien dieses Werk erstmals in gedruckter Form. Vor 1550 entstand am Hof von Mantua wohl eine erste Bildfolge zu dieser Thematik. Auch der Nassauer Johann Moritz hatte in seiner Klever Orangerie einen solchen Weg beschritten. Er hatte sich in die Tradi- tion der römischen Cäsaren gestellt. Mit Friedrich III. gewann das Ringen um dynastische Identität nicht nur an materieller und künstlerischer Breite, sondern auch an Dyna- mik, denn in immer kürzeren zeitlichen Abständen wurden jetzt Pro- jekte angestoßen und verwirklicht. Der Zuzug der Hugenotten und an- derer Nicht-Brandenburger in die Residenz, ein steigendes Steuerauf- kommen sowie der Wille des Herrschers, in jeder Hinsicht hinter an- deren Souveränen nicht zurückzustehen, bildeten eine stabile Basis für Innovationen im Interesse dynastischer Traditionssetzung, die im Wunsch nach königlichen Würden alsbald einen inhaltlichen Kristalli- sationspunkt erhielten. Statt der bisher vorherrschend zufälligen Aktivitäten wurde die an- gestrebte königliche Würde des Hauses Hohenzollern zum Ausgangs- punkt zielgerichteter Konstruktionen höfischer Zeichen. Sie verwan- delten vor allem die Berliner Residenz in ein dynastisches Merk-Bild von königlicher Pracht. Sie sollten bereits im Vorfeld der Selbstkrö- nung diesen Akt als legitim erscheinen lassen. Die zahlreichen Bau- maßnahmen mit ihren römischen Zitaten als weithin sichtbare dynasti- sche Symbole souveräner Herrschaft sind hinlänglich bekannt, um er- neut wiederholt werden zu müssen. Markante Zeichen von ‘Altehr- würdigkeit’, wie sie in der Mehrzahl der reichsfürstlichen Residenzen anzutreffen waren, suchte man dort vergebens, wenn man vom Erhalt des altertümlichen Spreeflügels und einiger seiner Innenräume beim Schlossumbau absieht.43 Deshalb wollen wir einige weniger auffällige Felder, wo durch den Einsatz neuer dynastischer Würdeformen jetzt ebenfalls eine quasi königliche Identität produziert werden sollte, betrachten: Formen ei-

43 Vgl. Matthias Müller: Das Mittelalter hinter barocker Maske. Zur Visualisierung architektonischer Tradition in den Residenzbauten der Hohenzollern und Wetti- ner. In: Herrschaft, Architektur, Raum. Festschrift für Ulrich Schütte zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Stephanie Hahn und Michael H. Sprenger. Berlin 2008, S. 126 ff., 140 ff.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 271 nes Ahnenkultes und Sammlungstätigkeit. Bereiche, die uns im Kon- text der Traditionssetzung der Wittelsbacher ebenfalls immer wieder begegnet waren. Allerdings werden sowohl in ihrer genealogisch- historischen Ausrichtung als auch in der Wahl der Gegenstände und ihrer Visualisierung deutliche Unterschiede sichtbar. Bereits der alte Friedrich Wilhelm hatte damit begonnen, seine mi- litärischen Taten als den Ausgangspunkt einer dynastischen Tradition seines Hauses anzusehen und entsprechend zu präsentieren. Dazu wurde jedoch nicht der übliche Ort für die Ausstellung solcher Zei- chen, das Residenzschloss, sondern vermutlich ein Saal im Potsdamer Stadtschloss, seinem bevorzugten Wohnsitz, ausersehen.44 Diesem Bau sollte dank dieses Entschlusses eine besondere memoriale Funk- tion zuwachsen. Neben das Berliner Stadtschloss trat er schließlich als ein dynastisches Monument mit eigener Aussage. Die schon zu Lebzeiten des Kurfürsten Friedrich Wilhelms einset- zende Stiftung, ihn als Begründer der militärischen Macht seines Hau- ses zu verehren, verstärkte Friedrich III. durch weitere Historienbilder, die von Jacques Vaillant und Paul Carl Leygebe geschaffen wurden, und eine imposante Tapisserie-Serie, die auch die Heldentaten seines Vaters visualisierte.45 Einige dieser Themen wurden später in Gestalt von Bronzereliefs durch Benjamin Giese wiederholt, die im Potsda- mer Schloss verbaut wurden. Mit den Bildteppichen bediente Friedrich I. sich aber eines Medi- ums, dessen Bedeutung an den Leithöfen Europas im Allgemeinen be- reits im Schwinden begriffen war.46 Dagegen war der Auftrag für das beeindruckende Reiterdenkmal des Vaters, das ihn ebenfalls als Feld-

44 Sicher bezeugt ist deren dortige Platzierung aber erst für die Mitte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Hans-Joachim Giersberg: Das Potsdamer Stadtschloss. Pots- dam 1998, S. 75. Die von Friedrich II. diesem Bauwerk zugedachte memoriale Funktion lässt jedoch vermuten, daß dort bereits früher der Große Kurfürst ver- herrlicht worden ist. 45 Vgl. Claudia Horbas: Tapisserien (1680-1720). In: ’Herrliche Künste und Manu- facturen’. Fayence, Glas und Tapisserien aus der Frühzeit Brandenburg-Preußens 1680-1720. Hrsg. von Christiane Keisch und Susanne Netzer. Berlin 2001, S. 129 ff. 46 Der Pariser Hof hatte 1667 eine Teppichserie ‘Histoire du Roy’ in Auftrag geben. Ungewöhnlich war daran, daß ein Herrscher bereits zu seinen Lebzeiten in dieser Form gewürdigt wurde. Vgl. Birgit Schneider: Die Inventur des Luxus – Zwei vi- suelle Strategien zur Demonstration des königlichen Reichtums. In: Visuelle Ar- gumentationen. Hrsg. von Horst Bredekamp und Pablo Schneider. München 2006, S. 105 ff.

Chloe 43 272 Peter-Michael Hahn herrn feierte, zumindest im Maßstab des Alten Reiches eine herausra- gende Novität. Auffälligerweise beschränkte sich der Ahnenkult Friedrichs auf die Verehrung seiner oranischen Mutter.47 Ihr altes Landschloss Bötzow wurde prächtig ausgebaut und erhielt den Namen Oranienburg. Die Memorialfunktion kam vor allem im Oraniersaal mit seiner Herrscher- reihe, der einzigen diesen Namen verdienenden Ahnengalerie in ei- nem brandenburgischen Hohenzollernschloss, zum Ausdruck. Darin präsentierte sich Friedrich III. als letzter souveräner Prinz des Hauses Oranien, dessen Genealogie bis tief in das Mittelalter zurückverfolgt wurde. Wie kühn dieses Konstrukt dynastischen Denkens war, wird in einem Detail deutlich: In der dort präsentierten Ahnenreihe war Will- helm III. von Oranien, englischer König, unter die Vorfahren Fried- richs eingestellt worden. Auch in der Kunstkammer wiederholte Friedrich nach 1703 diese Botschaft. Dort ließ er zusammen mit sei- nem Vater einige Oranierbüsten aufstellen.48 Ein letztes Beispiel mag abschließend nochmals verdeutlichen, wie man am Berliner Hof bestrebt war, höfisch-dynastische Identität im Sinne von Profilschärfung zu betreiben, ohne in das Fahrwasser kon- kurrierender Höfe zu geraten. Jeder Hof betrieb um 1700 mittels mate- rieller Zeichen Prachtentfaltung. Wie setzte aber Friedrich seine Ak- zente, um ein Merk-Bild seiner königlichen Würde zu inszenieren? Hochwertige alte Gemälde, Bronzestatuen, Pretiosen in handwerklich aufwendigen Goldfassungen sowie antike Großplastik, wie man sie in Dresden, München oder Wien antraf, wurden nicht präsentiert. An deren Stelle manifestierte sich das zentrale dynastische Merk- mal der ‘Alleinstellung’ im Sinne von Magnifizenz vor allem in einer stattlichen Sammlung asiatischer Porzellane,49 der Produktion unge-

47 Vgl. Peter-Michael Hahn: Ahnenbewusstsein und preußische Rangerhöhung. Die Oraniersäle des Berliner und Oranienburger Schlosses im dynastischen Kalkül Kurfürst-König Friedrichs III./I. In: Barock in Mitteleuropa. Werke Phänomene Analysen. Hellmut Lorenz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Martin Engel u.a., Köln, Weimar 2006/07, S. 45-56 (Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte Bd. LV/LVI). 48 Vgl. Gerald Heres: Johann Carl Schotts Beschreibung des Berliner Antikenkabi- netts. In: Forschungen und Berichte 26 (1987), S. 10, 27. 49 Vgl. Cordula Bischoff: Porzellansammlungspolitik im Hause Brandenburg. In: Aspekte der Kunst und Architektur in Berlin um 1700. Hrsg. von der Generaldi- rektion der Preussischen Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Potsdam 2002, S. 15-23.

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 273 wöhnlicher Lackmöbel nach asiatischem Vorbild50 und in der schieren Masse des Silbers, die im bekannten Silber-Buffet einen glanzvollen Höhepunkt hatte.51 Auch das um 1700 prächtig verarbeitete Glas der Brandenburger Hütten52 und eine Reihe von Bernsteinarbeiten53 sind in diesem Kontext zu würdigen. Die durch verschiedene Ankäufe in jüngster Zeit stattlich vermehrte Kunstkammersammlung sollte im neuen Königsschloss nicht nur eine besondere Unterbringung erfahren, sondern erstmalig für Berlin wurde vom Hof ein imposantes Druckwerk, der Thesaurus Brandenburgicus, als Zeichen königlicher Würde rasch im Umlauf gebracht. Es erschien zwischen 1696 und 1701, lange bevor der Umbau der Residenz voll- endet war.54 Mit dem Kompendium startete der König geradezu eine Werbekampagne, um seine vergleichsweise jungen Sammlungen in Europa bekannt zu machen. Das umfangreiche Werk beschrieb jedoch nicht nur die Berliner Antiken-Sammlung,55 sondern es präsentierte sie

50 Auf die herausragende Rolle von Gerard Dagly als Hersteller von Lackmöbeln für höfischen Bedarf verweist schon Hans Huth: Europäische Lackarbeiten 1600- 1850. Darmstadt o.J., S. 18-21. 51 Dies veranschaulicht die Aufstellung bei Paul Seidel: Der Silber- und Goldschatz der Hohenzollern. Berlin o.J., S. 5-22. Ergänzend vgl.: Das Grosse Silberbuffet aus dem Rittersaal des Berliner Schlosses. Bearb. von Christiane Keisch. Berlin 1997, S. 42 ff., 60 ff. 52 Vgl. die eingehende Würdigung dieser materiellen Variante höfischer Zeichen- setzung durch Susanne Netzer und Dedo von Kerßenbrock-Krosigk. In: ‘Herrli- che Künste und Manufakturen’ (Anm. 45), S. 61-95, 99-107. 53 Kostbare Arbeiten in Bernstein sollten sich nur bedingt als ein identitätsstiftendes Zeichen für das Haus Brandenburg eignen. Sie gab es nämlich in Kunstkammern großer Höfe bereits, als Brandenburg seinen Zugriff auf diesen Rohstoff dank seines Bernsteinregals im Herzogtum Preußen massiv verstärkte. Danziger und Königsberger Handwerker hatten nämlich jene auf eigene Rechnung mit ihren Produkten beliefert. Dennoch versuchten Kurfürst Friedrich Wilhelm und sein Sohn mit Kostbarkeiten aus Bernstein, die als exklusive Geschenke an andere Höfe gelangten, ihr dynastisches Profil zu unterstreichen. Vgl.: Bernstein für Thron und Altar. Hrsg. von Wilfried Seipel. Wien 2005, S. 23ff, bes. S. 60 f., 66 f., 76 ff., 104 ff., 113 f. 54 Zum Schlossbau: Hellmut Lorenz: Das barocke Berliner Stadtschloss. Königliche Architektur im europäischen Kontext. In: Dreihundert Jahre Preußische Königs- krönung. Hrsg. von Johannes Kunisch. Berlin 2002, S. 159-187. 55 Zusammenfassend Gerald Heres: Der Neuaufbau des Berliner Antikenkabinetts. In: Antikensammlungen im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Herbert Beck u.a., Berlin 1981, S. 187-194.

Chloe 43 274 Peter-Michael Hahn bereits auf zahlreichen Kupferstichen in einem noch nicht existieren- den Residenz-Schloss von königlicher Würde. Kommen wir zum Schluss. Unsere Gegenüberstellung der beiden kurfürstlichen, aber konfessions-verschiedenen Höfe offenbart gravie- rende Unterschiede im Umgang mit den jeweiligen kulturellen Res- sourcen. Deren Ursache lässt sich weder auf geographische, ökono- mische noch soziale Ursachen zurückführen, sondern deren Wurzel ist in der mentalen Prägung der Herrscherhäuser durch ihre eigene Ge- schichte zu suchen. Im direkten Vergleich wird dies bei der Entfaltung höfischer Pracht als Zeichen dynastischer Identität und Würde beson- ders sichtbar. Während die Wittelsbacher dabei auf ein über Generationen ge- wachsenes symbolisches Kapital zurückgegriffen haben, um ihre hohe Würde unter den jeweils aktuellen Bedingungen zu präsentieren, hoffte man im als Herrschaftsort vergleichsweise jungen Berlin, vor- nehmlich mit frischem Kapital, d.h. höfischen Bedeutungsträgern, die am Ort bisher nicht in Gebrauch gewesen waren, kurzfristig zu punk- ten. Der Faktor Zeit – im Sinne von Gewachsen-Sein als einem dy- nastischen Merkmal – wurde nämlich im Rahmen der Traditionsset- zung, d.h. im Umgang mit dem höfischen Zeichenvokabular, sehr un- terschiedlich akzentuiert. Während die Wittelsbacher den Wandel der höfischen Moden in ih- rer Residenz als ein Zeichen ihrer altehrwürdigen Herrschaft sichtbar beließen, orientierte man sich in Berlin überwiegend am höfischen Geschmack der jeweiligen Gegenwart. Den Hohenzollern gelang es zwar immer wieder, kunstvolle Zeichen an ihrem Hof mit Leben – im Sinne von les- und merkbar – zu erfüllen. An ihrem Potenzial, Aus- gangspunkt einer eigenen Tradition dieses Hofes werden zu können, sind keine Zweifel angebracht. Aber deren zeichenhafte Wirkung ver- blasste zumeist jedoch rasch, wie der Oranierkult oder die Rolle der Porzellankabinette und Antikensammlungen verdeutlichen. Bereits die nachfolgende Herrschergeneration ließ an ihrer Pflege kein Interesse erkennen. Allein die Gestalt des Kurfürsten Friedrich Wilhelm als Ahnherr der Geltung Brandenburg-Preußens bewährte sich als eine kunstvolle dynastische Inszenierung von Dauer. Dies war jedoch, wie sich im Nachhinein der Eindruck aufdrängt, ein Zu-wenig an materialisierter Milieubeschreibung, um die Berlin- Potsdamer Residenzlandschaft über die jeweilige Gegenwart hinaus mit einer besonderen dynastischen Würde und der ihr entsprechenden

Chloe 43 Innovation gegen Tradition 275

Pracht auszustatten. Dieser Mangel hatte wiederum zur Folge, dass sich der Berliner Hohenzollernhof mit einer gewissen Regelmäßigkeit vor die Aufgabe gestellt sah, seine monarchische Selbstdarstellung ei- nem erneuten Modernitätsschub unterwerfen zu müssen. Allein eine solche Vorgehensweise bot nämlich die Aussicht, das dynastische Profil in der höfischen Öffentlichkeit erfolgreich nachzubessern. Jede Herrschergeneration auf dem Berliner Thron sollte – so betrachtet – sich mit dem Problem konfrontiert sehen, die ihr gemäße Würdeform aufs Neue erfinden zu müssen.

Chloe 43

S a r a S m a r t

HÖFISCHE TRAUER UND DIE DARSTELLUNG DER FÜRSTLICHEN GEMAHLIN Zur Funktion des Trauergedichts am Berliner Hof zwischen 1667 und 1705

In den letzten Jahren haben Forscher aus verschiedenen Disziplinen der adligen Frau der frühen Neuzeit zunehmendes Interesse entgegen- gebracht. Die bahnbrechende Arbeit von Heide Wunder zur Ge- schlechter- und Frauenforschung hob die Sonderstellung der Frau am Hofe in der strengen Hierarchie dieser Zeit hervor, was dazu führte, dass man sich zunehmend mit diesem Forschungsbereich beschäftig- te.1 Werke wie Beatrix Bastls Tugend, Liebe, Ehre, Jan Hirschbiegels und Werner Paravicinis Das Frauenzimmer sowie Katrin Kellers Hof- damen untersuchen die Ideale sowie die praktischen Bedingungen, die das damalige adlige Frauenleben bestimmten.2 Man hat sich auch mit den verschiedenen Rollen und Ämtern, die der Frau des Herrschers zufielen, auseinandergesetzt. Der 2004 erschienene Band Queenship in Europe, 1660-1815, der auf die Rolle der fürstlichen Gemahlin an verschiedenen europäischen Höfen eingeht, zeugt von interdisziplinä- rem Interesse an diesem Forschungsbereich.3 Was das Reich betrifft, haben wichtige Studien, unter anderem von Jill Bepler, Helga Meise

1 Heide Wunder: “Er ist der Sonn’, sie ist der Mond”. Frauen in der Frühen Neu- zeit. München 1992; Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Heide Wunder und Gisela Engel. Königstein/Taunus 1998. 2 Beatrix Bastl: Tugend, Liebe, Ehre. Die adelige Frau in der Frühen Neuzeit. Wien, Köln, Weimar 2000. Das Frauenzimmer. Die Frau bei Hofe in Spätmittel- alter und früher Neuzeit. 6. Symposium der Residenzen-Kommission der Akade- mie der Wissenschaften in Göttingen. Hrsg. v. Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini. Stuttgart 2000. (= Residenzenforschung 11) Katrin Keller: Hofdamen. Amtsträgerinnen im Wiener Hofstaat des 17. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2005. 3 Clarissa Campbell Orr: Queenship in Europe, 1660-1815. The Role of Consort. Cambridge 2004.

Chloe 43 278 Sara Smart und Mara Wade, Beträchtliches zum Verständnis der Fürstin als Lan- desmutter, Vormundin, Witwe und Schriftstellerin geleistet.4 Der Kör- per der Königin beziehungsweise der Fürstin und dessen dynastische oder politische Bedeutung ist auch Gegenstand der Forschung gewe- sen sowie die Normen, die die Darstellung des Körpers bestimmten, und zwar in diversen Medien wie dem Staatsgemälde und der Lei- chenpredigt.5 Dieser Beitrag setzt sich mit der Darstellung der Frau des Herr- schers in Kasualia auseinander. Ich befasse mich vorwiegend mit den zwei Gemahlinnen von Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg: Luise Henriette von Oranien, die sich 1646 mit ihm vermählte und 1667 nach zwanzigjähriger Ehe im Alter von neununddreißig Jahren starb, und seine zweite Frau Dorothea von Holstein-Glücksburg, die ihn überlebte. Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden Trauerge- dichte, die nach dem Tod Luise Henriettes und Friedrich Wilhelms verfasst wurden. Diese Gedichte befinden sich zum größten Teil in höfischen Funeralwerken und wurden also mit Leichenpredigt und Lebenslauf mitgedruckt. Dass das höfische Funeralwerk die Fröm- migkeit der frühen Neuzeit widerspiegelt, ist ohne weiteres klar. Diese Werke sind zutiefst religiöse Dokumente, aber als Gedenkschriften, die das Leben der oder des Verstorbenen zum Gegenstand der Be-

4 Jill Bepler: Die Fürstin als Betsäule – Anleitung und Praxis der Erbauung am Hof. In: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesell- schaft, 12 (2002), S. 249-264; Jill Bepler, Birgit Kümmel, Helga Meise: Weibliche Selbstdarstellung im 17. Jahrhundert. Das Funeralwerk der Landgräfin Sophia Eleonora von Hessen-Darmstadt. In: Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frühen Neuzeit (s. Anm. 1), S. 441-468; Helga Meise: ‘habe ich die politica bei H. Richter angefangen”. Herrschaftsalltag und Herrschaftsver- ständnis der Landgräfin Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt (1640-1709). In: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit. Geschlechter und Geschlecht. Hrsg. von Heide Wunder. Berlin 2002 (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 28), S. 113-134; Mara Wade: Invisible Biographies: Three Seventeenth-Century German Women Writers. In: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature and Culture, 14 (1998), S. 41-69. 5 Der Körper der Königin. Geschlecht und Herrschaft in der höfischen Welt seit 1500. Hrsg. von Regina Schultze. Frankfurt/M., New York 2002. Vgl. in diesem Band Jill Bepler: Die Fürstin im Spiegel der protestantischen Funeralwerke der Frühen Neuzeit, S. 135-161; Jill Bepler: ‘im dritten Gradu ungleicher Linie Seitwarts verwandt’: Frauen und dynastisches Bewußtsein in den Funeralwerken der Frühen Neuzeit. In: Dynastie und Herrschaftssicherung in der Frühen Neuzeit (s. Anm. 4), S. 135-160; Women Who Ruled. Queens, Goddesses, Amazons in Renaissance und Baroque Art. Hrsg. von Annette Dixon. London 2002.

Chloe 43 Höfische Trauer 279 trachtung machen, sind sie auch ein Mittel dynastischer Selbstdar- stellung.6 Aus dieser Perspektive gesehen sind die darin enthaltenen Kasualia ein nicht wegzudenkender Bestandteil der Hoftrauer, deren Darstellung der Kurfürstin zum offiziellen Image der Frau – oder Witwe – des Herrschers, beiträgt. Mich interessiert, was diese Bilder über die Rolle der fürstlichen Gemahlin aussagen. Im folgenden wird untersucht, was für dynastische und konfessionelle Werte oder ge- schlechtsspezifische Einstellungen der Präsentation dieser Fürstinnen zugrundeliegen, und inwiefern sich das Image der verstorbenen Frau von dem der verwitweten Gattin unterscheidet. Louise Henriettes 1668 erschienenes Funeralwerk7 enthält zahlrei- che auf Deutsch und Lateinisch verfasste Epicedien, unter denen sich zwei auffallend lange Gedichte befinden: Jesu! Denck-Ehren- und Trost-Seule und Das Traurende Preussen-Land,8 die aus jeweils vier-

6 Bepler: Die Fürstin im Spiegel der protestantischen Funeralwerke der Frühen Neuzeit (s. Anm. 5), S. 137. 7 Sieben Leichpredigten Nebst Unterschiedlichen Anderen Traur- und Trostschriff- ten Auff Den […] Abschied Der Frauen Louysen, Marggräffin und Churfürstinn zu Brandenburg, […] Deren […] Cörper Am 8. Junij Anno 1667. von der Seelen abgesondert, Und Am 26. Novembris desselbigen Jahres […] beygesetzet wor- den. Cölln an der Spree: Schultze, 1668. HAB Signatur: A: 398.3 Theol. 8 Jesu! Denck-Ehren- und Trost-Seule/ Auff den zwar unverhofften/ jedoch seligen Hintritt/ Der weyland Durchläuchtigsten Fürstinn und Frauen/ Frauen Loysen, Gebornen Prinzeßin von Oranien/ Kurfürstinn zu Brandenburg etc. etc. etc. etc. Des Durchläuchtigsten/ Großmächtigen und Siegreichen Helden und Herren/ Herrn Friderich Wilhelms/ Marggraffen zu Brandenburg/ des Heil. Röm. Reichs Ertzkämmerern und Kurfürsten/ zu Magdeburg/ in Preussen/ […] Gewesenen Churfürstlichen Gemahlinn. Als Dieselbe am 8. Junij Abends zwischen 6. und 7. Uhr dieses Jahres durch ein gar sanfftes und seliges Ende diese Sterbligkeit mit der Unsterbligkeit verwechselte/ und aus diesem Jammer-und Thränenthaal in den himmlischen Freuden-Saal versetzet/ und nachgehends am 27. Novembr. mit Kurfürstlichen Solennitëten zu Ihrem Ruhe-Kämmerlein geführet ward/ Gerichtet und auffgerichtet Durch Michael Stechowen/ von Sr. Churfl. Durchl. zu Branden- burg verordneten Prediger in der Ruppinischen Graffschafft zu Barsekow/ Käy- serlichen gekrönten Poeten/ und Mitgenossen des hochlobl. Elb-Schwann-Or- dens, CCii r.-DD r.; Das Traurende Preussen-Land/ Welches Uber den höchst- schmertzbaren Todes-Hintritt Der Durchläuchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen Louysa/ Marggräffin und Kurfürstin zu Brandenburg/ gebornen Princeßin von Oranien und Gräffin zu Nassau/ in Preussen/ zu Magdeburg […] Seiner weyland Gnädigsten Kurfürstinn und Frauen Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Friedrich Wilhelm/ Marggraffen zu Brandenburg/ des Heil. Röm. Reichs Ertz-Kämmerern und Kurfürsten/ in Preussen/ […] Seines Gnädigsten Kurfürsten und Herrn/ Hochgeliebten Gemahlin/ An deroselben Kurfürstl. höchstansehnli-

Chloe 43 280 Sara Smart zig und vierundsechzig Vierzeilern bestehen. Das erste wurde von Mi- chael Stechow (ca. 1630-1681), einem Mitglied des Elbschwanen-Or- dens und Pfarrer in Brandenburg, und das zweite von dem Königsber- ger Dichter und späteren Hofhistoriographen Martin Kempe (1637- 1683) geschrieben. Jeder hatte den Rang eines ‘Kayserl. gekrönten Poeten’, was wohl erklärt, warum ihre Werke in diesen Prestigeband aufgenommen wurden. Die Texte weisen frappante Ähnlichkeiten auf, was zum Teil auf die Traditionsgebundenheit des Epicediums zurück- zuführen ist. Indem sie die Trauer um den Tod ausdrücken, die Ver- storbene loben und den Hinterbliebenen Trost bieten, entsprechen sie der aus der Antike stammenden rhetorischen Tradition, die das dama- lige Epicedium bestimmte, und erfüllen dessen drei Hauptfunktionen des Klagens, Lobens und Tröstens.9 In beiden Gedichten wird aber der lamentatio besonderes Gewicht beigemessen. Beide Poeten bemühen sich, ein Höchstmaß an Trauer zu erzeugen, weil sie die Tragweite dieses Verlusts verdeutlichen wollen – jeder ist von dem Tod der Kur- fürstin betroffen. Stechow hebt die Endgültigkeit des Todes in der Aufteilung der vierzig Strophen hervor. “Die Kurfürstin zu Brandenburg ist leider todt”. Mit diesem oder einem sehr ähnlich formulierten Vers enden die ersten dreißig Strophen (die anderen zehn kehren diesen Schluss um, indem sie auf das Erlangen des ewigen Lebens hindeuten). Das ständige Wiederholen erhöht die Drastik des Tatbestandes und trägt zur Affekterregung bei. In Kempes Gedicht werden ähnliche Trauer- gefühle erweckt; der Poet redet die Nymphe Preußens, Prutenis, an und erklärt ihr in aller Ausführlichkeit die folgenschweren Auswir- kungen des Todes. Um diese Wirkung weiter zu erhöhen, greifen beide Dichter den für die Epicediendichtung charakteristischen Topos “der mittrauernden Zeugen in der Natur” auf:10 “Die Felder/ Berg’ und Thal’ Erfüllt ein Angst-Geschrey” (Preussen-Land, Str. 11, Ddiii r), “Ihr Wälder/ Bäum/ ihr Felder/ Wiesen Garten […] Ihr scheint be- trübt/ verwelckt ob dieser Noht” (Trost-Seule, Str. 15, Cciii v). Um

chen Leichbegängnüß-Tag/ Den 6. Christ-Monats/ st: v. in Berlin/ Mit schuldig- sten Thränen beyleidig begleitet/ und in demühtigster Unterthänigkeit vorgestel- let M. Martinus Kempius, Käyserl. gekrönter Poet, DDii v-EEii v. 9 Hans-Henrik Krummacher: Das Barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 18 (1974), S. 89-147, hier S. 95. 10 Krummacher (s. Anm. 9), S. 118.

Chloe 43 Höfische Trauer 281 den Status der Kurfürstin gebührend zu würdigen, wird dieser Topos weiter amplifiziert. Die Natur wird als Symbol territorialer Macht dar- gestellt. Die Flüsse der hohenzollerschen Territorien werden zum Bei- spiel aufgelistet und apostrophiert – die Havel, Spree und Elbe, die Oder und der Rhein leiden unter dem Verlust der Kurfürstin – was nicht nur das Ausmaß der Landestrauer, sondern auch die Weite der hohenzollerschen Länder betont. Dem gleichen Zweck dient Stechows genaue Aufzählung der Territorien am Anfang der Trost-Seule:

Kur Brandenburg/ des Römschen Reiches-Kammer/ Und Preussen selbst betrauren diesen Jammer. Ja Jülich! Klev’ und Berge sind in Noht. Weil Kurfürstinn LOYSA, leider! todt.

Das Pommerland/ Kassuben/ Schleßjen/ Winden/ Stifft Halberstadt/ und Magdeburg/ und Minden/ Kammin und Marck sind all in höchster Noht. Weil Kurfürstinn LOYSA leider! todt.

Ja/ Ravensberg/ und Ravenstein die trauren/ Und Lauenburg und Bütow die betauren. Den harten Fall und unsre Märcksche Noht/ Weil Kurfürstin LOYSA leider! todt. (Trost-Seule, Str.n 4-6, CCii v)

Diese Strophen heben die neu erworbene Autorität der Brandenburger hervor. Der Erbfolgestreit um die rheinischen Gebiete Jülich, Kleve und Berg, den der Tod von Herzog Johann Wilhelm von Kleve-Jülich 1609 ausgelöst hatte, führte zwar nicht zur Übernahme des ganzen Herrschaftsgebiets, aber das Herzogtum Kleve, die Grafschaften Mark und Ravensberg sowie die Herrschaft Ravenstein fielen den Hohen- zollern 1614 zu. 1618 ging das Erbfolgerecht auf das Herzogtum Preußen an das Haus über. Die Souveränität über das Herzogtum, das ein polnisches Lehen war, erfolgte 1657 und dann endgültig 1660 als Ergebnis der Beteiligung Friedrich Wilhelms am Nordischen Krieg (1655-1660), in dem er die beiden Hauptkontrahenten Polen und Schweden wechselweise unterstützte. Durch den diesen Krieg ab- schließenden Frieden von Oliwa wurde Brandenburgs Anspruch auf Lauenburg und Bütow bestätigt. Der Westfälische Frieden brachte auch bedeutenden Gebietsgewinn. Obwohl Friedrich Wilhelm die Teilung Pommerns und damit Schwedens Kontrolle über Vorpom-

Chloe 43 282 Sara Smart mern, Stettin und die Odermündung hinnehmen musste, fielen Bran- denburg das südliche Pommern und Hinterpommern sowie die Bis- tumsgebiete Halberstadt, Minden, Cammin und Magdeburg zu.11 Diese Konzentration auf den Zuwachs an Territorien, die die Hohen- zollern im 17. Jahrhundert erfuhren, erfüllt einen doppelten Zweck: indem sie auf die Weite ihrer Territorien aufmerksam macht, deutet sie auch auf die Weite der Trauer um den Tod im herrschenden Hause hin. Obwohl beide Epicedien auf den Kummer der kurfürstlichen Fami- lie eingehen, bildet auch das Leiden der Untertanen einen wichtigen Schwerpunkt. Dies wird anhand von zwei von Stechow eingeführten Metaphern zum Ausdruck gebracht, die das Verhältnis zwischen dem Herrscher und den Beherrschten im Staat der Frühen Neuzeit verbild- lichen. Die erste ist der politische Körper, dessen Intaktheit durch den Tod zerstört worden ist: dem Kurfürsten “dem Haupt ist Angst” und als Folge erfahren die Untertanen oder die “Unterglieder” “Noht” (Trost-Seule, Str. 8, CCiii r). Die zweite ist die Familie des Staates. Die Untertanen werden “Landes-Söhne” und “Landes-Töchter” ge- nannt, die von dem Tod ihrer “Landes-Mutter” (Trost-Seule, Str. 8-9, CCiii r) schwer betroffen sind. Diese Betroffenheit wird an der Erfah- rung der beiden Dichter anschaulich vorgeführt. Das Wiedergeben des Kummers des Poeten, ein weiteres Charakteristikum des Epicediums, wird von Stechow gebraucht, um zur Gefühlsintensität der lamentatio beizutragen:

Als dieser Fall mir schrifftlich kam zu händen. Wust ich für Angst mich nirgends hin zu wenden. Ich lieff und rieff: O über grosse Noht! Die Kurfürstinn zu Brandenburg ist todt.

Mein Hertz’ erbebt’ und wolte mir zerspringen. Die Stirn’ hub an den Todes-Schweiß zu bringen. Die Faust’ erstarb in dieser Angst und Noht. Die Zunge fragt’ halb tödtlich: Ist Sie todt? (Trost-Seule, Str. 19-20, CCiii v)

11 Die Erbfolge auf Magdeburg erfolgte erst 1680 nach dem Tod des sächsischen Administrators. Vgl. Gert Heinrich: Geschichte Preußens: Staat und Dynastie. Frankfurt am Main, Berlin 1981, S. 99-100.

Chloe 43 Höfische Trauer 283

Kempe übernimmt die Perspektive des kollektiven ‘Wir’ und somit die Stimme der Untertanen. Wie bei Stechow ist die Grunderfahrung wieder die Angst, was aus diesem Vergleich zwischen einem Gewitter und dem Tod der Kurfürstin hervorgeht:

Wie/ wenn bey grosser Hitz’ ein Wetter auffgestiegen/ Der gantze Pol erschwartzt/ die Wolken gleichsam fliegen/ Die schnelle Finsternüß den lichten Tag verkürtzt/ Und sich ein Regen-Meer zur Erden niederstürtzt.

Uns eine Furcht befällt: So seyn mit schweren Plagen Die Gräntzen überhäufft/ nach dem der Famen Wagen Die Bothschafft hergebracht/ die ihnen höchst-verhaßt Und unerträglich ist: Ihr Leben sey erblaßt! (Preussen-Land, Str. 14-15, DDiii r)

Warum der Verlust der Kurfürstin gerade Angst verursacht, erklärt sich aus dem damaligen Ideal der Landesmutter und ihrer zentralen Bedeutung für die Sicherheit und das Wohlergehen des frühmodernen Staates. In beiden Epicedien herrscht die Darstellung Luise Henriettes als vollkommene Landesmutter vor. Diese Stilisierung der Frau des Herrschers gehört zur Ikonographie des protestantischen Staates. Die von Luther geförderte Analogie zwischen dem Vater als dem Fami- lienoberhaupt und dem Fürsten als Oberhaupt des Staates war zwar Ausdruck des damaligen Patriarchats, verlieh aber auch der Frau des Herrschers eine besondere Autorität. Genauso wie in der reformatori- schen Hausväterliteratur die Verantwortlichkeit für den Unterhalt des Hauses zwischen dem Hausvater und der Hausmutter geteilt war, so wurden – in der Übertragung dieses Ideals auf das Herrscherpaar – be- stimmte Tätigkeitsbereiche dem Landesvater und der Landesmutter zugeteilt. Während sich der Fürst den Regierungs- und Kriegsge- schäften widmete, unterstützte ihn seine Frau, indem sie für das Wohl der Untertanen sorgte. Dieses protestantische Gedankengut spiegelt sich in Stechows Trost-Seule deutlich wider, vor allem im Vergleich Luise Henriettes mit “ein[em] reiche[n] Schiff/ das edle Waaren brachte” (Trost-Seule, Str. 13, CCiii r). Dieses dem Buch der Sprüche entstammende Bild,

Chloe 43 284 Sara Smart das zum traditionellen Lob der Hausmutter gehörte,12 verweist auf Luise Henriettes Leistungen als Landesmutter, die in der lamentatio weiter erläutert werden. Ihr Verlust ist für die Armen und Waisen be- sonders schwer zu ertragen:

Ihr Armen klagt. Die für euch pflag zu sorgen. Die an Euch dacht’ an Abend/ Mittag/ Morgen/ Die ist nun todt. Beweinet Eure Noht. Klagt auch mit mir: Die Kurfürstin ist todt.

Ihr Wäysen klagt/ und weiset euer Leiden. Seht! von Euch hat die Mutter müssen scheiden. Die Euch erbaut ein Wäysen-Haus für Noht Drumb klagt mit mir: Die Kurfürstinn ist todt. (Trost-Seule, Str. 17-18, CCiii v)

Die letzte Strophe bezieht sich auf das Waisenhaus, das die Kurfürstin in Oranienburg stiftete und dessen Bau 1665 vollendet wurde.13 Die Stiftung wurde aus ihren eigenen Geldern unterstützt und erhielt jähr- lich 1200 Reichstaler. Dazu sorgte sie nicht nur für die Ernährung, sondern auch für die Erziehung der 24 Kinder, die dort aufgenommen wurden. Ihnen wurden die Lehren des reformierten Glaubens beige- bracht, und “christlicher Unterricht, Gebete und Bibellesungen beglei- teten [ihren] Tageslauf”.14 Ein weiterer Hinweis auf ihre Beschäfti- gung mit “Kirch und Schul” (Trost-Seule, Str. 24, CCiv r) deutet auf das Anliegen der Kurfürstin hin, für den Glauben und die Erziehung ihrer Landeskinder zu sorgen. Solche Tätigkeiten, die traditionell zum Bereich der Landesmutter gehören, sind auch auf die von der Refor- mation zugewiesene Rolle der Familie zurückzuführen. Die Reforma- toren waren bestrebt, sowohl den Glauben als auch die Moral zu refor- mieren. In der Verwirklichung dieses Zieles maß Luther wie auch Calvin der Familie eine entscheidende Bedeutung bei, denn den Eltern oblag die Aufgabe, auf die Moral ihrer Kinder zu achten und sie als

12 Vgl. Susan C. Karant-Nunn: Reformation Society, Women and the Family. In: The Reformation World. Hrsg. von Andrew Pettegree. London, New York 2000, S. 433-460, hier S. 443. 13 Vgl. Ulrike Hammer: Kurfürstin Luise Henriette. Eine Oranierin als Mittlerin zwischen den Niederlanden und Brandenburg-Preußen. Münster u.a. 2001 (= Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 4), S. 100-108. 14 Hammer (s. Anm. 13), S. 106.

Chloe 43 Höfische Trauer 285 rechtgläubige Christen zu erziehen.15 Überträgt man dieses Paradigma auf die Familie des Staates, so gilt Luise Henriettes erzieherische Für- sorge als Erfüllung ihrer landesmütterlichen Pflicht. Bemerkenswert ist, dass Stechow keinerlei Hinweis auf den konkre- ten Beitrag, den Luise Henriette zum Wiederaufbau Brandenburgs leistete, macht. Sie unterstützte zum Beispiel die Maßnahmen, die ge- gen das durch den Krieg entstandene Problem der Bevölkerungsver- luste ergriffen wurden, indem sie Kolonisten aus den Niederlanden in dem ihr 1650 vom Kurfürsten geschenkten Amt Bütow, später Ora- nienburg genannt, ansiedelte. Dieses praktische Engagement zeigt sich in der “Musterwirtschaft nach niederländischem Vorbild” mit Molke- rei und Brauereien, die sie hier errichten ließ, wie auch in ihrer Förde- rung der Viehzucht und der Gärtnereien in Berlin.16 Selbst auf Luise Henriettes Hauptleistung auf kulturellem Gebiet, den Umbau des Schlosses Oranienburg, wird nur einmal – und dann nur flüchtig – aufmerksam gemacht. Dass auf die landwirtschaftliche Tätigkeit nicht eingegangen und das kulturelle Erbe der Kurfürstin kaum gewürdigt wird, deutet wiederum auf die zentrale Bedeutung der Landesmutter hin. In der offiziellen Darstellung der Kurfürstin zählt nicht ihr Inte- resse an der Landwirtschaft, und ihre Rolle als Mäzenin ist von unter- geordneter Bedeutung; bestimmend wirkt aber das Image der fürsorg- lichen und frommen Mutter. Das gleiche gilt für Das Traurende Preussen-Land, das eine komp- lementäre Darstellung der Kurfürstin aufweist. Die laudatio hebt ihre Tugend und Weisheit und ihren Verstand hervor, sie wird aber vor al- lem durch die christlichen Tugenden der Frömmigkeit, Demut, Erbar- mung und Gottesfurcht ausgezeichnet. Dies entspricht der normativen Darstellung der Landesmutter, die die christlichen Ideale verkörperte, in denen der Staat wurzelte. Luise Henriette war allen Quellen nach eine durchaus fromme Frau,17 aber ihre Frömmigkeit ist nicht als pri- vate Angelegenheit zu verstehen. Ihre Stilisierung als Inbegriff der christlichen Nächstenliebe ist eher ein Bestandteil der dynastischen Selbstdarstellung. Sie spiegelt auch die geschlechtsspezifische Ar- beitsverteilung des Herrscherpaares. Während der Fürst die Verant- wortung für die Staatsgeschäfte – die Politik und das Militär – trägt,

15 Karant-Nunn (s. Anm. 12), S. 433, S. 440, S. 457. 16 Hammer (s. Anm. 13) S. 84-89, S. 109-113. 17 Vgl. Ernst Opgenooth: Friedrich Wilhelm Der Große Kurfürst von Brandenburg. Eine politische Biographie. Erster Teil 1620-1660. Göttingen u.a. 1971, S. 229.

Chloe 43 286 Sara Smart ist die Fürstin die pflegende Mutter, die durch ihre Sanftmut für das Wohl des Staates sorgt, was im folgenden Bild deutlich zum Ausdruck gebracht wird:

Wie offt hat Sie das Oel in unsrer Zeiten Wunden/ Zur Heilung eingeflößt/ und folgends wol verbunden? Wenn Ihrer Seuffzer-Macht den Kriegen angesiegt/ Ward uns des Friedens Gold mit Freuden zugefügt. (Preussen-Land, Str. 26, DDiv r)

Deutet “Ihrer Seuffzer-Macht” auf die Verpflichtung der christlichen Fürstin hin, für das Wohlergehen ihres Staates zu beten, so gehört die ihr eigene Kraft, Frieden zu stiften, zur formellen Rhetorik, die das Lob der Landesmutter kennzeichnet.18 Die Gottesfurcht der Kurfürstin prägt auch die Darstellung ihres Sterbens, das nach den Normen der den fürstlichen Frauen gewidme- ten Funeralwerke gestaltet wird. In beiden Epicedien wird ihr Tod nämlich als memento mori aufgefasst. Der Tod der ersten Frau im Staat mahnt an die Allgemeingültigkeit des Todes und erinnert an “die kurtz-beschränkte Zeit” des menschlichen Daseins (Preussen-Land, Str. 36, DDiv v). Aber durch die Art ihres Sterbens überwindet Luise Henriette ihre Sterblichkeit. Als beispielhafte Christin durchschaut sie die Nichtigkeit alles Irdischen, was vor allem in einer ‘Redesituation’ verdeutlicht wird.19 Das in der Todesdichtung dieser Zeit verbreitete Stilmittel, die Stimme des oder der Sterbenden oder Verstorbenen re- den zu lassen, wird von Kempe benutzt, um ihre Glaubensfestigkeit zu betonen:

[…] Ich/ sprach Sie/ muß bekennen: Daß dieses Welt-Gebäud’ ein Kerker sey zu nennen/ Darin man Lebens-lang die Fessel-Strikke trägt/ Bis sie der Tod zerstükkt/ wenn er uns niederlegt.

Ich suche frey zu seyn/ und wünsche durch das Sterben/ Wonach mich sehr verlangt/ die Freyheit zu erwerben Deßwegen ist der Tod mein allerbestes Looß:

18 Vgl. Sara Smart: The Ideal Image. Studies in Writing for the German Court 1616-1706. Berlin 2005, S. 141. 19 Joseph Leighton: Poems of Mortality in the German Baroque. In: German Life and Letters 36 (1982/83), S. 241-257.

Chloe 43 Höfische Trauer 287

Mein Heyland nimmt mich auff in seinen lieben Schooß. (Preussen-Land, Str. 50-51, EEi v)

Stechow verweist auf die von ihr erlittene “Angst und Noht” (Trost- Seule, Str. 28, CCiv v), als sie im Sterben lag. In den damaligen Fune- ralwerken wurde ein solcher schmerzhafter Tod als Bewährungsprobe des christlichen Glaubens angesehen. Dass sie sie besteht und den Himmel erlangt, liegt der consolatio zugrunde, die die Seligkeit der Verstorbenen, ihren beispielhaften Glauben und ihre Vorbildhaftigkeit betont: die Trauernden können sich trösten, weil eine solche Tugend- haftigkeit unsterblich ist und mit dem ewigen Leben belohnt wird. Ist die Verheißung des ewigen Lebens ein zentraler Trostgrund in Epicedien aller Konfessionen, so weist die Betonung des Auserwählt- seins der Kurfürstin auf den reformierten Glauben des brandenburgi- schen Fürstenhauses hin. In Kempes Gedicht wird ihr Calvinismus be- sonders hervorgehoben. Indem er ihre Ankunft im Himmel darstellt, wird die Gewissheit ihrer Gottgefälligkeit veranschaulicht. Hier wird sie von einer Ahnenreihe führender Glaubensverfechter begrüßt:

Da ist Sie von der Zunft der Ahnen schön empfangen/ Als die aus ihrem Stamm im Tode vorgegangen: Insonderheit ward Sie den Vater bald gewahr/ Printz Friedrich-Heinrich/ nebst seiner Eltern Schaar.

Demselben folgte nach das Wunder-Werck der Helden/ Fürst Wilhelm/ dessen Ruhm die Krieges-Geschichte melden/ Darin die Feder Ihn nach Würden herrlich preist/ Und Holland stets erhebt/ so lang es Holland heißt. (Preussen-Land, Str. 43-44, EEi r)

Die Bedeutung der oranischen Abstammung wird hier vor Augen ge- führt. Als Enkelkind beziehungsweise Tochter der Helden des nieder- ländischen Freiheitskampfs gegen die spanische Herrschaft, nämlich Wilhelms des Schweigers (1533-1584), Graf von Nassau und Fürst von Oranien, und Frederik Hendriks (1584-1647), des Statthalters der Vereinigten Provinzen von 1625 bis 1647, gehörte sie dem prominen- testen reformierten Herrscherhaus Europas an.20 In den folgenden

20 Zur Rolle Wilhelms des Schweigers im niederländischen Aufstand vgl. Graham Darby: Narrative of Events. In: The Origins and Development of the Dutch Re-

Chloe 43 288 Sara Smart

Strophen wird ihre Genealogie ergänzt, indem Kempe dieser ‘Ahnen- galerie’ Wilhelms vier Frauen hinzufügt21 und auch einen Hinweis auf das Haus ihrer Mutter, Amalia von Solms, macht. Als Tochter des re- formierten Grafen von Solms-Braunfels und als ehemalige Hofdame der Winterkönigin war Amalie eine loyale Angehörige der calvinisti- schen Sache. Frederik Hendrik war sowohl ein erfolgreicher General als auch ein bedeutender Mäzen und gilt als “one of Europe’s leading courtly figures”.22 Mit der Unterstützung seiner Frau unterhielt er ei- nen prächtigen Hof, der vom dynastischen Anspruch der Oranier zeugte. Dies spiegelt sich wiederum in der Ehe von Luise Henriettes Bruder, Wilhelm II., mit Mary Stuart, der Tochter von Charles I. Luise Henriettes ‘Ahnengalerie’ und deren Assoziationen an konfessioneller Stärke, militärischem wie auch politischem Erfolg und dynastischem Prestige verweisen auf eine Schlüsselfunktion der fürstlichen Gemah- lin der Frühen Neuzeit, nämlich die Befestigung dynastischer Allian- zen. Diese Strophen feiern den dynastischen Vorteil für die Hohen- zollern, der aus der Ehe mit Luise Henriette hervorging. Als Folge der Allianz mit den Oraniern wurde der Calvinismus der Hohenzollern nicht nur gefestigt, sondern Friedrich Wilhelm hoffte auch auf Unter- stützung bei den westfälischen Friedensverhandlungen wie auch in seinen Bemühungen, seine Autorität in den rheinländischen Gebieten zu konsolidieren.23 Wenn auch nicht alle Hoffnungen in Erfüllung gin- gen, so hat doch diese dynastische Verbindung “über alle Krisen hin- weg der Politik des Kurfürsten am Niederrhein und im größeren Rah- men einen mehr als nur gefühlsmäßigen Rückhalt gewährt”.24 Diese Würdigung der reformierten Tradition gehört in den Rahmen des offiziellen höfischen Funeralwerkes. Es sei nebenbei bemerkt, dass ein nicht im Funeralwerk aufgenommener Text von einer anderen Reaktion auf den Tod zeugt, die auf die bekannte Glaubenskluft zwi-

volt. Hrsg. von Graham Darby. London 2001, S. 8-28, und im gleichen Band Guido Marnef: The towns and the revolt. S. 84-106, hier S. 96-101. 21 Anna Gräfin von Buren, Anna von Sachsen, Charlotte de Bourbon und Louise de Coligny. 22 Für weitere Details über die Statthalterschaft Frederik Hendriks vgl. Jonathan I. Israel: The Dutch Republic. Its Rise, Greatness and Fall 1477-1806. Oxford 1998, S. 485-546, hier S. 486. 23 Derek McKay: The Great Elector. London 2001, S. 36. Christopher Clark: The Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia 1600-1947. London 2006, S. 40. 24 Heinrich (s. Anm. 11), S. 94.

Chloe 43 Höfische Trauer 289 schen dem reformierten Herrscherhaus und seinen lutherischen Un- tertanen in Brandenburg und Preußen verweist. Das achtstrophige Klagelied des Königsberger Dichters Johann Röling (1634-1679), das für den Gebrauch in den Kirchen Preußens bestimmt war, unterschei- det sich stark von Stechows und Kempes Epicedien. Auf die Eigen- schaften der Landesmutter wird hier nicht eingegangen. Thematisiert wird dagegen der Kummer der Untertanen, die Luise Henriettes Tod als Strafe Gottes für ihre Sündhaftigkeit auffassen:

Hab ich nichts als nur Zorn verdient/ So sey dennoch hinfort versühnt/ Von deines eingen Sohnes wegen: Der hat für mich genug gethan; In dem/ in dem sieh/ Herr mich an/ Und gib mir deines Loßspruchs Segen Ich leide willig alle Pein/ Wird sie nur letzt mein Himmel seyn.25

Das reine Luthertum, das in der letzten Strophe zum Ausdruck kommt, bezieht sich auf “die pluralistische Regionalgeschichte”, die in Betracht gezogen werden muss, wenn man die verschiedenen Nuan- cen der an die Hohenzollern gerichteten Kasualia ergründen will.26 Das Klagelied zollt der herrschenden Familie die zu erwartende Ach- tung, es legt Zeugnis von der Treue der trauernden Untertanen ab, ist aber keine Lobeshymne. Indem der Tod von einem streng lutherischen

25 Johann Roeling: Hertzinnigliches Klage-Lied/ genommen Aus dem 88. Psalm v. 10. 11. 12. 13. Und bey deß Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Hn. Friedrich Wilhelm Marggrafen zu Brandenburg/ Des Heil. Röm. Reichs ErtzCämmerern und Churfürsten/ […] Hochgeliebten Gemahlinn/ Der Durchläuchtigsten Fürstinn und Frauen/ Frau Louysen/ Marggräfin und Churfürstin zu Brandenburg […] Unsrer weyland Gnädigsten ChurFürstinnen und Lobwürdigsten Landes-Mutter/ So Schmertzempfindlichen als Höchstseeligen Abschied/ In höchstverpflichteter Betrübnüß geführet/ und Bey allgemeinem Leid-Wesen des gantzen Preussen- Landes In der Kirchen zu singen gesetzet von Sr. Churfürstl. Durchl. Treugehor- samsten Unterthänigsten Dienern/ M. Joh. Roeling/ P. P. und J. Sebastiani, Pr. CapellM. Königsberg: Reusner, 1667. Staatsbibliothek Berlin Signatur: 4 Yi 7100R (64). 26 Andreas Keller: Diktierende Purpur-Potentaten und parlierende Privat-Personen: Die unbekannte literarische Öffentlichkeit in Brandenburg im Umfeld der Königskrönung. In: Im Schatten der Krone. Die Mark Brandenburg um 1700. Hrsg. von Frank Göse. Potsdam 2002. (= Brandenburgische Historische Studien 11), S. 179-215, hier S. 215.

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Standpunkt aus gedeutet wird, verkündet es auch die Autonomie und Stärke der lutherischen Gemeinde Preußens. So gesehen dokumentiert dieser Andachtstext “den spannungsreichen Konfessionsdisput”, der zwischen verschiedenen Interessengruppen in Friedrich Wilhelms Ter- ritorien geführt wurde.27 Zu den zwei Aufgaben der fürstlichen Gemahlin – der Erfüllung der landesmütterlichen Verpflichtungen und dem Zementieren dynasti- scher Allianzen – kommt noch eine dritte: die Absicherung der Erb- folge. Ein weiteres Gedicht im Funeralwerk, das Gedicht Thränen- Opfer, das zur Leichenbestattung der Kurfürstin geschrieben wurde, behandelt diesen Bereich.28 Die erste Hälfte dieses Gedichts, das aus 16 sechszeiligen Strophen besteht, ist eine Reflexion über die Leiche im Sarg, die dem damaligen Gebrauch nach wohl tagelang feierlich aufgebahrt wurde. Auffallend ist, dass sich der Text nicht mit der Hin- fälligkeit des Lebens und der Verwesung des Körpers, sondern mit der Fruchtbarkeit der Kurfürstin befasst. Die Metaphorik entstammt vor- wiegend der Natur:

Hier ist mehr als alle Lust/ Frewd und Schönheit aller Garten/ Die dem Sommer ist bewust/

27 Keller (s. Anm. 26), S. 187. 28 Thränen-Opffer/ Welches Bey Höchstbetraurlicher und Höchstansehnlicher Leichbestattung Der weyland Durchläuchtigsten Fürstinn und Frauen/ Frawen Loysen/ Marggräffinn und Churfürstinn zu Brandenburg etc. Gebornen Princeßin von Oranien etc. etc. etc. Des Durchläuchtigsten/ Großmächtigen Fürsten Und Herren Herren Friderich Wilhelms/ Marggrafen zu Brandenburg/ des Heil. Röm. ReichsErtz-Cämmerers und Churfürsten/ […] Gewesener Hoch- und Hertz-lieb- ster/ numehr aber in Gott ruhender Hoch-Seeligster Gemahlin/ Glorwürdigsten Andenckens: Als Ihre Churfürstliche Durchläuchtigkeit Am Sabbath vor dem I. Sonntag nach Trinitatis, war der 8. Junij N. M. zwischen 6. und 7. Uhr/ eben im Anfang des Sommers an diesem Jahre/ und also auch zugleich im besten Sommer ihres Lebens/ da Dieselbe kaum das 40ste Jahr Ihres Alters erreichet/ diese mühseelige Welt-Unruhe mit der ewigen Himmels-Ruhe verwechselte/ und Dero hocherleuchtete und mit Christi Blut gereinigte Seele von den Engeln in Abra- hams Schooß getragen/ Der entseelete Cörper aber den 26. Novembr. dieses zum Ende nahenden 1667sten Jahres mit allen Churfürstl. Solennitäten in Gegenwart vieler außwärtigen Chur-und Fürstlichen Personen/ zu Cölln an der Spree dem Churfürstl. Erb-Begräbnüß/ als seiner Ruhe-Kammer/ bis zur fröhlichen Wieder- bringung alles Fleisches/ anvertrawet ward/ Zu Bezeugung unterthänigster Condolenz mildiglich vergoß Seiner Churfürstlichen Durchläuchtigkeit Unterthä- nigster Knecht Andreas Langner. Cölln an der Spree: Schultze, 1667. [unpag.]

Chloe 43 Höfische Trauer 291

Wenn er hundert-tausent Arten Der geschmückten Blumen hegt/ Und uns vor die Augen legt. (Thränen-Opfer, Str. 5)

Dieses Lob gipfelt in einem Gefühlsausbruch und einer Beschreibung der Trauer des Kurfürsten, als er die Leiche betrachtet. In der zweiten Hälfte, der consolatio, wird das übliche Trostargument, dass die Kur- fürstin durch den Tod zum ewigen Leben gelangt, eingeführt. Der Kurfürst wird weiter getröstet, indem er an die drei Söhne Luise Hen- riettes erinnert wird. Die Naturmetaphorik wird wieder aufgegriffen:

Unterdessen sehen Wir/ Ob der Weinstock wird begraben/ Wie noch dessen Zweiglein hier Überbleiben/ und uns laben: Zweig’/ an Derer Safft und Krafft So viel Länder Wachstumb haft. (Thränen-Opffer, Str. 13)

Dass die Reflexion über den Körper der toten Fürstin zur Huldigung ihrer Fruchtbarkeit führt, erinnert an die Grabmalkunst des französi- schen Königshauses.29 Was in diesen Versen vor allem auffällt ist aber, dass Luise Henriettes bekannte Schwierigkeiten, einen gesunden Erben zu gebären, nicht erwähnt werden, obwohl dieses Problem in der vom Hofprediger Bartholomaeus Stosch geschriebenen Leichen- predigt und in ihrem Lebenslauf Churfürstliches Ehrengedächtnüß, die im Funeralwerk mitgedruckt sind, angesprochen wird. Zwei Jahre nach ihrer Hochzeit wurde 1648 ein Sohn, Wilhelm Heinrich, gebo- ren, der aber siebzehn Monate später starb. Auf eine Fehlgeburt folg- ten dann Jahre der Kinderlosigkeit, bis endlich 1655 ein Sohn, Karl Æmil, geboren wurde. Von ihren vier anderen Kindern überlebten nur zwei Söhne, Friedrich, der spätere Kurfürst und erste König in Preu- ßen, und Ludwig. Den auf ihr lastenden Druck, die Fortdauer ihres angeheirateten Herrscherhauses zu sichern, entnimmt man den Kasua- lia, die auf die Geburt Karl Æmils verfasst wurden. Dieses Zitat aus einem dem Herrscherpaar von Johann Rist gewidmeten Lob-Gedicht

29 Victoria von Flemming: Die nackten Toten: Caterina de’ Medici und die Diskursivierung der Körper. In: Geschlechterperspektiven. Forschungen zur Frü- hen Neuzeit (s. Anm. 1), S. 408-424, hier S. 419.

Chloe 43 292 Sara Smart lässt auf die Intensität der auf Luise Henriette gerichteten Erwartun- gen schließen:

Ein Erbe fehlet dir/ ein Printz/ der von Natur Der klugen Mutter gleicht/ und folget in der Chur Dem tapfren Vater nach: Drum war ein stetigs fragen: Wird Frau Louysa nicht ein junges Herrlein tragen? Ach Gott! Solt unser Fürst verlassen diese Welt/ Wo finden wir nach jhm/ doch widrum einen Held/ […] Die wehrte Priesterschafft ließ nimmer ab zu bäten/ Nie sahe die Gemein Sie von den Kantzlen treten/ Sie hätte den zuvor von GOttes milder Hand Hertzinniglich begehrt/ dis hohe Gnadenpfand. Den Priestern folgten nach viel tausent frommer Hertzen/ In heisser Andacht/ ja/ sie bahten Gott mit Schmertzen/ Er wolle gnädiglich diß grosse Fürsten Paar Gesegnen und die Frucht behüten für Gefahr.30

Wie aus diesem Zitat hervorgeht, war der Körper der fürstlichen Ehe- frau “in seiner Disfunktionalität und seiner Funktionalität […] Gegen- stand öffentlicher Rede”.31 Dass die Trauergedichte über diese proble- matische Kinderlosigkeit, die in aller Öffentlichkeit ertragen werden musste, schweigen, weist auf ihre Funktion hin, die Vorbildlichkeit Luise Henriettes als fürstliche Gemahlin zu feiern, was eine Betonung ihres Beitrags zur dynastischen Sicherheit verlangte. Dazu sei be-

30 Unterthänigste Glückwünschung und Lob-Rede/ An Den Durchläuchtigsten Fürs- ten und Herrn/ Herrn Friderich Wilhelm/ Marggraffen zu Brandenburg/ des Heili- gen Römischen Reichs ErtzKämmerer und Churfüsten/ zu Magdeburg/ in Preus- sen/ zu Jülich/ Cleve/ Berge/ Stettin/ Pommern/ der Cassuben/ Wenden: Auch in Schlesien/ zu Crossen und Jägerndorff Hertzogen/ […] Als auch/ an Die Durch- läuchtigste Fürstinn und Frau/ Frau Louysa/ Geborne Printzeßin von Uranien/ vermählete Churfürstinn zu Brandenburg/ […] Als Ihre Churfürstl. Durchläuch- tigkeiten/ Beiderseits/ wie auch deroselben unterschiedliche Grosse Fürstenthü- mer und mächtige Landschafften/ von dem Allerhöchsten GOTT/ mit einem Jun- gen/ gesunden und wolgestalten Chur-Printzen und Landes-Herrn/ allergnädigst wurden angesehen/ beseligt und verehret/ […] Aus unterthänigster Schuldigkeit/ auffgesetzet/ und allergehorsamst übersendet/ von Johann Rist/ Predigern des heiligen/ göttlichen Wortes zu Wedel/ an der Elbe/ Römischer Kaiserlicher Ma- jestät Pfaltz- und Hof-Grafen/ wie auch von deroselben Kaiserlichen Hofe aus/ Edelgekrönten Poeten. Berlin: Runge, 1655. HAB Signatur: N 8.2º Hemst. (13). 31 Victoria von Flemming (s. Anm. 29), S. 421.

Chloe 43 Höfische Trauer 293 merkt, dass das Thränen-Opfer die Trennung zwischen dem “natürli- chen” und “offiziellen” Körper der damaligen Fürstin widerspiegelt.32 Über den natürlichen Körper und seine physischen Schwächen wird hinweggesehen. Indem das Gedicht die Fertilität des Körpers hervor- hebt, zelebriert es die Erfüllung dessen öffentlicher Reproduktions- pflichten, die das Weiterbestehen des politischen Körpers garantierte. Luise Henriette starb im November 1667 und im Juni des folgenden Jahres verheiratete sich Friedrich Wilhelm zum zweiten Mal. Seine Gemahlin wurde Dorothea, Tochter von Herzog Philipp von Holstein- Glücksburg und Witwe von Herzog Christian Ludwig von Braun- schweig-Lüneburg, der die Siebzehnjährige 1653 geheiratet hatte. Diese kinderlose Ehe hatte im Jahr 1665 mit dem Tod Christian Lud- wigs geendet. Aus Dorotheas zweiundzwanzigjähriger Ehe mit Fried- rich Wilhelm hingegen gingen sieben Kinder hervor, von denen sechs das Erwachsenenalter erreichten. Dorothea überlebte den Kurfürsten um ein Jahr und starb im August 1689 während eines Kuraufenthaltes in Karlsbad. Die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel besitzt zwei relativ bescheidene Drucke, die auf den Tod Dorotheas erschienen. Der erste, Symbolum Pietatis,33 enthält auch einen Lebenslauf. Der zweite, Threni Potstamienses Ex Threnis Jeremiæ, ist eine Klagepre- digt, die von dem Hofprediger Anton Brunsenius gehalten wurde, nachdem die Leiche nach Potsdam, der bevorzugten Residenz ihres Mannes, gebracht und feierlich aufgebahrt wurde.34 Bemerkenswert

32 Regina Schulte: Der Körper der Königin – konzeptionelle Annäherungen. In: Der Körper der Königin (s. Anm. 5), S. 11-23. 33 Symbolum Pietatis, Denck- oder Wahl-Spruch Der Weyland Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen Frauen Dorothea/ Marggräfin und Churfürstin zu Branden- burg/ Gebohrner Hertzogin zu Schleßwig und Hollstein/ […] Bey Dero Chur- Fürstlichen Beysetzung am 12. Septmebr. 1689: An welchem vorn Jahre Dero Theuerste Gemahl/ Der auch Durchlauchtigste/ Großmächtige Fürst und Herr/ Herr Friderich Wilhelm/ Marggraff zu Brandenburg/ des Heil. Röm. ReichsErtz- Cämmerer und Churfürst/ in Preussen/ […] Recht Churfürstlich begraben ward; In der Thumb-Kirchen zu Cölln an der Spree/ aus den Worten des Psalm XIII 7. in der ordentlichen Leich-Predigt erkläret/ Und Auff Churfürstl. Gnäd. Befehl zum Druck übergeben Von Antonio Brunensio, Churf. Brandenb. Hof-Prediger. Cölln an der Spree: Liebpert, 1689. HAB Signatur: S: Alv.: Nh 228 (3). 34 Threni Potstamienses Ex Threnis Jeremiæ, Klage-Predigt Uber das hochseligste Absterben Der Weyland Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen Doro- theen/ Marggräfin und Churfürstin zu Brandenburg/ […] Nachdem Dieselbe/ wol bereitet und selig/ im Carls-Bad/ den 6. Aug. des 1689ten Jahres aufgelöset/ und die Churfürstliche Leiche den 20ten ejusd. nach Potsdam gebracht/ und allda in

Chloe 43 294 Sara Smart ist, dass diese Funeralwerke nicht mit Epicedien ausgestattet sind, obwohl Brunsenius’ Klagepredigt und der Lebenslauf sie als fromme Landesmutter porträtieren. Sie wird zum Beispiel “wegen ihrer lieb- reichen Allmosen” als “eine Krone der Armen” stilisiert, die sie “klei- dete, speisete [und] erquickete.” Und “die Wittwen/ die Waysen ste- hen betrübt und klagen den Fall [der] Krone, die sie so reichlich bega- bete”. Im öffentlichen Gottesdienst sowie in privater Betkammer zeigte sich ihre “wahre Gottseeligkeit” (Threni Potstamienses, S. 33- 34). Dazu wird die Geburt ihrer zahlreichen Kinder, “wodurch das Churfürstl. Hauß noch mehr befestiget”, gewürdigt (Symbolum Pieta- tis, S. 72). Dass sich das Image der zwei verstorbenen Kurfürstinnen auf eine so auffallende Weise gleicht, betont das Paradigmatische an der Darstellung der Frau des Herrschers wie auch die Überschneidun- gen zwischen der fürstlichen Klagepredigt, dem fürstlichen Lebens- lauf und dem fürstlichen Epicedium. Ein ähnliches Bild prägt die Darstellung Dorotheas in den Kasualia, die zu Lebzeiten des Großen Kurfürsten erschienen, wie aus den Wer- ken Johann Rölings und der Königsberger Dichterin Gertrud Möller (1641-1705) hervorgeht.35 Der Geburtstag Friedrich Wilhelms und der

dem Trauer-Gewölbe Standmäßig bewachet ward/ In einer öffentlichen Predigt Den darauf folgenden Sontag Dominica XIII Trinitatis, 25. August. Aus Thren. V. 15. 16. 17. Die Krone unsers Haupts ist abgefallen etc. In dortiger Schloß- Capelle erkläret Von Antonio Brunsenio. Cölln an der Spree: Liebpert, 1689. HAB Signatur: S: Alv.: Nh 228 (4). 35 Vgl.: Unterthänigster Zuruff/ Über Des Durchläuchtigsten und Großmächtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Friederich Wilhelmen/ Marggrafen zu Brandenburg/ Des H. R. Reichs Ertzkämmerern und Churfürsten/ […] Höchst-erfreulichen Gebuhrts- und zugleich Sr. Churfl. Durchleuchtigkeit Hochgeliebten Gemahlinn/ Der Durchleuchtigsten Fürstinn und Frauen/ Frauen Dorotheen/ Marggräfinn und Churfürstinn zu Brandenburg/ […] Nahmens-Tag/ Welcher den 6/16 Februar. dieses 1678sten Jahres glükklich wieder einfiel/ In tieffster Demuht geschrieben und überschikket von M. Joh. Rölingen/ P.P.I.Z. der Academie Rectore. Königs- berg Gedruckt durch Friedrich Reusnern/ Churfl. Br. Pr. Bestalten Hof-und Acad. Buchdr. In: Johann Roelings der Dicht-Kunst ordentlichen Lehrers zu Königs- berg Glückwünschungs- Hochzeits- und Begräbniß-Gedichte, gesammlet von I.I.S. Staatsbibliothek, Berlin Signatur: 4 Yi 7100 R (6); Demüttigster Glücks- Wunsch über Des Durchläuchtigsten/ und Großmächtigsten Fürsten/ und Herrn/ Herrn Friedrich Wilhelm/ Marggrafen zu Brandenburg/ Des Heil. Röm. Reichs Ertz-Cämmerern/ und Chur-Fürsten/ […] Meines gnädigsten Churfürsten und Herrn/ Höchsterfreulichen Geburts- Und Sr. Churfürstl. Durchl. hochgeliebten Gemahlin/ Der Durchläuchtigsten Fürstin/ und Frauen/ Frauen Dorotheen/ Marg- gräffin und Churfürstin zu Brandenburg/ […] Meiner gnädigsten Churfürstin und

Chloe 43 Höfische Trauer 295

Namenstag Dorotheas fielen auf den gleichen Tag, was dazu führte, dass der Kurfürst und die Kurfürstin im gleichen Gedicht gefeiert wurden. Die Verherrlichung des Großen Kurfürsten nimmt zwar den größten Raum ein, aber das Image Dorotheas als Landesmutter, die durch ihre Schönheit und Fruchtbarkeit kennzeichnet ist, tritt wieder- holt hervor. Betont wird auch die glückliche Liebe des Paares, die als Zeichen des Wohls des Herrscherhauses und die damit verbundene Stärke des Staates verstanden wird. Ein ganz anderes Image von Do- rothea geht aber aus der Trauerlyrik auf Friedrich Wilhelms Tod im Jahre 1688 hervor. In Johann von Bessers Die am Begräbniß-Tage Ih- res Grossen Friedrich Wilhelms Wehklagende Durchlauchtigste Do- rothee, einem Gedicht von über 70 Alexandrinern, spricht eine von Trauer überfallene Dorothea, die den Wunsch nach ihrem eigenen Tod äußert und gelobt, das Gedächtnis ihres Mannes im eigenen Herzen zu tragen; sie wird somit zum “lebendig[en] Grab”.36 Dadurch wird Doro- thea mit der antiken Witwe Artemisia gleichgesetzt, die nicht nur ein Königsgrabmal für ihren Mann Mausolos errichten ließ, sondern auch

Frauen/ Beglückten Nahmenstag Welcher den 6/16 Febr. dieses 1681sten Jahres Höchstfeyerlichst begangen ward Unter allgemeiner Freude demütigst geschrie- ben von Gertraut Eiflerin/ verwittibten Mollerin. Königsberg/ Gedruckt bey den Reusnerischen Erben; Demüttigster Glückes-Wunsch/ Welchen über Des Durch- lauchtigsten/ Großmächtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Friedrich Wilhelmen/ Marggraffen zu Brandenburg/ Des Heil. Röm. Reichs Ertz-Cämmerern und Chur- Fürsten/ in Preussen […] Meines Allergnädigsten Chur-Fürsten und Herrn Höchsterfreulichen Geburts- Und Seiner Churfürstlichen Durchlauchtigkeit hochgeliebten Gemahlin/ Der Durchlauchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen Do- rothea/ Marggräfin und Chur-Fürstin zu Brandenburg/ […] Meiner Allergnä- digsten Chur-Fürstin und Frauen/ Beglückten Nahmens-Tag/ Als diese den 6/16 Febr. itzigen 1687. Jahres in alle derer Churf. Durchl. Unterthänigsten Landen/ höchstfeyerlich begangen wurden/ In aller Unterthänigkeit beygetragen Gertraud Möllerin Königsberg/ Gedruckt bey den Reusnerischen Erben. In: Der berühmten Preußischen Poetin, Frauen Gertrud Möllerin; bey verschiedener Gelegenheit verfertigte Gedichte; gesammlet von i.i.s. Staatsbibliothek, Berlin Signatur: 4” Yi 7100 R (2, 4). 36 Johann von Besser: Des Herrn von Besser Schrifften, Beydes In gebundener und ungebundener Rede; Erster Theil. Ausser des Verfassers eigenen Verbesserun- gen, mit vielen seiner noch nie gedruckten Stücke und neuen Kupfern, Nebst des- sen Leben Und einem Vorberichte ausgefertiget von Johann Ulrich König. Sr. Kön. Majest. in Pohlen und Chur-Fürstl. Durchl. zu Sachsen geheimen Secretar und Hof-Poeten. Leipzig: Gleditsch, 1732, S. 217-219, hier S. 219. Neudruck: Johann von Besser: Schrifften in gebundener und ungebundener Rede. Hrsg. von Knut Kiesant. Bearb. von Andreas Keller. Heidelberg 2009 (= J. v. Besser. Schriften Bd. 1), S. XX

Chloe 43 296 Sara Smart seine Asche trank, um damit selbst zu seinem Grab zu werden. Galt Artemisia als die ideale Witwe, so gehörte “das Artemisia-Thema” zur Panegyrik, die an die königliche oder fürstliche Witwe adressiert war.37 Knut Kiesant hat aber schon darauf hingewiesen, dass man mit ei- ner Analyse der Rhetorik der Trauer allein der Bedeutung dieses Ge- dichts nicht gerecht wird, und hat auf dessen ‘politische Brisanz’ auf- merksam gemacht.38 Über die Spannungen am Berliner Hofe in den letzten Lebensjahren des Großen Kurfürsten und die schlechten Be- ziehungen zwischen dem Kurprinzen Friedrich und Dorothea, seiner Stiefmutter, ist viel geschrieben worden. Er verdächtigte sie der Ver- giftung seines Bruders Ludwig, der 1687 starb. Dies führte dazu, dass Friedrich und seine zweite Frau, Sophie Charlotte von Hannover, ihre sogenannte ‘Flucht’ ergriffen und sechs Monate lang von Berlin fern- blieben.39 Dorothea hatte sich für die Interessen ihrer eigenen vier Söhne eingesetzt und unter ihrem Einfluss entstanden die ‘privaten’ Testamente Friedrich Wilhelms,40 vor allem das Testament von 1686, wonach Friedrichs Stiefbrüder mit Fürstentümern und Ämtern ausge- stattet werden sollten, was für Friedrich die Gefahr einer “Zerstörung des […] Staatswesens” mit sich brachte.41 Für ihn galt es, Dorotheas Plänen entgegenzuwirken und das Testament anzufechten. Eine seiner ersten Leistungen als Kurfürst war es, die “Staatsteilungsprojekte” seines Vaters rückgängig zu machen – das Testament wurde für un- gültig erklärt.42 Mit seinen Stiefbrüdern nahm er Verhandlungen über eine Entschädigung auf, die 1692 abgeschlossen wurden.43 Bessers Gedicht bezieht sich auf diese gespannte Lage am Hofe. Vor diesem

37 Bepler, Kümmel, Meise (s. Anm. 4), S. 464. 38 Knut Kiesant: Hof und Literatur in Brandenburg-Preußen in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zur Bedeutung der Casuallyrik. In: Das Berliner Modell der Mitt- leren Deutschen Literatur: Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.09.-01.10.1997. Hrsg. von Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Jörg Jungmayr, Knut Kiesant. Amsterdam 2000 (= Chloe 33), S. 299-323, hier S. 322. 39 Werner Schmidt: Friedrich I. Kurfürst von Brandenburg König in Preußen. Mün- chen 1996, S. 76. 40 Heinrich (s. Anm. 11), S. 125. 41 Schmidt (s. Anm. 39), S. 86. 42 Wolfgang Neugebauer: Friedrich III./I. (1688-1713). In: Preußens Herrscher: Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II. Hrsg. von Frank-Lothar Kroll. München 2000, S. 113-133, hier S. 114. 43 Vgl. Schmidt (s. Anm. 39), S. 87; Heinrich (s. Anm. 11), S. 128.

Chloe 43 Höfische Trauer 297

Hintergrund wird es klar, dass der erklärte Todeswunsch als Doro- theas politischer Rückzug vor der Autorität des neuen Kurfürsten ge- deutet werden kann. Diese These wird unterstützt, wenn man den Rahmen, in dem man Bessers Gedicht zuerst druckte, in Betracht zieht. Obwohl das Gedicht in verschiedenen Ausgaben von Bessers Werken nachgedruckt wurde, erschien es zuerst 1688 in Friedrich Wilhelms Funeralwerk, Davids Des Königs in Israel Heilige Fürbereitung zum Tode/ und kräfftige Ansprach an seinen Sohn und Nachfolger Salomo.44 Dieser umfang- reiche Prachtband wurde von Friedrich in Auftrag gegeben und enthält unter anderem eine Beschreibung des Todes, in der auf den Abschied des sterbenden Kurfürsten von seiner Familie eingegangen wird, einen Lebenslauf, einen Bericht über den langen feierlichen Leichenzug, der am 12. September 1688 in Cölln stattfand, und eine Serie von auf- wendigen, detaillierten Kupferstichen, die die für die Bestattung auf- gerichtete Ehrenpforte und den Leichenzug abbildet. Das Zeremoniell verlangte, dass alle Trauernden zu Fuß gingen. Auf die männlichen Mitglieder der kurfürstlichen Familie, die alle schwarze Trauerschleier trugen, folgten die weiß gekleideten fürstlichen Frauen, an deren Spitze Dorothea – in ihre Trauergewänder gehüllt – stand. Ob diese Darstellung “eher der Utopie des Ereignisses als dessen Realität ver- pflichtet” ist, lässt sich nicht feststellen.45 Sicher ist, dass sich Fried-

44 Davids Des Königs in Israel Heilige Fürbereitung zum Tode/ und kräfftige An- sprach an seinen Sohn und Nachfolger Salomo/ Betrachtet Bey dem höchstbe- trübten Todes-Fall/ Des weyland Durchlauchtigsten/ Großmächtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Friderich Wilhelmen Marggrafen zu Brandenburg/ des Heil. Röm. Reichs Ertz-Cämmerer und Churfürsten […] Nachdem Seine Churfl. Durchl. am 29. April dieses 1688sten Jahres/ auf Dero Churfürstl. Schloß Pots- tamb/ unter vielen tausend Thränen Hoher und Niedriger Anwesenden/ diese Welt gesegnet/ und im lebendigen Glauben auf das eintzige Versöhn-Opfer Chri- sti am Creutz vollbracht/ GOtt Ihre Seele auffgeopffert/ und den 12. Septemb. Dero Churfürstl. Cörper im hohen und herrlichen Gefolge zu Dero Ruhe-Kam- mer und Churfürstlicher Gruft begleitet worden. Bey höchst- und hoch-ansehnli- cher Versamlung/ auf gnädigsten Special-Befehl Des auch Durchlauchtigsten/ Großmächtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Friderich des Dritten/ Marggrafen und Churfürsten zu Brandenburg/ etc. etc. etc. In einer Leich-Predigt bey dieser hohen Churfürstlichen Beerdigung/ aus dem ersten Buch der Könige Cap. III. v. I.-II. fürgestellet/ und auf gnädigste Verordnung zum Druck übergeben/ Von Christiano Cochio, Churfürstl. Brandenb. Hof-Predigern zu Berlin. Cölln an der Spree: Liebpert, 1688. Staatsbibliothek, Berlin Signatur: 2 St 9556 R. 45 Bepler, Kümmel, Meise (s. Anm. 4), S. 442.

Chloe 43 298 Sara Smart rich der repräsentativen Bedeutung des Funeralwerks durchaus be- wusst war und dessen Potential ausnützen wollte. Dieser großartige Druck ist ein Vehikel seines dynastischen Ehrgeizes. Aber nicht nur das. Bessers Wehklagende Dorothee wird vor der Stichfolge platziert. So gesehen wirkt das Gedicht als Kommentar zu Dorotheas letztem Auftritt als erster Frau am Hofe. Wie aus dem Titel des Funeralwerks hervorgeht, wird Friedrich Wilhelm als der zweite David und Friedrich als der neue Salomo stili- siert, was die Auserwähltheit Friedrichs als den gottgewollten Nach- folger seines Vaters hervorhebt. Die Stilisierung Dorotheas dient ei- nem ganz anderen Zweck. In der Beschreibung des Sterbebettes wird sie mit der verwitweten Naemi, der Schwiegermutter Ruths, vergli- chen, ein Gleichnis, das Besser im ersten Vers seines Gedichts wieder aufgreift. Wie Naemi (Rt. 20), klagt Dorothea über das “unerbittliche […] Verhängnis”, das ihr Gott auferlegt hat. Durch diesen Anklang an die Bibelstelle wird Dorothea mit der alten, unfruchtbaren Witwe (Rt. 11-12) identifiziert. Diese Darstellung wird amplifiziert, indem auf die äußere Erscheinung von Bessers Dorothea, auf den physischen Kör- per, eingegangen wird. Dieser Körper zeichnet sich durch seine Mat- tigkeit aus. Die Witwe hat einen “welcken Leib”, der “von Ohnmacht, Hertzeleyd und Angst […] abgefressen” wird (Wehklagende Doro- thee, V. 14 & 19). Obwohl es in anderen Herrscherhäusern üblich war, die ehemalige Fruchtbarkeit der fürstlichen Witwe zu würdigen,46 ist es in diesem Gedicht so, dass die Darstellung der erschöpften Doro- thea ihre vorige Identität als Landesmutter und Mutter ausschließt. Vergleicht man dieses Werk mit anderen Gedichten Bessers, die ein paar Jahre früher verfasst wurden, so fällt auf, dass sie auf Dorotheas physische Stärke hindeuten, die auf ihrer bekannten Bereitschaft, ihren Mann auf seinen Feldzügen zu begleiten, basierte. Deswegen feiert er sie als die zweite Judith und preist ihr “Löwen-Hertz”.47 Als Besser

46 Bepler, Kümmel, Meise (s. Anm. 4), S. 454. 47 Vgl.: Glückseeligkeit der Brandenburgischen Unterthanen. Bey der Magdeburgi- schen Erb-Huldiging, welche Sr. Churfürsl. Durchl. Friedrich Wilhelm dem Gro- ßen den 4. Junii 1681. in Halle geleistet ward; Brandenburgischer Glücks-Löwe, Oder der Geburts-Stern Sr. Churfürstl. Durchl. Friedrich Wilhelms des Grossen, dem Stein-Bocke des Käyser Augusts entgegen gesetzet und vorgezogen, den 6. Febr. Anno 1684. da Se. Churfl. Durchl. nach glücklich überstandenem grossen Stuffen-Jahre allbereits dero 65sten Geburts-Tag erlebet hatten. In: Johann von Besser: Des Herrn von B. Schrifften, Beydes in gebundener und ungebundener Rede; So viel man derer, Theils aus ihrem ehemahligen Drucke, theils aus guter

Chloe 43 Höfische Trauer 299

1680 zuerst am Berliner Hof ankam, war er selbstverständlich bemüht, die Gunst des Kurfürsten zu gewinnen, was ihm – zum Teil dank sei- ner Kasualia – auch gelang. Mit dem Regierungswechsel war er auf die Förderung Friedrichs angewiesen, um seine weitere Karriere am Hofe zu sichern. Daraus lässt sich schließen, dass Bessers Inszenie- rung von Dorotheas Person den Wünschen seines neuen Herrn entge- genkam. Dass in der Wehklagenden Dorothee jeglicher Hinweis auf ihre Rolle als Landesmutter oder als Kampfgefährtin fehlt, kommt ei- ner Ausblendung ihrer offiziellen Identität gleich, wohl ein Zeichen dafür, dass Friedrich Dorotheas Autorität am Hofe nicht mehr dulden wollte. Bessers Stilisierung der trauernden Witwe trägt noch weiter dazu bei, Dorotheas Verlust der Autorität vor Augen zu führen. Im Gedicht verzichtet Dorothea freiwillig auf ihren fürstlichen Rang. Ihre Trauer ist von einer solchen Intensität, dass sie sich entschließt, der Welt zu entsagen:

Ich will mich aus der Welt/ mit dieser Leiche/ tragen; Mein Leben soll nichts seyn/ den ein verlängtes Klagen. Den Purpur werff Ich heut/ zu Ihm in dessen Grab; Und sterbe/ wie Er stirbt/ der gantzen Erde ab. (Wehklagende Dorothee, V. 49-52)

Um sich ausschließlich dem Gedächtnis des Verstorbenen zu widmen, verabschiedet sich die Witwe auch von ihren Kindern:

Ihr Zeugen meiner Eh/ Ihr Printzen und Printzessen; Auch Euch/ muß ich nunmehr/ bey diesem Fall/ vergessen! (Wehklagende Dorothee, V. 61-62)

Die höfische Öffentlichkeit, für die dieses Gedicht bestimmt war, wird kaum die dynastische Bedeutung dieser Zeilen überhört haben. Sie verweisen auf Friedrichs Entschlossenheit, sich selbst als Sieger und Dorothea als Besiegte aus dem Kampf um die Interessen der Kinder hervorgehen zu lassen. Dieser Niederlage kann man in ihrem Lebens- lauf nachspüren. Der Schluss berichtet von Dorotheas Abreise von Berlin, bevor sie einige Monate später in Karlsbad starb. Betont wird

Freunde schrifftlichen Communication, zusammen bringen können. Andere Auflage. Leipzig: Gleditsch, 1720. S. 3-16, hier S. 4 u. S. 12. Neudruck: S. Anm. 36, S. XX.

Chloe 43 300 Sara Smart ihre Gewissheit, dass sie Berlin nie wiedersehen würde. Für die kur- fürstliche Witwe, die ihren Einfluss eingebüßt hatte, bedeutete der Tod im Ausland ein Eingeständnis ihrer Machtlosigkeit. Was die nun- mehrige dynastische Politik – wie auch Rhetorik – betraf, war die un- beliebte Stiefmutter eine problematische Figur, was vielleicht erklärt, warum in ihrem Funeralwerk Epicedien, die ihren Beitrag zum Herr- scherhaus feiern, fehlen. Es sei zum Schluss bemerkt, dass Friedrich auf den frühen Tod So- phie Charlottes im Jahre 1705 ein weiteres repräsentatives Funeral- werk mit einer prächtigen Stichfolge in Auftrag gab.48 Dies enthält Bessers bekanntes Epicedium An Se. Königl. Majestät von Preussen/ Über dem Absterben Ihrer allervollkommensten Gemahlinn, Königinn Sophie Charlotte. Obwohl Besser die Normen der fürstlichen Epice- diendichtung befolgt, hebt sich seine Darstellung Sophie Charlottes von der Behandlung von Friedrichs eigener Mutter auf markante Weise ab. Während sich Stechow und Kempe nicht mit dem Aussehen Luise Henriettes beschäftigen, ruft Besser die physische Erscheinung Sophie Charlottes, und zwar am Tag ihrer Krönung, wiederholt her- vor. Er betont ihre Pracht und Schönheit, macht auf ihre königlichen Gewänder und die Krone aufmerksam. So gesehen dient das Epice- dium der Verherrlichung der erst vier Jahre früher erlangten Königs- würde. Neue Akzente werden auch in Bessers Behandlung der Attri- bute der Fürstin deutlich. Erwartungsgemäß preist er Sophie Charlot- tes Gottesfurcht und geht auch auf die Tätigkeitsbereiche der Königin ein, betont aber nicht ihre Armenpflege, sondern ihren Kunstverstand, der sich vor allem in den Sälen und Gärten Charlottenburgs zeigt. Er

48 Christ-Königliches Trauer- Und Ehren-Gedächtnüs/ Der Weyland Allerdurch- lauchtigsten Großmächtigsten Fürstin und Frauen Frauen Sophien Charlotten/ Königin in Preussen/ Marggräffin und Churfürstin zu Brandenburg/ Souverainen Printzeßin von Oranien/ zu Magdeburg, Cleve, Jülich, Berge, Stettin, Pommern, der Cassuben und Wenden, auch in Schlesien zu Crossen Hertzogin, Burggräffin zu Nürnberg, Fürstin zu Halberstadt, Minden und Camin, Gräffin zu Hohenzol- lern, Ruppin, der Marck, Ravensberg, Hohenstein, Lingen, Moers, Bühren und Lehrdam, Marquisin zu der Vehre und Vlißingen, Frauen zu Ravenstein, der Lande Lauenburg und Bütow, auch Arlay und Breda, gebohrne Printzeßin aus dem Königl. Groß-Britannischen und Chur-Fürstl. Stamm der Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburg etc. etc. etc. Als dieselbe am I. Febr. 1705. zu Han- nover höchstseeligst in dem HErrn entschlaffen. Und Darauf den 28. Junii, mit Königl. Solennitäten in die Königl. und Chur-fürstliche Grufft der Dohm-Kirche in Berlin beygesetzet worden. Zu Dero Unsterblichem Nach-Ruhm aufgerichtet. Cölln an der Spree: Liebpert, 1705. HAB Signatur: Gm 2º 54.

Chloe 43 Höfische Trauer 301 verweist auch auf ihr Interesse an den Wissenschaften und anderen Kulturen, auf ihre Beherrschung von Fremdsprachen und ihre Freude am Gespräch. Hier wird ein Paradigmenwechsel deutlich. Anstelle des Bildes der frommen Landesmutter tritt ein ganz anderes Ideal hervor – ein urbanes, intellektuelles und geselliges. Die Fürstin wird zum kul- turellen Leitbild, die statt in ihrer Frömmigkeit gerade in ihrer Welt- gewandtheit die Macht ihres Mannes und die Bedeutung seines Hofes symbolisieren soll.

Chloe 43

H e l g a M e i s e

‘PRIVATE GELEGENHEIT’? Die Poesie Ludwigs VI. von Hessen-Darmstadt (1630-1678) zwischen Gelehrsamkeit, Repräsentation und Subjektivität

Ludwig VI. von Hessen-Darmstadt (1630-1678) ist das erstgeborene von insgesamt fünfzehn Kindern, drei Söhnen und zwölf Töchtern, der aus allianzpolitischen Gründen geschlossenen, aber offensichtlich glücklichen Verbindung des Landgrafen Georg II. von Hessen-Darm- stadt (1605-1661) mit Sophia Eleonora Herzogin von Sachsen (1609- 1671). Politische und private Einschnitte kommen im Leben des Landgrafen nur selten zur Deckung. Er verheiratet sich 1650 mit Ma- ria Elisabeth Herzogin von Schleswig-Holstein-Gottorf (1634-1665), seiner Kusine mütterlicherseits, mit der er sich noch auf der Kavaliers- tour verlobt hatte, muss aber in den folgenden elf Jahren mit der Posi- tion des Thronfolgers vorlieb nehmen. Der Landgraf kann nach dem plötzlichen Tod des Vaters 1661 die Regentschaft übernehmen, ver- liert aber nur vier Jahre darauf die Gemahlin. Im Zuge einer Reise, die ihn noch einmal nach Holstein, Dänemark und Schweden sowie in die Niederlande und nach Sachsen führt, schließt Ludwig VI. 1666 eine zweite Ehe. Er heiratet Elisabeth Dorothea Herzogin von Sachsen- Gotha (1640-1709), die älteste Tochter Ernsts I. von Sachsen-Gotha, gen. der Fromme (1601-1675). Nach Darmstadt zurückgekehrt, führt Ludwig die Regierung bis zu seinem Tod im Jahre 1678.1 Der Landgraf erhält, zumal als Regent in spe, eine sorgfältige Erziehung. Die Leichenpredigt auf den Verstorbenen unterstreicht die “stattliche progressus”, die er ab dem 12. Lebensjahr “In Studio lin- guarum et artium”2 gemacht, und die “sehr gute fundamenta”, die er

1 Vgl. im einzelnen Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfi- sche Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624-1789. Darmstadt 2002 (= Arbei- ten der Hessischen Historischen Kommission N.F. 21), S. 208-346. 2 Höchst-verdiente Ehren-Seul. Auff beständiges Harren und glücklich-vollbrach- ten Streit Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Ludwigen dem Sech-

Chloe 43 304 Helga Meise ab dem 13. Lebensjahr in den “studia humaniora” erworben habe ebenso wie in “Logica, Rhetorica, Geographia, Ethica, Politica, dem Studio Mathematica, und in Historicis […] wie auch in iure civili, feudali & publico und darbeneben [in der, H. M.] Italianischen Spra- che”.3 Ludwig selbst notiert in den Schreibkalendern, die er 1642 über den Beginn seiner Unterweisung in der Gelehrsamkeit sowie 1649 über den Verlauf seiner Kavalierstour führt, dass er Gedichte schreibt.4 Allein die Darmstädter Überlieferung bezeugt, dass das Verfassen von Gedichten fortan fester Bestandteil seiner Lebensführung bleibt.5 Vor diesem Hintergrund fragt mein Beitrag nach den Funktionszu- sammenhängen, in die der Landgraf seine Dichtung stellt. In einem er- sten Teil stelle ich die poetische Produktion Ludwigs im Überblick vor. Die zwei folgenden Abschnitte stellen die Neudefinition der Funktionszusammenhänge dar, die Ludwig anlässlich des Todes der ersten Gemahlin sowie seiner zweiten Eheschließung vornimmt. Die poetische Produktion des Landgrafen, so zeigt sich, hat die Subjektivi- tät ihres Verfassers immer im Blick. Setzt dies beim Tod der Gemah- lin die Repraesentatio maiestatis, mit der der Fürst die Legitimität sei- ner Herrschaft demonstriert und bekräftigt, außer Kraft, wird diese nach der neuerlichen Vermählung wieder in ihr Recht gesetzt, aber durch die nunmehr explizite Selbstdarstellung als Melancholiker und als ‘poeta doctus’ gleich doppelt unterlaufen. Die Poesie wird als eige- ne Wirkmacht etabliert, neben der überkommenen höfischen Ästhetik.

sten/ Landgrafen zu Hessen/ Fürsten zu Hersfeld/ Grafen zu Catzenelnbogen/ Dietz/ Ziegenhain/ Nidda/ Schauenburg/ Ysenburg und Büdingen &. Als Welcher nach dem allein weisen Rath und Willen des höchsten Gottes und nach vielen außgestandenen Mühseligkeiten dieses Jammer-vollen Lebens den 24. April des 1678ten Jahrs zwischen 1. und 2. Uhr nach Mittag durch einen längst wohl vorbereiteten sanftt und seligsten Abschied dieses Zeitliche gesegnet. Zu immerwehrenden Ehren-Andencken In Beständiger Auffrichtigkeit und Auffrich- tiger Beständigkeit/ Auffgerichtet Von Der Durchleuchtigsten Fürstin und Frauen/ Frauen Elisabethen Dorotheen/ Landgräfin zu Hessen/ Fürstin zu Hers- feld/ gebohrne Hertzogin zu Sachsen/ Gülich/ Cleve und Berg &. Gräfin zu Catzenelnbogen/ Dietz/ Ziegenhain/ Nidda/ Schauenburg/ Ysenburg und Büdin- gen &. Wittib/ Vormünderin und Regentin &. Darmbstadt/ Gedruckt bey Hen- ning Müllern/ Fürstl. Buchdrucker/ Im Jahr Christi 1682, S. 20. 3 Ebd. 4 Vgl. Meise (s. Anm. 1), S. 210-227. 5 Meise (s. Anm. 1), S. 274-276.

Chloe 43 ‘Private Gelegenheit’? 305

1. Die Poesie Ludwigs 1643-1677

Dass er dichtet, stellt der Landgraf selbst aus, nicht nur in Hessen- Darmstadt, sondern auch in der höfischen Öffentlichkeit. Während sein Agieren als ‘Inventor’ und Verfasser im Zusammenhang der Ballette und Freuden-Spiele, die von 1650 bis 16586 sowie von 1667- 1677 an den Höfen Gottorf, Dresden und Darmstadt7 zur Aufführung kommen, zunächst hinter den Auftritten als Tänzer und Darsteller zu- rückbleibt, um zuletzt ganz in den Hintergrund zu treten, ist seine po- etische Tätigkeit in Publikationen aus den Jahren 1658, 1665, 1668, 1669 und 1682 direkt fassbar. Da sind zuerst die zwei Widmungsge- dichte, die der Landgraf seinem Psalter Deß Königlichen Propheten Davids, der 1658 beim Buchdrucker der Landesuniversität erscheint,8 voranstellt. Während der Verfassername im Titel fehlt, legen beide Gedichte seine Verfasserschaft ausführlich dar.9 Da ist sodann 1661, drei Monate nach dem Antritt der Regierung, seine Aufnahme in die ‘Fruchtbringende Gesellschaft’, die größte und einflussreichste Sprachgesellschaft im deutschen Sprachraum. Auch wenn Georg Neumarks Neusprossender Teutscher Palmbaum erst 166810 die

6 Meise (s. Anm. 1), S. 241-259. 7 Meise (s. Anm. 1), S. 317-346, vgl. unten, Teil III. 8 [Hessen-Darmstadt, Ludwig VI. von]: Der Psalter Deß Königlichen Propheten Davids: In Teutsche Reimen der Opitianischen Art gemäß/ verfasset. Darinnen So viel der Reimen wegen thunlich gewesen/ sich immer an den Text gehalten/ und dessen Worte meistentheils gebraucht worden. Zu Gottes Ehren Und Christ- licher Übung der Gottseligkeit heraus gelassen und an das Licht gegeben. Coloß. 3. vers. 16. Lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen/ und Geistlichen lieblichen Liedern. Gedruckt zu Giessen/ Bey Joseph Dieterich Ham- peln/ der Löblichen Universität Besteltem Buchtrucker. Im Jahr M. DC. LVII. 9 Ebd., unpag. Ludwig beginnt mit der Abfassung des ‘Psalter’ auf der Kavaliers- tour 1649/50 auf dem Rückweg aus Italien. Daß sie sich bis 1656 hinstreckte, belegt sein Manuskript: “Ende der 150 Psalmen Davids zu Darmstatt geschloßen den 26t. 8br. ao. 1656.” Zu Verfasserschaft und Entstehungsgeschichte vgl. Meise (s. Anm. 1), S. 278. 10 Ludwig wählt als Gesellschaftsnamen “Der Unerschrokkene”, als Pflanze “Holtz Mangold” und als Beiwort “Vor Hitz und Kälte”. : Der Neu- Sprossende Teutsche Palmbaum. Oder Ausführlicher Bericht Von der Hochlöbli- chen Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang/ Absehen/ Satz/ Eigenschaft und deroselben Fortpflanzung mit schönen Kupfern ausgeziehret/ samt einem voll- kommenen Verzeichnüß/ aller/ dieses Palmen-Ordens Mitglieder Derer Nahmen/ Gewächsen und Worten hervorgegeben von dem Sprossenden. Nachdruck der

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Zugehörigkeit des Landgrafen offiziell publik macht, ist diese den Ge- sellschaftsmitgliedern mit dem Tag der Aufnahme bekannt. Ludwig selbst hatte bereits 1665 erstmals eigene Gedichte im Druck zugäng- lich gemacht, und zwar in der von ihm herausgegebenen Leichenpre- digt für seine erste Gemahlin.11 Der Vorgang wiederholt sich 1669 und 1678: Gedichte des Landgrafen erscheinen in der Leichenpredigt auf seinen Freund, den Grafen Georg Ernst von Erbach (1629-1669),12 so- wie in der Leichenpredigt auf ihn selbst, die seine Witwe Elisabeth Dorothea herausgibt.13 Wie allein die in Darmstadt aufbewahrten Quellen belegen, setzt die poetische Tätigkeit Ludwigs 1643 ein. Das Korpus der gedruckt und handschriftlich überlieferten Zeugnisse umfasst ungefähr 100 Texte.14 Hinzu kommt der Psalter Deß Königlichen Propheten Davids, der außer den zwei Widmungsgedichten ein Gedicht auf jeden der 150 Psalmen enthält.15 Zu Lebzeiten des Landgrafen werden lediglich der Psalter und elf weitere Gedichte gedruckt; etwa zehn Gedichte, von denen Ludwig oder andere Quellen berichten, scheinen nicht erhal- ten.16 Folgt man den erkennbaren Anlässen sowie den Vermerken des Verfassers zu Ort und Umständen der Niederschrift, dürfte weit über die Hälfte der Gedichte nach dem Tod Maria Elisabeths, der ersten Gemahlin Ludwigs, verfasst worden sein. Dem Ereignis sind allein 22 Gedichte gewidmet; das Datum, der 17.6.1665, wird immer wieder eigens thematisiert, weil es mit dem Verlobungstag 1749 zusammen- fällt. Insgesamt sind 18 Gedichte der geistlichen, die übrigen der welt- lichen Poesie zuzurechnen. 28 Epicedien stehen zwei Genethliaca ge- genüber; der Tod ist gleichsam omnipräsent. Neun Gedichte widmen sich der Schäfer- und Liebesthematik, zwei von ihnen wenden sich an Elisabeth Dorothea, die zweite Gemahlin. Drei Gedichte behandeln

Erstausgabe Weimar 1668 Hrsg. von Martin Bircher. München 1970 (= Die Fruchtbringende Gesellschaft. Quellen und Dokumente 3), S. 414. 11 Fürstlich Hessen-Holsteinisches Ehren-Gedächtnüß Auffgesetzt und Gedruckt Zu Darmstadt Im Jahr 1665, Tafel 5, vgl. unten, Teil II. 12 Johann Philippus Greineisen: Gloriosum invictissimae vitae devictae, que mortis monumentum. Darmstadt 1669, S. 111 f. 13 Ehren-Seul (s. Anm. 2), Tafeln VI und VII, S. 11-17, vgl. unten, Teil II. 14 Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (HStAD) D 4 Nr. 251/4-6, vgl. auch Meise (s. Anm. 1), S. 275 f. 15 S. Anm. 8. 16 Meise (s. Anm. 1), S. 275 f.

Chloe 43 ‘Private Gelegenheit’? 307 die Freundschaft. Titel sind eher selten; mehrfach fallen Titel und Formbezeichnung in eins. Das Spektrum der Formen und Metren ist breit, wie drei willkürlich herausgegriffene Beispiele belegen. Das Epicedium Verlangte Wilhelmsburg, verfasst zum Tode Wilhelms IV. von Sachsen-Weimar (1598-1662), von 1651-1662 Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft, steht im Kontext der eigenen Auf- nahme in die Gesellschaft.

Verlangte Wilhelmsburg nun hab ich dich erlanget Wo aber ist dein Fürst? dein trewer Wilhelm hin? Den ich verlanget hab mit hochst verlangdem Sinn Von welches Nahmen nur das gantze Weymar pranget? O! Weh! ich bin zu spat vor dißmahl angelanget Dan dein wohl trewer Fürst dein Wilhelm ist dahin Er lebet zwar nicht mehr, doch auch mein gantzer Sinn Von seim Gedachtniß recht vergnüget annoch pranget Von dem gantz Weymar ist erfüllt biß oben an Ja davon Wilhelmsburg den Ruhm noch zeigen kan Fahr trewer Wilhelm wohl! Ich will nicht erst anfangen Zu preisen deinen Geist, Dan ichs vorlengst gethan Doch seh ich deine Werck noch fast neustaunend an Ob gleich du nun bereits zur Himelßburg gegangen.17

Das Gedicht Darmstatt, den 8ten 8bris 1663 bezieht sich auf den Tod der Schwester Sophia Eleonora von Hessen-Homburg (1634-1663), verstorben bei ihrer 13. Niederkunft.

Darmstatt den 8ten 8bris. 1663. Ach mir ist ewig wohl! Was wolt ihr mich beklagen? Daß ich der schnöden Welt den Abschied wollen sagen, Ach gönnt mir meine Frewd, und seyet so bereit Daß ihr auch folgen könt, ein ieder zu der Zeit Die ihm vom Höchsten ist zu seinem Ziel gesetzet. Bedenckt wie inniglich sich meine Seel izt letzet Mit ihrem Brautigam, wie alles sie verlacht Was ihr vor Frewd von euch könt werden zugedacht. Bedenckt daß ich doch leb, ob ich gleich bin gestorben Stirbt schon der Leib, so ist die Seel doch nicht verdorben, Dieselbe lebet hier, da nichts als Leben ist Und ihr ist ewig wohl bey ihrem Jesu Christ.

17 HStAD D 4 Nr. 251/4.

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O ewig, ewig wohl! O ewig Wohlergehen! O könt nur eins von euch mit einem Einblick sehen Was ewig, ewig, sey, was ewig, ewig heiß, Ihr würdet mehr alß gern mir gönnen diese Reiß. Dan ewig, ewig, sein, und ewig, ewig, leben Das hat mir ewiglich der Ewige gegeben, Ich weis von keiner Zeit. Geht eure Zeit schon hin Bleib ich doch ewiglich die, die ich jezto bin.18

Das Gedicht Solche Phillis wie du bist gehört zur Liebes- und Schäfer- dichtung des Landgrafen:

[1] Solche Phillis wie du bist Soll ich dich mit Farben mahlen? Drum so will ich deine List Mit der Wahrheit wohl bezahlen Dieses sey vor deinen Hon Der schon längst verdiente Lohn. … [5] Durch das Rümpfen siehet man, Daß das Hauchen deiner Naßen Nichts alß lauter süßes Gifft Voller Falschheit auß zu blasen Und dieweil sie lang und breit Trifft sie auch zu zeiten weit.19

Das Gedicht bleibt unvollendet, gelangt es doch nur bis zu den “Wan- gen”:

[6] Deine Wangen zart und roth Sind dem Apfel zu vergleichen Als wan sie zerschnitten sein Man erst sieht die böße Zeichen.

18 HStAD D 4 Nr. 251/4. Ludwig hatte 1650 am Beilager seiner Schwester Sophia Eleonora mit dem Landgrafen Wilhelm Christoph von Hessen-Homburg (1625- 1681) teilgenommen. Von ihren 13 Kindern starben 9 bei der Geburt oder inner- halb der ersten Lebensmonate; lediglich ein Sohn und zwei Töchter erreichten das Erwachsenenalter, Carl Eduard Vehse: Die Höfe zu Hessen. Mit achtzehn zeitgenössischen Abbildungen. Ausgewählt, bearbeitet und herausgegeben von Wolfgang Schneider. Leipzig, Weimar 1991, S. 207. 19 HStAD D 4 Nr. 251/4.

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Und ist auch Gefahr darbey ob die Farb nathürlich sey.20

Ludwig, so zeigen die ersten beiden Beispiele, reagiert auf einschnei- dende Ereignisse und Erfahrungen mit dem Verfassen von Gedichten. Das letzte Gedicht, eher dem Antipetrarkismus zuzuordnen,21 lässt kei- nen Anlass erkennen, scheint aber auf die Wiederverheiratung zu ver- weisen. Zusammenfassend ist festzuhalten: 1. Der Landgraf produziert Texte für das höfische Festwesen, insbe- sondere für Ballette und Freuden-Spiele.22 2. Er verfasst geistliche und weltliche Poesie. Die im Zusammenhang mit dem Tod Maria Elisabeths entstehenden Gedichte belegen, dass Grenzen nicht eindeutig zu ziehen sind. 3. Chronologisch folgt weltliche auf geistliche Poesie. 4. Die Gedichte sind ‘autororientiert’, es besteht eine “Korrelation von Autorintention und Textsinn”.23 Die subjektive Verfassung des Verfas- sers wird thematisiert, ihr Anlass aber auch “ins Überindividuelle, Ty- pische”24 übersetzt. 5. Ludwig tritt selbst als Verfasser von Poesie in die Öffentlichkeit. In Anbetracht seiner sozialen Rolle ist sein Dichtertum ein Surplus. Ei- nes der “allgemeinen Merkmale der Gelegenheitsdichtung”, nämlich das “wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis von Produzent und Ad- ressat” und damit “das Interesse an gesellschaftlichem Aufstieg bzw. an Sicherung der gesellschaftlichen Position”,25 ist nicht gegeben. Das

20 HStAD D 4 Nr. 251/4. 21 Vgl. Jörg Jochen Berns: ‘Dies Bildnis ist bezaubernd schön’. Magie und Realistik höfischer Porträtkunst in der Frühen Neuzeit. In: Kultur zwischen Bürgertum und Volk. Hrsg. von Jutta Held. Berlin 1983 (= Argument-Sonderband 103), S. 44- 65. 22 Meise (s. Anm. 1), S. 324 ff. 23 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der Frühen Neuzeit. Bd. 1. Tübingen 1987, S. 36 f. 24 Jan-Dirk Müller: Nachwort. In: Martin Opitz. Gedichte. Eine Auswahl. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart 1970 (= rub 361-363), S. 196-213, hier S. 207. Vgl. auch Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977. 25 Claudia Stockinger: Kasuallyrik. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München 1999, S. 436-453, hier S. 437.

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“Interesse an Selbstdarstellung und Repräsentation”26 stellt sich zwangsläufig anders dar. 6. Der Adressatenbezug variiert. Gedichte, die sich an das eigene Ich wenden, stehen neben solchen, die dynastische und höfische Kreise ansprechen.

2. Poesie und ‘stilles Begräbnis’

Es ist unübersehbar, daß der Tod Maria Elisabeths am 17.6.1665 die poetische Produktion des Landgrafen geradezu freisetzt. Ludwig the- matisiert das Ereignis in immer neuen Gedichten. In insgesamt 16 Ge- dichten legt er die Namensinitialen M.E.L.Z.H. aus. Eine Gruppe von Gedichten thematisiert den Umstand, daß Verlobungs- und Todestag auf dasselbe Datum fallen:

Sonnet. Ach wie hatt mein Frewdentag sich zum Trawertag verkehret Dieser Tag der vormahls mir an die Seiten hat gestellt Das was ich am liebsten mir hatt erwehlet auf der Welt Eben sag ich dieser Tag hat mir nun mein Hertz versehret Daß es nunmehr uberall ist mit Trawrigkeit beschwehret Die es auch so lang es nur in mir ist bey sich behellt Weilen eben diesen Tag hat der Würger Todt gestellt Die, so alß mein ander Ich, ich hab bißdaher geehret Also eben was ich hab vormahls auf den Tag bekommen Eben solches hat der Tag mir itzund weggenommen Doch es ist zunicht der Tag der die Ursach hievon ist Gottes Hand ist in dem Spiel, der es also hat geschicket Drum ich mich hierinnen auch halten will alß wie ein Christ Wer Mirs Nam mit hinweg Nad [naht] Wieder Mich der Herr anblicket.27

Andere Gedichte beschäftigen sich mit dem eigenen Tod:

Sonnet. Meine Zeit ist nun dahin und es geht mit mir zum Ende Ja es wollen meine Sinnen mich verlaßen gantz und gar Und es ist auch mehr an deme daß man mich setzt uf die Bahr Drum Herr! ich nur meinen Geist dir befehl’ in deine Hände,

26 Ebd. 27 HStAD D 4 Nr. 251/6.

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Mache selber zu der Fahrt mich geschickt und von mir wende Was des Satans Grausamkeiten mir itzunder stellen dar Ach! Du wollest ja genädig meiner Seelen nehmen war Daß sie an dem Frewden-port der da ewig heist, anlande Ach wie trag ich doch Verlangen da zu leben wo du bist Wo vom Schlam der Eitelkeit ja wohl nichts zu sehen ist. Herr ich eyle, eyl’ auch du! Laß mich durch den Todt erwerben Was dein Sohn mir schon erworben, laß mich nur da gehen ein Wo ich bey ihm und zwar ewig werd (:Und nicht im Harren:) sein Trauter Heyland! hilf! ach! hilf! es geht mit mir zum Sterben.28

Hervorzuheben ist, dass der Landgraf angesichts der ihm bereits ver- trauten, im Zuge der Trauer um die Gemahlin aber verstärkten poeti- schen Auseinandersetzung mit dem Tod den nun entstehenden Ge- dichten eine neue Funktion zuweist: Ein Teil der Gedichte dient der Bewältigung von Trauer und Schmerz, der Rückversicherung im Glauben und der Reflexion auf die eigene seelische Verfasstheit. Sie bleiben privat. Ein anderer Teil wird in das bislang in Hessen-Darm- stadt öffentlich und mit allem Pomp begangene Zeremoniell des fürst- lichen Leichbegängnisses ‘injiziert’. Dies gilt zunächst für dieses Ge- dicht:

1. Sie liget in dem Sarg das was noch uberbliben Von meinem liebsten Hertz das ich so pfleg zu lieben, das Hertz, die Seel ist hin, der Schatten ist allein In diesem Zinngeheuß noch hier geschloßen ein. 2. Was soll ich aber thun was soll ich hiezu sagen? Ich werde den Verlust wohl lebenslang beklagen Ich werde nimmermehr vergeßen ihrer Trew Es sey denn daß ich nicht mehr im Leben sey. 3. Doch kan ich ihr dabey die Freude nicht mißgönnen Da Jesus sie ergetzt, ich muß sie glücklich nennen Denn ich die liebe Seel nicht einen Augenblick Auß solcher Süßigkeit nie wünschen will zurück. 4. So ruhe sanft und wohl biß daß dich wird erwecken Der, welcher mich iztund in Trawer wollen stecken Ergetze dich in Gott und bleib ewiglich vergnügt Alß eine Seel die nun dem Tod hat obgesiegt. 5. Zwar dein so liebes Bild werd ich stets vor mir haben Biß man mich auch eins wird an deine Seit begraben

28 HStAD D 4 Nr. 251/4, undatiert.

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Doch preiß ich Gottes Güth, der dich zu Ruh gebracht Und sage dir hiermit die letzte gute Nacht. Ludwig Landgraf Zu Heßen29

Die erste Niederschrift erfolgt mit Bleistift, die Durchnummerierung der Strophen mit Tinte. In Tinte festgehalten ist auch das Motto, das sich darunter findet: “Holstein lieget, doch wird Hessen Seines Hol- steins Nie vergeßen.”30 Das Gedicht ist in einer zweiten Abschrift überliefert, nun vollständig in Tinte geschrieben und mit einer Über- schrift versehen: Zu den Haupten. Darunter folgt unter der Überschrift Zu den Füßen31 ein weiteres Gedicht:

Du Benoni wer du bist noch im Mutterleib verschloßen Der auß Mangel Mutterkrafft du der Taufe nicht genoßen Dennoch bistu durch das Blut deines Jesus sündenfrey Wohnest Gott in seinem Licht schon mit allen Frewden bey. Ruhe biß an Jüngsten Tag da werd ich mit Frewden dich Sampt der Mutter dort bey Gott wiederfinden ewiglich.

Ludwig bestimmt, dass beide Gedichte auf dem Sarg der Verstorbenen bzw. in dem Grabgewölbe der Stadtkirche angebracht werden, und zwar “Zu den Haupten” und “Zu den Füßen”. Er nimmt, so könnte man sagen, die Epicediendichtung wörtlich: Er zielt nicht auf die Drucklegung der Epicedien, sondern umgekehrt auf deren Funktion als Begräbnisgedicht, als, so Krummacher, “inschriftartiges Epitaphi- um”.32 Gleichzeitig verfügt der Landgraf das “stille Begräbnis”33 in der Fürstengruft der Stadtkirche. Parallel dazu trifft er Vorkehrungen für den eigenen Tod. Seine Pläne reflektiert er erneut in Gedichten:

Ich habe, biß ich hab hier meine Zeit vollbracht Gar viel und offtermahl an meinen Tod gedacht

29 HStAD D 4 Nr. 251/6. 30 HStAD D 4 Nr. 251/6. 31 Beide Gedichte in schwarzer Tinte geschrieben ebenfalls in HStAD D 4 Nr. 251/6. 32 Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147, hier S. 105. 33 Vgl. Craig Koslowsky: Von der Schande zur Ehre. Nächtliche Begräbnisse im lutherischen Deutschland (1650-1700). In: Historische Anthropologie 5,3 (1997), S. 350-370.

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Drum ich bey Lebenszeit eh mich der Tod gefellt Mir meine Todenkist auch selber hab bestellt Hierinnen soll der Leib alß in der Todengrufft Sanfft ruhen biß ihn selbst sein Jesus wiederruft Da er dan frewdenvoll mit Clarheit schön gezihrt Mit seiner Seel vereint dort ewig leben wird.

Was du nur immer thust in dem gantzen Leben Da laße dir dein End vor Augen stetig schweben Das wird vor Sünden dich bewahren iederzeit Und zu der Todesstund auch machen recht bereit Dan nur an diesen Punct alles was du thust Wohl dir, bistu bereit, wan du nun sterben must.34

Wieder wird ihre Funktion bestimmt, sollen sie doch, wie die Gedich- te für seine Gemahlin, auf seinem Sarg befestigt werden. Gleichzeitig verfasst der Landgraf eine Verordnung/ Wie es nach meinem/ Land- graff Ludwigs zu Hessen/ in Gottes Handen stehenden Todt/ mit den benöthigsten Begräbnüß-Anstalten und sonsten/ gehalten werden soll. Der Text, der sich gleich zu Beginn der Ehren-Seul findet,35 regelt den Ablauf der eigenen Beerdigung. Wieder untersagt der Landgraf das öffentliche Begängnis, den “Actus” als “extraordinari angestellte Trauer-Procession”,36 jede Demonstration von “Pomp und Gepräng”, der er “jederzeit von Hertzen feind gewesen”.37 Ludwigs Verfügung wird befolgt: “die Fürstliche Leich” wird bei ihrer Überführung “von dem Schloss über den Marckt in die Stadt-Kirche” lediglich von seiner Familie und den “Ministri” begleitet.38 Dies kommt einer Absage an das überkommene, in Darmstadt noch beim Tode des Vaters 1661 auf- wendig ins Werk gesetzte Zeremoniell gleich, welches das Ableben des Fürsten, den natürlichen Tod, nutzt, um die Repraesentatio mai- estatis, das Weiterleben seines “body politic”, sicherzustellen.39 Bei der Planung dieser einschneidenden Änderung fällt den schon als Inschriften verfassten Gedichten eine Schlüsselstellung zu: Sie “er-

34 HStAD D 4 Nr. 251/4. 35 Ehren-Seul (s. Anm. 2), S. 3-5. 36 Ehren-Seul (s. Anm. 2), S. 3 f. 37 Ehren-Seul (s. Anm. 2), S. 3 f. 38 Ehren-Seul (s. Anm. 2), S. 6. 39 Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politi- schen Theologie des Mittelalters. München 1990 (Princeton 11957).

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öffnen einerseits – im Leben – den erforderlichen Raum für die Sorge um und für den Tod und dokumentieren andererseits – im Tod – die Gottesfurcht des Verstorbenen auf unauslöschliche Art und Weise”.40 Die Gedichte greifen damit direkt in die gängigen Inszenierungsfor- men der Repraesentatio maiestatis ein. Sie verkehren deren

räumlich-zeitliche Koordinaten. Der Augenblick, der Vollzug der Auffüh- rung, wird von der Dauer abgelöst. Hinzu kommt die räumliche Ersetzung. Die bzw. der fürstliche Tote wird nicht länger wie in den Prozessionen öf- fentlich ausgestellt und präsentiert, sie/er wird vielmehr am Begräbnisort selbst verborgen. Dort ist sie bzw. er zwar in einer neuen Inszenierung prä- sent, über dieser aber liegt ein Schleier, wird doch die Begräbnisstätte nach der Beisetzung des Sarges wieder verschlossen […]. Das stille Begräbnis übersteigt die Ephemerität des Begräbnisses als Aufführungssituation, in- dem es die bzw. den Verstorbenen präsent zu machen und diese Präsenz […] zugleich stillzustellen weiß. Allein die in Zinn gestochenen Epicedien projizieren diese – als virtuell immer vorhandene, immer öffentliche – in alle Ewigkeit und machen auch den Ruhm des/der Verstorbenen für alle Zeiten kenntlich.41

Da der Landgraf statt der Einbalsamierung seines Körpers dessen ein- fache Bedeckung anordnet, wird auch der Träger der Repraesentatio maiestatis ausgeschaltet: Sein Körper verwandelt sich gleichsam von einem fürstlichen in einen natürlichen, in einen bloß menschlichen Körper zurück. Im Gegenzug dazu macht die Leichenpredigt, die die neu definier- ten Funktionszusammenhänge der Bestattung im Falle der Gemahlin wie im eigenen Falle bis in die Einzelheiten dokumentiert, die poeti- sche Tätigkeit des Landgrafen öffentlich: Was an den in den beiden Werken gleich zu Beginn auf Tafeln abgebildeten Särgen unmittelbar in den Blick fällt, sind die Gedichte und deren Lesbarkeit.

40 Meise (s. Anm. 1), S. 301. 41 Meise (s. Anm. 1), S. 301 f.

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Hessen-Holsteinisches Ehren-Gedächtnüß, Tafel 5

Chloe 43 316 Helga Meise

Ehren-Seul, Tafel VI

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Sowohl im Hessen-Holsteinischen Ehren-Gedächtnüß, Ludwigs Leichenpredigt auf die Gemahlin, wie in der Ehren-Seul, der Lei- chenpredigt auf ihn, ist er als Verfasser anhand der Initialen, die sich unter den Gedichten finden, zu identifizieren.42 Zudem erscheinen in der Ehren-Seul Gedichte von ihm nicht nur auf den Tafeln,43 sondern auch im fortlaufenden Text, und zwar direkt unter seinem Namen. Ei- nes der insgesamt sechs hier gedruckten Gedichte des Landgrafen lautet:

Ich hab zwar offt den Vogel-Flug betrachtet/ Doch hab demselben ich mich niemahls gleich erachtet/ Biß daß ich dieses las/ so Hiob von Ihm spricht: Das dem so übel sich mit mir vergleichet nicht; Er spricht: Wie Vögel sonst empor in Lüfften schweben/ So ist der schnöde Mensch dem Unglück untergeben: Er ist darzu gebohrn/ daß er es tragen soll. Daß dieses wahr seyn muß/ empfind auch ich gar wohl. Doch ist noch eines so nicht wenig mich ergetzet/ Daß Hiobs Büchlein ist dem Psalter vorgesetzet; Darinnen David spricht/ als Unglück Ihn griff an: Des Herren rechte Hand wohl alles ändern kan. Drumb wann aus Hiob gleich mich Unglück wil verletzen/ Kan Davids Psalter mich doch wieder gleich ergetzen. Es tröstet Gottes Macht mir wieder meinen Muth: Lobsingen wil ich Gott/ der so wohl an mir thut. Ludwig/ L. Z. H. (S. 17)

Das Gedicht weist auf das erste gedruckte Werk Ludwigs, seinen Psalter, zurück, es tritt in einen Dialog mit ihm ein. Erstmals tritt das Dichtertum des Landgrafen in den Vordergrund, erstmals werden mehrere Texte im Druck greifbar.

3. Repraesentatio maiestatis und ‘Spiel’: Rezeption der Nürnberger Poeten

Werden die Gedichte im Kontext der Beerdigung gewissermaßen von außen in das höfische Ereignis eingeführt, rückt die Poesie in den Bal-

42 Hessen-Holsteinisches Ehren-Gedächtnüß (s. Anm. 11), Tafel 5 und 7. 43 Ehren-Seul (s. Anm. 2), Tafel VI und VII.

Chloe 43 318 Helga Meise letten und Freuden-Spielen, die der Fürst nach seiner Wiederverheira- tung von 1667 bis 1677 in Darmstadt auf die Bühne bringt, selbst ins Zentrum. Diese neuerliche Umdefinition der Funktionszusammen- hänge bereitet sich auf der Reise vor, die der Landgraf noch in seinem Trauerjahr 1665 antritt. Evozieren die in ihrem Verlauf entstehenden Gedichte zunächst die Erinnerung an die verstorbene Gemahlin, in- dem sie die nun von neuem aufgesuchten Orte mit den Erfahrungen seines einstigen Glückes konfrontieren,44 bearbeiten andere Gedichte die aktuellen Reiseeindrücke. Hervorzuheben ist vor allem ein Sonett, das, wiederum mit Bezug auf Gottorf, den Besuch der dortigen, weit- hin berühmten Kunstkammer zum Thema macht.

No. 1. Den 28.9br. Sonnet. Was Wundersachen hab ich heute doch gesehen? Man mir vormahlß zwar gar vielerley gesagt Von einer Kammer hier darum alß es heut gedagt Kunt ich nicht ruhn mehr ich must’ in selbe gehen Alß ich dahin nun kam da sah ich einßtheilß stehen Viel grosse Instrument, ein Glaß herfür dort ragt Hier stehtd ein ander Ding eß besser noch behangen Dort man ein Kunststück sah wie man sonst pflegt zu nehen Dort war ein seltzam Thier hier stund dan Helfenbein So künstlich zugericht alß es kont immer sein. Ich hab zwar viel gehört doch muß ich diß gestehen Daß ich die Helftte nicht von dem gehöret hab Was heut der Augenschein zugegen selbsten gab, Ich hab zwar viel gehört, doch hab ich mehr gesehen.45

Das Sonett stellt zwei Welten gegenüber, die der Sinne und die der Dinge. Der Wettkampf zwischen den Sinnen – dem Hörensagen und dem Sehen – sowie der Streit um das je Wahrgenommene, um das, was den Gerüchten zufolge die Kunstkammer enthält, und dem, was dort wirklich versammelt ist, bleibt unentschieden. Aber die letzte Terzine überbietet, wie es die Form vorgibt, die gegebenen Daten: Sie führt gegen das Hörensagen nicht irgendein Sehen ins Feld, sondern den “Augenschein” und damit das Sehen, das von der sich formieren-

44 ‘Den 30ten 9bris: 1665 Als ich das Fürstl. Holstein zu erst betretten underwegs uf der Landkutsche’, Meise (s. Anm. 1), S. 314. 45 HStAD D 4 Nr. 251/4. Worauf sich ‘No. 1’ bezieht, ist unklar.

Chloe 43 ‘Private Gelegenheit’? 319 den naturkundlichen Erkenntnis gefordert wird.46 Festzuhalten ist wei- ter, dass das Sonett nicht in Reaktion auf den tatsächlichen Besuch entsteht, sondern im Vorgriff darauf:47 Die Poesie ist eine Wirkmacht, sie eröffnet neue Räume, ganz wie das naturkundliche Sehen. Das hier bekundete Interesse des Landgrafen an neuem, naturkund- lichem Wissen, das sein Reisediarium für seinen Aufenthalt in Am- sterdam bezeugt, aber auch für alle weiteren Stationen, an denen er regelmäßig Bibliotheken, Kunstkammern, Universitäten, ein ‘theatro anatomico’ aufsucht,48 hält nach seiner Rückkehr nach Darmstadt di- rekt Einzug in die Ballette und Freuden-Spiele, die er ausrichtet. Es fällt auf, dass sich deren Charakter nun im Vergleich mit seinen ersten Arbeiten ändert. Hatten in den Aufführungen der 1650er Jahre, die Ludwig in direkter Zusammenarbeit mit seiner Mutter und deren Schwester veranstaltet hatte, die fürstlichen Personen mythisch-histo- rische Figuren, Handlungen oder Allegorien verkörpert, um die eigene fürstliche Identität darzustellen, so begnügen sich die Aufführungen nun, um den Begriff von Hans-Gert Roloff aufzugreifen, mit der ‘praesentatio’49 der Repraesentatio maiestatis, dem bloßen Ausbringen von Wünschen auf die betreffende, durch die Aufführung gefeierte Person, sei es anlässlich des Geburts- oder Namenstages des Regen- ten, sei es anlässlich eines denkwürdigen Vorkommnisses wie dem Beilager der ältesten Tochter oder der Majorennität50 des Thronfol- gers. Die Ovation, platziert am Ende der Aufführung, genügt, der ge- feierte Fürst selbst übernimmt weder eine Rolle noch führt er eine Ge- schichte vor. Er rückt gleichsam aus dem Zentrum der Aufführung heraus, die Repraesentatio maiestatis wird nur mehr abstrakt in Szene

46 Meise (s. Anm. 1), S. 316. 47 Dies geht aus dem Vermerk ‘No. 1. Den 28.9br.’ hervor, den der Landgraf der Niederschrift voranstellt, Meise (s. Anm. 1), S. 314. 48 Meise (s. Anm. 1), S. 309. 49 Vgl. den Beitrag von Hans-Gert Roloff in diesem Band. 50 Vgl.: Die beglückte Majorennität Des Durchläuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Ludwigen des Jüngern Landgrafens zu Hessen Fürstens zu Herßfeld &. Erb-Printzens/. Wie solche uff anordnung Der Durchläuchtigsten Fürstin und Frawen Frawen Elisabethen Dorotheen Landgräffin zu Hessen Fürstin zu Herßfeld &. geborner Hertzogin zu Sachsen &. Als Sr. Fürstl. Durchl. Hochgeeh- rten Frawe Mutter In dem großen Lust-Garten hinder der Fürstlichen Residentz Zu Darmstatt Mit trewhertzigen Wünschen celebriret Und begangen Worden. Den 22. Tag Junij. Darmstatt/ Gedruckt bey Henning Müllern/ Fürstl. Buchdru- ckern/ Im Jahr M.DC.LXXVI.

Chloe 43 320 Helga Meise gesetzt. Dem ästhetischen Ereigniszusammenhang, der auf der Einheit von Darstellung und Dargestelltem, dem Sinnfälligmachen von Herr- schaft in Vollzug und Aufführen, in Zeigen und Sichtbarmachen, Prä- sentieren und Repräsentieren, beruht, werden von neuem Risse beige- bracht. In dem Maße, in dem die Aufführungen auf diese Weise zu bloßen Repräsentationsakten werden, gewinnen neue Themen und Formen an Gewicht, genauer gesagt das Spiel mit ihnen. Geht man die Veranstal- tungen durch, die in Darmstadt nach der Wiederverheiratung des Landgrafen angestellt werden, stechen zwei Momente hervor. Zum einen wird der Fürst als ‘poeta doctus’ kenntlich, der verschiedene Formen aufzubieten weiß, um eine Aufführung ins Werk zu setzen. Es stellt sich derselbe Effekt ein wie beim Einsatz der Epicedien als In- schrift: Der Landgraf tritt als Verfasser von Poesie an die Öffentlich- keit. Zum anderen zögert Ludwig nicht, sich von der Rolle des Fürsten zu distanzieren. Dieser erscheint nun vor allem als Melancholiker, als Person, die trauert. Daneben sind es Schäferrolle und -welt, die die Aufführungen prägen. Dies geht nicht nur auf die Wiederverheiratung des Landgrafen zurück, sondern auch darauf, dass die Schäferrolle Distanz zur “heroischen Rolle”51 erlaubt. Das schäferliche Moment stellt ein erstes Gegengewicht zur Melancholie des Fürsten bereit, denn es stellt die Überwindung der Trauer in Aussicht. Aber um den zu feiernden Fürsten wirklich zu heilen, genügen die ‘alten’ Usancen nicht mehr. Aufgeboten werden nun über die schäferlichen Elemente hinaus avancierte poetische Formen und technische Errungenschaften, die Ludwig direkt bei den Nürnberger Dichtern entlehnt. In Die Sie- gende Liebe, veranstaltet im April 1673 anlässlich des ersten Besuches des zukünftigen Gemahls der ältesten Tochter, bringen zwei Nymphen eine “Sonata” dar:

Die Erste. Wie grühnet/ wie blühet doch alles zusammen! Nun sind ja gestillet die Kriegende Flammen/ Es hat ja die Liebe den Kriegs-Gott vertrieben/ Der Mars ist entwichen/ die Liebe geblieben. Beede zusammen. So grünen/ so blühen/ so wachsen zusammen/ Die Göttlich gefügte neu-liebende Flammen/ Sie werden von Unglück ja nimmer vertrieben/ Damit sie sich lange vergnügendlich lieben.

51 Meise (s. Anm. 1), S. 321.

Chloe 43 ‘Private Gelegenheit’? 321

Die Zweyte. Hier kann man im grünen sich offters ergetzen/ Hier kan man in Schatten und Ruhe sich setzen/ Hier kan man mit guter Gesellschaft sich letzen/ Hier kan man von allem beliebigen schwetzen. Beede zusammen. So muß sich das Neue Paar gleichfallß ergetzen/ Lang laß es der Höchste in Ruhe sich setzen/ Lang laß er in Liebe dasselbe sich letzen/ Lang laß er von Ihrem Wohlgehen uns schwetzen/ […].52

Klingt der Rückgriff auf die Nürnberger Dichter in der Siegenden Liebe nur an, wird er in der Quadriga Activa, veranstaltet zum 47. Ge- burtstag des Regenten im Januar 1677, explizit ausgestellt. Ludwig fügt in die Aufführung einen Wechselgesang aus dem Pegnesischen Schäfergedicht ein, den er um eine sechste Strophe erweitert:

Wald-Lied. 1. Es fünken und blincken Im Frühling die Awen/ Es schimmert und wümmert und glimmert Früh perlenes Tawen. 2. Es singen und ringen und klingen Feld schlürffende Pfeiffen/ Den Reyen im Mayen/ Schallmayen/ Der Hirten Verschweiffen. […] 5. Was klimmert und schwimmert bekümmert Wil Frölichkeit machen/ Was lebet und schwebet und webet/ Muß wünschede lachen. 6. Drumb Glücke bestricke die Brücke Durch Thäler und Awen/ Und Jeden/ hier nieden/ im Frieden Zwey Ludwig zu schawen/ Wir wollen des Wunsches Erfüllungen trawen.53

52 Die siegende Liebe. Zu Ehren und Freuden/ Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Herrn Wilhelm Ludwigen Hertzogen zu Würtenberg und Teck/ Erb- Printzen Grafen zu Mömpelgardt und Herrn zu Heydenheim &. Als Seine Fürst- liche Durchl. benebens Dero Herrn Brudern Die Fürstliche Residentz Darmstadt mit Dero angenehmsten Gegenwart zum ersten mahl beehreten. Zu hertzlicher und glückwünschender Bewillkommung/ in einem Musicalischen Freuden-Spiel/ Auff dem Fürstlichen Schloß-Sahl/ daselbst vorgestellt Den [o. D.] Aprilis Im Jahr 1673. Darmstadt/ Druckts Henning Müller/ Fürstl. Buchdr., fol. Avjr. 53 Quadriga Activa Dem Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn/ Hn. Ludovico/ Sexto, Landgraffen zu Hessen/ Fürsten zu Herßfeld/ Graffen zu Catzenelnbogen/ Dietz/ Ziegenhain/ Nidda/ Schauenburg/ Ysenburg und Büdingen &. Welche Ihro Hoch-Fürstl. Durchl. auff dero 47ten froh erlebten Geburths-Tag Abgehandelt worden Durch Dero Hoch- Fürstl. Printzen und Printzessinen zu Darmbstadt Im Jahr Ein Tausend Sechshundert Siebentzig und Sieben. Daselbst gedruckt Bey Henning Müllern/ Fürstl. Buchtr., S. 14. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer, Sig- mund von Birken, Johann Klaj: Pegnesisches Schaefergedicht/ in den Berinorgi- schen Gefilden/ angestimmet von Strefon und Claius. Nürnberg/ bey Wolfgang

Chloe 43 322 Helga Meise

Die entlehnten Passagen werden als Versatzstücke in die eigene Auf- führung montiert. Sie werden aneinandergereiht; eine Motivation ist nicht immer gegeben. Neben Klangmalerei und Wechselgesang ver- weisen weitere Momente auf die Nürnberger, so das Spiel mit Formen und mit wissenschaftlich-technischem Wissen aus Akustik und Optik, das in Dienst genommen und gleichzeitig als ‘Spiel’ kenntlich ge- macht wird. Echo, Echogedichte, die Illumination von Namen auf der Grundlage von Buchstabenspielen und -ausdeutungen durchziehen die Aufführungen. Diese werden zu Inszenierungen besonderer Art: In Szene gesetzt wird weder eine Handlung noch ein Diskurs zu einem Thema, sondern eben das ‘Spiel’ mit den poetischen Formen. Die In- szenierung des “Textes als Figur”54 wird selber Teil der Aufführung; die Festkultur spielt ihrerseits mit Formen, Gattungen und technischen Erfindungen. Sie zeigt den Landgrafen nicht mehr als Tänzer oder Darsteller, sondern als avancierten ‘poeta’. Die Poesie dient nicht primär der Verherrlichung des Herrschers als Souverän, sondern stellt ihn in einer neuen Rolle, der des ‘poeta’, aus. Wieder eröffnet die Po- esie neue Räume, jenseits der Festlegung auf die Repraesentatio maiestatis der überkommenen höfischen Ästhetik.

Endter. M. DC. XXXXIV. In: Georg Philipp Harsdörffer/ Sigmund von Birken/ Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht 1644-1645. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1966 (= Deutsche Neudrucke, Reihe Barock 8), S. 1-47, hier S. 34-36. 54 Vgl. Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. Hrsg. von Jeremy Adler und Ulrich Ernst. Weinheim 1987 (= Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek 56).

Chloe 43

M a r i e - T h é r è s e M o u r e y

ZWISCHEN TRADITION UND SUBVERSION Zur Gelegenheitsdichtung des Schlesiers Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau

In der Forschung über den schlesischen Dichter Hoffmannswaldau ist die Kasualdichtung bis jetzt eher stiefmütterlich behandelt worden. Obwohl schon 1972 von Erwin Rotermund1 unterstrichen, besteht die Lücke heute noch weitgehend – übrigens hatte auch Wulf Segebrecht2 Hoffmannswaldaus Kasualdichtung so gut wie nicht beachtet. Abge- sehen von Fritz Cohen, der die “Begräbnisgedichte” als solche be- rücksichtigt hat (aber leider nur in einer Auswahl),3 fehlt auch in den neuesten Monographien über den Dichter (von Lothar Noack 1999,4 Stefan Kiedron 20075 und auch in meiner eigenen 1998)6 sowohl ein

1 Erwin Rotermund: Affekt und Artistik. Studien zur Leidenschaftsdarstellung und zum Argumentationsverfahren bei Christian Hofmann von Hofmannswaldau. München 1972 (= Poetica Beihefte 7), S. 11 & 154. 2 Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poe- tik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977 (dort nur ein Hinweis auf Hoffmannswal- dau in einer Anmerkung S. 353). 3 Fritz G. Cohen: The poetry of Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: A new reading, Camden House, USA, 1986, Chap. III, S. 115-156. Für seine neue Lektüre wählt Cohen nur sechs Gedichte unter den ‘Begräbnisgedichten’ aus: die N 1, 2, 3, 6, 8 und 12 in der offiziellen Gedichtausgabe, ohne auf das Auswahl- prinzip einzugehen. 4 Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679). Leben und Werk. Tübingen 1999. Die Kasualgedichte werden chronologisch untersucht, einige zusammenfassende Bemerkungen findet man in dem Abschnitt ‘Hoff- mannswaldaus Gelegenheitsdichtung’, S. 287-293. Siehe auch von Lothar Noack: Die Gelegenheitsdichtung Hoffmannswaldaus. Anmerkungen zu Adressatenkreis und Produktionsmotivationen. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1998, Bd. 2, S. 973-987. 5 Stefan Kiedron: Christian Hofman von Hofmanswaldau und seine ‘niederländi- sche Welt’. Wroclaw, Dresden 2007, S. 227-234 (HochzeitGedichte) und 234- 245 (BegräbnisGedichte).

Chloe 43 324 Marie-Thérèse Mourey systematischer Überblick als auch eine funktional orientierte Bewer- tung dieser spezifischen poetischen Produktion. Meist handelt es sich um chronologische Untersuchungen mit rein positivistischer Orientie- rung, bei denen zwar die jeweiligen Entstehungsanlässe und Adressa- ten sowie deren Beziehungen zu Hoffmannswaldau akribisch eruiert werden, auf die Eigenart und Hintergründe der Textstrategien jedoch kaum eingegangen wird. Am bedenklichsten scheint dabei zu sein, dass diese Gelegenheits- gedichte meist ‘enthistorisiert’ werden. Die oft recht kurze und ober- flächliche Analyse mündet fast immer in eine Hervorhebung allgemei- ner, zeitloser Merkmale, unter dem Stichwort der ‘christlich-stoizisti- schen constantia’ bzw. der ‘vanitas-Klage’. So behauptet Noack, Hoffmannswaldaus Begräbnisgedichte seien als “Ausdruck der Selbst- reflexionen des Dichters über Leben und Tod besonders stark ausge- prägt”.7 Ein möglicher direkter Bezug zur soziopolitischen Realität Schlesiens oder zum engeren religiös-konfessionellen Kontext der Stadt Breslau bzw. der Adressaten wird aber entweder stillschweigend übergangen, oder gar ausdrücklich verneint. Die Hinwendung zur Ka- sualdichtung bringt Noack zwar in Verbindung mit Hoffmannswal- daus Einstieg in die Breslauer Ratshierarchie (also ca. ab 1647), die Funktion dieser Gelegenheitsdichtung wird aber auf ein Mittel redu- ziert, mit dem Hoffmannswaldau “personelle Kontakte in Breslau ausbaut”.8 Kein Wunder also, wenn der unsystematische Ansatz, die ‘Referenzlosigkeit’ solcher Annäherungsversuche und das Postulat einer zeitenthobenen Dichtung zur Verflachung und Banalisierung der Gelegenheitsdichtung führen, als ‘Produkt von Nebenstunden’ und zur Bagatellisierung des Werkes überhaupt dienen, wenn auch das uner- schöpfliche ingenium des Dichters betont wird. Mein persönlicher Ansatz hingegen folgt einerseits den Thesen von Franz Heiduk, der als erster den ausdrücklich politischen Gehalt von Hoffmannswaldaus literarischem Werk hervorgehoben hat,9 anderer-

6 Vf.: Poésie et éthique au XVIIe siècle. Les ‘Traductions et poèmes allemands’ de Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616-1679). Wiesbaden 1998 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 30). Dort werden die Kasualge- dichte nur kurz erwähnt (als Gattung S. 121 f., zum Inhalt S. 336-340). 7 Noack (s. Anm. 4), S. 392. 8 Ebd., S. 241. 9 Franz Heiduk: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Hrsg. v. Benno v. Wiese & Harald Steinhagen. Berlin 1980, S. 473-496. Von F. Heiduk siehe auch: Christian Hoffmann von Hoffmannswal-

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 325 seits den Ausführungen von Stefanie Stockhorst, die Pierre Bourdieus Feldtheorie wieder aufgenommen und auf die barocke Gelegenheits- dichtung angewendet hat.10 Unerlässlich ist sowohl die Untersuchung des gesamten literarischen Feldes, als auch die Berücksichtigung des politischen Feldes, d.h. der grundsätzlichen Abhängigkeit des Autors von äußeren Zwängen politischer bzw. ökonomischer Natur, im Falle von Hoffmannswaldau wohl auch religiös-konfessioneller Natur; denn in Schlesien spielte der durch den Habsburger Herrscher ausgeübte Zwang wohl die wichtigste Rolle. Die Notwendigkeit einer Anpas- sung an diese externen Begebenheiten erklärt womöglich die entwi- ckelten Textstrategien, sowie eine gewisse Verschlüsselung der Schreibweise. Daher beschränkt sich die behauptete interne Kommu- nikationsfunktion der Dichtung nicht auf Trost bei Sterbefällen oder Beglückwünschungen bei Hochzeiten, auch nicht auf die Verstärkung freundschaftlicher bzw. verwandtschaftlicher Bande (die in der Tat existierten), sondern kann darüber hinaus eine aktive und dezidierte Stellungnahme zu brennenden Streitfragen beinhalten, was wiederum Hoffmannswaldaus eindeutige Positionierung in der schlesischen Landschaft, als Dichter und als Staatsmann zugleich, abermals bestä- tigt. Die Historizität des poetischen Werkes erlaubt daher keine ahisto- rische Deutung desselben. Die vorliegende, noch abrissartige Untersuchung stützt sich auf die von dem Dichter selber an seinem Lebensende vorbereitete, kurz nach seinem Tod erschienene Werkausgabe, die Deutsche[n] Übersetzun- gen und Getichte (1679/80),11 der sowohl in sozialer Hinsicht (auf Grund der recht hohen politischen Stellung des Autors) als auch auf poetischer Ebene ein durchaus repräsentativer Charakter zugesprochen

dau und die Überlieferung seiner Werke. Eine kritische Untersuchung mit dem Ab- druck zweier bisher unbekannter Gedichte sowie einem Gesamtverzeichnis der Handschriften und ersten Drucke in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1975, S. 1-72. 10 Stefanie Stockhorst: Feldforschung vor der Erfindung der Autonomieästhetik? Zur relativen Autonomie barocker Gelegenheitsdichtung. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hrsg. v. Markus Joch u. Norbert Christian Wolf. Tübingen 2005, S. 55-71. 11 C.H.v.H. Deutsche Übersetzungen und Gedichte. Breslau 1679/80. Nachdruck von Franz Heiduk. In Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Gesammelte Werke, Bd. I,1 & I,2. Hildesheim 1984, im Folgenden zitiert als “DÜG”.

Chloe 43 326 Marie-Thérèse Mourey werden kann.12 Die Bestandsaufnahme der Gedichte, die dort eindeu- tig dem Typus der Kasualdichtung zugeordnet werden können, weist mit zwölf Begräbnisgedichten und sieben Hochzeitgedichten, deren Abfassungszeit sich von 1643 bis 1676 erstreckt, eine recht beträchtli- che Zahl auf – aber weitere Gedichte wurden in die Gedichtausgabe nicht aufgenommen.13 Darüber hinaus kann eine Geistliche Ode als ‘anlassgebunden’ gelten, und zwar die Ode Nr. 2, Über das Absterben Herrn Georg Wilhelms/ des letzten Pyastischen Hertzogs (1675), die jedoch laut dem Verlagsvertrag ausdrücklich den Geistlichen Oden und nicht den Epicedien zugeordnet werden sollte.14 Dies erklärt sich nicht zuletzt durch die Wahl einer eigentümlichen Form, die Fiktion des redenden Toten (was das Fehlen der laudatio erklärt), und vor al- lem durch die Perspektive, die von dem weltlichen in den geistlichen Bereich hinüberwechselt und die Gelegenheit sub specie aeternitatis betrachtet, während Lohensteins Parodia eher die historisch-politi- schen Aspekte betonte.15 Die statistische Erfassung der Adressaten bestätigt einen in der Tat relativ kleinen Adressatenkreis: vorwiegend Patrizier aus Breslau, Angehörige der wichtigsten Ratsfamilien, sonst auch einflussreiche Persönlichkeiten, mit denen Hoffmannswaldau nicht selten befreundet war, wie die Obersyndici Henel von Hennenfeld und Andreas Assig oder Adam Casper von Arzat, Johann Burghard von Löwenburg usw.

12 Die komplizierte Druckgeschichte wird hier übergangen: Die meisten der von Hoffmannswaldau verfassten Kasualgedichte sind zunächst als Einzeldrucke er- schienen, oft ohne seinen Namen bzw. nur mit Initialen; nicht alle sind dann in die Sammelausgabe eingegangen, und manchmal haben sich kleine Änderungen ergeben, sowie Streichungen gegenüber dem ursprünglichen Verlagsvertrag (z.B. war ein 13. Epicedium vorgesehen worden). Zu berücksichtigen wären ferner die Trauerrede auf Heinrich von Reichel (1646), die ab dem Nachdruck von 1684 der ‘Deutschen Übersetzungen und Gedichte’ den Begräbnisgedichten beigebunden wurde, und die Franz Heiduk im Bd. II der Gesammelten Werke (Hildesheim, 1993) wieder abgedruckt hat (S. 117-124). 13 Dazu Noack (s. Anm. 4), S. 289. 14 Öster. Archiv. Impressoria der Reichshofkanzlei, Fasc. 17, Fol. 307-315. Dort befindet sich allerdings das Gedicht an 9. Stelle in der Liste der ‘Geistlichen Oden’. Dazu Verf.: Poésie et éthique (s. Anm. 6), S. 339, sowie S. 457-461 für den Wiederabdruck des Vertrags. 15 Dazu Uwe K. Ketelsen: ‘Die Lebenden Schlüssen den Sterbenden die Augen zu/ die Todten aber öffnen sie den Lebenden.’ Zu Lohensteins Gedicht über den Tod des letzten Piasten, Georg Wilhelm von Liegnitz. In: Gedichte und Interpretatio- nen Bd. 1. Renaissance und Barock. Stuttgart 1981, S. 369-378.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 327

Der Begriff ‘Freund’, der in den Titeln oft begegnet, ist demgemäß nicht nur als rhetorische Floskel zu verstehen. Freundschaftliche Bande existierten in der Tat. Nur ausnahmsweise werden fürstliche Personen bedacht, so z.B. im Hochzeitgedicht Nr. 1, Die Weichsel- Nymfen an eine königliche Braut, das 1670 für die Hochzeit von Eleo- nore, der Halbschwester des Kaisers Leopold I. mit dem polnischen König Michel Korybut Wisnowiecki verfasst wurde.16 Die Anordnung der Gedichte in dieser Werkausgabe erfolgte nicht chronologisch, sondern dem sozialen Status der Adressaten gemäß: bei den Epithalamien leitet das Gedicht auf die Schwester des Kaisers die Abteilung ein, dann erst folgen Gedichte auf Verwandte der Bres- lauer Ratsherren. Bei den Begräbnisgedichten wurde zunächst der Obersyndikus Henel von Hennenfeld (1656 gest.) gewürdigt, was des- sen hoher gesellschaftlicher Stellung entspricht, dann andere wichtige Ratsherren – anschließend Frauen, und zuallerletzt vielleicht Hoff- mannswaldaus eigener Sohn (dafür gibt es allerdings noch keinen ausdrücklichen Beleg). Diese Kasualdichtung, so wie sie in der offizi- ellen Gedichtausgabe vorkommt, ist also in der Mehrheit nicht höfisch orientiert (man findet kein Herrscherlob), sondern wendet sich haupt- sächlich an das Patriziat der Stadt Breslau; sie befriedigt das Reprä- sentationsbedürfnis der gehobenen, gebildeten Schicht des Bürger- tums, wenn auch ihre Vertreter manchmal geadelt worden waren. Die repräsentative Ausgabe der Deutsche[n] Übersetzungen und Getichte zeigt die Einbettung des Dichters in die Tradition der Ka- sualdichtung, und dies obwohl er sie zuerst – wie seinerzeit schon Opitz – als beschränkt empfand. In einem Brief an Harsdörffer (1649) klagte er ja über “unsere Poeten, so bishero allzusehr an hochzeit und

16 Die falsche Zuordnung, die man in der Sekundärliteratur gelegentlich noch fin- det, soll endgültig berichtigt werden: das Gedicht wurde keineswegs 1637 für die Hochzeit der Prinzessin Cecilia Renate mit König Ladislas verfasst, wie von Mi- roslaw Grudzien: Die Briefe Christian Hofmanns von Hofmannswaldau an Johann Hieronymus Imhoff. In: Germanica Wratislaviensia LXXVII, Microfiche 5, 1987, S. 467-501, hier S. 479) und Miroslawa Czarnecka: Deutsch-polnische Kommu- nikation im plurinationalen Kulturkontext des Barock, in: Kulturgeschichte Schlesiens Bd. 1. Hrsg. v. Klaus Garber. Tübingen 2005, S. 361-383, hier S. 374, behauptet. Zwei Handschriften (Landesbibliothek Dresden, M 216; Staatsbiblio- thek Berlin, Ms Germ. Fol. 768) belegen ausdrücklich die Identität der Adressa- tin sowie die Gelegenheit, d.h. das Entstehungsdatum.

Chloe 43 328 Marie-Thérèse Mourey begräbnis liedern geklebet”.17 Obwohl er sich das ästhetische Pro- gramm der Emanzipation der deutschen Poesie von der bloßen ‘Pritschmeisterei’ zu eigen gemacht hatte, musste Hoffmannswaldau jedoch in der Praxis den unentbehrlichen Charakter dieser ‘minder- wertigen’ Literatur als interner Kommunikationsform in einem be- stimmten Kreis feststellen. Das Projekt der Einbürgerung traditioneller Formen und Gattungen in die deutschsprachige poetische Produktion ging folglich mit dem Wunsch einher, diese Kasuallyrik auf ein höhe- res ästhetisches Niveau zu heben, ihr eine neue Würde zu verleihen und sie als vollwertiges literarisches Genre zu legitimieren. Formal und stilistisch kann man feststellen, dass Hoffmannswaldau für seine Gedichtausgabe ‘musterhafte’ Texte ausgewählt hat, nachdem zu prä- zise Hinweise auf Anlass, Umstände und Adressaten, vor allem im Titel, getilgt wurden. In diesen Texten setzt der Dichter die vielfälti- gen stilistischen Mittel, wie sie ihm von der Rhetorik zur Verfügung gestellt werden, ganz souverän ein, sowohl bei der dispositio (mit Pa- rallelismen und Antithesen, anaphorischen Reihungen, Paradoxa usw.), als auch bei der elocutio (die poetische Rede weiß er mit aller- lei Topoi und scharfsinnigen Bildern auszuschmücken). Unklar bleibt allerdings, ob die Gedichte nachträglich, noch vor der Publikation überarbeitet und stilistisch geglättet wurden (und wenn ja, von wem). Inhaltlich und ideologisch bestätigen die Texte die enge Bindung des Dichters an den spezifischen schlesischen Kontext, und speziell an Breslau. Bekanntlich vertrat er als Ratsherr, dann als Ratsältester, schließlich als Ratspräses ganz offiziell seine Vaterstadt, nicht nur in- nerhalb Schlesiens, sondern auch auf diplomatischen Missionen, in Regensburg 1653, am Kaiserhof in Wien 1660 und 1669/70. Fast im- mer ging es dabei um die Bewahrung der religiösen Rechte (‘Freihei- ten’) der protestantischen Stadt und um die Verzögerung der vom Kai- ser zielstrebig und teilweise gewaltsam betriebenen Rekatholisierung Schlesiens, z.B. durch die Wiedereinführung katholischer Orden; es ging aber auch um Herrschaftsrechte wie z.B. die Freiheit der Stadt von kaiserlicher Garnison. Angesichts der militärisch exponierten Si-

17 Zitiert in: Poésie et éthique (s. Anm. 6), S. 92, nach Joseph Ettlinger, der Hoff- mannswaldaus Briefwechsel mit Harsdörffer veröffentlichte: Briefwechsel zwi- schen Hofmanswaldau und Harsdörffer. In: Zeitschrift für vergleichende Litera- turgeschichte. Neue Folge, Bd IV. Berlin 1891 (S. 100-103), später korrigiert von Karl Friebe: Chronologische Untersuchungen zu Christian Hofmann von Hof- mannswaldaus Dichtungen. Greifswald 1895/96. Die autographen Briefe sind leider nicht erhalten.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 329 tuation der Stadt und des Landes (nach den Türkenkriegen kam die Gefahr aus dem Osten, mit den Kosaken und Tataren), des stets ge- spannten Verhältnisses zum legitimen Herrscher, aber auch der Not- wendigkeit, keine Zweifel an der Loyalität Schlesiens aufkommen zu lassen, war größte Zurückhaltung geboten, ebenso ein kluges, ge- schicktes Lavieren mit den zuständigen Behörden. Für Hoffmanns- waldau ging diese Kunst der politischen Klugheit jedoch zuletzt, bei der diplomatischen Mission in Wien 1669/70, mit der Erfahrung des schlimmsten, niederträchtigsten, demütigendsten Verrats einher: Denn während der Kaiser auf der einen Seite (in der Sache der Bernhardiner und Kapuziner) Zugeständnisse machte, förderte er auf der anderen Seite den Einzug der verhassten Jesuiten in die Breslauer Burg. Als Vertreter seiner Stadt und als Diplomat (wie übrigens Lohenstein als Syndicus ab 1670) konnte es sich Hoffmannswaldau jedoch nicht leisten, durch einen allzu offenen Protest die Situation der Stadt zu ge- fährden. Die notwendige reservatio mentalis und die Kunst der pru- dentia politica erklären daher die grundsätzliche Doppeldeutigkeit der Rede. Einige konkrete Beispiele aus den Begräbnisgedichten Hoffmanns- waldaus mögen nun die identitätsstiftende und –behauptende Funktion der Kasualdichtung im Kreis des Breslauer Patriziats und darüber hin- aus in Schlesien demonstrieren. Dass die Kasuallyrik zur Verstärkung der gemeinschaftlichen Ban- de dient, zeigt das Beispiel des Epicediums auf den 1656 verstorbenen Obersyndikus Nicolaus Henel von Hennenfeld. Das Gedicht doku- mentiert die engen persönlichen Beziehungen zwischen den zwei Familien, denn schon zu Hoffmannswaldaus Vater hatte der Jurist freundschaftliche Verbindungen gepflegt. Und bekanntlich hatte He- nel dem jungen Christian eine Studienanleitung gewidmet,18 bevor er 1643 ein lateinisches Carmen auf seine Hochzeit schrieb. Insofern lässt sich der Ausdruck “vornehmer Freund” im Titel des Leichen- carmens (Auf den Tod eines vornehmen Freundes)19 nicht nur als Kon- vention deuten, sondern hat einen ganz realen Hintergrund. Auffallend am Gedicht ist die Tatsache, dass es dem seit der Antike für Epicedia

18 De Studio juris epistola, Breslau 1638. Dazu Noack (s. Anm. 4), S. 92. 19 DÜG (s. Anm. 11), Begräbnisgedichte Nr.1, S. 699-703.

Chloe 43 330 Marie-Thérèse Mourey gültigen Aufbauschema20 laudatio – lamentatio – consolatio nicht folgt, sondern mit sehr langen, allgemeinen Betrachtungen über die Vergänglichkeit und das Gesetz der Sterblichkeit anfängt (also mit der lamentatio); sodann folgt ein ausführlicher Rückblick auf den Verlauf eines Menschenlebens überhaupt, wobei Jugend und männliches Alter kontrastiert werden. Dazu gehört auch das Nachsinnen über den Un- tergang bedeutsamer geschichtlicher Stätten, pointiert formuliert: “Wie wir/ so sinckt auch diß/ was unsere Hand gebaut […].” Ab v. 55 wendet sich der Autor ausdrücklich an den Leser (und nicht an die Hinterbliebenen!), damit dieser von selbst die Verbindung zwischen dem allgemeinen Gesetz und dem besonderen Fall mache. Erst ab v. 60 fängt die eigentliche laudatio des Verstorbenen an; diese fällt er- staunlich kurz und bündig aus:

Die Liebe gegen Gott/ dem Kayser treu zu seyn/ Den Fürsten beyzustehen/ vor unsre Stadt zu wachen/ zu sinnen Tag und Nacht/ auff Rechts- und Rechnungssachen/ Das wirckt der Seelen Krafft ja mehrentheils allein […]. Diß was sein Mund gesagt/ was seine Hand geschrieben/ Das wurzelt noch in uns und bleibet unvertrieben: Es stellt der Afterwelt sich treulich in das Licht […]

Außer den christlichen Tugenden (Frömmigkeit, Treue etc.) des Ver- storbenen lobt Hoffmannswaldau also speziell dessen patriotische Verdienste als Historiograph Schlesiens und Breslaus.21 Eigenartig ist die zum Schluss des Epicediums angehängte Grabschrift, in welcher der Autor wiederholt auf Henels Verdienste als Fürsprecher seines Vaterlandes hinweist, auf seine “gelehrten Schriften”: “was er be-

20 Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147. 21 Der Vers 92 spielt auf Henels Werke ‘Breslographia, Hoc est: Vratislaviae silesiorum metropole Nobilissimae delineatio brevissima’ und ‘Silesiographia, Hoc est: Silesiae delineatio brevis et succincta’ an, die beide 1613 in Frankfurt a.M. erschienen waren. Zu Henel von Hennenfels Schriften, siehe Hermann Markgraf: Nikolaus Henels von Hennenfels (1582-1656) Leben und Schriften. In: Zeitschrift für Geschichte und Altertum Schlesiens. N 25, 1891, S. 1-41, so- wie Wolfgang Kessler: Nikolaus Henel als Historiograph. In: Oberschlesische Dichter und Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hrsg. v. Gerhard Koselleck. Bielefeld 2000 (= Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 8), S. 205-219.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 331 schrieben hat/ denckt seiner stets mit sehnen”. Vor allem wird Henel (der nie beim Namen genannt wird) nur metonymisch bezeichnet, als “Schatz” und “Mund” des Landes. Der Topos von der Dauerhaftigkeit und Kostbarkeit seiner Schriften verweist auf die wichtigste Botschaft: den unvergänglichen Wert seiner ethischen Haltung und seines patrio- tischen Handelns. Anlass des 1668 verfassten grandiosen Gedichts Schaubühne des Todes,22 das aus zweihundertzwanzig Alexandrinern besteht, war der unerwartete Tod des Ratsmitglieds Adam Wenzel von Reichel, eines jüngeren Kollegen (er war erst einundvierzig Jahre alt), dem eine glänzende Zukunft versprochen war. Auch in diesem Fall sind ver- wandtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Männern belegt.23 Für sein Epicedium rekurriert Hoffmannswaldau auf eine besonders einfallsreiche inventio: er reaktiviert die Katabasis, das Motiv des Unterweltbesuchs, nach Dantes Inferno. Die Schilderung ist drama- tisch höchst bewegt, teilweise drastisch und immer packend. Nicht nur bezieht sich der Autor selbst affektiv in den Trauerprozess ein (durch Klage, Ausdruck des Schmerzes, der Schwäche, der Angst etc.), son- dern er tritt ferner als Augenzeuge auf, der vom personifizierten Tode selber über die Wirklichkeit, d.i. über das wahre Sein hinter dem trü- gerischen Schein aufgeklärt wird – was seinen poetischen Ausführun- gen eine größere Kraft und Prägnanz verleiht. Womöglich stilisiert er sich dadurch auch als neuer Dante, der sich vom Dichter Vergil in die Unterwelt führen ließ, also als ‘vates’ im wahrsten Sinne des Wortes. Ungewöhnlich an seinem Epicedium ist die Erwähnung anderer, be- reits vor längerer Zeit Verstorbener, wie des Ratspräses Adam von Sebisch (1638 gest.), des Ratsherren Heinrich von Reichel, der 1646 ermordet worden war, oder des Obersyndikus Johann von Pein (1649 gest.). Die laudatio auf diese früher Verstorbenen, die jeweils zehn Verse umfasst, geht dem Lobpreis des eigentlichen Adressaten voran. Diese “publikumsbezogene Invention” (so Noack) ist jedoch nicht nur durch die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Nachkom- men motiviert, auch nicht durch den Willen, die Verstorbenen “dem drohenden Vergessen zu entreißen”.24 Vielmehr konstruiert Hoff- mannswaldau damit eine ideelle Gemeinschaft der treuen Diener der Stadt und des Landes, in die er den Adressaten als – vorläufig – letztes

22 DÜG, Begräbnisgedicht Nr. 3, S. 707-715. 23 Noack (s. Anm. 4), S. 391. 24 Ebd., S. 388.

Chloe 43 332 Marie-Thérèse Mourey

Glied einer Kette einbezieht. Wichtig ist dabei die richtige Identifika- tion des erwähnten “klugen Pein”, der auch als “weiser Greis” apo- strophiert wird: nicht der kürzlich verstorbene Ratsherr Heinrich Mar- cus von Pein sei damit gemeint, der am 21. Januar 1668 gestorben war, sondern dessen Vater Johann von Pein, der 1649 verstorbene Obersyndikus,25 der von Themis und Suada, den Allegorien der beiden griechischen Göttinnen der Gerechtigkeit und der Beredsamkeit, be- gleitet wird. Die Vorzüge all dieser Verstorbenen werden durch topi- sche Stichworte evoziert: “Ernst”, “Treu”, “Emsigkeit” (Adam von Sebisch), “Tapferkeit”, “Redlichkeit”, “Wachsamkeit” (Heinrich von Reichel), “Klugheit”, “Witz” (Johann von Pein) “Thaten”, “weißlich”, “Ruhm” (Georg von Sebisch). Den Gipfelpunkt der poetischen Fiktion des Unterweltbesuches bil- det die Entdeckung des eben verstorbenen Adam Wenzel von Reichel. An dieser Stelle inszeniert der lyrische Sprecher einen Monolog, eine Rede, die er gehalten haben will. Die Worte, die aus seinem Munde dringen, sind jedoch alles andere als nur der erwartete, konventionelle Lobpreis des Verstorbenen, sondern beinhalten, ex negativo, eine ge- harnischte Kritik an der Falschheit der Welt:

O Freund der Redlichkeit/ Der unvermummet gieng/ der keinen Anstrich kente/ Und Wörter-Färberey nur falsche Müntze nente/ […]

Dabei fällt auf, dass die laudatio auf den Verstorbenen erstaunlich kurz ist und in die allgemeine lamentatio eingeflochten wird. Aber die consolatio, die durch das starke “doch” eingeleitet wird (v. 191), spielt wieder die traditionelle Rolle, den Hinterbliebenen Trost zu spenden und den Affekt der Trauer zu erregen. Indem der Dichter dem Verstor- benen verspricht, seine Seele habe ihren Sitz im Gelobten Land, wird der Anlass – der Tod – wieder sub specie aeternitatis betrachtet. Den- noch findet man gleich darauf, in einem Nebensatz, den in einem Epi- cedium ungewöhnlichen, recht polemischen Zusatz: “[im Gelobten Land]/ wo kein Philister trotzt/ und keine Schlange sticht”. Eine ähnli- che, im Kontext eines Epicedium recht unangebrachte Kritik an der Mitwelt, eine Denunziation der ‘Lüge’ und ‘Heuchelei’ begegnet üb- rigens auch im Begräbnisgedicht auf Georg Friedrich von Arzat

25 Ebd., Berichtigung der Identifikation, Anm. 219.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 333

(1665), Trauerschreiben an einen guten Freund.26 Adressat ist der Sohn des Verstorbenen, Adam Caspar von Arzat :

Auf seiner Zunge war kein Bisem nicht zu finden/ darunter vielmals nichts als Gifft und Galle steckt/ Sein Reden wolt er nicht in falsche Seide binden/ Sein Aug und Hertz blieb von Masquen unverdeckt […] Er ließ ein Christenthum in allen Fällen spüren/ So mehr durch Werck/ als Wort ward in das Licht gebracht.

Die gleichen Merkmale könnte man schließlich bei dem Trauerge- dicht bey Absterben eines vertrauten Freundes27 für den Obersyndikus Andreas Assig (1676) feststellen. Tatsächlich war der Verstorbene ein recht “vertrauter Freund”, sowie ein enger Kollege, der zusammen mit dem soeben erwähnten Adam Caspar von Arzat Hoffmannswaldau auf seiner unglücklichen Wiener Gesandtschaft 1669/70 begleitet und da- bei die ‘Falschheit’ der (höfischen) Welt und die Verstellung der schönen Reden erfahren hatte. Die ‘Produktionsmotivation’ ist also in diesem Fall eine doppelte: zu der persönlich-privaten gesellt sich eine überindividuelle, öffentliche. Dieses recht lange Gedicht, das aus zweihundert Alexandrinern be- steht, ist durch den Verzicht auf eine einfallsreiche inventio gekenn- zeichnet. Vielmehr gestaltet der Dichter die Fiktion eines intimen Ge- sprächs mit seinem Freund, der durchgehend angeredet wird, als wäre er noch da – wohl ein wirkungsvoller Intensivierungseffekt. Das Ge- dicht beginnt gar nicht mit der laudatio des Verstorbenen, sondern mit einem Rückblick auf dessen Leben, wobei der Autor die Gemeinsam- keit ihrer jeweiligen Lebenswege und die engen freundschaftlichen Bande stets betont. Der ungewöhnlich lange biographische Rückblick (über die Hälfte des Gedichts!) kontrastiert die Jugend als Garten Eden mit der späteren Erfahrung der trügerischen Welt der Erwachse- nen. Der geschilderte Prozess der Ernüchterung übernimmt also die Funktion der lamentatio. Dass der Tod Assigs als Befreiung vom “Sturm der wundertrüben Zeiten” interpretiert und durch den Topos der navigatio vitae dargestellt wird, scheint wiederum völlig den Gat- tungskonventionen zu entsprechen. Die consolatio, die dann folgt, hebt jedoch nicht nur die privaten Aspekte des Verstorbenen hervor,

26 DÜG, Begräbnisgedicht Nr. 4, S. 716-720. 27 DÜG, Begräbnisgedicht Nr. 6, S. 724-732.

Chloe 43 334 Marie-Thérèse Mourey etwa allgemeine christlich-moralische Vorzüge wie Tugend oder Frömmigkeit, sondern vor allem seine politischen Verdienste für die ganze Gemeinde in Breslau (“Die deutsche Redlichkeit”, v.141, “Dein From und Redlichseyn”, v. 153) sowie seine Beredsamkeit:

Der Zunge Fertigkeit/ der Feder Wunder-Kraft (v. 143) Was Zung’ und Feder hat vor Rath und Stadt gethan (v. 155).

Assig hatte ja als Syndikus mehrere Schriften zur Verteidigung der althergebrachten Rechte der Stadt verfasst, auch Quellentexte wie die Singularia Wratislaviensia gesammelt.28 Dass die gleichen Metony- mien wie bei Henel von Hennenfeld begegnen (statt “Mund” und “Hand” jetzt “Zunge” und “Feder”), dürfte kein Zufall sein. Das düs- tere Ende des Gedichts lässt die große Bitterkeit des Autors unmiss- verständlich erkennen, sowie dessen Einsamkeit und tiefe Betroffen- heit (“mich begleitet nichts als Unmuth und Verdruß”, “ich wünsche halb bey Gott und halb verscharrt zuseyn”). Das Gedicht vollzieht da- her eine ungewöhnliche Bewegung vom “wir” zum “Du” und dann zum “Ich” – ein deutlicher Hinweis auf die besondere, konkrete Schreibsituation des Autors.

Nach diesem viel zu schnellen und lückenhaften Überblick sei ein noch vorläufiges Fazit erlaubt. Meistens sind die Kasualgedichte (hier speziell die Begräbnisgedichte) wenig informativ, zumindest für die damaligen Adressaten: sie enthalten keine konkreten lebens- und zeit- geschichtlichen Details, die den Hinterbliebenen nicht schon bekannt wären. Unterhaltsam sind sie kaum, außer in ästhetischer Hinsicht, zumal durch die Kunst der inventio. Die hier – mit der gebotenen Vor- sicht – aufgestellte These läuft darauf hinaus, Hoffmannswaldaus Ka- sualdichtung im Lichte eines verschlüsselten ‘Spiels’ (aber eines ern- sten Spiels) zwischen Tradition und Subversion neu zu lesen und aus- zulegen – und zwar in dem Sinne, dass die Form zwar traditionell bleibt, der neue Inhalt jedoch subversiv ist. Denn Hoffmannswaldau nimmt zwar die gewöhnlichen Merkmale der Gattung wieder auf, un- terläuft sie aber, indem er die Gedichte mit einem Subtext füllt, der in den Dienst einer anderen, versteckten Funktion gestellt wird.

28 Heinrich Wendt: Der Breslauer Syndikus Andreas Assig (1618-1676) und seine Quellensammlung. In: Zeitschrift des Vereins zur Geschichte Schlesiens 36 (1901/02), S. 135-158.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 335

Traditionsgemäß ist die Form der Epicedia: man findet sowohl das Lob des/der Verstorbenen, den Wunsch, dessen Verdienste durch die Poesie zu verewigen und sein Ansehen bei der Mitwelt zu sichern. Die besondere Gelegenheit wird als paradigmatisches Beispiel für eine allgemeine These verstanden, der konkrete Anlass ins Allgemein- Menschliche erhoben. Auch formal erfüllt Hoffmannswaldau völlig die poetologischen Normen und sozialen Erwartungen, wie seine Selbsteinbeziehung in den rhetorisch-poetischen Kommunikationspro- zess (als Freund, Kollege, usw.) belegt. Jedoch zeugt er von einer gro- ßen Freiheit, ja von einer souveränen Handhabung der Gattungsnor- men. Ganze Passagen lassen sich nicht in die traditionelle, dreiglied- rige dispositio einfügen, der Zusammenhang mit Leben und Taten des Verstorbenen ist oft nur lose, auch ist der Anteil der laudatio eher ge- ring – ein Beweis für die ‘ästhetischen Handlungsspielräume’, die dem Dichter trotz der grundsätzlichen Heteronomie der Literatur doch gewährt werden29: Konventionalität und Originalität ergänzen sich sehr geschickt. Neu an dem Inhalt ist vor allem die Umkehrung des für Kasuallyrik traditionellen Gestus, der Übergang vom besonderen Casus zum all- gemeinen Gesetz. Bei Hoffmannswaldau verselbständigt sich das po- etische Spiel nie, die Realia verschwinden nicht dahinter, sondern bleiben immer präsent. Außerdem werden neue, eindringlich wieder- holte Parolen wie “Treue”, “deutsche Redlichkeit”, “Freundschaft und Liebe” überbetont. Solche Parolen sind ebenso als poetische Topoi zu verstehen (sie gehören konventionell zum Lobpreis des/ der Verstor- benen) denn auch als deutliche ‘Signale’ in Richtung der schlesischen bzw. Breslauer Gemeinde, sind sie doch begleitet von einer überdeut- lichen Kritik an der Falschheit und Verlogenheit der ‘Welt’: der Be- zug auf den Wiener Hof liegt auf der Hand, aber auch in Breslau gab es mächtige Feinde. Der Hinweis auf die probitas, integritas und ho- nestas ist ein untrügliches Zeichen für die patriotische Behauptung ei- ner schlesisch-protestantischen, bürgerlichen Identität gegenüber dem katholischen Habsburger Herrscher. Innovativ sind auch die ganz persönlichen Töne, mit denen zumal das Epicedium auf Assig abgeschlossen wird. Die persönliche Betrof- fenheit überwiegt und wird überdeutlich ausgedrückt, nicht etwa ab-

29 Zu den gattungsspezifischen Aspekten der Gelegenheitsdichtung, siehe Rudolf Drux: Art. Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gerd Ueding. Tübingen 1996, Bd.III, Sp. 653-667.

Chloe 43 336 Marie-Thérèse Mourey geschwächt. Dieses Epicedium ist deswegen besonders aufschluss- reich, weil es spät verfasst wurde, 1676, d.h. kaum drei Jahre vor dem Tod des Dichters, so dass man den poetischen Reflexionen einen gleichsam testamentarischen Charakter zuschreiben kann: die Entmu- tigung, Mutlosigkeit, eine gewisse Bitterkeit sind unverkennbar. An- gesichts der vom Rat der Stadt unablässig bekämpften, schließlich dann doch erfolgten Etablierung der Jesuiten in der Stadt seit 1671 sowie der Ernennung eines neuen Oberlandeshauptmanns (Fürstbi- schof Friedrich von Hessen), der sich unerbittlich für den Katholizis- mus und gegen die Evangelische Konfession einsetzte, ahnte Hoff- mannswaldau wohl die Vergeblichkeit all seiner langjährigen Bemü- hungen um die Wahrung der Rechte der Stadt und ihre protestanti- schen Identität. Die konziliante Politik und die Loyalität der in Ka- sualgedichten so oft gelobten, treuen und redlichen Diener der “Re- publik” Breslau und der “Teutschen Libertät” wurden zunichte ge- macht. Die Erkenntnis eines persönlichen Versagens lässt sich übri- gens am deutlichsten aus dem Gedicht Cato ablesen,30 einer poetischen Verschlüsselung von Hoffmannswaldaus politischem Scheitern, hatte er doch 1671 als Ratsältester (also stellvertretend für die Stadt) den Erlass über den Einzug der verhassten Jesuiten in die Breslauer Burg eigenhändig unterzeichnen, und im Laufe der Jahre, bis zu seinem Tod, weitere Machtvorstöße der Katholiken hilflos akzeptieren müs- sen. Daher ist der stark ausgeprägte Gestus des contemptus mundi in den Begräbnisgedichten nicht ‘rein’ philosophisch zu verstehen, im Sinne etwa des Neustoizismus. Die Begriffe “Sturm”, “Unwetter”, “Donner” usw. verweisen – über eine durchsichtige metaphorische Hülle – auf ganz konkrete politische Hintergründe, welche zu ent- schlüsseln die damaligen Adressaten durchaus in der Lage waren. Die Motivation für die Produktion von Casualcarmina kann auf ein paar allgemeine Merkmale zurückgeführt werden. Da die Gelegen- heitsgedichte hauptsächlich das Repräsentationsbedürfnis der Adres- saten und ihrer Nachkommen befriedigen sollten, darf der Anstoß für die Abfassung von angeblich ästhetisch minderwertigen Gedichten teilweise auf eine Art ‘Pflichterfüllung’ gegenüber Gleichgesinnten

30 Vf: ‘…Und Caesar, Deinen Ruhm vertilgen von der Erden’. Hoffmannswaldaus ‘Cato’ als Sinnbild der schlesischen Ablehnung der kaiserlichen Macht. In: Der Fürst und sein Volk. Herrscherlob und Herrscherkritik in den habsburgischen Ländern der frühen Neuzeit. Hrsg. v. Pierre Béhar und Herbert Schneider. Sarre- brück (Annales Universitatis Saraviensis) 2003, S. 243-266.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 337 bzw. Verwandten und Freunden aus dem Breslauer Patriziertum zu- rückgeführt werden, wobei zwischen ‘Pflicht’ und ‘Zwang’ unter- schieden werden muss: “Die Pflicht ist, recht verstanden, die gefühls- bestimmte innere Übereinstimmung mit dem, was sich gehört; sie ist kein Zwang. […] Die Pflichterfüllung ist unaufschiebbar”.31 Übrigens empfand es der Breslauer Ratsherr und Kaiserliche Rat, der seinen Adressaten gegenüber kein Rangniedrigerer, sondern sozial gleich ge- stellt war, nicht als unter seiner Würde, Kasualdichtung anzufertigen, und man findet bei ihm selten eine Unterwerfungsgeste. Angesichts seiner privaten Verhältnisse (er war recht wohlhabend) und seiner ho- hen sozialen Position kommt selbstverständlich bei ihm eine materi- elle Motivation für das Abfassen von Kasualdichtung auf keinen Fall in Frage.32 Dafür ist das hohe ästhetische Selbstbewusstsein des Rats- herrn auffallend, schickte er doch seinem Korrespondenten in Nürn- berg, Johann Hieronymus Imhoff, dreimal ein Begräbnisgedicht als Beweis für seine dichterische Tätigkeit, allerdings jeweils begleitet von der üblichen rhetorischen Bescheidenheitsfloskel.33 Die Entscheidung jedoch, diese Kasuallyrik in eine offizielle, reprä- sentative Werksammlung aufzunehmen, dürfte einen tieferen Sinn ha- ben, war doch diese sorgfältig vorbereitete Publikation editio princeps und Ausgabe letzter Hand in einem. Dadurch wurde der primäre Cha- rakter des Gedichts, der der Gelegenheit, teilweise aufgehoben, und wich einer sekundären Funktion: dem Erweis der poetischen Fertig- keiten des Autors. Die postulierte ästhetisch-künstlerische Repräsen- tativität der offiziellen Gedichtausgabe wird übrigens in der “Gesamt- vorrede”, die Hoffmannswaldau noch vor seinem Tod abfassen konnte, unverhohlen behauptet: dort kommt der dichterische Ehrgeiz des Autors voll zum Ausdruck, ja ein hohes, fast arrogantes Selbstbe- wusstsein.

31 Wulf Segebrecht (s. Anm. 2), S. 176. 32 Noack (s. Anm. 4), S. 293: “Hoffmannswaldau lebte in gesicherten materiellen und finanziellen Verhältnissen und genoss durch seine Ratstätigkeit hohes Anse- hen in der Breslauer Bevölkerung – politische Stellung und soziale Lage schlie- ßen in seinem Fall das Bild vom Dichter als Vielschreiber und Auftragspoet aus.” 33 Die Briefe sind aufbewahrt in der Bibliotecka Uniwersytecka Wroclawiu: B 1, Nr. 47 & 57. Siehe insbesondere in Nr. 57 (1667): “du wirst Nachsicht üben ge- genüber dem schlaffen Stil und der starren Schreibart”. Der Briefwechsel von Hoffmannswaldau sollte bald wieder zugänglich gemacht werden, im Original mit Übersetzung sowie einem Kommentar (Gesammelte Werke, Bd. IV, hrsg. von M. Th. Mourey, Hildesheim, in Vorbereitung).

Chloe 43 338 Marie-Thérèse Mourey

Das Bild des “schlesischen Helicons”, das er am Ende dieser Vor- rede entwirft, ist außerdem eine idealisierte Konstruktion: diese para- digmatische Gemeinschaft verkörpert eine kulturelle und konfessio- nelle Identität mit moralischer Dimension, wobei nicht primär ästheti- sche, sondern ideologische, ja patriotische Kriterien maßgeblich sind (wahrscheinlich der Grund, warum der erfolgreiche, aber ideologisch nicht zuverlässige Johann Christian Hallmann verschwiegen wird, während der mittelmäßige Heinrich Mühlpfort für seine schmalen Verdienste gewürdigt wird). Der ästhetischen Qualität der Kasualge- dichte entspricht daher ein soziokultureller Mehrwert, sowohl für den Autor als auch überhaupt für die schlesische, deutschsprachige Lite- ratur. Wenn sie eben auch zur Bestätigung einer vielfachen künstleri- schen und sozialen Legitimität beiträgt, kommt der Kasualdichtung darüber hinaus eine dritte Funktion zu, die sozialer Natur ist:34 sie sig- nalisiert die ideologische Zugehörigkeit des Dichters, geht es doch auch um die Bestätigung einer spezifischen, politisch-konfessionellen, protestantischen Identität für ein breites Publikum in Breslau und Schlesien. Eine solche Kasualdichtung, teilweise Ausdruck der städtischen Selbstrepräsentation des Breslauer Rats, setzt sich vor allem zum Ziel, die Kohäsion der Gruppe zu stärken, indem bestimmte, typisch poli- tisch-ethische Werte wie Tugend, Treue und Redlichkeit, Selbstlosig- keit und Dienst am Vaterland verherrlicht werden. Gegenüber der Welt des Hofes, die durch Heuchelei, Verstellung, Wankelmütigkeit, Rivalitäten und Intrigen gekennzeichnet ist, streicht Hoffmannswaldau die Welt der ehrbaren, tugendhaften “Bürger” Breslaus als Gegenpol heraus, nach dem Prinzip der moralisch-ethischen Antithese. Der Kern der Antinomie wird bei Arzat erreicht, mit der Behauptung, die re- publikanischen Tugenden seien den Vertretern der respublica Vratis- laviensis angeboren, während die böse Welt dem Zwang der Gesetze unterworfen werden müsse.35

34 Jan Drees: Die soziale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Studien zur deutsch- sprachigen Gelegenheitsdichtung in Stockholm zwischen 1613 und 1719. Stock- holm 1986, insbes. die Einleitung: Gelegenheitsdichtung als literaturwis- senschaftliches Problem. 35 DÜG (s. Anm. 11), Begräbnisgedicht N 4: Trauerschreiben an einen guten Freund, S. 714-720: “Gott und dem Kaiser stets/ treu und verpflicht zu bleiben/ Und vor das Vaterland zu opffern Leib und Gut/ Dazu die faule Welt muß das Gesetze treiben/ Ward Ihm durch Eigenschafft gepreget in das Blut.”

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 339

Dieser Verklärung und Heroisierung der wackeren Verteidiger des schlesischen Vaterlandes entspricht eine ähnliche Idealisierung der Stadt Breslau als Festung (die lutherische ‘Burg’) des wahren Glau- bens. Dies würde erklären, warum man in Hoffmannswaldaus Dich- tung den Typus des Herrscherlobs nicht vorfindet, und warum die of- fizielle Gedichtausgabe ohne Widmungsvorrede erschien – eine Sel- tenheit in dieser Zeit: eine solche Widmung wurde sogar im Verlags- vertrag ausdrücklich untersagt!36 Außer dem bereits erwähnten Ge- dicht über den Tod des letzten Piastischen Herzogs, das aber nicht von ungefähr den Geistlichen Oden zugeordnet wurde, bezieht sich die pa- negyrische Casuallyrik ausschließlich auf die jeweiligen Vertreter der republikanischen Ordnung, wird also in den Dienst der öffentlichen Repräsentation der Stadt und des schlesischen Vaterlandes gestellt – eine letzte, verzweifelte Geste des Stolzes angesichts der unabwend- baren Niederlage. Eine interessante Ausnahme bildet das bereits erwähnte Hochzeits- gedicht für die Schwester des Kaisers.37 Dort werden die üblichen Gat- tungskonventionen, die thematischen wie auch die rhetorischen, nicht erfüllt. Nirgendwo ist von der ehelichen Liebe, von der Liebesvereini- gung bzw. von dem erwarteten Nachwuchs die Rede, weder Venus noch Cupido werden für die Szenerie bemüht; vielmehr verbirgt die poetische inventio, die Prosopopöie der Weichsel-Nymphen, die die Braut anreden und sich vor ihr neigen (“wir öfnen dir die treue Brust/ Wir bücken uns zu deinen Füssen”), eine demütige Bitte um Gnade und Wohlwollen der neuen Herrscherin, der sie sich als ‘Opfer’ hin- geben. Die übrigens recht schwache Pointe des Gedichts stellt eine gegenseitige Zuneigung in Aussicht – eine subtile Verschleierung der Verhältnisse, wenn man bedenkt, dass dieses Gedicht gerade während der doch heiklen Wiener Mission verfasst wurde, als für die Breslauer ‘Untertanen’ alles von der ‘Gnade’ des Herrschers abhing.

36 Vgl. Verlagsvertrag (s. Anm. 14): “… und zwar also, daß solche [=die Gedichte] allemahl unter keinem andern Titul des Authoris als CHVH bey Vermeidung ei- niger dedication alleine wie sie hierinnen specificiret, und ohne den geringsten Zusatz, unter welchem scheine es immermehr wolle, gedruckt werden sollen.” Dazu Robert Beare: Hofmannswaldau and the problem of bibliographical evi- dence. In: Modern Language Notes 86 (1971), S. 625-648, bei dem der Vertrag wieder abgedruckt wird. 37 Die Weichsel-Nymfen an eine Königliche Braut, in: DÜG (s. Anm. 11), Hoch- zeit-Gedichte Nr. 1, S. 635-637.

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In dem höchst gespannten Kontext der siebziger Jahre des 17. Jahr- hunderts konnte aus einer solchen Publikation daher nicht nur der Dichter in eigener Sache, sondern darüber hinaus ganz Schlesien ein enormes ‘symbolisches Kapital’ schlagen. Der nachhaltige Erfolg die- ser autorisierten Gedichtsammlung – sie erlebte zwölf Auflagen bis 1730 – zeugt von der vollkommenen Integration des Dichters in die deutschsprachige Literaturlandschaft, dokumentiert doch die ausführ- liche Vorrede das aufrichtige Engagement des Autors im Dienste des von Opitz in die Wege geleiteten kulturpatriotischen Projekts.38 Wäh- rend das Werk de facto kanonische Geltung erhielt, erschien der von seinen Zeitgenossen und Nachfolgern als ‘großer Pan’, ‘deutscher Ovidius’ und ‘Fürst der Musen’ gefeierte Hoffmannswaldau als eine wichtige Identifikationsfigur für ein schlesisches Vaterland, das seine Würde wieder erlangt hatte. In Anlehnung an Goethes wohlbekannten Spruch (“Alle meine Ge- dichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit an- geregt und haben darin Grund und Boden”39) würde ich für eine mögliche Erweiterung des ohnehin noch unscharfen Begriffs “Gele- genheitsdichtung” auf das gesamte Werk von Hoffmannswaldau plä- dieren und für eine Neubetrachtung der Gedichte unter dem Aspekt der occasio. Dadurch wird der heutige Leser allerdings mit einer Schwierigkeit konfrontiert, führt doch das Postulat einer internen Kommunikationsfunktion dieser Literatur zum damaligen Erwartungs- horizont der Leser zurück, dessen Rekonstruktion sich wiederum als äußerst schwierig ausnimmt. Dennoch wurde mit der Erforschung der jeweiligen präzisen Entstehungszusammenhänge von Hoffmannswal- daus Kasualgedichten ein sehr wichtiger, erster Schritt in diese Rich- tung gemacht. In dieser Hinsicht kann man durchaus die berühmten Heldenbriefe als Kasualdichtung interpretieren, und zwar als ein ganz apartes Epi- thalamium, für ein schlesisches Fürstenpaar verfasst.40 Hier scheint ein hoher, ja extremer Subversivitätsgrad erreicht zu sein, werden doch,

38 Zu der ‘Gesamtvorrede’ des Autors, siehe Vf., Poésie et éthique au XVIIe siècle (s. Anm. 6), I. Teil. 39 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hrsg. v. Ernst Beutler. Zürich 1967, S. 48 f. 40 Lothar Noack: Die handschriftliche Überlieferung der ‘Helden-Briefe’ Hoff- mannswaldaus und ihre Umarbeitung für den Druck. In: Daphnis 19 (1990), S. 653-686.

Chloe 43 Zwischen Tradition und Subversion 341 als Geschenk für eine fürstliche Hochzeit, höchst heikle Liebesge- schichten (mit Bigamie, Ehebruch oder gar Mord) poetisch behandelt. Vor allem verweist das Ganze indirekt auf einen anderen Anlass, die skandalöse Bigamie des Pfalzgrafen Karl Ludwig, mit dem ja die Braut verwandt war! Man darf hinter dem literarischen Unterfangen weit mehr als eine “Pikanterie”41 erblicken. Hinter der angenehmen, ingeniösen Fassade der literarischen Huldigung schimmert also eine unmissverständliche Kritik durch, ja eine Warnung an die Fürsten, durch ihr Privatverhalten und die Macht ihrer Affekte das politische Kräftespiel nicht zu gefährden42 – im Grunde ist das Werk nichts ande- res als Liebeskasuistik.43 Aber die in die Argumentation eingefloch- tenen, unüberhörbaren Seitenhiebe auf die Falschheit und Treulosig- keit der hohen Standespersonen wurden schon von der Forschung re- gistriert, allerdings ohne dass diese ‘antihöfische’ Strömung auf prä- zise Umstände zurückgeführt worden wäre. Die Anwendung der Bourdieuschen Feldtheorie auf dieses berühmte Werk würde vielleicht ein neues Licht auf die feststellbaren literarischen Konventionsbrüche werfen (‘Eigengesetzlichkeit’, ‘Freiräume’) und die Rolle der wohlbe- kannten ‘Ironie’ beleuchten, deren präzise Hintergründe leider bisher nicht erforscht wurden.

41 So Lothar Noack (s. Anm. 4), S. 325. 42 Vgl. Vf., Rezension zu: Lothar Noack (s. Anm. 4). In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 42 (2001), S. 445-448. 43 Vf.: ‘Palaestra affectuum’ oder ‘flabellum affectuum’? Zur Rechtfertigung der Affektendarstellung in Hoffmannswaldaus Dichtung. In: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Jean- Daniel Krebs. Bern 1996, S. 119-135 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A 42).

Chloe 43

Catharina Regina von Greiffenberg: Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi Zwölf andächtige Betrachtungen. Nürnberg 1672, Elftes Emblem, S. 864.

Chloe 43

J o h a n n A n s e l m S t e i g e r

“DER TAUBEN-FELS, IST DIESE SÜSSE HÖLE” Die lyrische Verarbeitung eines Topos der Hohelied-Exegese in der Kasuallyrik Sigmund von Birkens

1. Text

über das XI. Passions-SinnBild. Ein Fels, mit einem Taube in seiner Höle, Hinten der Tauben Thurn.

Bey Salem dort, wo Sions Burg sich spitzet, ein holer Fels im Schoß der Thäler sitzet, trug einen Thurn, von Tauben zugenamt: weil sie daselbst geheckt und sich besamt. vnfern davon der Brunn Siloha flosse, vom Sions-Fels, ein klares wasser gosse. Ach Ort! ach du bist meines Jesu Bild, dem dort ein Speer die Seite hölt und spilt. Der Tauben-Fels, ist diese süße Höle: Die ich allein zur wohnung mir erwehle. Jesu! mein Fels! ruff mir zu dir hinein: Jch flieg, ich komm, ich will dein Täublein seyn. Der Vogel hat bey dir sein haus gefunden. Jn dieser Kluft, in deinen Edlen Wunden, an diesem ort, dann er gefällt mir wol, fort ewiglich mein Seele wohnen sol. Es darf ja nicht die Höll’ in diese Höle mir folgen nach, darein ich mich verstehle. Es ist auch diß der Fels, der von sich gibt ein klares naß, das eine Taube liebt. Aus Sion ist das rohte Heil gerunen, Ich halte mich zu diesem Felsen Brunnen, den Gott gesand, die Seel zuwaschen rein. Du Sions-Burg, solst mein Parnassus seyn. hier find ich recht den schönen Hippocrene.

Chloe 43 344 Johann Anselm Steiger

Hier werdet naß, ihr HimmelMusen-Söhne! Hier man sich trinkt voll Liebe, Feur und Geist, und seeliglich ein Himmels-Dichter heist.1

2. Interpretation

Vorliegendes Gedicht legt exemplarisch Zeugnis ab von der außeror- dentlich engen und intensiven Zusammenarbeit Sigmund von Birkens (1626-1681)2 mit der Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg (1633-1694). Birkens Text wurde gedruckt in Greiffenbergs 1672 pu- bliziertem Werk Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi Zwölf andächtige Betrachtungen,3 links neben dem elften Emblemkupfer (vgl. Abb.). Das Emblem trägt das Motto “Jn Wunden gefunden”. Das Gedicht steht unter dem Titel Erklärung des Sinnbilds. Birken hat zu Greiffenbergs Passionsbetrachtungen fünf der insgesamt zwölf emblematischen Erfindungen sowie die betref-

1 Sigmund von Birken: Todten-Andenken und Himmels-Gedanken. oder Gottes- und Todes-Gedanken (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Archiv des Pegnesischen Blumenordens [fortan: PBlO] B.3.3.1), fol. 181r-182r. 2 Vgl. zu Birken Klaus Garber: Art. Birken, Sigmund von. In: Literatur-Lexikon. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 1. Gütersloh u.a. 1988, S. 516-519. Hartmut Lauf- hütte: Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Passau 2007. Conrad Wiedemann: Sigmund von Birken 1626-1681. In: Fränki- sche Klassiker. Hrsg. von Wolfgang Buhl. Nürnberg 1971, S. 325-336. Joachim Kröll: Sigmund von Birken (1626-1681). In: Fränkische Lebensbilder 9 (1980), S. 187-203. Ferdinand van Ingen: Sigmund von Birken. Ein Autor in Deutsch- lands Mitte. In: ’der Franken Rom’. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 257-275. 3 Catharina Regina von Greiffenberg: Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Lei- dens und Sterbens Jesu Christi Zwölf andächtige Betrachtungen: Durch dessen innigste Liebhaberin und eifrigste Verehrerin Catharina Regina/ Frau von Greif- fenberg/ Freyherrin auf Seisenegg/ Zu Vermehrung der Ehre GOttes und Erwe- ckung wahrer Andacht/ mit XII. Sinnbild-Kupfern verfasset und ausgefertigt. Nürnberg 1672 (HAB Wolfenbüttel Th 1057), S. 864. Zu Greiffenbergs Passi- onsandachten vgl. Hartmut Laufhütte: Passion Christi bei Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. In: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von J.A. Steiger in Verbindung mit Ralf Georg Bogner, Ulrich Heinen, Renate Steiger, Melvin Unger und Helen Watanabe- O’Kelly, 2 Bde. Wiesbaden 2005 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barock- forschung 43), S. 271-287 sowie Vanessa Lohse: Poetische Passionstheologie. Beobachtungen zu Catharina Regina von Greiffenbergs ‘Betrachtungen des Leidens Christi’. In: Ebd., S. 289-299.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 345 fenden Erklärungsgedichte beigesteuert – nämlich diejenigen zur achten bis zwölften Passionsandacht, während die übrigen von Greif- fenberg selbst stammen.4 Die Arbeit an den Emblem-Entwürfen schloss Birken, wie er in seinem Tagebuch berichtet, am 17.7.1672 ab.5 Alle fünf Texte sind in Birkens chronologisch angelegter Sammelhandschrift mit dem Titel Todten-Andenken und Himmels-Ge- danken. oder GOTTES- und Todes-Gedanken überliefert. In diesen Todten-Andenken finden sich v.a. Leichencarmina und Grabinschrif- ten, aber auch Gelegenheitsgedichte zu anderen Anlässen, etwa zu Namenstagen, Hochzeiten, Taufen und Neujahrsfesten sowie Wo- chengebete etc. Dass Birken in seine Sammelhandschrift, deren Publi- kation er wohl geplant, aber nicht hat durchführen können, auch Widmungsgedichte und – wie in vorliegendem Falle – lyrische Text- beigaben zu Werken anderer Autoren aufnahm, lässt erkennen, dass er auch diese Formen der Textproduktion als integrale Bestandteile des Dichtens bei Gelegenheit betrachtete. Letztendlich wird man Birkens gesamtes Œuvre – ähnlich demjenigen Simon Dachs, wenngleich Dif- ferenzierungen angebracht und auch nötig sind – als ein monumenta- les Konglomerat von Textproduktionen betrachten müssen, die sich allesamt einer spezifischen Gelegenheit verdanken. Die Druckversionen der fünf für Greiffenbergs Passionsandachten produzierten Gedichte lassen die Autorschaft Birkens nicht erkennen. Dass Birken der Verfasser ist, wissen wir also nur aus der Sammel-

4 Vgl. hierzu detailliert Hartmut Laufhütte: Geistlich-literarische Zusammenarbeit im Dienste der ‘Deoglori’. Sigmund von Birkens Emblem-Erfindungen für die Andachtswerke der Catharina Regina von Greiffenberg. In: Polyvalenz und Mul- tifunktionalität der Emblematik. Multivalence and Multifunctionality of the Em- blem. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Proceedings of the 5th International Conference of the Society for Emblem Stu- dies. Frankfurt a.M. 2002, Teil 2, S. 581-596, hier: S. 584 f. Zur Relevanz der Emblematik in Birkens Werk vgl. Hartmut Laufhütte: Oedipus und der Seiden- wurm. Zu einem emblematischen Rätsel Sigmund von Birkens. In: Kunst und Humanismus. Festschrift für Gosbert Schüßler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Augustyn und Eckhard Leuschner. Passau 2007, S. 475-486 sowie J.A. Steiger: Pfau und Kranich. Ein Beitrag zur Emblematik in der geistlichen Dich- tung Sigmund von Birkens (1626-1681). In: Praktische Theologie und Landeskir- chengeschichte. Dank an Walther Eisinger. Hrsg. von Johannes Ehmann. Mün- ster 2008 (= Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 12), S. 349-363. 5 Vgl. Sigmund von Birken: Die Tagebücher des Sigmund von Birken. Bearb. von Joachim Kröll, 2 Teile. Würzburg 1971/1974 (= Quellen und Darstellungen zur fränkischen Kunstgeschichte 5 f.), II, S. 133 (= PBlO.B.2.1.7, fol. 81v).

Chloe 43 346 Johann Anselm Steiger handschrift. Birken hat Greiffenberg, wie insbesondere aus dem Brief- wechsel der beiden hervorgeht, im Zuge der Abfassung der Passions- betrachtungen intensiv beraten, ihre Texte redigiert, Vorschläge be- züglich der Gestaltung der Kupferstiche unterbreitet, Korrektur gele- sen und schließlich das fertige Manuskript zum Druck gebracht. Be- züglich dieser Zusammenarbeit finden sich in der Korrespondenz Bir- kens und Greiffenbergs im Zeitraum von September 1671 bis Mai 1672 vielfältige Hinweise, die Hartmut Laufhütte eingehend analysiert hat.6 Im Zentrum von Birkens Gedicht zur elften Passionsbetrachtung Greiffenbergs steht ein im Luthertum der Barockzeit weitverbreiteter Topos, der es mit der allegorisch-intertestamentarischen Auslegung von Hld 2,13 f.7 im Lichte des Kreuzigungsberichtes des Johannes- Evangelium zu tun hat. Dabei wird die Rede von der in der Felsenritze Zuflucht findenden Taube des Hohenliedes bezogen auf die Wasser und Blut von sich gebende Seitenwunde Jesu Christi, in der der Glau- bende Schutz vor den Verderbensmächten und sakramental vermittelte Rettung findet. Dieser Topos, zu dessen Prägung im mittelalterlichen Kontext nicht zuletzt Bernhard von Clairvaux in seinen Sermones su- per Cantica,8 aber auch Johannes Tauler9 beigetragen hat, erfreute sich

6 Vgl. Laufhütte: Zusammenarbeit (s. Anm. 4). Vgl. zudem Hermann Stauffer: Sigmund von Birken (1626-1681). Morphologie seines Werks, 2 Bde. Tübingen 2007, S. 812-814. 7 Vgl. zum Zusammenhang Ernst Koch: Beobachtungen zum Umgang mit dem Hohenlied in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums im 16. bis 18. Jahr- hundert. In ders.: Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Lu- thertums im 16. bis 18. Jahrhundert. Hrsg. von Matthias Richter und J.A. Steiger. Waltrop 2005 (= Texte und Studien zum Protestantismus des 16. bis 18. Jahrhun- derts 3), S. 285-306. 8 Bernhard von Clairvaux: Sermones super Cantica, sermo 61, cap. 2 f. In ders.: Opera. Bde. 1-8. Hrsg. von Jean Leclercq, C. H. Talbot und H. M. Rochais (Bde. 1-2). Hrsg. von Jean Leclercq und H. M. Rochais (Bde. 3-8). Rom 1957-1977, hier: Bd. 2, S. 148 f. Vgl. hierzu wie zum folgenden Ernst Koch: Die Bernhard- Rezeption im Luthertum des 16. und 17. Jahrhunderts. In ders.: Studien (s. Anm. 7), S. 307-328. 9 Vgl. Johannes Tauler: Geistreiche Betrachtungen/ Oder Andachts-Ubungen Uber das Leben und Leyden unsers Erlösers JEsu Christi; Wie sie von ihme zu Anfang seiner wunderbaren Erleuchtung für sich und andere Jesus-Liebhabere entworf- fen. Frankfurt a.M. 1692 (HAB Wolfenbüttel Lo 7507 [9]), S. 115: “Komme meine Schwester/ meine Braut/ meine Taube; Komme/ sage ich/ in die Felß- löcher und Steinritzen/ das ist in meine Honig-fliessende Wunden/ komme/ dann

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 347 bei einiger Beliebtheit. Allerdings passt Luther – wie kaum anders zu erwarten – die allegorische Interpretation von Joh 19,34 in die Koordinaten seines Verständnisses der Rechtfertigung des Sünders allein aus Glauben ein: So wie die Taube in der Steinritze Zu- flucht hat, findet, wie Luther in De votis monasticis ausführt, das Ge- wissen des Sünders einzig und allein in Christi Werk, d.h. in dessen Verdienst Gewissheit und Trost ohne jegliche eigene Werke:

Atque ita heret fidelis conscientia in solis operibus Christi absolutissime, et est columba illa in foraminibus petrae et in cavernis maceriae, sciens certis- sime, se non posse securam et quietam esse nisi in solo Christo, in omnibus vero operibus propriis non posse nisi ream et pavidam damnatamque ma- nere.10

Nicht zuvörderst bestimmte Übungen der Frömmigkeit, Askese, ab- negatio sui, nicht also die Aktivitäten des Menschen führen zu dessen Vereinigung mit Christus, sondern nur der Glaube, mithin das, was Gott im Menschen wirkt, versetzt den Glaubenden in die Seitenwunde Christi und kausiert die unio mystica cum Christo – und zwar solo Christo. Darum sagt Luther in einer der Weihnachtspredigten seiner im späteren Luthertum außerordentlich wirkungsträchtigen und weit verbreiteten Kirchenpostille:

Und ynn Canti. spricht er: Meyne brawtt ist eyn tawbe, die do nistet ynn den löchernn des felßen unnd ynn den maurklufften, das ist, ynn Christus wunden wirtt die seel behallten. Sihe, das ist der rechte Christliche glawbe, der nit ynn und auff yhm selber, […] ßondern yn Christum kreucht und unter yhn unnd durch yhn behallten wirtt.11

Die bei Luther zu findende, programmatisch soteriologische Zuspit- zung der Allegorese von Hld 2,13 f., der zufolge Rettung vor dem Zorn Gottes nur bei Christus, mithin in dessen Wunden zu finden ist, da er allein das göttliche Zornesgericht an Stelle der Menschen erlitten

unser Bette ist bereitet/ geschmücket und gezieret mit rothen Wunden/ und mei- nem theuren Blut.” 10 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe, bislang 72 Bde. Weimar 1883- 2007 (fortan zit. WA), hier: WA 8,606,39-607,4 (De votis monasticis 1521). 11 WA 10/I,1,127,1-6 (Kirchenpostille 1522, Früh-Christmesse, Tit 3,4-7). Vgl. auch WA 54,114,25-29 (Vorrede zu Georg Spalatin, Magnifice consolatoria ex- empla et sententiae 1544).

Chloe 43 348 Johann Anselm Steiger hat, wird auch darin deutlich, dass der Reformator die in Ps 139,7 formulierte Frage mit Hilfe von Hld 2,14 beantwortet, indem er sagt: “’Quo enim fugiam a fatie furoris tui, Domine? In foraminibus petrae et cavernis maceriae latebo, donec pertranseat furor tuus’. Petra est Christus, qui vulnera pro meo delicto tulit in carne sua, et in his for a- minibus qui non fuerit occlusus, non potuerit suffugere iuditium Do- mini.”12 Und auch der Aspekt des Schutzes der Glaubenden vor den Nachstellungen des Teufels, dem in der späteren Auslegungstradition verstärktes Augenmerk geschenkt wurde, findet sich bei Luther: “Non possumus bestehen coram diabolo, nisi krichen unserm herrn inn seine wunden. Jnn den löchern der felsen i.e. vulneribus Christi. Cant.”13 Welch starke Rezeption der Seitenwunden-Topos bei lutherischen Theologen des 17. Jahrhunderts fand, lässt sich u.a. anhand des Œuvre des führenden Jenaer Barocktheologen Johann Gerhard (1582-1637)14 beobachten. Gerhard entziffert Hld 2,13 f. als Aufruf des Bräutigams Christus an die Braut, seine Seitenwunde als Zufluchtsstätte aufzusu- chen, und lässt die Braut sagen: “audio vocem in Cantico, quae jubet me abscondere in foraminibus petrae, tu es petra firmissima, foramina petrae sunt vulnera tua, in illis me abscondam contra accusationes omnium creaturarum.”15 Gerhard charakterisiert das Gebet als eine Flucht des Angefochtenen in Christi Seitenwunde, in der dem Glau- benden Einblick in das liebende Herz Christi und in dessen “arcana cordis” gewährt wird, wie Gerhard im Anschluss an Bernhard von Clairvaux, die ps-augustinische Tradition und Ludovicus Granatensis sagt.16

12 WA 4,704,14-18 (Sermone aus den Jahren ca. 1514-1520). Zur stärker ethischen Zuspitzung dieser Hld-Stelle vgl. WA 4,646,10-12: “Impossibile est enim, ut anima non recipiat flammam bonae voluntatis, quae fixe in vulneribus Christi pendeat. Unde rursum: ‘Amica mea in foraminibus petrae, in cavernis maceriae’ i.e. in plagis et vulneribus Christi.” 13 WA 46,327,20 f. (Predigten des Jahres 1538 [Nr. 32]). 14 Vgl. J.A. Steiger: Art. Gerhard, Johann. In: Deutsche Biographische Enzyklopä- die für Theologie und Kirchen 1 (2005), S. 491. 15 Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606/7). Lateinisch-deutsch. Kritisch hg., komm. und mit einem Nachwort vers. von J.A. Steiger, 2 Bde. Stuttgart-Bad Cannstatt 2000 (= Doctrina et Pietas I, 3), S. 33, Z. 65-68. 16 Vgl. ebd., S. 76, Z. 59 f., wo Gerhard Ps-Augustin, Manuale, cap. 21, Migne, Pa- trologia Latina 40, Sp. 960 zitiert: “Per foramina corporis patent mihi arcana cor- dis, patet magnum pietatis sacramentum, patent viscera misericordiae Dei nostri, in quibus visitavit nos Oriens ex alto.” Ebd., S. 55, Z. 10-S. 56, Z. 1 zitiert Ger- hard Ludovicus Granatensis: De praecipuis articulis et mysteriis vitae Servatoris

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 349

Auffallend bei Gerhard ist besonders die im Vergleich mit Luther stärkere, allegorisch bedingte amplificatio des Trost-Gedankens durch die Bildlichkeit der ‘Trostwärme’ und der ‘blutwarmen Wunden’. Die Wärme des aus Christi Wunden für die Menschen fließenden Blutes ist demnach das Hilfsmittel gegen die Kälte der Anfechtung: “Also wenn vnsere Hertzen in schweren Anfechtungen wollen erkalten/ wenn wir keine Trostwärme haben/ so können wir in den blutwarmen Wunden Christi Trost finden/ daß vnsere Hertzen wiederumb erwär- met werden vnd lebendigen Trost empfinden […].”17 Doch nicht nur vor der Kälte der Anfechtung bieten Jesu Wunden – so Gerhard – tröstenden Schutz, sondern auch vor der Hitze des göttlichen Zorns, weil Christus ihn ein für allemal stellvertretend für das menschliche Geschlecht in Gethsemane und am Kreuz in seiner totalen Gottverlas- senheit empfunden hat.

Jn den Felßlöchern vnd Steinritzen ist ein Täublein sicher […] ab aestu, vor der grossen Hitze der Sonnen/ wenn sie in grosser Hitze ächtzet/ so findet sie Schatten vnd Erquickung in den kühlen Felsen/ also auch können wir in den Wunden Christi für der Hitze des göttlichen Zorns bewahret werden […] so können wir auch in Christi Wunden durch wahren Glauben für dem Zorn Gottes bewahret und erhalten werden.18

nostri Jesu Christi, Prolog. In: Ders.: OPVSCVLA SPIRITVALIA, ET VALDE PIA. IN QVIBVS peccatores à semita vitiorum & perditionis, ad regiam virtu- tum, perfectionis, ac salutis aeternae viam, perducuntur […]. Übers. von Michael ab Isselt. Köln 1626 (HAB Wolfenbüttel Ll 2 2), S. 665a: “Propterea voluit Saluator latus suum aperiri lancea, vt significaret nobis, quòd per fenestram vul- neris illius intrare debemus ad secretum cordis & sanctuarium diuinitatis ipsius.” 17 Johann Gerhard: Postilla Salomonaea, Das ist Erklärung etlicher Sprüche aus dem Hohenlied Salomonis auff die Sontägliche vnd vornembste Fest Evangelia durchs gantze Jahr gerichtet, vnd Jn der Kirchen S. Michaelis beÿ der Vniversitet Jehna in den ordenlichen Freÿtagspredigten der Gemeine Gottes fürgetragen […], 2 Bde. Jena 1631 (UB Leipzig St. Thomas 644), II, S. 74. 18 Gerhard, Postilla Salomonaea (s. Anm. 17), II, S. 71. Vgl. auch Martin Chemnitz, Polycarp Leyser, Johann Gerhard: Harmoniae Qvatuor Evangelistarvm […] Tomvs Secundus. Qvi Solivs Est Joh. Gerhardi. Frankfurt a.M./ Hamburg 1652 (HAB Wolfenbüttel Td 4 22), S. 2051 a/b: “Voluit insuper Christus latus suum sibi aperiri, ut ab ira divina in eo nos abscondere possimus Cant. 2. v. 13. Surge, propera amica mea, speciosa mea & veni, v. 14. Columba mea in foraminibus petrae, in caverna maceriae.” Vgl. ebd., S. 2051b: “Foramina petrae sunt sancta Christi vulnera, in quibus per veram fidem ab ira Dei abscondi possumus.” Vgl. weiter Johann Gerhard: Homiliarum Sacrarum In Pericopas Evangeliorum Dominicalium Et praecipuorum totius anni festorum […], PARS I. [- PARS III.]. Jena 1634/1634/1640 (HAB Wolfenbüttel 697. 10-12 Theol.), hier: I, S. 1497 f.:

Chloe 43 350 Johann Anselm Steiger

In Christi Wunden herrscht Gerhard zufolge somit gewissermaßen das gemäßigte Klima, das die Angefochtenen davor bewahrt, entweder vor der Hitze des Zornes Gottes oder vor der klirrenden Kälte der teufli- schen Anfechtung zu vergehen. Hieran zeigt sich exemplarisch, wie sehr es der lutherischen Theologie der Barockzeit darum zu tun ist, der mittelalterlichen mystischen Topik eine Transformation angedeihen zu lassen, die sich der Lutherschen Rechtfertigungslehre verpflichtet weiß. Denn Gerhard integriert die mystische Sprache in die Predigt der typisch reformatorisch-Lutherschen Soteriologie, die in der tröstli- chen Botschaft ihren Kulminationspunkt hat, dass Christus anstelle der Menschen den Zorn Gottes über die Sünde sowie den ewigen Tod ertragen und die Menschen so aus dem verdammenden Gericht Gottes genommen hat. Dieser Interpretations- und Transformationsvorgang zeigt sich auch darin, dass Gerhard zwar ein Zitat aus Bernhards Ho- helied-Predigten darbietet, direkt daneben aber epexegetisch ein Lu- ther-Choral-Zitat stellt:

Dahin sihet auch Bernhardus, wenn er schreibet serm. 61. in Cant. Ubi tuta firmaque securitas, nisi in vulneribus Salvatoris? Wo ist doch sichere Ruhe anders als in Christi vnsers Heylandes Wunden zu finden? Mitten in dem Leben sind/ | Wir mit dem Tod vmbfangen […].19

Gerhard dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Hohe- lied-Exegese und speziell der reformatorisch transformierte Topos von der Felsenritze innerhalb der lutherischen Orthodoxie derart weite Verbreitung gefunden hat. Was nun speziell den Nürnberger Kontext

“Christus eo modo fuit crucifixus, ut non solùm ejus manus & pedes clavis fer- reis transfigerentur, sed etiam latus in cruce pendentis lanceâ fuerit apertum. Hanc lateris sui apertionem Christus propter nos sustinere voluit, ut cor amore erga nos flagrans introspicere possemus. Per hanc lateris apertionem apertus fuit fons sanguinis, qui nos à peccatis ablueret, quia ex aperto Christi crucifixi latere profluxit sanguis & aqua. Petra illa salutis nostrae aperturam illam suscepit, ut in ea nos abscondere possemus. Cant. 2. v. 14. Columba mea in foraminibus petrae, in caverna maceriae. Hoc latus Christi crucifixi apertum devotae mentis oculis intuere & dic ex vera fide. O Domine Jesu, qui laterale illud vulnus propter me sustinere voluisti, ecce adsisto cruci tuae, irrora super me preciosum tuum san- guinem lateralem, qui est sanguis cordis tui, ut eo à peccatis abluar, absconde me in hoc foramine petrae ab irae divinae tempestate.” 19 Gerhard: Postilla Salomonaea (s. Anm. 17), II, S. 68. Zum Bernhard-Zitat vgl. Bernhard (s. Anm. 8), Bd. 2, S. 150, Z. 7 f. (Sermo 61 super Cantica).

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 351 betrifft, der im Hinblick auf Birkens geistliche Lyrik als predigt- und frömmigkeitshistorisches Koordinatensystem von großer Relevanz ist, so ist auffällig, dass Hld 2,13 f. sowie dessen allegorische Auslegung in den Predigten und Erbauungsschriften von Gerhards Schüler Jo- hann Michael Dilherr (1604-1669)20 auf Schritt und Tritt begegnen. Adolph Saubert (1635-1678),21 Diakon an St. Sebald zu Nürnberg, be- richtet in seiner am 13.4.1669 gehaltenen Leichenpredigt auf Dilherr, dass Hld 2,13 f. der “Leib-Spruch”22 des Verstorbenen gewesen sei,

20 Zu Dilherr vgl. Renate Jürgensen: Bibliotheca Norica. Patrizier und Gelehrtenbibliotheken in Nürnberg zwischen Mittelalter und Aufklärung, 2 Teile. Wiesbaden 2002 (= Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 43), hier: I, S. 247-531. Dies.: Johann Michael Dilherr und der Pegnesische Blumenorden. In: Europäische Sozietätsbewegung und demokratische Tradition. Die europäischen Akademien der Frühen Neuzeit zwischen Frührenaissance und Spätaufklärung. Hrsg. von Klaus Garber und Heinz Wismann, 3 Bde. Tübingen 1996, S. 1320- 1360. Wilhelm Kühlmann: Addenda zur Korrespondenz Johann Michael Dilherrs, zugleich ein Hinweis auf einen Briefcodex namhafter Theologen (BUN Straßburg). In: Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte 59 (1990), S. 105- 115. Thomas Bürger: Der Briefwechsel des Nürnberger Theologen Johann Mi- chael Dilherr. In: Barocker Lust-Spiegel. Studien zur Literatur des Barock. Fest- schrift Blake Lee Spahr. Hrsg. von Martin Bircher u.a. Amsterdam 1984 (= Chloe 3), S. 139-174. Dietmar Peil: Zur ‘angewandten Emblematik’ in protestantischen Erbauungsbüchern. Dilherr – Arndt – Francisci – Scriver. Heidelberg 1978 (= Beihefte zum Euphorion 11). Williard James Wietfeldt: The emblem literature of Johann Michael Dilherr (1604-1669). An important preacher, educator and poet in Nürnberg. Nürnberg 1975 (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 15). Gerhard Schröttel: Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg. Nürnberg 1962 (= Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 34). 21 Vgl. Deutsches Biographisches Archiv I, 1082, 133-135 sowie Nürnbergisches Pfarrerbuch. Die evangelisch-lutherische Geistlichkeit der Reichsstadt Nürnberg und ihres Gebietes 1524-1806. Bearb. von Matthias Simon. Nürnberg 1965 (= Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 41), S. 192. 22 Vgl. Adolph Saubert: Tauben-Rast der Christen-Seelen/ Jn deß Lebens-Felses Hölen. Aus den Worten deß Hohen Braut-Liedes/ welche zu finden sind/ in des- sen 2. Capitel/ zu Ende deß 13. und im Anfang deß 14. Versiculs/ abgemerket/ Und/ Bej ansehlich-volkreicher/ doch höchstbetrauerlicher Leichbegängnis/ Deß WolEhrwürdig- und Hochgelehrten Herrn Johann Michael Dilherrn/ Gewesenen fördersten Predigers/ Bibliothecarii, und/ in dem Auditorio AEgidiano, Theologi- ae, Philosophiae, & Lingg. Orientalium Professoris, wie auch deß Gymnasii und anderer Schulen Directoris, und sowol derselben/ als aller Beneficiariorum In- spectoris allhier/ etc. Welcher Anno 1669. am grünen Donnerstag/ als dem 8. Aprilens/ sanft und seelig in seinem Erlöser eingeschlaffen/ und am darauf er- folgten Osterdienstag/ als den 13. deß ermeldeten Monats/ auf dem Gottes-Akker

Chloe 43 352 Johann Anselm Steiger und erwähnt, dass er, Saubert, eben diesen Text als Grundlage für seine Leichenpredigt auf ausdrücklichen Wunsch Dilherrs gewählt habe. Für seinen Grabstein hat Dilherr folgende Inschrift verordnet: “Jn deinen Wunden/ o HErr Christ! All mein Trost/ Heil/ und Leben ist.”23 Aus der anlässlich des Todes Dilherrs produzierten umfängli- chen Gedenkausgabe geht außerdem hervor, dass, bevor Saubert seine Leichenpredigt hielt, ein geistliches Lied aus Dilherrs Feder, vertont durch den Nürnberger Komponisten, Instrumentenbauer und Orga- nisten Paul Hainlein (1626-1686),24 gesungen worden ist, das ganz auf des Verstorbenen ‘Leibspruch’ fußt und dessen Text sich unter den zahlreichen Beigaben zur Leichenpredigt findet. Es steht dort unter dem Titel Dieses Lied ist von den sel. Dilherrn selbst verfertiget/ und nachmals/ bey der Leiche/ vor der Predigt/ abgesungen/ und vom Paul Hainlein in die Noten gebracht worden.25 Das vierstrophige Lied lau- tet so:26

1. HOer liebe Seel/ dir rufft der HErr Da solt du Achtung geben/ Komm/ meine Schöne/ komme her/ Mein Taub/ mein Freud/ mein Leben.

2. Jn den Felslöchern suche Ruh/ Und im Steinritzen raste. Jch komm/ zu dir ich fliehen thu/ Verschmäh nicht diesen Gaste.

3[.] Nichts such ich denn Ergetzlichkeit/ Jn Hölen deiner Wunden.

zu S. Rochus/ in sein Ruhkämmerlein bejgesetzet worden/ Durch eine kurze Leich-Sermon/ in der Kirche daselbsten/ fürgezeiget. Nürnberg 1669 (HAB Wol- fenbüttel 151.51 Theol. [1]), S. 18. 23 Ebd. 24 Die Komposition ist ebd., fol. F 1r-F 4v abgedruckt und steht unter der Über- schrift ‘Hör liebe Seel. à 5. Voc. è 4. Violae. Paulus Hainlein.’ Zu Hainlein vgl. Stadtlexikon Nürnberg. Hrsg. von Michael Diefenbacher und Rudolf Endres. Nürnberg 22000, S. 396. 25 Saubert: Taubenrast (s. Anm. 22), fol. H 2v. 26 Ebd.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 353

Jn Striemen deiner roten Seit/ Jch waare Ruh hab funden.

4. O ihr Felslöcher verberget mich! O ihr Steinritz lasst leben! Jn euren Schutz mich sicherlich: Danck will ich ewig geben.

Wie bereits der mottoartige, für Nürnberger Texte dieser Gattung ge- radezu typisch gereimte Haupttitel von Sauberts Leichenpredigt Tau- ben-Rast der Christen-Seelen/ Jn deß Lebens-Felses Hölen sichtbar werden lässt, schließt der Prediger in seine geistliche Interpretation von Hld 2,13 f. nicht nur Joh 19,34 ein, sondern identifiziert unter Be- zugnahme auf 1Kor 10,4 und Ex 17,5 f. zudem den Felsen mit Chris- tus27 – und gibt damit eine (allerdings nicht originär von ihm stam- mende) inventio vor, die auch im Hinblick auf Birkens emblemati- sches Erklärungsgedicht tragende Bedeutung hat. Saubert führt folgendes aus:

Es machet aber der Breutigam selber/ in unserm Texte/ noch eine merk- würdige Eigenschaft absonderlich namhaft/ nach welcher Er die geistliche Braut seine Taube nennet. Dann also heisset es in den Worten des Textes: Komme her/ meine Taube/ in den Felslöchern/ in den Steinrizzen! Eine Taube/ wann ihr der Habicht nachjaget/ oder/ wann sich ein Ungewitter und Sturmwind erhebet/ so gebrauchet sie sich ihrer Flügel/ und eilet damit in die aufgespaltene Steinklüfte und Felslöcher der Wüsten/ darein verkreucht sie sich/ und wann sie daselbst zum öftern Rettung gefunden hat/ so wird ihr endlich so wol darinnen/ daß sie gar allda nistet/ und Wohnung machet. Hierauf zielet dorten der höchste GOtt/ wann Er zu den

27 Vgl. hierzu Gerhard: Postilla Salomonaea (s. Anm. 17), II, S. 66: “Ut se abscondat in foraminibus petrae, daß er als ein zartes Täublein sich verberge in den Felßlöchern/ in den Steinritzen. Was sind aber diß für Felßlöcher/ vnd Stein- ritzen? Der Felß ist Christus/ spricht der heilige Apostel 1. Cor. 10. derselbe ist der rechte Eckstein seiner Kirchen Psal. 118. Eph. 2. der rechte Grundstein/ der bewärete Stein/ der köstliche Eckstein/ der wolgegründet ist Esai. 28. 1. Petri 2. der Stein auff welchem sieben Augen seyn Zach. 3. das ist/ auff welchem der heilige Geist mit seinen siebenfaltigen vollkommenen Gaben ruhet Esai. 11. Die- ser ist der Stein/ auff welchem wir sicherlich ruhen können/ wie der Patriarch Ja- cob auff seinem steinern Häuptküssen Genes. 28. Dieser ist der Felß/ aus wel- chem der Gnadenbrun entspringet/ gleich wie aus dem Felß in der Wüsten/ wel- chen Moses auff GOttes Befehl mit seinem Stabe schlug Exod. 17.”

Chloe 43 354 Johann Anselm Steiger

Einwohnern Moab spricht: Verlasset die Stätte/ und wohnet in den Felsen/ und tuhet wie die Tauben/ so da nisten in den holen Löchern/ Jer. 48. und dahin gehet auch Davids Wunsch: O hätte ich Flügel wie Tauben/ daß ich flöge/ und etwa bliebe! Sihe/ so wolte ich mich ferne wegmachen/ und in der Wüste bleiben/ Sela. Jch wolte eilen/ daß ich entrünne für dem Sturmwinde und Wetter/ Psal. 55. Wo nun eine Seele deß HErrn Christi Braut/ und seine Taube heissen wil/ so muß sie auch hierinn Taubenart annehmen. Wann der höllische Habicht/ der leidige Teuffel/ mit seinen Mordgierigen Raubvögeln und Helfershelfern auf sie losgehet; ingleichem/ wann die Sturmwinde schwerer Anfechtungen und Trübsalen/ oder das erschrekkliche Donnerwetter deß Göttlichen Zorns auf sie zustürmet; da muß sie sich ihrer Geistlichen Taubenflügel bedienen/ welche sind der Glaube und das Gebet. Wo sich diese regen/ da glänzet es recht/ als der Tauben Flügel/ die wie Silber und Gold schimmern/ Ps. 68. Es schimmert wie durchleutert Silber die Lauterkeit deß Glaubens: Es glänzet wie Gold die feurige Andacht deß Gebets. Mit diesen zwejen Flügeln muß nun eine fromme Seele sich aufschwingen/ und fort eilen zu den Felslöchern/ zu den Steinrizzen. Was ist es aber für ein Fels/ was ist es für ein Stein/ von dessen Rizzen und Löchern allhier geredet wird? Jn der Grundsprache heisset es mit besonderm Nachtrukk: Meine Taube in den Löchern desselbigen Felses. Desselbigen Felses! verstehe/ von deme sovil in Heiliger Schrift gerühmet wird; Dessen Fürbild der jenige Fels gewesen/ aus deme wejland/ da er von Mose geschlagen worden/ das süsse Trinkwasser heraußliefe/ 2. Buch Mos. 17. also auch der Fels/ von welchem wir reden/ nachdem Er um unserer Sünden willen mit dem Fluch deß Gesezzes geschlagen worden/ so kwillet auß Jhme süsser Trost/ und Seelenerfrischendes Heilwasser herfür. Mit einem Wort: Es wird dieses Orts verstanden der geistliche Fels/ welcher ist Christus/ 1. Kor. 10. Es wird verstanden der bewärte Stein/ den der HErr in Zion geleget hat. Wie Esaias Christum beschreibet/ S. Weißh. 28. Was hat dann dieser Fels für Löcher? was hat dieser Stein für Rizze/ darein man fliehen kan? Es sind/ kurz zusagen/ die Heilige fünf Wunden JEsu/ die Er bej Abbüssung der Menschlichen Sünden an seinem unschul- digen Leibe empfangen. Jn diesen Felslöchern/ in diesen Steinrizzen/ soll die geistliche Taube oder Christenseel ihre Zufluchtstette / ihre Sicherung/ ihren Ruhesizz suchen: also/ daß sie all ihre Hoffnung und Vertrauen einig und allein auf das Leiden und Sterben JEsu Christi gründe/ und der unge- zweiffelten Zuversicht lebe/ sie werde in dem Bluht und Tod ihres Erlösers wider Noht und Tod/ ja wider Teuffel und Hölle Schirmung finden.28

Der Hld 2,13 f.-Topos hat vielfältigen Niederschlag nicht nur in der nachreformatorischen Predigt und Erbauungsliteratur, sondern auch in

28 Saubert: Tauben-Rast (s. Anm. 22), S. 14-16.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 355 der geistlichen Musik, etwa bei (BWV 199/7 und 245/24),29 sowie in der geistlichen Lyrik gefunden. Ein promi- nentes Beispiel hierfür bietet der Choral Gleichwie sich fein ein Vögelein, dessen Verfasserschaft und Traditionsgeschichte weitge- hend im Dunkeln liegen, der sich im 17. Jahrhundert jedoch größter Beliebtheit und Breitenwirkung erfreute. Das Neue vollständige Eise- nachische Gesangbuch (1673) schreibt ihn zu.30 Die hier einschlägige Strophe lautet:

GLeich wie sich fein ein Vögelein/ im holen Baum verstecket/ wenns trüb hergeht/ die Luft unstät/ Menschen und Vieh erschrecket. Also HErr Christ mein Zuflucht ist die Höle deiner Wunden/ wenn Sünd und Tod mich bringt in Noht/ hab ich mich drein gefunden.

Dass dieses Kirchenlied in Nürnberg zu Birkens Zeiten bekannt war, belegt wiederum Adolph Sauberts Leichenpredigt auf Dilherr, in der es zitiert wird.31 Verarbeitung erfährt es jedoch auch an zahllosen weiteren Stellen der lutherisch-barocken Predigt- und Meditationslite- ratur, etwa im Himmlischen Liebes-Kuß des Rostocker Theologen Heinrich Müller (1631-1675),32 dessen Schriften bei den Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens in hohem Ansehen standen, was u.a. daraus ersichtlich wird, daß die Pegnitzschäfer im Jahre 1673 eine

29 Vgl. hierzu Renate Steiger: Gnadengegenwart. Johann Sebastian Bach im Kon- text lutherischer Orthodoxie und Frömmigkeit. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (= Doctrina et Pietas II, 2), S. 195-199. 30 Neues vollständiges Eisenachisches Gesangbuch Worinnen/ in ziemlich bequee- mer und füglicher Ordnung/ vermittels fünffacher Abteilung/ so wol die alte/ als neue/ doch mehrenteils bekante Geistliche Kirchenlieder und Psalmen/ D. Martin Luthers/ und anderer Gottseeligen Männer befindlich […]. Eisenach 1673 (HAB Wolfenbüttel Tl 450), S. 138. 31 Saubert: Tauben-Rast (s. Anm. 22), S. 16. Auch Gerhard zitiert diese Strophe in der ‘Postilla Salomonaea’ (s. Anm. 17), II, S. 68. 32 Vgl. hierzu R. Steiger (s. Anm. 29), S. 192.

Chloe 43 356 Johann Anselm Steiger lyrische Bearbeitung von Müllers Geistlichen Erquickstunden publi- zierten.33 Analysiert man Birkens Gedicht vor diesem exegese-historischen Hintergrund, so wird rasch deutlich, daß es dem Dichter als poeta theologice doctus darum geht, die zeitgenössische Auslegungstradi- tion kompetent und deren facettenreichen Einzelargumente berück- sichtigend umfänglich und zugleich in hohem Maße lyrisch kom- primiert zu verarbeiten. Dies ist nicht nur in vorliegendem Gedicht der Fall, sondern auch in einer Vielzahl von weiteren Texten Birkens.34 Anders als Sauberts Leichenpredigt auf Dilherr verwertet Birken jedoch zudem im Eingangsteil seines Gedichtes, nämlich in den ersten sechs Versen, ein Datum der antiken Beschreibung der Stadt Jerusa- lem, das ihm aus Flavius Josephus’ Werk De bello Judaico bekannt gewesen sein dürfte. Josephus erwähnt im fünften Buch den sog. Tau- benschlag-Felsen,35 was Birken zu einer geistlich-allegorischen Deu- tung veranlasst, in der der Taubenturm zur emblematischen Versinn- bildlichung des gekreuzigten Christus avanciert. Dies spiegelt sich in der emblematischen Erfindung Birkens, die bestrebt ist, die soteriolo- gische Bedeutung der Heil und Schutz bietenden Seitenwunde Christi gleichsam binokular in einem Doppelbild vor Augen zu stellen – nämlich durch die Abbildung des Taubenturmes im Tal Siloah im Hintergrunde des Kupferstichs und die Visualisierung der Felsenritze

33 Vgl. Der Geistlichen Erquickstunden des Fürtrefflichen Theologi H. Doct. Hein- rich Müllers Past. und Profess. Publ. bey der löbl. Universität Rostock Poetischer Andacht-Klang: von denen Pegnitz-Blumgenossen verfasset; und in Arien ge- setzet durch Johann Löhner der Sing-dichtkunst Beflissenen. Nürnberg 1673 (HAB Wolfenbüttel Tl 185). 34 Dies belegt u.a. ein früheres Gedicht Birkens, das vermutlich Ende 1654 oder Anfang 1655 niedergeschrieben wurde (PBlO.B.3.3.1 [wie Anm. 1], fol. 55v): “Auf den Spruch | Jch ruhe in Felslöchern. | Wie ein Täublein, wann es wittert, | wann der Geyer Mord-verbittert | ihm in Lüften stößet nach, | daß es möge sicher sitzen | sich verkriecht in FelsenRitzen, | sich verstecket unter Dach: | Allso wann mich wollen fällen, | wann mir welt, Sünd, Höll nachstellen: | Meine Seel im Glauben flieht | in die Höle deiner Wunden, | Jesu, ô du Fels zerschunden. | da da find ich Ruh und Fried.” 35 Vgl. Flavius Josephus: De bello Judaico 5, 12, 2. Gustaf Dalman: Jerusalem und sein Gelände. Gütersloh 1930 (= Schriften des Deutschen Palästina-Instituts 4), S. 48-50 verweist für das Tal Silwan (bei den hellenistischen Felsengräbern), unweit von Siloah, auf diese Stelle bei Josephus. Die genaue Lokalisierung ist unklar. Dalman vermutet (S. 50): “Der Lage nach könnte der seltsame Felsen- turm el-’öllije ‘das Obergemach’ bei der Felsplatte el-’asara dafür gelten […].” Ich danke meinem Kollegen Friedhelm Hartenstein für diesen Hinweis.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 357 nach Hld 2,13 f. im Vordergrunde. Erstere Verbildlichung des Cruci- fixus wird in Birkens Gedicht nach der Beschreibung des Ortes in den ersten sechs Versen besonders stark durch eine doppelte, auf starke Affektwirkung bedachte exclamatio akzentuiert: “Ach Ort! ach du bist meines Jesu Bild”. Die in der zeitgenössischen Predigt- und Er- bauungsliteratur – wie beobachtet – häufig begegnende, auf Hld 2,13 basierende und Christus in den Mund gelegte Aufforderung an die glaubende Seele, in die Seitenwunde einzugehen, verarbeitet Birken dergestalt, dass er das lyrische Ich den Sohn Gottes auffordern lässt, ihm eben diese exhortatio zuteil werden zu lassen: “Jesu! mein Fels! ruff mir zu dir hinein:” Im folgenden Vers artikuliert das Ich – eine entsprechende Einla- dung, um die es soeben noch gebeten hat, gleichsam elliptisch (glau- bend) voraussetzend – den Entschluss, in die Rolle der Taube zu schlüpfen und die Felsenritze aufzusuchen: “Jch flieg, ich komm, ich will dein Täublein seyn.” Und schon im nächsten Vers ist das Ich als Taube bereits an seinem Ziel angelangt, was es unter Bezugnahme auf Ps 84,4 mit den Worten zum Ausdruck bringt: “Der Vogel hat bey dir sein haus gefunden.” Auch diese Kontextualisierung von Hld 2,13 mit Hilfe des Psalters ist angesichts des zeitgenössischen Traditionsrah- mens keineswegs zufällig, wie beispielsweise anhand von Luthers erster Psalmenvorlesung zur Stelle,36 aber auch in Gerhards Postilla Salomonaea deutlich wird, in der es innerhalb der Predigt zu eben die- sem Vers des Hohenliedes heißt:

Jn den Felßlöchern vnd Steinritzen […] kan ein Täublein jhre jungen si- cherlich aushecken/ also kömpt aus den Wunden Christi alle Fruchtbarkeit zu guten Wercken. Psalm. 84. Der Vogel hat sein Haus funden/ vnd die Schwalbe jhr Nest/ da sie jungen hecken/ nemlich deine Altar HERR Zeba- oth/ mein König vnd mein GOtt […].37

Sinn und Zweck dieser Flucht in die Seite Christi ist es auch laut Bir- kens Gedicht, dort ewige Ruhe und Sicherheit zu finden, Schutz zu haben also vor dem Habicht, den Saubert in seiner bereits zitierten Leichenpredigt mit dem Satan identifiziert.38 Diesen Aspekt greift Bir-

36 Vgl. WA 3,645,29-31 (Dictata super Psalterium 1513-1516). 37 Gerhard: Postilla Salomonaea (s. Anm. 17), II, S. 74. 38 Vgl. überdies August Pfeiffer: Magnalia Christi, Oder Die Grossen Thaten Jesu Christi/ Damit er sich so wohl gegen alle Menschen ins gemein Durch seine Menschwerdung/ Geburt/ Leiden/ Sterben/ Aufferstehn und Himmelfahrt/ Als in

Chloe 43 358 Johann Anselm Steiger ken nicht nur im Kupferstich auf, der dem Betrachter die Taube als eine von einem im Sturzflug befindlichen Raubvogel verfolgte vor Augen stellt, sondern auch in seinem Erklärungsgedicht: “Es darf ja nicht die Höll’ in diese Höle | mir folgen nach, darein ich mich ver- stehle.” Klar ist, dass Birken die seit dem antiken Christentum übliche sak- ramentstheologische Deutung der johanneischen Erzählung von der Öffnung der Seite Jesu durch einen Lanzenstich aufgreift und damit an eine Auslegungstradition anknüpft, die im barocken Luthertum gang und gäbe war. Dieser Tradition zufolge findet mit dem Austreten von Wasser und Blut aus der Seitenwunde Jesu die (sonst im Johannes- Evangelium) nicht thematisierte Einsetzung der beiden Sakramente Taufe und Abendmahl statt. Auf eben diesen Aspekt kommt auch Greiffenberg in ihrer elften Passionsbetrachtung zu sprechen, der Bir- kens Gedicht beigesellt ist: “Aus dieser heiligen Seite des andern Adams/ hat GOTT seine Braut/ die Christliche Kirche/ und eine jede glaubige Seele/ gebauet/ durch diß Wasser und Blut/ nämlich die hei- lige Tauffe und das hochwürdige Abendmal.”39 Indem Birken diesen Zusammenhang auf seine Allegorese von Hld 2 und die ebenfalls geistlich gedeutete Erzählung von der Eröff- nung einer Quelle durch Moses Schlag auf den Felsen (Ex 17,5 f.) be- zieht, kommt er knapp auf die Taufe zu sprechen. Bemerkenswert ist hierbei, dass Birken das Taufwasser, das den Zweck hat, “die Seel zuwaschen rein”, als “das rohte Heil” bezeichnet, das aus Zion rinnt, was nur verständlich wird, wenn man bedenkt, dass Luthers Verständ- nis zufolge Christi sündenvergebendes Blut nicht nur im Abendmahl

den drey Ständen der Christenheit gegen Prediger/ Obrigkeit/ Ehegatten/ Kinder und Gesinde insonderheit/ verdient gemacht hat/ Allen rechtschaffenen JEsus- Liebhabern zur täglichen Betrachtung und Seelen-Lust heraus gegeben […]. Leipzig 1685 (HAB Wolfenbüttel Te 955), II, S. 263. Pfeiffer nennt die Seiten- wunde Jesu nicht nur ein Fenster, durch das man in das Herz Gottes blicken kann, und “Eine Thür/ dadurch wir in den Himmel eingehen sollen”, sondern auch “eine Felßklufft/ darein wir uns wie geschüchterte Täublein für dem hölli- schen Geyer verbergen können”. 39 Catharina Regina von Greiffenberg: Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Lei- dens und Sterbens Jesu Christi/ Zwölf andächtige Betrachtungen: Durch Dessen innigste Liebhaberin und eifrigste Verehrerin Catharina Regina/ Frau von Greif- fenberg/ Freyherrin auf Seisenegg/ Zu Vermehrung der Ehre GOttes und Erwe- ckung wahrer Andacht/ mit XII. Sinnbild-Kupfern verfasset und ausgefertigt. Nürnberg 1683 (11672) (Reprint. hrsg. von Martin Bircher und Friedhelm Kemp. Millwood, N.Y. 1983), S. 844.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 359 in, mit und unter der Gestalt des Weines gegenwärtig, also realpräsent ist, sondern auch im Taufwasser dieses Blut des Sohnes Gottes wahr- haft ist.40 Darum formuliert Luther in seinem berühmten Katechismus- lied zur Taufe:

Das Aug allein das wasser siht, wie Menschen Wasser giessen: Der Glaub im Geist die krafft versteht des Blutes Jhesu Christi, Vnd ist für im ein rote Flut von Christus Blut geferbet, die allen Schaden heilen thut von Adam her geerbet, auch von vns selbs begangen.41

Wenn man bedenkt, dass in Birkens geistlich-lyrischen Texten auffäl- lig häufig explizite Bezugnahmen auf eben diese Luther-Strophe zu finden sind, dann ist es umso plausibler, diesen Basistext der lutheri- schen Theologie und Frömmigkeit als traditionsgeschichtliche Kulisse auch des vorliegenden Birkenschen Textes in Anschlag zu bringen. Eben dieser Aspekt rekurriert im Übrigen auch in Greiffenbergs elfter Betrachtung, in der nicht nur Wasser und Blut aus Jesu Seite auf Tau- fe und Abendmahl bezogen werden, sondern eben auch des Blutes Christi als eines in der Taufe virulenten Heilsmediums gedacht wird: “Jch will […] abwaschen meine Missethaten mit dem heiligen Seiten- wasser/ und mit dem rohten Lammes-blut meine Sünde schneeweiß waschen.”42 Doch Birken geht in seinem Gedicht noch einen Schritt weiter. Den Berg Zion, aus dem das “rohte Heil gerunen” ist, parallelisiert Birken allegorisch mit dem Parnass und das Taufwasser mit Hippokrene, der die Dichter inspirierenden, dem Apollon und den Musen geheiligten Quelle am Nordhang des Helikon, die so genannt wird, weil sie durch einen Huftritt des geflügelten Pferdes Pegasos entstanden sein soll, als dieses aus Freude über die Musik Apollons tanzte.

40 Vgl. J.A. Steiger: Art. Taufe, dogmatisch (lutherisch). In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Auflage, Bd. 8 (2005), Sp. 72-74. 41 : Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu An- fang des XVII. Jahrhunderts, Bd. 3. Leipzig 1870, S. 26, Nr. 43. 42 Greiffenberg (s. Anm. 39), Bd. 10, S. 846.

Chloe 43 360 Johann Anselm Steiger

Du Sions-Burg, solst mein Parnassus seyn. hier find ich recht den schönen Hippocrene. Hier werdet naß, ihr HimmelMusen-Söhne! Hier man sich trinkt voll Liebe, Feur und Geist, und seeliglich ein Himmels-Dichter heist.

Die Allegorese von Hld 2 setzt mithin eine christliche Allegorese des antik-griechischen Mythos in Gang, die zum Ziele hat, den Ursprung der geistlichen Dichtkunst und damit das Fundament der Existenz ei- nes “Himmels-Dichters” aufzuspüren. Die Inspiration, die Birken für sich in Anspruch nimmt, ist mitnichten eine solche, die ihm durch eine direkte Einstrahlung oder sonstige immediate Mitteilung gleichsam im Sinne eines elitären donum superadditum zuteil würde – das wäre spi- ritualistisch – noch eine solche, die er sich durch sein Dichten aktiv einhandelte – das wäre synergistisch –, sondern die zum Dichten not- wendige Begeisterung entsteht medial, vermittelt durch das Sakrament der Taufe, also durch ein Gemeingut, über das alle Christen gleicher- maßen verfügen.

Nicht nur bei Gelegenheit der Publikation von Greiffenbergs Passions- andachten hat Birken den Hld 2,13 f.-Topos verarbeitet, sondern mehrfach43 – auch aus Anlass des Todes der Nürnberger Patrizierin Helena Katharina Tetzel von Kirchensittenbach (geb. 1638). Sie war die Tochter des Nürnberger Geheim- und Kriegsrates Andreas Georg Paumgartner (1613-1686) und seit 1652 verheiratet44 mit dem

43 Vgl. z.B. das als Wechselgespräch zwischen der Samaritanerin (Joh 4) und Jesus gestaltete Gedicht ’Auf die Historie der Samaritana in einer HausApotheke’ aus dem Jahre 1673 (PBlO.B.3.3.1 [wie Anm. 1]), fol. 242v-243r), von dem eine Druckfassung nicht bekannt ist. Hier spitzt Birken den Hld 2,13 f.-Topos im Sinne der zeitgenössischen theologia medicinalis zu: “J. Ich bin die rechte Le- bens-quelle: | Wer durst hat, sich zu mir geselle. | S. Jesu! den Labtrank meiner Seele | hol ich aus deiner Wunden-höle. || J. Ich bin der Heilbrunn, mach gesunde. | die Apotheck, ist meine Wunde. | S. Mein Arzt, mein TodesTod, mein Leben! | du wolst dich mir zu trinken geben. || J. Lebens wasser von mir quillet: | wen da durstet, kom zu mir. | S. diß den Seelen-durst mir stillet: | ich trink mich gesund bey dir.” 44 Vgl. ARBORETUM TEZELIANUM, quod Floribus insuper poeticis, in Auspicatissimas Nuptias solennique Festivitate celebratas Nobilissimi ac Strenui DN. GUSTAVI PHILIPPI TEZELII, à Kirchensittenbach/ in Vorra/ Viri Magni- fici, Nobilissimi, maximè Strenui atque Prudentissimi, DN. JOHANNIS JACOBI TEZELII, à Kirchensittenbach/ in Vorra & Artelshofen/ Ordinibus Franconiae à Consiliis bellicis & Serenissimi Ducis Württenbergensis Consiliarii celeberrimi,

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 361

Nürnberger Ratsherren und Kriegsverordneten Gustav Philipp Tetzel. Helena Katharina Tetzel starb am 6.2.1674 und wurde am 10.2. auf dem St. Johannis-Friedhof beerdigt. Die Leichenpredigt hielt Johann Keil (1635-1701).45 Das in Rede stehende Gedicht Birkens, das hand- schriftlich ebenfalls in den Todten-Andenken überliefert ist46 und in einer Gemeinschaftspublikation, die die Pegnitzschäfer anlässlich des Todes Helena Katharina Tetzels veranstalteten, gedruckt wurde,47 ver- dankt sich einer inventio a nomine, da der volle Mädchenname der Verstorbenen Paumgartner von Holnstein lautet, den Birken in Bezie- hung mit der Felsenritze des Hohenliedes setzt. Das Gedicht lautet folgendermaßen:

Liberae etiam ac Imperialis Norimbergae quondam Septemviri gravissimi, Rei- que Militaris Praefecti et Chiliarchae meritissimi, FILII, SPONSI, & Nobilissi- mae Genere & formâ, Virtutumque laude ornatissimae Virginis HELENAE CA- THARINAE, Viri Magnifici, Nobilissimi, Praestrenui atque Prudentissimi, Dn. ANDREAE GEORGII PAUMGARTNERI, ab Holenstein/ in Lonerstat/ Inclytae Reipub. Nor. à Senatu Secretiori, Militiaeque Praefecti vigilantissimi, FILIAE UNICAE, SPONSAE, condecorârunt FAUTORES & AMICI, d. 10. Martij, Anno, QVo noVa GVstaVVs TezeL PoMarIa gVstat: Proptereà eXVLtans ga- VDIa Vorra tenet. Nürnberg 1652 (Stadtbibl. Nürnberg Gen T. 1, 7). 45 Vgl. Johann Keil: Glaubige Begehrung/ Gnädige Erhörung/ Herrliche Gewäh- rung/ der Frommen Kinder GOttes/ gezeiget aus dem XCI. Psalm/ v. 14. 15. 16. An dem Tag der Beerdigung Der Wol-Edlen/ VielEhren-Tugendreichen Frauen Helena Catharina/ Des Wol-Edlen/ Gestrengen/ Fürsichtig- und Wolweisen Herrn/ Gustav Philip Tetzels/ von Kirchensittenbach/ uff Vorra und Artelshofen/ des innern Raths des Heil. R. Reichs Freyen Stadt Nürnberg/ Hertzliebsten Ehe- Schatzes/ Einer gebohrnen Paumgärtnerin von Holenstein/ Als dieselbe in Nürnberg/ den 10. Febr. dieses 1674. Christ-Jahrs auf dem Kirchhoff S. Johannis/ in ihr Ruh-Kämmerlein versetzet worden/ Denen Unterthanen zu Vorra/ leidmühtig vorgetragen […]. Nürnberg o.J. (Stadtbibl. Nürnberg Gen. T. 1, 67). Zu Keil vgl. Nürnbergisches Pfarrerbuch (s. Anm. 21), S. 107. 46 PBlO.B.3.3.1 (s. Anm. 1), fol. 221v-222v. 47 Unverwelklicher Zypressen-Strauß/ zu letzt-schuldigsten Ehren der Wol-Edlen/ Viel-Ehren-Tugendreichen Frauen Helena Katharina Des Wol-Edlen/ Gestren- gen/ und Wolweisen Herrn Gustav Philipp Tetzels von Kirchensittenbach/ auf Vorra und Artelshofen/ etc. des Jnnern Raths/ u.a. m. Selig-verstorbenen Frauen Ehliebstin/ einer gebohrnen Paumgartnerin von Holenstein: mitleidig und Trost- meinend gebunden von den Blumgenossen an der Pegnitz. O.O. 1674 (Stadtbibl. Nürnberg Gen. T. 1, 16), fol. K 1v-2r.

Chloe 43 362 Johann Anselm Steiger

Auf Frauen Helenen Catharinen Tetzlin, gebornen Baumgärtnerin von Holenstein Absterben

Als Abraham, der GottesFürst und Held, sein Ehgemahl vom Tode sah gefällt; die Doppel kluft ließ er ihm raumen ein: daß Sara Leich läg in dem Holen Stein. 2. So, Edler Herr! für Eure zweyte Seel’ und ihren Leib, auch die zweyfache Höl’ erfunden ward. Sie gienge wieder ein, woher Sie kam, gebohrn von Holenstein. 3. Wer ist der fels, den dort schlug Mose Stab? ach! Jesus ists, der uns das Wasser gab, das Seelen wäscht und tränkt mit Trostes-Wein. die Tauf-Flut fliest aus diesem Holen Stein. 4. Es stehet auch, die Speer-gespaltne Seit’, als eine Burg, uns offen iederzeit. der Hacht uns jagt in diesen Fels hinein, den auf uns schickt die kluft, der Höllenstein. 5. Ach ja! dort hin die Edle Seel’ auch flog, als über Sie das Schmerz-gewölck sich zog. Sie dacht’: ich werd bey Jesu sicher seyn; ich halte mich zu meinem Holen Stein. 6. Sie ward in ihn, und er in sie, verliebt. Sie flog hin zu, vom trüben Naß betrübt. nimm, rieff sie, mich, ich bin vollkummen, ein. wol, komm herein! rieff bald der Hole Stein. 7. So lebt sie nun, die Taube, in dem Ritz der Jesvs-brust, hat ewig-sichren Sitz, darf unverwundt in wunden wonhaft seyn: kein Geyer stöst auf diesen Holen Stein. 8. Was thut der Leib, der wehrte Tugend-wirt? der Tod hat ihn der Tods-gefahr entführt. Er ruht und schläfft im holen Grabes-Schrein: den nennen wir, von Jhr, Helenen-Stein.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 363

9. Dort er, wann ihn gibt dieser Stein herfür, glänzt demant-schön im hause von Saffir. Also für Sie, kan Grab und Himmel seyn die doppel-kluft, der zweyfach-Hole Stein. 10. Des Mamre Hayn, ümgab der Sara höl. Jm Paradeis auch stehet diese Seel, ist eine Pflanz im hohen Lebens hayn. Jm himmel sind, Baum, Gart’ und Holenstein. 11. Diß, Edler Herr! Euch Trost erweken kan. den nehmet auch, ô Edler vatter! an: Bildt Euch das kind noch-unverstorben ein; Sie heist ja dort, wie hier, von Holenstein.

Vergleicht man die beiden Gedichte Birkens, so werden rasch eine Menge von motivischen Deckungsgleichheiten offenbar – so z.B. die (sich wiederum an Luthers Tauflied anlehnende) Rede von der den sündigen Menschen waschenden “Tauf-Flut”, die aus Jesu Seitenwun- de fließt (Str. 3), das Motiv des sicheren Wohnens an eben diesem Orte (Str. 5), an den kein Raubvogel, mithin keine satanische Verder- bensmacht, vorstoßen kann, sowie die Bitte des Glaubenden, von Je- sus in diese Schutz bietende Wunde eingelassen zu werden (Str. 6). Ein Unterschied zwischen Birkens Textbeigabe zu Greiffenbergs Pas- sionsandachten und dem Leichencarmen auf Helena Katharina Tetzel besteht darin, dass der Dichter bestrebt ist, den bekannten Topos der allegorischen Hld-Exegese auf den anlassstiftenden casus, eben den vorliegenden Trauerfall, zuzuspitzen. Dies wird nicht nur in der in- ventio a nomine deutlich, sondern auch darin, dass Birken die Flucht der Taube in die Felsenritze, genannt Holenstein, parallelisiert mit Ruhe und Schlaf des Leibes der Verstorbenen “im holen Grabes- Schrein”, der den Namen der Gestorbenen trägt und darum “Helenen- Stein” (Str. 8) heißt. Auffällig in diesem Zusammenhange ist, dass Birken diese tröstliche Kernaussage seines Leichengedichtes dadurch geschickt vorbereitet, dass er – ähnlich wie dies in der zeitgenössi- schen Predigtpraxis üblich war – in der ersten Strophe, gleichsam in einem Exordium – einen alttestamentlichen Erzählzusammenhang auf- ruft, nämlich den Bericht vom Tode der Erzmutter Sara und deren Be- gräbnis im Hain zu Mamre (Gen 23,1-20). Gen 23,9-16 berichtet da- von, Abraham habe eine ‘zwiefache Höhle’ für das Begräbnis Saras

Chloe 43 364 Johann Anselm Steiger von einem Mann namens Ephron erworben. Birken nun zeichnet das Sterben Helena Katharina Tetzels als Eingang in eine solche zweifa- che Höhle: Der Tod versetzt den Leib, der dereinst von der zeitlich begrenzten Totenruhe auferstehen wird, in die Höhle des Grabes und die Seele in die Seitenwunde Jesu Christi. Die Tatsache, dass Saras Grab im Hain zu Mamre seine Lokalität hatte, begreift Birken als ty- pologische Vorabbildung des Umstandes, dass die Seele der Verstor- benen durch den Tod bereits als Pflanze ins “Paradeis”, d.h. in den “hohen Lebens hayn”, versetzt ist, dort schon Teil hat am ewigen Le- ben und darauf wartet, mit dem Leib durch die resurrectio carnis wie- der zusammenzukommen. Im Zuge dieser, im barocken Luthertum beliebten pflanzen-metaphorischen Rede48 von der in die Ewigkeit ein- gegangenen Seele der Verstorbenen und unter gleichzeitiger Berück- sichtigung von Gen 23,17, wo zu lesen ist, Abraham habe nicht nur die Doppelhöhle, sondern den ganzen Acker Ephrons mitsamt den ihn umgebenden Bäumen erworben, nimmt Birken nochmals Bezug auf den Mädchennamen der Betrauerten, der in Gänze Paumgartner von Holenstein lautet, und sagt: “Jm himmel sind, Baum, Gart’ und Ho- lenstein” (Str. 10). Ein wichtiger Aspekt der mit der genuin christlichen Eschatologie verbundenen consolatio besteht in der Gewissheit, dass die Auferstan- denen und ewig Lebenden dieselben, freilich neugewordenen Indivi- duen sein werden, die zuvor eine irdische Existenz geführt haben. Hie- rin besteht ein wichtiger Unterschied zwischen dem der heidnischen Antike bekanntermaßen keineswegs fremden Topos der Unsterblich- keit der Seele einerseits und der genuin christlichen Botschaft, dass nicht nur die Seele, sondern mit ihr auch die Leiber der Glaubenden durch die Auferstehung des Fleisches in die Ewigkeit eingehen. Be- sonders sinnfällig wird dies an der Gewissheit, dass die ewig Leben- den denselben Namen haben wie in der Zeit ihrer irdischen Existenz – Namen, ‘die im Himmel angeschrieben sind’ (Hebr 12,23). Den hie- raus resultierenden ‘Trost’ akzentuiert Birken in seinem Gedicht in besonders intensiver Weise, wenn er ihn in der letzten Strophe laut werden lässt, indem er, den Witwer adressierend, sagt: “Bildt Euch das kind noch-unverstorben ein; | Sie heist ja dort, wie hier, von Ho- lenstein.” Die Intensität, mit der in der Barockzeit in einer Vielzahl

48 Vgl. J.A. Steiger: ‘Geh’ aus, mein Herz, und suche Freud’’. Paul Gerhardts Som- merlied und die Gelehrsamkeit der Barockzeit (Naturkunde, Emblematik, Theo- logie). Berlin, New York 2007, S. 101-106.

Chloe 43 “Der Tauben-Fels, ist diese süsse Höle” 365 von Medien – in Epitaphien, Leichencarmina, Leichenpredigten etc. – der Verstorbenen und deren Namen gedacht worden ist, hängt mit ge- nau diesem Sachverhalt aufs engste zusammen: Dass bezüglich der Namen, die im Himmel angeschrieben sind, auch im irdischen Kon- text memoria zu üben ist, weil sich in dieser Tätigkeit zeichenhaft ab- bildet, dass Gott alles kann, vergessen aber nicht, weswegen Gott bei dem Propheten Jesaja spricht: ‘Kan auch ein Weib jres Kindlins ver- gessen/ das sie sich nicht erbarme vber den Son jres Leibs? Vnd ob sie desselbigen vergesse/ So wil ich doch dein nicht vergessen. Sihe/ in die Hende hab ich dich gezeichnet’ (Jes 49,15 f.). Menschliche memoria als irdisches Spiegelbild der göttlichen Erin- nerung zu stiften, ist neben der Bewerkstelligung von lamentatio, lau- datio und consolatio die wohl prominenteste Wirkfunktion des Epice- diums,49 einer lange Zeit als verpönt geltenden literarischen Gattung, die erst im Zuge des Aufschwunges der Erforschung der Barocklite- ratur seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts das ihr gebührende Augenmerk gefunden hat, wenngleich eine umfassende Würdigung noch aussteht.50 Das literarische Massenphänomen ‘Epicedium’, das die gesellschaftliche Wirklichkeit der Barockzeit wie nur wenige an- dere anlassbezogene Textsorten zutiefst prägte, gilt es, durch die Ent- zifferung exemplarischer Quellensegmente, die Analyse regionaler Ausformungen und der diesbezüglichen Produktionen einzelner Auto- ren verstärkt zu erforschen. Besonderes Augenmerk sollte dabei ins- besondere auch dem Umstand geschenkt werden, dass das Epicedium in engem intertextuellen Verbund mit der Textsorte Epitaph steht, die uns nicht nur als Beigabe zu Leichenpredigten, sondern auch in Stein gemeißelt in unzähligen frühneuzeitlichen Kirchenräumen begegnet. Dass diese Kultur der memoria in der Frühaufklärungszeit jäh ab- bricht, gibt Anlass, über den Preis noch einmal neu nachzudenken, den man im Zeitalter der Entdeckung des Ich bereit war zu zahlen, was bis heute nachwirkt, wofür die sprachlich meist völlig verarmten Todesanzeigen, aber auch die heute üblichen Grabsteine gerade darum beredte Zeugnisse ablegen, weil sie beredt nicht sind.

49 Vgl. Hans-Henrik Krummacher: Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deut- schen Schillergesellschaft 18 (1974), S. 89-147. Hermann Wiegand: Art. Epice- dium. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft 1 (1997), S. 455-457. 50 Vgl. Klaus Garber: Vorwort zum Gesamtwerk. In: Handbuch des personalen Ge- legenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Hrsg. von Klaus Garber, Bd. 3, Abt. 1, Teil 1. Hildesheim 2002, S. 7-12.

Chloe 43

F e r d i n a n d v a n I n g e n

ARCHITEKTURFORMEN UND -ELEMENTE IN DER SCHLESISCHEN KASUALDICHTUNG: MÜHLPFORT, CHRISTIAN GRYPHIUS, HOFFMANNSWALDAU

Architectura mater artium – nicht von ungefähr stellen sich im 17. Jahrhundert bei so großen Themen wie Ewigkeit und Unvergänglich- keit bald Assoziationen mit Architekturformen und überwältigenden Bauwerken ein. Das gilt nicht nur für Italien mit der ‘ewigen’ Stadt, sondern auch für die Gebiete deutscher Kultur im Süden, Westen und Osten, vom Bodensee bis Schlesien. Um einen Kunsthistoriker zu zi- tieren: Hier

[…] wölben sich Kirchen und Dome auf, lagern sich Schlösser und Lust- häuser an neugeschaffene Plätze und Parks. Unternehmungsdrängende Bauherren, geistliche und weltliche Potentaten, fachen den Eifer ihrer Baumeister an, von architektonischer Besessenheit erfüllt, visionär und ge- nialisch Bauwerk über Bauwerk aufzuführen. Überall werden wie im Fie- ber Fundamente gelegt, Kuppeln gewölbt, Gerüste aufgestellt. Ein ganzes Heer von Werkleuten schafft von früh bis spät. […] Es ist das Säkulum der großen Talente und der Genies, der baulustigen Mäzene, der antreibenden Kenner, der Kavaliers-Architekten, der baubesessenen Verschwender.1

Die nächste Generation sollte vollends von der “Bauwut” geprägt werden, der Wiener Fürst Liechtenstein meinte in seiner Begeisterung: “Das Bauen ist nur, um schöne Monumente zu hinterlassen zum ewi- gen Gedächtnis.”2 Das ist der geistige Hintergrund nachfolgender Überlegungen.

1 Theodor Arkado Schmorl: Balthasar Neumann. Räume und Symbole des Spätba- rock. Hamburg 1946, S. 9 f. 2 Max H. von Freeden: Balthasar Neumann. Leben und Werk. München, Berlin, 2. erweiterte Auflage 1963, S. 5.

Chloe 43 368 Ferdinand van Ingen

In der europäischen Grabmalkunst,3 in Form einer freistehenden Tumba mit liegender Figur oder als Wandnischengrab mit allegori- schen szenischen Darstellungen, überwiegt seit der Renaissance das Bedürfnis nach Repräsentation und dem Ausdruck der Charakter- festigkeit, immer zum Zweck ehrender Erinnerung. Das ist der Refe- renzrahmen für die literarische Übernahme sepulkraler Architektur- formen und -elemente in der umfangreichen Klage- und Trostliteratur, wie sie insbesondere im Schlesien des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist. Sie ist Visualisierung und Vergegenwärtigung einer monumenta- len Gedächtniskunst in Architektur und Plastik mit den Mitteln der Literatur, die ihr in spätbarocker Gestik sprachlich zu entsprechen sucht. Es ist eine im wahrsten Sinn öffentliche Literatur: Sie wirkt auf die Sinne und erzielt ihre emotionale Wirkung mit allen ihr zu Gebote stehenden rhetorischen Affektfiguren. Dem Anlass gemäß dient die poetische Einkleidung der Affektsteuerung und -verfeinerung. Dem tragen die hier behandelten Leichencarmina, die zumeist Personen aus dem gehobenen Beamtentum der Stadt Breslau betreffen, im maßvol- len Gebrauch des rhetorischen Schmucks und dem Einsatz des my- thologischen bzw. gelehrten Bildungswissens Rechnung.4 Das soll an drei Autoren gezeigt werden, die als repräsentativ für den Zeitge- schmack – dem Auftraggeber und Dichter gleichermaßen verpflichtet – betrachtet werden können: Heinrich Mühlpfort, Christian Gryphius und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau. Der schlesische Dichter Heinrich Mühlpfort (1639-1681) schrieb 1673 in einem Trauergedicht: “Kein Pfeil eilet so/ kein Strom kan so verschiessen/ | Kein Schatten so vergehn/ als unsre Flüchtigkeit.”5 In solchen und ähnlichen Bildern, hundertfach variiert, begriff die Frühe Neuzeit das menschliche Leben und verwies dabei auf den Trost des ewigen Lebens, das den Glaubenden erwarte. Darin ist die vertraute christliche Verhaltensorientierung und ihr Wertesystem zu erblicken.

3 Zum Thema: Erwin Panofsky: Grabplastik. Köln 1964; Kurt Bauch: Das mittelal- terliche Grabbild. Berlin 1976. Ferner auch Adolf Hüppi: Kunst und Kult der Grabstätten. Olten 1968. 4 Der Prunk eines adligen Trauergepränges hätte gegen die Regeln des Aptum ver- stoßen. Siehe Lieselotte Popelka: Castrum Doloris oder ‘Trauriger Schauplatz’. Untersuchungen zu Entstehung und Wesen ephemerer Architektur. Wien 1994. 5 Heinrich Mühlpfort: Teutsche Gedichte. Poetischer Gedichte Ander Theil. Neudr. der Ausgabe Breslau und Frankfurt am Main 1686/87. Hrsg. u. eingeleitet von Heinz Entner. Frankfurt am Main 1991. (= Texte der Frühen Neuzeit 8). Lei- chengedichte, S. 150.

Chloe 43 Architekturformen in der schlesischen Kasualdichtung 369

Sie sind die leitenden gedanklichen Aspekte der in Frage stehenden Literaturformen: In der Sozialgemeinschaft, in der diese Texte funktionierten, verstörten noch keine Säkularisierungstendenzen die allgemein verbindlichen Glaubensgewissheiten. Die vielen Leichen- gedichte, die zum Begräbnis honoriger Bürger verlangt wurden, erklä- ren die Leistungsmotivation der Dichter, aber auch den Zeitdruck, unter dem die jeweilige Inventio stand. Repertoirewissen und rhetori- sche Erfahrung waren hier unabdingbar. Zum Bildvorrat gehörte natürlich auch das alte ‘Ubi-sunt’-Motiv, das an stolze menschliche Bauten in ihrer Hinfälligkeit erinnert – “Wo Troja stund/ da ist ein Feld/ | Und wo Athen vorhin gesieget/ | Da wird geackert und gepflüget/ | Wo bleibt die alte Forder-Welt?”6 Auf Daniel Tschernings7 Titelkupfer zu den Trauerspielen/ Oden und Sonetten des Andreas Gryphius von 1663 ist Chronos als geflügelter bärtiger Mann dargestellt, eine Sanduhr auf dem Kopf, in der rechten Hand eine Fackel, die linke stützt sich auf eine Sense. Der Tod wird durch ein Skelett in halbgebeugter Haltung repräsentiert. Im Bildhintergrund erblickt man am Horizont des Nachthimmels Obelisken, Pyramiden und weitere weltliche Prachtbauten. Es ist ein klassisches Vanitasbild, dessen Einzelheiten hier nicht weiter ausgeführt werden sollen.8 Der Hinweis im Text des Christian Gryphius auf die “Forder-Welt” ist aber als eine Mahnung zu verstehen, es ihr eben nicht gleichzutun.

Es hat die Forder-Welt höchst-eifrig sich beflissen Das allerletzte Hauß dem Menschen wol zu bau’n; So bald/ was sie geliebt/ ihr ward hinweg gerissen/ Must’ eines Künstlers Hand das Bild im Marmel hau’n.9

Einen Schritt weiter geht es, wenn solcher Brauch als heidnisch ver- schrien und verworfen, den christgläubigen Zeitgenossen solches Tun als lächerlich-unnütze Gleisnerei vorgehalten wird. So geschieht es beispielsweise bei Mühlpfort:

6 Mühlpfort, ebd., S. 3. 7 David Tscherning, der Neffe des Dichters Andreas Tscherning, ist 1644 in Bres- lau und 1658 in Brieg nachweisbar. Thieme/Becker Bd. 33 (1939), S. 461 f. 8 Es sei verwiesen auf Elisabeth Heitzer: Das Bild des Kometen in der Kunst. Un- tersuchungen zur ikonographischen und ikonologischen Tradition des Kometen- motivs in der Kunst vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Berlin 1995 (= Studien zur profanen Ikonographie 4), S. 186-199. Ich folge ihren Ausführungen auf S. 191. 9 Mühlpfort, ebd., S. 54.

Chloe 43 370 Ferdinand van Ingen

Aegypten führte Thürm und hohe Säulen auff; Viel gaben die Begier durch Tempel zu erkennen/ In welchen einverleibt der Todten Lebens-Lauff. Es muste Morgenland den besten Balsam schicken/ Und angenehmes Oel/ sie mit zu salben ein. Der letzte Wille hieß das Grab mit Fleiß zu schmücken/ Und es mit Lilien und Rosen zu bestreun. Es stunden Redner auff/ die mit beredter Zungen Der grimmen Sterbligkeit entgegen sich gesetzt […].10

Im Anschluss daran beschreibt der Dichter mit unverbrämten Worten die richtige Alternative, die aus der Todeserfahrung das Bewusstsein eines rechten Lebens sub specie aeternitatis hervorbringen soll:

Sol denn ein Ehren-Mahl auff dieser Welt uns bleiben/ Das nicht gebrechlich ist/ und so/ wie wir/ vergeht/ So muß die Tugend uns die Grabe-Zeilen schreiben/ Die ists/ wenn gleich die Welt wird brennen/ so besteht.11

Mit solch ethischer Dignität wird im Gedicht der Punkt erreicht, der in Fragen der Ethik die communis opinio artikuliert. Auf die einfachste Formel gebracht lautet sie: Ein tugendvolles Leben, das auch den Mitmenschen zugute kommt, ist die Vorbedingung für ein unvergäng- liches Lob. Oder anders: innere Schönheit geht dem äußeren Prunk vor. Solches Lob trete an die Stelle von prächtigen Denkmälern:

Die Seelige ruht wol/ ihr Grabmahl auszuzieren/ Darff aus Numidien kein scheckigt Marmel seyn/ Noch daß man irgend wolt erhöhte Thürm’ aufführen/ Ihr guter Nachruf ist ihr schönster Leichenstein.12

Für die Dichter jener Zeit, die in prachtvoll-kostbarer Metaphorik dem epochenspezifischen Sprachkolorit ihren Tribut leisten, bedeutet je- doch der Verzicht auf Prunk der Grabesausstattung am Ort der Trauer nicht auch zugleich die Forderung, ihre Sprache möglichst auf Ein-

10 Mühlpfort, ebd., S. 85. 11 Mühlpfort, ebd., S. 86. 12 Mühlpfort, ebd., S. 23.

Chloe 43 Architekturformen in der schlesischen Kasualdichtung 371 fachheit auszurichten und in der Bildlichkeit auf ‘Glanz’ zu verzich- ten. Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten an den Leichengedichten des Christian Gryphius, der bekanntlich von den dichterischen Gaben des berühmten Vaters profitiert hat. Bei den Hunderten von Trauercar- mina, die er verfasste, hat auch er die Erfahrung gemacht, dass das motivliche Feld, wie reich auch immer bestückt, der Inventio nur noch wenig bietet. “Jtzt fordert man von mir/ daß ich ein Grabmahl schmü- cke/ | Bey dem ein gleicher Trieb mir in die Sinnen steigt. | Wie aber! bring ich nichts als aufgewärmte Speisen | Und halb-verfaulten Kohl zu dieser Todes Tracht?” Dem folgt die Reflexion: “Es scheint/ als hätt’ ich gantz die Poesie verlernet.”13 Das ist selbstverständlich eine Schriftstellerpose, sie ist in manchen Abwandlungen auch sonst in der Kasualdichtung anzutreffen. Aber Gryphius erreicht eine bemerkenswerte motivliche Dichte, in- dem er ‘Versatzstücke’ netzartig verflicht und zur poetischen Einheit bindet. So wird etwa der biblische Gedanke: das irdische Haus sei nur aus Sand und Lehm gebaut, zunächst in ironischer Form eingeführt: “[…] Geht hin bethörte Sinnen! | Geht! baut ein festes Haus auf eine Todten-Kluft. | Glaubt aber/ dieser Bau wird wie das Wachs zerrin- nen.” Vor den Hintergrund solch düsterer Perspektivik wird sodann aber, als Metapher der himmlischen Ruhestätte, ein unvergängliches Haus gestellt:

Jzt wird ein Bau geführt/ den kein Orcan verlezt/ Und kein Gewitter stürzt. Wen in des Himmels Häusern Des Herren Güttigkeit mit solcher Lust ergözt/ Der tauscht/ versichert/ nicht mit Japans stoltzen Käysern.14

Auf ähnliche Weise wird einer verstorbenen Witwe mit dem “neuen Haus” ein neuer, und zwar der himmlische Bräutigam zugeführt – das ist ein beliebtes Motiv der Brautmystik. Es sei nun ein Haus strahlen- der Freude statt der öden Trauer:

13 Christian Gryphius: Poetische Wälder. Faksimiledruck der Ausgabe von 1707. Hrsg. u. eingeleitet von James N. Hardin und Dietrich Eggers. Bern, Frankfurt a.M., New York 1985. (= Nachdrucke deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts), S. 519. 14 Gryphius, ebd., S. 349.

Chloe 43 372 Ferdinand van Ingen

Hochselige/ Glück zu! der Wittwen-Stand ist aus; Ein neuer Bräutigam zeigt dir ein neues Haus/ Ein ungemeines Haus/ wo tausend Seraphinen/ Und tausend Cherubim dich/ keusche Braut/ bedienen. Wer solche Myrten wählt/ kan leichtlich der Cypressen/ Die man auf dieser Welt mit so viel Sorgen baut/ Und des gestirnten Schmucks der Eitelkeit vergessen/ Weil ihm des Höchsten Gunst ein besser Pfand vertraut.15

Gryphius verwendet in den Leichencarmina irdische Bauelemente sei- ner prachtliebenden Zeit, um sie aus der Perspektive der Ewigkeit ab- zuwerten, ja für null und nichtig zu erklären. Bei ihm ist die funerale Memorialstätte ein Wortgebäude, das an christliche Vorstellungen im Geist referiert. Der wahre Wert sei erst ein zeitenthobenes Glück – “Der Nachruf läßt sich nicht in Sarg und Grab versperren.” Und schon verkündet die Fama Klugheit und Sorgfalt als unverwesliche Eigen- schaften:

Und andre Tugenden sind klingende Trompeten/ Durch die sein schönes Lob in aller Welt erschallt. […] Sein Grab bleibt unversehrt/ und trotzt den Grimm der Zeiten/ Der sonst den stärcksten Bau zu Boden schmeissen kan. Ich lache/ wenn sich viel Capellen zubereiten/ Bey denen Pracht und Kunst das äuserste gethan: Wenn jener Alabast und dieser Marmor wehlet/ Und wenn ein Amethyst die stoltze Säulen krönt. Bethörte Sterblichen/ diß heißt sehr weit gefehlet/ Wo nicht der Tugend Glantz des Neides Schatten höhnt. Dir ist/ o Seeligster/ der beste Bau gelungen/ Du hast dein Ehren-Mahl beständig ausgeführt; Du hast dich in die Höh den Adlern gleich geschwungen/ Und durch den schönen Flug die Ewigkeit berührt.16

Die Präponderanz des Baumotivs, das oft Roms prachtvolle Kirchen heraufbeschwört, ist für die Gedichte des Christian Gryphius konstitu- tiv. Es wird geschickt einmontiert, wenn etwa die Bescheidenheitsto- pik variiert werden soll und die “Schuldigkeit” einen “Denck-Altar” erfordert:

15 Gryphius, ebd., S. 497. 16 Gryphius, ebd., S. 481.

Chloe 43 Architekturformen in der schlesischen Kasualdichtung 373

Zwar ist von meiner Hand kein solcher Bau zu hoffen/ Den kaum Bernini selbst nach Würden führen kan; Doch weil ein Lehrling auch bißweilen was getroffen/ So wend’ ich nicht umsonst hier Schweiß und Arbeit an.17

Anzitiert wird natürlich Berninis kolossaler Hauptaltar des Peters- doms, dessen Ruhm in aller Welt bekannt war. Das bildet nun auch den dichterischen Ansatz beim Tod des Bres- lauer Arztes Friedrich Ortlob. Das Gedicht trägt den Titel Der Altar der Ewigkeit.18

Wir legen/ wenn er heißt und hilft/ [sc.der Himmel] den ersten Stein. Man ziert in Griechenland die Grüfte mit Altären: Wir wollen deiner Gruft ein gleiches Werck gewähren/ Allein die Ewigkeit muß hier der Meister seyn.

Mich däucht/ ich seh sie schon/ sie eilt zu deinem Grabe; Sie trägt ihr Ebenbild der Phönix auf der Hand; Kein Balsam/ kein Caneel gleicht ihrer Opfer-Gabe: Sie geußt ein Nectar-Oel auf den geweihten Sand. Der Grund zu diesem Bau besteht aus seltnen Steinen/ Die heller als Porfyr/ als Gold und Jaspis scheinen/ Der grosse Mogol hat dergleichen Schätze nicht. Die ungemeine Kunst/ die aus den Bildern schimmert/ Beschämt/ was Phidias/ was Rafael gezimmert/ Und was Italien in Holtz und Kupfer sticht. […] Kommt/ reine Geister/ kommt zu dem geehrten Grabe/ Betrachtet den Altar der Unvergänglichkeit. Lernt/ daß der blasse Tod hier nichts zu schaffen habe/ Und macht zu gleichem Ruhm euch ebenfals bereit. […] Hier/ wo die Ewigkeit den ersten Grund geleget/ Wird Ortlob/ den der Ruf biß an die Sternen träget/ Durch seine Tugend groß und unverweßlich seyn.

Das Baumotiv findet sich in verschiedenen Erscheinungsformen und Abschattungen. Wo es mehr ist als ein leicht verfügbares Requisit,

17 Gryphius, ebd., S. 286. 18 Gryphius, ebd., S. 419.

Chloe 43 374 Ferdinand van Ingen werden seine Möglichkeiten vielfach poetisch genutzt. Im zuletzt an- geführten Gedicht erweist die Tiefenstruktur, wie sehr der moralische Impuls den Topos mit Saft und Kraft aufzuladen vermag: Fachwissen und Einsatz für die Kranken (“Kunst” und “Tugend”) gewährleisten den ewigen Ruhm, den das Gedicht verkörpern soll. Das metaphorische Grundmuster – der “feste Bau” des “Altars der Ewigkeit” – wird überspielt, das uneigentliche Sprechen (die Figur des dichterischen Bildes) übernimmt den Status der auf Lebenswirklich- keit zielenden Wortwörtlichkeit. Diese hat allerdings den idyllisch- utopischen Charakter der geläufigen Ewigkeitsvorstellung:

Es sol den festen Bau kein Brand/ kein Moder kräncken/ Und über seiner Höh kein Donner-Wetter ziehn. Die Nymfen werden hier die schönsten Weisen singen/ Und jährlich Milch und Wein zu deinem Opfer bringen/ Doch wird es nicht genung an dieser Ehre seyn. Es hat die Ewigkeit der Poesi befohlen/ Den Ruhm und das Gerücht an diesen Ort zu holen/ Und beyde stellen sich mit den Trompeten ein. (Ebd., S. 420)

Zum Abschluss und zur Steigerung der Illusion treten akustische Ele- mente an des Lesers Ohr. Sie lassen den Warnruf hören: “Mich däucht/ ich höre sie schon in die Wette blasen/ | Sie stimmen ihren Thon mit diesen Worten an: | Bethörte Sterblichen/ was mögt ihr län- ger rasen? | Warumb bedenckt ihr nicht/ was Kunst und Tugend kan?” (ebd.). Trotz allgemeiner Stiltendenzen, die der Zeit entsprechen und eines allgemein zugänglichen Bilderschatzes sind die Begräbnisgedichte Hofmannswaldaus durch ihren spezifischen Ton charakteristisch ei- genständige Dichtungen. Selbstverständlich ist auch für ihn die mus- terhafte römische Antike in erster Instanz ein Mahnmal menschlicher Vergänglichkeit (Alt Rom liegt schon in sich begraben).19 Sogar die Wirkungsstätten der großen Herrscher Griechenlands und Roms seien ganz verschwunden:

Wo Croesus Taffel hielt / wo Alexander saß/ Wo Caesar sich ergetzt/ wo Flora Lust getrieben/

19 Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau: Deutsche Übersetzungen und Ge- tichte. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Franz Heiduk. Hildesheim u.a. 1984 (= Gesammelte Werke, Bd. I, Teil 2). BegräbnüßGedichte, S. 8.

Chloe 43 Architekturformen in der schlesischen Kasualdichtung 375

Wo Nero hat gespielt/ wo Seneca geschrieben/ Wo Plato hat gelehrt/ und der Plutarchus saß/ Daß kan zu unsrer Zeit kein Auge mehr erkennen.20

Eine Besonderheit weist das Traumgesicht auf, das in Schau-Bühne des Todes21 mit den stereotypen Wendungen eingeleitet wird: “Ich war/ ich weiß nicht wo/ ich schaut/ ich weiß nicht was/ | Ein Nebel überspan mir schleunig das Gesichte”. Dem Dichter wird ein Blick in das “blasse Reich” des Todes gewährt. Er erblickt dort Leichname be- rühmter Heroen und Männer der Vergangenheit. In der Folge wird die bekannte ‘ubi-sunt’-Reihung (s.o.) bis in die Gegenwart verlängert:

Ich sinnte ferner nach: Diß/ was hier für mir liegt Ist vormahls schöne/ starck/ frisch und gesund gewesen/ Aus dieser Moder Schrift kan mein Verständnüß lesen/ Daß Tod und Untergang die gantze Welt bekriegt. Bernines Bogen muß/ wie Chersiphons22/ veralten/ Constantinopeln wird/ wie jtzt Carthago/ seyn. Algier geht mit der Zeit/ gleich wie Corinthus/ ein/ Des Rubens Tafel wird/ wie des Apelles/ spalten. Versail kan mit der Zeit/ wie jtzt Bisester/ stehn/ Und etwan Amsterdam/ wie Tirus/ untergehn.23

Eine weitere Eigentümlichkeit ist die hier aufgegebene Autonomie der Künste. Hatte man traditionell, der alten Zunfteinteilung folgend, den Künsten eigene Räume zugestanden, so gehen sie im Reich des Todes fast verwandtschaftliche Beziehungen ein – Bernini neben Apelles. Auch hier erweist sich der Tod als der große Gleichmacher und ist das Individuelle rein geistiger Art:

Die Ehren-Säulen wird das Alter nicht versehren/ Den Marmel frißt die Zeit/ doch nicht den Ehren-Ruhm. Der Eltern Helm und Schild seyn billich hoch zuehren/ Doch unsre Tugend ist recht unser Eigenthum.24

20 Hoffmannswaldau, ebd., S. 5. 21 Ebd., S 11. ff. 22 Im Text heißt es eindeutig ‘Chersiphon’. Chersiphron schuf mit seinem Sohn den berühmten Artemistempel zu Ephesos. 23 Mit Bisester ist die Hafenstadt Biserta (franz. Bizerte) an der Nordküste Tunesi- ens gemeint. 24 Ebd., S. 23.

Chloe 43 376 Ferdinand van Ingen

Sonst ist alles hin, das “grosse Capitol/ der Brunnen der Gesetze”, ebenfalls “Aegyptens Wunderwerck”, “Mausolus Wunder-Grab ist Leiche dieser Zeit: | Die Pracht in Epheso/ die Macht von Babels Mauren” – ausnahmslos ein Raub der Zeit. Das ist die Lehre, die der Mensch lernen könnte, aber selten ernstnehme – “Was itzt noch mächtig ist/ wird auch nicht ewig bleiben/ | Die Mauren kan die Zeit als wie das Fleisch zerreiben.”25 Diese Zitate aus dem Gedicht Die all- gemeine Vergänglichkeit26 sind nicht umsonst argumentativ auf nam- hafte Städte und ihre stolzen Bauten bezogen. Sie rufen dasjenige ins Bewusstsein, was man als Bildungswissen besitzt und konkretisieren das abstrakt Vorgetragene. Damit ist ein wesentlicher Punkt verbunden, der Aufschlüsse über den geistigen Horizont der Auftraggeber (d.h. wohl der Hinterbliebe- nen) erlaubt. Das auf Gymnasium und Universität erworbene Wissen, an das in obigen Texten wie selbstverständlich appelliert wird, ver- weist auf Elite-Angehörige. Es ist nach den Regeln der Rhetorik nicht nur im Einklang mit Würde und Ansehen des Angedichteten, sondern auch, und zwar dem Gesetz des aptum entsprechend, mehr noch mit den überlebenden Angeredeten. Das Architektur-Motiv stiftet, über seine affektverstärkende Wirkung hinaus, eine intellektuelle Einheit zwischen dem betrauerten Toten und dem trauernden Publikum. Interessanter dürfte indessen die Rolle der Architektur in anderen Gestaltungen sein, wo ihre strukturbestimmende Bedeutung weit grö- ßer ist, und zwar als wirkliche, aus Worten aufgeführte und ausstaf- fierte Räume. Philippe Haberts umfängliches Gedicht Temple de la Mort macht das sinnfällig. Es erfreute sich bei den Zeitgenossen, ja bis weit ins 18. Jahrhundert, einer erstaunlichen Beliebtheit, die sich wohl aus der Faszination des Themas erklärt. Christian Gryphius’ Prosa-Übersetzung Der Tempel des Todes27 möge das in aller Kürze exemplarisch zeigen.28

25 Ebd., S. 40. 26 Ebd., S. 37-42. 27 In der Ausgabe der Poetischen Wälder von 1698: S. 323-333. Sie ist in der 2. Ausgabe von 1707, die im Ndr. zitiert wurde, nicht mehr enthalten. Zum Text und den Bearbeitungen vgl. Merrick Bryan-Kinns: Philippe Habert’s ‘Temple de la mort’. Probable source of a german baroque allegory. In: arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 8 (1973), Heft 3, S. 296-299. 28 Daniel Wilhelm Triller hat Gryphius’ Prosa versifiziert in: Poetische Betrachtun- gen Bd. I, Hamburg 3. Aufl. 1750, S. 679.

Chloe 43 Architekturformen in der schlesischen Kasualdichtung 377

In einer entrückten eisigen Landschaft erblickt der Dichter den Tempel. Auf dem Gipfel sitzt ein Gerippe, in den Händen einen Totenkopf und ein Schwert. Beim Betreten des Inneren wird es immer grausiger, es werden die verschiedenen, zum Tod führenden Krank- heiten abgebildet. Auf dem Altar ist das Bild des Todes dargestellt: “Es hielt in der rechten Hand eine Sense/ in der lincken aber eine Sand-Uhr. Der kahle Hirn-Schädel war mit einem Cypressen-Krantz bedeckt […]” (ebd., S. 330). Von Interesse ist das Entrückungsmotiv (“Verzückung” im Titel), nach dem Vorbild der Kirchhoff-Gedancken des Andreas Gryphius, mit dessen Hilfe ebenfalls eine fremde, selt- same Wirklichkeit vergegenwärtigt wurde. Hier sind natürlich auch die Gerippe-Darstellungen vorgebildet (“Ich finde meistens nichts vor mir/ | Als gantz entfleischete Gerippe”).29 Somit ist dieser literarische Text, dessen Analyse den Rahmen unseres Beitrags sprengen würde, nicht nur aus medizinhistorischer Sicht von Bedeutung, sondern hat vor allem eine Vorbildwirkung für weitere Dichtungen gezeitigt. Hoffmannswaldau setzt das Entrückungsmotiv, wie oben bereits gesagt, in Schaubühne des Todes30 wirkungsvoll an den Anfang: “Ich war/ ich weiß nicht wo/ ich schaut/ ich weiß nicht was/ | Ein Nebel überspan mir schleunig das Gesichte/ | Und ließ mir doch so viel noch übrig von dem Lichte/ | Daß ich durch dikke Lufft die Trauer-Wörter laß:/ | Hier ist mein bleiches Reich […].” In den meisten Fällen ist das Subjekt des Traumgesichts auf einen Führer angewiesen, der das Gesehene erläutert und kommentiert. Da das strukturbildende Architekturmotiv, mit der Möglichkeit eingehen- der Beschreibung der Behausung, der Zimmer und weiterer Bauele- mente, multifunktional einsetzbar ist, findet es bevorzugt Verwendung in Hochzeitsgedichten. Als Beispiel möge Hoffmannswaldaus Pallast der Liebe31 dienen. Es ist hier Venus selbst, die den Schlafenden mit- führt:

Sie brachte mich in eyl auf einen weiten Plan/ Da man in aller Lust die Wohnung schauen kan/ So sich umzircken läst durch immergrüne Myrthen/

29 In: Gesamtausgabe Bd. III. Hrsg. von Marian Szyrocki. Tübingen 1964, S. 10, Anfang der 22. Strophe. Der Text setzt die Schilderung über viele Strophen hin fort. 30 BegräbnüßGedichte, ebd., S. 11 ff. 31 HochzeitGedichte, ebd., S. 53-63.

Chloe 43 378 Ferdinand van Ingen

Die Tauben sassen hier/ es that ein iedes Paar/ Woraus zu schlüssen stund/ wer ihre Göttin war/ Und wie die Venus auch die Vogel kan bewirthen. Es war das schöne Schloß durch einen Fluß berührt/ So nassen Cristallin in seinen Armen führt/ Und den berühmten Grund des weiten Hauses ehret/ Die Mauren waren hier von Marmel aufgebaut […] (ebd., S. 54/5)

Venus erzählt dann über ihre Macht allüberall, eben auch in Breslau. Der Traum geht zu Ende, und der Dichter kommt wieder zu sich. Ebenso wie die öde Eislandschaft bei Habert/Christian Gryphius ist hier die anmutige Landschaft der Venus fest in dem Fundus des allge- meinen kulturellen Bewusstseins verankert.32 Die Anlage dieser Gedichte ermöglicht eine Auflockerung durch eine manchmal virtuos durchgeführte Handlungsstruktur und redend eingeführte Begleitfiguren wie Engel und Seraphim, die dem verzück- ten Geist den ‘überirdischen’ Charakter hinzufügen. Ein letztes Beispiel möge die Signifikanz der Architektonik als Strukturprinzip in einem Hochzeitsgedicht zeigen. Es trägt den be- zeichnenden Titel Der Tempel der keuschen Liebe, der Dichter ist Christian Gryphius.33 Es können hier nur einige wenige Strophen angeführt werden:

Ich war/ ich weiß nicht wo/ doch gäntzlich ausser mir/ In einer andern Welt/ auf angenehmen Höhen; Und sah das schönste Schloß von Jaspis und Porfyr/ In einem Cedern-Häyn vor meinen Augen stehen; Was weiland Rom/ Athen und Babel groß gemacht/ War hier weit treflicher und edler vorgestellet; Weil reiche Liebligkeit und Wunder-volle Pracht Sich zu der seltnen Kunst und Zierligkeit gesellet. Das Auge war entzückt; die Sinnen stimmten ein/ Und schlossen/ dieses Werck muß mehr als menschlich seyn.

Indem ich aber noch an diesem Wunderbau/ Der unvergleichlich war/ mich Freuden-voll ergötze/ So hör’ ich eine Stimm: auf Sterblicher! Komm/ schau/ Wie hoch des Himmels Gunst die reinen Seelen schäze; Halt aber Augen/ Hand/ Hertz/ Ohr und Zunge rein;

32 Siehe Simon Schama: Landscape and Memory. London 1995. 33 Hochzeitgedichte, S. 576-579.

Chloe 43 Architekturformen in der schlesischen Kasualdichtung 379

Und zeuch dich völlig ab von Venus geilem Triebe; Hier glänzt ein göttlich Licht/ ein Engel-gleicher Schein; Hier ist/ mit einem Wort/ der Tempel keuscher Liebe. Komm/ lerne/ daß die Welt/ und ihr bethörter Wahn Nicht/ wie der Himmel wil/ die Liebe treiben kan.

Damit bewegte sich das diamantne Thor/ Die Riegel sprungen ab/ ich kam in einen Garten/ Der überirrdisch war; hier wurden Aug’ und Ohr Mit höchster Lust erquickt; die hundert-fachen Arten Des schönsten Rosenstocks vermählten ihren Glantz Mit Nelcken/ Lilien/ Violen und Jeßminen: Hier stund kein flüchtiger/ kein welcker Blumen-Krantz; Die stimmten einen Thon mit Lipp’ und Händen an. Dem sich kein Lauten-Spiel des Orpheus gleichen kan. […] Nachdem ich mich genung an diesem Ort erquickt/ So hies ein Seraphin mich über mein Verhoffen Noch etwas weiter gehn; wie ward ich hier entzückt? Ich fand/ O schönster Blick! den Tempel selber offen. [etc.]

Die im Prinzip weiträumige Struktur ermöglicht nicht nur detaillierte mythologische Spielereien und metonymische Umschreibungen, son- dern auch historische Anspielungen auf die Bildungstradition der An- tike. Nicht zuletzt ist hier die Gelegenheit zum Einsatz der beliebten Kostbarkeitsmetaphorik, wobei insbesondere Edelsteine ein bevorzug- tes Mittel erlesenen Reichtums darstellen. Aber auch hier ist die Allu- sion kaum versteckt. Wenn es bei Christian Gryphius hieß: “Der Grund zu diesem Bau besteht aus seltnen Steinen/ | Die heller als Por- fyr/ als Gold und Jaspis scheinen”, ist die bekannte Beschreibung des himmlischen Jerusalems (Offb 21, 18 und 19) der mögliche Prätext: “Und der Bau ihrer Mauer war von Jaspis, und die Stadt von lauterm Golde, gleich dem reinen Glase. Und die Gründe der Mauer um die Stadt waren geschmücket mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grund war ein Jaspis, der andre ein Saphir, der dritte ein Chalcedonier, der vierte ein Smaragd.”34 Die unerhörten Zierden des “Tempels der Liebe” gipfeln denn auch in Bildern herrlichster Kunstarbeiten (ebd., S. 577):

34 Luther-Bibel, 10. Auflage 1912.

Chloe 43 380 Ferdinand van Ingen

Was Rubens/ Titian und Sandrart dargethan/ Was Raphael/ Bernin und Küsel35 aufgesetzet/ Ist blosses Schatten-Werck; das stoltze Vatican Wird gegen diesen Bau nur wie ein Tand geschätzet. Hier ist ein solcher Schmuck/ dem Gold und Silber weicht/ Und dem kein Glantz/ kein Pracht der edlen Steine gleicht.

Die unterschiedlichen Raumphantasien, die sich als Traumgesichte präsentieren, eröffnen interessante Einblicke in erinnerte Raumkon- stellationen, ihre Lage und Ausstattung. Es fehlt auch meist der Garten nicht, der mit seiner Blumenpracht und Brunnenarchitektur (“Nicht weit von dannen sprang der Quell der Fröligkeit”; ebd.) die Sinne be- zaubert. Der “Pallast der Liebe” hat sogar ein “Labyrinth mit einer Rosemunde”, ja verfügt über eine Gruft, in der es nach Amber duftet. Die literarischen Raumvorstellungen, die hier in vielleicht zeit- und regionaltypischen Beispielen der Kasualdichtung vorgeführt wurden, sind ein kulturwissenschaftlich interessantes Phänomen, das auch we- gen der Interkulturalität Beachtung verdient. Es ist evident, dass die Bedeutung von architektonischen Elemen- ten, für die es im Übrigen keine Referenzen in der Wirklichkeit gibt, die schlesische Kasualdichtung jener Zeit prägt. Ebenso ist deutlich, dass die bauliche Topologie auf der dichterischen Praxis der Imitatio beruht und sich aus dem nahezu unerschöpflichen Vorrat der Topik nährt. Wenn sie ihren Sinn auch in der jeweiligen Subgattung der Ge- legenheitsdichtung entfaltet und keines besonderen Relevanzaufwei- ses bedarf, partizipiert sie doch in entscheidender Weise am Bestand der kulturellen Erinnerung, den sie ihrerseits mit konstituiert.36 Sie er- scheint deshalb in vielerlei Prägung, je nach Anlass und Gelegenheit, bald andeutend und stichwortartig, bald im wahrsten Sinn raumfül- lend. Sie weitet jedoch immer den Einzelfall eines privaten Gesche- hens auf die großartige Welt der Baukunst aus und schafft dem Privat- Individuellen gleichsam eine repräsentative Umwelt. Darin besteht ihr historischer Zeugniswert.

35 Gemeint ist der Kupferstecher Melchior Küsell (Breslau 1626-Augsburg 1686). Siehe Willard James Wietfeldt: The emblem literatur of Johann Michel Dilherr. Nürnberg 1975, S. 254 ff. (= Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesge- schichte 15). 36 Dazu Wolfgang Neubers Überblicksartikel ‘Memoria’ in: Historisches Wörter- buch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 5. Tübingen 2001, S. 1037-1078.

Chloe 43

R u d o l f D r u x

“VON DER VÄTER KUNST” Johann Christian Günthers kasualpoetische Selbstpositionierung

Dass für Johann Christian Günther, dessen Werk einschlägigen lite- raturgeschichtlichen Darstellungen zufolge die Epochenschwelle vom Barock zur Aufklärung markiere und den Ausbruch aus einer rheto- risch geprägten Kasualpoesie in die Erlebnisdichtung indiziere,1 – dass für Günther solchen Urteilen zum Trotz an der Gültigkeit des deco- rum-Prinzips, das sich sowohl auf die dargestellten Gegenstände be- zieht als auch die Absichten des Autors und die Rezipienten der Dar- stellung betrifft, kein Zweifel besteht, dafür liefert das Gratulations-

1 Als besonders aufschlussreiches, weil für die Günther-Rezeption unter Studieren- den der Germanistik nach wie vor maßgebliches Beispiel kann hierfür die Studie von Benno von Wiese: Johann Christian Günther. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hrsg. von Harald Steinhagen und Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 887-921, hier S. 890 f., genannt werden, in der die Problemlage des schlesischen Poeten wie folgt beschrieben wird: “Naiv bis zur Selbstzerstörung wollte er nur sagen und dichten, was ihm als die Wahrheit galt, selbst wo diese niemand hören wollte; aber sehr gegen seinen Willen zwangen ihn die Umstände immer wieder dazu, in seinen Huldigungsgedichten dann doch wieder zu schmeicheln, und sei es auch nur auf geschickten rhetorischen Umwe- gen”. Auf diese (wie überhaupt auf “Günthers Gelegenheitsdichtungen“) geht von Wiese aber nicht weiter ein, vielmehr widmet er sich Texten, in der sich die neue Dichtungsauffassung des Autors ausdrückt, und das ist vor allem in seiner Liebeslyrik der Fall. Dieser “verdankt Günther seinen Nachruhm” (416), konsta- tiert Ernst Osterkamp: Günther, Johann Christian. In: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 4. Gütersloh, Mün- chen 1989, S. 414-416, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil in ihr, was im Ver- gleich mit “der vorangegangenen Barockdichtung” innovativ sei, “das liebende und leidende Subjekt seinen persönlichen Empfindungen poetisch Ausdruck verleiht”, so dass sie dem Betrachter sogar eine Differenzierung “nach der Schreibsituation” erlaubt. Den Kasualgedichten bescheinigt Osterkamp immerhin “Einfallsreichtum, Leichtigkeit der Versbehandlung und eine deutliche Neigung zur satirischen Thematik” (S. 415), sie hätten “insgesamt aber den Rahmen des Zeitüblichen kaum überschritten”.

Chloe 43 382 Rudolf Drux poem Auf das […] glücklich-erschienene Nahmens-Fest des (be- rühmten) Arztes und (weniger bekannten) Gelegenheitsdichters Adam Christian Thebesius aus Hirschberg 1721 ein besonders eindringliches Beispiel: Wie Günther ist nämlich auch Thebesius ein ‘zweifacher Apollo-Jünger’ (Phöbus Apollo ist als Vater des Äskulap dem Ärzte- stand ebenso zugeordnet wie als Musaget den Künstlern), weshalb er als Kollege in doppelter Profession, als “gelehrter” und “weiser Mann” aus den übersendeten Versen das “gut Gemüthe” des Verfas- sers erkennen werde,2 “der bloß die Wahrheit liebt” (385, 25).3 Deswe- gen eröffne sich ihm als Betätigungsfeld einzig eine moralisch inte- gere Dichtkunst:

Die schmückt die Weißheit aus und giebt der Tugend Zoll, Zu welcher sie das Volck in Bildern führen soll; Jhr Kiel endeckt mit Recht der Laster Grund und Schande, Und offenbahrt den Ruhm der Redligen im Lande, Ohn Abscheu vor Gefahr, ohn Absicht auf den Lohn: Der Vorsatz treibt auch mich [...]. (385, 49-54).

Derart ethisch verankert, ist die Dichtkunst, deren disziplinäre Beson- derheit hier mit Wendungen wie ‘ausschmücken’ (ornare) oder ‘in Bildern führen’ umschrieben wird, unanfechtbar, selbst wenn sie zu bestimmten Gelegenheiten verfasst ist (und honoriert wird), stellt sie doch unbeirrt das Laster bloß und verkündet selbstlos “den Ruhm der Redligen”. Anders gesagt: einen unredlichen Menschen bei entsprech- ender Gelegenheit anzuprangern ist nicht nur gestattet, sondern dem Verfechter “der rechten Poesie” sogar moralische Pflicht. Deren Erfül- lung wirkt sich auf die ästhetische Qualität der Dichtung aus, was an- gesichts der erwähnten (für die humanistische Poetik konstitutiven) Korrelation zwischen der sittlichen Integrität des Produzenten und der

2 Johann Christian Günther: Werke. Hrsg. von Reiner Bölhoff. Frankfurt a.M. 1998 (= Bibliothek deutscher Klassiker 153), S. 384-389. Im Darstellungstext werden Günthers Gedichte unter Angabe der Seitenzahl dieser Ausgabe und des jeweiligen Verses zitiert, z.B. hier 388, 136. Günther projiziert seinen Ärger über “der Pfuscher Mord-Artzney” (387, 91) auf Phoebus, der “innerlichen Schmertz  der Blut und Galle kocht” (388, 114 f.), über ein gewissenlos verkauftes Behand- lungsprivileg empfindet. Mit der Berufung auf Phoebus Apollo spricht er zwar den Ärztestand an, aber da dieser auch als Gott der Künste allbekannt ist, fallen unter die schamlosen “Stümper” natürlich auch die falschen Musensöhne. 3 Deshalb habe er sich “mit Fleiß” um die Möglichkeit gebracht, durch “Schmei- cheln” und Heucheln seine finanzielle Lage zu verbessern (385, 25-32).

Chloe 43 “Von der Väter Kunst” 383 künstlerischen des Produktes nicht verwundern kann4 – wenn auch die Unbedingtheit des moralischen Maßstabs, der an alle Textarten, also auch an die kasualpoetischen5 anzulegen ist und allein deren Güte be- stimmt und Hervorbringung rechtfertigt, sowie dessen subjektive Aus- richtung nach Verhaltensweisen im privaten Umfeld eine Entwicklung offenbart bzw. ankündigt, die mit den viel beschworenen ‘bürgerli- chen Emanzipationsbewegungen’ im 18. Jahrhundert einher geht. Zur weiteren Erläuterung seines Verständnisses von Dichtung, wie es im Onomastikon für Thebesius dargelegt ist, greift Günther auf die jüngste Literaturgeschichte zurück und führt dabei sowohl die für ihn vorbildlichen Kollegen als auch die von ihm missbilligten Tendenzen an, und zwar in verschiedenen Genres seiner Kasuallyrik. Auch das ist naheliegend; denn seit der römischen Spätantike bietet die Gelegen- heitsdichtung, in der ein bestimmtes, zumeist institutionalisiertes Er- eignis (casus) aus dem Leben des Adressaten in sprachlich sanktio- nierter Form dargestellt wird, dem Autor die Möglichkeit, sich als konstitutiven Teil des öffentlichen Austausches über den Anlass und die ihm zugeordnete Person in den Prozess der Epideixis (der ‘Zur- Schau-Stellung’)6 einzubringen. Deshalb haben deutsche Barockdich-

4 Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 507-511, § 1055-1062. Dass sich die enge Verbindung von innerem aptum und äußerem decorum z.B. in der Pa- rallelität des moralischen Verfalls des römischen Imperiums und des Niedergangs der lateinischen Sprache zeige, ist ein gewichtiges Argument im kulturpatrioti- schen Kampf für die Etablierung einer deutschen Kunstdichtung, wie ihn vor al- lem Martin Opitz führte; vgl. dazu Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im früh- modernen deutschen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwan- dels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978 (Palaestra 269), S. 18-22, und Klaus Garber: Martin Opitz. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts (s. Anm. 1), S. 144. 5 Zu Günthers Zeit war längst eine Poetik der Gelegenheitsdichtung etabliert, wie die zahlreichen kasualpoetischen Lehrbücher des späten 17. und frühen 18. Jahr- hunderts verraten, u.a. Balthasar Kindermanns Der deutsche Poet (1664), Alb- recht Christian Rotths Vollständige deutsche Poesie (1688), Christian Weises Curiöse Gedancken von deutschen Versen (1692), der gesellschaftlichen Erfolg durch “geschickte” Selbstdarstellung verspricht, Christian Portmanns Bibliotheca Poetica (1702) und Magnus Daniel Omeis Gründliche Anleitung (1704). Diese konnten zur Beschreibung der konstitutiven Merkmale und diversen Formen der Kasuallyrik fast ausschließlich auf Beispiele von “teutschen poeten” (Portmann) zurückgreifen. 6 Zu den Mitteln der epideiktischen Redegattung (genus demonstrativum) vgl. Lausberg (Anm. 4), §§ 239-242. Für das Verständnis der Gelegenheit als zentra-

Chloe 43 384 Rudolf Drux ter Gelegenheitsgedichte gerne zu persönlichen Mitteilungen und den diesen zuzuzählenden poetologischen Äußerungen genutzt.7 Als Gün- ther z.B. 1717 von George Wilhelm von Reibnitz den Auftrag erhält, an dessen Großvaters Grab ein “kindliches Thränenopfer” darzubrin- gen, lässt er den schlesischen Adeligen seiner apostrophierten Heimat (“Mein mit Elysien verglichnes Vaterland”) kundtun, dass sie von ihm kein Kunstwerk erwarten dürfe, das ihrer würdig sei – womit Günther einen exordialen Topos des Epicediums, nämlich der Aufgabe ange- messenen Trauerns eigentlich nicht gewachsen zu sein, durch den Be- zug auf die kulturelle Situation aktualisiert: Schlesien, einst “erster Aufenthalt der deutschen Pierinnen”, sei kulturell isoliert und verarmt, “seit der Lohenstein den Opitz überrand”.8 Ein Jahr später expliziert er diese Entwicklung in einem program- matischen Gedicht auf Den glücklichen Abzug  Des Wohlgebohrnen Ritter und Herrn  Herrn Daniel Gottlob von Niecksch und Roseneck  [...] Seines Hochadelichen Maecenaten [...] am 11. April 1718 (463- 469).9 Dazu regte ihn dessen Rückkehr “aus dem edlen Leipzig in sein werthes Schlesien” an: Indem Günther den adeligen Kommilitonen (“Bruder”) mit einem Lobpreis zum Geleit dazu ermunterte, mit sei- nen poetischen Versuchen, die er während der gemeinsamen Studien- zeit betreut hatte, fortzufahren, konnte er ihm die literarische Szene schildern, die er im schlesischen “Vaterland”, am Ziel seiner Reise

ler Kategorie der Kasualpoesie und deren Subkategorien (wie des folgenden Propempticons, des Apopempticons oder diverser Gratulatoria) ist immer noch grundlegend Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Ge- schichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 93-110. Eine kurze Beschreibung der Gattungs- und Funktionsgeschichte von Kasualpoemen bietet Rudolf Drux: Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 653-667. 7 Vgl. Rudolf Drux: Die Selbstreferenz des Autors in Johann Christian Günthers Kasualpoesie. In: Johann Christian Günther (1695-1723). Oldenburger Sympo- sium zum 300. Geburtstag des Dichters. Hrsg. von Jens Stüben. München 1997 (= Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 10), S. 101-111. 8 Johann Christian Günthers sämtliche Werke. Histor.-krit. Gesamtausg. Hrsg. von Wilhelm Krämer. 6 Bde. Darmstadt 1964, Bd. 5: Gelegenheitsdichtungen bis zum Ende der Wittenberger Zeit (1710-1717), S. 122. 9 Als seinen “Gönner” konnte Günther D. G. v. Niecksch (auch Nickisch) vor al- lem deshalb bezeichnen, weil dieser in Leipzig für ihn und andere mittellose Landsleute, so Reiner Bölhoff im ‘Stellenkommentar’ zu diesem Abschiedsge- dicht, “einen gelehrten Mittagstisch bereithielt” (S. 1217).

Chloe 43 “Von der Väter Kunst” 385 antreffen werde.10 Da er von Nieckisch, der “das innerliche Wesen” der Poesie begreife (466, 85 f.), schon “so manches” gehört hatte, “[d]aß an Vernunfft und Kunst weit über andre geht” (466, 88), habe er in dessen “Brust den Zunder” für die Poesie anzufachen gesucht; dieser habe aber nur wenige Impulse benötigt, um glänzende Werke hervorzubringen, die ihn in eine Reihe rückten mit Opitz, Flemming (sic!), Canitz, A. Gryphius, Hoffmannswaldau, Neukirch (466, 93- 467, 106) – “und wer sie alle sind die zum Parnassus kamen,  So bald der Bober-Schwan den ersten Crantz ereilt” (467, 111 f.). Es sagt einiges über Günthers Auffassung von Dichtung aus, wel- che Dichter er in der Tradition des ‘Boberschwans’ Martin Opitz sieht, in die er sich selbst eingliedert. Von den schlesischen Autoren wird “der alte Gryph” (im Gegensatz zu seinem Sohn Christian) ge- nannt – wegen seiner Fähigkeit, mit kraftvollem Ausdruck und “Nachdruck in Gedancken” (467, 101) die Gemüter seiner Leser anzu- rühren. Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau hingegen habe in italienischer Manier der deutschen Sprache “Zärtligkeit” und Esprit gegeben. Bezogen auf die Kategorien der Stillehre erweist sich so Andreas Gryphius als Meister des genus grande, das auf das animos flectere zielt: “Wie künstlich greifft er nicht des Lesers Regung an?” (102), während Hoffmannswaldau die zierlichen, urbanen Formen des genus medium beherrscht.11 Ansonsten wird neben Paul Fleming, der Opitz unmittelbar folgt – als Gründungsväter der deutschen Dicht- kunst haben sie “beyde mehr gethan als mancher Stumper glaubt” (94)12 –, Benjamin Neukirch aufgeführt,13 erstaunlicherweise als Ver-

10 Nickisch kehrte auf seine in Adelsdorf (bei Liegnitz) gelegenen Güter zurück; vgl. Wilhelm Krämer: Das Leben des schlesischen Dichters Johann Christian Günther 1695-1723. Mit Quellen und Anmerkungen zum Leben und Schaffen des Dichters und seiner Zeitgenossen. 2. Aufl. Stuttgart 1980, S. 152. 11 Hier wirkt die für die Humanisten grundlegende Lehre von den genera dicendi nach, wie sie etwa Cicero im Orator (21, 69) formuliert, wenn er die Stilhöhe auf die Absicht bzw. Aufgabe des Redners (officium) bezieht: “[...] quot officia ora- toris, tot sunt genera dicendi: subtile in probando, modicum in delectando, vehe- mens in flectendo; in quo uno vis omnis oratoris est”. 12 Ihre poetische Gleichrangigkeit drückt sich formal darin aus, dass beide in dem- selben Vers genannt und mit je einem Halbvers bedacht werden. Seine besondere Affinität zu Paul Fleming bekundet Günther auch dadurch, dass er den 1609 in Hartenstein/ Erzgebirge geborenen Opitzianer, wie er Poet und Mediziner, ganz selbstverständlich den schlesischen Dichtern zugesellt, obwohl sich Fleming zum Schriftsteller und Gelehrten in Sachsen, vornehmlich in Leipzig ausbildete. Günthers “Kontakte zu Leipzig” im Hinblick auf “die Entwicklung seiner

Chloe 43 386 Rudolf Drux fasser panegyrischer Gedichte: Diese fungieren normalerweise nicht als literarische Aushängeschilder, in diesem Fall lassen sie jedoch “das edle Feuer [spüren],  Wodurch sein reiner Kiel die Helden ewig macht” (467, 105 f.),14 – und sind damit (gleichfalls) moralisch legiti- miert. Besondere Erwähnung aber erfährt Friedrich Rudolf von Canitz (466 f., 97-100), dessen Werk, obwohl nur ein “kleiner Ueberrest” er- halten, “den grossen Geist”, vornehmlich auf dem Gebiet der Satire, offenbart und selbst von einem mit dieser Gattung bestens vertrauten Autor wie Joachim Rachel nicht übertroffen wird. Darüber hinaus gibt Günther auch Auskunft, wo eine neue zu- kunftsträchtige Dichtung zu finden sei. Seine Ahnung, “Schlesien verliere seine Schwäne”, die “nach Norden fliehn” (467, 117 f.), wird durch “Amthors Klang”15 bestätigt, ganz zu schweigen “von Brock- sen” (119). Dessen Erwähnung ist ebenso weitsichtig wie erstaunlich, dürfte sich doch Günther, da er Barthold Hinrich Brockes physiko-

dichterischen Sprache” und damit auf “die Veränderung der literarischen Gewichtung”, die er in seinen Kasualpoemen vornimmt, betrachtet auch Detlef Haberland: Die Literatur- und Kulturgeschichte Schlesiens – zwischen provinzi- ellem Denken und transregionaler Darstellung. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau XLV (2004), XLVI (2005), S. 163- 192, hier S. 186-191. 13 Wilhelm Große: Aufklärung und Empfindsamkeit. In: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart 1983, S. 139-176, macht “die Krise der Gelegenheitsdichtung” als wesentliche Ursache einer “stilistischen Neubesinnung” einiger Lyriker nach der Jahrhun- dertwende gerade an Versen von Benjamin Neukirch fest, der sich von seinen alten “abgeschmackten Sachen” distanziert: Während er aber “viel hundert Le- ser” gewann, indem er “dem Bilde der Natur die Schminke vorgezogen  Der Reime dürren Leib mit Purpur ausgeschmückt  Und abgeborgte Kraft den Wör- tern angeflickt” (Zitate bei Grosse, ebd., S. 139 und 144), war ihm kein Erfolg beschieden, als er, auf das Wesentliche konzentriert, sich auf dem Weg der Ver- nunft zum Parnass begab. Die zur Selbstpräsentation des Kasualpoeten gehö- rende Reflexion über die eigene Tätigkeit kreist also bei Neukirch wie auch bei Günther und seinem Mentor Johann Burchard Mencke um die zeitbedingte Schwierigkeit, die sozialen Anforderungen an den Gelegenheitsdichter mit seinen ästhetischen Ansprüchen in Einklang zu bringen. Vgl. ebd., S. 140-148, und Drux: Die Selbstreferenz des Autors (s. Anm. 7), S. 108-111. 14 Das ethische decorum, das im Onomastikon auf Thebesius an die Aufgabe ge- knüpft ist, den “Ruhm der Redligen im Lande”, d.h. der Mitwelt zu verkünden, wird also hier in die geschichtliche Dimension verlängert: Durch die “rechte Poe- sie” bleiben die Helden der Nachwelt gegenwärtig. 15 Gemeint ist Christoph Heinrich Amthor: Poetischer Versuch einiger teutschen Gedichte und Übersetzungen. Flensburg 1717.

Chloe 43 “Von der Väter Kunst” 387 theologische Gedichte, die unter dem Titel Irdisches Vergnügen in Gott erst seit 1721 mit großem Erfolg erschienen waren, noch nicht kennen konnte, auf dessen frühere Werke über Geschichten des Neuen Testaments bezogen haben, die weit weniger Berühmtheit erlangten. Jedenfalls offenbart Günthers Dichterreihe seine Neigung zum Klassizismus (vom vorbarocken des Martin Opitz bis zu dem an Boi- leau orientierten eines Canitz oder Neukirch).16 Dabei ist für ihn durchgängig das Ideal der Angemessenheit der entscheidende Wert- maßstab, d.h., er beurteilt einen Autor danach, ob in seinen Texten die Stimmigkeit der textimmanenten wie der textexternen Bezüge gewahrt ist. Das zeigt sich insbesondere bei der Themenwahl, für die Günther seinen Schülern konkrete Ratschläge erteilt. Niecksch beispielsweise habe genügend Begabung und Fertigkeiten, um die großen zeitge- schichtlichen Ereignisse poetisch wiederzugeben:

Die Thaten unsrer Zeit begehren einen Mann, Der was ietzt Fried und Krieg vor Wunder mit sich bringen Jn Bildern netter17 Schrifft der Nachwelt liefern kan. Du siehst die Majestät des grossen Käysers blitzen, Du hörst den gütgen Carl in Ungern schröcklich seyn, Wen wollte nicht Eugen/ Gradivens Sohn erhitzen? Von dessen Tapfferkeit so gar die Leichen Schreyn. (467 f., 126-132)

Kaiser Karl VI. und Prinz Eugen für die Befreiung Ungarns aus der Hand der heidnischen Türken zu feiern18 ist für den “hochadelichen”

16 Genauer unterscheidet Große (s. Anm. 34), S. 144, die “stilistische ‘Mittel- straße’”, auf der sich die Galanten in die Richtung bewegten, die die “Dichter des ‘Mercure galant’, des Hotel de Rambouillet oder die Poetik Dominique Bou- hours” anzeigten, von dem von Canitz verfolgten “neuen Geschmacksideal, des- sen Verkünder Boileau war” (ebd., S. 146). 17 ‘Nett’ in der Bedeutung von ‘passend’, ‘ansprechend’ ist seit dem 16. Jahrhun- dert bezeugt; S. Grimms Deutsches Wörterbuch. Bd. 7. Leipzig 1989, Sp. 633 f. 18 Auch für Mariane (Marianna) Elisabeth von Breßler, die dichtende Gattin des betuchten Breslauer Ratsherrn Ferdinand Ludwig von Breßler und Aschenburg, die Günther in Fragen der Dichtkunst berät, müsse als “Stoff [...] zum Singen” (584, 111) das Lob des Landesherrn und seines Hauses Priorität besitzen, obwohl ihr die Alternative, mit dem Degen deren Ruhm zu mehren, gewiss nicht gegeben ist. Dennoch antwortet Günter auf ihre (fingierten) Fragen, wem ihre Poesie zu gefallen und nützen habe: “Carl macht in Ungarn göldne Zeiten,  Carl ist es, dem der Ruhm der Sayten  Vor allen überhaupt gebührt;  Eugen folgt nach und denn die Liebe,  Bedencke, was dir ihre Triebe  An deinem Breßler zugeführt!”

Chloe 43 388 Rudolf Drux

Ritter von Niecksch und Roseneck, von seiner Befähigung zum Erha- benen abgesehen, auch deswegen angebracht, weil damit ein seines Standes und seiner Familie würdiges Pendant zum Schlachtfeld auf poetischem Gebiet vorliegt: Indem er die Heldentaten der Habsburger Herrscher der Nachwelt überliefert, ohne selbst “den Degen zu be- schweren” (469, 187), wird er nicht weniger “den Ahnen Glantz, den Vätern Ruhm gebähren” (469, 185). Freilich kann dabei auch das Be- dürfnis des Autors nicht überlesen werden, den Rückzug des Ritters auf das väterliche Gut zu rechtfertigen. Dazu bietet Günther die übli- chen Topoi wie das Lob des Landlebens, das die Abkehr von höfi- scher Schmeichelei impliziert, oder die Erhöhung des generischen Adels durch Kunst und Wissenschaft auf; er gibt außerdem in her- kömmlicher Metaphorik zu erkennen, dass er das Talent des Heimkeh- renden vor dem riskanten Kriegsdienst bewahrt wissen will: “Dein Blut ist viel zu werth auf Rasen zu verderben;  Drum nimmt es Pallas selbst vor Krieg und Streit in acht [...]” (469, 181 f.). Zum Beleg dafür jedoch, dass der Rückzug “aus Leipzigs Lust-Gefilden” (468, 149)19 und die Bestellung eines Landgutes künstlerischer Produktivität kei- neswegs abträglich sein müssen, kann über den topischen Gewährs- mann Horaz hinaus, der der “Herrlichkeit Roms” das ländlich-stille

(584, 95-100) Die Gattenliebe ist zwar der Panegyrik auf die Habsburger thema- tisch nachgeordnet, bietet aber den “klugen Sinnen” der Kollegin einen großen Gegenstandsbereich, fordert doch Breßler die Entfaltung ihrer poetischen Fähig- keiten dank “seiner Tugend Würde” (584,105) geradezu heraus. Und indem Günther auf deren Schilderung immerhin eine ganze Strophe verwendet, kann er im Gedicht An die Frau von Breßlerin (581-585) deren Gatten, seinem gütigen Gönner, ungezwungen huldigen. Zur Rolle der Marianna von Bressler “in der ur- banen Kultur des Barock” vgl. Mirosawa Czarnecka: Frauen- und Geschlechter- forschung. In: Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspek- tiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kultur- wissenschaft. Hrsg. von Joachim Bahlcke. Köln, Weimar, Wien 2005, S. 527- 541, hier S. 531-533. 19 Vgl. Haberland (s. Anm. 12), S. 188 f.; “das literarische Zentrum Leipzig” scheint aber, wie Günthers Appell an Niecksch, aus Sachsen “getrost” in die Heimat zurückzukehren, zeigt, zu dieser Zeit für (s)eine poetische Neuorientie- rung noch nicht die Rolle zu spielen, die er der Stadt in seinem kurzen Grußge- dicht An den Herrn Hanß Christoph von Beuchel am 25. August 1722 zuspricht: Dass Beuchel wie auch er selbst weiteren “Lorbeer [...] in Sachsen” erwarten dür- fen, da im “schönen Linden” noch echte Poesie gedeiht, hängt im Wesentlichen damit zusammen, dass nun, im Sommer 1722, “in Schlesien die Stümper glück- lich” sind (594).

Chloe 43 “Von der Väter Kunst” 389

Tibur vorzog,20 nochmals die Geschichte der jüngeren schlesischen Literatur dienen, und zwar in Person des sinnreichen Friedrich von Logau, dem “das kleine Roschkowitz  Mehr als Fontainebleau dem grossen Ludwig taugen” konnte. “Warum? Er liebte dort der Musen Schatten-Sitz” (468, 154-156). Ex negativo ist der Aufzählung der ruhmreichen Dichter Schlesiens, die, dem Bober-Schwan folgend, den Helicon erstiegen haben, die spöttische Zurückweisung jener schmarotzenden “Meister-Sänger” (385, 44), die “nur Mißgeburthen hecken” (466, 91), eingeschrieben. Bei deren konkreter Benennung hält sich Günther merklich zurück. Es fällt aber auf, dass die von ihm abgelehnten Tendenzen durchgängig mit dem Werk Lohensteins und dessen Nachfolgern bzw. Adepten verbunden sind. So spielt er beispielsweise in seinem Willkommens- gedicht für (den drei Jahre später als sein Bruder Daniel Gottlob im August 1721 aus Leipzig heimkehrenden) Ernst Rudolph Nickisch von Roseneck (490-494), der als “gelehrter Maecenat” apostrophiert wird, auf Lohensteins Ergüsse an, wenn er sich gegen eine mit “rau- schend Flitter-Gold” behangene hochtönende Dichtung voll “schwülstige[r] Gedancken” und mit “Schlüsse[n], die mit Gott und guten Sitten zancken”, (493, 95 f.) wendet. Und selbstkritisch fügt er hinzu, dass er einst selbst solch “Puppenwerck, das schlechte Seelen fängt” (493, 97), verbrochen und dabei “auf einer hohen Spur  Wort, Sylben und Verstand auch wider die Natur” gedrechselt habe (493, 101 f.). So “mancher Magdalis [habe er] mit ausstudierten Griffen  Aus Amors Contra-Punct ein Ständgen vorgepfiffen” (493, 99 f.) und auf der Suche nach einem entlegenen “Gleichniß-Wort [...] den Lo- henstein wie andre Schul-Monarchen” bestohlen (494, 110 f.), ohne sich zu vergegenwärtigen, “was eigentlich vor Schmuck in unsre Kunst gehört” (493, 94). Diesen furchtbaren Fehler, den er inzwischen eingesehen habe: “Jetzt lern’ ich nach und nach mich und die Wahr- heit kennen” (494, 123),21 möge der Adressat, Mäzen und Schüler,

20 Horaz, epist. 1, 7, 44 f.; darauf bezieht sich Günther mit folgenden Versen: “Nun hast Du wenig Grund den Flaccus zu beneiden,  Dein Tibur bettet Dir die Wol- lust auf den Klee” (469, 177 f.). 21 Mit diesem paränetischen Gestus (der Ermahnung zu einer an der Tugend orien- tierten poetischen Tätigkeit) wird der Dichter in den Rang eines stoischen Weisen gerückt: Neben der Wahrheit erhebt Günther die Weisheit, die Fähigkeit zur Er- kenntnis der Indifferenz irdischer Güter und Konzentration auf “Tugend” und “Redlichkeit” zur Richtschnur für den Dichter. Das habe er auch seinen Schülern stets zu vermitteln gesucht, wie er im März 1722 (in seinem großen Bittgedicht

Chloe 43 390 Rudolf Drux sich der von ihm empfangenen Lehren erinnernd, tunlichst vermeiden, wenn er sich der Schar der rühmenswerten Dichter Schlesiens an- schließen will. Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass Günthers Gelegen- heitsgedichte zum größten Teil poetologische Themen aufgreifen.22 Dabei vertritt er konsequent das Angemessenheitsprinzip der huma- nistischen Poetik, das er allerdings auf die Moralität des Dargestellten fokussiert. Um diese glaubhaft zu vertreten und nachvollziehbar zu gestalten, reichert er die kasualpoetischen Topoi mit nachprüfbaren zeit- und lebensgeschichtlichen Daten und persönlichen Erfahrungen an, wozu als Elemente des poetologischen Diskurses auch Aussagen über die Kunst im Allgemeinen und Reflexionen über die eigenen Werke im Besonderen gehören – und damit auch über seine Stellung unter den schlesischen Dichtern.

‘An Herrn Hannß Gottfried von Beuchel’) versichert: “Jch bin der Wissenschaft begierig nachgeeilt,  Jch habe meine Zeit in vielen Fleiß getheilt,  Und schon, so jung ich bin, (ohn Eigen-Lob zu dichten,)  Manch Lehr-begierig Hertz durch stilles Unterrichten  Zur Wahrheit angeführt, zur Weisheit aufgeweckt [...]” (590, 155-159). 22 Dass sogar in den mit “erotisch-vergnüglicher Eindeutigkeit” aufwartenden “Hochzeitsgedichten [...] von Günther die poetologische Debatte intensiv ge- führt” wird, betont Knut Kiesant: Johann Christian Günthers Gelegenheitsdich- tung (1719-1723). In: Literaturgeschichte: 17. Jahrhundert. Hrsg. von Mirosawa Czarnecka und Wolfgang Neuber. Wrocaw, Dresden 2006, S. 17-31, hier S. 26 f., im Rahmen seiner Überlegungen zur Klärung der “Frage nach den Be- dingungen und Ursachen dieser im Schaffen Günthers nachweisbaren Dialektik von Normgebundenheit und Innovation” (S. 30). Zu deren Beantwortung schlägt er die gründliche Betrachtung von vier Günthers Leben und Schreiben prägenden “Projekten” (Familie; Beruf/Amt; Dichtung; akademisch-literarisches ‘Netz- werk’) vor.

Chloe 43

D i r k R o s e

GALANTE VERSUS CASUALE POESIE Das Feld der Lyrik im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts

1. Poetologie um 1700: Zur Begründung der Dichotomie von galanter und casualer Poesie

In seinen Vernünftigen Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721) widmet der Hallenser Philosoph Christian Wolff auch der Poesie einige Zeilen. Über die Rolle, die sie im Gemeinwe- sen spielen soll, heißt es da:

Weil aber absonderlich gute und sinnreiche Verse noch mehr Vergnügen geben, als eine wohlgesetzte Rede; so sind auch Poeten im gemeinen We- sen nicht unnütze Leute, die mit ihren Versen bey sich ereignenden Gele- genheiten zugleich ergötzen und Nutzen schaffen.1

Allerdings warnt er sogleich im nächsten Satz: “Jedoch hat man zu verhüten, daß sie nicht durch verliebte und unzüchtige Verse gute Sitten verderben und die bösen Lüste rege machen.”2 Für Wolff kommt die Poesie anscheinend nur noch als Casualpoesie vor; ihre Praxis bleibt an “sich ereignende Gelegenheiten” gebunden.3 Eine mögliche zweite Art lyrischer Produktion schließt er hingegen wegen moralischer Bedenken aus dem Gemeinwesen aus; ja, er regt

1 Christian Wolff: Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen (1721). ND Frankfurt/Main 1971, S. 380 (§ 391). 2 Ebd. 3 Ein Beispiel dafür liefert mein Beitrag: ‘O Längst erwünschtes Freuden-Licht!’ Ein Lobgedicht auf Christian Wolff von Christian Friedrich Hunold (Menantes). In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.-8. April 2004, Sektion 9: Ästhetik und Poetik. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph. Hildesheim u.a. 2008, S. 399-412.

Chloe 43 392 Dirk Rose sogar die Schaffung einer Zensurbehörde an, die diesen Ausschluss überwachen soll.4 Diese zweite Art Poesie charakterisiert Wolff durch “verliebte und unzüchtige Verse”; und man wird mit Blick auf die zeitgenössische Lyrikproduktion nicht fehlgehen, wenn man darunter die galante Poesie versteht, die weitgehend auf die erotische Thematik – gerade auch durch den Erfolg der Neukirchschen Sammlung und der exemplarischen Stellung von Hoffmannswaldaus erotischen Gedich- ten darin – festgelegt war.5 Für Wolff besitzen demnach nur zwei Ty- pen von Poesie im zeitgenössischen Feld der Lyrik Relevanz, die er zudem strikt voneinander zu trennen versucht: auf der einen Seite die casuale, auf der anderen Seite die galante Poesie. Diese Überlegungen Wolffs decken sich größtenteils mit dem poe- tologischen Diskurs um und nach 1700. Das zeigt bereits ein Blick auf die programmatische Vorrede, die Benjamin Neukirch dem ersten Band der nach ihm benannten Neukirchschen Sammlung vorangestellt hat.6 Darin versucht er eine poetologische Positionierung der galanten Poesie, indem er ihr eine Mittelstellung zwischen niedriger und hoher Poesie zuweist: man habe sich zu entscheiden, “ob man ein blosser verßmacher/ oder ein galanter dichter/ oder in der Poesie groß zu wer- den gedencke.”7 Das hohe Genre bleibt dabei erwartungsgemäß den Großformen der Poesie, Tragödie und Epos, vorbehalten.8 Erstaunlich ist hingegen, dass das niedere Genre weder durch die Komödie noch die Satire vertreten wird – sondern durch die Casualpoesie:

Denn gar keine verße zu machen/ ist schlechte schande/ schlimme aber zu machen/ ist etwas närrisches. Die hochzeiten und begräbnisse würden doch wohl vollzogen werden/ wenn man gleich nicht allemahl dabey reimte; und wolte man ja einen schatz anbinden/ so finden sich noch allezeit gute leute/

4 Vgl. Christian Wolff: Vernünftige Gedanken (s. Anm.1), S. 380 f.: “[...] in wel- cher Absicht besondere Aufseher zu bestellen, die vorher die Arbeit der Poeten durchsehen müssen, ehe sie sich damit an das Tage-Licht wagen dörffen.” 5 Vgl. Joachim Schöberl: ‘liljen-milch und rosen-purpur’. Die Metaphorik in der galanten Lyrik des Spätbarock. Untersuchungen zur Neukirchschen Sammlung. Frankfurt/M. 1972. 6 Benjamin Neukirch: [Vorrede]. In: Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. I. Hrsg. v. Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1961 [ED 1695/97], S. 5-22. 7 Ebd., S. 18. 8 Vgl. ebd., S. 18 f.

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welche um etliche groschen ein lied/ oder ein verdorbenes Sonnet auffset- zen.9

Die galante Poesie sollte sich also nach Neukirch in Abgrenzung zu Epos und Tragödie auf der einen und zur casualen Poesie auf der an- deren Seite konstituieren. Diese Position findet sich auch in Gottlieb Stolles Historie der Gelahrtheit wieder, die 1718 zum ersten Mal er- schien, und die sich zum Ziel gesetzt hatte, den zeitgenössischen Dis- kussionsstand in verschiedenen Wissensgebieten zusammenzufassen.10 Über die “gebundne Poesie”, mithin die Lyrik, erfährt man dort: “Man kan mit einigen die gebundne Poesie in die hohe und galante einthei- len, deren jene die erzehlende oder heroische, und diese die vorstel- lende Poesie oder die Schauspiele; die galante aber alle übrige Arten in sich schlüsset.”11 Das Zitat ist nicht ganz eindeutig, da Stolle das Attribut ‘galant’ sowohl der hohen als auch der mittleren Poesie zuspricht, was daran liegen könnte, dass “die gebundne Poesie” hier per se als Teil der ‘galanten Wissenschaften’ fungiert.12 Zugleich wird aber doch ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Gruppen markiert, indem die hohe Poesie durch ihre typischen Gattungen, Epos und Tragödie, charakterisiert wird, während die galante Poesie davon auch syntak- tisch abgegrenzt wird. Dabei reduziert Stolle das von Neukirch ange- botene Dreier- auf ein Zweierschema, indem er die Casualpoesie still-

9 Ebd., S. 18. 10 Zur ‘Historia literaria’ vgl. die einzelnen Beiträge in: Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Friedrich Voll- hardt und Frank Grunert. Berlin 2007, wo verschiedentlich auf Stolle hingewie- sen wird. – Stolle war im übrigen auch Herausgeber des 6. Bandes der ‘Neu- kirchschen Sammlung’: vgl. Franz Heiduk: Die Dichter der galanten Lyrik. Stu- dien zur Neukirchschen Sammlung. Bern u. München 1971, S. 20. 11 Gottlieb Stolles [...] Anleitung zur Historie der Gelahrtheit denen zum besten, so den Freyen-Künsten und der Philosophie obliegen. 2. Auflage, Jena 1724 [ED 1718], S. 166. 12 Die Problematik der ‘galanten Wissenschaften’ wurde bisher vor allem mit Be- zug auf Thomasius diskutiert: vgl. Manfred Beetz: Ein neuentdeckter Lehrer der Conduite. Thomasius in der Geschichte der Gesellschaftsethik. In: Christian Thomasius 1655-1728. Interpretationen zu Werk und Wirkung. Hrsg. v. Werner Schneiders. Hamburg 1989, S. 199-222 u. Michael Maurer: Christian Thomasius, oder: Vom Wandel des Gelehrtentypus im 18. Jahrhundert. In: Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 429-444.

Chloe 43 394 Dirk Rose schweigend wegfallen lässt. Dies dürfte in erster Linie daran liegen, dass die Casualpoesie keinen eigenen Wissensbereich in der Gelehr- tenhistorie bildete, wie sie Stolle als Muster diente. Aufgrund der zeit- genössischen Diskussion dürften jedenfalls Zweifel erlaubt sein, ob die galante Poesie tatsächlich “alle übrige Arten in sich schlüsset”, da sie sich gerade von der Casualpoesie vehement abzugrenzen ver- suchte. Entscheidend sind allerdings vielmehr die poetologischen Konse- quenzen, die sich aus Neukirchs und Stolles Einteilung ergeben. Denn da die von beiden herausgestellten Formen der hohen Poesie, Epos und Tragödie, für die poetische Praxis um 1700 weitgehend bedeu- tungslos waren,13 die Casualpoesie aber bei Stolle gar nicht als diskus- sionswürdig erscheint, heißt das, dass die galante Poesie de facto al- lein die poetologische Diskussion über das Feld der Lyrik um und nach 1700 bestimmte. Die poetische Praxis sah freilich anders aus: hier dominierte zwei- fellos die Casualpoesie.14 Da die hohe Poesie also eher eine theoreti- sche Alternative darstellte, die Casualpoesie jedoch die poetische Pra- xis bestimmte, ergab sich als Konsequenz daraus für die Konstitution der galanten Poesie, dass diese weitgehend in Abgrenzung zur casua- len Poesie erfolgte. Dies zeigt noch ein Text, der durchaus der prakti- schen Dominanz der Casualpoesie Rechnung trug, nämlich die Poetik des Hallischen Magisters Johann George Neukirch von 1724.15 Wäh- rend sich der weitaus überwiegende Teil des Buches mit der casualen

13 Zu den vergeblichen Versuchen, das Epos im 17. Jahrhundert wiederzubeleben vgl. die Studie von Ernst Rohmer: Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ‘carmen heroicum’ in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998. Allerdings gab es gerade unter den galanten Autoren durchaus respektable Versuche in diese Richtung, zu nennen wären etwa Postel, Besser und Neukirch. Den “Verfall des Dramas um 1700” (natürlich aus der antizipierten Perspektive des bürgerlichen Trauerspiels) beklagt bspw. Peter-André Alt: Aufklärung. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2001, S. 182-184; wobei anzumerken bleibt, dass das zentrale Bühnenwerk um 1700 natürlich die Oper war: Vgl. Bernhard Jahn: Die Sinne und die Oper. Sinnlichkeit und das Problem ihrer Versprachlichung im Musiktheater des nord- und mitteldeutschen Raumes (1680-1740). Tübingen 2005, bes. S. 1-7. 14 Vgl. dazu hier, Kap. 3. 15 [Johann George Neukirch:] Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen POESIE Itzi- ger Zeit/ Welche der Studierenden Jugend Zum Besten und Zum Gebrauch seines AUDITORII In Zulänglichen Regeln und deutlichen Exempeln entworffen Jo- hann George Neukirch. Halle 1724.

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 395

Poesie beschäftigt, bleibt nämlich sein Schlusskapitel der galanten Po- esie, gewissermaßen als Gipfel der lyrischen Produktion, vorbehal- ten.16 Diese exzeptionelle Stellung der galanten Poesie begründet Neu- kirch gerade mit ihrer Differenz zur casualen Dichtung:

Diesen galanten Gedichten/ welche die meisten bei den generibus versuum abhandeln/ habe mit Fleiß eine besondere Betrachtung gewiedmet/ weil sie bald in dem genere versuum, bald in der Invention, Disposition und Elocu- tion, bald in dem Schlusse etwas besonderes haben/ welches mit den sonst üblichen Gedichten auf Promotiones, Vermählungen/ Geburths-Tage/ To- des-Fälle/ Einzüge u. d. gl. keine sonderliche Gemeinschafft hat.17

Über diese relativ strikte Trennung zwischen galanter und casualer Poesie im poetologischen Diskurs mag man sich angesichts der zeitge- nössischen poetischen Praxis durchaus wundern. Natürlich galten bei- spielsweise Hoffmannswaldaus Hochzeitsgedichte als ausgesprochen galant, und keine galante Gedichtsammlung kam ohne Casualpoesie aus, auch die von Neukirch herausgegebenen ersten Bände seiner Anthologie nicht. Auf diesen vermeintlichen Widerspruch geht auch Christian Friedrich Hunold alias Menantes in der Vorrede zu seinen Galanten, Verliebten und Satyrischen Gedichten von 1703 ein, wo es heißt:

Daß ich hiernechst in der ersten Vorrede Hochzeit-Reimen und Leichen- Klagen Lumpen-Gedichte genennet/ wird mir verhoffentlich niemand un- gleich auslegen. Ich verstehe hierdurch keine galante Erfindungen/ die man über dergleichen Veranlassungen wohl ausarbeitet; derer in dem Hoffmans- Waldau und auch sonsten viel zu finden/ die ich doch ästimire: sondern Hochzeit-Reime und Leichen-Klagen/ da man hundert mahl hundert tau- send abgedroschene schlechte Sachen von neuen hervorsuchet/ nichts hin- zuthut/ wohl gar abschmieret/ die Venus bey den Haaren herüm zauset/ den Tod ausschilt/ und also durch zerflickte Invention und Verse nichts als blosse Reimen oder lumpenhaffte Gedichte zusammen schmieret.18

Die Differenz zwischen galanter und casualer Poesie lässt sich offen- bar nicht, wie es nahe läge, an Präsentationsformen festmachen. Ein

16 Vgl. ebd., S. 837-906: ‘Der V. und letzte Anfangs-Grund/ Welchen man zu legen hat in den Galanten Gedichten’. 17 Ebd., Vorr., Bl. 6 (r) u. (v), unpag. 18 [Christian Friedrich Hunold:] Galante, Verliebte Und Satyrische Gedichte Von Menantes. Hamburg 1704, Vorr., Bl. b (r) u. (v).

Chloe 43 396 Dirk Rose galantes Hochzeitsgedicht bleibt auch dann galant, wenn es mit ande- ren Gedichten zusammen zu einem konkreten Anlass vorgetragen und als Casualdruck publiziert wird; ebenso, wie kein Casualgedicht, das seines Anlasses entkleidet und in eine Anthologie aufgenommen wird, schon dadurch galant würde.19 Vielmehr scheinen hier ästhetische Kriterien, Fragen von Stil und Geschmack, eine wichtige Rolle zu spielen.20 Von der galanten Welt wurden die Casualgedichte Hoff- mannswaldaus geschätzt, eben weil sie ‘galante Erfindungen’ waren, das heißt, weil sie über eine spezifische Differenzqualität verfügten, die sich freilich nur dem Geschmack dieser galanten Welt mitteilte. Die Dichotomie von galanter und casualer Poesie begründete sich so allererst im galanten Diskurs selbst.21 Denn die entscheidende Funk- tion der Galanterie als eines spezifischen Interaktions- und Kommuni- kationsmodells bestand darin, eine Differenz zu produzieren, in der sich konkrete Interaktions- und Kommunikationssituationen als galant ausweisen lassen konnten.22 Dies galt dann selbstredend auch für eine Textproduktion, die das Attribut ‘galant’ für sich beanspruchen wollte. Die galante Poesie musste demnach gleichfalls eine spezifische Diffe- renz entwickeln – und zwar in Abgrenzung zur Casualpoesie, gegen- über der sie eine höhere Stilebene, und damit eine höhere Dignität, beanspruchen konnte. Dabei spielte noch ein anderer Aspekt eine wichtige Rolle. Denn wie die galante Conduite sich in Deutschland als soziale Distinktion

19 Die Problematik von Einzeldruck und Anthologien casualer Gedichte, und einer damit verbundenen Kontextverschiebung, war einer der zentralen Punkte in den Diskussionen bei der Potsdamer Tagung. Schließlich stellt sich die Frage nach der Kasualität der Casualdichtung im Kontext von Anthologieveröffentlichungen noch einmal neu. Anstöße zu einer Debatte über diese wichtige Frage finden sich in zahlreichen Beiträgen dieses Bandes. 20 Vgl. Dirk Niefanger: Galanterie. Grundzüge eines ästhetischen Konzepts um 1700. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, S. 459-472. 21 Vgl.: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hrsg. v. Thomas Borgstedt und Andreas Solbach. Dresden 2001. 22 So die Kernthese meiner Dissertation: Conduite und Text. Paradigmen eines galanten Literaturmodells am Beispiel von Christian Friedrich Hunold (Menan- tes). Diss. phil. München 2007 [Druck i. Vbr.]; eine methodisch-systematische Darstellung dieses Problems habe ich versucht in dem Vortrag ‘Galanterie als Text. Methodische Überlegungen zu Funktion und Status galanter Textproduk- tion.’ Interdisziplinäre Tagung ‘Galanterie als Verhaltenskonzept in der Literatur der Frühen Neuzeit’. Göttingen, 25.-27.9.2008 (Tagungsband in Vorbereitung).

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 397 ohne klare Ständezuordnung formierte,23 bildete die galante Poesie eine Distinktion gegenüber der im ständischen System fest veranker- ten und dort stark konventionalisierten Casualpoesie heraus. Diese konnte im Prinzip, so der Vorwurf der Galanten, von jedem verfasst werden, der die “Anfangsgründe zur Poesie itziger Zeit” beherzigte und sich an die Regeln des ständischen decorum hielt.24 Für die Aus- übung und Wertschätzung der galanten Poesie brauchte es hingegen eine spezifische Kennerschaft, die sich vorrangig auf die Geschmacks- urteile der galanten Welt gründete.25 Die Dichotomie von galanter und casualer Poesie ließ sich demnach vor allem auf der Grundlage einer ‘ästhetischen Differenz’ behaupten: Hoffmannswaldaus Casualge- dichte waren nach diesen Kriterien ebenso galante Gedichte, wie alle Casualgedichte, die diese Kriterien nicht erfüllten, “lumpenhaffte Ge- dichte” blieben. Die programmatische Abgrenzung der galanten von der casualen Poesie war also für den distinkten Status der galanten Poesie von es- sentieller Bedeutung. Sie wurde jedoch auch deshalb so vehement eingefordert, weil sie in der poetischen Praxis prekär blieb, und zwar nicht nur, weil von Fall zu Fall über die Zuordnung zur galanten oder casualen Poesie neu entschieden werden musste. Es gibt ebenso gute Gründe, auch der galanten Poesie einen grundsätzlich casualen Cha- rakter zuzusprechen. So findet sich die Betonung von Anlasscharakter und Adressaten häufig schon im Titel galanter Gedichte, etwa in Hu- nolds Sammlung von 1702, der Edlen Bemühung müssiger Stunden: An Lesbien heißt es da, An Flavien auff ihren Nahmens-Tag/ der die-

23 Diese Einschätzung gilt in erster Linie für die deutsche Galanterie; eine Übertra- gung der viel stärker höfisch geprägten französischen Galanterie auf deutsche Verhältnisse, wie sie Jörn Steigerwald (Galanterie. Die Fabrikation einer natürli- chen Ethik der höfischen Gesellschaft [1650-1710], Heidelberg [vorauss. 2008]) unternimmt, scheint mir hingegen nur bedingt möglich. 24 Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poe- tik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 74: “So ist z.B. die Verachtung des Casualcarmens als ‘Machwerk’ einerseits gebunden an das Wertkriterium der ‘Originalität’, andererseits richtet sie sich aber gegen die prinzipielle ‘Herstell- barkeit’, die in der Tat ein Charakteristikum der Casuallyrik und eine notwendige Voraussetzung ihrer Verbreitung ist”. 25 Vgl. Andreas Solbach: Der galante Geschmack. In: Der galante Diskurs (s. Anm. 21), S. 225-274.

Chloe 43 398 Dirk Rose ses 1701. Jahr nicht in Calender stunde, oder schlicht An - - -.26 An- dere Gedichte referieren auf bestimmte Situationen: Als er Amalien im Bade sahe, Als sie ihren Nahmens-Tag anderwerts begangen, oder An Chalestris/ als er von ihr Abschied nahme.27 Dass es sich dabei größtenteils um fingierte cass handeln mag, spielt für das Paradigma der Anlassbezogenheit galanter Poesie hierbei nur eine untergeordnete Rolle. Bedeutsamer scheint, dass über diese Anlassbezogenheit offen- bar die Situierung galanter Texte innerhalb eines galanten Interakti- ons- und Kommunikationsmodells erleichtert, wenn nicht gar erst her- gestellt werden sollte.28 Man kann daher auf pragmatischer Ebene von einer funktionalen Äquivalenz galanter und casualer Poesie sprechen. Beide situieren sich über ihre Anlassbezogenheit in Interaktionsmo- delle, die durch die entsprechenden Anlässe maßgeblich bestimmt und zugleich differenziert wurden. Auch deshalb war es wohl nötig, in der poetologischen Diskussion die Dichotomie von galanter und casualer Poesie so deutlich zu betonen; von selbst verstand sie sich offenbar nur bedingt. Inwiefern die Dichotomie von galanter und casualer Poesie auch die zeitgenössische Praxis bestimmte, und welche Verschiebungen sich dort in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts beobachten lassen, soll im folgenden ein summarischer Blick auf die einzelnen Bände der Neukirchschen Sammlung zeigen.

2. Verschiebungen: Galante und casuale Poesie in der Neukirchschen Sammlung

Benjamin Neukirch hatte bekanntermaßen in der Vorrede zum ersten Band der von ihm herausgegebenen Lyriksammlung geraten, lieber keine Gedichte als Gelegenheitsgedichte zu schreiben, sofern man als galanter Dichter gelten wolle. Das hinderte ihn freilich nicht daran, in

26 [Christian Friedrich Hunold:] Die Edle Bemühung müssiger Stunden/ In Galan- ten, Verliebten/ Sinn- Schertz- und Satyrischen Gedichten/ Von Menantes, Hamburg 1702, S. 4 f.; S. 15 f.; S. 26-28. 27 Ebd., S. 38; S. 66 f.; S. 67 f. 28 Vgl. auch Thomas Borgstedt: ‘Tendresse’ und Sittenlehre. Die Liebeskonzeption des Christian Thomasius im Kontext der ‘Preciosité’ – mit einer kleinen Topik galanter Poesie. In: Christian Thomasius (1655-1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hrsg. v. Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997, S. 405-428, bes. S. 420-428.

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 399 seine Sammlung auch Gelegenheitsgedichte aufzunehmen und ihnen sogar eigene Rubriken zuzugestehen.29 So finden sich bereits im ersten Band der Neukirchschen Sammlung – im Anschluss an galante, verliebte und Sinn-Gedichte – auch Hochzeit- und Begräbniß-Gedichte. Sie nehmen insgesamt knapp hundert Seiten ein, wobei der Umfang der Trauergedichte den der Hochzeitsgedichte etwa um das Doppelte an Länge übertrifft.30 Insge- samt stellen damit die Casualgedichte etwa ein Fünftel der Texte im ersten Band der Neukirchschen Sammlung. Der zweite, ebenfalls noch von Neukirch herausgegebene Band, behält diese Rubrizierung bei, bringt anteilsmäßig allerdings weniger Casualpoesie als der erste.31 Sowohl Rubrizierung als auch relativer Anteil der Casualpoesie än- dern sich in den Bänden drei und vier der Sammlung nicht signifikant. Allerdings erfolgt an anderer Stelle, bei den Vermischten Gedichten, eine wichtige Umstellung. Eröffnete diese weitaus größte Rubrik im ersten Band der Neukirchschen Sammlung noch Bessers skandalum- witterter Text Ruhestatt der Liebe/ oder Die schooß der Geliebten, so beginnen die Vermischten Gedichte im dritten Band mit Neukirchs Gedicht Auf die Krönung Sr. Königl. Maj. in Preussen.32 Eine deutli- che Zunahme der Casualpoesie zeigt dann der fünfte Band, wo die beiden Rubriken Hochzeit-Gedichte und Begräbniß-Gedichte jeweils alle anderen an Umfang übertreffen, wobei insbesondere die Leichen- carmina mit über hundertfünfzig Druckseiten zu Buche schlagen.33 Die ausgesprochen kurze Rubrik der Vermischten Gedichte bringt zudem fast ausschließlich casuale Poesie.34 Ein in der Tendenz ähnliches,

29 Zu Anordnungsprinzipien von Casualsammlungen vgl. Wolfgang Adam: Poeti- sche und kritische Wälder. Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‘bei Gelegenheit’. Heidelberg 1988, S. 132-143. 30 Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen Gedichte (s. Anm. 6), S. 134-163 u. 164-219. 31 Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. II. Hrsg. v. Angelo George de Capua u. Ernst Alfred Philippson. Tübingen 1965 [ED 1697], S. 140-170 u. 171-204. 32 Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen Gedichte (s. Anm. 6), S. 220-226; Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. III. Hrsg. v. Angelo George de Capua u. Erika A. Metzger. Tübingen 1970 [ED 1703], S. 256-259. 33 Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. V. Hrsg. v. Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger. Tübingen 1981 [ED 1705], S. 101-172 u. 173-322. 34 Ebd., S. 372-395.

Chloe 43 400 Dirk Rose wiewohl etwas ausgewogeneres Bild liefert auch der sechste Band der Sammlung von 1709.35 Zusammenfassend lässt sich für die zeitlich relativ eng beieinander liegenden ersten sechs Bände der Neukirchschen Sammlung, die im Zeitraum von 1695 bis 1709 erschienen sind, ein relativ kontinuierli- cher Anstieg des Anteils an Casualpoesie feststellen. Vollends domi- nant wird diese Tendenz im siebenten und letzten Band der Samm- lung, der mit größerem Abstand, im Jahr 1727, erschienen ist.36 Hier nehmen die Casualgedichte “etwa 70% der Seiten in Anspruch”.37 Zwar beginnt auch dieser Band nach wie vor mit der Rubrik Verliebte und Galante Gedichte. Doch füllen sie gerade einmal dreißig von ca. fünfhundert Seiten;38 und selbst auf diesen wenigen Seiten findet sich noch Casualpoetisches.39 Den weitaus größeren Raum der Sammlung nehmen die Rubriken für Casualgedichte ein.40 Und auch die Ver- mischten Gedichte beinhalten größtenteils Gelegenheitsgedichte.41 Dies hatte zu einer heftigen Kontroverse, vor allem zwischen Juncker und Hancke, um die Stellung der Casualcarmina in diesem Band ge- führt, die ausführlich in Vorrede und Anhang der Neuedition doku- mentiert ist.42 Diese Kontroverse zeigt die Virulenz der Dichotomie von galanter und casualer Poesie, da eine Gedichtsammlung, die zu über siebzig Prozent aus Gelegenheitsgedichten bestand, offenbar Wi- derspruch hinsichtlich ihres galanten Status hervorrief. Hingegen soll-

35 Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. VI. Hrsg. v. Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger. Tübingen 1988, [ED 1709], S. 145-203 (‘Hochzeit-Gedichte’) u. S. 204-261 (‘Begräbniß-Gedichte’). 36 Herrn von Hoffmannswaldau und andrer Deutschen auserlesener und bißher ungedruckter Gedichte, Bd. VII. Hrsg. v. Erika A. Metzger u. Michael M. Metzger. Tübingen 1991 (ED 1727). 37 Ebd., Einleitung, S. LX. 38 Ebd., S. 67-99. 39 Z.B.: ‘An Mademoiselle Guttermannin von Bibern, als dieselbe den 8. May von Dreßden wiederum nach Bibrach zurück kehrte. Im Nahmen aller ledigen frauen- zimmer und mannspersonen in dem Dinglingerischen hause daselbst’ (ebd., S. 98 f.). 40 ‘Vermählungs- und Hochzeit-Gedichte’ (ebd., S. 182-237); ‘Trauer-Gedichte’ (ebd, S. 356-438). 41 Vgl. ebd., S. 238-355. 42 Ebd., S. 11-60: ‘Untersuchung Herrn Gottfried Benjamin Hanckens Weltlicher Gedichte’ u. S. 441-555: ‘Poetischer Staar-Stecher’ [...] Breßlau und Leipzig, im Jahr 1730’.

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 401 te die Vehemenz der Debatte nicht notwendig als Zeichen für den pre- kären Status der Casualpoesie in den 1720er Jahren verstanden wer- den: zunächst einmal ist sie schlicht ein Indikator für die Dominanz der Casualpoesie, die offenbar eine solche vehemente Reaktion erfor- derte.43 Der Blick auf die einzelnen Bände der Neukirchschen Sammlung liefert wichtige Hinweise für die Konturierung des lyrischen Feldes um und nach 1700. So folgt beispielsweise die Rubrizierung der An- thologie weitgehend der Dichotomie von galanter und casualer Poesie, wobei natürlich auch der Umkehrschluss möglich ist: dass die Rubri- zierung eine solche Dichotomie in der poetologischen Diskussion ge- fördert hat. Jedenfalls lassen sich die einzelnen Rubriken, mit Aus- nahme der Vermischten Gedichte, jeweils der einen oder der anderen Seite zuordnen. Zugleich zeigt die zeitliche Abfolge der Bände eine Verschiebung innerhalb dieser Dichotomie. Waren die ersten Bände der Sammlung noch maßgeblich von der galanten Poesie bestimmt, nimmt der Anteil der Casualpoesie von Band zu Band relativ konti- nuierlich zu. Dies manifestiert sich nicht nur am Anteil der entspre- chenden Rubriken selbst, sondern auch in den Vermischten Gedichten, die in den ersten Bänden der Sammlung noch weitgehend den eroti- schen Gedichten, und zwar häufig den gewagteren und anonym veröf- fentlichten, vorbehalten waren.44 Während also die Dichotomie von galanter und casualer Poesie im poetologischen Diskurs profiliert wurde, um die dominante Position der galanten Poesie in diesem Diskurs zu erhöhen, verlor sie zugleich in der poetischen Praxis – zumindest im Blick auf die zeitgenössi- schen Anthologien – deutlich an Gewicht. Hier dominierte weitestge- hend die casuale Poesie. Das unterstreicht gerade der letzte Band der Neukirchschen Sammlung von 1727, dem darum auch eine “Sonder- stellung” zuerkannt worden ist.45 Diese Charakterisierung trifft freilich nur, und auch nur zum Teil, im Vergleich mit den Vorgängerbänden der Sammlung zu; vergleicht man ihn hingegen mit anderen Lyrikan-

43 Diese Kontroverse und die Forschungsdiskussion darüber referiert die Einleitung der Herausgeber im 7. Band der ‘Neukirchschen Sammlung’: ebd., S. XIX- XXIII. 44 Vgl. dazu auch die aktuelle Auswahl aus der ‘Neukirchschen Sammlung’: Eroti- sche Lyrik der galanten Zeit. Hrsg. v. Hansjürgen Blinn. Frankfurt am Main, Leipzig 1999. 45 Heiduk (s. Anm. 10), S. 20 u.ö.

Chloe 43 402 Dirk Rose thologien der Zeit, wird man ihn vielmehr als geradezu typisch anse- hen dürfen. Denn eines führen die Anthologien der 1720er Jahre klar vor Augen: die Dominanz der Casualpoesie.

3. Die Dominanz der Casualpoesie um 1720

Dass die Casualpoesie die poetische Praxis in der Frühen Neuzeit do- minierte, ist keine neue Erkenntnis;46 sie muss jedoch angesichts der poetologischen Diskussion, die die Casualpoesie oft ausblendete, im- mer wieder in Erinnerung gerufen werden. Diese Ausblendung lässt sich vor allem dadurch erklären, dass die Casualpoesie kein eigenes Genus bildete, mithin keine eigene poetologische Relevanz im Gat- tungssystem entfalten konnte, an dem sich die humanistisch-opitziani- sche Poetik weitgehend orientierte.47 In der Zeit um und nach 1700 sind hier freilich Veränderungen festzustellen. Nicht nur, dass die Po- etiken dazu übergingen, noch stärker eine konkrete Anleitungsfunk- tion für die poetische Praxis zu übernehmen, wobei der Casualpoesie nolens volens ein gewichtiger Part zufiel.48 Hinzu kam, dass der Casualdichtung durch die Dichotomie von galanter und casualer Poe- sie selbst ein poetologischer Rang zugewiesen wurde, wenn auch zu- nächst nur ex negativo. Dabei konnte auf Dauer die Verschiebung hin zur Casualpoesie, wie sie sich paradigmatisch in der Neukirschen Sammlung beobachten ließ, für diese Dichotomie auch in der poetolo- gischen Diskussion nicht ohne Folgen bleiben. Dies zeichnete sich

46 Sie wird nicht zuletzt durch die laufenden Forschungsprojekte in Potsdam und Osnabrück zum Casualschrifttum ausdrücklich bestätigt, so etwa im ‘Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archi- ven’, das unter Leitung von Wolfgang Adam und Klaus Garber versucht, der Materialfülle Herr zu werden. Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Klöker im vor- liegenden Band. 47 Eine Ausnahme bildet hier offenbar Daniel Georg Morhof, der, nachdem er ver- schiedene Gattungen besprochen hat, anmerkt: “Von den übrigen/ als Grab- Gebuhrt- Hochzeit- und Ehren-G[e]dichten/ wie dieselbe zu machen und was dazu gehörig/ konte noch gar viel gesaget werden Aber dieses werde zur andern Gelegenheit versparen” (Daniel Georg Morhofen Unterricht Von Der Teutschen Sprache und Poesie/ deren Uhrsprung/ Fortgang und Lehrsätzen. Kiel 1682, S. 778 f.). 48 Vgl. Jörg Wesche: Spuren der Vielfalt. Spätbarocke Poetiken als Orientierungs- bücher. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzep- tionelle Vielfalt. Hrsg. v. Sylvia Heudecker u.a. Tübingen 2004, S. 143-164.

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 403 spätestens ab 1715 ab, als das galante Literaturmodell zunehmend und relativ schnell an Akzeptanz verlor.49 Wenn jedoch galante und ca- suale Poesie die beiden wichtigsten Optionen im Feld der Lyrik nach 1700 darstellten, bedeutete diese Schwächung der galanten Poesie im Gegenzug eine Stärkung der Casualpoesie. Mehr noch: in dem Maße, wie die galante Poesie an Akzeptanz verlor, dominierte die Casual- poesie das Feld der Lyrik, und zwar nicht nur in der Praxis, sondern zunehmend auch in der poetologischen Diskussion. Diese Dominanz lässt sich vor allem in den zeitgenössischen An- thologien verfolgen.50 An erster Stelle sei hier die von Christian Fried- rich Hunold herausgegebene Anthologie Auserlesene und theils noch nie gedruckte Gedichte genannt, die zwischen 1718 und 1720, ver- mutlich als monatliches Periodikum, in 27 Stücken erschien, welche jeweils zu drei Jahrgangsbänden zusammengefasst wurden.51 Zu ihren Beiträgern gehörten namhafte Autoren wie Benjamin Neukirch und Barthold Hinrich Brockes ebenso wie wichtige Vertreter des Pietis- mus, beispielsweise Johann Jacob Rambach und Nikolaus von Zin- zendorf. Besonderes Interesse verdient die Rubrizierung in dieser Anthologie. Die Gedichte werden durchgehend in drei Rubriken ein- geteilt, die jeweils einen ähnlichen Umfang haben. Sie lauten:52 “I. Lob- und Glückwünschungs-Gedichte II. Trauer-Gedichte III. Ver- mischte Gedichte” Bereits diese Rubrizierung signalisiert, dass es sich bei den Ge- dichten in der Sammlung größtenteils um Casualpoesie handelt. Hält man die Rubrizierung der frühen Bände der Neukirchschen Sammlung dagegen, so wird der Dominanzgewinn der Casualpoesie eindrucks- voll vor Augen geführt: alle Rubriken der galanten Poesie sind in Hu- nolds Anthologie weggefallen, nur diejenigen der casualen Poesie wurden beibehalten. An die Stelle der galanten Poesie rücken nun ver- einzelt religiöse und moralisch-sentenzhafte Gedichte, und zwar in

49 Über die möglichen Gründe für diese Entwicklung vgl. das Schlußkapitel meiner Dissertation (s. Anm. 22). 50 Vgl. die entsprechende Zusammenstellung bei Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. A catalogue of the collection in the Yale University Library. Yale University Press 1958, S. 342-347. 51 [Christian Friedrich Hunold:] Auserlesene und theils noch nie gedruckte Ge- dichte unterschiedener Berühmten und geschickten Männer zusammen getragen und nebst seinen eigenen an das Licht gestellet von Menantes. 3 Bde. Halle 1718- 1720 (Bd. I: ND Hildesheim u.a. 1991). 52 Folgt dem 1. Stück in: ebd., Bd. I, Hildesheim u.a. 1991, S. 1-80.

Chloe 43 404 Dirk Rose den Vermischten Gedichten, die darum schon bald den Titel Geistli- che- und Vermischte Gedichte führen.53 Dass die Casualpoesie in der poetischen Praxis durchaus auf eine große Nachfrage stieß, zeigt sich im relativen Markterfolg von Hu- nolds Anthologie,54 der Nachahmer auf den Plan rief. Bereits kurze Zeit nach Hunolds Tod 1721 erschien Christoph Gottlieb Stockmanns Anthologie Auserlesene Teutsche Gedichte verschiedener geschickter Poeten und Poetinnen, die unmittelbar an Hunolds Sammlung anzu- knüpfen versuchte. Dabei berief sich Stockmann ausdrücklich auch auf deren Markterfolg:

[…] daß unter andern auch der seel. Herr D. Hunold, welcher unter den Nahmen Menantes bekant gewesen, sich nicht dürfen reuen lassen, daß er seine eigenen Verse nebst andern an das Licht gestellet, indem der gute Abgang solches Werkes bekant genug ist.55

Stockmann folgte bei seiner eigenen Sammlung Hunold auch in der Rubrizierung der Gedichte,56 so dass auch seine Anthologie hauptsäch- lich Casuallyrik bot. Ähnliches lässt sich von einem weiteren Antho- logieprojekt sagen, Bernanders (alias Gottfried Behrndts) Sammelung Verirrter Musen aus dem Jahr 1732.57 Auch Behrndt übernahm Hu- nolds Rubrizierung und wies in der Vorrede zudem auf die poetologi-

53 Ab dem 15. Stück trägt die letzte Rubrik den Titel: ‘Geistliche- und Vermischte Gedichte’ (vgl. ebd., Bd. II, Halle 1719, S. 437-464). 54 So bemerkte Hunold gegenüber potentiellen Beiträgern bei der Herausgabe des zweiten Bandes im Jahr 1719 über den Marktwert der Sammlung: “Wäre der häu- fige Abgang der Exemplarien für ein Merckmahl von diesen allen zu achten: so könte ich Ihnen die Versicherung geben/ daß Ihre Poesie nach Verdienst geschät- zet und aufgenommen werde” (ebd., Bl. 2 [v] u. 3 [r]). 55 Christoph Gottlieb Stockmann: Auserlesene Teutsche Gedichte verschiedener geschickter Poeten und Poetinnen. Leipzig 1722, Vorr., Bl. a 5 (v) u. Bl. a 6 (r), unpag. 56 Vgl. ebd. (I. Stück): S. 1-32: ‘Lob- Und Glückwünschungs-Gedichte’, S. 33-64: ‘Trauer-Gedichte’, S. 65-88: ‘Vermischte Gedichte’. 57 [Gottfried Behrndt:] Bernanders Sammelung Verirrter Musen/ Darinnen Theils zerstreuete/ Theils noch gantz ungedruckte Jedoch auserlesene Gedichte Ver- schiedener berühmten und geschickten Persohnen/ Nebst seinen eigenen enthal- ten. Zweite Auflage. Magdeburg, Leipzig [...] 1735 [ED 1732]. – Vgl. zu dieser Sammlung auch Ute Poetzsch: Gelegenheitsgedichte von Picander und anderen Leipzigern in den ‘Verirrten Musen’ Gottfried Behrndts. In: Bach und seine mitteldeutschen Zeitgenossen. Hrsg. v. Rainer Kaiser. Eisenach 2001, S. 218- 225.

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 405 schen Positionen Hunolds hin, die dieser in der Vorrede zur Antholo- gie von 1718-20, den Auserlesenen Gedichten, formuliert hatte, und denen Bernander uneingeschränkt zustimmte:

Meine Absicht bey dieser vorhabenden Sammelung ist mit derjenigen, wel- che Menantes oder der seel. D. Christian Fridrich Hunold in seinen und an- derer stück-weise heraus gegebenen Gedichte führet, die aber mit dem 27. Stück nebst seinem Leben zu Ende gegangen, vollkommen gleichförmig. Ich mache mir also dessen vor sein erstes Stück Anno 1717. gesetzte Vor- rede völlig eigen, und, woferne dir an dieser meiner Erklärung noch nicht begnüget, so erachte ich für dienlich dich auf selbige zu verweisen.58

In dieser Vorrede – genauer gesagt sind es zwei Vorreden, denn der Band von 1719 bringt ein neues, poetologisch noch eindeutigeres Vorwort – versuchte Hunold, eine neue Position im Feld der Lyrik um 1720 für sich zu formulieren. Dies war insofern nötig, als dass er in seiner Jugend, in den ersten Jahren nach 1700, selbst mit eigenen Sammlungen galanter Gedichte hervorgetreten war, die mit deutlichen Abgrenzungen gegen die Casualpoesie nicht sparten. So erklärte er bei der Publikation seines ersten Bandes galanter Gedichte, der Edlen Bemühung müssiger Stunden von 1702: “Mit vielen Leichen-Klagen/ Hochzeit-Reimen und andern gewöhnlichen Lumpenzeuge klugen Ohren verdrießlich zu fallen/ ist mein Absehen nicht.”59 In den Vorre- den zu seinen Auserlesenen Gedichten nahm Hunold die Dichotomie von galanter und casualer Poesie wieder auf, wendete sie jedoch nun in ihr Gegenteil. Jetzt war es die galante Poesie, von der er sich mit Rekurs auf die Casualpoesie abzugrenzen versuchte. Seine Anthologie zeichne sich nämlich dadurch aus, dass sie gerade keine galante Poe- sie beinhalte:

Man möchte dergleichen Unkraut in verliebten, in Lob- und andern sonst schön geschriebenen Gedichten genug finden: Nachdem bekannt: daß die

58 [Behrndt:] Bernanders Sammelung (s. Anm. 57), Vorr., Bl. A 2 (r) u. (v). 59 [Hunold:] Die Edle Bemühung (s. Anm. 26), Vorr., Bl. 4 (v), unpag. – Das hin- derte ihn freilich nicht daran, unter die Gedichte des Buches auch einige Casual- gedichte mit aufzunehmen: Ebd., S. 111-114: ‘Schertzhaffte Gedancken bey den Nahmens-Tag eines guten Freundes’; S. 116-118: ‘Cantata Auf den Geburths- Tag Ihro Königl. Majest. in Dännen. Frieder. des IV.’; S. 122-124: ‘Der liebe Handelschafft. Auf die Verehligung eines vornehmen Kauffmannes den 12. Septembr. 1701. in Namen eines andern’; S. 124-126: ‘Als eine kluge Dame Aebtissen wurde/ im Nahmen eines andern’.

Chloe 43 406 Dirk Rose

besten Köpfe nicht selten die schlimmsten Gemüther haben. Was zu thun? Ein vernünftiger Leser sammlet die Blumen; das übrige gehört ins Feuer.60

Dies wird noch plastischer in einem Gedicht im VIII. Stück der An- thologie formuliert, das den Titel trägt: Abermahliger Extract aus ei- nem Schreiben an einen Werthen Freund wegen der Sammlung dieser Gedichte.61 Darin heißt es:

Schlich in das eine Stück ein freyer Hochzeit Reim? Man sah’ ihn, und er hat bereits auch wandern müssen. Gomorrens Bienen zwar ist dieses Honigseim, Allein ein Aas für die, so Zions Blumen küssen.62

Der Ausschluss der galanten Poesie und die Abgrenzung vom Modell der galanten Lyrik mag für Hunold auch persönliche Gründe gehabt haben.63 Sie ist aber zuallererst eine Reaktion auf die veränderten Marktbedingungen, mithin die Verschiebung innerhalb des lyrischen Feldes hin zur Casualpoesie. Inwiefern die Casualpoesie in diesem Prozess auch eine poetologische Relevanz entfalten konnte, zeigt nicht zuletzt die Rubrizierung der Gedichte in Hunolds Anthologie, die aus- schließlich ihren Kriterien folgte. In der poetologischen Diskussion schlug sich diese Dominanz in der Betonung des ‘Nutzens’ der Poesie nieder,64 die im Fall der Casualpoesie nahezu selbstevidente Züge ge- wann, da ihr Nutzen für das Gemeinweisen durch eine tiefverankerte soziale Praxis jederzeit bezeugt werden konnte. In dieser Hinsicht stellte sich dann, anders als bei der galanten Poesie, die Frage nach der Legitimität der Casualpoesie überhaupt nicht mehr; wie das Zitat von Christian Wolff zu Beginn dieses Beitrags zeigt. Von dieser Entwicklung blieb auch die zeitgenössische Poetik, vor allem in den Jahren um 1720, nicht unberührt. Einen anschaulichen Beleg dafür liefert die bereits oben kurz angeführte Poetik von Johann

60 [Hunold:] Auserlesene und theils noch nie gedruckte Gedichte (s. Anm. 51), Bd. I. Hildesheim u.a. 1991, Vorr., Bl. 5 (r). 61 Ebd., S. 745-749. 62 Ebd., S. 746. 63 Zur Neupositionierung Hunolds ab 1708, nach seinem Umzug nach Halle, vgl. den biographischen Abriß von Olaf Simons: Menantes. Ein Meister der galanten Conduite. In: Palmbaum 1 (2006), S. 8-29. 64 [Hunold:] Auserlesene und theils noch nie gedruckte Gedichte (s. Anm. 51), Bd. II, Halle 1719, Vorr., Bl. 3 (v) u. 4 (r).

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 407

George Neukirch aus dem Jahr 1724. Sie ist weitgehend der Casual- poesie gewidmet, da diese das Feld der Lyrik eindeutig dominiere:

Obwohl Poeten die Freyheit haben, Gedichte zu verfertigen, wovon sie wollen, Geistliche und Weltliche, wofern ihre Geburten nur nicht GOtt zu- wieder, der Republic nachtheilig, dem Nechsten ärgerlich, und dem Poeten selbst nicht schändlich seyn, und ihm nach dem Tode auch noch sündigend machen: so verstehe doch hier nur solche Gedichte, deren man sich im ge- meinen Leben bey unterschiedlichen Fällen bedienet.65

Die galante Poesie, sofern sie erotisch-gewagte Inhalte hat, wird hin- gegen kategorisch ausgeschlossen: “Doch darf der begierige Leser, verliebte Gedichte, Briefe und Lieder allhier nicht suchen, wovon sonst die meisten Blätter in den Poetischen Büchern angefüllet seyn, weil auf dergleichen Grillen niemahls einige Zeit gewendet.”66 Auch wenn die galante Poesie jener Bereich ist, für den die Poetik ihr letztes Kapitel reserviert, und der ausdrücklich im Gegensatz zur casualen Poesie formuliert wird,67 so spielt sie doch de facto bei Neu- kirch eine, nicht nur quantitativ sichtbar, untergeordnete Rolle. Denn erstens bedürfe es für die Verfertigung galanter Poesie Qualitäten, die sich nur schwer mittels Anleitungsliteratur erlernen ließen, und zwei- tens besitze die galante Poesie eine so geringe Relevanz in der poeti- schen Praxis, dass man sich auf die casuale Poesie als Lehrgegenstand konzentrieren könne:

Es sind Fundamenta, weil nach Anleitung derselben Liebhaber der Poesie guten Grund legen können in allen denjenigen Stücken/ welche man zu Er- lernung dieser herrlichen Wissenschafft nöthig hat/ indem nichts ausgelas- sen/ was heutiges Tages üblich/ und worinnen junge Leute Gelegenheit finden können/ durch ein wohlgesetztes Carmen Patronen und Ehre zu er- halten.68

Gerade diese Dominanz innerhalb der poetischen Praxis dürfte eine der Ursachen für den Zugewinn der Casualpoesie auch in der poetolo-

65 [J.G. Neukirch:] Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie (s. Anm. 15), S. 378. – Es folgt ein Katalog verschiedener ‘Gelegenheiten’ (ebd., S. 378 f.). 66 Ebd., S. 837. 67 Vgl. das Zitat oben, S. 4 (Anm. 17). 68 [J.G. Neukirch:] Anfangs-Gründe zur Reinen Teutschen Poesie (s. Anm. 15), Vorr., Bl. 3 (r) u. (v).

Chloe 43 408 Dirk Rose gischen Diskussion gewesen sein. Das gilt insbesondere mit Blick auf den Erfolg zeitgenössischer Lyrikanthologien, die sich auf Casualpoe- tisches konzentrierten. Denn diese konnten so zu Mustersammlungen für eine casualpoetische Anleitungsliteratur aufsteigen, die ihrerseits verstärkt dieses erfolgversprechende Segment bedienen konnte. Auf eine solche wechselseitige Bedingtheit von poetischer Praxis und poe- tologischem Diskurs verweist etwa Johann Georg Hamann (der Äl- tere) bei Herausgabe seines Poetischen Lexicons, das hauptsächlich als Hilfestellung für das Verfassen von Casualpoesie69 entworfen wurde. Er betont,

[…] daß ich nicht vor nöthig achte, mich weitläufftig mit Anzeigung der Generum Carminum aufzuhalten, deren man sich bey Verfertigung eines Leichen-Gedichtes, Hochzeit-Carminis und dergleichen bedienet. Denn gleichwie es mit diesen Letztern nach dem Urtheile des Herrn Benjamin Neukirchs ohnedem noch lange nicht ausgerichtet ist, und mehr zur Poesie gehöret, als eine Leichen-Klage oder einen Hochzeit-Gesang nach der ge- meinen Art machen zu können; so ist ja nichts leichters, als bey guten Dichtern Exempel von dergleichen Art Poesien abzusehen, von welcher man etwas auszusetzen gedencket.70

Für das Feld der Lyrik um 1720 zeichnete sich demnach eine Domi- nanz der Casualpoesie sowohl in der poetischen Praxis als auch in der poetologischen Diskussion ab. Nimmt man die um 1700 profilierte Dichotomie von galanter und casualer Poesie als Ausgangspunkt der hier vorgestellten Beobachtungen, so stand um 1720 offenbar die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit im Raum, dass die Casualpoesie auf- grund der schwindenden Akzeptanz der galanten Poesie sogar das Feld der Lyrik weitgehend für sich allein beanspruchen konnte.71

69 Vgl. etwa den folgenden, relativ wahllos herausgegriffenen Eintrag aus [Johann Georg Hamann:] Nützlicher und brauchbarer Vorrath von allerhand Poetischen Redens-Arten [spätere Ausgaben führen als Haupttitel ‘Poetisches Lexicon’], Leipzig 1725, S. 146: “Berlin. Beywört. Das grosse. berühmte. schöne. herrliche. bewohnte. angebaute. reiche. vortreffliche. ungemeine. unvergleichliche. bewun- derns-würdige. königliche. edle. muntre. frohe. Beglückte [Menantes]. besuchte. bevölckerte. Redens-Arten und Umschreib. Des grossen Brennus Sitz. Chr. Gry- phius. Der Aufenthalt der tapfern Brennen. Neukirch. Teutschlands gröste Stadt, die ausser Teutschland auch kaum ihres gleichen hat. Wentzel.” 70 Ebd., S. 97. 71 Dies dürfte einer der Gründe für das tragische Schicksal Johann Christian Gün- thers gewesen sein, der eben nicht bloß als Casualdichter wahrgenommen werden

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 409

Diese Situation muss vor Augen haben, wer die schroffe Verurteilung der Casualpoesie in den folgenden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts angemessen verstehen will.

4. Ausblick: Die Kritik an der Casualpoesie und die Neukonstituie- rung des lyrischen Feldes nach 1730

Die Kritik an der Casualpoesie ist möglicherweise so alt wie sie selbst. In der Frühen Neuzeit gewann sie jedoch dadurch an Gewicht, dass die Casualpoesie eines der zentralen Kulturelemente darstellte, das seinen festen Platz im sozialen Kontext hatte. Allerdings zeigte nicht zuletzt diese anhaltende Präsenz und Ubiquität der Casualpoesie zu- gleich die relative Wirkungslosigkeit der Kritik an ihr. Diese richtete sich in erster Linie gegen die Fülle von Gelegenheitsdichtung. So heißt es beispielsweise in der von Christian Friedrich Hunold mit her- ausgegebenen Zeitschrift Vermischte Bibliothec von 1718:

[…] nur das ist zu beklagen/ daß es denen Musen darüber gehet/ wie allen gutwilligen Leuten; man fodert ihnen diese Dienste zu offt ab/ und daher kan es nicht anders seyn/ als daß ihr Trauer- und Hochzeit-Habit nachge- rade ziemlich öffters gar mit dem Bratenfett eines Schneiders und Schus- ters sind betröpfelt worden.72

Die Kritik an der Quantität der Casualpoesie implizierte jedoch meist auch eine qualitative Kritik. In dem programmatischen Gedicht Von der Poesie schrieb der preußische Freiherr von Canitz:

Man denkt und schreibt nicht mehr, was sich zur Sache schicket, Es wird nach der Vernunft kein Einfall ausgedrücket,

wollte; vgl. nur die bittere Invektive in dem (Casual!)Gedicht ‘Auf die nach er- haltener Doktorwürde in Halle A. 1718 aus Leipzig geschehene Retour Herrn Christian Adam Gorns’. In: Günthers Werke in einem Band. Hrsg. v. Hans Dahlke. 5. Auflage. Berlin, Weimar 1977, S. 129-139. 72 Vermischte Bibliothec Oder Zulängliche Nachrichten und Unpartheyische Gut- achten Von allerhand mehrentheils neuen Büchern und andern gelehrten Ma- terien, Bd. I, Halle 1718, S. 306 f. – Zu dieser Zeitschrift vgl. auch Verf.: Das Werk Christian Friedrich Hunolds (Menantes). Bibliographische Ergänzungen und Korrekturen. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 34 (2007), S. 139-151, hier: S. 148-150.

Chloe 43 410 Dirk Rose

Der Bogen ist gefüllt, eh man an sie gedacht; Was groß ist, das wird klein, was klein ist, groß gemacht.73

Kritik seitens anderer Autoren an der Casualpoesie hatte also auch zum Ziel, eine spezifische Differenz zu ihr einnehmen zu können. Da- bei ist es kein Widerspruch, dass diese Autoren häufig selbst Verfas- ser von Casualpoesie waren. Die Kritik richtete sich ja meist nicht ge- gen die Casualpoesie als solche, sondern gegen ihr qualitativ niedriges Niveau, das man wiederum der hohen quantitativen Produktion zu- schrieb. Freilich gab es für die als problematisch wahrgenommene Leistung der Casualpoesie durchaus auch einen poetikimmanenten, genauer gesagt: rhetorischen Grund. Denn die Casualpoesie war, wie ihr Name schon sagt, an einen jeweiligen casus gebunden, von dem aus ihre Textgenerierung maßgeblich bestimmt wurde. Diese Anlass- bezogenheit initiierte und strukturierte mittels eines ausgefeilten Sys- tems von loci topici, das Wulf Segebrecht detailliert beschrieben hat, ihre Textproduktion.74 Damit waren der Casualpoesie jedoch gewisse formale Grenzen gesetzt, die einer wie auch immer einzuschätzenden Serialität der casualpoetischen Textproduktion Vorschub leisteten. Dem frühneuzeitlichen Innovationsprinzip der Rekombination von Traditionsbeständen musste die Casualpoesie daher als nur bedingt innovativ erscheinen;75 und gerade darum bedeutete ihre schiere Fülle auch eine Bedrohung für jene Poeten, die eine qualitativ hochwertige Lyrikproduktion, auch von Casualgedichten, nicht zuletzt auf dieses Innovationsprinzip gründeten. Um 1720 wurde eine solche Kritik an der Casualpoesie noch zu- sätzlich durch deren Dominanz herausgefordert. Wulf Segebrecht spricht sogar davon, “daß die Casuallyrik aufgrund ihrer besonderen Erscheinungsweise und Verbreitung eine Krise der Lyrik überhaupt

73 Freiherr von Canitz: ‘Von der Poesie’. In: Die Gegner der zweiten schlesischen Schule. Hrsg. v. Ludwig Fulda. Berlin u. Stuttgart [1909], Bd. II, S. 404-410, hier: S. 408. 74 Vgl. Segebrecht (s. Anm. 24), S. 112-137. 75 Dieses Problem in seiner ganzen Tragweite für die zeitgenössische Lyrikproduk- tion hat wohl als erster Christian Weise erkannt: Vgl. ders.: Christian Weisens Curiöse Gedancken von Deutschen Versen, 2. Auflage, [Leipzig] 1693, Bd. II, S. 51-54. – Insofern stellen sich der von Ingo Stöckmann beobachteten “Evolu- tion durch Involution” in der frühneuzeitlichen Poetik gewisse Ressourcengren- zen (vgl. Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001, bes. S. 363-372).

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 411 herbeiführt, an deren Ende eine Vereinbarung darüber besteht, was als lyrische Kunst zu gelten hat und was nicht”.76 Es ging also bei der Kri- tik an der Casualpoesie, die ab etwa 1720 an Vehemenz zunahm, um nichts weniger als die Durchsetzung eines neuen Paradigmas gegen ein hegemoniales, sozial anerkanntes und traditional verankertes Para- digma poetischer Produktion. Dieses neue Paradigma, das sich gegen die Casualpoesie durchzusetzen versuchte, war, verkürzt gesagt, das der ‘Kunstpoesie’. Auch wenn diese sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierte und das lyrische Feld dann zunehmend be- stimmte, lassen sich entsprechende Tendenzen bereits in der ersten Jahrhunderthälfte feststellen; und zwar in Auseinandersetzung mit der Casualpoesie. Dabei wurde die Dichotomie von galanter und casualer Poesie wie- der fruchtbar gemacht, jedoch so, dass nun eine in ihrer Ästhetik rati- onal und moralisch verantwortete Poesie an die Stelle der galanten rückte. Die Beobachtung von Wulf Segebrecht, dass “am Ende des Prozesses der Auseinandersetzung die Dichotomie einer ‘echten’ und einer ‘trivialen’ Lyrik” stehe,77 wird so historisch genauer begründbar: sie ist nämlich bereits in der Dichotomie von galanter und casualer Poesie angelegt. Einen Beleg dafür liefert beispielsweise das VIII. Stück des zweiten Bandes der Vernünftigen Tadlerinnen.78 Auch dort findet zunächst nach dem gewohnten Muster die Abgrenzung von der Casualpoesie statt: “Eine schreckliche Menge von Läster- und Schmähschriften würde niemals zum Vorschein gekommen seyn: wenn die Gewohnheit/ Leute an ihren hochzeitlichen Ehrentagen durch die Hechel zu ziehen nicht aufgebracht wäre.”79 Danach wird jedoch ausgesprochen scharf mit den Verfassern solcher Poesie ver- fahren, denn die Tadlerinnen bemerken, die Ubiquität der Casualpoe- sie “macht daß sich Idioten zu Poeten aufwerfen, denen etwa ein Mad- rigal; oder eine gereimte Uberschrift; oder ein Glückwunsch gelungen ist”.80 Aus dieser Verurteilung wird, in Anlehnung an Horaz, der Schluss gezogen, “man solle den Namen eines Poeten nur demjenigen geben, der eine besondre Hoheit der Seelen, und was göttliches im

76 Segebrecht (s. Anm. 24), S. 250. 77 Ebd. 78 [Johann Christoph Gottsched:] Die Vernünftigen Tadlerinnen 1725-1726. Hrsg. v. Helga Brandes. Hildesheim u.a. 1993, Bd. II, S. 57-64. 79 Ebd., S. 58. 80 Ebd., S. 61.

Chloe 43 412 Dirk Rose

Verstande besitzet, daneben die erhabensten Gedancken in einer ma- jestätischen Sprache ausdrücken kan”.81 Damit schließen die Tadlerinnen nicht nur an die Dichotomie von galanter und casualer Poesie an, sie adaptieren auch das Dreierschema aus der Vorrede Neukirchs zum ersten Band der Neukirchschen Sammlung und besetzen lediglich den Contrepart der Casualpoesie um. Denn die Forderungen, die die Tadlerinnen an die Poesie stellen, decken sich in etwa mit der Charakterisierung der hohen Poesie durch Neukirch. Diese hatte allerdings bei ihm für die Abgrenzung von der casualen Poesie keine größere Rolle gespielt, da die hohe Poesie eine eher theoretische Alternative darstellte.82 Für die Vernünftigen Tad- lerinnen wiederum stellte die galante Poesie, die ohnehin bereits weit- gehend an Akzeptanz im lyrischen Feld eingebüßt hatte, schon aus moralischen Gründen keine Alternative dar.83 Daher rückt nun bei ih- nen die hohe Poesie, in der Dichotomie zur casualen Poesie, an deren Stelle. Folgendes kleines Schema mag das verdeutlichen:

Stilebene/ Wert Neukirch Gottsched/ Tadlerinnen hoch hohe Poesie hohe Poesie mittel galante Poesie galante Poesie niedrig Casualpoesie Casualpoesie

Dabei spielen ähnliche Kriterien der Abgrenzung eine wichtige Rolle. In der galanten Poetik ging es ja vor allem darum, die galante Poesie als eine höherwertige, weil dem distinkten Urteilsvermögen der ga- lanten Welt adäquatere Poesie zu positionieren. Diese Höherwertigkeit sollte sich gerade in der Differenz zur casualen Poesie zeigen, die die- sen Kriterien zufolge als bedeutungsloser eingestuft werden konnte. In dieses Muster wurde nun die hohe Poesie eingepasst, wobei der Unter- schied zur Casualpoesie aufgrund des größeren Abstandes in der Stil- lage bzw. Werteskala noch deutlicher ausfiel. Der Einschätzung Uwe- K. Ketelsens, dass “ex negativo aus einer fundamentalen Kritik der Gelegenheitspoesie vorsichtig Prinzipien einer ‘echten Poesie’ entwi-

81 Ebd., S. 62. 82 Vgl. oben, S. 2 f. 83 Vgl. Susanne Niefanger: Schreibstrategien in Moralischen Wochenschriften. For- malistische, pragmatische und rhetorische Untersuchungen am Beispiel von Gott- scheds ‘Vernünftigen Tadlerinnen’. Tübingen 1997, S. 215-225.

Chloe 43 Galante versus casuale Poesie 413 ckelt wurden”,84 ist somit zwar voll und ganz zuzustimmen: sie hat ihre Wurzeln freilich in der Auseinandersetzung der galanten mit der casualen Poesie. Dies sollte in diesem Beitrag deutlich geworden sein. Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die Konsequenzen ge- worfen, die sich aus dieser Konstellation ergaben. Unter den veränder- ten moralischen Bedingungen, die interessanterweise gemeinsam mit den ersten programmatischen Ansätzen zu einer Kunstpoesie formu- liert wurden,85 standen ab etwa 1730 zwei Optionen im Raum, um sich von der in der Praxis nach wie vor dominanten Casualpoesie abzuset- zen: 1. Die ‘anakreontische Lyrik’ griff unter anderem auf die Tradition der galanten Lyrik zurück, wobei das ostentative Ausstellen von (gemilderter) Erotik und Liebe bzw. Freundschaft einen demon- strativen Kontrast zu der von sozialen Interaktionsnormen be- stimmten Casualpoesie bildete.86 2. Die ‘moralisch-religiöse Lyrik’, die in den Anthologien um 1720 an die Stelle der galanten Lyrik getreten war, gewann an Gewicht und wurde einerseits für metaphysische Aufladungen, wie bspw. in den Oden Klopstocks, offen, andererseits für jede Art rationalistisch-sentenzhafter Lyrik im Stil der Aufklärung adaptierbar.87 Mit dieser Tendenz einer ‘poetischen Poesie’, die als Reaktion auf die Dominanz der Casualpoesie um 1720 einsetzte und ab 1730 zuneh- mend eine Eigendynamik entfaltete, stand der Weg für die weitere Entwicklung des Feldes der Lyrik im 18. Jahrhundert offen, der einer-

84 Uwe-K. Ketelsen: Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch. Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie in der frühbürgerlichen Literaturdiskussion. In: Lessing-Yearbook 8 (1976), S. 89-107, hier: S. 100. 85 Dies wird vor allem in den Journalen der Zeit diskutiert: Vgl. daher Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968, bes. S. 461-468. 86 Vgl. den instruktiven Beitrag von Manfred Beetz: Von der galanten Poesie zur Rokokolyrik. Zur Umorientierung erotischer und anthropologischer Konzepte in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Literatur und Kultur des Rokoko. Hrsg. v. Matthias Luserke u.a. Göttingen 2001, S. 33-61, wobei Beetz zu Recht betont, dass man “nicht von einem bruchlosen Anschluss der Rokokolyrik an die galante Dichtung ausgehen” kann (S. 33). Dieser Bruch hat im Wesentlichen mit der Neukonzeption des lyrischen Feldes nach 1730 zu tun. 87 Vgl. Karl Richter: Literatur und Naturwissenschaft. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. München 1972 und Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklä- rung. Stuttgart 1974.

Chloe 43 414 Dirk Rose seits durch eine massive Abwertung der Casualpoesie, andererseits durch eine massive Aufwertung der Kunstpoesie gekennzeichnet sein würde. Allerdings sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Domi- nanz der Casualpoesie um 1720 auch für kurze Zeit eine andere Mög- lichkeit der Entwicklung dieses Feldes aufscheinen ließ, die freilich vom Siegeszug der Kunstpoesie weitgehend überdeckt wurde. Goe- thes berühmtes Diktum, alle seine Gedichte seien im Grunde Gele- genheitsgedichte, erinnert noch an diese Möglichkeit; und zwar zu ei- ner Zeit, als die Casualpoesie bereits eine ausgesprochen schlechte Presse hatte.88 Doch zeigt gerade die Rezeption von Goethes Lyrik, dass die Casualpoesie, wollte sie noch eine Chance auf Wahrnehmung durch die entsprechenden Institutionen literarischer Geschmacksbil- dung haben, nun immer zugleich Kunstpoesie sein musste.

88 “Goethes Apologie des Gelegenheitsgedichts” hat Wulf Segebrecht (s. Anm. 24, S. 289-299) luzide herausgearbeitet ebenso wie dessen Programmatik “einer Er- neuerung verbindlicher Lyrik” (ebd., S. 327). Dieser Schluss, auf den die um- fangreiche Untersuchung Segebrechts zielt, und in dem er die Frage nach der Okkasionalität lyrischen Sprechens auf einer neuen Ebene stellt, hat in seinen li- terarhistorischen Konsequenzen bis heute nur zum Teil die Beachtung gefunden, die er verdient. – Zu Goethes Gelegenheitsdichtung vgl. auch die Monographie von Stefanie Stockhorst: Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungs- geschichtliche Studien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof. Tübingen 2002.

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D i e t r i c h G r o h n e r t

GELEGENHEIT MACHT VERSE Kasuallyrik bei Johann Gottfried Schnabel

Die folgende Skizze soll andeuten, dass das Problem der Kasualdich- tung auch in den wissenschaftlichen Diskussionen der 1992 in Stol- berg im Harz gegründeten Johann-Gottfried-Schnabel-Gesellschaft thematisiert worden ist. Es geschah das, um die Bedeutung des Schriftstellers, der von 1692 bis etwa 1750 lebte, nicht allein auf der literaturgeschichtlich “abgesicherten” Ebene seiner beiden Romane Wunderliche Fata einiger See-Fahrer (1731-1743), besser bekannt unter dem Titel Die Insel Felsenburg, und Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier (1738), sondern auch auf dem so va- riantenreichen Gebiet der Gelegenheitsdichtung wirksam zu zeigen. Zur Pflege dieses Genres in Stolberg im frühen 18. Jahrhundert ist zu- dem in der von der genannten Gesellschaft von Gerd Schubert heraus- gegebenen Schriftenreihe Schnabeliana ein Aufsatz erschienen.1 In unserem Versuch soll darüber hinaus transparent werden, dass die Ka- sualdichtung auch nach ihrer Hauptzeit im 17. Jahrhundert durchaus weiter blüht, selbst wenn sie mehr und mehr einer sich etablierenden autonomen, ästhetischen Maßstäben gehorchenden Dichtung weicht. Das geschieht sicherlich in dem Maße, in dem sich der Typus des nicht mehr vom Hofe abhängigen Dichters oder Schriftstellers heraus- bildet. Ganz nebenbei aber darf zum Beispiel daran erinnert werden, dass selbst Goethe an den Schluss seiner Venezianischen Epigramme (1790) ein Huldigungsgedicht an den Herzog Karl August stellt, wo es ein wenig deplatziert erscheint.

1 Hanns H.F. Schmidt: Das poetische Stolberg – Die Gelegenheitsdichtung der Zeitgenossen Johann Gottfried Schnabels. In: Schnabeliana 6. Beiträge und Do- kumente zu Johann Gottfried Schnabels Leben und Werk und zur Literatur und Geschichte des frühen 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Gerd Schubert. St. Ingbert 2001, S. 93-123.

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Unsere Absicht soll es sein, uns Johann Gottfried Schnabel und den beiden für ihn als Autor gesicherten Gelegenheitsdichtungen zu nä- hern, die Selmar Kleemann in seinem Aufsatz Der Verfasser der Insel Felsenburg als Zeitungsschreiber wiedergegeben hat.2 Obwohl es da- für keine Belege gibt, verweisen sowohl Kleemann als auch Schmidt und andere auf die Wahrscheinlichkeit, dass es weitere Gelegenheits- texte Schnabels gegeben hat. Nur Handschriften könnten mit Hilfe graphologischer Vergleiche mit den wenigen vorhandenen Schriftzü- gen Schnabels darüber Auskunft geben. Daher müssen wir uns auf die zwei gesicherten Casualcarmina beschränken. In dem ersten Gelegenheitsgedicht geht es um die Huldigung des Grafen Gottlob Friedrich zu Stolberg etc., der am 26. Februar 1737 von Carl Friedrich Albrecht Markgraf von Brandenburg zum Ritter des renommierten Johanniterordens geschlagen wurde. Angesichts des zu dieser Zeit noch höchst bedeutenden ältesten geistlichen Ritteror- dens, der um 1750 etwa 3000 Mitglieder besaß, war das eine außeror- dentlich hohe Ehrung für den Grafen Stolberg-Stolberg, der wenig später als Hauptmann bei Banjaluka (Bosnien) fällt. Nach der Dedikation und ausführlichen Titulatur (insgesamt 97 Wörter) folgt der kasuallyrische Text selbst mit seinen 73 Wörtern, gefasst in eine fortlaufende Strophe mit 13 Versen – die Form eines Madrigals – in ungleicher jambischer Taktfüllung. Man könnte mei- nen, dass Schnabel diese Form wählt, um eine dem Gegenstand ent- sprechende, nicht unbedingt harmonisch geglättete Textgestalt zu fin- den. So übergibt er denn auch dem Kriegsgott Mars selbst den Gedan- ken an die Ritterehrung des Grafen.

MADRIGAL

MARS sass nur neulichst in Gedancken Und war besorgt vor seinen liebsten Sohn. Es sprach bey sich: Graf Gottlob Friederich! Dein tapfrer Geist, Und was an DIR sonst rühmlich heist,

2 In: Vierteljahrsschrift für Literaturgeschichte 6 (1893), S. 369-371. Auch Hanns H. F. Schmidt erwähnt die Texte. Günter Dammann führt sie unter den Nummern 13 und 14 in seiner Schnabel-Bibliographie auf. In: Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Anhang. Frankfurt/Main 1997, S. 284.

Chloe 43 Gelegenheit macht Verse 417

Ja alle die Vollkommenheiten So vielen ihren Rang abstreiten Verdienen grossen Lohn. Was aber thu ich DIR, DU Held von Muth und Blute, Doch wohl zu gute? Ich weis es nicht. Doch erstlich fällt mir dieses ein: Du solt ein JOHANNITER-Ritter seyn.

Für die Interpretation stehen zwei Optionen zur Verfügung, obwohl es sich um einen auf den ersten Blick eindeutigen Ehrungstext handelt. Der poetische Einfall, Mars die Lobpreisung des Grafen zu übertra- gen, kann natürlich als mythologische Überhöhung des Ereignisses aufgefasst werden. Mars als “Verleiher der Ehrenurkunde”, das ist doch etwas. Ihm steht die Ehrung eines dem Waffenhandwerk ver- schriebenen Menschen zu, und als sein Stellvertreter mag immerhin der Markgraf von Brandenburg gelten. Ob und wie weit aber hinter der dichterischen Übertragung der Ehrung durch Mars nicht auch so etwas wie eine poetisch-ironische Distanzierung steht, mag als Frage gestellt sein; verifizieren lässt diese sich nicht. Aber daran erinnert werden sollte vielleicht doch, dass Schnabels divergierende Auffas- sungen zu Krieg und Waffengebrauch, wie man sie in den Wunderli- chen Fata nachlesen kann, einige Zweifel zulassen, ob es ihm bei sei- nem fast-pazifistischen Denken mit seinem Enthusiasmus für das Lob des gräflichen Kriegshelden ernst ist. Das wäre auch zugleich die zweite der möglichen Interpretationsvarianten, nämlich die einer Dis- tanzierung. In Anbetracht der Submissionsverhältnisse in einem feu- dalen Kleinstaat ist sie indessen wohl sekundär, nicht aber mit einem Blick auf das, was Schnabel in der Insel Felsenburg darstellt. Weitaus komplizierter und differenzierter verhält es sich mit dem zweiten Kasuallyrik-Text, dem ebenfalls die üblichen Dedikations- und Titularfloskeln vorangestellt sind. Eine genauere Betrachtung ist hier deshalb zulässig, weil uns die überaus detaillierte Beschreibung der zeremonialen Vorgänge um die erwähnte Verbindung der beiden Grafschaften Stolberg-Stolberg und Stolberg-Roßla durch die Hoch- zeit des Grafen Christoph Ludwig mit der Gräfin Louise Charlotte durch Wolfgang Knape vorliegt.3

3 Wolfgang Knape: ‘Mein Amt ist, aller Welt zu sagen, was sich in Stolberg zugetragen” – Johann Gottfried Schnabel als Hochzeitschronist. In: Schnabeli- ana 2 (1996), S. 55-66.

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Der auf die Hochzeit Bezug nehmende, kasualpoetische Text be- steht aus insgesamt 64 Versen und es bietet sich an, ihn auf Grund der ihm mitgegebenen auktorialen Intentionen zu strukturieren. Für diesen Zweck nehme ich ihn ‘auseinander’, um zu zeigen, dass hier ‘Gele- genheit’ in einer gewissen Doppelbedeutung zu sehen ist. Gelegenheit ist dabei einmal die Gelegenheit des Anlasses, zum anderen aber auch die Gelegenheit des Nutzens für den Autor, womit sich unsere Titel- These, Gelegenheit mache Verse, auf doppelte Weise verstehen lässt. Es wird sich zeigen, dass die Struktur des Gedichts inhaltlich genau von der einen Gelegenheits-Ebene zu der anderen führt. Bevor wir zur Diskussion dieses Sachverhalts kommen, seien einige wenige Bemerkungen zu Fragen der äußeren Form dieses 64 Verse umfassenden Hochzeitscarmens gemacht. Schnabel hat allem An- schein nach gerade auf dieses Gedicht sehr großen Wert gelegt, was allein schon die aufwändige und kunstvolle Ausstattung belegt. Das verrät uns Selmar Kleemann im Zusammenhang mit seiner Wiederga- be des Textes: “Das Gedicht ist in sehr splendidem Drucke ausgeführt; die Namen der Vermählten im Titel sind mit Golddruck gegeben, alles übrige mit Grün und Roth”.4 Auch dem metrisch-rhythmischen Aufbau der Verse schenkt Schna- bel große Aufmerksamkeit. Er verwendet die im 17. Jahrhundert be- sonders häufigen und auch noch im 18. Jahrhundert gebrauchten Ale- xandrinerverse, jambische 6-Heber mit einer Zäsur nach der 3. He- bung, die paarweise gereimt sind. Dass es sich hier um die Wahl jener Versform handelt, welche den ästhetischen Ansprüchen der hohen Ly- rik entspricht, steht außer Frage. Sie gehört zum Stamminventar einer jeder Poetik der Zeit und gereicht sowohl dem Dichter zum Beweis seiner dichterischen Fähigkeiten als auch der angesprochen Person zur besonderen Ehre. Wie bereits erwähnt, wurde das Gedicht aus Anlass der am 4. März stattfindenden gräflichen Hochzeit geschrieben. Man könnte anneh- men, dass die prunkvolle Ausstattung des Druckes als eine Art ein- drucksvoller Kompensation für die Tatsache zu gelten hat, dass der kasuallyrische Text natürlich auf jede Erwähnung der glanzvollen Il- luminationen, Feuerwerke, Ausschmückungen der Häuser, Prozessio- nen, Kutschfahrten, enthusiastisch-euphorischen Loyalitäts- und Un- terwürfigkeitsbekundungen des Hochzeitsberichts verzichten muss.

4 Kleemann (Anm. 2), S. 370.

Chloe 43 Gelegenheit macht Verse 419

Abgesehen davon erweist sich aber, dass Schnabel seinem Text ein fast intimes Verhältnis zu dem von ihm gestalteten Ereignis mitgibt. Nach dem üblichen Dedikations- und Titulierungstext können wir fünf auf das Geschehen bezogene Strukturteile (1-12; 13-24; 25-44; 45-56; 57-62) und einen auf den Autor selbst und sein individuelles Anliegen bezüglichen alexandrinischen Zweizeiler voneinander ab- grenzen. Die ersten zwölf Verse sind allein an den Grafen Christoph Ludwig (1703-1769) gerichtet, den Jungvermählten, der 1738 als Christoph Ludwig II. die Regierungsgeschäfte übernehmen wird und damit po- tentieller späterer Brotgeber Schnabels ist.

Nimm, Hochgebohrner Graf, mein Demuth volles Blat, Das Dein Vermählungs-Fest von mir erfordert hat. Die Unterthänigkeit, die Pflicht, die Treu und Liebe Verklagten mich mit Recht, wenn Hertz und Hand nichts schriebe. 5 Wem Deiner Gnaden Glantz wie mir ins Auge fällt, Wer Dich vor Stolbergs Lust und süsse Hoffnung hält, Wer Deinen hohen Stand, Witz und Vernunfft betrachtet, Wer DICH des höchsten Glücks auf Erden würdig achtet, Wer von der Mildigkeit recht überführet ist 10 Nach welcher DU so gross als wie Dein Vater bist; Ja wer das Glücke hat, Dein gantzes Thun zu kennen, Der wird Dir, Theurer Graf, Dein himmlisch Glücke gönnen.

Auffällig an dem gedanklichen Gefüge des Textteils ist eine offenbar relativ enge persönliche Nähe des Hofbeamten Schnabel zu dem An- gesprochenen, dessen “gantzes Thun” er kenne. Selbstverständlich weiß Schnabel um die Nachfolgepolitik des Grafenhauses und spricht daher auch von der “süßen Hoffnung” Stolbergs, ohne dabei zu ver- gessen, dass zwischendurch auch noch die Größe des regierenden Gra- fen Christoph Friedrich betont werden muss. Schon hier wirbt der Autor dabei um die Gunst des späteren Regenten, wenn er dessen “Milde” – das ist auch ‘Mildtätigkeit’ – mit der seines Vaters ver- gleicht. Mit diesen einleitenden Versen werden sich denn auch recht deutlich die zwei abschließenden Verse (63/64) verbinden. Die zweite Textpassage wendet sich der Braut zu. Auch deren – natürlich in erster Linie weibliche – Vorzüge sind in höchsten Tönen zu preisen.

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Was ich so nennen kan, ist jedermann bewusst, Sieh! Wie Dein ander Ich und Deiner Augen Lust 15 So Dir des Himmels Gunst jetzt zur Gemahlin giebet Dich höchst vergnügt umarmt und mehr als zärtlich liebet. Das wahre Christenthum ist Ihrer Seelen-Lust, Des Höchsten Wort vergnügt die Gott ergebne Brust. Die Wahrheit spricht zu mir: indem ich dieses schreibe 20 Die schönste Seele wohnt in Dero schönstem Leibe. Als einst der Himmel selbst Vermählungs-Loose zog, Worzu ihn dazumahl Dein hohes Wohl bewog, Ward dieses Tugend-Bild vor Dich durchs Loos bestimmet, Das Dir, mein Gnäd’ger Herr, anitzt das Hertze nimmet.

Sind es bei der poetischen Ansprache des Autors an den Grafen solche Eigenschaften, die ihn als Herrscher auszeichnen, hoher Stand, Witz, also Wissen, Vernunft, Mildtätigkeit und Gnadentum, so richtet sich Schnabels Lob der Braut auf jene Attribute, die in der männlich ge- ordneten Skala weiblicher Werte entscheidend sind: eine Augenwiede für den Mann, innerlich und äußerlich schön, vom christlichen Glau- ben beseelt, ja von Gott geradezu deswegen für diesen und keinen an- deren Mann auserwählt zu sein, natürlich tugendhaft vor allem ande- ren. Es ist das Bild der feudalherrschaftlichen Gemahlin, die nicht herrschen, sondern dem herrschenden Ehegatten dienen und das höfi- sche Bild durch weibliche Schönheit und Repräsentanz aufpolieren soll. In diesem Zusammenhang und über ihn hinaus sind indessen die Verse 15 und 16 auffällig, in denen Schnabel als Laudator die zärtli- che Liebe der beiden Vermählten voraussetzt. Dass es um eine dynas- tisch initiierte Verbindung gegangen ist, steht aber doch wohl auch nicht in Frage, und all die tagelangen Feiern aus besagtem Hochzeits- grund können offenbar den stolberg-roßlaischen Superintendenten Günther Rösler nicht davon abhalten, in seiner Predigt am 4. März 1737 die Vorstellung von der grenzenlosen Zuneigung der beiden Protagonisten ein wenig zu relativieren, indem er meint, “dass die Ho- hen Verlobten sich auch würden aufs Sorgen zu legen haben und sor- gen, wie eins dem andern immer mehr und mehr gefallen auch eins immer das andere mehr und mehr lieben möge”.5

5 Johann Gottfried Schnabel: Das höchst-erfreute Stolberg etc. Zitiert nach dem Neudruck des Textes, vorgestellt und kommentiert von Wolfgang Knape. Schna- beliana 2 (1996), S. 71.

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Zur repräsentativen Wirkung der ehelichen Verbindung nach außen, und zwar auf die adlige Verwandtschaft der gräflichen Familie, lenkt Schnabel den Blick im dritten Teil des Gelegenheitsgedichts.

25 Was Wunder, wenn Dein Hertz gutwillig übergeht? Denn dieses Götter-Kind war einzig Dein Magnet. Drum dringt der Freuden-Strahl in tausend andre Hertzen, Das Du wie Isaac kanst mit Rebeccen schertzen. Wie? Hochgebohrner Graf wirst Du denn nicht gewahr, 30 Dass sich absonderlich Dein hohes Eltern-Paar, Wie auch der Theure Graf Jost Christian ergötzen Und sämmtlich ihr Gesicht mit Freuden-Thränen netzen? Was sich von Stolberg schreibt wird inniglich gerührt, Dass Dich des Höchsten Rath so wohl und weisslich führt, 35 Ich weiss es freuen sich desswegen auch Personen, Die weit von hier entfernt, in Fürsten-Häusern wohnen. Die Freude treibt demnach mich, Deinen Knecht, dahin, Dass ich bey Deinem Glück gantz aus mir selber bin; Drum überwind ich mich bey solchen frohen Lachen 40 Durch einen treuen Wunsch der Freude Luft zu machen. Jedoch so tief er sich zu Deinen Füssen neigt, So weiss ich wohl, dass er auch in den Himmel steigt; Du wirst, Hochgräflich Paar, des Wunsches Kraft empfinden Und in dem neuen Stand’ ein ander Eden finden.

In diesen Versen handelt es sich nicht mehr um huldigende Verbeu- gungen vor den beiden Vermählten, sondern um die Wertung des Hochzeitsereignisses selbst, seiner Wirkung auf den feudalfamiliären Konnex derer von Stolberg. Dieser ist es, der die Neuvermählten in sich aufnehmen und ihnen eine Welt eröffnen wird, für die Schnabel denn ja auch das Bild vom neu gefundenen Paradies, einem anderen Eden bemüht. Soll die Relevanz der gräflichen Hochzeit in der euphorischen Vor- stellung Schnabels vollständig sein, so muss das Gelegenheitsgedicht nunmehr die feudalständische Ebene verlassen und seine Blickrich- tung erneut wechseln. Sie fällt jetzt auf das regierte Land.

45 Der Himmel schencket Dir schon die Zufriedenheit, Ist aber diese nicht ein Theil der güld’nen Zeit? Im voraus seh ich schon die Seegens-Ströme fliessen Und sich mit ihrer Fluth auf Deine Fluhr ergiessen. Da Stolberg sich aufs neu mit Rossla freundlich küsst,

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50 Ein Kuss auch, wie bekandt, ein Freundschaffts-Zeichen ist, So wird sich künftig hin erst zwischen beyden Häusern Die edle Freundschaffts-Frucht durch Dich recht lieblich äussern. Dein fester Liebes-Bund wird wie ein Garten blühn, Und, Himmel gib es doch! Viel edle Bäume ziehn, 55 Die Stadt und Lande stets erwünschten Schatten geben Und immer fruchtbar sind, so lange Menschen leben.

Schnabel nimmt für die Blüte des Landes, die er als Folge der neuen Vereinigung der Grafschaften Stolberg-Stolberg und Stolberg-Roßla idealisierend prophezeit, den Gedanken an eine anbrechende “güld’ne Zeit” (Vers 46) wieder auf, in der das Land unter den neuen Bedin- gungen des “Liebes-Bundes” wie ein Garten blühen werde, in dem viele edle Bäume wachsen, die Stadt und Land Schatten geben und fortan stets fruchtbar sein mögen. Es ist meines Erachtens nicht von der Hand zu weisen ist, dass hier bei der ansonsten vorherrschenden Einschichtigkeit des gelegenheitspoetischen Textes von einer Doppel- schichtigkeit des Bildes ausgegangen werden kann, welches das Blü- hen der jungen Ehe auf das Blühen des Landes bezieht. Vergleichbar ist das mit der Paradiesvorstellung, die in den Wunderlichen Fata ei- niger See-Fahrer eine nicht unbedeutende Rolle spielt, eine verdeckte, zugleich hoffnungsvolle und illusionäre Mahnung aber wohl auch an den Grafen, seine Regentschaft so einzurichten, dass sein Land “para- diesisch” werden möge. Was nunmehr für den von Schnabel wohl sehr genau durchdachten Text noch übrigbleibt, und das ist das Anliegen des fünften Teils des Gedichts, stellt sich als der Wunsch des Autors dar, dass der Glückszustand dem “Hochgräflichen Paar” bis ans Ende des Lebens erhalten bleibe.

So blüh’ und wachse denn Hochgräflichs Ehe-Paar, Sey glücklich und gesund, biss Dich das graue Haar Der Alten Crone schmückt und biss die Stunde schläget, 60 Da Dich der Engel-Schaar zur Lammes-Hochzeit träget. Das Hertze sagt es mir: GOTT wird Dir gnädig seyn, Fällt gleich die Feder hin, trifft doch mein Wünschen ein.

Was als Gelegenheit begonnen hat, eine gräfliche Hochzeit und dieje- nigen, die sie halten, zu preisen, endet schließlich in der Gelegenheit für den Preisenden, einen eigenen Wunsch zu äußern, der auch und sicherlich nicht zuletzt ein wesentlicher Anlass für das gesamte Hoch- zeitscarmen gewesen sein mag:

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63 Eins bitt’ ich noch von Dir, woran ich mich erqvicke. Gib Deinem treuen Knecht noch ferner Gnaden-Blicke.

Mit dieser abschließenden gedichteten Bitte können wir zu den theo- retischen Feststellungen zurückkehren, mit denen unsere Skizze des Beitrags Schnabels zur Kasualdichtung eingeleitet wurde. Dort wurde auf eine der wichtigsten Voraussetzungen verwiesen, unter denen pu- blizierte Gelegenheitsdichtung zu der für uns in Frage kommenden Zeit entstehen kann und entsteht. Auch diese beiden Gedichte Schna- bels gehorchen den Bedingungen der Patronage und entziehen sich damit der Einschätzung als einer unabhängigen Poesie. Sie sind aus- schließlich den beschriebenen regionalgeschichtlichen Verhältnissen zuzuordnen und haben nur in deren Rahmen ihre Veranlassung, ihre realhistorischen Adressaten und Wirkungen. Uns fehlt bei unserem Versuch, die beiden gesicherten Kasualge- dichte Schnabels zu interpretieren, jedoch noch die eingangs erwähnte dritte Bezugsebene. Es ist jene Ebene, auf der die literarhistorisch wirklich bedeutsamen Werke Johann Gottfried Schnabels angesiedelt sind. Ich meine die Wunderlichen Fata einiger See-Fahrer und den Roman Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde Cavalier. So- wohl die Berichterstattung über die erwähnten Hochzeitszeremonien als auch das mit ihr korrespondiere Hochzeitsgedicht, aber auch die Verse, die Schnabel aus Anlass der Verleihung der Johanniterordens- würde an den Grafen Gottlob Friedrich zu Stolberg verfasst hat, sind Versproduktionen einer Zeit, die etwa parallel mit der schriftstelleri- schen Arbeit an den beiden genannten Romanen verläuft. 1736 ist der 3. Teil der Wunderlichen Fata erschienen, 1737 wird der 2. Teil gleich zweimal neu gedruckt. 1738 kommt der Irrgarten-Cavalier heraus und lässt die Vermutung zu, dass Schnabel diese Adelssatire genau zu jener Zeit geschrieben hat, in der er die Johanniterordensschaft und die stolberg-gräfliche Hochzeit poetisch bejubelt. In meinem Ver- ständnis wird hier ein nicht übersehbarer Widerspruch deutlich: Der Schnabel-Gisander der Wunderlichen Fata und der “Ungenandte” aus “Warnungsstadt” des Cavalier sind, was ihr Verhältnis zur gesell- schaftlichen Realität betrifft, nicht der Schnabel der beiden Gelegen- heitsgedichte, der sich aus Anerkennungs- und Erwerbsgründen eben der von ihm so kritisch beschriebenen feudalen Gesellschaft unterwirft und unterwerfen muss. Schnabel lebt in diesem Widerspruch einer Existenz zwischen öffentlicher Submission und dichterischer Rebel- lion, einer Existenz, für die Goethe ein halbes Jahrhundert später bei

Chloe 43 424 Dietrich Grohnert seinem Blick auf die eigene Lebenssituation in Weimar das dialekti- sche Begriffspaar von “Freiheit und Genüge” gebraucht hat. Mit dieser Feststellung könnte unser kurzer Blick auf die kasually- rische Produktion Schnabels eigentlich zu Ende sein, wenn es da nicht Sachverhalte gäbe, die uns weitere Überlegungen erlauben. Dabei be- gebe ich mich auf ein etwas glattes Parkett, weil ich noch keinen Hinweis darauf gefunden habe, dass die folgenden Gedanken ir- gendwo in die Fachliteratur Eingang gefunden hätten. Deshalb sollten sie kritisch geprüft werden. In meinen vorhergehenden Bemerkungen bin ich auf den meines Erachtens vorhandenen Widerspruch zwischen der Tendenz seiner hier vorgestellten zwei Gelegenheitsgedichte und der europaoppositio- nellen und adelskritischen Ausrichtung der Felsenburg-Handlung ein- gegangen, deren Entstehung zeitlich etwa parallel zu sehen wäre. Uns ist allen klar, dass Schnabel mit den zitierten Carminis auf reale Be- gebenheiten reagiert, die jeweils hochfeudalen Repräsentationswillen darstellen und Submissionshandlungen sowohl zur Pflicht machen, als auch zum eigenen Nutzen in Bewegung setzen. Bei der für unseren Zusammenhang erneut vorgenommenen Durch- sicht der Wunderlichen Fata bin ich nun auf einen Umstand gestoßen, der, so glaube ich, bemerkenswert ist. Ich beziehe mich hier aus- schließlich auf den zweiten Teil des Romans. In den Prosatext ist eine Reihe von Nichtprosa-Passagen eingeschlossen. Ich erinnere an Litz- bergs Aria Ists wahr, ihr allerschönsten Augen6 oder die von ihm vor- getragene Aria, die mit Wen ich durchaus nicht lieben kann7 beginnt, an Lademanns Madrigal Du armer Bonifacius8 oder auch Krätzers ‘Gedenck-Spruch’ Sprich, Teuffel, was du willst, ich falle Gott zu Fusse.9 Bei diesen poetischen Ergüssen handelt es sich um Verse, die sich das jeweilige lyrische Ich in der Reflexion individuellen Erlebens erlaubt. Sie sind Elemente der Lebensgeschichten, welche die Felsen- burger erzählen. Anders verhält es sich mit zwei umfangreichen dich- terischen Texten, die in die Felsenburg-Handlung eingegliedert sind, also in die Darstellung der fiktiven Lebenswelt, einer für Schnabel und den angesprochenen Leser aufgebauten Kunst-Realität. Beide Texte haben den Charakter von Kasualpoesie, nur mit dem Unter-

6 Schnabel: Die Insel Felsenburg. (Anm. 2) Band II, S. 122 f. 7 Ebd., S. 127 f. 8 Ebd., S. 365 f. 9 Ebd., S. 428.

Chloe 43 Gelegenheit macht Verse 425 schied, dass ihre Veranlassungen fiktional, also ‘nicht-real’ sind. Ich scheue mich nicht, beide Textpassagen unechte Kasualdichtungen zu nennen. Ich spreche über die von Litzberg aus Anlass eines Besuchs in Ro- bertsraum, einem der fiktiven Orte auf der Insel Felsenburg, vorgetra- gene, aus drei Arien bestehende Cantata, in die zwei Rezitative einge- schlossen sind,10 und über die ebenfalls von Mathematicus (!) Litzberg verfasste Cantate aus Anlass der Europareise Eberhard Julii gegen Ende des zweiten Teils der Wunderlichen Fata.11 Über den ersten Text habe ich mich in meiner Habilitationsschrift bereits einmal folgendermaßen geäußert:

Die Lösung [das Felsenburg-Modell; D. G.], die Schnabel in der seinen li- terarischen Möglichkeiten angemessenen Kunstform des Romans anbietet, ist Ausdruck seines inneren, aber zugleich auch objektiv-äußeren Wider- spruchs. Sie erscheint besonders eindringlich in den von Mathematicus Litzberg […] komponierten Felsenburg-Kantaten, die mit ihrer rationalis- tisch-naiven Tugend-Laster-Antithetik von ‘Hier’ (Felsenburg) und ‘Dort’ (Europa bzw. Deutschland) das utopische Gesellschaftsbild aus der Nega- tion von Erscheinungen der europäischen Ständegesellschaft in eine litera- risch-musikalische Interpretation hineinholt und letztere in diesem Kunst- Medium als ‘Wurzel alles Übels’ inszeniert.12

Diese Felsenburg-Kantate habe ich eine “Art ‘nationalhymnischer’ Zusammenschau von felsenburgischen Denk- und Verhaltensweisen” genannt. Sie ergibt sich nicht nur aus dem Darstellungskontext des Romans selbst, sondern eben auch aus der Europaerfahrung des Au- tors. Ihre Bezugspunkte liegen dabei sowohl im Roman selbst und ma- chen ihren Charakter als Gelegenheitsdichtung transparent, als auch im außerfelsenburgischen Kontext der europäischen Welt. Der Text ist jedoch eindeutig dem Romankontext zugeordnet und nur in diesem zu verstehen. Auch das macht ihn zu einer Gelegenheitsdichtung. Ähnliches gilt für den zweiten von mir genannten Text. Die Gele- genheit, der Anlass für Litzberg, eine weitere Kantate zu komponie- ren, ist für den mathematischen Musicus mit der Abreise von Schiffen

10 Ebd. S. 476-478. 11 Ebd. S. 604-606. 12 Dietrich Grohnert: Aufbau und Selbstzerstörung einer literarischen Utopie. Untersuchungen zu Johann Gottfried Schnabels Roman ‘Die Insel Felsenburg’. Schnabeliana 3. St. Ingbert 1997, S. 156-158.

Chloe 43 426 Dietrich Grohnert nach Europa zur Herstellung kaufmännischer Kontakte gegeben. Eberhard Julius, die Erzählerfigur, ist unter ihnen, der sich damit für die Dauer der Reise von Cordula, seiner Angebeteten, trennen muss. Auch diese Kantate besteht aus zwei Rezitativen, die von drei Arien eingeschlossen werden. Die erste Aria und das erste Rezitativ seien an dieser Stelle noch einmal in Erinnerung gerufen, um die nur für diesen Roman und diesen fiktiven Kontext zutreffende textbegründende Si- tuation zu charakterisieren.

Aria.

Adieu, das herbe Wort Thut treu-gesinnten Hertzen Nach keusch-verliebten Schertzen Den allergrösten Tort. Auf Scheiden reimet sich das Leyden, Denn, muss man sein Geliebtes meiden, So gönnt die Sehnsucht immerzu Wenig Ruh.

Recit.

Ach Eberhard und Cordula! Ihr allerliebsten Beyde, Mich düncket, eure Freude Ist jetzo sehr vergällt, Doch wenigstens verstellt, Warum? Die Abschieds-Zeit ist da. Der liebste Eberhard Muß sich den Wellen anvertrauen, Die wir so offt von hier mit Furcht beschauen; Der frohe Muth erstarrt, Wenn wir an die Gefahr gedencken, Jedoch des Himmels Macht, Die stets vor unser Glücke wacht, Kan alle Noth zurücke lencken.

Ich möchte dieses Gedicht ein Abschiedscarmen nennen und damit zugleich diesen Beitrag abschließen. Diese Skizze sollte ein Versuch sein, Schnabelsche Texte aller uns vorliegenden Formen in ihrer Ein- heit, aber auch mit den ihnen innewohnenden Widersprüchen zu se- hen.

Chloe 43

W i n f r i e d S i e b e r s

DIE AUFKLÄRERISCHE KRITIK AN DER GELEGENHEITS- DICHTUNG IN GOTTLIEB WILHELM RABENERS SATIREN

Bei der literaturgeschichtlichen Beobachtung der Verlaufsform einer Gattung ist es häufig von Vorteil, sich nicht nur deren Entstehungsge- schichte, den musterbildenden Prototypen oder den überdauernden Werken ihrer Hoch- und Glanzzeit zuzuwenden; vielmehr ist es ebenso aufschlussreich, die Phasen einer sich abzeichnenden Funkti- onsverschiebung in den Blick zu nehmen, ihren erkennbaren Bedeu- tungsverlust zu analysieren oder den Prozess ihrer literarischen Dele- gitimierung zu verfolgen. Denn oft ist es so, dass der Stellenwert und der Nutzen eines Kunstphänomens von den Zeitgenossen gerade dann reflektiert wird, wenn es allmählich im Verschwinden begriffen ist oder – um eine etwas neutralere Ausdrucksweise zu wählen – in eine Krise gerät. Eine solche Problembeschreibung trifft auch auf die unter dem Sammelbegriff ‘Gelegenheitsdichtung’ zusammengefassten, anlassbe- zogenen Gattungsformen der Frühen Neuzeit zu. In übereinstimmen- der Einschätzung sowohl der Literatur- als auch der Buchhandels- historiker erreichte die Gelegenheitsdichtung nach ihrem ‘Neueinsatz’ im 16. Jahrhundert im darauffolgenden 17. ihre weiteste Verbreitung und größte Beliebtheit, die sich seit etwa 1650 noch einmal steigerte und von 1680 bis 1730 zur “Hochkonjunktur kasualpoetischer Mode in Deutschland” führte.1 Da für diesen Zeitraum die verschiedenen

1 Claudia Stockinger: Kasuallyrik. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hrsg. von Albert Meier. München 1999 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 436-452, Zitat S. 449; Rudolf Drux: Artikel ‘Gelegenheitsgedicht’. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 653-667, insbes. Sp. 662-664, Zitat Sp. 663; aus buchhandelsgeschichtlicher Sicht Gerd-Rüdiger Koretzki: Kasualdrucke. Ihre Verbreitungsformen und ihre Leser. In: Gelegenheitsdichtung, Referate der Arbeitsgruppe 6 auf dem Kongreß des Inter-

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Gedichtgattungen den weitaus höchsten Anteil an den Gelegenheits- schriften ausmachten, konnte sogar zuspitzend von den “Jahrzehnte[n] der Lyrik” um 1700 gesprochen werden.2 Mit den Begleiterscheinun- gen dieser Hochphase setzte aber bald eine Krise der Gelegenheits- dichtung ein, die Differenzierungen auf zwei Ebenen hervorrief: Zum einen begann angesichts der Massenhaftigkeit des Phänomens eine Debatte um den ästhetischen Status der Kasualpoesie, die sich an den Kategorien des ,Geschmacks’ und der ‘wahren Poesie’ entzündete; zum anderen wurde gleichzeitig mit der ästhetischen Wertungsdebatte die Frage nach dem Selbstverständnis des Dichters als ,Miethpoet’ oder ,professioneller’ Autor aufgeworfen. Mit diesen Diskussionen deutete sich bereits das Ende der auf rhetorischen Prinzipien beruhen- den Gelegenheitsdichtung an, wie es sich dann im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts vollziehen sollte. Vor dem hier skizzierten Hintergrund scheint es gerechtfertigt, die aufklärerische Kritik an der Kasualdichtung noch einmal in Erinne- rung zu rufen. Das ‘noch einmal’ ist hier deshalb gesagt, weil die Kontroversen um ihren ästhetischen Wert und ihre literaturpraktische Bedeutung in den Jahrzehnten zwischen 1700 und 1750 bereits ver- schiedentlich nachgezeichnet und analysiert worden sind.3 Dabei ist zu

nationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur Wolfenbüttel, 28.8.- 31.8.1976. Hrsg. von Dorette Frost und Gerhard Knoll. Bremen 1977 (= Universität Bremen. Veröffentlichungen der Abteilung Gesellschaftswissen- schaften und der Spezialabteilung 11), S. 37-68; Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Durchges. und erw. Aufl. München 1999 (= Beck’sche Reihe 1304), S. 110-112. 2 Uwe-K. Ketelsen: Nachwort. In: Carl Friedrich Drollinger: Gedichte. Faksimile- druck nach der Ausgabe von 1743. Kommentiert von Uwe-K. Ketelsen. Stuttgart 1972 (= Deutsche Neudrucke. Reihe Texte des 18. Jahrhunderts), S. 440-472, hier S. 466. 3 Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Poesie und bürgerlicher Kulturanspruch. Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie in der frühbürgerlichen Literaturdiskussion. In: Lessing Yearbook 8 (1976), S. 89-107; ders.: Die Krise der Gelegenheitspoesie in der deutschen Frühaufklärung und die Rede von der ‘wahren Poesie’. Christian Gryphius’ ‘Uber seiner Schwester/ Jungfer Annä Rosinä Gryphien/ Absterben’ als Exempel. In: Wahre lyrische Mitte – ‘Zentrallyrik’? Ein Symposium zum Diskurs über Lyrik in Deutschland und in Skandinavien. Hrsg. von Walter Baumgartner. Frankfurt a. M. etc. 1993 (= Texte und Untersuchungen zur Ger- manistik und Skandinavistik 34), S. 33-49; Wulf Segebrecht: Das Gelegenheits- gedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 225-286; Joseph Leighton: Occasional Poetry in the Eighteenth Century in Germany. In: Modern Language Review 78 (1983), S. 340-358; Wilhelm

Chloe 43 Die aufklärerische Kritik an der Gelegenheitsdichtung 429 bedenken, dass die Gelegenheitsdichtung seit ihrer “poetologische[n] Weihe” durch Martin Opitz – in seinem Buch von der Deutschen Poeterey – stets eine zeitgenössische kritische Begleitung erfahren hat, die sich vor allem auf ihre Massenhaftigkeit und die Eilfertigkeit ihrer Herstellung richtete.4 Opitz selbst hat einige Einwände gegen die Gattung angeführt, indem er in seine Poeterey eine längere Passage aufnahm, in der er die negativen Wirkungen einer ausufernden Ka- sualpoesie auf das Verhältnis von Dichter und Mäzen darstellte. So heißt es am Beginn dieser kritischen Einrede:

Ferner so schaden auch dem gueten nahmen der Poeten nicht wenig die je- nigen/ welche mit jhrem vngestümen ersuchen auff alles was sie thun vnd vorhaben verse fodern. Es wird kein buch/ keine hochzeit/ kein begräbnüß ohn vns gemacht; vnd gleichsam als niemand köndte alleine sterben/ gehen vnsere gedichte zuegleich mit jhnen vnter. […] Diese vnbesonnene Leute aber lassen vns weder die rechte zeit noch gelegenheit […].5

In diesem Ton ließ sich manche Stimme aus dem 17. und frühen 18. Jahrhundert vernehmen, von Friedrich Rudolf Ludwig von Canitz und Christian Wernicke über Benjamin Neukirch und Johann Burkhard Mencke bis zu Christian Friedrich Hunold und Johann Lorenz von Mosheim.6 Dennoch tritt die kritische Erörterung der Gattung ,Kasualpoesie’ in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ein neues Stadium. Es ist wohl kein Zufall, dass Johann Christoph Gottsched im Kontext seiner Kontroverse mit Georg Friedrich Meier im Jahre 1746 den uns heute geläufigen Begriff ‘Gelegenheitsgedichte’ allererst prägte, freilich noch mit der Einschränkung, über “sogenannte Gelegenheitsgedichte” zu sprechen. Der Titel seiner Abhandlung lautete: Untersuchung, ob es einer Nation schimpflich sey, wenn ihre Poeten kleine sogenannte

Große: Aufklärung und Empfindsamkeit. In: Geschichte der deutschen Lyrik. Hrsg. von Walter Hinderer. 2., erw. Aufl. Würzburg 2001, S. 139-176, insbes. S. 139-141. 4 Drux (s. Anm. 1), Sp. 662. 5 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Mit dem ‘Aristarch’ (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen ‘Teutschen Poemata’ (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der ‘Trojanerinnen’ (1625). Hrsg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002 (= Reclams Universal-Bibliothek 18214), S. 18 f. 6 Diese und zahlreiche andere Beispiele bei Ketelsen: Poesie (s. Anm. 3), Leighton (s. Anm. 3) und Große (s. Anm. 3).

Chloe 43 430 Winfried Siebers

Gelegenheitsgedichte verfertigen.7 Seine Stellungnahme jedenfalls ist der Versuch einer Ehrenrettung der Gelegenheitspoesie gegenüber je- nen, die derartige Gedichte zu einem Massenphänomen herabgewür- digt sahen, das zumindest eine der Ursachen des verdorbenen Ge- schmacks der Deutschen darstelle und dem nur durch Eindämmung und Verbot beizukommen sei.8 Gottsched hingegen arbeitet – trotz der auch von ihm als Problem gesehenen enormen Menge der Gelegen- heitsdrucke – die literarischen Potenzen der Gattung heraus: Diese “Art von Poesien” seien keineswegs “eine Schande” für “uns Deut- schen”, sondern sie böten im Gegenteil die Möglichkeit zur Verbesse- rung des guten Geschmacks.9 Was die Qualität der Dichtungen an- gehe, so beruhe sie im wesentlichen auf der Geschicklichkeit und dem Können des Poeten: “Gute Poeten machen auch dann nichts ganz schlechtes, wenn sie ein flüchtiges Gedicht von der Faust wegschrei- ben; schlechte aber, würden dennoch nichts Gutes zu Wege bringen, wenn sie gleich niemals ein Hochzeit- oder Leichengedicht mach- ten.”10 Zudem würden auf diese Weise auch “Unstudierte” und “Halb- gelehrte” mit der Poesie überhaupt bekannt gemacht:

Es bekommen auch bey dergleichen Begebenheiten unzähliche Einwohner einer Stadt gute Gedichte einzeln zu lesen, die wohl niemals eine ganze po- etische Sammlung, oder ein großes ausführliches Gedichte gekauft oder gelesen hätten. So breitet sich aber der gute Geschmack auch unter Unstu- dirten, und Halbgelehrten aus, denen er sonst ewig unbekannt geblieben wäre.11

Gottsched greift somit drei wesentliche Elemente der aufklärerischen Kritik an der Gelegenheitspoesie auf: die allseits beobachtbare Mas- senhaftigkeit der Kasualdrucke, den Stellenwert des Autors dieser

7 Johann Christoph Gottsched: Untersuchung, ob es einer Nation schimpflich sey, wenn ihre Poeten kleine sogenannte Gelegenheitsgedichte verfertigen. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Bd. 2. Stück 5. Leip- zig 1746, S. 463-480. – Die Gottsched-Meier-Kontroverse ist detailliert nachge- zeichnet bei Segebrecht (s. Anm. 3), S. 255-275. 8 Vgl. den Titel von Meiers Streitschrift: Untersuchung einiger Ursachen des verdorbenen Geschmacks der Deutschen, in Absicht auf die schönen Wissen- schaften. Halle 1746; Neuausgabe: Hg., bearb. und mit einem begleitenden Text vers. von Günter Schenk. Halle/ Saale 1993. 9 Gottsched (s. Anm. 7), S. 465. 10 Gottsched (s. Anm. 7), S. 472. 11 Gottsched (s. Anm. 7), S. 473.

Chloe 43 Die aufklärerische Kritik an der Gelegenheitsdichtung 431

Dichtungen und die Frage nach der Qualität der dichterischen Erzeug- nisse der Gattung. Diese drei Themen – schlagwortartig verkürzt also: Quantität, Selbstverständnis des Autors und Qualität – stehen auch im Mittel- punkt von Gottlieb Wilhelm Rabeners satirischer Kritik an der Gele- genheitsdichtung seiner Zeit. Rabener gehört in die nicht sehr umfang- reiche, jedoch durchaus ansehnliche Reihe von Satirikern der Aufklä- rungsepoche, für die beispielhaft Christian Ludwig Liscow, Abraham Gotthelf Kästner, Theodor Gottlieb von Hippel, Georg Christoph Lichtenberg und Johann Karl Wezel genannt seien. Rabener fällt bei der Aufzählung dieser Namen in literaturgeschichtlicher Hinsicht re- gelmäßig die Rolle des harmlosen, auf Vergnüglichkeit und morali- sche Besserung zielenden Autors zu, der sanft spöttelnd das Fehlver- halten von “negative[n] Charaktertypen aus dem bürgerlichen Stand” beschreibt.12 Andererseits zeugen die zahlreichen Auflagen seiner vierbändigen Sammlung satyrischer Schriften (1751-1755), die u.a. auch ins Englische und Französische übersetzt wurden, von der Be- liebtheit beim Publikum und seinem Können als einfallsreicher und witziger Schriftsteller. Fast alle Satiren Rabeners, der seit 1741 in Leipzig und später in Dresden als Steuereinnehmer in der sächsischen Finanzverwaltung tätig war, erschienen zunächst in Zeitschriften, etwa den Belustigungen des Verstandes und des Witzes (seit 1741) oder in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes (seit 1744). Wohl mit Rücksicht auf sein öffentliches Amt publizierte der zu seiner Zeit hochgeschätzte Autor, der bis 1771 lebte, nach 1755 keine neuen Satiren mehr.13

12 Winfried Freund: Prosa-Satire. Satirische Romane im späten 18. Jahrhundert. In: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680-1789. Hrsg. von Rolf Grimminger. München 1980 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 3), S. 716-738, hier S. 723. 13 Vgl. zur Biographie die Artikel von E. Theodor Voss in: Literaturlexikon. Auto- ren und Werke deutscher Sprache. Hrsg. von Walther Killy. Bd. 9. Gütersloh, München 1991, S. 260-262, sowie Jürgen Jacobs in: Neue deutsche Biographie. Hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wis- senschaften. Bd. 21. Berlin 2003, S. 68 f.; eine Werk- und Forschungsbibliogra- phie bis 1968 bietet Hansjürgen Blinn: Gottlieb Wilhelm Rabener. Biobibliogra- phie. In: Antiquariat. Zeitschrift für alle Fachgebiete des Buch- und Kunstanti- quariats 21 (1971), S. 5-10, 17-20.

Chloe 43 432 Winfried Siebers

Äußerst treffsicher nimmt sich Rabener des Problems der massen- haften Verbreitung der Gelegenheitspoesie an.14 Er nähert sich dem Thema in der Satire Die Gedanken sind zollfrey; und damit bin ich sehr unzufrieden, einem Unterkapitel seiner umfangreichen, höchst individuellen und auf Cervantes’ Don Quichote verweisenden Sprich- wortsammlung Antons Panßa von Mancha Abhandlung von Sprüch- wörtern, wie solche zu verstehen und zu gebrauchen sind.15 Dabei spielt der Autor ironisch auch auf seine eigene berufliche Position als Steuersekretär an; denn er schlägt hier eine “Gedankensteuer” vor, welche allen, die sie zahlen, die Lizenz zur Äußerung selbst von “hartnäckigen Thorheiten” gibt und die dennoch “zum besten eines ganzen Landes” dienen soll (IV, 241 f.). Das Ziel der Kritik sind ins- besondere die von ihm fast durchweg so genannten “Gratulanten”, also jene Verseschmiede, die ihr Geld vor allem mit der Anfertigung von Gelegenheitspoesie verdienen: “Von den Gelehrten, die sich Dichter, die aber Vernünftige nur Schmierer und, wenn sie recht glimpflich urtheilen, Gratulanten nennen, will ich anfangen, da sie selbst gemeiniglich von sich und ihren Schriften zuerst anfangen.” (IV, 275) In einer Modellrechnung macht er den Nutzen einer solchen Steuer für den Fiskus deutlich:

Nun mache man einmal den Ueberschlag auf folgende Art: Unter 6586 elenden Dichtern sind wenigstens 4000 Gratulanten. In diesem Jahre haben die Mäcenaten in Ober- und Niedersachsen, ich will nur wenig sagen, 10 000 Geburtstage,

14 Vgl. zu Rabeners Kritik an der Kasualpoesie insgesamt die knappen aber gehalt- vollen Bemerkungen bei Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübingen 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Lite- ratur 60), S. 219 f. 15 Gottlieb Wilhelm Rabener: Antons Panßa von Mancha Abhandlung von Sprüch- wörtern, wie solche zu verstehen und zu gebrauchen sind. In ders.: Sämmtliche Schriften. Theil 1-6. Leipzig 1777, Theil 4, S. 19-342, darin: Die Gedanken sind zollfrey; und damit bin ich sehr unzufrieden, S. 229-342 (Erstdruck 1755). Alle Zitate aus dieser ersten postumen Sammelausgabe, die eine biographische Einlei- tung von Christian Felix Weiße (in Theil 1) und den Briefwechsel (in Theil 6) enthält, nachfolgend mit Band- und Seitenangabe im Text. – Zu Rabeners Bezie- hung zu Cervantes vgl. E. Theodor Voss: Rabener, Cervantes und der ,Ketzer Gordon’. Donquichoterien des deutschen Satirikers. In: Aufklärung. Stationen, Konflikte, Prozesse. Festgabe für Jörn Garber zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ulrich Kronauer und Wilhelm Kühlmann. Eutin 2007, S. 279-303.

Chloe 43 Die aufklärerische Kritik an der Gelegenheitsdichtung 433

20 000 Namenstage. Hierzu kommen: 1000 Hochzeiten ungefähr, 2000 Leichen, und 3000 außerordentliche Begebenheiten, die nothwendig besungen wer- den müssen. In einem jeden Liede, welches der Nachwelt angestimmt wird, kommen wenigstens 30 Stücke vor, die taxmäßig sind. Dieses beträgt nach einem Ueberschlage, den ich sehr sorgfältig gemacht habe, 105 426 fl. 1 ½ Stüber saluo errore calculi. (IV, 279)

Nach erlegter Steuer habe der jeweilige “Verfasser die Erlaubniß, sich der Unsterblichkeit zu schmeicheln; kein Mensch soll sich unterste- hen, ihn einen elenden Reimer zu nennen, und niemand von der Gesellschaft soll, bey schwerer Pön, und bey Strafe, das ganze Ge- dicht siebenmal durchzulesen, befugt seyn, in das geistvolle Karmen eher, als nach völlig aufgehobner Tafel, Konfekt zu wickeln.” (IV, 279 f.). In satirischer Zuspitzung wir hier also die inflationäre Zu- nahme der Kasualliteratur registriert und andererseits die durch dieses Wachstum bedingte Selbstentwertung der Gattung beschrieben. Gleich im Anschluss an die zitierte Stelle wird im Übrigen der “Haus- rath eines Schäferdichters” (IV, 280) taxiert, der ebenfalls mit genau festgelegten Strafsteuern belegt werden soll. So ist etwa für “Eine Heerde Lämmer … 1 Stüver” zu zahlen, für einen “Bock … 1 Deut”, für einen “Bock mit Glocken … 2 Deute” und so fort (IV, 280).16 Während die satirische Idee einer “Gedankensteuer” die ausufernde Verbreitung der Kasualdrucke aufs Korn nimmt, betrachtet Rabener in einem anderen Stück die besondere Spezies der Gelegenheitsdichter etwas genauer. In dem Schreiben eines Gratulanten an den Autor wird ein fiktiver Briefdialog wiedergegeben, in dem sich der “Gratulant” gegenüber dem Autor selbst charakterisiert.17 Dabei ist die Begrifflich- keit, die Rabener hier ganz bewusst wählt, zu beachten, denn mit “Gratulant” und “Autor” ist keine graduelle Unterscheidung im Auf- gabengebiet des Schriftstellers gemeint; vielmehr ist damit die Diffe- renz zweier gegensätzlicher Literaturauffassungen bezeichnet. Der et- was geschwätzige “Gratulant” stellt sich und seine Arbeit ausführlich vor und wendet sich dann an seinen Briefpartner, den “Autor”:

16 Vgl. den Beitrag von Christiane Caemmerer in diesem Band. 17 Rabener: Schreiben eines Gratulanten an den Autor; nebst den Gedanken des Au- tors darüber. In: Rabener (s. Anm. 15), Theil 2, S. 70-83 (Erstdruck 1744); vgl. Armin Biergann: Gottlieb Wilhelm Rabeners Satiren. Köln 1961, S. 98-100.

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Ich bin ein Poet, und eigentlich ein glückwünschender Poet; denn es darf kein Mäcenat oder keine Mäcenatinn wagen, einen Namens- oder Geburts- tag, oder ein anders Fest zu begehen, denen ich nicht auf einem großen Re- galbogen mit vieler Lebhaftigkeit erzähle, daß ich mit der tieffsten Ehr- furcht, jedoch nicht ohne Ursache, verharre, der unterthänigst gehorsamste Autor. […] Ich weis wohl, was für Poeten auf Ihre Hochachtung einen An- spruch machen dürfen. Leute, welche die Poesie zu andern Dingen, als zum Gratuliren und Condoliren, anwenden; Leute, denen die Fundgruben der edlen Reimkunst so wenig entdeckt sind, daß sie ihnen nicht, statt aller Wissenschaften, dienen können. […] solche Leute, sage ich, verdienen Ihre und meine Betrachtung eben so wenig, als alle Autoren überhaupt, welche noch unter dem Zwange der Vernunft stehen. (II, 73)

In den beiden satirischen Rollen des “Gratulanten” und des “Autors” hat Rabener zwei Figuren entworfen, die unterschiedliche, offensicht- lich miteinander konkurrierende Literaturkonzepte repräsentieren: Der “Gratulant” verkörpert den auf die Lohnschreiberei fixierten und nach vorgefertigten Rezepten verfahrenden Gelegenheitspoeten, der sein Handwerk zu Markte trägt und sich mit seiner Schmeichelei und Auf- dringlichkeit von einem vernunftgemäßen Gebrauch der öffentlichen Rede entfernt. Die Gegenposition vertritt der “Autor” genannte Dialogpartner, der sich dem “Zwange der Vernunft” verpflichtet fühlt und der die aktuell verbreitete Form der Kasualliteratur für unange- messen und überflüssig hält. Bemerkenswert ist, dass hier nicht die Gattungsform selbst ange- griffen oder in Frage gestellt, sondern vielmehr ihr Missbrauch und ihre schlechte Ausführung durch eine ganze Reihe selbsternannter “Poeten” angeprangert wird, die den Ansprüchen auf eine vernunftge- mäße Literaturpraxis keineswegs genügen können. Für diese Deutung spricht auch der fast verzweifelte Ausruf des sich als ‘professionell’ verstehenden “Autors” in seinem Antwortbrief an den “Gratulanten”: “Es ist ohnedem aus mit meiner Poesie; es ist ganz aus damit, denn man hat andre Begriffe von ihren Regeln und Schönheiten, als ich da- von habe.” (II, 80 f.). Dem oben angeführten längeren Zitat ist zudem ein weiterer Hinweis auf die Schreibverfahren der Gelegenheitsdichter zu entnehmen; denn diese machten sich – so Rabener – die “Fundgru- ben der Reimkunst” zunutze, also jene Musteranthologien, welche auf die Poetik der Kasualdichtung einen nicht zu unterschätzenden Ein- fluss nahmen.18 Für den Satiriker selbst steht natürlich außer Zweifel,

18 Vgl. den Beitrag von Stefanie Stockhorst in diesem Band.

Chloe 43 Die aufklärerische Kritik an der Gelegenheitsdichtung 435 dass nur eine auf “Wissenschaften” – und das heißt hier: nur die auf historische Kenntnisse, Erfahrungswissen und Fachkunde – gegrün- dete Poetik als Maßstab des Dichtens gelten kann. Immer wieder und in verschiedenen Variationen spielt Rabener den Gegensatz zwischen diesen beiden Literaturauffassungen in wechseln- den erzählerischen Einkleidungen durch. In der satirischen Charakteri- sierung des Gratulations- und Gelegenheitspoeten lässt sich im Um- kehrschluss immer das von ihm propagierte Idealbild des vernunftori- entierten, auf öffentliche Wirksamkeit bedachten und seine literari- schen Mittel stilbewusst einsetzenden Schriftstellers erkennen. Beson- ders prägnant wird das in dem Porträt des angeblich in einer norwegi- schen Kleinstadt beheimateten Dichters Gustav Trolle gezeigt:19

Er war ein Dichter von einem ehrlichen Gemüthe; er nahm jederzeit an dem Glücke oder Unglücke seiner Mitbürger vielen Antheil, und wünschte allen Leuten Gutes. Seine Feinde nannten ihn nur spottweise den Gratu- lanten. Kein Namenstag oder Geburtstag ward begangen, an welchem er nicht gedruckte Merkmaale seiner Ehrfurcht überreichte. Unaufhörlich ließ er die Häuser seiner Gönner und Freunde mit Freude und Wonne über- schatten; […]. Bey jedem Todesfalle tauchte er seinen Kiel in bittre Salzen und herben Wermuth ein. Er schien ganz untröstbar über den Tod des Ka- pellans, welcher drey Vornamen hatte, und also dem Beruf unsers Dichters sehr einträglich war. Die Musen unterhielt er in beständiger Bewegung. […] Die Deutschen haben ihm die Erfindung der Leberreime zu danken, welche er, zum erstenmale an des Stadtschulzens Geburtstage, aus dem Stegreife machte, da er so trunken war, daß er von seinem Verstande nichts wußte. Er war weder eigennützig, noch geizig, und für sechzehn Groschen schüttete er sein ganzes Herz aus. Er starb auch in großer Armuth, und hinterließ nichts, als einen Lorbeerkranz, und einen zerrißnen Mantel. (II, 46 f.)

In dieser Porträtskizze treten die negativen Eigenschaften des Gratula- tionspoeten noch einmal deutlich hervor, als einer Person nämlich, die jeden Anlass nutzt, ihre Verse unter die Leute zu bringen, um damit ein wenig Geld zu verdienen. Die Adressaten hingegen bekommen ein oberflächliches, schnell eingekauftes und wohl auch poetisch frag- würdiges literarisches Erzeugnis geboten.

19 Rabener: Eine Todtenliste, von Nikolaus Klimen, Küstern an der Kreuzkirche zu Bergen in Norwegen. In: Rabener (s. Anm. 15), Theil 2, S. 44-69 (Erstdruck 1743); die ‘Trolle’-Episode auch in: Rabener: Verewigte Esel. Satiren. Auswahl und Nachwort: Horst Kunze. Berlin 1965, S. 8 f.

Chloe 43 436 Winfried Siebers

Eine kappe inhaltliche Kritik an den Auswüchsen und Marotten der Gelegenheitsdichtung übt Rabener in seiner Schrift Von der Vortreff- lichkeit der Glückwünschungsschreiben nach dem neuesten Ge- schmack.20 Der fiktive Autor, Martin Scribler genannt, bietet darin zu- gleich eine Parodie auf die gelehrte Schreibpraxis, denn die Abhand- lung ist streng in Paragraphen gegliedert sowie mit umfangreichen Fußnoten und Nachweisen in zahlreichen Sprachen versehen. Die historische Ableitung des Themas beginnt natürlich im Paradies und endet dann – über einige nur am Rande erwähnte Stationen hinweg – recht schnell in der Gegenwart. Sodann werden die wesentlichen Ele- mente einer Glückwünschungsschrift umrissen: sie müsse aus vielen Worten bestehen – einen Gedanken zu haben, sei dabei weniger wich- tig; besonders ehrenvoll sei es, eine solche Schrift zunächst vor einer gelehrten Gesellschaft vorzutragen, bevor man sie zum Druck gebe; sie müsse möglichst viele Anmerkungen in möglichst vielen Sprachen haben – und so fort. Es finden sich also alle für den gelehrten Pedan- tismus typischen Motive versammelt. Die Gattung des Glückwunsch- schreibens steht hier stellvertretend für den Leerlauf und die Phrasen- drescherei innerhalb des gelehrten Betriebs insgesamt, zu dem eben auch die fließbandartige Verfertigung von Gelegenheitsgedichten ge- hört. Aus den bisher dargelegten Beobachtungen zur satirischen Kritik an der Gelegenheitsdichtung sollen abschließend einige allgemeine Überlegungen zur schwindenden Wertschätzung dieses Gattungsen- sembles in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorgetragen werden. Zunächst ist festzuhalten, dass mit der satirischen Polemik nicht ei- gentlich die Kasualliteratur selbst und im Ganzen kritisiert wird, son- dern dass viel grundsätzlicher die Frage nach den Darstellungsmög- lichkeiten und den Grenzen des öffentlichen Sprechens über persön- liche Angelegenheiten wie Geburt, Heirat oder Tod aufgeworfen wird. Am Beispiel von Trauertexten der Aufklärung ist kürzlich in einer detaillierten Analyse nachgewiesen worden, dass es in den Jahrzehn- ten vor und nach 1700 immer häufiger zur Wahrnehmung eines Miss- verhältnisses von “äußerem Schein” und den “tatsächlichen Motiven”

20 Rabener: Von der Vortrefflichkeit der Glückwünschungsschreiben nach dem neu- esten Geschmacke. In: Rabener (s. Anm. 15), Theil 1, S. 145-170 (Erstdruck 1741).

Chloe 43 Die aufklärerische Kritik an der Gelegenheitsdichtung 437 der Trauer gekommen sei.21 Damit sei zugleich die Forderung ver- knüpft gewesen, eine Übereinstimmung von Emotion und sozialem Handeln oder – anders gesagt – von Gefühlsempfindung und dichteri- schem Ausdrucksverhalten herbeizuführen. Die an diesem soziokultu- rellen Prozess beobachtbare “größere soziale Akzeptanz für private Gefühlsäußerungen im öffentlichen Raum” betrifft gerade auch alle Genres der Gelegenheitsdichtung.22 Die satirische Kritik greift diesen mentalitäts-geschichtlichen Wandel auf, indem sie gegenüber der zur Routine gewordenen sozialen Inszenierung der biographischen Ereig- nisse durch repräsentative, von einem ,Miethpoeten’ verfassten Dru- cke die Individualität sowohl des Adressaten als auch des Dichters zur Geltung bringt. Ein Gelegenheitspoet, der für ein paar Groschen sein Herz ausschüttet, widerspricht gerade dieser Forderung nach einer so- zial beglaubigten Form der Anteilnahme an personalen Ereignissen. Eine zweite Überlegung zielt auf den literatursoziologischen Status der Gelegenheitsdichtung in der frühen Aufklärung: In dem ständigen Verweis Rabeners – und auch anderer Autoren – auf die unüberschau- bar anwachsende Menge von Gelegenheitsdrucken und ihrer mangel- haften Qualität zeichnen sich in Ansätzen bereits jene Mechanismen ab, die bisher erst für das späte 18. Jahrhundert untersucht worden sind: nämlich die Zweiteilung des literarischen Marktes in eine hohe und eine niedere Literatur oder – anders gesagt – in eine Kunstliteratur und eine Unterhaltungsliteratur.23 Für die späte Aufklärung hat man dabei von einer “Zauberlehrlingssituation” gesprochen: Die Aufklärer, die “denkbar rührigsten Propagatoren” einer Auswietung der Lesefä- higkeit und eines entwickelten Buchmarktes, wurden “die Geister nicht mehr los, die sie selbst gerufen hatten”.24 Sie mussten erkennen,

21 Christian von Zimmermann: Verinnerlichung der Trauer – Publizität des Leids. Gefühlskultur, Privatheit und Öffentlichkeit in Trauertexten der bürgerlichen Aufklärung. In: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklärung. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit 98), S. 47-74, Zitat S. 56. 22 von Zimmermann (s. Anm. 21), S. 63; vgl. auch Koretzki (s. Anm. 1), S. 59. 23 Vgl. etwa: Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Hrsg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt a.M. 1982 (= edition suhrkamp 1089). 24 Jochen Schulte-Sasse: Das Konzept bürgerlich-literarischer Öffentlichkeit und die historischen Gründe seines Zerfalls. In: Aufklärung und literarische Öffent- lichkeit. Hrsg. von Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt a. M. 1980 (= edition suhrkamp 1040), S. 83-115, hier S. 100.

Chloe 43 438 Winfried Siebers dass die Eigendynamik des Marktes keiner irgendwie gearteten nor- mierenden Steuerung zugänglich war und die verschiedenen Instituti- onen der Öffentlichkeit die vorhandenen Kulturbedürfnisse auf kom- merzielle Art und Weise zu befriedigen suchten. Einer ähnlichen Situation sahen sich augenscheinlich die Zeitgenos- sen Rabeners ausgesetzt: Die große Masse der Gelegenheitsdrucke für den städtisch-bürgerlichen Bereich schwemmte gleichzeitig eine be- trächtliche Anzahl mittelmäßiger oder minderwertiger Erzeugnisse auf den Markt, die gleichwohl ihre Adressaten und womöglich ihre Leser fanden. Dies erschwerte die Bemühungen der ästhetisch anspruchs- vollen Autoren zur Herausbildung eines “guten Geschmacks” und ei- ner angemessenen literarischen Kompetenz. Es wundert deshalb nicht, dass in diesem Fall verschiedene Gegenstrategien und “obrigkeitliche Regulierungsmaßnahmen” zum Austeilen der Gelegenheitsdrucke, gar bis zu ihrem vollständigen Verbot vorgeschlagen wurden.25 Ganz offenbar wird hier in der frühen Aufklärung am Beispiel der städtisch- bürgerlichen Gelegenheitsdichtung die Frage nach verschiedenen lite- rarischen Qualitätsniveaus aufgeworfen, welche ihrerseits auf die all- mähliche Herausbildung unterschiedlicher Autoren- und Publikums- kreise verweisen. Diese beiden, für den Literaturhistoriker nach wie vor bemerkenswerten Prozesse in der Geschichte der Gelegenheits- dichtung – der Wandel der ästhetischen Orientierung im Öffentlich- keitsbezug und die Entwicklung verschiedenartiger Publikumsstruktu- ren – spiegeln sich in den vielleicht doch gar nicht so harmlosen Sati- ren Gottlieb Wilhelm Rabeners.

25 Vgl. Koretzki (s. Anm. 1), S. 58, sowie Albrecht Schöne: Kürbishütte und Kö- nigsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach. München 1975, S. 47.

Chloe 43

F r i d r u n F r e i s e

FREUNDSCHAFT STATT POETIK ODER POETIK DER FREUNDSCHAFT? Wie Schüler des Elbinger Gymnasiums in der Mitte des 18. Jahrhun- derts im Kasualdruck über Gelegenheitsdichtung reflektieren

“Beynahe hätte ich die Gelegenheitsgedichte vergessen, und sie ver- dienen es beynahe”, beginnt Johann Bernhard Basedow kritisch den Abschnitt zur Gattung Kasualgedicht in seinem Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit von 1756.1 Gleichzeitig findet er aber Gründe, nach denen es “zuweilen erlaubt sey […], seine Muse auf eine Zeitlang bey dem Eigensinne eines Patrons, oder bey Vorurthei- len seiner Zeit in Diensten zu geben”2 und gibt z.B. die praktische An- wiesung, dass “die Ehrerbietung, die Freundschaft, die Liebe ihre Dollmetscher den Dank, den Glückwunsch, das Lob und die Bitte in Gelegenheitsgedichten angenehmer und nachdrücklicher als sonst re- den”3 ließen. Dieser Widerspruch zwischen Abqualifizierung der literarischen Gattung auf der einen Seite und der fortgesetzten Ausübung bzw. Anweisung, wie solche Gedichte zu schreiben seien, repräsentiert die Situation, in der sich die vielzitierten Massenschreiber an der Basis der Gelegenheitsdichtungspraxis in der Mitte des 18. Jahrhunderts be- finden. In der Praxis des Gelegenheitsdichtens kollidieren zu dieser Zeit zwei literarische Wertsysteme – das die Gattung ursprünglich tra- gende rhetorische und das sich etablierende und neue Anforderungen an literarische Äußerungen stellende autonomie- und genieästhetische Wertsystem. Die neuen Werte, die u.a. spontanen Gefühlsausdruck

1 Johann Bernhard Basedow: Lehrbuch prosaischer und poetischer Wohlredenheit in verschiedenen Schreibarten und Werken zu academischen Vorlesungen einge- richtet [...]. Koppenhagen: im Verlage der Rothenschen Buchhandlung 1756, S. 621 (“§. 303. Von Gelegenheitsgedichten.”). 2 Ebd., S. 555 (“§. 274. Von dem Endzwecke der Poesie.”). 3 Ebd., S. 557.

Chloe 43 440 Fridrun Freise aus der individuellen Situation heraus erfordern,4 laufen grundsätzlich der von außen an den Dichtenden herangetragenen Gelegenheit zuwi- der, die für den Großteil der massenhaft auf Anfrage oder aus sozialer Verpflichtung produzierten Gedichte die geforderte Spontanität und Authentizität unglaubwürdig macht. Aufgrund der Massenhaftigkeit der Produktion gestaltet sich zudem die Individualität der Beiträge als schwierig. Die Laien- und Massenpoeten werden z.B. im Laufe ihrer akademischen Laufbahn weiterhin in der problematischen Gattung ausgebildet und schreiben weiter, während sich die namhaften Dichter vom kasualen Genre zunehmend kritisch distanzieren5 oder ein originäres Verhältnis auch zur dieser Dichtungsart entwickeln.6 Deshalb soll gerade der Umgang der geschmähten Laienpoeten aus der Masse der Unbekannten im Zentrum dieses Beitrags stehen. Am Beispiel einer Reihe von Propemptika soll das dichterische Problem- bewusstsein gewöhnlicher Schüler des Elbinger Gymnasiums unter- sucht und die Auswege, die die Gymnasiasten aus dem dichterischen Dilemma formulieren, in den Mittelpunkt gerückt werden. Die Stellung als regionales Zentrum mit solider gymnasialer Aus- bildung und selbstverständlichen Kontakten zu den preußischen Ober- zentren Königsberg und später Berlin sichern in Elbing7 die Grund- lage, dass neue poetische Moden den Ort erreichen. Allerdings ist die Stadt im Preußen königlich polnischen Anteils kein Geburtsort litera- rischer Innovation und die tägliche Praxis spiegelt “nur” in den kultu- rellen Metropolen längst etablierte poetische Konzepte wieder. Diese

4 Zu einer Gegenüberstellung solch zentraler Kategorien aus der Perspektive der Werteforschung vgl. z.B. Renate von Heydebrand, Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik – Geschichte – Legitimation. Paderborn [u.a.] 1996 (= UTB 1953), S. 153-155. Zur kritischen poetologischen Diskussion um die Gattung Gelegenheitsgedicht vgl. exemplarisch Segebrechts Darstellung der Kontroverse zwischen Johann Christoph Gottsched und Georg Friedrich Meier in Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977, S. 255-275. 5 Vgl. z.B. Joseph Leighton: Occasional Poetry in the Eighteenth Century in Ger- many. In: Modern Language Review 78 (1983), S. 340-358, hier z.B. S. 347-349 zu Friedrich Gottlieb Klopstock. 6 Zu Goethes Umgang mit Gelegenheitsdichtung vgl. Stefanie Stockhorst: Fürsten- preis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Studien zu Goe- thes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof. Tübingen 2002 (= Studien zur deutschen Literatur 167). 7 Zur Geschichte Elbings vgl. Andrzej Groth (Red.): Historia Elblga [Geschichte Elbings], t. II, cz. 2 (1626-1772). Gdask 1997.

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 441

Konstellation stellt sicher, dass man hier den “Bodensatz” der Werte- diskussion um die Gattung der Gelegenheitsdichtung fassen kann. Während die Elbinger Gymnasiasten den anfangs erwähnten kasualdichtungskritischen poetologischen Diskurs offensichtlich rezi- pierten, wurde im Unterricht noch zweckorientiert anlassgebundenes Schreiben vermittelt, das gesellschaftlich gefordert war. Aus dem Jahr 1742 ist belegt, dass der damalige Konrektor Johann Lange “für die Privatstunden praktische Uebungen in lateinischer und deutscher Poe- sie” ankündigte, während Professor Hempel “in den gewöhnlichen Lehrstunden” dieses Thema unterrichtete.8 Diese Praxis soll sich laut Neubaur in den folgenden Jahren so gehalten haben.9 Unterricht ge- rade im lateinischen Dichten ist an Gymnasien im gesamten 18. Jahr- hundert noch allgemein üblich gewesen.10 Neubaur weist denn auch darauf hin, dass diese Poesiestunden notwendig waren, da das Gym- nasium verpflichtet war, Gelegenheitsgedichte für Ratsherrenfamilien zu verfassen.11 Zentrale Quelle ist der heute im Danziger Archiwum Pastwowe aufbewahrte schmale Sammelband APGd 492/1259, der sieben gym-

8 Leonhard Neubaur: Aus der Geschichte des Elbinger Gymnasiums. Elbing 1897 (= Beilage zum Programm des Elbinger Realgymnasium 1897), S. 46. Zum Stellenwert der Privatstunden vgl. Marian Pawlak: Dzieje gimnazjum elblskiego w latach 1535-1772 [Die Geschichte des Elbinger Gymnasiums in den Jahren 1535-1772]. Olsztyn 1972, S. 139. Von Johann Lange sind nicht nur eine Viel- zahl lateinischer Gedichte überliefert – beispielhaft genannt seien hier die Verfas- serschriften Biblioteka Elblska (BE) XVIII.103 adl. 78, APGd 384/304 S. 1-4, BE XVIII.103 adl. 91, BE XVIII.102 adl. 62 usw. –, sondern eine Personencha- rakterisierung von Johann August Merz weist zudem darauf hin, dass Lange im Gegensatz zu seinem Nachfolger ein Vertreter traditionellen Sprach- und Litera- turunterrichts war. Vgl. Johann August Merz: Schluss der Geschichte der Gym- nasiumsbibliothek. Programm Gymnasium Elbing 1848, S. 1-3. 9 Neubaur (s. Anm. 8), S. 46. 10 Robert Seidel: Die ‘tote Sprache’ und das ‘Originalgenie’. Poetologische und literatursoziologische Transformationsprozesse in der Geschichte der deutschen neulateinischen Lyrik. In: Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Klein- formen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung. 1. Arbeits- gespräch der Deutschen Neulateinischen Gesellschaft in Verbindung mit der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg. Hrsg. von Beate Czapla, Ralf Georg Czapla und Robert Seidel. Tübingen 2003 (= Frühe Neuzeit 77), S. 422-448, hier S. 444. 11 Ebd.

Chloe 43 442 Fridrun Freise nasiale Valet-Drucke aus den Jahren 175912, 176013 und 176114 vereint. Die hier dokumentierten Sammelschriften gehören alle zu der seit der Jahrhundertmitte populären gattungsspezifischen Sonderform des ka- sualen ‘gedruckten Stammbuchs’. Insbesondere im gymnasialen und akademischen Milieu werden Abschieds-Drucke verfasst, die in der Grundstruktur ihrer Einträge analog zu studentischen Stammbüchern15

12 Archiwum Pastwowe w Gdasku (APGd) 492/1259 S. 1-12: Den Herren Johann Schmidt Jsrael Poselger und Andreas Quednau unseres Gymnasii rühmlichst gewesenen Mitbürgern Freundschaft zu der Reise nach Göttingen in folgenden Blättern alles Wohlergehen anwünschen einige hier studirende Musen-Söhne. Elbing 1759; APGd 492/1259, S. 13-20: Das Denkmaal der aufrichtigen Freundschaft wurde dem Herrn Johann Gottlob Feege aus Marienburg der beyden Rechten eifrigst Beflissenen bey der Abreise nach Königsberg in folgen- den kleinen Gedichten von einigen auf dem Elbingischen Gymnasio studirenden guten Freunden. Elbing 1759. Nach der Erstnennung werden alle Kasualdrucke über ihre Signatur zitiert. 13 APGd 492/1259 S. 21-32: Den Herren Johann George Hoffmann aus Thorn, Na- thanael Petersch aus Lichtfeld in Poln. Pr. und Christian Wolfgang Lächelin aus Marienburg, der Gottesgelahrtheit eifrigst Beflissenen, als Dieselben zu Fortset- zung Jhrer gelehrten Bemühungen sich vom Elbingischen Gymnasio nach Kö- nigsberg begeben wollten, gewidmet von den allhier Studierenden. Elbing 1760; APGd 492/1259, S. 33-44: Bey der seinen Freunden höchst schmerzlichen Ab- reise des Herrn Johann Christian Silbers beyder Rechten eifrigst Beflissenen nach Göttingen, wolten Demselben ihre aufrichtige Zuneigung durch gegenwärtige Blätter zu erkennen geben einige Musensöhne des Elbingischen Gymnasii. El- bing (1760); APGd 492/1259, S. 77-92: Den Herren George Grübnau, Raphael Boguslaus Rhoden und Samuel Gottlieb Stellmacher, der Gottesgelahrtheit eifrigst Beflissenen, widmen folgende Zeilen bey Jhrer Abreise nach Königsberg Jnnenbenannte. Elbing, im Herbstmonat, des Jahres 1760. Elbing (1760). 14 APGd 492/1259, S. 45-56: Als die Herren Christian Gottlieb Proew, aus Elbing, de re nummaria Polonorum, Johann Christoph Haage, aus Saalfeld in Pr. de antiquis Ebraeorum nummis, Martin David Stelter, aus Fischau in Poln. Pr. de nummis, cultui divino Christoque dicatis, Jhre Abschiedsreden öffentlich gehal- ten, wünschten Jhnen zu Jhrer Reise nach Königsberg in folgenden Zeilen Glück innenbenannte Mitbürger des Elbingischen Gymnasii. Jm März Monat des Jahrs (1761). Elbing 1761; APGd 492/1259, S. 65-76: Jhre geliebtesten Freunde Herrn Daniel Reinhold Rhode beyder Rechten, Gottfried Friedrich Reuß und Carl Ludwich George von Trauen der Gottesgelahrtheit rühmlichst Beflissenen, be- gleiten bey Jhrer Abreise von Elbing mit folgenden Wünschen einige allhier Stu- dierende. Elbing im Herbstmonat 1761. Elbing (1761). Außerdem ist in APGd 492/1259 noch ein Hochzeitsdruck auf den Elbinger Gymnasialprofessor Chris- toph Gottlieb Proew enthalten (APGd 492/1259, S. 57-64). 15 Zum Stammbuch vgl. Werner Wilhelm Schnabel: Das Stammbuch. Konstitution und Geschichte einer textsortenbezogenen Sammelform bis ins erste Drittel des

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 443 aufgebaut sind, aber wie jede andere Gelegenheitsschrift einmalig zu einem Anlass gedruckt werden.16 Ein Quellenfund Edmund Kotarskis belegt, dass diese ungewöhnliche Gattungsausprägung tatsächlich als “ein so genanntes gedrucktes Stammbuch” bezeichnet wurde.17 Im vorliegenden Beitrag werden für den Drucktypus die Begriffe ‘kasua- les gedrucktes Stammbuch’ oder ‘kasualer Stammbuchdruck’ verwen- det, um denselben klar von frühneuzeitlichen Druckformen abzugren- zen, die in Hinblick auf eine Stammbuchnutzung konzipiert wurden.18 Der beschriebene Drucktypus ist dabei keine Elbinger Besonderheit, die als einmalige Modeerscheinung auftrat. Kotarski kann in Danzig Kasualschriften in Stammbuchform von den 1740er bis in die 1790er Jahre ausmachen.19 Auch mit Erscheinungsort Elbing ist noch ein ana- loger Druck von 1780 überliefert,20 wobei die komplizierte Überliefe-

18. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (= Frühe Neuzeit 78), zum Bildungsmilieu hier insbes. S. 336-523. 16 Natürlich existieren auch Propemptika aus dem Elbinger Gymnasiasten- und Stu- dentenmilieu, die nicht in Stammbuchform, sondern als konventioneller Ka- sualdruck veröffentlicht wurden, z.B. APGd 492/1243, S. 29-32 (Jena 1742, El- binger Adressat); APGd 492/670, S. 1-8 (Elbing 1757); BUT Pol.8.III.1039 (El- bing 1779); BUT Pol.8.III.1090 (Königsberg 1782, Elbinger Adressat, Elbinger unter den Widmenden); BUT Pol.8.III.1106 (Königsberg 1783, Elbinger Adres- sat, Elbinger unter den Widmenden). 17 Edmund Kotarski: Gdaska Poezja okolicznociowa XVIII wieku. [Danziger Gelegenheitsdichtung des 18. Jahrhunderts]. Gdask 1997, S. 246 sowie ders.: Almanach der Freundschaft – Mnemosynon – Abschiedsgedicht. Gedruckte Dan- ziger Stammbücher des 18. Jahrhunderts. In: Kulturgeschichte Preußens könig- lich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Sabine Beckmann und Klaus Garber. Tübingen 2005 (= Frühe Neuzeit 103), S. 775-799, hier S. 777. Zur genaueren Quellenangabe vgl. Anm. 112. 18 Zur Definition der Termini ‘Stammbuchdruck’ bzw. ‘gedrucktes Stammbuch’ vgl. Schnabel (s. Anm. 15), S. 127 f. Kotarski 1997 (s. Anm. 17), S. 244-248 sowie ders. 2005 (s. Anm. 17), S. 775-779 favorisiert u.a. den reinen Quellenbe- griff ‘gedrucktes Stammbuch’. 19 Kotarski 1997 (s. Anm. 17), S. 264, Anm. 120 (= S. 409) (Druckjahr 1741) und S. 264, Anm. 110 (= S. 409) (Druckjahr 1794). 20 Biblioteka Uniwersytecka w Toruniu (BUT) Pol.8.III.1051: Ihren verehrungs- würdigen Freunden Herren Karl Otto Vorhoff und George Christian Theodor Brakenhausen der Rechtsgelahrtheit rühmlichst Beflissenen widmen folgende Zeilen bey Jhrer Abreise nach Königsberg die auf dem Elbingschen Gymnasio Studirende der ersten Ordnung. Elbing im Septembermonat 1780. (Elbing): Johann Gottlieb Nohrmann (1780). In demselben Sammelband mit Elbinger Ca- sualia (BUT Pol.8.III.966-1117) findet sich noch ein weiterer kasualer Stamm- buchdruck mit Druckort Danzig: BUT Pol.8.III.1109: Dem Wohledlen und

Chloe 43 444 Fridrun Freise rungslage der Elbinger Kasualschriften vermuten lässt, dass andere Drucke einfach verloren gegangen sind.21 Im Folgenden werden die kasualen gedruckten Stammbücher zu- nächst in Hinblick auf ihre drucktypusspezifischen Besonderheiten an- alysiert; daran schließt sich die Interpretation ausgewählter Beiträge an, in denen die Elbinger Gymnasiasten über das Gelegenheitsdichten reflektieren. Dabei werden die dichtungstheoretischen Verortungen der Verfasser mit dem zeitgenössischen poetologischen Diskurs in Verbindung gebracht, insbesondere mit zwei zeitnah im Ostseeraum erschienenen Lehrpoetiken, den Werken von Johann Bernhard Base- dow (Kopenhagen 1756)22 und Daniel Heinrich Arnoldt (Königsberg 1741).23 Beide zählen nicht zu den einflussreichsten Veröffentlichun- gen, können aber als Anwenderpoetiken das potentielle Vermittlungs- niveau an einem akademischen Gymnasium widerspiegeln. Abschlie- ßend soll eine Standortbestimmung des beschriebenen Phänomens im Kontext der zeitgenössischen Gelegenheitsdichtungspraxis versucht werden.

Der Umfang der sieben Drucke mit Propemptika variiert zwischen 8 und 21 Beiträgern.24 Von insgesamt 106 Beiträgen in allen Drucken

Wohlgelahrten Herrn E. Daniel Ephraim Zachert der Rechte rühmlichst Be- flissenen. [...] Jm Herbstmonde 1783. Danzig (1783). 21 Zur Überlieferungslage des Elbinger Kasualschrifttums vgl. Fridrun Freise: Das Elbinger Gelegenheitsschrifttum. Die heutigen Bestände vor dem Hintergrund der Geschichte der historischen Sammlungsinstitutionen. In: Handbuch des per- sonalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Bd. 21: Elbing – Elblg. Elbinger Bestände unter Berücksichtigung der historischen Sammlungen der ehemaligen Elbinger Stadtbibliothek und des ehemaligen El- binger Stadtarchivs. Hrsg. von ders. u. Mitarb. von Stefan Anders und Sabine Beckmann. Hildesheim [u.a.] 2008, S. 21-71. Auch ein Verweis Neubaurs be- zieht sich auf das Sammelbändchen APGd 492/1259. Vgl. Leonhard Neubaur: Beiträge zur älteren Geschichte des Gymnasiums zu Elbing. Elbing 1899 (= Bei- lage zum Programm des Elbinger Realgymnasium 1899), S. 17 f. 22 Basedow (s. Anm. 1). 23 Es handelt sich hierbei um die zweite, überarbeitete Fassung der Lehrpoetik des gelehrten Königsberger Theologen und Universitätsprofessors Daniel Heinrich Arnoldt: Versuch einer, nach demonstrativischer Lehrart entworfenen, Anleitung zur Poesie der Deutschen. Vermehrte und verbesserte Auflage. Königsberg 1741. 24 APGd 492/1259, S. 1-12 (1759): 21 Beiträger; APGd 492/1259, S. 13-20 (1759): 8 Beiträger; APGd 492/1259, S. 21-32 (1760) sowie APGd 492/1259, S. 45-56 (1761): je 16 Beiträger; APGd 492/1259, S. 33-44 (1760) sowie APGd 492/1259, S. 65-70 (1761): je 14 Beiträger; APGd 492/1259, S. 77-92 (1760): 17 Beiträger.

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 445 sind 49 auf Latein verfasst, 48 auf Hochdeutsch sowie einer in grie- chischer Sprache. Über dieses klassische Sprachrepertoire hinaus fin- den sich außerdem jeweils drei Beiträge in polnischer und französi- scher Sprache sowie zwei niederdeutsche Gedichte. Die zuletzt ge- nannten Sprachstände bestätigen für den Elbinger Kontext eine mo- dische variative Ausweitung des Kanons, die für den Gelegenheits- druck im 18. Jahrhundert üblich ist. Das Verhältnis von Deutsch und Latein hat sich von der deutlichen Übermacht der antiken Sprache im 17. Jahrhundert auf ein gleichwertiges verschoben. Die verschieden- sprachigen Beiträge erscheinen willkürlich durcheinander gestreut, ohne dass eine Wertehierarchie erkenntlich ist.25 Zudem sind immerhin 50 von 106 Beiträgen in Prosa verfasst. Da- mit setzt sich die schon beim Sprachstand erkennbare Tendenz zur bewussten Variation fort, denn die Entscheidung für einen Prosabei- trag muss keinesfalls eine zunehmende Unfähigkeit ausdrücken, Verse zu schreiben. Vielmehr ist die Frage über den unmittelbaren Ausdruck von Gefühlen längst Teil der poetologischen Diskussion. So diskutiert z.B. Johann Christoph Gottsched schon 1738 in seiner Vorrede zu Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Oden und Cantaten in vier Büchern die Frage Ob man auch in ungebundener Rede Oden machen könne?26 Er formuliert: “Es bleibt also wohl dabey, daß ein Redner in seinen Gedanken viel freyer und ungehinderter fortfahren könne, als ein Poet; und der einzige Herr von allen seinen Ausdrückungen sey: da dieser sich nach dem Zwange des Sylben maaßes und der Reime richten muß”,27 und räumt im Verlauf seiner Argumentation ein, dass “die un- gebundene Rede also einen unendlichen Vorzug vor der poetischen Schreibart behält.”28 Auch in allgemeinen, spezifisch auf die gymnasiale Ausbildung ausgerichteten29 Lehrbüchern wie dem Basedows werden Lyrik und

25 In den Elbinger Drucken des 17. Jahrhunderts findet man die deutschsprachigen Beiträge tendenziell am Ende des Druckes. 26 Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig Oden und Cantaten in vier Büchern. Nebst einer Vorrede über die Frage: Ob man auch in ungebundener Rede Oden machen könne? Leipzig 1738. 27 Ebd., fol. **6v. 28 Ebd., fol. **7r. 29 “Mein Endzweck aber war, ein Lehrbuch zu machen, dessen gründliche Erklä- rung auf Gymnasien und hohen Schulen einem jeden Zuhörer in allem, was zur Wohlredenheit in allerley Werken erfordert wird, so viel Erkenntniß geben könnte, daß er sich der größern Lehrbücher einzelner Materien, u.E. der Gram-

Chloe 43 446 Fridrun Freise

Prosa teilweise gemeinsam behandelt. In Basedows erstem Teil, den er Von den Gemeinschaftlichen Regeln der Prose und Poesie betitelt, bespricht der Verfasser beide Varianten synchron, indem er Lyrik und Prosa in Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede expliziert.30 Vor allem die Grundlagen der Erfindung handelt Basedow in seinem zweiten Hauptstück Von der Materie und den Gedanken31 gemeinsam ab; dazu gehören z.B. die Findung des “Hauptinnhalts[!]”32 sowie die “Quellen der Erzählung und Beschreibung”,33 zwei zentrale Aspekte, die ein potentieller Gelegenheitsdichter bedenken muss. Damit rücken auch für den Verfasser anlassgebundener Beiträge Lyrik und Prosa als gleichwertige situationsadäquate Literaturvarianten in den Fokus. Ein weiterer Grund für die häufige Wahl der Prosaform ist in der Stamm- buch-Analogie der Drucke zu sehen. Gerade im späten 18. Jahrhun- dert kann Schnabel für Stammbucheinträge aus dem akademischen Milieu wieder verstärkte Prosa-Einträge konstatieren.34 In 44 Drucken sind gerade diese Prosabeiträge zusätzlich mit einer Anrede versehen, die in 40 Fällen mit einer zumeist analog aufgebau- ten Unterschriftenformel korrespondiert.35 Mit dieser Struktur, die stark vom Aufbau eines traditionellen Gelegenheitsbeitrags abweicht,

matik, des Briefstils, der Kanzleyschriften, der Homilie und der Dichtkunst mit ihren Theilen, allenfalls ohne weitere Anführung selber zu bedienen im Stande seyn möchte.” Basedow (s. Anm. 1), fol. a7r (Vorrede). 30 Basedow (s. Anm. 1), S. 1-362 (“Erster Theil.“). Dem folgen dann die Abschnitte “Von der Prose” (Ebd., S. 365-492) und “Von der Poesie.” (Ebd., S. 495-622) mit den spezifischen Charakteristika. 31 Basedow (s. Anm. 1), S. 10. 32 Basedow (s. Anm. 1), S. 10 f. (“§. 14. Von der Erfindung des Hauptinnhalts.”). 33 Basedow (s. Anm. 1), S. 29-31 (“§. 29. Von den Quellen der Erzählung und Be- schreibung.“). Hier geht es um die “Umstände” (S. 30) von Personen, Ort, Zeit, “Ursachen und Absichten einer Begebenheit und Handlung” usw. (Ebd.). 34 Vgl. Schnabel (s. Anm. 15), hier u.a. S. 67 f. sowie speziell für das akademische Milieu: S. 400. 35 APGd 492/1259, S. 45-56, hier S. 51: “Meine Herren [...] Jhr aufrichtiger Freund C.L.G.v. Trauen, d.f.K.B.“; APGd 492/1259, S. 45-56, hier S. 52: “Meine Herren, [...] Jhren Freund Joh. Christ. Roßkampff“; APGd 492/1259, S. 77-92, hier S. 86: “AMICI HONORATISSIMI. [...]AMICI HONORATISSIMI, Vobis deditissimus Frid. Traug. Lange.”; APGd 492/1259, S. 21-32, hier S. 25-26: “AMICI OPTIMI [...] AMICI OPTIMI in Vos officiosissimus Jo. CHRIST. HAAG, Pruss.”; APGd 492/1259, S. 65-76, hier S. 67-68: “Moci Panowie! [...] W. Mocie Panowie Waszym yczliwym przyiacielem J.B. Lange.”; APGd 492/1259, S. 45-56, hier S. 54: “Messieurs [...] Messieurs, Votre tres-dedié Ami J.J. Schröter.”

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 447 transferieren die Verfasser ein rudimentäres Grundmuster funktionaler und optischer Konventionen für Texteinträge in Stammbüchern in den Kasualdruck.36 In den sieben Elbinger Valet-Schriften wird der obligatorische Textteil in den beschriebenen Fällen durch ein Exor- dialsignal mit Adressenfunktion37 und den Unterschriftenblock ver- vollständigt, der hier zumeist aus Adressierung, Charakterisierung und Identifikation des Verfassers (‘subscriptio’) besteht. Nur in seltenen Fällen finden sich Ergänzungen des Musters durch weitere Kompo- nenten wie z.B. Lokalisierung und Datumsangaben.38 Die davon abweichend verwendeten Memorialformeln39 oder häufi- gen Freundschaftsbekundungen40 sind inhaltlich nicht so stark von tra- ditionellen Widmungs- bzw. Unterschriftsformeln im personalen Ge- legenheitsdruck entfernt, erhalten aber durch den Stammbuchkontext, in dem sie ebenfalls zu den gängigen Floskeln gehören,41 neue Legiti- mation: Sie stehen nun für ein mit den Stammbuchmerkmalen auf den Gelegenheitsdruck appliziertes Konzept, das über den Freundschafts- aspekt tragfähig ist und die von der Kritik ausgehöhlten memorial ba- sierten Repräsentationsstrukturen der ursprünglichen Gelegenheits- dichtung ersetzt. Die Elbinger kasualen gedruckten Stammbücher ent- halten außerdem modische Akzidenzien wie niederdeutsche oder mak- karonische Gedichte, die im 18. Jahrhundert auch im Stammbuch mo-

36 Vgl. Schnabel (s. Anm. 15), S. 146-149 zu einem Strukturschema, das in voll- ständiger Ausprägung Konjunktionsformel, Exordialsignal, Textteil, Symbolum, Adressierung-Motivierung-Charakterisierung-Sprachhandlungsformel, Lokalisie- rung-Datierung, Identifikation und Memorabilien umfassen kann. 37 Schnabel (s. Anm. 15), S. 102 konstatiert diese Ausprägung im 18. Jahrhundert zunehmend häufiger. 38 Z.B. APGd 492/1259, S. 65-76, hier S. 68: “In Museo meo na Gimnazyum Elbiskim [!] d. 23 Wrzenia, 1761.” 39 Im gesamten Sammelband APGd 492/1259 finden sich 10 Memorialformeln in den Beitragsunterschriften, z.B. APGd 492/1259, S. 1-12, S. 3 (“Amori & memoriae dabat”); APGd 492/1259, S. 45-56, S. 55 (“Dieses setzte zum Anden- ken seiner werthgeschätzten Freunde, bey Jhrer Abreise nach Königsberg, auf”). 40 Unter den 106 Beiträgen finden sich 70 Beitragsunterschriften, die explizit eine freundschaftliche Beziehung erwähnen, z.B. APGd 492/1259, S. 1-12, S. 9 (“Dieses schrieb bey der Abreise seiner guten Freunde wohlmeinend”). 41 Zu Freundschaftsbekundungen vgl. Schnabel (s. Anm. 15), u.a. S. 103, S. 437, S. 577.; zu Memorialformeln vgl. ebd., u.a. S. 456, S. 458, S. 461.

Chloe 43 448 Fridrun Freise dern waren und sich ebenfalls in den Danziger kasualen Stammbuch- drucken finden.42 Statistisch gesehen dominiert das Thema ‘Freundschaft’ die unter- suchten Drucke. In 98 der 106 Beiträge werden “Freunde” oder “Freundschaft” in den Textteilen oder den Unterschriftsformeln ge- nannt.43 Nur acht Einträge erwähnen diesen Komplex dezidiert nicht. In diesen Fällen finden sich an den die Beziehung zwischen dem Ver- fasser und dem Adressaten charakterisierenden Schlüsselstellen die Distanz zwischen den beiden Personen betonende Begriffe: So ersetzt Gottfried Friedrich Reuß z.B. die Freundesbekundung in der Unter- schrift durch die Selbstbezeichnung “Diener” und dankt für die ihm vom Adressaten erwiesene “Höflichkeit” statt der sonst meist genann- ten Freundschaft.44 Der nahezu omnipräsente Freundschaftsfokus wird in changieren- der Ausprägung v.a. durch einen Vorrat von inhaltlichen Versatzstü- cken ergänzt, der sich aus der Beziehung zwischen Verfasser und Ad- ressaten, der Abreisesituation und dem neuen Studienort der Adressa- ten als Reiseziel speist. Betrachtet man nur die Prosabeiträge, so muss man feststellen, dass die Struktur der dargebotenen Texte in den meisten Fällen einem beschränkten, topisch vorgegebenen Muster folgt. Verhandelt werden die Themen “Freundschaft” (1),45 das posi- tive Gedenken an die angenehme Gesellschaft des Adressaten in der Gegenwart (2), der Abschied (3), der Trennungsschmerz (4), die Bitte um Andenken (5), die Versicherung beständiger Zuneigung (6), Ge- lehrsamkeit, Streben nach Wissen (7), die Studienzeit (8) sowie gute Wünsche für die Zukunft (9). Von den 19 deutschsprachigen Prosa-

42 Niederdeutsche Gedichte: APGd 492/1259, S.1-12, S. 7; APGd 492/1259, S. 45- 56, S. 56; Kotarski 2005 (s. Anm. 17), S. 786; Kotarski 1997 (s. Anm. 17), S. 273; Schnabel (s. Anm. 15), S. 384. Makkaronischer Sprachstil: APGd 492/1259, S. 77-92, S. 90-92; Kotarski 1997 (s. Anm. 17), S. 273 sowie ders. 2005 (s. Anm. 17), S. 786; Schnabel (s. Anm. 15), S. 386. 43 Vergleichsdaten nur für die Beitragsunterschrift in Anm. 40. 44 APGd 492/1259, S. 33-44, S. 42. 45 ‘Freundschaft’ wird in diesem Beitrag immer in der im sogenannten ‘Freund- schaftskult’ kulminierenden Vorstellung des 18. Jahrhunderts verwendet. Vgl. Frauenfreundschaften – Männerfreundschaften: literarische Diskurse im 18. Jahr- hundert. Hrsg. v. Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1991.

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 449 beiträgen wiechen nur neun durch einen zusätzlichen Inhalt von die- sem vorgegebenen Themenpool ab.46 Die hier aufgezählten topischen Versatzstücke sind nicht neu, son- dern speisen sich aus der poetologischen Tradition und konnten somit schon als mögliche Einfälle für ein Kasualpoem der Hochphase der Gelegenheitsdichtung dienen. So liest man z.B. in Johann Christoph Männlings Europäischem Helicon zum Carmen Propempticum die Anweisung:

Findet sich es auch/ daß man Abreisenden nichts mehr kan mit geben/ als einen Wunsch/ da man sie mit heissen Seuffzern begleitet. Dabey aber auch unser Angedencken selbsten recommendiret/ und diß wird Carmen Pro- pempticon genennet/ darinn man wegen des Abschiedes seinen durchdrin- gende[n] [!] Schmertz und Trauren ihm vorstellet/ doch zugleich promitti- ret/ die alte Freundschafft weder zuvergessen [!]/ noch durch Entlegenheit des Ortes sich trennen zu lassen.47

Die hier enthaltenen Punkte Freundschaft (1), Trennungsschmerz (4) und Andenken (5) werden in einer Liste zu den Reiseumständen er- gänzt, die neben dem Punkt “Officium, was er bedient etc.”, der die kommende Studienzeit und die erforderliche Gelehrsamkeit (7, 8) um- fasst, außerdem die obligaten Reisewünsche (9) enthält.48

46 Davon handelt es sich in fünf Fällen um die Gelegenheitsdichtung betreffende Inhalte, die im folgenden genauer besprochen werden: APGd 492/1259, S. 1-12, S. 5 f. (Silber); APGd 492/1259, S. 45-56, S. 48-50 (Reuß); APGd 492/1259, S. 45-56, S. 50 f. (von Trauen); APGd 492/1259, S. 45-56, S. 52 (Roßkampff); APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69 f. (Roßkampff), in den anderen Fällen um klei- nere Akzidenzien wie z.B. die Variationen von Miritz (vgl. Anm. 59) und Meyer (vgl. Anm. 61). 47 Johann Christoph Männling: Der Europäische Helicon, Oder Musen-Berg/ Das ist Kurtze und deutliche Anweisung Zu der Deutschen Dicht-Kunst/ Da ein Lieb- habendes Gemüthe solcher Wissenschaft angeführet wird/ Jnnerhalb wenigen Wochen Ein zierliches deutsches Gedichte zu machen/ [...]. Alten Stettin 1704, S. 88. Männlings Helicon erschien erstmals 1685 und wurde noch 1719 nachge- druckt. Joachim Dyck, Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Ho- miletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Bd. 1: 1700-1742. Stuttgart-Bad Cannstatt 1996, S. 70. 48 “I. Tempus, dabey man zugleich den Winden und Lüfften unsern Freund befiehlt/ daß sie ihn führen/ da mit ihn weder Hitze noch Frost oder Unglück rühre. 2. Locus, a quo, per quem ad quem er reiset. 3. Comitatum, wer mit ihm zieht. 4. Officium, was er bedient etc. 5. Votum, daß GOtt selbst mit ihm aus- und ein- gehe/ und dessen Reise benedeyen wolle.” Männling (s. Anm. 47), S. 88.

Chloe 43 450 Fridrun Freise

Allerdings ist der Umgang mit dem topischen Muster in den sieben kasualen gedruckten Stammbüchern ausgesprochen schablonenhaft. Neubaur brandmarkt den Inhalt der Gedichte deshalb auch als “ziem- lich eintönig”.49 Der Eindruck der fortwährenden Repetition entsteht v.a., weil die genannten Versatzstücke nahezu ohne Kontextanpassung aneinandergereiht werden. Zwei kurze Einträge aus einem Druck von 1760 sollen dies verdeutlichen: Der Prosatext Johann Christoph Roßkampffs50 formuliert genau wie der nebenstehende Eintrag Johann Theodor Mühlbergs51 Gefühle und Wünsche in der Abschiedssituation:

AMICI SVAVISSIMI. Non miror, Vos eruditionis augendae causa iter meditari academicum: sed Vos quoque non admiraturos esse credo, me, Vobis discedentibus, ad vota precesque confugere. Pro ea itaque, quae nos intercedit amicitia, opto, ut DEVS T.O.M. studiis Vestris, in alma Pregelana continuandis, auxilio suo praesto esse, Vosque sanos, vegetes ac incolumes semper conservare velit. Joh. Christ. Roskampff, L.A.C.52

49 Neubaur (s. Anm. 21), S. 17. Neubaur spezifiziert seine Einschätzung als “Kla- gen, dass man des Umgangs vertrauter Freunde beraubt werde, und der Trost, dass die Trennung zu weiterer wissenschaftlicher Ausbildung notwendig sei. Da- neben gefällt sich wol auch jemand im Ausmalen studentischer Ungebundenheit, der Freuden und Leiden des akademischen Lebens.” 50 Roßkampff ist der 1742 geborene Sohn eines Elbinger ‘secretarius’. Nach dem Besuch des Elbinger Gymnasiums (Immatrikulation 1749 in VII. inf.) studierte er in Frankfurt (“iur. stud.“) und wurde, nach Elbing zurückgekehrt, dort ‘advoca- tus’, Sekretär des Wettgerichts, Justiz-Kommissar und Kanzlei-Inspektor. Vgl. Die Matrikel des Gymnasiums zu Elbing (1598-1786). Hrsg. von Hugo Abs. Nachdruck der Ausgabe Danzig 1936-1944. Hamburg 1982 (= Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen 49), S. 266 (1749, 35). 51 Der 1742 in Marienburg geborene Mühlberg immatrikulierte sich 1759 für die Prima am Elbinger Gymnasium, bevor er es 1762 verließ, um in Königsberg zu studieren. Vgl. Matrikel (s. Anm. 50), S. 285 (1759, 19). 52 APGd 492/1259, S. 77-92, S. 85. Übersetzung: “Liebste Freunde. Ich wundere mich nicht, dass Ihr über eine akademische Reise nachdenkt, um Euer Wissen zu vermehren. Aber ich glaube, dass Ihr Euch auch nicht wundern werdet, dass ich, weil Ihr weggeht, Zuflucht nehme zu Wünschen und Gebeten. Und so wünsche ich Euch infolge der Freundschaft, die uns verbindet, dass Gott der dreimal Größte und Beste Euren Studien, die Ihr an der Pregel-Universität fortzusetzen gedenkt, mit seiner Hilfe beistehen und Euch immer gesund, munter und wohlbe- halten erhalten möge.”

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 451

Roßkampff reißt in sechs Zeilen sechs der neuen extrahierten Haupt- versatzstücke an: Gelehrsamkeit (7) und Studienzeit (8) erwähnt er über den Wunsch, den Studienort zu wechseln und den Verweis auf die Königsberger Universität; dann nennt er an zentraler Stelle die Freundschaft (1) sowie die Abschiedssituation (3), die über die Zu- fluchtnahme (“confugere”) in Wünschen (9) den Trennungsschmerz (4) impliziert. In Mühlbergs Beitrag erscheint das bei Roßkampff schon knappe Gerüst noch mehr auf die basalen topischen Informatio- nen reduziert.

Freunde. Eur Abschied solte mir wohl billig einige Freundschaftsthränen auspressen. Allein wenn ich bedenke, daß eben durch diese Abreise Eure Glückselig- keit befördert wird: so kann ich Euch nichts mehr auf den Weg mitgeben, als dieses: Lebet wohl! J.T. Mühlberg, d.f.K.B. 53

Der aus den “Abschied” (3) resultierende Trennungsschmerz (4) und die bestehende Freundschaft (1) werden in dem Wort “Freundschafts- thränen” komprimiert. Selbst die im ersten Satz genannte Wendung vom ‘Tränen-Auspressen’ erweist sich als Formel. Sie findet sich in einem Gedicht Heinrich Ernst Gölls54 von 1761 in der Variante “die Liebe, die ich gegen Sie hege, presset mir einige Thränen aus”55 wie- der. Diese Repetition vermindert den Eindruck tiefen Gefühlsempfin- dens angesichts der Abschiedssituation, der durch die Auswahl der Aussagen hervorgerufen werden soll, und reduziert gleichzeitig die Vorteile, die die Wahl der prosaischen Textform in Hinblick auf Un- mittelbarkeit des Gefühlsausdrucks haben könnte.

Gleichzeitig erscheint in der Gesamtheit aller Beiträge auch das Re- pertoire antiker Anspielungen, das in den barocken Casualia u.a. dazu

53 APGd 492/1259, S. 77-92, S. 85. 54 Göll wurde 1744 in Darkehmen geboren. Er immatrikuliert sich 1757 für die Ter- tia am Elbinger Gymnasium, das er 1762 wieder verlässt. Ein Eintrag für 1763 findet sich in der Königsberger Universitätsmatrikel. Vgl. Matrikel (s. Anm. 50), S. 281 (1757, 39). 55 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 75. Die Formulierung “Lebet wohl!” (APGd 492/1259, S. 77-92, S. 85) und analoge Konstruktionen erweisen sich zudem im Kontext aller vorhandener Mühlberg-Beiträge als personenspezifische und be- wusst gebrauchte topische Formeln. Vgl. zu analogen Beispielen Anm. 82-84.

Chloe 43 452 Fridrun Freise genutzt wird, Variationsreichtum zu erzielen, deutlich vermindert und erschöpft sich mit plakativen Figuren wie z.B. Apoll, den Musen und dem Helikon.56 Auch hier ist die Integration der Versatzstücke in die Gedichte wenig kunstvoll. Die Bezeichnung ‘Musen’ steht oft einfach für die Elbinger Schüler oder Dozenten, der Helikon wird – etwa als ‘Pregelhelikon’, also die Königsberger Universität – als Metapher für eine Ortsbezeichnung verwendet.57 Auch die übrigen inhaltlichen Ergänzungen sind in den meisten Fällen minimal wie z.B. diejenige des Johann Christian Miritz,58 der die Bitte um Andenken mit der Bemerkung variiert, dass er von den Adressaten oft Post zu bekommen hofft.59 Mit einem jahreszeitlichen Verweis auf die Vogelzugzeit schmückt Wilhelm Meyer60 den Ein- gang seines Textes aus: Er fügt damit der Abschiedsszenerie die Inter- pretation zu, der Vogelzug sei “natürlich”, der Abschied von Freunden “schmerzlich”, beides aber “nothwendig”.61 Beide im Kontext der sie- ben kasualen gedruckten Stammbücher scheinbar originellen Einfälle speisen sich jedoch ebenfalls aus dem traditionellen gelegenheitstopi- schen Repertoire für Reisegeleitgedichte.62

56 Außerdem genannt werden z.B. Minerva (u.a. APGd 492/1259, S. 1-12, S. 5, S. 6 sowie S. 12), Apollo (APGd 492/1259, S.45-56, S. 48), ein Verweis auf Tele- mach (APGd 492/1259, S. 77-92, S. 81) sowie einen Zephir (APGd 492/1259, S.45-56, S. 46), der in einem Druck noch ansatzweise ‘ex loco circumstantiarum temporis’ zur Beschreibung des lieblichen Frühlings eingeführt wird. 57 Für den Helikon/Pindus/Parnass z.B. APGd 492/1259, S. 13-20, S. 19 (“Pindum Drusorum“), S. 19 (“Parnasso monte”); APGd 492/1259, S. 21-32, S. 22 (“Par- nassi”) etc.; für die Musen z.B. APGd 492/1259, S. 1-12, S. 11; APGd 492/1259, S. 13-20, S. 15, S. 17 usw. 58 Der 1742 in Elbing geborene Miritz schrieb sich 1749 am Elbinger Gymnasium ein (VII. sup.) und studierte ab 1762 in Helmstedt Theologie. Er bekam als Can- didat ein Stelle in Elbing, wo er 1774 verstarb. Vgl. Matrikel (s. Anm. 50), S. 265 (1749, 25). 59 APGd 492/1259, S. 1-12, S. 4 f. 60 Meyer, 1740 im preußischen Liebenau geboren, schrieb sich 1755 für die vierte Klasse am Elbinger Gymnasium ein. Die Königsberger Matrikel verzeichnet ihn 1760. Er verstarb 1762. Vgl. Matrikel (s. Anm. 50), S. 276 (1755, 12). 61 APGd 492/1259, S. 13-20, S. 18. 62 Vgl. z.B. [Balthasar Kindermann]: Der Deutsche Poët/ Dari[nn]en gantz deutlich und ausführlich gelehret wird/ welcher gestalt ein zierliches Gedicht/ auf allerley Begebenheit/ auf Hochzeiten/ Kindtauffen/ Gebuhrts- und Nahmens-Tagen/ Be- gräbnisse/ Empfah- und Glückwünschungen/ u.s.f. [...]. Wittenberg 1664, S. 567 f.: “§. 3. Solte der Abzug zur Zeit des Frülings geschehen/ so sagen wir Erstlich von der Zeit/ daß er sich alßdan weg mache/ da doch alles sehr frölich

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 453

Diese einfache, rasterhafte Struktur der meisten Beiträge in den be- trachteten Drucken63 bestätigt ausnahmslos das poetologische Wertur- teil, dass solche in der Masse der Laienschreiber entstandenen Casua- lia repetitiv, inhaltsarm und damit ‘schlecht’ sind. Während die meis- ten der hier dokumentierten Elbinger Gymnasiasten hin und wieder Texte auf genau diesem Niveau produzieren, ist ihnen die Krux dieser Situation gleichzeitig durchaus bewusst. Die folgende ausführliche Analyse fünf ausgewählter Einträge zeigt, dass die Schreiber klar re- flektieren, wie kritikwürdig ihr sozial gefordertes gelegenheitsliterari- sches Engagement unter literaturkritischen Gesichtspunkten ist. Als Ringen um Originalität lässt sich Gottfried Friedrich Reuß’64 Eintrag von 1761 interpretieren.65 Darin variiert der Elbinger Schüler das vorgegebene topische Muster, indem er es inklusive der üblichen guten Wünsche ex negativo durchführt: Da er über den Winter der Freund der Adressaten gewesen sei, wünsche er diesen nun, da sie ihn verließen, kein Glück, sondern vielmehr “alles mögliche Uebel” und “mißvergnügte[…] Augenblicke” von Beginn der Reise an. Jede an- dere Reaktion verstieße “wider [s]ein eigenes Herz”.66 Anschließend zählt Reuß unter den üblichen Kategorien Streben nach Wissen (7), Studienzeit (8) und Trennungsschmerz (4) diese Übel auf: Am Stu- dienort Königsberg möchten die Adressaten “verdrießliche Arbeit und beschwerliche Mühe”, “immerwährendes Studiren, eine Verleugnung aller Ergötzlichkeiten, ein lebendig Vergraben unter den Büchern,

ist. A. [...] Und letztlich bitten wir/ daß er mit Schreiben uns fleißig ersuchen/ und wie wir/ so auch er/ allzeit getreu verbleiben wolle.” 63 Gerade unter den längeren Gedichten gibt es allerdings auch wenige Ausnahmen wie z.B. die “Fabel” über “Die jungen Bäume” von Gottfried Friedrich Reuß, die den Sinn einer neuen qualitativ hochwertigen Lernumgebung für den Entwick- lungsgang eines jungen Menschen expliziert. APGd 492/1259, S. 77-92, S. 83 f. 64 Der 1741 geborene Elbinger Reuß immatrikulierte sich 1756 für die Quarta, stu- dierte ab 1761 in Königsberg und war ab 1777 in verschiedenen Elbinger Ge- meinden als Pastor tätig, zuerst in Reichenbach, ab 1784/85 in Groß Mausdorf, ab 1788 in der Elbinger Stadtkirche St. Annen. Er starb 1811. Vgl. Matrikel (s. Anm. 50), S. 277 (1756, 6). 65 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 48-50. Reuß spielt mehrfach nachweislich mit den vorgegebenen Mustern. Auf den Ersatz des topisch gebräuchlichen Versatzstücks der freundschaftlichen Beziehungen zwischen Adressaten und Verfasser durch bloß höfliche wurde schon hingewiesen. APGd 492/1259, S. 33-44, S. 42. 66 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 48.

Chloe 43 454 Fridrun Freise kurz ein halbes Klosterleben” erwarten.67 Dieses solle nie durch die Ergötzungen der Studienzeit erheitert werden, zu denen “zechende Brüderschaften berühmter Renomisten” zählten sowie “glückliche[…] Stunden”, in denen sie “einen bey seiner Dulcinea schmachtenden Don Quixotte vorstell[t]en”, das “Ergötzen” nach einer durchzechten Nacht, in einer Wachstube aufzuwachen oder den harmonischen Auf- prall einer “Rauferklinge” auf Stein zu hören usw.68 Nach diesen Mü- hen solle man die Adressaten immer noch nicht ruhig leben lassen, sondern sie möchten “zu grössern Aemtern gezogen werden”.69 Mit der Schlusswendung zu seinen Wünschen – “Solte derselbe er- füllet werden, so würde niemand mehr Freude darüber empfinden”70 als er selbst – wendet Reuß seine klischeehafte Aufzählung zum Gu- ten. Alle Wünsche sind gerade so formuliert, dass sie auch positiv ver- standen werden können: Er wünscht den Adressaten nicht, nie Liebe zu empfinden, sondern sich nicht als “Don Quixotte” lächerlich zu machen;71 er wünscht ihnen nicht, nie fröhliche Ausschweifungen zu erleben, sondern dass sie die mögliche Konsequenz, vom Alkoholge- nuss nicht erinnerungsfähig zu sein und sich von den Wachen aufge- griffen zu finden, nicht erleben mögen und so fort. Die Mühen des Lernens, die er für die Adressaten herbeizitiert, sind gleichzeitig be- liebte Lobeshymnen für erfolgreiche und anerkannte Gelehrte.

67 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 49. 68 Ebd. 69 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 50. 70 Ebd. 71 Der Kontext, in dem Don Quijote erwähnt wird, legt nahe, dass Reuß den älteren Rezeptionsfokus von Don Quijote als satirischer und damit lächerlicher Figur an- zitiert. Jürgen Jacobs: Don Quijote in der Aufklärung. Bielefeld 1992 (= Aisthesis Essay 1), S. 15. Zu einem Wandel in der Don Quijote-Rezeption wäh- rend des 18. Jahrhunderts zu einem anthropologischen und damit positiverem Verständnis vgl. ebd., S. 20-31 sowie Manfred Tietz: Don Quijote und der Auf- klärungsdiskurs. In: Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote. Hrsg. v. Christoph Strosetzki. Berlin 2005, S. 273-299, hier u.a. S. 283 f. Auf jeden Fall hat sich Reuß mit diesem Verweis eine sehr po- puläre literarische Figur herausgegriffen, die nicht nur über den Originalroman greifbar war, sondern auch in diversen Adaptationen wie z.B. Neugebauers deutschsprachigem Don-Quijote-Roman. Vgl. Jacobs (s.o.), S. 14 f. sowie Wil- helm Ehrenfried Neugebauer: Der teutsche Don Quichotte oder die Begebenhei- ten des Marggraf von Bellamonte. Komisch und satyrisch beschrieben (1753). Hrsg. von Lieselotte E. Kurth und Harold Jantz. Berlin; New York 1972 (= Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts. Reihe Roman 1).

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Reuß’ Beitrag spricht für den Wunsch, die Konvention deutlich ab- zuwandeln und etwas ‘Originelles’ zu schreiben. Dabei bleibt er aller- dings funktional eng im Rahmen eben dieser sozial vorgegebenen Konvention verhaftet. Inhaltlich außergewöhnlich einfallsreich inszeniert sich im zweiten Beispiel Johann Christian Silber72 in einem Druck von 1759, indem er eine Traumsituation schildert, in der ihm ein Greis den Abschied von seinen Freunden prophezeit.73 Der Alte führt den Schreiber in eine Bibliothek und lässt ihn einen Blick in einen Almanach mit Klage- schriften tun – wohl ein Konvolut konventioneller Kasualschriften, wie der Inhalt andeutet: Die Drausenmusen müssen in dem fiktiven Text die der Minerva eingeschworenen Kommilitonen verabschieden, die scheidenden Freunde segnen den Betrübten. Der Schreiber ist im Traum vor Trennungsschmerz fast bis zur Ohnmacht betrübt.74 Damit reflektiert Silber zwei Schlüsselmomente, die aus legitimatorischen Gründen für die Elbinger Gelegenheitheitspoeten zentral sind: Erstens reflektiert Silber den konventionellen Gestus der gesammelten Gele- genheitsschriften, statt diesen wie die meisten nur zu variieren, und zitiert z.B. typische Gedichtinhalte von Propemptika, die sich in dieser Form noch immer in den poetischen Beiträgen der kasualen Stamm- buchdrucke finden: Der Antikenverweis (hier Minerva) und das poeti- sche Substitut “Drausenmusen” für die Angehörigen des Gymnasiums

72 Der 1742 in Elbing geborene Silber immatrikulierte sich erstmals 1747 (VII. inf.) am Elbinger Gymnasium, wohin er 1756 nach dem Besuch einer Königsberger Schule zurückkehrte; nach 1760 studierte er in Göttingen und Straßburg Jura. In Elbing wurde er Notar, später Stadtrat und verstarb 1800. Vgl. Matrikel (s. Anm. 50), S. 262 (1747, 6) sowie S. 278 (1756, 29). 73 APGd 492/1259, S. 1-12, S. 5 f. 74 APGd 492/1259, S. 1-12, S. 5 f.: “Jch sahe mich ohngefehr im Schlaf um, [...] Kaum hatte ich mich umgekehret, so erblickte ich – – o Schrecken! – – einen al- ten Greis, dessen Haupt durch die lange Zeit mit einem schneeweissen Haare be- deckt war; dieser redete mich mit folgenden Worten an: Komme, ermüdeter Jüngling, und folge mir nach. Jch ging mit, und wurde von ihm in eine ansehnli- che Bibliothek geführet, wo ich den Almanach zuerst sahe. Hier zeigte mir der ehrwürdige Greiß eine Klage-Schrift, dieses Jnhalts: Jhr mitleidenswürdigen Musen auf Drausens blühendem Helicon müsset jetzo drey, zu der Fahne der Minervä geschwornen Söhne, Abschied nehmen sehen. Hiebey erwachte ich für Betrübniß; und es fehlete nicht viel, so hätte mich eine Ohnmacht zu Boden ge- worfen, als ich drey, meiner besten Freunde, um das Bett, mich zu segnen, stehen sahe. – – Jch erschrack! – – und konte für weinen nicht mehr sagen, als dieses: Leben Sie wohl!”

Chloe 43 456 Fridrun Freise gehören in der gesamten Frühen Neuzeit zum festen lokalen Einfalls- inventar.75 Durch die Integration der Kasualdichtungstradition in den Prosabeitrag eines gattungstechnischen Variantendrucks in Stamm- buchform wird die Überreichungssituation so nicht nur reflektiert, sondern zweitens gleichzeitig überholt. Diese Überwindung wird im Text dadurch symbolisiert, dass der Schreiber in seinem fiktiven Traum von Trauer überwältigt zusammenbricht und damit das zeitge- nössische empfindsame Gefühlsprimat76 in der kasualen Situation dem klassischen Ehrbeweis durch das Gedicht vorordnet. Die vom litera- turästhetischen Standpunkt aus sehr übertriebene Darstellung der Ge- fühle lässt sich zum einen als schülerhafte dichterische Unvollkom- menheit deuten, zum anderen aber auch als ironische Übersteigerung der anlässlich solcher Abschiede gelegenheitsdichterisch zelebrierten Gefühlskultur, die den Freundschaftsaspekt in den Mittelpunkt der Gedichte rückt.77 Silber hier poetologisches Reflexionsvermögen zuzutrauen, ist durchaus nicht abwegig, wenn man die wieteren Ein- träge berücksichtigt, die eindeutig zur Kasualdichtungspoetik Position beziehen. Während Silber die generelle Praxis beschreibt, hat Johann Theodor Mühlberg in einem Beitrag von 1761 seine eigene Rolle als Kasual- dichtender im Blick.78 Er beginnt topisch konventionell mit der Nach- richt von dem bevorstehenden Abschied der Freunde und dem daraus resultierenden tiefen Trennungsschmerz,79 wendet sich zwei Sätze spä- ter allerdings seiner Zwangssituation als Gelegenheitsschreiber zu: Obwohl ihm nicht danach sei, müsse er um der Konvention genüge zu

75 Das Attribut “Drausen-” bzw. seine latinisierten Formen werden gerne mit Orten, Personen und Institutionen aus Elbing gekoppelt, da die Stadt in der Nähe des Drausensees gelegen ist: z.B. in BUT Pol.7.II.1958: CUPIDINIS Triumphs- Bogen. Auff den Hochzeitlichen Freuden-Tag Des [...] Hn: Achatz Corellen/ Vornehmen Bürgers Bräutigams/ Mit Der [...] Fr: Anna Graszhoffin/ [...] von Samuel Land/ D.H.S.G. [...]. [s.l.]: [s.p.] (1658), fol. 2v: “Drausen-Stadt”. 76 Vgl. dazu für einen neueren Überblick: Gefühlskultur in der bürgerlichen Aufklä- rung. Hrsg. von Achim Aurnhammer, Dieter Martin und Robert Seidel. Tübingen 2004 (= Frühe Neuzeit 98). 77 Vgl. z.B. die vorgestellten schematischen Beispiele aus Anm. 52 und 53, die das Gefühl in rhetorischen Versatzstücken umsetzen. 78 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51 f. 79 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51: “Nihil magis sollicitum me habet, quam cum compererim, quemquam Vestrum abhinc commigraturum esse.” – Übersetzung: “Nichts bekümmert mich in höherem Maße, als da ich sichere Nachricht erhalten habe, dass irgendjemand von Euch von hier hinwegziehen wird.”

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 457 tun, dichten. Dies – also nicht nur der Kummer um den Verlust der Freunde – nehme ihn völlig ein.80 Er beschreibt dann sein vorheriges dichterisches Handeln, bei dem er zwar Ideen empfangen und gehegt, in der Ausführung jedoch nur das oft Gebrauchte bzw. Abgenutzte aus den denkwürdigen Gedanken früherer Dichter verwandt habe.81 Dem- nach ist klar, dass Mühlberg seine Erfindungsgabe realistisch auf ei- nem epigonenhaften Niveau einschätzt und reflektiert, dass er nur tra- ditionelle, schon oft verwandte topische Schemata kopiert. Es folgt ein in den Beitrag integriertes Gedicht, das die beschriebenen Gemein- plätze aufnimmt:

Migrate auspicato! Vivite felices! Valete & redite pancratice! Gratulor. Cum & ego officium nunc meum Vobis detrectare nequeam; scribam ergo morem servaturus: Ite; redite, pium conclamo: gratulor. Este Pingues doctrinis, sed non sine pectore, ventres. I.T. Mühlberg.82

80 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51: “Alia sane causa me maxime tenet anxium. Scribendum est aliquid ex consuetudine nostra, cum tamen scripturiendi in me pruritus sit nullus.” – Übersetzung: “Ein anderer Umstand freilich beunruhigt mich in höherem Maße. Es muss etwas nach unserem Brauch geschrieben wer- den, obgleich jedoch kein Anreiz, gern schreiben zu wollen in mir ist.” Die Wahl der zweideutigen Vokabel ‘pruritus’ für den Schreibanreiz deutet darauf hin, dass Dichten als etwas Triebhaftes, auf basale Empfindungen Verweisendes gesehen wird. 81 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51: “Ante trimestre, immo semestre, partum in ingenio impolito ac plane indocili concepi, fovi, alui, & cum maturuerit, ex sententis majorum exclamavi illud tritum:” – Übersetzung: “Drei Monate vorher, ja sogar ein halbes Jahr [vorher], habe ich das in dem unausgebildeten und gänz- lich unerfahrenem Erfindungsgeist Geborene aufgefangen, gehegt, genährt und sobald es herangereift war, habe ich jenes oft Gebrauchte aus den denkwürdigen Gedanken der Vorfahren ausgerufen.” 82 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51 f. Übersetzung: “Zieht unter günstigen Umstän- den weg! Lebt glücklich! Lebt wohl und kehrt kerngesund zurück! Ich gratuliere. Und da ich nun nicht im Stande bin, Euch meine Ehrenbezeigung zu verweigern, werde ich beim Schreiben also Rücksicht auf diese Sitte nehmen: Geht; kehrt zurück, rufe ich pflichtgemäß aus: Ich gratuliere. Seid Mägen fett mit Lehren, aber nicht ohne Herz.” Das ‘Herz’ (‘pectus’) wird hier als geistig-seelische Komponente interpretiert, die z.B. für Freundschaft notwendig ist, und die den wissenschaftlich-geistigen Aspekt ergänzt, den die das Wissen verdauenden Mägen (‘ventres’) symbolisieren.

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Damit präsentiert Mühlberg den Adressaten der zuvor geäußerten Problemlage zum Trotz ein – wie er auch schreibt – der Konvention entsprechendes Kasualgedicht. Darüber setzt er in einem zweiten Rahmen den reflexiven Akt der Einschätzung seines eigenen Tuns. Auf einer dritten, intertextuellen Ebene bezieht sich Mühlberg mit die- sem ‘Gedicht’ außerdem tatsächlich auf früher von ihm verfasste Pro- sabeiträge. So ähnelt der Wortlaut eines französischen Prosatextes, den Mühlberg 1759 auf die Abreise dreier Kommilitonen nach Göttin- gen verfasste, passagenweise bis in die Satzstruktur der lateinischen Variante.

En verité, je n’ai pas eu l’honneur de converser long tems avec VOUS. [...] Mais comment je la pourrois mieux temoigner, qu’en VOUS souhaitant sur VOTTRE de part touttes fortes de prosperité. Partez heureux. Vivez con- tent. Aimez la vertu & souvenez VOUS de celui qui VOUS aime parfaite- ment & qui se nomme [....] Jean Theodor Muhlberg, Marieb.83

Insbesondere die auch in expliziter Wiederholung in das Gedicht auf- genommenen Glückwünsche für eine gute Reise, glückliches Leben und glückliche Rückkehr sind identisch. Ein weiterer französischer Beitrag von 1760 variiert schon bewusst diese erste Version.84 In sei- nem aktuellen Text nutzt Mühlberg offensichtlich die Situation des Beitrag-Recyclings, um gerade über die am Gelegenheitsschrifttum kritisierte bloße Repetition von Einfällen zu reflektieren und verbindet so die Ausübung einer abgewerteten topischen Struktur mit der Dich- tungsreflexion, um sein Gedicht aufzuwerten. Das zu bewertende Plus scheint hier v.a. die formulierte Einsicht auszumachen. Die Anzahl der ebenfalls poetologische Fragen anreißenden Texte in den sieben ge- druckten Stammbüchern zeigt allerdings, dass Dichtungsreflexion auf dieser Ebene und in diesem Kontext gleichfalls schon topisch gewor- den ist. Der Versuch, die offenbar negativ konnotierte Konvention zu um- gehen, findet sich in den sieben kasualen Stammbuchdrucken noch

83 APGd 492/1259, S. 1-12, S. 12. 84 APGd 492/1259, S. 21-32, S. 32: “Je ne suis pas encore revenû de la tristesse, que m’a causé le départ de quelques-uns de nos amis, [...] Partés donc heureux, jouissés tôujours de la plus parfaite prosperité & souvenés Vous de celui, qui ne cessera jamais d’être Vôtre | [...] J.T. MÜHLBERG, de Marienbourg.”

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 459 mehrfach. Carl Ludwig George von Trauen und Johann Christoph Roßkampff thematisieren dabei noch stärker als Mühlberg den Gele- genheitsdruck als hohle konventionelle Form. Von Trauen beklagt dabei in der selben Schrift wie Mühlberg die pflichtgemäße Übergabe kasualer Wünsche als opportunistischen Akt:

Es ist zu beklagen, wenn Schmeichler sich zu Wünsche [!] zwingen, die doch nichts mehr sagen, als daß sie etwas ohne Einwilligung des Herzens thun wollen. Wären unsere Seelen blosse Geister und von den Verbindun- gen mit dem Körper frey, so könte eine der andern ihre Gedanken lesen, und das Gebot der Aufrichtigkeit würde vergebens seyn. Glauben Sie mir, meine Herren, daß ich ein abgesagter Feind solcher Zweydeutigkeiten bin, und nur deswegen diese Moral vorausgesetzet, um Sie zu überzeugen, daß Sie die rechten Empfindungen meines Herzens sich versprechen können.85

Gegen dieses Verhalten bloßer ‘Schmeichler’, deren Gefühlsbekun- dungen unaufrichtig seien, setzt er die wahre aufrichtige Empfindung von Seele und Herz, von deren Rechtschaffenheit er die Adressaten für sein Gedicht im Gegensatz zum üblichen Kasualcarmen zu über- zeugen versucht. An die Kritik am sozialen Ort der poetischen Praxis knüpft von Trauen eine Polemik gegen die Überbleibsel einer noch praktizierten inventio-Poetik an, indem er die poetische Erfindung auf Basis anlassgebundener und antik-mythologischer Versatzstücke iro- nisch vorführt:

Sie verlassen uns jetzt, um Jhre Begriffe mehr zu entwickeln und Jhre Fä- higkeiten vermittelst der Wissenschaften, des Nachsinnens, der Kenntniß der Welt und der Erfahrung zu mehrerer Vollkommenheit zu bringen. Solte mich dieses zu klagen auffordern, oder dahin vermögen, daß ich zum Par- naß laufe und ihn mit einem verwegenen Geschrey quäle: weil die Musen ungerecht mit ihren Drusiadens-Söhnen umgehen? Uebertriebene Eitelkeit, die sich durch nichts rechtfertigen läst! [...] Jch aber kann unter vielen ge- künstelten Versicherungen nicht mehr heraus bringen, als dieses: ich bin [...] Meine Herren Jhr aufrichtiger Freund C.L.G.v. Trauen, d.f.K.B.86

85 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 50 f. 86 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51.

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Von Trauen verwehrt sich hier gegen die für das Abschiedsgedicht herausgearbeiteten typischen Trennungsklagen, indem er die Dich- tungshandlung durch traditionell-topisches Vokabular karikiert: Das rhetorische Bild vom Erklimmen des Parnaß’ beim Verfassen guter Dichtung wird zum ‘Hinlaufen’ degradiert und die Poesie als ein “ver- wegenes Geschrey” abqualifiziert, das am Parnaß, dem Ort guter Dichtung, nur quälen kann. Genauso überzeichnet er die Abreisekla- gen über die Ungerechtigkeit der Musen, die die Adressaten der Wis- senschaften wegen nach Königsberg ziehen und somit die verbleiben- den “Drusiadens-Söhne”87 am Elbinger Gymnasium schlecht behan- deln, weil sie ihnen die Gesellschaft der Adressaten entziehen. Die “[u]ebertriebene Eitelkeit” und der Inbegriff der Künstelei, alltägliche Gelegenheiten poetisch so antiquiert aufzubauschen, visualisieren sich in den barocken Ausdrücken. Eine solche, häufig auftretende Unver- einbarkeit zwischen den Ansprüchen des Anlasses und der Angemes- senheit der Form von Gelegenheitsgedichten ist ein im poetologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts oft angesprochenes Grundproblem, vor dem z.B. auch Basedow in seinem Lehrbuch warnt und rät, in solchen Fällen besser auf das Dichten zu verzichten.88 Von Trauen selbst redu- ziert schließlich die angemessene und wahrhaftige Essenz seines Bei- trags auf die Versicherung aufrichtiger Freundschaft in der Unter- schrift. Damit findet er für sich die Option, seinen Beitrag durch die dahinter stehenden wahren freundschaftlichen Gefühle zu legitimieren und ihm dadurch Wert zu verleihen. Das außerliterarische Konzept dient hier explizit als Ersatz für poetische Potenz. Von Trauen ist nicht der einzige Verfasser in den kasualen Stammbuchdrucken, der in die- ser Weise wertschaffend für das eigene Gelegenheitswerk argumen- tiert. Neben vielen angedeuteten Verweisen findet sich v.a. im selben Druck noch ein Beitrag von Johann Christoph Roßkampff, der sogar

87 Vgl. Anm. 75. 88 Basedow (s. Anm. 1), S. 621: “§. 303. Von Gelegenheitsgedichten. [...] Was kann man an Neujahrs- Geburts- Namens- und Gedächtnißtagen, bey gewissen Hochzeiten, Sterbefällen, Beförderungen und Jubiläen für Gutes sagen, wenn die Personen, die es angeht, nicht von hohem Werthe sind, oder ein dankbares und zärtliches Herz nicht etwas erfindet, das es auch sonst hätte sagen können? Man muß alsdenn entweder der Versuchung, Verse zu machen, widerstehen, oder sei- nen poetischen ehrlichen Namen verlieren, oder von ganz etwas anders als seinen Helden reden, und doch auf den Titel setzen: Bey dem Grabe des Hrn. N.N. Jn den Bremischen Beyträgen und verm. Schriften sind sehr schöne Gelegenheits- gedichte anzutreffen. Aber die Gelegenheiten waren es auch werth.”

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 461 ebenfalls den Gegensatz von formal-topischer, die überlebte Gattung charakterisierender Bildlichkeit, und aufrichtiger Freundschaft nutzt.89 Roßkampff ist auch derjenige, der 1761 in einem Abschiedsdruck auf Daniel Reinhold Rhode, Gottfried Friedrich Reuß und Carl Lud- wig George von Trauen das ausführlichste Gegenkonzept zur über- kommenen kasualen Dichtungstradition entwickelt.90 “Es ist ein schriftstellerisches Geziere, so schon ziemlich alt ist, den Abschied einiger Freunde mit Klagen zu verfolgen”91 beginnt er offensiv seinen Gelegenheitstext. Die Wendung “mit Klagen [...] verfolgen” evoziert beim Leser ein ähnlich ironisches Bild von der Praxis, Propemptika zu verfassen, wie von Trauens verwegenes Geschrei auf dem Parnaß.92 Die schon “ziemlich alt[e]” Tradition brandmarkt Roßkampff denn auch als “schriftstellerisches Geziere”, wobei es kein Zufall sein dürfte, dass er hier auf den Begriff Schriftsteller rekurriert, den der Zedler zunächst als “alle diejenigen, welche Schrifften oder Bücher aufgesetzet haben”93 definiert, ohne sofort nach qualitativem Anspruch zu unterscheiden. Dann wendet er den gerade noch kritisierten Rahmen der Schreib- situation für sich ins Positive, indem er versucht, dem kasualliterari- schen Brauch einen neuen Sinn zu unterlegen:

So abgebraucht aber diese Gewohnheit ist: so vortheilhaft kann sie werden, wenn man in Umstände gesetzt wird, wo man nicht so gleich neue Gedan- ken hat, die Abreise einiger Freunde, und den Schmerz, den man dabey ausstehen muß, lebhaft abzuschildern; und überhaupt ist es doch nothwen- dig, daß es gedruckt geschiehet.94

Die Wahl des Wortes “Gewohnheit” für den negativen Ist-Zustand im- pliziert, dass hier etwas ohne nachzudenken ausgeübt wird, das Attri- but “abgebraucht” eliminiert zusätzlich den Eindruck von Wirksam- keit. Demgegenüber hebt Roßkampff originelle Einfälle (“neue Ge-

89 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 52. Das Argumentationsmuster ist überregional beliebt. Eine Verweisstelle aus Leipzig findet sich z.B. bei Leighton (s. Anm. 5), S. 353. 90 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69 f. 91 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69. 92 Vgl. Anm. 86. 93 Art.: Scribenten, Schrifftsteller, Scriptores. In: Grosses vollständiges UNJVER- SAL LEXJCON [...]. Bd. 35. Leipzig; Halle 1743, Sp. 715-718, hier Sp. 715. 94 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69.

Chloe 43 462 Fridrun Freise danken”) und v.a. die schon durch von Trauen95 sowie von ihm selbst96 propagierte Technik hervor, die freundschaftlichen Gefühle in der Ab- schiedssituation so lebensnah wie möglich zu verbalisieren. Der Aus- druck “lebhaft ab[...]schildern” steht hierbei zum einen plakativ als ‘natürlicher’ Gegensatz zu der als “Geziere” abqualifizierten altherge- brachten rhetorischen Poesie. Zum anderen zitiert der Elbinger Gym- nasiast damit ein poetologisches Schlagwort, das auf ein empirisch- abbildendes, aufklärerisches Dichtungskonzept verweist.97 Der Ver- such einer, nach demonstrativischer Lehrart entworfenen, Anleitung zur Poesie der Deutschen des Königsberger Wolffianers Daniel Hein- rich Arnoldt definiert das “Hauptwerk eines Gedichtes in der lebhaf- ten Vorstellung”98 sowie Lebhaftigkeit als Teil dichterischen Selbst- ausdrucks99 und macht folglich den guten Dichter von einer gut ausge- bildeten “Einbildungskraft” abhängig, die ihn zur ‘lebhaften Abschil- derung’ befähigt.100 Damit erhebt Roßkampff für ein kasuales Werk, das den Kriterien von ‘lebhafter Abschilderung’ und Wahrhaftigkeit entspricht, implizit den Anspruch, dass diesem der Status ‘Dichtung’

95 APGd 492/1259, S. 45-56, S. 50 f. 96 Vgl. Anm. 89. 97 Vgl. dazu Gunter E. Grimm: Letternkultur. Wissenschaftskritik und antigelehrtes Dichten in Deutschland von der Renaissance bis zum Sturm und Drang. Tübin- gen 1998 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 60), S. 284. 98 “§. 8. Ein Gedichte bestehet aus zwey wesentlichen Stücken, der innern Beschaf- fenheit und äussern Gestalt. Jene bestehet in einer lebhaften, auch wol [!] beweg- lichen Vorstellung der Sache; diese in der Wahl und Einschränkung der Worte in Ansehung der Töne oder der gebundenen Rede. (§. 2.) An jener ist ohnstreitig mehr gelegen, denn an dieser; jene macht also gleichsam die Seele, diese den Leib des Gedichtes, keine aber allein ein Gedichte (§. 4.) aus.” Arnoldt (s. Anm. 23), S. 2 f. Ein Hinweis auf die dezidierte Umarbeitung des Arnoldtschen Lehrbuchs in Hinblick auf die Wolffsche Grundlegung findet sich bei Grimm (s. Anm. 97), S. 265. 99 “§. 456. Wenn dasjenige aber, so uns beweget, nicht andern, sondern uns selbsten begegnet, so sucht man durch die Beschreibung seines Affectes öfters nicht mehr, als nur sein Herz durch eine lebhafte und ausführliche Vorstellung dessen, was in uns vorgehet, zu erleichtern; wie denn die Anrede zuweilen gar an leblose Dinge geschiehet, so weder unsere Vorstellung fassen, noch auf irgend einige Art da- durch beweget werden könne.” Arnoldt (s. Anm. 23), S. 120. 100 “§. 18. Bestehet nun aber das Hauptwerk eines Gedichtes in der lebhaften Vor- stellung (§. 8. 10.), so bedarf der Poet vor allen Dingen, eben sowol als der Mah- ler (§. 14.), eine starke Einbildungskraft, damit er dasjenige, was er nach dem Le- ben bilden und nachahmen (§. 11.) will, vorhero ihm selbsten als gegenwärtig und nach dem Leben vorstellen könne.” Ebd., S. 5.

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 463 zuzuerkennen ist, und plädiert damit für einen Qualitätsstatus. Diese Aufwertung macht die Forderung nach der Abschaffung des Gelegen- heitsdrucks nicht nur unnötig, er kann die Sitte sogar als “nothwen- dig” deklarieren. Dabei bestimmt er nur eine Ausnahme: “Nur dieses ist zu beklagen, daß die Abreisenden [!] Herren im voraus schon wissen, was man ich- nen sagen wird, und doch bringt es das ewige Geziere so mit sich.”101 Auch hier wird letztlich der Mangel an Originalität beklagt. Die In- halte der Abschiedsdrucke sind – wie oben gezeigt – vorhersehbar. Daran knüpft Roßkampff den Aufhänger zu seinem eigenen, bewusst individuellen Beitrag an – er will mit einem Einfall, den er auf eigen- ständiges Nachdenken zurückführt, einen Weg aus dem Dilemma wei- sen: “Wie leicht hat mir diese Vorstellung auf den Einfall gebracht, einmal hierüber in Eifer zu gerathen: und solte mein Eifer Ueberle- gung bey andern zuwege bringen; so wird der Nutzen, den ich mit pat- riotischen Herzen wünsche, mich stolz machen.”102 Die Darstellung der angeblichen Originalität seines Auswegs wird dadurch betont, dass er erstens emotional mit “Eifer” bei der Sache ist und zweitens auf Multiplikatorenwirkung hofft, die mit dem gleichen Stolz und “patriotischem Herzen” beschrieben wird wie sonst politische und gelehrte Verdienste für die Vaterstadt Elbing.103 Die Möglichkeit, dass seine Vorschläge nicht zur Geltung kommen könnten, zieht er in Betracht, entkräftet eine solche Gegenmeinung aber gleichzeitig damit, dass er sie als Verhalten von “Thoren” einord- net, von denen man die Zustimmung aus angeborenem Unverstand nicht erwarten könne. Den Leser vereinnahmt er mit der Behauptung, dass Leute, die Nachdenken könnten, in diesem Fall sofort “Besse- rung” ihres bisherigen Verhaltens versprächen und damit natürlich die einsichtigste und liebste (“vornehmste”) Rezipientengruppe für ihn bildeten.104 Roßkampff zitiert als Beleg für das Verhalten von Toren

101 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69. 102 Ebd. 103 APGd 492/1259, S. 33-44, S. 34 (“studiisque Tuis in spem Patriae”); APGd 492/1259, S. 77-92, S. 87 (“[...], damit Sie durch Jhren angewandten Fleiß und eifrige Bemühungen dem Vaterlande dermaleinst ersprießliche und heilsame Dienste zu leisten, bald geschickt werden mögen.”). 104 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69 f.: “Es ist aber auch möglich, daß meine Vor- schläge mit der größten Gleichgiltigkeit übersehen werden. Denn wie oft ist die Warnung eingetroffen: | Jhr Freunde, straft die Thoren nicht, | Es bessert sie kein Strafgedicht, | Jhr predigt tauben Ohren. | Sie deuten keinen Spott auf sich. |

Chloe 43 464 Fridrun Freise ein bekanntes Lied.105 Mit seiner sinnvollen Lehrabsicht begründet er seine Tätigkeit im kasualen Rahmen, den er ja gleichzeitig als “abge- nutzt” gebrandmarkt hat, als positiv:

Bin ich also nicht genug gerechtfertiget, daß ich mich bey dieser Gelegen- heit den abgenutzten Gebrauch dieser Art Schriften zum Vorwurf erwählet habe. Und meine Herren werden an dem grossen Nutzen Antheil nehmen, den ich dadurch zu stiften hoffe. Diejenigen, die diser Vorschrift folgen, werden Jhres Andenkens sich erinnern, daß Sie Gelegenheit gegeben ha- ben, einen patriotischen Eiferer zum Nutzen der lernenden Nachwelt zu reitzen. Und auf solche Art werde ich, meine Herren, Jhren Beyfall fortge- pflanzt zu haben mir versprechen können.

Roßkampffs Neuerungsversuch ist eine Form der Gedächtnisstiftung, die sich nicht im Memorial-, sondern im angewandten Nutzwert be- greift; die Gelegenheit des Abschieds wird dadurch vom leeren forma- len Anlass zum sinnvollen Anstoß für Roßkampffs nutzbringende Ab- handlung transformiert. Die anlassgebundene Situation wird entbio- graphisiert und für ein allgemeingültigeres Bildungsprogramm instru- mentalisiert, was Roßkampff dazu anregt, seinen eigenen Aufwer- tungsversuch auf eine allgemein-poetologische Ebene auszuwieten:

Drum macht sie niemahls lächerlich. | Nein, pfeift sie aus, die Thoren! | Der Thor blieb ewig unbekannt, | Verzieh man seinen Unverstand, | Er ist ihm angeboren. | Der ehrt die Herren schon zu viel, | Der sie berühmter spotten will. | Drum pfeift sie aus die Thoren! | Jch will nicht vermuthen, daß man glauben wird, ich halte alle meine Gegner für Thoren. [...] Jch weiß, daß Thoren sich, vermöge des Sat- zes des Widerspruchs, nicht bessern können, und mit denen rede ich auch nicht; sondern Leute, die zur Ueberlegung geschickt sind, versprechen mir schon von wietem Besserung, und diese sind die vornehmsten Gegenstände meiner Ermah- nungen.” 105 Das belegen zwei Lieder mit dem Titel Das Privilegium in Max Friedlaenders Liedersammlung für das 18. Jahrhundert, von denen eines textnah und eines text- gleich ist. Allerdings datiert Friedlaender den Erstdruck der Johann Friedrich Löwen zugeordneten, textgleichen Variante auf 1765: “Jhr Freunde, straft die Thoren nicht, | Es bessert sie kein Spottgedicht, | Jhr predigt tauben Ohren. | Sie deuten keinen Spott auf sich, | Drum macht sie niemals lächerlich, | Nein, pfeift sie aus, die Thoren!” Max Friedlaender: Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert. Quellen und Studien. Bd. 2: Dichtung. Stuttgart, Berlin 1902, S. 526. Roßkampff präsentiert noch eine zweite Strophe. Einen sehr ähnlichen Liedtext aus der Feder von Nicolas Dietrich Giseke bestimmt Friedlaender mit dem Erstdruckjahr 1748. Vgl. ebd. S. 45 f.

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 465

Ja man wird diese wichtige Epoche nennen, wenn man in Verbesserung der prosaischen und poetischen Wünsche bey Abreisen einiger Freunde sinn- reiche Erfindungen, kurze doch wohlausgeführte Arbeiten, und andere ge- meinnützige Untersuchungen dem Publico mittheilen wird.106

Der hier im Anschein des Originellen präsentierte Gedanke ist an sich wieder ein poetologischer Gemeinplatz, der im Kontext der gymnasia- len und akademischen Schreibanleitung gelehrt wurde. So plädiert z.B. Arnoldt in seiner Poetik dafür, in Gedichte Passagen zu integrie- ren, die den Leser bessern.107 Basedow geht in seiner speziell auf den gymnasialen Kontext ausgerichteten108 Lehrpoetik sogar noch weiter und fordert den “Nutzen” des Gedichts als basale Grundvorausset- zung.109 Die Forderung nach dem Nutzwert findet sich auch im Kon- text der Rechtfertigungsdiskussion um Kasualdichtung. Segebrecht kann z.B. zeigen, dass Johann Jakob Dusch in seinen Briefen zur Bil- dung des Geschmacks noch 1767 dafür plädiert, Gelegenheits- und Lehrgedicht zu kombinieren.110 Als Resultat der visionär entworfenen Leistung seines Beitrags un- terschreibt Roßkampff schließlich: “Jch bin mit einer Autorhaften [!] Sorgfalt | [...] | Jhr | aufrichtigster Freund | Joh. Christoph Roß- kampff.”111 Mit der Selbstzuordnung des Autorhaften grenzt er sich

106 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 70. 107 “§. 409. Uebrigens, so muß man auch bey dieser Art der Gedichte keine Gelegen- heit versäumen, seine Leser zu bessern und zu erbauen, als welches der Poet niemals zu unterlassen hat. (§. 31.) Man muß es dahero nicht bloß dabey bewen- den lassen, daß man sie durch eine wohlgerathene Vorstellung und lebhafte Be- schreibung ergötzet und beweget hat; sondern, wenn man eine Geschichte vor- stellet, Lehren einstreuen, zu welchen uns die vorgetragenen Umstände Gelegen- heit geben.” Arnoldt (s. Anm. 23), S. 109. 108 Vgl. Anm. 29. 109 “Anmerkung. Das Verbot, kein mittelmäßiger Schriftsteller zu seyn, geht nur hauptsächlich die Dichter, und zwar diejenigen an, die mehr vergnügen als nüt- zen, oder die wohl gar Muster seyn wollen. Ja man kann sich in der Dichtkunst niemals mit dem Nutzen, den man stiften will, und mit der Kürze der Zeit, und der Stumpfigkeit seines Kiels völlig entschuldigen. Du willst also nicht vergnü- gen, sondern nur nützen, und hast wenig Zeit und Fähigkeit? Nütze doch in einer schönen Prose, sie kostet weniger Zeit, und vergnügt zugleich mehr, als ein mit- telmäßiges Gedicht, welches uns zu einer prächtigen Hochzeit einladet, und uns hernach mit gemeinen Gerichten, oder mit einigen hie und da übel angebrachten Leckerbissen bewirthet.” Basedow (s. Anm. 1), S. 523. 110 Segebrecht (s. Anm. 4), S. 280-283, hier v.a. S. 282. 111 APGd 492/1259, S. 65-76, S. 70.

Chloe 43 466 Fridrun Freise von den Verfassern des kasualen ‘Gezieres’ bzw. den unspezifischen ‘Schriftstellern’ ab. Neben der persönlichen Selbstaufwertung zielt Roßkampff gleichzeitig auf eine Statuserhöhung der überreichten Ka- sualschrift und damit auf die Aufwertung seines Tuns als Gelegen- heitsdichter. Diesem Versuch der Wertschaffung lassen sich auch die anderen vorgeführten Beispiele zuordnen, wobei hier der Umgang mit dem Genre und die einzelnen Lösungsversuche sehr unterschiedliche Aus- prägungen annehmen: Erstens muss man schon die Entscheidung, die Schrift in Form eines kasualen gedruckten Stammbuchs zu veröffent- lichen, als Wunsch interpretieren, sich von der üblichen, kritisierten Form des Kasualdrucks abzusetzen; die zusätzliche Wahl der Prosa- form, die man als Versuch interpretieren kann, für den Text Unmittel- barkeit in Beschreibung und Gefühl zu erreichen, oder die Wahl modi- scher Sprachen und Gedichte (z.B. niederdeutsch, französisch, makka- ronisches Scherzgedicht) zeigen deutlich den Willen, der kritisierten Konvention zu entgehen. Zweitens verbirgt das Spiel mit dem scherz- haften scheinbaren Ignorieren von Konventionen im vorgegebenen Regelrahmen den Wunsch, sich von den Durchschnittsbeiträgen der geschmähten Gattung positiv und originell abzuheben (Bsp. Reuß, APGd 492/1259, S. 45-56, S. 48-50). Drittens wird diese Gattungs- praxis in einem Beitrag bildlich durch das dahinterstehende Gefühl überholt, wobei die übertriebene Art der Darstellung wiederum auf eine Warnung vor der überzogenen textlichen Umsetzung hindeutet (Bsp. Silber, APGd 492/1259, S. 1-12, S. 5 f.). Viertens dient das Of- fenlegen des kasualen Schaffensprozesses letztlich einer Anprange- rung des Ist-Zustandes, aus dem allerdings nur der Rückzug auf die problematisierte Tradition gedacht werden kann (Bsp. von Mühlberg, APGd 492/1259, S. 45-56, S. 51 f.). Dieser Fokus wird fünftens durch die sarkastische Karikatur eines für den Anlass zu aufgeblähten Gele- genheitsgedichts verschärft (Bsp. von Trauen, APGd 492/1259, S. 45- 56, S. 50 f.), wobei hier der Verfasser sechstens einen Ausweg auf- zeigt, indem die aufrichtige Freundschaftshaltung, die hinter dem Ge- dicht steht, als Substitut für den Kasualtext angeboten wird (Bsp. von Trauen, APGd 492/1259, S. 45-56, S. 50 f.). Die siebte Variante bildet Roßkampffs Versuch, der Textsorte durch die Komponenten ‘Lebhaf- tigkeit’ und ‘Nutzen’ aus dem aktuellen poetologischen Diskurs auch funktional Leben einzuhauchen (Bsp. Roßkampff, APGd 492/1259, S. 65-76, S. 69 f.).

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 467

Generell lassen sich die Legitimationsversuche in zwei großen Kategorien fassen. Argumentationslinien der ersten Kategorie verwei- sen auf die außerhalb des poetischen Beitrags existierende Freund- schaft der über den Text verbundenen Personen, solche der zweiten Kategorie beschäftigen sich mit der poetologisch-funktionalen Sinn- gebung der kasualen Textpraxis, wobei hier ein Großteil der Beiträger nur reflektiert und beschreibt, ohne selbst schöpferisch in den Diskurs einzutauchen. Mit beiden Aspekten partizipieren die Gymnasiasten nicht nur an einem überregionalen inhaltlichen Diskurs in punkto Freundschafts- kult und Poetik, sondern auch an einem über Elbing hinaus verifizier- baren gattungsspezifischen Phänomen. Dies belegt ein kasuales ge- drucktes Stammbuch aus Danzig, in dem Michael Waszkowitz 1758 mit ganz ähnlichen Überlegungen wie die Elbinger Gymnasiasten über die Art der rechten Verabschiedung im Gelegenheitsdruck reflek- tiert:112

Es ist gewiß schwer etwas neues, etwas unerwartetes in ein so genanntes gedrucktes Stammbuch zu setzen. Soll ich über Ihre Abreise klagen? das ist nicht mehr Mode. Soll ich mir Ihre fernere Freundschaft und Wohlgewo- genheit ausbitten? Wenn ich auch dieses thäte, so würde es doch vielen als etwas überflüßiges, oder wol gar als etwas prahlerisches scheinen. Es sind gewisse Leute, welche dreust genug sind es als eine lächerliche Sache anzugeben, wenn man in so einem gedruckten Stammbuch aufrichtige und ergebene Freunde Dutzendweise zählen kan, da man doch weiß, daß ein Freund im eigentlichsten Verstande so eine rare Sache sey. Sie seufzen über den Misbrauch des heiligen Namen der Freundschaft.113

Auch Waszkowitz diskutiert die Problematik, etwas Neues und nicht Repetitives im Gelegenheitsdruck zu präsentieren, sowie am Beispiel des Freundschafts-Themas den wertmindernden Effekt der bloß wie- derholten Gemeinplätze und den die kasuale Situation übersteigenden

112 Biblioteka Gdaska Polskiej Akademii Nauk (BG PAN) Oe 64 2 adl. 105: Freundschaftliche Wünsche an Herrn Johann Benjamin Schmidt, der Rechte und schönen Wissenschaften eifrigst Beflissenen bey Seiner Abreise auf die hohe Schule zu Leiden von Innengenannten. Danzig 1758 im April-Mond. [Danzig 1758], zit. nach Kotarski 2005 (s. Anm. 17), S. 777 sowie ders. 1997 (s. Anm. 17), S. 246. 113 Ebd.

Chloe 43 468 Fridrun Freise

Wert der Freundschaft.114 Auffällig ist dabei, dass auch Waszkowitz für einen kasualen Stammbuchdruck schreibt. Die Kasualdrucke im Stammbuchformat bieten für die gattungskri- tischen Äußerungen der Schüler eine ideale Plattform. Zum einen schreiben die Gymnasiasten an gleichrangige Adressaten, die über dasselbe poetologische Wissen verfügen und als Schüler dieselbe so- ziale Position innehaben. Deshalb können sich auch diese unbedeu- tenden Verfasser die Freiheit herausnehmen, sowohl der alten traditi- onellen Gelegenheitsdichtungspraxis, an der sie ja gerade partizipie- ren, den Wert abzusprechen als auch belehrende Abschnitte einzufü- gen. Stünde der Adressat etwa in einem Gönnerverhältnis zum Verfas- ser, müssten solche Äußerungen als despektierlich angesehen werden, weil der Gedichtinhalt implizierte, dass die gewählte Form wertlos ist. Ein solcher Gelegenheitsdruck, in einem traditionellen repräsentativen Kontext überreicht, entkräftete sich dadurch selbst und die Überrei- chung wäre folglich ein Affront. Die Übernahme der Stammbuchform erlaubt zum anderen außer- dem die kritische Beleuchtung der kasualen Dichtungssituation, da die Verfasser sich, obwohl sie an der Gelegenheitsdichtungspraxis partizi- pieren, den Anschein geben können, über die Übernahme der anderen Gattung eine tragfähige Alternative für ihr poetisches Tun gefunden zu haben. Dies belegt der Umstand, dass sich die reflexiven Äußerun- gen v.a. in den für Schülersammelschriften ungewöhnlichen Prosa- beiträgen befinden.115 Hier zeigt sich, dass das Ausweichen auf ein anderes Genre den inferioren Elbinger Verfassern erst die ausführlich formulierte Kritik im kritisierten Medium ermöglicht. Das überregio- nale Auftreten des Phänomens belegt außerdem, dass diese Art beur- teilender Auseinandersetzung im kasualen Stammbuchdruck ihrerseits schon wieder topisch geworden ist.

114 Das bei Waszkowitz speziell angesprochene Problem der nur formalen und nicht wahrhaftigen Freundschaftsbekundung wird in den besprochenen Elbinger Gele- genheitstexten nicht berührt. Ein bewusster Umgang mit diesem Problem lässt sich z.B. anhand von BUT Pol.8.III.1109 verdeutlichen; in diesem kasualen, in Danzig gedruckten Stammbuch von 1783 heben sich die Unterschriftenblöcke zweier Verfasser, die dem Adressaten auch den gesamten Druck widmen, durch besonderen Umfang und persönliche Ansprache deutlich von den normierten Freundschaftsbekundungen ab. 115 Dass das System der Prosaversatzstücke genauso topisch und mindestens so stan- dardisiert wie das der konventionellen Gelegenheitsgedichte ist, kann aus dieser Perspektive vernachlässigt werden.

Chloe 43 Freundschaft statt Poetik 469

Die Wirkmächtigkeit dieser Schülertexte ist deshalb auch sehr be- schränkt. Keiner der Gymnasiasten hat natürlich ein neues Konzept zu bieten, das die gesamte Dichtungspraxis reformieren könnte. Roß- kampff, der vorgibt originär einen Nutzwert für Gelegenheitsgedichte einzuführen, greift damit nicht nur den beschriebenen aufklärungspoe- tologischen Diskurs auf, sondern verschweigt auch, das insbesondere Hochzeitsgedichte mit religiös-lehrhaftem Inhalt zu diesem Zeitpunkt in Elbing schon seit mindestens zehn Jahren sehr populär sind.116 Die beiden in Elbinger Sammelbänden überlieferten kasualen gedruckten Stammbücher aus der Zeit um 1780 scheinen darüber hinaus zu bele- gen, dass man zu dieser Zeit die Gattungsreflexion in diesem Genre aufgegeben hatte und beschränken sich auf die üblichen Reise-, Wunsch- und Freundschaftstopoi.117 Das modische Freundschaftspostulat bleibt jedoch nach wie vor dominant. Die extreme Beliebtheit bei den schreibenden Elbingern lässt sich nicht nur durch die gattungstopischen Erfordernisse erklä- ren, die gerade in der Sonderform des kasualen Stammbuchdrucks noch verstärkt erscheinen. Von Trauens Beitrag zeigt, dass die Freundschaftsbeteuerung den Gymnasiasten auch einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen sozial geforderter Praxis und poetischem An- spruch offenlässt. Dadurch dass die Verfasser ein außerliterarisches Wertesystem, das im literarischen Raum akzeptiert ist, in die eigene poetische Handlung transferieren können, haben sie die Möglichkeit, einen Wert für ihren Beitrag zu reklamieren, der ihnen aufgrund man- gelnder dichterischer Potenz sonst versagt bliebe. Die Regelpoetik wird als wertschaffendes System durch das Primat der Freundschaft ersetzt. Auch für diesen Dichtungsweg steht allerdings sofort das Re- pertoire topischer Versatzstücke einer spezifischen Rhetorik bereit,118 das natürlich problemlos ohne die tatsächliche Existenz einer Freund- schaft eingefügt werden kann und folglich auch inflationär so ange-

116 Viele Verfasserschriften dieses Genres finden sich in den Sammelbänden BE XVIII.102 (Drucke von 1755-1778) und BE XVIII.103 (Drucke von 1749-1755). 117 Vgl. BUT Pol.8.III. 1051 (Elbing 1780); BUT Pol.8.III.1109 (Danzig 1783). 118 Die Transformation verinnerlichter Gefühle in eine rhetorische Inszenierung kann auch Christian von Zimmermann für Trauergedichte aus dem 18. Jahrhundert feststellen, wobei das von ihm gewählte Beispiel noch weitergehende Implikatio- nen zulässt. Vgl. Christian von Zimmermann: Verinnerlichung von Trauer – Pub- lizität des Leids. Gefühlskultur, Privatheit und Öffentlichkeit in Trauertexten der bürgerlichen Aufklärung. In: Gefühlskultur (s. Anm. 76), S. 47-74, hier S. 73.

Chloe 43 470 Fridrun Freise wandt wird.119 Das außerdem aus den Prosabeiträgen sprechende Be- wusstsein der Elbinger Verfasser für die problematische Situation der Gelegenheitsdichtungspraxis wird in den meisten Fällen von einem distanzierten Beobachtungsfokus begleitet, mit dem der jeweilige Ver- fasser auf das kasuale Werk bzw. sein Dichten blickt. Diese Distanzie- rung verweist auf eine Abgrenzung vom eigenen Tun, die ein Recht- fertigungsbedürfnis impliziert. Wenn die Elbinger Alltagsschreiber nun überaus häufig auf die Freundschaftsversatzstücke zurückgreifen, ist dafür neben den Begründungen, dass diese Inhalte einfach verfüg- bar sind und zudem vom Anlass sozial gefordert werden, auch zu be- rücksichtigen, dass diese Topoi in der Idealsituation existenter Freundschaft wertgebend sein können. Schon deswegen sind diese Versatzstücke – wie sich z.B. im Vergleich zu den selten gewordenen mythologischen Verweisen zeigt – auch in ihrer flachsten Form be- liebter als das entthronte traditionelle Repertoire. In den kasualen Stammbuchdrucken treffen die dichtungsreflexiven Passagen mit der beliebten stark topischen Freundschaftsthematik in einer gattungsspezifischen Sonderform zusammen, die wiederum an sich schon einen Auswegversuch aus dem Rechtfertigungsdilemma darstellt, im Alltag permanent gute Kasualgedichte produzieren zu müssen. Die Resultate zeigen, dass auch Gelegenheitsdichter niedri- gen Ranges grundsätzlich literarisch reflektiert an die sozial geforderte Dichtungspraxis herangehen können, auch wenn sie nicht in der Lage sind, sich von einem schematischen Verfassen zu lösen, das den neuen literarischen Anforderungen noch weniger entspricht als einer bis zu einem gewissen Grade noch handwerklich umzusetzenden frühneu- zeitlichen Rhetorik. Die Elbinger kasualen gedruckten Stammbücher sind einer der seltenen Orte, an denen diese Dichtungssituation greif- bar wird.

119 Vgl. dazu auch den Einwand von Waszkowitz (BG PAN Oe 64 2 adl. 105) sowie Anm. 114.

Chloe 43

B a r b a r a B e c k e r - C a n t a r i n o

“GROSS DURCH DEN SIEG DES KÖNIGS”1 Zur Preußendichtung von Wilhelm Ludwig Gleim und Anna Louisa Karsch

Die Wirkung und Beliebtheit der Dichtung von Johann Ludwig Gleim und Anna Louisa Karsch hatte in den 1760er Jahren gleich nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges ihren Höhepunkt erreicht. Es war die Gelegenheitsdichtung auf Preußen und auf die Schlesischen Kriege Friedrichs des Großen, die sie populär gemacht hatten. Mit dieser Ge- legenheitsdichtung der beiden Autoren zeichnet sich die neue Art ei- ner politischen Gelegenheitsdichtung des 18. Jahrhunderts deutlich ab, die – so meine These – als nationale, ‘vaterländische’ Dichtung be- zeichnet werden kann. Hier nun ist nach den neuen Formen und In- halten dieser Gelegenheitsdichtung, nach den Gründen für ihre Re- zeption in den 1760er Jahren und nach dem Wandel am Ende des Jahrhunderts zu fragen. Was war das Neue, dem Zeitgeschmack und Interesse der Leserschaft Entsprechende der (in der Literaturge- schichte wenig beachteten) preußischen Gelegenheitsdichtung von Gleim und Karsch? Was waren die Innovationen gegenüber der seit der Frühaufklärung kritisch gewerteten Kasuallyrik des 17. Jahrhun- derts, die zur raschen Diskreditierung der Gattung Gelegenheitsge- dicht am Ende des 18. Jahrhunderts führten? Wie wirkte sich der kul- turelle Wandel am Ende des 18. Jahrhunderts im literarischen Feld für die Gelegenheitsdichter aus, als anstatt der Huldigungstopoi und Un- tertanenmentalität die mit persönlichen und subjektiven Motiven an- gereicherte Lyrik des schöpferischen Dichters zur poetischen Norm wurde?

1 Aus dem Titel eines Gelegenheitsgedichtes von 1760: ’Den 3ten November 1760. groß durch den Sieg des Königs bey Torgau, beschrieb Anna Louise Karschin gebohrne Dürbachin.’ Glogau 1760, 4 Bl. (nachgewiesene Exemplare: Wolfen- büttel: Lo 3566; Staatsbibliothek Berlin: Yl 4730).

Chloe 43 472 Barbara Becker-Cantarino

Konnte Gleim schon 1744 mit verspielten Rokoko-Gedichten wie Anakreon, mein Lehrer (Versuch in scherzhaften Liedern) bekannt werden, so kam sein großer Ruhm während des Siebenjährigen Kriegs mit der von Lessing (anonym) herausgegebenen, vorher in Einzeldru- cken vertriebenen Sammlung Preußische Kriegslieder in den Feldzü- gen von einem Grenadier (1758).2 Diese preußischen Kriegsgedichte, die den Eroberungskrieg Friedrichs II. verherrlichen, entstanden, so muss betont werden, in Gemeinschaftsarbeit im Gleim-Kreis und wurden von den in Preußen literarisch prominenten Freunden Lessing, Uz, Sulzer und Ramler gefördert.3 Gleims Werbung um Lessing, ihn als Herausgeber und mit Voß in Berlin einen renommierten preußi- schen Verlag zu gewinnen, trug wesentlich zum publizistischen Erfolg mit bei, denn so konnte er die Sammlung ins literarische und politi- sche Zentrum Preußens, nach Berlin, lancieren und sie aus der Masse der Gelegenheitsdichtung für den Krieg und Friedrich II. herausheben. Lessing betonte in seiner Vorrede zu den Preußischen Kriegslie- dern, dass die (zunächst ohne Verfassernamen publizierten) Gedichte von einem einfachen Grenadier seien und erhob diesen zum Volks- dichter: “Der Verfasser ist ein gemeiner Soldat, dem ebenso viel Hel- denmut als poetisches Genie zuteil geworden,”4 er lobte den “unge- künstelten Krieger”, die “heroischen Gesinnungen”, den “Stolz für das Vaterland zu sterben” und den “Preußen” in dieser Dichtung. Lessing charakterisierte treffend Gleims Maskerade (der selbst nicht einmal Augenzeuge des Krieges, geschweige denn Soldat war) und erhöhte noch den politischen, propagandistischen Effekt der Kriegslieder. Das erste Gedicht beginnt mit einem sich naiv-volkstümlich gebenden, be- geisterten Appell für den Krieg:

Krieg ist mein Lied! Weil alle Welt Krieg will, so sei es Krieg!

2 Preußische Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier. Berlin [Voß] 1758. Der Vorbericht wurde von Lessing verfasst. Die Sammlung enthält 12 als Einzeldrucke bereits publizierte Gedichte, darunter Nr.1 Bei Eröff- nung des Feldzuges 1756; Nr. 9 Schlachtgesänge und Siegeslieder; Nr. 11 Lied an die Kaiserin-Königin, Nr. 12 An die Kriegsmuse. 3 Hierzu ausführlich Hans Martin Blitz: Aus Liebe zum Vaterland. Die deutsche Nation im 18. Jahrhundert. Hamburg 2000, S. 198-220. 4 Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Leipzig 1885, S. 21.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 473

Berlin sei Sparta! Preußens Held Gekrönt mit Ruhm und Sieg!5

Der propagandistische Kriegsdiskurs ist verbunden mit einem perso- nalisierten preußischen Landespatriotismus und Panegyrik für den König. Der Grenadier gelobt, von Friedrichs Mut inspiriert zu kämp- fen und, wenn er den Heldentod nicht stirbt, dessen Taten zu verherr- lichen:

So werd’ aus Friedrichs Grenadier, Dem Schutz, der Ruhm des Staats: So lern’ er deutscher Sprache Zier, Und werde sein Horaz.

Dann singe Gott und Friederich, Nichts kleiners, stolzes Lied! […]6

Gleim stilisierte sich hiermit selbst zum nationalen Sänger und feierte Friedrich II. als Menschenfreund, Held, Besieger, Landesvater und Beschützer Preußens. In einer bipolaren Sicht stehen Gott, Recht, Friedrich (preußische Staatsräson) und ‘wir’ als kollektives Subjekt auf der einen Seite, der (herabgesetzte, diffamierte) Feind auf der an- deren:

[…] Darum o Gott! Sei ewig hochgelobt von uns und Ihm, Dem Züchtiger der Bosheit eines Volks, Das noch zu Menschen nicht geworden ist, Dich noch nicht kennt, daher gezogen kam, Heißhungriger als ein Heuschrecken Heer, Mit trägem aber giftgem Schneckengang In sein, o Gott! von dir gesegnet Land. […]7

5 Ebd., S. 25. 6 Ebd., S. 26. 7 Aus: ‘An die Kriegesmuse nach der Niederlage der Russen bei Zorndorf den 25. August 1758.’ In: ebd., S. 53-61, hier S. 55.

Chloe 43 474 Barbara Becker-Cantarino

Damit präsentiert Gleims Grenadier einen “erstaunlich militanten ag- gressiven Nationalismus”,8 wie Hans Peter Herrmann jetzt über diese Dichtung urteilt. In Gleims Kriegsliedern stehen neben “genretypi- schen Verspottungen explizite Verteufelungen und böse Tierverglei- che”.9 Die in der älteren Panegyrik auch noch des 18. Jahrhunderts übliche Servilität gegenüber dem Monarchen hat Gleim dahingehend gewandelt, dass der Grenadier als ‘Stimme des Volkes’ den König als gottbegnadeten Retter und Beschützer, als Stimme der Menschlichkeit hinstellt.10 Damit traf Gleim wohl (trotz der lehrhaft eingestreuten, antiken mythologischen Bilder) die Stimmung der Leser, er machte sich zum Sprachrohr der damaligen ,Untertanenliebe’ seiner (gebilde- ten) Leserschaft, die in einem Netzwerk von Abhängigkeiten lebte und besonders in Kriegszeiten auf Schutz und Protektion des Königs ange- wiesen war; hier wurde damit begonnen, an den “fürsorglichen Lan- desvater” zu appellieren und ihn auch einzufordern.11 Gleims vaterländischer Friedrich-Diskurs ging Hand in Hand mit verstärkten Feindbildern. Im Lied an die Kaiserin-Königin nach Wie- dereroberung der Stadt Breslau den 19. Dezember 1757, das die Sammlung beschließt, wird Maria Theresia zum Verzicht auf Krieg (und damit auf den Anspruch auf Schlesien) und zur ‘Menschlichkeit’ aufgerufen:

Nun beschließe deinen Krieg, Kaiser-Königin! Gieb Dir selbst den schönsten Sieg!

8 Hans Peter Herrmann: Krieg, Medien und Nation. In: Krieg ist mein Lied. Hrsg. v. Wolfgang Adam und Holger Dainat. Göttingen 2007, S. 27-64, hier S. 29, ver- tritt die neuere Forschung, die das Klischee vom harmlosen Patriotismus im 18. Jahrhundert, der erst in den Napoleonischen Kriegen eine Wendung ins Nationa- listische erfahren habe, differenziert und den Nationalismus schon für das 16. und hier das 18. Jahrhundert aufzeigt. 9 Hans Peter Herrmann: ’Mein Arm wird stark und groß mein Muth [...]’. Wand- lungen des deutschen Nationalismus im 18. Jahrhundert. In: Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Diffe- renzen. Hrsg. von Hansjörg Bay und Kai Merten. Würzburg 2006 (Stiftung für Romantikforschung, 29), S. 53-78, hier 57. 10 Ausführlich zu den ’Kriegsliedern’ S. Blitz (oben, Anm. 3), S. 145-79. 11 Hubertus Büschel: Untertanenliebe. Der Kult um deutsche Monarchen 1770- 1830. Göttingen 2006 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Ge- schichte, 220), S. 307; was Büschel für die späteren Jahrzehnte erarbeitet, ist bei Gleim schon vorbereitet.

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Werde Siegerin! Überwinde Dich, und gieb Menschlichkeit Gehör!

Habe deine Völker lieb! Opfere nicht mehr! Unsern Friedrich, der ein Held, Der auch Weiser ist, Der ein Wunder ist der Welt, Wie Du selber bist; Der gerechte Waffen trägt Ins Gefecht mit Dir, Mit uns kommt, und sieht und schlägt, Tapferer als wir; Heldin, den bezwingst du nicht; Gott kann Wunder thun! Schenk ihm Freundesangesicht, Biete Frieden nun!12

Gleims Kriegslieder hatten öffentliche, politische Bedeutung, seine Panegyrik fungierte als Verherrlichung und Verewigung der preußi- schen Monarchie. Gleims lange (und genaue) Schilderungen der Kriegsereignisse, um die er sich in vielen Briefen intensiv und ständig bemühte, erhöhten den medialen Kommunikationswert. Er hatte selbst die Plünderungen, Zerstörungen durch die Französische Armee in Halberstadt und die horrenden Kriegsabgaben erlebt,13 war also weit aus mehr als nur ein Dichter von “Schlachtgesängen vom Kanapee”,14 wie manche Literarhistoriker ihn darstellen. Auch als Relationen zeit- genössischen Geschehens hatten seine Kriegslieder erheblichen In- formationswert und als Geschichten von Bravour, Militärtaktik und Kampfhandlungen einen Unterhaltungswert besonders für das männli- che Lesepublikum. Sie festigten Gleims Reputation als Patriot und

12 Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Ausgewählte Werke. Leipzig 1885, S. 52-53. 13 Gleim “konnte das Vermögen des Domstifts halbwegs über die schwierige Zeit” retten, er wurde 1757 zum Deputierten der Provinz Halberstadt bei dem Oberbe- fehlshaber der französischen Truppen bestimmt; Walter Hettche in: Johann Wil- helm Ludwig Gleim. Ausgewählte Werke. Göttingen 2003, S. 594 f. 14 Jörg Schönert: Schlachtgesänge vom Kanapee. Oder: ‘Gott donnerte bei Lowo- witz.’ Zu den ‘Preußischen Kriegsliedern in den Feldzügen 1756 und 1757’ des Kanonikus Gleim. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Stuttgart 1983, S. 126-139.

Chloe 43 476 Barbara Becker-Cantarino

Dichter. Mit seinen preußisch-vaterländischen Kriegsliedern hat Gleim die noch weitgehend panegyrische Gelegenheitsdichtung des frühen 18. Jahrhunderts in neue Bahnen gelenkt, hat den patriotischen Diskurs in die Kasualdichtung eingeführt und im Sinne des National- patriotismus politisch-propagandistisch erweitert. Gleim hat auch die Kriegsbereitschaft und Begeisterung für den Krieg mitgetragen und geschürt, die in ihrer Militanz so gar nicht dem eher friedlichen Bild der Aufklärer entsprach. Später milderte der finanziell wohl abgesicherte, literarische Freundschaften pflegende Kanonikus Gleim seine militante Perfor- manz, blieb aber in zahlreichen Gelegenheitsgedichten wie Die zwei letzten Blicke Friedrich’s, Lied des Volks, nach der Geburt des Prin- zen von Preußen, 1770 oder Lied des Volks, als der König den Armen Brod geben ließ glühender preußischer Patriot, wenn er in Das Lied von der Freyheit schrieb:

Ich bin ein Preuße! Preuße seyn, Ist seyn: Ein freyer Mann, Der seiner Freyheit sich erfreun In allen Ständen kann!

Gleims ‘freier Preuße’ will freiwillig das Gesetz befolgen – als Soldat das Gesetz des Krieges; in Todesgefahr wird er sich als Grenadier be- währen und seine Pflicht tun:

Und thu’ ich alle meine Pflicht, Und bin ich brav, und gut, So tret’ ich jedem ins Gesicht, Und schwinge meinen Hut! Und schaue, wenn der König kömmt,

Dem König ins Gesicht! […] also wollen wir Festhalten unsern Eid, Und gehn, als brave Grenadier, Aus Zeit in Ewigkeit!15

Gleims Gelegenheitsdichtung auf Preußen geht vom kriegerischen Patriotismus über zu einem ethischen Pflichtbewusstsein, einem Bür-

15 Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Gedichte. Stuttgart 1969, S. 126-128.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 477 gersinn für die Monarchie und für die Ständegesellschaft. Dennoch ist festzuhalten, dass Gleim den patriotischen Vaterlandsdiskurs für eine populäre, politisch-propagandistische Gelegenheitsdichtung entwick- elte und mit der Herrscher-Panegyrik der Kasualdichtung verband. Während Gleim als Kanonikus aus der finanziell und gesellschaft- lich abgesicherten Position eines Verwaltungsbeamten seine preußi- schen Gelegenheitsgedichte schreiben konnte, musste sich Gleims langjährige Briefpartnerin und literarische Freundin Anna Louisa Karsch (1722-1791) durch ihre Dichtung erst einen Lebensunterhalt schaffen und sich diesen durch ihre Dichtung lebenslang erhalten.16 Karsch wurde als regionales Dichtertalent in der Gegend vom polni- schen Lissa (Lesno) bis zum preußischen Glogau bekannt, indem sie für lokale Honoratioren und deren familiale und berufliche Anlässe Gelegenheitsgedichte verfasste. Mit dem zwölfstrophigen Huldigungs- gedicht An Se. Majestät den König von Polen17 verfasste sie ein Herr- scher-Lob im Stile des damaligen sächsischen Hofpoeten Johann Ul- rich von König. Es ist ein Bittgebet im “Komplimentierstil der über- lieferten Panegyrik”.18 Besonders wandte sie sich aus eigener Erfah- rung der preußischen Schlesien-Politik zu. Schon das frühe, lange Alexandrinergedicht Eine Satire auf die Verfassung von Schlesien

16 Hierzu Barbara Becker-Cantarino: ‘Belloisens Lebenslauf’. Zu Dichtung und Autobiographie bei Anna Louisa Karsch. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Hrsg. von Ortrud Gutjahr. Würzburg 1992, S. 13-22; Uta Schaffers: ‘Auf überlebtes Elend blick ich nieder’: Anna Louisa Karsch in Selbst- und Fremdzeugnissen. Göttingen 1997; zur poetologischen Entwicklung S. Anne Kitsch: ‘... offt ergreiff ich um Beßer mein zu sein die Feder ...’. Ästhetische Positionssuche in der Lyrik Anna Louisa Karschs. Würzburg 2002 (Epistemata, 376), S. 155-69. 17 Anna Louisa Karsch: Gedichte. Nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebens- lauff herausgegeben von Ihrer Tochter C. C. v: Kl: geb: Karschin. Berlin: ge- druckt mit Ditericischen Schriften 1792; Nachdruck mit einem Vorwort von Bar- bara Becker-Cantarino 1996, S. 352-57. Im Folgenden zitiert als Karsch: Ge- dichte. Nachdruck der Ausgabe von 1792. – Das Gedicht hat Karsch 1752 dem Kurfürst Friedrich August von Sachsen (1733-1763) gewidmet, der in Personal- union als August III. ebenfalls König von Polen war, als sie mit Ehemann Karsch von 1749 bis 1755 in Fraustadt (Wszowa) in Polen lebte, das im 17. Jahrhundert vielen protestantischen Schlesiern Zuflucht vor der Gegenreformation geboten hatte. Fraustadt kam erst 1793 mit der zweiten Polnischen Teilung zu Preußen. 18 Ernst Josef Krzywon: Tradition und Wandel. Die Karschin in Schlesien (1722- 1761). In: Anna Louisa Karsch (1722-1791). Von schlesischer Kunst und Berli- ner ‘Natur’. Hrsg. von Anke Bennholdt-Thomsen und Anita Runge. Göttingen 1992, S. 12-56, hier S. 35.

Chloe 43 478 Barbara Becker-Cantarino während der kaiserlichen Regierung (1740) soll die Leiden der (unter österreichischer Herrschaft) stehenden Bevölkerung artikulieren:

Als Friedrichs große Macht in Schlesien marschiret, Da bin ich gleichfalls mit als Volontair passiret. […]19

Dieser Volontär – eine Stimme des Volkes wie später Gleims Grena- dier – verirrt sich nach Schwiebus (damals eine schlesische Enklave in Brandenburg, die zu Österreich gehörte, Wohnort der Karschin von 1738 bis 1740 während ihrer Ehe mit dem Tuchhändler und Weber Hiersekorn) und findet vor dem Tor eine weinende, gefesselte, aus der Stadt vertriebene Frau – die Gerechtigkeit –, die sich über die Kosten der österreichischen Einquartierung und Korruption beklagt hatte und deshalb aus der Stadt verbannt sei, worauf der Volontär sie mit der Aussicht auf Friedrichs Hilfe tröstet:

[…] Dem Könige gehört mit Recht das ganze Land, Der, der wird geben ihr ihr Schwerdt in ihre Hand; Und ob er gleich noch ist in seiner Blüth der Jugend, So find’t man doch an ihm das Muster aller Tugend. Er liebet Frömmigkeit, die reine Gotteslehr, Und mit ihr zieht ins Feld Gott selbst sein Engelheer; […].20

Der Volontär verspricht der Gerechtigkeit die Rückkehr in ihre Stadt und warnt vor der Kaiserin: “Ein jeder nehme sich vor diesem Weib in acht.” Karsch artikuliert die Lage der protestantischen, preußisch ge- sinnten Schlesier. Sie wird zur Stimme Schlesiens für die Politik Friedrichs II., als die verarmten Karschs 1755 in das nunmehr von Preußen besetzte Glogau zurückkehren. Mit dem Ausbruch des Dritten Schlesischen Krieges (am 29. Au- gust) 1756 publizierte sie eine Serie von Gedichten auf die Siege Friedrichs II. wie Freudige Empfindungen redlicher Herzen, die, we- gen des verliehenen herrlichen Sieges dem Höchsten Dank opferten, welchen Se. Königl. Majest. von Preussen den 5ten December 1757.

19 Karsch: Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1792, S. 345-49. Zum lokalpoliti- schen Hintergrund der Satire S. Krzywon (wie Anm. 18), S. 22-24. 20 Karsch: Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1792, S. 348.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 479 bey Fröbelwitz, zwischen Neumarck und Lissa über die Österreichi- sche grosse Armee erfochten haben. Beschrieben von Anna Louise Karschin, geb. Dürbachin, eines Schneiders Frau aus Glogau,21 ein Triumphlied auf den Sieg bei Leuthen [5.12.1757], das religionspoliti- sche Gedicht über die Wiedereinführung des protestantischen Gottes- dienstes 1758 in Die Geschichte der Stiftung des Gottesdienstes in Klein Tschirna,22 dann Die gedemüthigte Russen zur Ehre Gottes und des Grossen Friedrichs am Tage der öffentlichen Freude beschrie- ben,23 eine Siegesode, Friedrich dem Überwinder der Russen, den [!] grossen und besten König allerunterthänigst zu Füßen gelegt,24 eine Ode an das zerstörte Custrin,25 und Friedrich der Beschützer, und Lie- benswürdige.26 Karsch beschrieb die Siege detailliert und feierte Fried- rich als Retter Schlesiens – das sie in Elysien umtaufte – von Gottes Gnaden. Die Niederlagen sparte sie aus, vermittelte aber auch die schwierige Situation aus der Sicht Schlesiens, wie in Freudige Emp- findungen […] über den Sieg bei Leuthen:

Er [Friedrich] kam und fand Elisien beschwemmet Vom Strome, der zu schwach verdämmet Verschanzte Städte mit sich riß. Europa hört’s, […] Sein Glanz drängt in die Königreiche Verehrung vor den Helden ein. O Land! Vergiß des Schröckens Streiche, Und laß die Freude wirksam sein.27

21 Glogau. 4 Bl. Einzeldruck (Exemplar Staatsbibliothek-Berlin: Yl 4941 (18)). 22 Der verwitweten Frau von Stosch am Tage der Einweihung des Bethauses zugeeignet von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbachin. Glogau: Schweickardt (Exemplar: Staatsbibliothek-Berlin: Yl 4718 [5]). 23 Von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Glogau, den 3. Sept. 1758. Zu finden bey Christian Friedrich Günthern. 4 ungezeichnete Bl. mit Vignette auf Bl. 2 und 4. Exemplare: Geheim. Staatsarchiv Berlin, Staatsbibliothek Berlin: Yf 6652 (33); Yf 4851 (3); Yf 5381 (4). 24 Von A. L. Karschin, geb. Dürbachin. Glogau: Schweickardt. 2 Exemplar Staats- bibliothek Berlin: Yl 4718 (1). Gezeichnet den 3.9.1758. 25 4 Bl. Staatsbibliothek-Berlin: Yf 6652 (f), 1759. 26 Besungen den 24. Jenner 1759 von Anna Louisa Karschin. 6 Bl. 4 (Staatsbiblio- thek-Berlin: Yf 6653 (45); Yf 6652 (33a), Yl 5381 (7). 27 Anna Louisa Karschin: Gedichte und Lebenszeugnisse. Stuttgart 1987, S. 41.

Chloe 43 480 Barbara Becker-Cantarino

Karschs preußische Kriegsgedichte unterscheiden sich wesentlich von Gleims Militanz und Patriotismus; sie sind eher naiv und ‘hungrig’, von dringender Sorge für Schlesien und Not um die eigene Versor- gung getragen. Statt gelehrt-antikisierender Metaphern gebraucht Karsch biblische Vergleiche und traditionelle, feudale Huldigungs- formen. Mit ihren zahlreichen personalen Lobgedichten, die sie als Einzel- drucke bei Schweickhardt in Glogau drucken ließ und persönlich den vornehmen Adressaten zu überreichen versuchte, fand sie adlige Gön- ner und konnte auf Einladung des Barons von Kottwitz, Erbherrn auf Boyadel in Niederschlesien, im Januar 1761 nach Berlin übersiedeln.28 Hier wurde sie neu eingekleidet, gab bei Geselligkeiten in vornehmen Privathäusern ihre Stegreifverse und Proben ihrer Dichtkunst zum besten und ließ ihre Gelegenheitsgedichte bei Winter drucken. Der Odendichter und Kritiker Wilhelm Ramler, der Ästhetiker Johann Georg Sulzer und dann auch Gleim (bei seinem Berlin-Besuch Ende Mai 1761) wurden auf sie aufmerksam und feierten sie als ,Naturdichterin’, als ,deutsche Sappho’. Im Oktober 1761 wechselte Karsch nach einem Besuch bei Gleim29 in Halberstadt, der zwar nicht die von ihr erstrebte Versorgung (in einer Ehe mit Gleim) brachte, sich aber in einem Briefwechsel30 bis an ihr Lebensende dokumentiert hat, nach Magdeburg über. Anna Louisa Karsch wurde am preußischen Hof, der 1760 vor der russischen Armee nach Magdeburg geflohen war, empfangen; sie schrieb für die komponierende Prinzessin Amalie, Schwester Fried- richs II., Kantatentexte. Im Januar 1762 wurde eine Geburtstagskan-

28 Das war kurz nach ihrem 38. Geburtstag; zunächst wohnte sie im Hause des österreichischen Gesandten von Gotter, wo auch Kottwitz logierte. 29 Im September 1761 reiste Anna Louisa Karsch über Magdeburg zum Kanonicus Gleim in Halberstadt, der sie mit den Domherren Ernst Ludwig von Spiegel und Friedrich Eberhard von Rochow bekannt machte. Durch Gleims Vermittlung be- suchte sie auch die Güter des Grafen von Stolberg-Wernigerode in Ilsenburg, Elbingerode und Wernigerode. Auch hier erregte ihre Improvisationskunst Er- staunen und Bewunderung. Dreimal wurde sie in Halberstadt zur Dichterin ge- krönt und ihre Gelegenheitsgedichte an vornehme Adressaten brachten ihr eine lebenslange (kleine) Rente von Christian Ernst von Stolberg-Wernigerode und von den (späteren) Herzögen Friedrich von Braunschweig und Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel. 30 Vgl. die Auswahl-Ausgabe: Mein Bruder in Apoll. Briefwechsel zwischen Anna Louisa Karsch und Johann Wilhelm Ludwig Gleim. Hrsg. von Regina Nörte- mann und Ute Pott. 2 Bde. Göttingen 1996.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 481 tate für den König mit Text der Karschin im Magdeburger Dom auf- geführt. Karsch erlebte diese Zeit als einen Höhepunkt ihres Lebens. Sie schrieb im September 1762: “Mein Glück steigt bis zum hohen Gipfel herauf; ich genieße einer uneingeschränkten Freiheit, meine Mahlzeiten sind am Tische des Commandanten, ich kenne die Sorgen des Lebens nicht mehr.”31 Sie verdankte ihre Berühmtheit und die Patronage der preußischen Prinzessin ihren pro-preußischen, informa- tiven Kriegsgedichten, ihren an wichtige Gönner adressierten, durch- aus ansprechenden Gelegenheitsgedichten und ihrer sprachlichen und performativen Fähigkeit, aus dem Stegreif dem Geschmack des je- weiligen Gönners entsprechend zu dichten und vorzutragen. Dazu kam auch ihre ungeheure Geschäftigkeit, auch sofort gedruckte Wid- mungsexemplare zu überreichen, was der Eitelkeit ihrer Mäzene schmeichelte. Diese Präsenz musste jedoch ständig wieder aufge- frischt werden: “Lange zu schweigen würde schädlich sein, würde meine Muse Stum machen,” schrieb sie an Gleim,32 der sie poetisch zu erziehen und für die von ihm besorgte literarisierte Ausgabe ihrer Auserlesenen Gedichte (1764) zur Revision ihrer Gelegenheitsdich- tung nach anakreontischen Mustern zu bewegen suchte. Karsch war sich ihrer Eigenart als Gelegenheitsdichterin durchaus bewusst:

Freylich werde ich auch durch die größte Übung niemahls einen Klopstoki- schen Gesang herausbringen […] die Natur gab mir Fertigkeit, aber sie zog meinem Lauffschranken enge Gränzen, mein Geist schwingt sich nicht über die Sphäre des kleinen Liedes oder der Erzählung.33

Sie wusste um den Abstand zur zeitgenössischen Dichtung wie der Gleims oder Klopstocks, die von Männern mit gelehrt-literarischer Bildung (alle Autoren hatten studiert) bestimmt wurde und zuneh- mend den Anspruch auf Kunst erhob. Karschs ‘mediale Karriere’ in Berlin und Halberstadt war schon lange in Schlesien vorbereitet worden, hatte gegen Ende des nunmehr erfolgreich verlaufenden Krieges ihren Höhepunkt erreicht.34 Nur mit

31 Brief an Sulzer, zitiert nach Anna Louisa Karschin: Gedichte und Lebenszeug- nisse. Stuttgart 1987, S. 19. 32 Mein Bruder in Apoll. Briefwechsel. Bd. 1, S. 153. Brief an Gleim vom 13. Sep- tember 1792. 33 Ebd. 34 Guido Heinrich: Leibhafte Ästhetisierung und mediale Endverwertung. Die Rezeption der Kriegslyrik Anna Louisa Karschs in Berlin, Halberstadt und Mag-

Chloe 43 482 Barbara Becker-Cantarino großen Anstrengungen, unter ungünstigen Bedingungen und mit ab- nehmendem Erfolg konnte sie sich als Gelegenheitsdichterin in Berlin weiterhin ihren Lebensunterhalt verdienen, da sie keine feste Stellung (etwa als Vorleserin, – Hofpoetin oder Bibliothekarin kam sicher nicht in Frage) erhalten konnte. Schon im Oktober 1762 war Karsch nach Berlin zurückgekehrt, als nach dem Frieden mit Russland (Mai 1762) der preußische Hof wieder nach Berlin übergesiedelt war, und die Dichterin ihre wichtigste Existenzquelle für Gelegenheitspoesie (und ihre Gastgeberin durch Unstimmigkeiten) in Magdeburg verloren hatte.35 Sie feierte Friedrich den Großen bei seiner Rückkehr nach Ber- lin, adressierte neun Gedichte an die königliche Familie in Einzeldru- cken und ließ sie in einem elegant mit Vignetten geschmückten Bänd- chen als Gesänge bey Gelegenheit der Feierlichkeiten Berlins in Ber- lin bei Winter drucken und dem König zukommen. Darin feierte sie u.a. die triumphierende Rückkehr des Monarchen Friedrichs des Un- überwindlichen und seiner Familie, besang die Illumination Berlins, sprach den Dank der Bürger aus und feierte den Frieden:

Mit hunderttausend Stimmen ruft Berlin: ‘mein Schutzgeist kommt’, Palläste schallen wieder: […] Da kommt der Triumphirer her Und mit der Frühlingssonne Blik bemerkt er Froh das Gefühl der Menge.36

deburg. In: ‘Krieg ist mein Lied.’ (wie Anm. 8), S. 137-76, beschreibt ihre kurz- fristig erfolgreiche mediale Karriere, ohne jedoch ihre Gelegenheitsgedichte überhaupt heranzuziehen. 35 Mit dem Kriegsende strömten Leute von überallher nach Berlin. Die geselligen Kreise begannen sich neu zu formieren. Karschs früherer Gönner Baron von Kottwitz war erkrankt und nach gescheiterten Heiratsplänen auf seine schlesi- schen Güter nach Boyadel zurückgekehrt. So konnte die Karsch schließlich nur in die sehr kleine Wohnung einer Freundin Ramlers als Untermieterin einziehen und nach bald aufkommenden Unstimmigkeiten dann lediglich in einer schlechten Wohngegend in einer kleinen Dachkammer unterkommen, die sie einige Zeit noch mit “einem lärmenden Soldaten” teilen musste. Zwar hatte sie selbst noch einen Freitisch bei ihrem Gönner, dem Leibmedicus und Hofrat Johann Georg Stahl, musste aber mit ihrer Dichtung das Geld für ihre Haushaltung (für Tochter und Stiefbruder) verdienen. 36 ‘Der Einzug Friedrichs des Unüberwindlichen.’ In: Gesänge bei Gelegenheit der Feierlichkeiten in Berlin. Berlin: Winter 1763, 13v.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 483

Karschs Panegyrik auf Friedrich den Großen ist von Untertanenmen- talität und -liebe getragen. Sie feierte den König als Beschützer, Frie- densbringer und Familienvater und adressierte auch Gedichte an die (politisch unbedeutende) Königin, über deren Hofdamen sie Protek- tion erhalten hatte. Karsch wusste um ihre Beschränkung und Sonder- stellung als Frau und nutzte sie geschickt aus. Sie vermied die männ- lich konnotierte Kriegsbegeisterung und den militanten Patriotismus eines Gleim und der zeitgenössischen Dichter. Gleim zeigte aus seiner finanziell abgesicherten Position heraus und als Mittelpunkt und Mä- zenat eines Freundeskreises von (zumeist jungen) Dichtern nur “feine Verachtung”37 für Karschs Gesänge und ihre andauernden, ange- strengten und nur noch mäßig belohnten Bemühungen um Patronage. Die Konkurrenz der Gelegenheitsdichter, die nach Patronage strebten und den literarischen Markt für die elitäre Kunstdichtung bedrohten, sollte aus dem literarischen Feld verdrängt werden. Karsch schrieb weiterhin personale Gelegenheitsdichtung für das preußische Königshaus (und für Freunde, Gönner und Auftraggeber) und brachte neue, sozialkritische und ironische Töne in diesen Versen. Im Juli 1763 logierte Karsch in Potsdam und erreichte durch Bezie- hungen, am 11. August 1763 zu einer Audienz bei Friedrich II. vor- gelassen zu werden. Der König versprach ihr Versorgung, wie sie tri- umphierend im Brief an Gleim vom 15. August 1763 berichtete. Aber trotz ständig wiederholter Anfragen, Mahnungen und einer Serie von Gelegenheitsgedichten auf die Damen des preußischen Königshauses blieb es bei einem Gnadengeschenk von 50 Talern; auch das später versprochene Haus ließ auf sich warten, wie sie noch 1783 in An Quittungs statt dichtete:

Seine Majestät befahlen, Mir, anstatt ein Haus zu baun, Doch drei Thaler auszuzahlen - Der Monarchbefehl ward traun Prompt und freundlich ausgerichtet, Und zum Dank bin ich verpflichtet. Aber für drei Thaler kann Zu Berlin kein Hobelmann Mir mein letztes Haus erbauen, Sonst bestellt’ ich ohne Grauen

37 Karschs Brief vom 7.5.1763; Mein Bruder in Apoll. Briefwechsel, Bd. 1, S. 179, Nr. 139.

Chloe 43 484 Barbara Becker-Cantarino

Heute mir ein solches Haus, Wo einst Würmer Tafel halten Und sich ärgern übern Schmauß Bei des abgegrämten, alten, Magern Weibes Überrest, Die der König darben läßt.38

Sie schickte dieses Gedicht aber nicht an den König, sondern sie “quittierte prosaisch, und bestand auff [ihrer] Hoffnung”.39 Als Fried- richs Nachfolger Karsch das Geld zum Hausbau bewilligte, schrieb sie Versuch einer Danksagung an König Friedrich Wilhelm, den Vielge- liebten. Im Februar 1787:

Monarch und Schöpfer eines Glücks, Das meinem Alter Blumen streuet, Ich habe nur im Ausdruck meines Blicks Die Sprache, die kein Wörterbuch verleihet, Nur Tränen hab ich statt des Tons, Wenn ich Dir danken will, Dir! Schutzgott auf der Höhe Des landesväterlichen Throns.40

Das sentimentale Gedicht ist ein Ausdruck ihrer eigenen Dankbarkeit und Untertanenliebe gegenüber dem ‘Landesvater’. Die traditionelle Panegyrik wird nicht mehr aufgerufen, statt dessen spricht Karsch als dankbare Empfängerin: “Ich fühls, daß ich auf Rosen gehe [...].”41 An- ders als Gleim artikulierte Karsch kein Preußenbewusstsein, keinen Patriotismus oder Bürgersinn. Ihre friderizianische Gelegenheitsdich- tung wie der späte Zuruf an den Fremdling beim Marmorsarge Fried- richs des Großen (1786)42 blieb der Tradition der Huldigungsgedichte und des Herrscherlobs verpflichtet, die dann schnell mit dem Modell des politisch-sozialen Mäzenatentums als Protektion und Belohnung für Panegyrik veraltete. “Meine Reimereien gefallen nur denen, an die sie geschrieben worden, ihnen fehlt das Interessante für andere”,

38 Karsch: Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1792, S. 324-25. 39 Mein Bruder in Apoll. Briefwechsel, Bd. 2, S. 183; Brief vom 17. Mai 1783. Das Gedicht ist in zwei Versionen im Kommentar S. 450 abgedruckt. 40 Anna Louisa Karsch: Gedichte. Nachdruck der Ausgabe von 1792, S. 237. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 263-65.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 485 schrieb Karsch 1783.43 Das stimmte für Karschs (und Gleims) perso- nale Gelegenheitsdichtung. Selbständigkeit, Selbstironie und (verhal- tene) Sozialkritik zeichnen jedoch vielfach Karschs spätere Gedichte an bürgerliche Personen aus, wie auch die Schlesiengedichte und ihre Glogauer Kriegsgedichte in den erzählenden Passagen die personale Huldigung der Kasualdichtung mit sozialkritischen Aspekten berei- chern. Um 1800 war die 50 Jahre zuvor viel gelesene und beliebte Gele- genheitsdichtung auf Friedrich II. und Preußen altmodisch geworden und vergessen. Anna Louisa Karsch war 1791 verstorben, die 1792 von ihrer Tochter Caroline Luise von Klenke veranstaltete Sammel- ausgabe,44 die 1797 wieder aufgelegt und auch von Trattner in Wien nachgedruckt wurde, brachte an prominenter Stelle in der ersten Rub- rik Oden noch einige Gedichte, die Karsch Dem Vater des Vaterlan- des Friedrich dem Großen und anderen Mitgliedern des Königshauses in den 1760er Jahren gewidmet hatte. Es sind jedoch relativ wenige Huldigungsgedichte. Doch konnte die Herausgeberin stolz melden: “Ihro Majestät, die verwittwete Königin von Preußen,45 gaben nicht allein ihren Namen”,46 sie habe auch eigens anfragen lassen, ob die Herausgeberin noch Beiträge aus dem Archiv des Königs wünsche. Trotz (oder vielleicht wegen) dieser Wertschätzung von Seiten der (älteren und politisch unwichtigen) Damen des preußischen Königs- hauses wurde das Werk der Karschin von den Kunstrichtern belächelt, kritisiert,47 und bald beiseite geschoben: “Die deutsche Sappho war eine fleißige Reimeschmiederin, und wem ihrer Freunde sie kein Lied

43 Ebd., S. 184. 44 Anna Louisa Karsch: Gedichte. Nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebens- lauff herausgegeben von Ihrer Tochter C. C. v: Kl: geb: Karschin. Berlin: ge- druckt mit Ditericischen Schrifften, 1792; eine zweite (Titel-)Auflage mit dem Bildnis der Dichterin gedruckt in Berlin bei Friedrich Maurer erschien 1797. Ein Nachdruck mit einem Vorwort von Barbara Becker-Cantarino erschien 1996. 45 Elisabeth Christine von Preußen, geb. von Braunschweig Lüneburg, 1715-1797, Ehefrau Friedrichs II., Königin von 1740-86; die Ausgabe der ‘Gedichte’ durfte Friederike von Preußen (1767-1820), der ältesten Tochter von Friedrich Wilhelm II. gewidmet werden, die 1791 als Herzogin von York nach England heiratete. Das wohl letzte Gelegenheitsgedicht Karschs vom Oktober 1791 ist dieser preu- ßischen Prinzessin gewidmet und im Vorspann zu den ‘Gedichten’ abgedruckt. 46 Ebd., S. 126. 47 Zur Rezeption der Dichtung vgl. die zusammengetragenen Angaben bei Theodor Heinze: Anna Luisa Karschin. Eine biographische und literaturhistorische Skizze. Programm Anclam 1866, S. 5 ff.

Chloe 43 486 Barbara Becker-Cantarino sang, den verschonte sie gewiß nicht mit jenen versificierten, viel zu poetischen Briefen. […] ein geschwätziges Weib”,48 urteilte die Literaturgeschichte. Hier klingt Schillers abwertendes Urteil nach, der die Opportunität der adressatenbezogenen Gelegenheitsdichtung an- prangerte und sie “Bastardtöchter der Muse” nannte.49 Gleim ging es ähnlich mit dem ‘Unmodernwerden’. Er selbst resü- mierte darüber in mehreren Gedichten, darunter im Abschied des alten Grenadiers von 1796:

Ich bin der alte Grenadier, Der Kriegeslieder sang, Nun aber einsam, sitz’ ich hier Im Hüttchen und bin krank!50

Dann hält er ein Selbstgespräch über die veränderte Zeit und Welt:

Ich hör: In aller Welt ist Krieg, Die Völker schlachten sich;

Gleim schließt melancholisch resignierend über seinen vergangenen Ruhm und tröstet sich mit feiner Ironie über die ‘hochmütigen’ Nach- geborenen:

Gestorben, hör’ ich nichts von Blut, Geflossen in den Rhein! Gestorben, nichts von Übermuth, In Gottes Sonnenschein!

Folgt stolzer Menschen Hohn und Spott Mir nach in’s kühle Grab, Es schadet nichts! ich bin bei Gott, Und seh’ auf sie herab!

In jenem Leben sind wir gleich, Die Stolzen schämen sich. –

48 Bernhard Seuffert: Die Karschin und die Grafen zu Stolberg-Wernigerode. In: Zeitschrift des Harzvereins, 13 (1880), S. 194. 49 Rudolf Drux: Gelegenheitsgedicht. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen 1996, Bd. 3, Sp. 653-67, hier Sp. 664. 50 Gleim’s Gedichte. Nationalbibliothek der deutschen Klassiker. New York, Hild- burghausen 1876, Bd. 6, S. 45.

Chloe 43 “Gross durch den Sieg des Königs” 487

Seht ihr ein Wölkchen über euch? Hochmüthler, das bin ich!

Gleims Dichtung wurde aus der heute als kanonisch geltenden Lite- ratur ausgeschieden. Seine preußischen Gelegenheitsgedichte mit der Heroisierung des Krieges waren jedoch in den Freiheitskriegen wieder populär (und auch die Kriegslyrik des 1870er Krieges knüpfte aus- drücklich an Gleim an), als der Nationaldiskurs sich ausdehnte. Mit der Familiarisierung des Königs und des Vaterlandes brachte er neue Themen in die Gelegenheitsdichtung und politisierte sie für seine Zeit, wie auch Anna Louisa Karsch als ‘Volksstimme’ Schlesiens die Ka- sualdichtung für den nationalen Diskurs nutzbar machte. Ihre Panegy- rik auf Friedrich den Großen und die Damen des preußischen Hofes verschaffte ihr die nötige Patronage, um als Stegreif- und Gelegen- heitsdichterin ihren Unterhalt zu verdienen und in der literarischen Szene Berlins in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine heraus- ragende Stellung einzunehmen.

Chloe 43

A n e t t L ü t t e k e n

“BODMERS ARMEN ENTGEGEN” – GELEGENHEITSPOESIEN IM KREIS DER ZÜRCHER AUFKLÄRER

In einem Lebensalter, in dem andere ihre Kreise langsam immer klei- ner werden sehen, knüpfte Johann Jacob Bodmer zahlreiche neue Kontakte. Wahrhaft stattlich ist demgemäß die Anzahl der in den siebziger und den frühen achtziger Jahren an ihn gerichteten und in seinem Nachlass aufbewahrten Briefe. Ihre Verfasser waren häufig literaturbegeisterte Jünglinge, die den greisen Aufklärer, den schein- bar doch längst ungleichzeitig gewordenen Zeitgenossen Bodmer, ausgerechnet in dem historischen Moment zu ihrem Geistesverwand- ten erkoren, als der ‘Sturm und Drang’ längst dabei war, sich seinen Weg zu bahnen. Einer von ihnen, Karl von Welser von und zu Neun- hof (1758-1800), schickte dem verehrten, ihm jedoch nicht persönlich bekannten Mentor am 23. November 1781 – als Fähigkeitsausweis gewissermaßen – eine frisch gedruckte Probe seines poetischen Kön- nens: ein Epithalamium mit einem viel- und zugleich doch alles sa- genden Titel:1

Meinem von Scheurl und Seiner Geliebten bey Ihrer Verbindung

Schön ist der Morgen nach düsterer Nacht überpurpurt Vom güldenen Fittig der kommenden Sonne – Labend der erquikende herabrauschende Thauregen Auf schmachtende dürre Gefilde – – Süss das kühlende Weben des säuselnden Westes Nach heulenden tobenden Stürmen. – –

1 Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 6.11 (4): Karl von Welser an Johann Jacob Bodmer, 23. November 1781, [Beilage]. In der gleichzeitigen Korrespondenz Bodmers mit Gotthold Friedrich Stäudlin wird Welser mehrfach erwähnt; zu Welsers Werdegang vgl.: “… Warlich ein herrlicher Mann …” Gotthold Fried- rich Stäudlin. Lebensdokumente und Briefe. Hrsg. von Werner Volke. Stuttgart 1999, S. 66, 77, 80 f., 158 und bes. 361 f.

Chloe 43 490 Anett Lütteken

Aber schöner und labender und süsser ist treuer dultender Liebe Feste Vereinigung. – – Soll ich Euch schildern die Gefühle, die mir heute die Seele umfassen? – Künden Euch Wünsche, tief aus dem Herzen entquollen? – Schildern wollt ich’s – – und schweige; Künden wollt ich’s – – und stumme; Denn Entzücken fesselt die bebende Lippe. K. v. W. Den 27. November 1781.

Bodmer reagierte hierauf anscheinend nicht; er schwieg zu diesem freundlichen Gastgeschenk eines Dilettanten in der Klopstock-Nach- folge, und dies beharrlich. Kein Wunder also, dass dessen Urheber be- reits am 5. Januar 1782 ein wenig pikiert nachhakte: “Sie haben doch meinen letzten Brief vom 23. November erhalten?”2 Vielleicht war es der über Achtzigjährige schlicht leid, sich mit den emotionstrunkenen, zumeist aber eben doch nur begrenzt begabten Epigonen des Messias-Dichters abzugeben. Dennoch lässt die vermie- dene Reaktion auf ein den privaten Anlass in künstlerischer Hinsicht kaum überstrahlendes Gelegenheitsgedicht3 zugleich auch auf eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem von Welser gewählten Text- genre selbst schließen, auf eine Aversion hinsichtlich einer im Jahr 1781 tatsächlich längst aus der Zeit gefallenen und zudem minderen, weil allein anlassbezogenen Art Poesie zu betreiben.

2 Ebd., Ms Bodmer 6.11 (5): Karl von Welser an Johann Jacob Bodmer, 5. Januar 1782; vgl. auch: Ms Bodmer 6.11 (7): Karl von Welser an Johann Jacob Bodmer, 29. Juli 1782 [Beilage: [Druck]: ‘Der Vermählung seines Freundes von Schmidt mit Fräulein von Hörmann von [Johann Andreas] Schunther. am 22. Julius 1782’]. 3 Es erscheint sinnvoll, die pragmatische, für alle Qualitätsstufen zutreffende und zudem sehr offene Gattungsdefinition von Wulf Segebrecht zu verwenden: “auf ein bestimmtes Ereignis geschriebenes oder aus einer bestimmten Veranlassung heraus entstandenes Gedicht” (zitiert nach ders.: Art. “Gelegenheitsgedicht”. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [...]. Hrsg. von Klaus Weimar. Berlin; New York 2007, Bd. 1, S. 688-691, hier: S. 688); zum Status des Genres im späten 18. Jahrhundert vgl. Uwe K. Ketelsen: Poesie und bürgerlicher Kultur- anspruch. Die Kritik an der rhetorischen Gelegenheitspoesie. In: Lessing- Yearbook 8 (1976), S. 89-107, sowie das einleitende Kapitel in: Stefanie Stock- horst: Fürstenpreis und Kunstprogramm. Sozial- und gattungsgeschichtliche Stu- dien zu Goethes Gelegenheitsdichtungen für den Weimarer Hof. Tübingen 2002, S. 1-14.

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 491

Ähnlich halbherzig wie uneindeutig war Bodmer zuvor bereits mit einem ganz anderen Occasionalpoem umgegangen, das “Philos. Cand.” Hans Georg Dentzler (1629-1710) anlässlich der Eheschlie- ßung eines seiner Vorfahren im Jahr 1652 verfasst hatte:4

Hochzeit-Gedichte Auf den Hochzeitlichen Ehren- und Frewdentag/ Des Frommen und Ehren- vesten Herren Hans Ulrich Bodmers/ Des Frommen/ Ehrenvesten/ Fürsich- tigen und Weysen Herren Hans Jacob Bodmers sel. des grossen Rahts/ und gewesnen Vogts im Heggi/ Ehelichen Sohn/ alß H. Hochzeitern: Wie dann auch Der vile Ehrenreichen und Tugendsammen Jungfrawen Susanna Du- nus/ Des Frommen/ Ehrenvesten und Vorgeachten Herren Felix Dunus/ Ehelichen Tochter/ alsß Jungfraw Hochzeiterin: Auf ihr Hochzeitliches Frewdenfäst/ so gehalten in Zürich/ Montags den 26. Heumonat/ des 1652. Jahrs.

I. Triplex festum Nuptiale. Sunt tria connubij benedicti vincla jugalis Quæ laude sunt plena inclyta, Plenáque lætitiâ. […]

II. Der obgesetzten Lateinischen Versen meinung und innhalt.

Ihr Hochtzeitgäste wolt/ vor andern/ achtung geben Auf drey so hohe Fäst/ die man kan halten eben/ Zwey hier in diser welt/ das dritte nach der zeit Am Hochzeitfäst des Lam[m]s/ in höchster seligkeit. Den ersten Ehrentag mit frewden man begehet Wann ein verlobtes Par vor Gott dem Herren stehet/ Wann es vor seiner Gmeind mit hertzen/ hand vnd mund Verknüpfet vest und steiff/ den schönen Ehes-bund. Das ander Frewdenfäst Eheleuhte dannzmal zieren/ Wann ihrem Heiland sie ihm heilgen Tauff zuführen

4 Zentralbibliothek Zürich, Ms. Bodmer 38.7: Gedicht auf die Hochzeit Hans Ul- rich Bodmers mit Susanna Dunus. Zürich 1652 (mit handschriftlichen Randbe- merkungen Bodmers auf der Vorderseite und Notizen auf der Rückseite); zum Werdegang des Verfassers, der u.a. als Pfarrer in Lindau/ZH tätig war, vgl. ‘Zür- cher Geschlechterbuch’ (Tom. II. Lit. C.D.E.) [Zentralbibliothek Zürich: Msc. E 17], S. 60, sowie ebd. [MsZ II 2]: Keller-Escher: Promptuarium Genealogicum II, C-F, S. 125.

Chloe 43 492 Anett Lütteken

Ihre liebe Leibesfrucht/ die kleinen kinderlein/ Vnd seinem gnadenbund und dardurch verleiben eyn. Der dritte Hochtzeit-tag im himmel wird gehalten/ Nach dem die kinder Gotts gantz frewdenreicher gstalten Jetz hingeleget hand diß lebens traurigkeit/ Vnd leben immerhin in stehter frölichkeit. Zu disem Hochzeitfäst zusammen werden kommen Die Himmelsgäste all/ ich meine nur die frommen/ Von Auf- vnd Nidergang/ mit frewdenreichem schall/ Zu niessen immerdar des Lammes Hochzeitmahl. Das new verlobte Par wird diser zeit geehret Mit erster Ehfästs Cron/ die Gott ihm heut beschehret. Er wird/ zu seiner zeit/ ihm auch verleihen schon Kindskindern kinderlein/ des andern Ehefästslohn. Er/ aller Herren Herr/ dem alle macht muß weichen/ Der grosse starcke Gott/ dem nichts ist zuvergleichen/ Der segne dises Par am leib/ vnd am gemüht/ Behüt es lang gesund durch seine grosse güt! Zu letst wöll Gott der Herr diß newe par auch ziehren/ Daß an des Lam[m]s hochzeit es möge jubilieren In höchster herrlichkeit/ mit unverwelckter Cron/ Die wir ihm wünschen all/ durch Christum/ Gottes Sohn!

III. Ihr alle die heute die Hochzeit beschawet/ Wünscht hertzlich/ daß dises par werde betawet Mit tropfen des göttlichen segens/ vil jahr In friden und frewden zuleben ohn gfahr: Daß alles/ was ihnen gewünschet wird werden/ An beiden erwahret mög werden auf erden/ Wünscht ihnen vil frewde/ gesegneten Stand/ Daß nichtes mög lösen ihr eheliches band. Wünscht weiter/ daß ihnen der herren ein Herr Ins dritte geschlecht leibsfrüchte beschehr. Wann disere früchte sich werden für tringen/ So wöllen wir newe wünschlieder ansingen.

Also wünscht auß Schwägerlicher wolgewogenheit/ Hans Georg Dentzler/ Philos. Cand. […]

Der schlichte Einblattdruck befindet sich heute im Nachlass Bodmers, von dem ein offenbar missgestimmter Schweizer Philologe einmal recht zutreffend festgestellt hat, dass darin jedes, aber auch wirklich

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 493 jedes Blättchen aus dem Besitz des Gelehrten aufbewahrt worden ist.5 Aufbewahrenswert und -würdig war dieser Druck dem geschichts- und quellenbewussten Bodmer immerhin ja doch erschienen, viel- leicht als ein Zeugnis für das alte Zürich, dessen bürgerliche Tugen- den und Frömmigkeit er sehr schätzte und – trotz seiner Vorliebe für Rousseau – als vorbildlich erachtete. Dass ihm die kleine Rarität so wertvoll allerdings wieder auch nicht gewesen war, lässt sich aufgrund der zahlreichen Notizen vermuten, mit der er sie auf Vorder- und Rückseite in seiner unleserlichen Handschrift übersät hat: der Druck mit dem Hochzeitsgedicht der Altvorderen diente ihm augenscheinlich als eine Art Schmierzettel. Beide Beispiele lassen Bodmers Haltung gegenüber Gelegenheitspoesien auf den ersten, freilich sehr oberfläch- lichen Blick ein wenig ambivalent erscheinen; Grund genug mithin, sie im Folgenden etwas eingehender zu untersuchen. Unabhängig hiervon lässt die Machart beider Hochzeitscarmina da- rüber hinaus schon erahnen, wo die Probleme eines adäquaten Um- gangs mit dieser Textsorte in einer Spätzeit der Gattung liegen: Wel- che enormen sozialen und gesellschaftlichen Umbrüche es allen le- bensweltlichen Kontinuitäten zum Trotz zwischen 1652 und 1781 ge- geben haben muss, wird im direkten Vergleich der Gedichte über- deutlich, zudem noch der umfassende Wandel des kollektiven wie des individuellen Ausdrucksvermögens und auch die so stark empfundene Begierde selbstbewusst gewordener, von Grund auf aufgeklärter Indi- viduen, gelernte und tradierte Normen und Formeln aufzugeben, um persönlich Empfundenes persönlich formulieren zu lernen. Von der “Schwägerliche[n] wolgewogenheit” des Hans Georg Dentzler zu der vom “Entzücken” gefesselten “bebende[n] Lippe” des Karl von Wel- ser ist ein entschieden weiter (Bildungs-)Weg zurückzulegen gewesen. Dass der Druck des 17. Jahrhunderts überdies auf spezifisch stadt- zürcherische und/oder auch reformierte Gepflogenheiten als eine weitere, hier unbedingt einzubeziehende Problematik verweist, darf gleichfalls keineswegs vergessen werden. Im Vergleich nämlich zum gattungsdominierenden norddeutsch-protestantischen Raum im wie- testen Sinne oder auch zur traditionellen Panegyrik fanden sich im deutschschweizerischen städtischen Einzugsbereich für diese Dich- tungsart traditionell eher signifikant begrenzte Verwendungskontexte. Wenn auch alle Stationen christlich-bürgerlichen Lebens Schreiban-

5 Vgl. Bodmer’s Tagebuch (1752 bis 1782). Hrsg. v. Jakob Bächtold. In: Zürcher Taschenbuch 1891, S. 190-216, hier: S. 190.

Chloe 43 494 Anett Lütteken lässe bieten konnten,6 so fehlten doch gerade diejenigen feudalen Strukturen, die andernorts erst Mäzenatentum und damit die Subsis- tenzsicherung für den Poeten und so die Poesie selbst ermöglichten. Hinzu kommt eine tief verwurzelte republikanische Skepsis gegenüber höfisch-absolutistischen Lebensformen, die im Umfeld der Zürcher Aufklärung definitiv als mentalitätsprägend zu sehen ist. Sie erzeugt eine profunde Verständnislosigkeit gegenüber allen abhängigen, wenn man so will, ‘buckelnden’ und also eben ‘unfreien’ Poesieformen, die sich als Rezeptions- wie Verwendungshürde auswirken konnte.7 Jo- hann Georg Schultheß (1724-1802), Bodmers schweizerischer, tempo- rär in Berlin ansässiger Korrespondenzpartner, brachte diese Position, sichtlich Einvernehmen voraussetzend, lakonisch auf den Punkt, als er im Jahr 1750 im Blick auf den seit 1748 als Professor am Braun- schweiger Collegium Carolinum tätigen Karl Christian Gärtner (1712- 1791) festhielt: “Gärtner macht zuviel Gelegenheitsgedichte an den Hof in Braunschweig”.8 Eingedenk solcher Prämissen sollen nachfol- gend nun drei Aspekte der Gesamtproblematik ausführlicher unter- sucht werden: Zu fragen ist dabei 1. nach den Funktionen von Gele- genheitspoesien fremder bzw. auswärtiger Verfasser für Bodmer, weiterhin und 2. nach den Situationen, in denen sich dieser als ein Gelegenheitsdichter betätigt hat, und was genau er damit bezweckte, und 3. schließlich, inwiefern sich einige der späten, dem Mentor Bod-

6 Vgl. etwa: Zentralbibliothek Zürich: Gal Ch 40: Albrecht von Haller: Beym Bey- lager Deß Wohl-gebohrnen Gnädigen Herrn Isaac Steiger, Des Standes Bern Schuldtheissen, Mit der Wohl-gebohrnen Elisabeth von Erlach, vermählten Rom- bach, […] Bern 1735, oder ebd. die Helvetia-Varia-Sammelbände 18.227 (1-55) und 18.509 (1-28) aus dem Zeitraum vom ersten Drittel des 17. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Eine Art Kompensation für die nicht vorhandenen Möglich- keiten zum ‘Herrscherlob’ stellten offenbar die anläßlich von Bürgermeisterwah- len verfaßten Gelegenheitspoesien dar: vgl. hierzu sowie zum Forschungsstand: Regula Weber-Steiner: Glükwünschende Ruhm- und Ehrengetichte: Casualcar- mina zu Zürcher Bürgermeisterwahlen des 17. Jahrhunderts. Bern 2006. (Deut- sche Literatur von den Anfängen bis 1700 43), S. 11-16. 7 Genauer wäre in diesem Zusammenhang auch Bodmers Meinung über die Fried- rich II.-Poesien Karl Wilhelm Ramlers zu untersuchen, die ihn einerseits, als Zeugnisse für den Ruhm dieses Herrschers, faszinierten, in anderer Hinsicht aber zugleich befremdet haben werden; vgl. Zentralbibliothek Zürich Gal Ch 45 (2-5): in diesem Sammelband sind diverse diesbezügliche Arbeiten Ramlers enthalten (u.a.: ‘Sr. Königl. Hoheit, Dem Prinzen von Preussen, An Dero Geburts-Tage ge- widmet. 1761’ und ‘Lied der Nymphe Persanteis [...]’ 1760). 8 Zitiert nach: Zürcher Taschenbuch 1894, S. 26-30, hier: S. 27 [Brief undatiert].

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 495 mer gewidmeten Casualcarmina jugendlicher Verehrer als Erneue- rungsversuche der Gattung selbst begreifen lassen.

Casualcarmina als Netzwerkdokumente

Was der Tod des Grafen von Wackerbart, Kantaten “nach Teleman- nischer Composition” und Johann Christoph Gottscheds Leipziger Rektoratsrede von 1738 miteinander zu tun haben, erfährt man beim Blick in einen sehr schlichten Sammelband, der bis zum Januar 1776 zu Bodmers privater Bibliothek gehört hat, und den er – wie zahlrei- che andere Bände auch – schon zu Lebzeiten der Zürcher Stadtbiblio- thek stiftete. Hinter der laufenden Nummer 1 der Signaturengruppe “Gal Ch”, die nicht der Systematik der Bodmerschen Bibliothek ent- spricht, verbirgt sich ein Unikat: der abgenutzte Pappband im Folio- format enthält laut Zählung 48 [tatsächlich: 47] Gelegenheitspoesien, zumeist Einblattdrucke, aus dem Zeitraum von 1734 bis 1743.9 Das System, nach dem der Besitzer Bodmer diese Drucke geordnet hatte, wirkt zunächst ein wenig vage: an die Chronologie ihres Erscheinens hielt er sich offenkundig nicht, wohl eher an die des Eintreffens bei ihm. Drei Orte sind es dabei im wesentlichen, aus denen er in dieser Zeit Post mit gedruckten Beilagen erhalten hatte: Dresden, Hamburg und Leipzig; drei Orte, die überdies für ausgesprochen zeittypische wie signifikant unterschiedliche Verwendungskontexte stehen, wobei sich allerdings keineswegs immer eindeutig klären lässt, welche Kor- respondenzpartner es eigentlich waren, die Bodmer derart über das öffentliche Geschehen in anderen Regionen auf dem laufenden hiel- ten. Die sieben aus Dresden stammenden Gedichte, von denen vier vom Kgl. polnischen und kurfürstlich sächsischen Hof- und Ceremonien-

9 Die in Gal Ch 40 eingebundenen 24 Gedichte stammen dagegen aus dem Zeit- raum von 1719 bis 1735 und können somit als ein weiterer Teil der “Sammlung von Occasionalgedichten” (vgl. Füsslis postum erstelltes handschriftliches Ver- zeichnis: Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 38a, S. 1), die Bodmer besaß und im Januar 1776 der Stadtbibliothek übereignete, identifiziert werden. Die enthal- tenen Gedichte stammen aus Ansbach (1), Dresden (10 plus 1 [Anlaß: Dresden; Druckort: Leipzig]), Frankfurt/M. (1), Hamburg (2), Jena (1), Leipzig (5), Onolz- bach (1) und Straßburg (2).

Chloe 43 496 Anett Lütteken raht Johann Ulrich König (1688-1744)10 verfasst worden waren und zwei weitere vom Schleusinger Gymnasiallehrer Johann Friedrich Hauswald (1710-1761),11 dokumentieren höfische Entstehungszusam- menhänge (wie etwa das auf den Tod des Generalfeldmarschalls, des Grafen von Wackerbart im Jahr 1734, die Geburt des Prinzen Albert Casimir 1738, oder das Epibaterion für Friedrich von Sachsen von 1740). Entsprechend sind Wortwahl, Ton und Stil diesem spezifischen sozialen Umfeld angepasst. Zwar hatte Bodmer zwischen 1724 und 1727 auch selbst mit König korrespondiert, der Kontakt war danach jedoch abgebrochen.12 Dennoch ist es nicht allzu unwahrscheinlich, dass König Bodmer großzügig mit seinen eigenen Arbeiten ‘versorgt’ hat: neben den in diesem Band enthaltenen Gedichten befinden sich weitere neun Gelegenheitsarbeiten des Autors aus dem Zeitraum von 1719 bis 1734 im Varia-Band Gal Ch 40, der gleichfalls zu Bodmers privatem Buchbestand gehörte. Die aus den späten zwanziger und den dreißiger Jahren datierenden Arbeiten Königs13 könnten im Übrigen auch von einem der beiden anderen Dresdner Korrespondenzpartner übermittelt worden sein, eventuell also von Johann Friedrich Haus- wald14 oder von Johann Christoph Rost (1717-1765).15

10 Vgl. Christel Hebig: Dichter und Bibliothekar. Zum 300. Geburtstag von Johann Ulrich von König. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 102 (1988), S. 559-63; Kerstin Held: Der vollkommene Regent: Studien zur panegyrischen Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tübingen 1997. (Frühe Neuzeit 34). 11 Vgl. Zentralbibl. Zürich, Gal Ch 1, Nr. 1, 3-6 (König) und 44/45 (Hauswald). 12 Vgl. ebd., Ms Bodmer 3.12 (1-6): Johann Ulrich König an Bodmer; le-diglich drei der Briefe Bodmers lassen sich aus den Empfangsbestätigungen Königs erschließen; vgl. auch Königs Brief an Gottsched [Anfang Januar 1729] in: Johann Christoph Gottsched: Briefwechsel unter Einschluss des Briefwechsels von Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Band 1: 1722-1730. Hrsg. und bearbei- tet von Detlef Döring, Rüdiger Otto und Michael Schlott [...]. Berlin; New York 2007, S. 164-166, hier: S. 165: “Daß Sie dem Schweizer zu halse wollen, kan ich Ihnen nicht verdencken, er hat es gar zu plump gemacht, u. ich vermuthe, aus einem Briefe des Hn. Prof. Richey an mich, daß ihm von Hamburg aus der Belz auch dürffte gewaschen werden, das Stücke in der Matrone ist gesalzen genug [...]”; vgl. auch: Die Matrone 1728, 46. Stück, 11. November 1728, S. 361-368. 13 Vgl. ebd., Gal Ch 40 (3), (4), [4a], (5), (6), (7), (8), (9), (10), (11). 14 Vgl. Zentralbibl. Zürich, Ms Bodmer 2a.8 (1-3): J. F. Hauswald [Dresden] an Johann Jacob Bodmer [30. März 1742, 20. November 1742 und 23. März 1743]. 15 Vgl. ebd., Ms Bodmer 4b.21: Johann Christoph Rost an Johann Jacob Bodmer, 4. Dezember 1743.

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 497

Die einundzwanzig Drucke Hamburger Provenienz dürften hinge- gen wohl auf den seit 1741 gepflegten intensiven Austausch mit Fried- rich von Hagedorn (1708-1754) zurückgehen.16 In ihnen wird das öf- fentliche Leben der Bürgerstadt Hamburg auf eine sehr umfassende Weise kommentiert; vom Tod des Sohns von Michael Richey, der 1715 gemeinsam mit Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) und Jo- hann Ulrich König dort die ‘Teutschübende Gesellschaft’ begründet hatte,17 erfuhr Bodmer durch sie ebenso wie von den schriftstelleri- schen Anfängen der späteren Bremer Beiträger Johann Arnold Ebert (1723-1795) und Nikolaus Dietrich Giseke (1724-1765), die Hoch- zeiten, Todesfälle und Amtseinführungen ihnen nahestehender Perso- nen poetisch unterlegten.18 Einige Kantaten-Texte zu heute meist verlorenen Kompositionen Georg Philipp Telemanns (1681-1767) be- zeugten daneben das schon frühzeitig blühende bürgerliche Musikle- ben der Kaufmanns- und Hansestadt.19

16 Vgl. ebd., Gal Ch 1 die Nummern 2, 7, 11-29, 48. 17 Vgl. ebd. Nr. 2 sowie Gal Ch 40 (1) und (2), die dem Umfeld der Hamburgischen Patrioten-Gesellschaft zuzurechnen sind, deren Publikationen Bodmer sehr skep- tisch gegenüberstand: (1) Daphnis. Hirten-Gedicht, Auf das Vermählungs-Fest Des Durchlauchtigsten Braunschweig-Lüneburgischen Printzen Carls, Und der Preussischen Printzeßin Philippinen Charlotten Königl. Hoheit, ehrerbietigst überreichet von der Hamburgischen Patrioten-Gesellschaft. Hamburg, gedruckt bey Conrad König [...], [o. J.]; (2): Denk-Mahl, dem Herrn Johann Adolph Hoff- mann, berühmten Philosopho und Philologo, als ihrem gewesenen Hochwehrtes- ten Mitgliede, nach Dessen am 17. Nou[!]embr. des 1731sten Jahres erfolgten höchstseeligen Ableben, aufgerichtet von der Patriotischen Gesellschaft in Ham- burg. Hamburg, gedruckt bey Conrad König, [...]. Vgl. hierzu: Jürgen Rathje: Brockes’ Bücherkatalog als Quelle zu Hamburgs geistigem Leben. In: Barthold Heinrich Brockes (1680-1747) im Spiegel seiner Bibliothek und Bildgalerie. Hrsg. von Hans-Georg Kemper, Uwe-K. Ketelsen und Carsten Zelle. 2 Teile. Wiesbaden 1998. (Wolfenbütteler Forschungen 80), S. 83-123, hier: S. 100-111. 18 Vgl. ebd., Nr. 11-14 (Ebert), 16, 17, 19 (Giseke); vgl. auch Ms Bodmer 41.33: Nikolaus Dietrich Giseke: Ode auf das im Monat Junius in Dresden gefeyerte doppelte hohe Vermählungsfest. 7 Bl., sowie aus Bodmers Privatbibliothek (heu- te Zentralbibliothek Zürich): 25.26a, 8: Ode auf das Absterben des Hochweisen und Hochgelahren Herrn, HERR Barthold Heinrich Brockes, Beider Rechte Li- centiaten, Rahtsherrn und Scholarchen in Hamburg, von Nikolaus Dieterich Gi- seke. Leipzig, Gedruckt bey Johann Christian Langenheim, 1747; und: 9. Ode an den Herrn Johann Luis bey seiner Verbindung mit der Mademoiselle Agatha Beckhoffin von Nicolas Dieterich Giseke. Leipzig, Gedruckt bey Johann Chris- tian Langenheim. 19 Vgl. ebd., Nr. 15; 24: Auf Seine Einsegnung zum Diaconat an der Kirche zu St. Cathrinen hat folgende nach Telemannischer Composition abgesungene Cantate

Chloe 43 498 Anett Lütteken

Aus Leipzig schließlich stammen die acht, an Bodmer höchstwahr- scheinlich von Gottsched selbst oder anderen mit ihm korrespondie- renden Mitgliedern der ‘Deutschen Gesellschaft’ (wie z.B. von Johann Jacob Mascov (1689-1761) oder Johann Lorenz Mosheim (1693- 1755)) übermittelten und vorwiegend20 universitären Kontexten zuge- hörigen Gedichte: von Zürich aus konnte Bodmer so unter anderem Magister Johann Joachim Schwabes (1711-1784) akademische Kar- riere verfolgen und Gottsched zum Rektor der Leipziger Universität avancieren sehen.21 Neben dem reinen Nachrichtenwert, dem Informationscharakter al- ler dieser Texte mag auch die ihnen eingeschriebene Tendenz, sozia- len Rang bzw. Status von Verfassern und/ oder Beschriebenen zu be- zeugen, Bodmer bei der Lektüre vor allem eines deutlich gemacht ha- ben, nämlich, wie sehr sich die Zürcher Rahmenbedingungen für diese Dichtungsart von denen anderer Metropolen der Aufklärung unter- schieden. Übertragbar waren die dortigen Gepflogenheiten auf die Verhältnisse vor Ort kaum: das begann mit der hamburgischen Freude an öffentlichen Musikdarbietungen, die in Zürich seit Zwingli und bis

verfertiget Joachim Johann Daniel Zimmermann. Hamburg, den 10. Augusti 1741. Druckts Rudolph Beneke; 48: Als der weiland Magnificus, Hoch-Edel- Gebohrne, Hoch-Gelahrte, Hoch-Weise Herr, Herr Rütger Rulant, J. V. D. und der Hamburgischen Republik ins funfzehnte Jahr Höchstverdient-gewesener Bürgermeister, Im Jahr 1742. den 30ten November in der Neuen St. Michaelis- Kirche beerdigt ward, wiedmete über des Hochseligen Wahl-Spruch: (Wer Gott vertraut, hat wohl gebaut!) dem Hochansehnlichen Gefolge zur Kirchen-Andacht nachstehende Betrachtung M. A. Wilkens. D. und ward deren musicalische Auf- führung besorget von G. P. Telemann, Chor. Mus. Dir. Hamburg, gedruckt bey Conrad König, Eines Hochedlen und Hochweisen Rahts Buchdrucker; vgl. auch: Laurenz Lütteken: Art. ‘Telemann, Georg Philipp’. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Zweite, neubearb. Ausgabe. Hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel u.a. 2006, Personenteil, Bd. 16, Sp. 585-678, hier: Sp. 598-603. 20 Vgl. ebd., Nr. 10: Johann Christoph Gottsched: Carl, Der Friedensstifter. Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf, 1736; vgl. auch: Hans Georg Kemper: ‘Und reimte Tag und Nacht’. Zur Kritik und Didaktisierung der Gelegenheitspoesie (Canitz, Gottsched, Hunold u.a.). In: ders., Deutsche Lyrik in der Frühen Neuzeit. Tübingen 1991. (Bd. 5/II: Frühaufklärung), S. 24-32. 21 Vgl. ebd., Nr. 30, 32-34 und 37; vgl. Gal Ch 40 (13) Gottscheds anläßlich der Erbhuldigung Friedrich Augusts im Jahr 1733 verfaßtes Gedicht, sowie dessen Verse anläßlich der Verleihung der Doktorwürde an Franz Ludwig, Reichsgraf zu Oettingen vom 12. Mai 1734 (14), an Christian Gottlieb Jöcher, 1734 (16) und zum Thema ‘Ein wahrer Held [...] nach dem ungemeinen Muster Friedrich Au- gusts’ von 1733 (15).

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 499 zur Bestattung Lavaters 1801 nur in allerbescheidenstem Umfang denkbar waren; es erstreckte sich über die im Vergleich zu Leipzig wesentlich stärker theologisch dominierte akademische Welt des Col- legium Carolinum,22 als dessen verlängerter Arm die allem Weltlichen und insbesondere den Musen abholde Zensurkommission wirkte, und endete wohl mit dem konsolidiert republikanischen Unverständnis ge- genüber der “tieffste[n] Unterthänigkeit” und Servilität, mit der etwa Hauswald als ein ‘Fürstendiener’ aus Überzeugung seine Oden über- reichte. Von den mannigfachen Sachzwängen der Panegyrik wie den unbequemen Erfordernissen der Terminarbeit hatte ihm Johann Ulrich König ja schon 1726 berichtet. Als er Bodmer eine “versprochene Lob-Ode von Freinsheim” geschickt hatte, hatte er hinzugefügt: “ein Gedicht, so ich, meines kräncklichen Zustandes ungeacht, in zween Tagen anfertigen müssen auf die Einrichtung der hiesigen Ritter-Aca- demie für die adeligen Cadets und andre junge Edelleüthe”.23 Mit einigem Befremden und im vollen Bewusstsein faktisch un- überwindbarer Gräben zwischen Regionen, Mentalitäten und Konfes- sionen wird Bodmer daher wohl auch Königs auf staatsbestätigende Kurzweil angelegte Dreßdnische Carnevals-Ergötzlichkeiten studiert haben. Diese bestanden aus zwei, soziale Realitäten und Differenzen verklärend abschirmenden Teilen: den Poetischen Einfällen über ei- nige Königliche Schiessen und den Schertz- und Sinn-Gedichten über die daselbst gehaltene Bauren-Wirthschafft, die König 1728 “auf Hohen Befehl verfertiget” hatte.24 Königs Bericht von den königlichen

22 Vgl. Hans-Peter Marti: Die Zürcher Hohe Schule im Spiegel von Lehrplänen und Unterrichtspensen (1650-1740), in: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008, S. 395-409. 23 König an Bodmer, 15. Juni 1726 [in: Alois Brandl: Barthold Heinrich Brockes. Nebst darauf bezüglichen Briefen von Johann Ulrich König an Bodmer. Ein Bei- trag zur deutschen Literatur im 18. Jahrhundert. Innsbruck 1878, S. 149]; vgl.: Gedancken über die königl. Pohln. und churfl. Sächsische neuerbaute Ritter- u. Militair-Akademie in Dressden; als solche durch [...] Grafen von Wackerbart [...] zu Stande gebracht, von den Ständen [...] in Augenschein genommen u. dieselben 1726 bewirthet worden [...] Vorgelesen von Johann Ulrich von König. Dresden: Stössel, 1726. 24 Vgl. Zentralbibliothek Zürich, Gal Ch 40 (7): Dreßdnische Carnevals-Ergötzlich- keiten, bestehend in Poetischen Einfällen über einige Königliche Schiessen, und dergleichen Schertz- und Sinn- Gedichten über die daselbst gehaltene Bauren- Wirthschafft, auf Hohen Befehl verfertiget von Johann Ulrich König, Sr. Königl. Majest. in Pohlen und Churfürstl. Durchl. zu Sachsen geheimen Secretar und Hof-Poeten. Mit allergnädigster hiezu besonders verliehenen Königlichen Frey-

Chloe 43 500 Anett Lütteken

Schießversuchen im Kreise prominenter Gäste – am 15. Januar 1728 hatte man des Nachts auf Scheiben und am 25. Januar zu nicht er- wähnter Tageszeit “Auf der Vestung” “Schnepper” geschossen – do- kumentiert das notwendig etwas verkrampfte Bemühen, den heiteren Anlass in angemessen kolloquialen Versen zu dokumentieren, ohne dabei den sozialen Rang der Beteiligten außer Acht zu lassen. Die Anwesenheit gleich zweier gekrönter Häupter als “Schützen” – “Ihro Königl. Majest. in Preussen” waren ebenso vor Ort wie “Ihro Königl. Majest. in Pohlen” – machte dies dem Poeten gewiss nicht eben leichter. König schlug sich dabei ebenso wacker wie routiniert profes- sionell: Auf die Begrüßung der hohen Gäste lobte er politisch korrekt “beyder Häuser Freund- Verwandt- und Nachbarschaft” (V. 5), be- zeichnete den tendenziell informellen Rahmen, indem er auf eine ei- gentlich obligate ausführliche Titelnennung verzichtete und – als Teil des Systems gleichsam – Hofgepflogenheiten liebevoll karikierte (V. 15-16): “Wüßt ich gleich ganz genau die Zahl der Hofe-Katzen, | Die vornen freundlich thun und lecken, hinten kratzen”. Zehn Tage darauf traten die gekrönten Häupter in einer im Losverfahren definierten Ab- folge erneut an, diesmal zum Schnepper-Schießen. Und erneut oblag es König, hierzu Verse zu entwerfen. In ihnen rekurrierte er eingangs auf eine offenbar tatsächlich stattgehabte Panne beim Ablauf des Scheiben-Schießens vom 15. Januar (“Beym Schiessen hinderte jüngsthin die späthe Nacht, | Daß ich euch, nach Verdienst, die Preise nicht gebracht […].” V. 1 f.). Dies war Anlass genug für den Hof-Po- eten eine “Fabel” zu entwickeln, bei der zwei gekrönte “Adler” ihrem Status gemäß eine wichtige Rolle spielen,

Die sich zugleich Zu dem Geschlecht der Neun besondern Vögel zehlen, Die für das Allerhöchste Reich, Wann es die Zeit erheischt, den dopplen Adler wehlen. [V. 9-12]

Mit solchen ‘Reichs-Adlern’ poetisch und auch im wirklichen Leben umzugehen, erforderte ein hohes Maß an diplomatisch geschultem Fingerspitzengefühl – das wenigstens wird Bodmer beim Nachvollzug solch hochadeliger Unterhaltungsinszenierungen deutlich geworden sein. Unter Umständen empfand er ja sogar auch ein wenig Mitleid

heit. 1728. Leipzig, Bey Johann Friedrich Gleditschens seel. Sohn.; vgl. auch ebd., (6).

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 501 mit einem Mann, der durch sein Amt gezwungen war, die Teil-nehmer und den Ablauf des nachfolgenden Wettstreits minutiös und – aller Wahrscheinlichkeit nach in Stegreif-Versen als der Königs-Disziplin des Hofpoeten gleichsam – zu dokumentieren: den Sieger-“Crantz” (eine “Marcipane” auf “einer zinnern Assiette […] nebst einem De- ckel-Glaß mit Wein, worbey eine silberne Schale mit einem Crantze von frischen Blumen, Früchten und Lorbeer-Blättern”) erwarb sich der preußische Obrist Lieutenant von Dirschau und nolens volens dazu noch sechs begleitende, nicht ganz rein gereimte Verse des Dichters:25

Wie jüngst ein Unterhan vom Könige von Preussen Den Crantz, im Rennen, wust den andern zu entreissen, So ist, bey diesem Schützen-üben, Auch einem Preussen hier der Crantz verblieben. Und billig ists, daß der mit einem Crantze prangt, Der in dem Felde schon den Siegs-Crantz offt erlangt.

In seinem stets vorhandenen Unbehagen an gesellschaftlichen Zwän- gen aller Art wird sich Bodmer angesichts des langatmigen Berichts über Schießleistungen und Gewinne, der in den “Geld-Gewinste[n]” von “lauter viereckigten Schau-Müntzen” kulminierte und im Anspie- lungsreichtum ‘Insiderwissen’ über die Beteiligten26 und deren ganz private Vorlieben voraussetzte, jedenfalls aber bestätigt gefühlt ha- ben.27 Noch fremdartiger wirkte auf ihn da allenfalls wohl die Bey dem Beschlusse des Dreßdnischen Carnevals aufgeführte Wirthschafft/ Der/ Frantzösischen Bauern, Italienische/ Comedie, Berghauer und Norwegische Bauern, bei deren Inszenierung der halbe Dresdner Hof- staat beteiligt war.28 Der auf oberste Anordnung zelebrierte ‘Mum-

25 König, Poetische Einfälle (wie Anm. 24), [unpaginiert, S. 4]. 26 Vgl. ebd. etwa die Verse auf “Cron-Küchenmeister Fürst Lubomirski”: “Dem Fürsten wird der Weitschuß zugezehlt, Weil er das schwartze gantz verfehlt, Kein Wunder, daß er sich hier nur im Weissen übet, Weil er doch ohnedem die blasse Farbe liebet”. 27 Ebd., [unpaginiert, S. 9]. 28 Vgl. Zentralbibliothek Zürich, Gal Ch 40 (7): Schertz- und Sinn-Gedichte Uber die Wirthschafft Der Frantzösischen Bauern, Italienische Comedie, Berghauer und Norwegische Bauern, Bey dem Beschlusse Des Dreßdnischen Carnevals 1728, [unpaginiert, S. 2].

Chloe 43 502 Anett Lütteken menschanz’, ein höfisches Ritual, dem Goethe mit vielfach gebroche- ner Ironie im ersten Akt von Faust II (V. 5065 ff.) literarischen Nach- ruhm beschert hat, hatte hier, unter der Regie Johann Ulrich von Kö- nigs seinen Sitz im Leben. Wo bei Goethe das Gebaren der erotisch konnotierten “Gärtnerinnen” (V. 5088-5177) wesentlich abstraktere, aber gleichfalls hocherotische ‘lebende’ Bilder vorbereiten helfen sollte, zeigte König in wohl richtiger Einsicht in die Interessen und intellektuellen Grenzen seines Hofpublikums wenig Neigung, auch noch Paris und Helena erscheinen zu lassen: Die Dresdner “Cammer- juncker” und “Cammerherren” begnügten sich ebenso wie deren weibliche Pendants gern damit, temporär und in jedem Fall konse- quenzlos in eine ungewohnte und rein fiktive gesellschaftliche Rolle zu schlüpfen. Stereotype (“Leichtsinnig, sagt man, pflegt sonst ein Frantzoß zu seyn”)29 waren dabei genauso konstitutiv für diese Form der Unterhaltung wie Bergmanns-Folklore30 und eine abschließende sinnreiche “Illumination”.31 Solche Zerrbilder sozialer Realität in poetischer Verbrämung aus der Ferne dürfte Bodmer nicht gerade als nachahmenswerte Muster für seine eigene Arbeit verstanden haben. Welch enormer sozialer Druck sich zudem über und durch diese Dichtungsart ausüben ließ, bewies ihm dabei auch das Beispiel Albrecht von Hallers (1708- 1777), der sich außerhalb der Schweiz durchaus zwingen ließ, sich der von ihm ungeliebten Textsorte zu bedienen, wenn es das soziale Um- feld nahelegte. Seine Ode über das Einweihungs-Fest der Göttingi- schen hohen Schule von 1737 befindet sich gleichfalls in Bodmers Sammelband.32 Wenn man weiß, wie sehr Haller solche ‘poetischen Eintagsfliegen’ verhasst waren, und wie ausgeprägt sein “Wiederwil- len wider alles Gratulieren” war,33 dann wird man die Ode des im Mai 1736 nach Niedersachsen berufenen Professors für Anatomie, Botanik und Chirurgie in einem etwas fahlen Licht sehen wollen: dem aus die-

29 Ebd., [unpaginiert, S. 3]. 30 Ebd., [unpaginiert, S. 5 und 6]. 31 Ebd., [unpaginiert, S. 9 und 10]: “Beschreibung der Erfindung zu der Illumina- tion des Poeten”. 32 Vgl. ebd., Nr. 9; vgl. Eric Achermann: Dichtung. In: Albrecht von Haller. Leben – Werk – Epoche. Hrsg. von Hubert Steinke, Urs Boschung und Wolfgang Proß. Göttingen 2008, S. 121-155, hier: S. 124-130. 33 Vgl. Barbara Mahlmann-Bauer/ Anett Lütteken: Hallers Gedichte: Verankert im Gefühl – der Aufklärung verpflichtet. In: UniPress Nr. 135: Albrecht von Haller. Bern 2007, S. 18 f.

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 503 sem Anlass erwarteten höfischen Zeremoniell passte er sich dabei un- umwunden wie formvollendet an. In seinem gereimten, dreizehn Stro- phen umfassenden Werk verknüpfte er dabei traditionelles Herr- scherlob mit Frömmigkeitsformeln und zeigte den welfischen Be- gründer der ambitionierten Reformuniversität als Friedensfürsten, wo- von die “Völker an der sanften Leine” ganz in barocker Tradition pro- fitieren sollten. Über diesen Kotau vermag nur bedingt hinwegzutäu- schen, dass Hallers Loblied im Loblied recht eigentlich dem Gedan- kengut der Aufklärung galt, das an diesem Tag unter seiner Ägide in- stitutionell verankert wurde.

Bodmer – ein Gelegenheitsdichter?

Die Antwort könnte hier recht knapp ausfallen: nein, ein Gelegen- heitsdichter war er gewiss nicht, und das, obwohl er Goethes so viel später ausgegebener Devise, alle Poesien seien Gelegenheitsgedichte, ansonsten durchaus nacheiferte. Allein die Vorsätzlichkeit, mit der Bodmer stets betont hatte, zum öffentlichen Redner nicht zu taugen,34 dürfte dafür gesorgt haben, dass manch ein Zürcher Anlass ohne seine persönliche Stellungnahme vorübergehen konnte. Nur in ganz weni- gen Fällen äußerte er sich anlassbezogen: etwa wegen des Todes von Hallers Ehefrau Mariane35 oder des von ihm sehr geschätzten Freundes Carl Friedrich Drollinger. Dabei rang er sichtlich mit den formalen Konventionen. Sein neunseitiges Gedicht auf den 1742 verstorbenen Carl Friedrich Drollinger sprengte sie entschieden:36

[…] Drollingers Pinsel läßt sich nicht daran begnügen, Daß Er bloß todten Stoff, doch mit belebten Zügen,

34 Vgl. Bodmer’s Persönliche Anekdoten. Hrsg. v. Theodor Vetter. In: Zürcher Ta- schenbuch, N.F. 15 (1892), S. 91-131, hier: S. 101: “Ich hatte eine natürliche, oder durch die Erziehung gemachte, wenigstens vermehrte, Blödigkeit, die mich zu öffentlichen Aufzügen sehr ungeschickt machete”; S. 125: “Meine Obern er- kannten zu meiner Beruhigung, daß ich zum Prediger [...] verdorben war”. 35 Vgl. Johann Jacob Bodmer: Auf das Absterben der Mariane [...]. In: Dr. Albrecht von Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte [...]. 3Bern 1743. Nr. XXIII, S. 134-140 [“Herrn Bodmers Elegie”]. 36 Trauer- und Lob-Gedichte auf den seligen Herrn Drollinger. In: Herrn Carl Fried- rich Drollingers [...] Gedichte [...] Basel 1743; darin: Nr. IV [ohne Titel], S. 383- 391, hier: S. 389.

Chloe 43 504 Anett Lütteken

Auf seine Blätter mahlt; Er mahlt nicht nur ein Feld Voll anmuthsreicher Lust; Er setzt auch eine Welt, Die denkt und tuht, darauf; die ein Gefühle heget, Und das, was sie empfindt, in uns auch überträget. Sein Geist füllt alles an mit zärtlichem Affect; Das Todte wird davon ins Leben auferweckt. Ihn hat ein böser Tag den Musen hingerücket, Bevor Er sie genug nach seinem Wunsch geschmücket. Man sah sie, als Er jetzt schon mit dem Tode rang, Erblaßt, als fühlten sie auch selbst des Todes Zwang. Sie schlugen an die Brust, und führten laute Klagen, Die Spreng so bald gehört, und auf ein Blatt getragen, Mit seinem eignen Harm um seinen Freund durchwebt, Um seinen Freund, der noch in Sprengens Muse lebt. […].

Das Bedürfnis, Drollingers schriftstellerisches Vermächtnis persönlich zu bezeichnen, wurde darin konterkariert von der Absicht, eine Positi- onsbestimmung der zeitgenössischen Poesie zu geben: einen Zielkon- flikt nennt man so etwas wohl. Bemerkenswert erscheint es in diesem Zusammenhang auch, dass ausgerechnet der vielfach im Briefwechsel kommentierte37 und von großer Trauer Bodmers begleitete Tod des lebenslangen Freundes Johann Jacob Breitinger am 13. Dezember 1776 ihn keineswegs zu einem Gelegenheitsgedicht veranlasste. Seine mindestens ambivalente Haltung gegenüber dieser Textsorte hatte sich allerdings schon frühzeitig offenbart, in einer Rezension aus dem Jahr 1735 in der von ihm und Breitinger herausgegebenen Helve- tische[n] Bibliothek.38 Im Blick auf eine für Zürcher Verhältnisse gera- dezu pompös ausgestattete Textsammlung, die Johannes Hofmeister (1669-1740),39 einem nicht übertrieben bedeutenden Bürgermeister

37 Vgl. z.B. Johann Heinrich Schinz an Bodmer (Zentralbibliothek Zürich, Ms Bod- mer 8,424 und 425, 15. und 19. Dezember 1776) oder Bodmer an Johann Georg Sulzer (Ms Bodmer 13b[147] vom 22. Dezember 1776). 38 Vgl. [anon.]: Gelehrte Zeitungen. In: Helvetische Bibliothek, Bestehend In Historischen, Politischen und Critischen Beyträgen Zu den Geschichten Des Schweitzerlands. Drittes Stück. Zürich 1735, S. 243-246. 39 Vgl. Zentralbibliothek Zürich 7.15: Publicae Pietatis Omina et Vota Pro Salute Viri Magnificentissimi, Domini Joannis Hofmeisteri, Cum Ob Summa In Republicam Merita Ab Illustris Reipubl. Tigurinae Augusto CC Virorum Senatu Consul Esset Designatus Die XIII. Kal Jun. AN. MDCCXXXIV. Tiguri, Literis Conradi Orellii et Sociorum; vgl. Martin Lassner: Art. ‘Hofmeister, Johannes’. In: Historisches Lexikon der Schweiz (http:// www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D18079. php (22. September 2008)).

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 505

Zürichs 1734 anlässlich seiner Amtseinsetzung gewidmet wurde, hielt Bodmer, sichtlich getragen von der Überzeugung, dass es schwer ist, keine Satire zu schreiben, mehr oder minder ironisch fest:40

Niemand wird verlangen, daß alle die Verfasser dieser Sammlung von Glückwünschungen Poeten seyen, oder daß alle diese Reim-Gebände Poe- sie seyen. Es wäre einem Wunder-Wercke nicht ungleich, wann sich in ei- ner einzigen Stadt so viel Poeten zu einer Zeit finden sollten; Zu geschwei- gen, daß eine solche starcke Anzahl von poetischen Köpfen dem Staat mehr Schaden als Nutzen bringen würde. Doch wann dieses ein Unglück wäre, so ist noch kein Anschein, daß es unsere Vater-Stadt treffen werde. Die meisten von diesen Verfassern haben viel ein mehrers dem Herren Burgermeister als den Musen zu dancken; und es giebet solche darunter, welche Cotin, Trissotin und andern, so Boileau in seinen Satyren berühmt gemachet hat, nichts nachgehen.

Bodmer, dessen Urheberschaft namentlich am letzten, auf seine Präfe- renzen für Satiren aller Art bezogenen Satz deutlich erkennbar wird, spottete hier, wohlgemerkt in einem Medium, das vor allem der kriti- schen Reflexion dienen sollte, ohne allzu große Rücksichtnahmen ge- genüber seinen Mitbürgern. Hervorhebenswert ist es allerdings, dass er selbst, der nur einigen wenigen der Beiträger zugestehen mochte, dass sie “zuweilen auf dem Parnassus geschlaffen haben”, sich durch- aus auch in die Gratulantenschar eingereiht hat. Im Spannungsfeld von sozialem Druck, der von diesem Anlass ganz offenkundig auf die Do- zenten des Collegium Carolinum ausging, und der selbstbewussten Aversion gegenüber einer zwar traditionsreichen, dennoch aber geringgeschätzten Gattung agierte Bodmer mediumabhängig in zwei Richtungen; oder sollte man besser lavierte sagen? Zum Sammelband, der vorwiegend aus neulateinischen Beiträgen besteht, trug er so, scheinbar ganz unbefangen “glückwünschend seine ehrerbietigste Aufwartung” und eine deutschsprachige “Schweitzerische[…] Poesie” bei, deren Zielsetzung er wiederum in besagter Rezension erläuterte:41

Man dichtet, daß der letztere Herr Burgermeister Escher sel. Ged. in einer Poetischen Landschaft angekommen, wo die Helden und Halb-Götter sich zu versammeln pflegen. Daselbst habe er die Väter und Helden gefunden,

40 Vgl. Publicae Pietatis (wie Anm. 39) [o.S.]: Evergeatae. Die Wohlthäter des Stands Zürich. 41 Vgl. Gelehrte Zeitungen (wie Anm. 38), S. 245.

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welche Zürich frey und berühmt gemacht haben. Das Gedicht bekommt durch diese Erdichtung Leben und Neigungen. Die vornehmsten Männer, welche Zürich zu verschiedenen Zeiten gehabt, werden hier mit mahler- ischen Zügen abgeschildert.

Bei der Lektüre des bald dreihundert (!) Verse umfassenden Textes stellt sich freilich der Eindruck ein, Bodmer habe hier doch ein wenig das Ziel verfehlt oder womöglich auch absichtsvoll darüber hinausge- schossen. Wo Professor Breitinger in lateinischer Sprache “ein Muster von einer erhabenen und auserlesenen Lobschrift” lieferte,42 wo Dut- zende von Theologen sich mit treuherzigen Versen abmühten, da presste Bodmer ostentativ Grundsätzliches und kaum Vereinbares in die daraufhin kaum mehr erkennbare Form eines Gelegenheitsge- dichtes. Verständlicherweise also bereitete es ihm einige Mühe, seine Literaturtheorie, bevorzugte Autoren wie Opitz und Brockes und be- deutende Persönlichkeiten aus der Stadtgeschichte Zürichs in poeti- schen Einklang zu bringen und dies alles noch zum Lob des Johannes Hofmeister, der damit gewiss ein wenig überfordert war. Bodmer je- doch versuchte dem Problem eine andere Dimension zu geben, indem er Hürden der besonderen Art vortäuschte: Zwar sei der rechte Stoff (“Hofmeisters Lob”) vorhanden, dennoch aber mangele es im Deut- schen generell an adäquaten sprachlichen Umsetzungsmöglichkeiten: das “gezwungne Spiel des Sylben-Masses” erlaube es einfach nicht, zu “sagen, was ich denck”. Bei solchem ‘Überbau’ bleibt naturgemäß nur ein einziger Schluss: Ein tatsächlich anlassgemäßes Lob muss ein vom derart verhinderten Lobredner Bodmer definitiv nicht zu leisten- des und erst in fernerer Zukunft einzulösendes Desiderat bleiben. Und selbst noch Jahrzehnte später scheint er an dieser Meinung prinzipiell festgehalten zu haben. Als es 1778 darum ging, einen Nachfolger für das vom bedeutenden Schweizer Politiker Hans Con- rad Heidegger (1710-1778) wahrgenommene Amt des Kurators der Zürcher Bürgerbibliothek zu finden, oblag es Bodmer, in dieser Ange- legenheit eine Überzeugungsrede zu halten,43 deren Schluss, als versi-

42 Ebd., S. 246. 43 Johann Jacob Bodmer: Anrede an die Versammlung der H.H. Kuratoren der Bür- gerbibliothek, da an die Stelle weil. J. G. Heideggers ein Präsident zu erwählen war. In: Deutsches Museum, 1. Band 1784, Erstes Stück. Januar 1784, S. 1-11, hier: S. 11 [gehalten im Juni 1778, Auszug in: Deutsches Museum, April 1779, S. 368]; vgl. Martin Lasser: Art. ‘Hans Conrad Heidegger’, in: Historisches Le- xikon der Schweiz (http://www.hls-dhs-dss.ch/ch/textes/d/D18058.php; 4. Sep-

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 507 fizierter Kulminationspunkt gleichsam, von zwei weiteren Versein- schüben vorbereitet worden war, in denen Bodmer zum einen in zwei Versen von sich selbst und – ein wenig ausführlicher mit Versen Hal- lers – über staatstragende Tugenden gesprochen hatte, wie sie von Heidegger verkörpert worden waren:44

[…] Unser beweinter war der Sohn und Vater des Staates, Der nicht Thaten mit Milde versprach, der eher sie übte; Tief war in seine Brust die Pflugschaar gedrungen, und Früchte Sproßten von da nicht karg hervor, voll Weisheit und Liebe, Liebe der alten Zürich und Weisheit, die Wahrheit und Recht ist.

Wohlgemerkt: anlässlich der Bestattung des Freundes Heidegger äu- ßerte Bodmer sich nicht in und mit dieser Lyrik; sein in Prosa aus- führlich und rhetorisch brillant, in Versen aber eher rudimentär gehal- tener Nekrolog hatte seine ‘Gelegenheit’ im durch und durch politi- schen Rahmen einer Veranstaltung, in der es um die Nachfolge in ei- nem öffentlichen Amt ging. Das ist querständig und unbequem, und von einer irgendwie gearteten Anverwandlung der ihm doch bestens vertrauten Verwendungsformen von Gelegenheitspoesien mag man dabei nicht so recht sprechen. Die eingangs vermutete Verweigerungs-

tember 2008); sowie A. Hesse: Johann Conrad Heidegger. [o.O.] 1945; Heideg- ger hatte nach dem Studium in Berlin hervorragend funktionierende Verwal- tungsstrukturen kennengelernt; zurück in der Schweiz arbeitete er in der Zürcher Staatskanzlei, als Landschreiber in Weiningen sowie als ehrenamtlicher Biblio- thekar der Stadtbibliothek. Seit 1741 war er Zunftvertreter im Großen Rat der Stadt, seit 1768, nach verschiedenen Positionen in der Zürcher Politik, Bürger- meister; 1746 war er Mitbegründer der Physikalischen Gesellschaft gewesen. Er betätigte sich zudem als Examinator in den Schulen und war die treibende Kraft der Schulreform der Jahre 1765-73. Als Vermittler bewies er 1766 in den Genfer Verfassungskämpfen großes diplomatisches Geschick, wie auch 1777 beim Ein- vernehmen zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft, woraus sein überre- gionales Renommee resultierte. 44 Vgl. Zentralbibliothek Zürich, Ms Bodmer 8 (525): Johann Heinrich Schinz an Johann Jacob Bodmer, 28. Juni 1778: “Sie haben gestern Ihre Lobrede auf den Sel. Heidegger gehalten, ich hoffe die Bothin bringe mir dieselbe”, und ebd. (526), 1. Juli 1778: “Ich will mit Geduld warten, bis Sie Ihre Rede auf den Sel. Heidegger entbehren können! Aber Sie erlauben mir dann, daß ich die abschrei- ben kann. Ich will gewis Ihre Erlaubnis nicht misbrauchen”; zu den Zürcher Ge- pflogenheiten vgl.: Ruth Ledermann-Weibel: Zürcher Hochzeitsgedichte im 17. Jahrhundert. Zürich 1984. (= Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte 58).

Chloe 43 508 Anett Lütteken haltung gegenüber dieser Textsorte scheint in diesen wenigen Beispie- len ihr Korrelat zu finden.

Gelegenheitspoesien an und für den “ewigen Greis” oder das Spiel mit der Tradition

Das von Bodmer so sparsam kultivierte Genre ließ sich gleichwohl nicht ausblenden: die mit seinen Lebensjahren immer zahlreicher wer- denden juvenilen Bewunderer, namentlich die von norddeutschen Verhaltens- und Benimm-Codices geprägten, nahmen den Greis freu- dig zum Anlass für Gedichte – ob diesem das nun gefiel oder nicht. Das heißt, ganz zuerst – im Jahr 1750, als Klopstock aus Anlass seines Zürcher Aufenthalts auf die Einladung Bodmers ein artiges Begrü- ßungsgedicht im umgekehrten zweiten asklepiadeischen Versmaß ver- fasste – wird es ihm durchaus noch gefallen haben.45 Zuvor hatte er selbst in großer Vorfreude und eingedenk der Tradition der Bewill- kommnungsgedichte für Reisende mit eben diesen tradierten Gepflo- genheiten zu spielen begonnen. Bodmers Verlangen nach dem Poeten aus dem Frühling 1750 ist einer von vielen Belegen für den emanzi- pierten Umgang der Aufklärer mit einer aus ihrer Sicht zur Schwund- stufe depravierten Textgattung.46 Der Anlass, Friedrich Gottlieb Klop- stocks unmittelbar bevorstehende Ankunft, eine ganz besondere, wahrhaft singuläre Gelegenheit mithin, ermunterte den Mann deutlich jenseits der Fünfzig zu versifizierter Euphorie:47

Aber, o reiß mit Gewalt dich von ihnen. Haben sie doch schon Längen der Jahre die Schönheit der Erde Schöner in deiner Gesellschaft gesehen; In den Zügen von deiner Gestalt, der Himmlischen einen An der Pleise lang wandeln gesehen, Einer Gestalt, in der das göttliche Bildniß des Schöpfers

45 Friedrich Gottlieb Klopstock: An Bodmer (1750). In ders.: Oden. Auswahl und Nachwort von Karl Ludwig Schneider. Stuttgart 1999, S. 44 und 158. 46 Abgedruckt in: Bodmers Apollinarien. Hrsg. von Gotthold Friedrich Stäudlin. Tübingen 1783, S. 82-91; vgl. auch: Rudolf Drux: Casualpoesie. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hrsg. v. Horst Albert Glaser. Band 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung, Späthumanismus, Barock, 1572-1740. Hamburg 1985, S. 408-417. 47 Vgl. Apollinarien (wie Anm. 46), S. 83 f.

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 509

Göttlicher glänzt, und die Meisterhand ehret. Komm, entfalte die denkenden Züg’ in dem irdischen Körper An den Gestaden der Siel und der Limmat.

Und auch der mit den ungleich größeren Möglichkeiten des wahren Sprachvirtuosen ausgestattete Klopstock spielte, als der sehnsüchtig erwartete und nun endlich ankommende Reisende, seine Rolle mit festem Blick auf Tradition und Form, ohne sich aber hiervon in seinen Ausdrucksbedürfnissen irgendwie begrenzen zu lassen:48

An Bodmer [1750]

Der die Schickungen lenkt, heißet den frömsten Wunsch, Mancher Seligkeit goldnes Bild Oft verwehen, und ruft da Labyrinth hervor, Wo ein Sterblicher gehen will. In die Fernen hinaus sieht, der Unendlichkeit Uns unsichtbaren Schauplatz, Gott! Ach, sie finden sich nicht, die für einander doch, Und zur Liebe geschaffen sind. Jetzo trennet die Nacht fernerer Himmel sie, Jetzo lange Jahrhunderte. Niemals sah dich mein Blick, Sokrates Addison, Niemals lehrte dein Mund mich selbst. Niemals lächelte mir Singer, der Lebenden Und der Todten Vereinerin. Auch dich werd’ ich nicht sehn, der du in jener Zeit, Wenn ich lange gestorben bin, Für das Herz mir gemacht, und mir der ähnlichste, Nach mir einmal verlangen wirst, Auch dich werd’ ich nicht sehen, wie du dein Leben lebst, Werd’ ich einst nicht dein Genius. Also ordnet es Gott, der in die Fernen sieht, Tiefer hin ins Unendliche! Oft erfüllet er auch, was sich das zitternde Volle Herz nicht zu wünschen wagt. Wie von Träumen erwacht, sehn wir dann unser Glück, Sehns mit Augen, und glaubens kaum. Also freuet’ ich mich, da ich das erstemal Bodmers Armen entgegen kam.

48 Klopstock: An Bodmer (wie Anm. 45); s. auch: Johann Caspar Mörikofer: Klop- stock in Zürich in den Jahren 1750-1751. Neue Ausgabe. Bern 1864, S. 35-40.

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Was man heute und im konkreten Fall auch nicht ganz von der Hand zu weisenden ökonomischen Zusammenhang eine ‘win-win-solution’ nennt, sollte durch solche wechselseitigen poetischen Höflichkeiten stimmungsvoll angebahnt werden: Dass sich nämlich ein geeignetes Umfeld für Poesie mitsamt einem subsistenzsichernden Mäzen durch- aus auch außerhalb feudaler Strukturen finden lassen konnte, dass sich die “Freundschaft mit den Mächtigen” welcher Couleur auch immer lohnte,49 diesen Beweis anzutreten, reiste der sendungsbewusste wie clevere Klopstock 1750 ja eigentlich nach Zürich. Und Bodmer nahm die ihm dabei zugedachte Funktion eines pekuniär konsolidierten lite- rarischen Steigbügelhalters bereitwillig an. Ein bemerkenswerter Vorgang, der zugleich veranschaulicht, wel- che Dimension die Emanzipation der Poesie vom determinierenden höfischen Umfeld längst erreicht hatte. Dass das ‘Freimachen’ vom Althergebrachten auch vom Willen zu neuen poetischen Formen be- gleitet wurde, zeigt Klopstocks ‘Gelegenheits’-Ode An Bodmer, in- dem sie nur noch sehr entfernt den Konventionen dient. Der Reisende wird hier nicht willkommen geheißen, der Reisende schickt seiner Ankunft ein Gedicht voraus, das selbstredend ebenfalls rhetorisch festgelegten Zwecken zu dienen hatte. Wer hätte sich dem Charme ei- nes Jünglings entziehen können und wollen, der seinen Gastgeber so geistreich wie handwerklich perfekt in die Nähe zu Sokrates und Ad- dison rückte, dabei zugleich physische wie geistige Nähe und Distanz reflektierte, in der eigenen Anreise diese zu überwinden hoffte und den Glückszustand der Seelen- und Geistesverwandtschaft schließlich in den Armen des Förderers zu finden behauptete? Dass der Bewunde- rer am Ende doch nicht ganz so bescheiden und asketisch war, wie er hier vorgab, über diese kleine Unwahrhaftigkeit ließ sich anfänglich bekanntlich gut hinwegsehen. Die versifizierten Anbiederungsversu- che eines anderen Verehrers waren Bodmer dagegen von Anbeginn wesentlich unangenehmer. Gotthold Friedrich Stäudlins (1758-1796) Ansinnen, nach eigenem Gutdünken und in manischer Begeisterungs-

49 Wolfgang Adam: Poetische und kritische Wälder: Untersuchungen zu Geschichte und Formen des Schreibens ‘bei Gelegenheit’. Heidelberg 1988. (= Beihefte zum Euphorion 22), S. 42.

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 511 fähigkeit für den Nachruhm Bodmers zu sorgen, drückte sich dabei ebenfalls in gleich mehreren Gelegenheitsarbeiten aus:50

An Bodmer, als er mir einen grossen Theil seiner Werke sandte.

O dass Thäler und Berge, dass mich das mächtige Schiksal Trennt, mein Bodmer! von dir! O dass zwischen uns strömt die Katarakte des Rheinstroms, Donnernd den Felsen entstürzt!

Dass der Feindehöhnende Twiel sich zwischen uns lagert, Der mit starrendem Haupt Himmelan trozt – verachtend herabschaut auf zakige Blize – Lacht des Donners im Thal! –

Ha! ich zürne dir, Schiksal! Ich zürn’ euch Thäler und Berge, Zürne dir Rheinstrom und Twiel! Dass ihr mich scheidet von ihm, dem jetzt mit mächtigen Schlägen Klopft entgegen mein Herz! –

Läg’ ich, o Vater! dir jezt an deinem zärtlichen Herzen, Und umarmte dich heiss! Nezte die silbernen Loken mit Thränen kindlicher Freude, Dekte mit Küssen den Mund! –

Süsse Träume, verfliegt! verstummt ihr Wünsche! vergebens! Ferne bin ich von ihm! Schon entstieg ein Jüngling, das Jahr dem Strome der Zeiten! Und noch ferne bin ich!

Ach! vielleicht – Mir schauert vor euch, ihr bangen Gedanken, Schrekenbilder, vor euch! – Kehrt ihm der Frühlinge lezter, und streut dem unsterblichen Greisen Seine Blumen aufs Grab!

Ach! dann sinkt sie in Nacht mit seinem brechenden Auge Und verweht, wie sein Hauch, Meine geliebteste Hofnung, das Antliz des Greisen zu sehen Hier im düsteren Thal! – Aber ich lasse dich nicht – umfasse dich, Hofnung! mit Innbrunst!

50 Vgl. G. F. Stäudlin: An Bodmer, als er mir einen grossen Theil seiner Werke sandte. In ders.: Proben einer deutschen Æneis nebst lyrischen Gedichten [...]. Stuttgart: Christoph Friedrich Cotta, 1781, S. 127-131.

Chloe 43 512 Anett Lütteken

Wie der Jüngling die Braut! Und entflöhest du mir, so hasch’ ich am Saume des Kleides Eilig, Flüchtige! dich –

Seid mir heilig indess, ihr süssen Pfänder der Liebe! Werke, voll Geniuskraft! Die ihr hoch an der glänzenden Stirne den ewigen Stempel Der Unsterblichkeit tragt!

Ihr entquellet, mächtige Ströme, dem Geiste des Greisen! Eure wälzende Flut Füllte mit hoher Empfindung das Herz des staunenden Sehers Und mit freudigem Schaur! –

Rauschet mir immer vorüber! Ihr tönt dem Ohre des Jünglings Himmelsüsse Musik! Hohe Lehren schöpft er aus euch! Er schlürft der Begeistrung Trunknen Taumel hinab! –

Siehe! schon fliegt er empor zur Sonne, der trunkene Sänger! Nach dem ewigen Greis! Fliegt er! Es drängt sich hervor aus seinem begeisterten Busen Kühn der Feuergesang! –

Edler BODMER, vergib! Vergib der Wonne des Jünglings! Der Begeistrung vergib, Die ihn mächtig dahinriss, weg über die stäubende Erde, In ihr himmlisch Gefild!

Nimm den feurigen Dank! Ihn heischen die kostbaren Male Deine Liebe! Mir strömt Glühend dahin auf jegliches Blatt die Thräne der Wonne Und des tiefen Gefühls! –

Wenn ich einsam und still am Schein der nächtlichen Lampe Ströme der Weisheit und Lust, Deinen Werken entschöpf’, und an der herrlichen Flamme Wärme mein klopfendes Herz! –

Wird mich umschweben dein Bild, das unter wonnigen Träumen Meine Seele sich schuf; Und das Lächeln der Liebe wird süss, wie Stralen der Sonne Schimmern auf deinem Gesicht . . . Und ich werde dich voll der süssen Täuschung umarmen,

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 513

Wonne stammeln und Dank Mit der bebenden Lippe! Du wirst erwiedern mit warmen Küssen den brünstigen Kuss! –

Mögest du immer mein Haupt o süsse Täuschung umschweben Bis ein froher Geschik Troz euch, Thäler und Berge! den Vaterarmen des besten Greisen entgegen mich führt! –

Dem “silberlockigen Greis” – wie Stäudlin ihn gern zu bezeichnen pflegte51 – ging all dies entschieden zu weit, und zwar im Detail eben- so wie in der Summe. Das wegen seiner Penetranz in aller ausschwei- fenden Ausführlichkeit zitierte Gedicht wirkt wie eine reichlich ver- spätete epigonale Paraphrase der zuvor erwähnten Klopstock-Ode: zwar werden auch hier geographische Nähe und Ferne reflektiert, die überbordenden Gefühle jedoch dürften Bodmer unerquicklich vorge- kommen sein. Wer so trivial wie Stäudlin Anspielungen auf die Bibel (1. Mose, 32,27: “Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn”; vgl. Strophe 8) und die Ikarus-Geschichte (Strophe 12) verknüpfte, um sich als literarisch bewanderter Bewunderer in Szene zu setzen, er- regte seine Gegenwehr. Der Gesang des “trunknen Sänger[s]” Stäud- lin, der seinen “brünstigen Kuss” ebenso freudig austeilte und sich – wie Klopstock lange vor ihm – “den Vaterarmen des besten | Greisen entgegen […]” sehnte oder vielleicht auch warf, all dies war Bodmer schlichtweg unangenehm und peinlich. Peinlicher dürfte ihm da wohl nur noch der direkte Vergleich mit Rousseau gewesen sein, den Stäudlin gleichfalls nicht zögerte anzustellen. Sein fiktives Epitaph auf Rousseau sollte eines auf den noch lebenden Bodmer sozusagen vorwegnehmen und diesem durch Gleichsetzung mit einem illustren Zeitgenossen schmeicheln:52

51 Vgl. Gotthold Friedrich Stäudlin: An Bodmer. In: Deutsches Museum, (1780), 2. Bd., S. 520-527, hier: S. 520. 52 Gotthold Friedrich Stäudlin: Elegie am Grabe des unsterblichen J. J. Rousseau. 1781. An meinen verehrungswürdigen Bodmer. In: ders., Vermischte poetische Stüke. Tübingen: bei Johann Georg Cotta, 1782, S. 77-79, hier: S. 79.

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Elegie am Grabe des unsterblichen J. J. Rousseau. 1781. An meinen verehrungswürdigen Bodmer.

Dir, o Bodmer, unsrer deutschen Musen Grauer Nestor! weiht dieß Klagelied Fromme Ehrfurcht, Liebe, die im Busen Deines Freundes, deines Sohnes glüht! O schon seh’ ich auf das Blatt Dich weinen, Segnen Dich des Weisen Grabesruh! Denn sein Loos, fürwahr es glich dem Deinen! Edel war er, und verkannt, wie Du!53

Der derart unkontrolliert Verehrte wusste sich freilich zu helfen. Zu- nächst einmal aber artikulierte er seinen ausgeprägten Unmut gegen- über dem Freund Johann Heinrich Schinz, dem er am 8. November 1780 mitteilte:54

Ich habe an dem Stäudlin in Stutgard […] einen Bewunderer der mich schamroth macht. Er hat ein paar hundert Hexameter an mich und auf mich gemacht, welche als Poesie poetisch genug sind, und gewiß ganz geschikt den Mund in Bewegung zu setzen. Aber das historisch Wahre, das sie ha- ben sollten, setzte mich in Verlegenheit, wenn ich den Beweis zu geben aufgefodert würde. Der junge Mensch hat vermuthlich bewiesen wollen, daß er poetische Talente habe […].

Bodmer erwartete also auch und gerade in Poesien, die eigens auf und für bestimmte Persönlichkeiten und Anlässe geschaffen wurden, histo- rische Wahrhaftigkeit bei der Behandlung des Gegenstands sowie eine gewisse Redlichkeit bei dessen sprachlicher Anverwandlung. Dass dies weder Stäudlins Stärke noch Absicht war, hatten zuvor schon seine – gelinde gesagt – nicht ganz uneigennützigen drei “Gesänge” auf Albrecht von Haller erkennen lassen.55 Der greise Gelehrte jeden- falls ließ sich durch solche poetischen Aktionen immerhin soweit pro-

53 Vgl. auch Friedrich Schillers Kommentar von 1782 (zitiert nach Stäudlin, Le- bensdokumente (wie Anm. 1), S. 387): “[...] die Vergleichung zwischen diesem Philosophen und Bodmer ist äußerst schief und hinkend”. 54 Vgl. Stäudlin: Lebensdokumente (wie Anm. 1), S. 69, Nr. 24. 55 Albrecht von Haller: Ein Gedicht in drei Gesängen von Gotthold Fri[!]drich Stäudlin. Tübingen 1780; der ca. einhundert Seiten [!] umfassende Band war auch in Bodmers privater Bibliothek vorhanden (vgl. Zentralbibliothek Zürich, Ms. Bodmer 38a, S. 22v, “2. Oberstes Gestell”, Nr. 93).

Chloe 43 “Bodmers Armen entgegen” 515 vozieren, als dass er als lyrische Antwort und durchaus didaktisch ge- meintes Korrektiv auf Stäudlins Nachruf zu seinen Lebzeiten ein Epi- taph auf sich selbst verfasste. Stäudlin, der diese Volte sichtlich nicht begriff, druckte dieses Gelegenheitsgedicht für eine Gelegenheit, die noch gar nicht eingetreten war, prompt ab. Dem ihm allzu plump er- scheinenden Versuch, sich in bürgerlicher Panegyrik zu üben, um He- roen des Geistes zu feiern, begegnete Bodmer mit kaustisch-lakoni- schen fünf Versen, in denen er festhielt, was ihm tatsächlich wichtig war und was nicht:56

Epitaph

Als mir der taube Tod die leiblichen Kinder genommen, zeugt’ ich die Noachide; sie lebt, indeß daß ich Staub bin. Streuet Violen und Rosen auf Bodmers Begräbniß! Sein Ruhm war daß er die Liebe der Edeln hatte, die Unschuld und Sitten ehrten, ihn nante Sulzer den Dichter nach seinem Herzen!

Als Bodmers Tod am 2. Januar 1783 dann schließlich doch eingetre- ten war, zeigte sich erneut, dass es gerade im Kreis seiner zahlreichen Schüler ein ausgeprägtes Bedürfnis gab, das traditionsreiche Genre zu individualisieren, um ihm derart eine neue poetische Glaubwürdigkeit in einem ausschließlich bürgerlichen Kontext zu verschaffen. Im ano- nym erschienenen Gedicht An Bodmers Begräbnißtage geschieht dies etwa durch die distanzierte Reflexion der als durchaus charakterkon- stituierend erachteten Sperrigkeit Bodmers. Ehrlich empfundene Trauer ersetzt dabei die aufgesetzte:57

An Bodmers Begräbnißtage.

Du warst zu grosser Mann, von mir gekannt zu seyn; Doch schmerzt mich dein Verlust, als wär’ ich minder klein. Ja! Bodmer, es muß viel mit dir im Grabe liegen; Es rollten deinem Sarg manch Tausend Thränen nach, Und war kein thränend Aug, dem nicht das Herz entsprach – Ein seltsam Phenomen bey unsern Leichenzügen!

56 Vgl. Stäudlin, An Bodmer (wie Anm. 51), S. 525, Fußnote. 57 Abgedruckt in: Schweitzersches Museum 4 (1788), S. 217.

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Am eindrücklichsten vielleicht aber gelang die Artikulation authenti- scher Emotionen einem der berühmtesten Schüler Bodmers, Johann Caspar Lavater. Sein Gelegenheitsgedicht Bey Bodmers Leiche. 1783 gibt ihm den Anlass zu einer überaus plastischen Charakteristik, die, geprägt durch physiognomische Einsichten, frei von Formeln ist und gänzlich befreit von Floskeln:58

Bey Bodmers Leiche. 1783.

Tausend werden dich, Vater Bodmer, nun, Da die feuervollen Augen ruhn, Den Gelehrten der, jener mehr den Weisen, Leuchte des Geschmacks, der den Dichter preisen! Hallern, Addison jeder in dir kennen, Milton der, Virgil, Pop’, Homer dich nennen! Stumm auf deinem Grab wird der Tadel schweigen. Sulzers Scharfsinn wird Hirzel in dir zeigen, Alten Biedergeist, der für Freyheit spricht, Einfalt voll Vernunft, Feuer sanft wie Licht, Wie dein Vater-Aug Jünglingen gelacht, Zehen Züge noch, die dich groß gemacht, Zeichnet er uns treu. Würd’ auch Hirzel schweigen, Würde diesem Bild Deutschland doch sich neigen, Blick des Neides selbst deine Asche ehren, Thränen in dem Aug danken deinen Lehren… Mann und Jüngling wird, wie du lehrtest, singen, Deinem Schatten noch Todtenopfer bringen. – Aber all dieß Lob, wenn’s auch in Wahrheit spricht, Sagt so schönes nur, so viel Wahres nicht, Als dieß friedlich ernst-ruhende Gesicht, Das, wie kalt es ist, wie es blicklos schweigt, Dennoch vor allem, Bodmer, ganz dich zeigt!

Voller rhetorischer Kraft wird hier der intellektuelle Werdegang eben- so ins rechte Licht gerückt wie das Charisma des ‘Menschenfängers’ Bodmer, und zwar ganz ohne Sprach-Ballast und konzentriert allein auf das Wesentliche: Dieses Porträt des Schriftstellers als ein verstor- bener Mann ist eines, das Bodmer womöglich gefallen hätte, vor allem wegen der ihm zugrunde gelegten historischen Wahrhaftigkeit.

58 Abgedruckt in: Schweizerische Blumenlese. Von J. Bürkli. Dritter und lezter Theil. Zürich, bey Johann Caspar Füßli, 1783, S. 210 f.

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