Inhaltsverzeichnis

Aufsätze

Prof. Dr. Christian Starck, Göttingen Ist die finanzielle Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen durch die Europäische Gemeinschaft rechtlich zulässig? ...... 1

Prof. Dr. Martin Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes ...... 26

Prof. Dr. Gabriele Britz, Gießen Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? – Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel der Netzzugangs- regulierung bei Telekommunikation, Energie und Bahn – ...... 46

Rechtsprechung

Europäische Gerichte/ Gerichte der Mitgliedstaaten

Verhältnis von EG-Recht und EMRK Urteil des EGMR v. 30.06.2005, Rs. 45036/98, Bosphorus v. Irland (Leitsätze) ...... 78

Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH – Anmerkung zum Urteil des EGMR v. 30.06.2005, Rs. 45036/98 von Dr. Nikolaos Lavranos, LL.M., Amsterdam ...... 79

Ausschluss der Rückzahlung von Ausgleichszahlungen für benachteiligte Gebiete wegen Irrtums der gewährenden Behörde Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofes vom 02.05.2005 Az. 19 B 03.1726 ...... 93

Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Diener dreier Herren? – Der Instanzrichter zwischen BVerfG, EuGH und EGMR von Prof. Dr. Jan Bergmann, ...... 101

Die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips: Geltende Rechtlage und Reformperspektiven von Christoph Ritzer und Marc Ruttloff, Würzburg ...... 116

Fortsetzung Inhaltsverzeichnis hintere Umschlagseite

11_06_Inhalt.indd_06_Inhalt.indd 2 118.05.20068.05.2006 09:26:2909:26:29 Fortsetzung Inhaltsverzeichnis

Rezensionen

Piet Eeckhout, External Relations of the European Union – Legal and Constitutional Foundations (Dr. Daniel Thym, LL.M., Berlin) ...... 138

Jörg Philipp Terhechte, Die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale des europäischen Wettbewerbsrechts (Dr. Bertold Bär-Bouyssière, LL.M., Brüssel) ...... 142

Veranstaltung

Europarechtliches Symposion beim Bundesarbeitsgericht ...... 145

Bibliographie

Bücher und Zeitschriften ...... 147

11_06_Inhalt.indd_06_Inhalt.indd 3 118.05.20068.05.2006 09:26:2909:26:29 EuR – Heft 1 – 2006 1

EUROPARECHT

In Verbindung mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Europarecht

herausgegeben von

Claus-Dieter Ehlermann, Ulrich Everling, Hans-J. Glaesner, Meinhard Hilf, Hans Peter Ipsen †, Joseph H. Kaiser †, Peter-Christian Müller-Graff, Gert Nicolaysen, Hans-Jürgen Rabe, Jürgen Schwarze

Schriftleiter: Armin Hatje, Ingo Brinker

41. Jahrgang 2006 Heft 1, Januar – Februar

Ist die fi nanzielle Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen durch die Europäische Gemeinschaft rechtlich zulässig?

Von Christian Starck, Göttingen*

I. Tatbestand und Fragestellung

1. Forschung und Heilung mit embryonalen Stammzellen

Die Fortpfl anzungsmedizin ist seit einigen Jahren in der Lage, die Zeugung eines Menschen außerhalb des weiblichen Körpers in vitro zu veranstalten, wo weibliche Eizelle und menschliche Samenzelle verschmelzen. Der so entstandene Embryo wird dann in die Gebärmutter der Frau „eingepfl anzt“, von der die Eizelle stammt. Ziel dieser Maßnahme ist es, körperliche Defekte der Zeugungswilligen, z. B. eine Eileiterfehlfunktion, zu überwinden. Die In-vitro-Fertilisation schuf nicht nur die Möglichkeit, die Zeugung und das Er- gebnis der Zeugung unter Kontrolle zu bringen, sondern auch mit dem Embryo in vitro „Material“ für wissenschaftliche Forschung zu gewinnen. Der Amerikaner James Thomson hat vor 6 Jahren erstmalig aus Embryonen, die sich im Stadium einer Blastozyste befi nden (5. bis 6. Tag nach der Zeugung) und die nicht mehr für die Herstellung einer Schwangerschaft benötigt wurden, Stammzellen gewonnen, die sich unbegrenzt vermehren lassen. Solche Stammzelllinien sind zur Differen- zierung in ein breites Spektrum von Gewebearten fähig, z. B. Herzmuskelgewebe,

* Professor für Öffentliches Recht an der Universität Göttingen, Richter des Nieders. Staatsgerichtshofs.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 1 118.05.20068.05.2006 09:26:5809:26:58 2 EuR – Heft 1 – 2006 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig?

Knochenmark usw. Bei der Gewinnung von Stammzellen werden Embryonen „ver- braucht“. Daraus wurde eine zweite Zweckbestimmung für den Embryo abgeleitet. Der Em- bryo hat nicht mehr nur den in ihm selbst liegenden Zweck, sich im Uterus einer Frau als Mensch zu entwickeln und geboren zu werden, sondern bekommt außer- halb seiner selbst liegende Zwecke zugesprochen, (1) als Quelle des Wissens über die Entwicklung des Menschen, (2) als Rohstoff zur Heilung von Menschen und (3) als Mittel der Diagnose zu dienen. Der an zweiter Stelle genannte Zweck wird beim sog. therapeutischen Klonen zu erreichen versucht, das sich allerdings noch im Stadium wissenschaftlicher Forschung befi ndet.1 Beim sog. therapeutischen Klonen wird der Zellkern einer Körperzelle des zu be- handelnden Patienten in eine einer Frau entnommene entkernte, unbefruchtete Ei- zelle übertragen, die sich in der Metaphase der zweiten Reifeteilung befi ndet. Das heißt, die befruchtungsfähige Eizelle hat den Zustand mit ausgeschleusten Polkör- perchen und einer Chromosomenanordnung in der Metaphasenplatte erreicht. Un- ter der Voraussetzung, dass die Membranen von Spenderzelle und Empfängereizel- le eng und in ausreichendem Umfang aneinanderliegen, kann durch Anlegen geeig- neter elektrischer Pulse eine lokal begrenzte Fusion der beiden Membranen erreicht werden. Dadurch wird die Spenderzelle in das Zytoplasma der Empfängereizelle aufgenommen.2 Es liegt ungeschlechtliche Fortpfl anzung vor. Eine totipotente Zel- le entwickelt sich analog einer geschlechtlich befruchteten Eizelle; d. h. eine Em- bryonalentwicklung beginnt. Diese wird abgebrochen, um embryonale Stammzel- len mit dem Erbgut des Spenders der Körperzelle zu erhalten. Damit würde man Gewebe und Organe mit den für den Patienten charakteristischen Merkmalen ge- winnen, die vermutlich keine Abwehrreaktionen des Körpers auslösen. Gleichwohl ist noch kein Verfahren gesichert, wie embryonale Stammzellen zur Therapie ver- wendet werden. Es besteht auch Unkenntnis über die Wirkung der Stammzellen im Körper des Patienten. Aus Mäuseexperimenten weiß man, dass sich Nebenwir- kungen einstellen können, z. B. Krebs. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft gegen therapeutisches Klonen ausge- sprochen hat.3

1 Zu den bestehenden naturwissenschaftlich-technischen Hindernissen vgl. Ralf Müller-Terpitz, Die neuen Emp- fehlungen der DFG zur Forschung mit menschlichen Stammzellen, WissR 2001, S. 271, 273 f.; Ernst-Ludwig Winnacker, Human Cloning from a Scientifi c Perspective, in: Vöneky/Wolfrum (eds.), Human Dignity and Hu- man Cloning, 2004, S. 55 ff. 2 Die Beschreibung des Vorgangs entstammt dem Bericht zur Frage eines gesetzgeberischen Handlungsbedarfs beim Embryonenschutzgesetz aufgrund der beim Klonen von Tieren angewandten Techniken und der sich ab- zeichnenden weiteren Entwicklung (BT Drucks. 13/11263), S. 8. Vgl. auch die Beschreibung in der DFG-Stel- lungnahme zum Problemkreis „Humane embryonale Stammzellen“, http://www.dfg.de/aktuell/stellungnahmen/ lebenswissenschaften/eszell_d_99.html, S. 2. Siehe auch Jan Schindehütte/Peter Gruß, Die molekulare Basis für regenerative Medizin, in: Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Hrsg.), Wissenschaften 2001, Dia- gnosen und Prognosen, 2001, S. 224 ff. 3 Vgl. Empfehlungen vom 3.5.2001, abgedruckt in WissR 2001, S. 271 ff.

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2. Fragestellung

Die Forschung mit Embryonen oder daraus gewonnenen embryonalen Stammzel- len als Quellen des Wissens über die Entwicklung des Menschen zu diagnostischen Zwecken oder zur Entwicklung neuer Techniken des Heilens hat den Verbrauch, d. h. die Vernichtung von Embryonen zur Folge. Für die Antwort auf die Frage, ob die Europäische Gemeinschaft die Forschung mit embryonalen Stammzellen fi nan- ziell fördern darf, ist zunächst zu untersuchen, ob nach Gemeinschaftsrecht ver- brauchende Forschung mit Embryonen überhaupt erlaubt ist. Obgleich es um För- derung durch die Europäische Gemeinschaft geht, kommt auch der deutschen Rechtslage Bedeutung zu. Sollte sich nämlich gemeinschaftsrechtlich kein Verbot verbrauchender Embryonenforschung nachweisen lassen, wohl aber nach deut- schem Recht, ist zu prüfen, ob die Europäische Gemeinschaft etwas fi nanziell för- dern darf, was nach nationalem deutschen Recht verboten ist. Zunächst ist zu prüfen, ob die Europäische Gemeinschaft überhaupt zuständig für entsprechende Forschungsförderung ist (II) und bejahendenfalls, welche Schranken sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, wenn es sich um die verbrauchende For- schung an Embryonen handelt (III).

II. Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft zur Forschungsförderung und ihre Forschungsrahmenprogramme

Art. 163 – 173 EG4 bestimmen die Zuständigkeiten und Ziele der Europäischen Gemeinschaft auf dem Gebiete der Forschung und der technologischen Entwick- lung. Da die Gemeinschaft selbst nicht forscht, geht es um Anregung, Koordinie- rung und Unterstützung der Forschung. Als Ziel wird der „Europäische Forschungs- raum“ gesetzt. Nach Maßgabe verschiedener Mitteilungen der Kommission wird angestrebt, die materiellen Ressourcen und Infrastrukturen auf europäischer Ebene optimal zu nutzen, die öffentlichen Mittel möglichst kohärent einzusetzen, zu pri- vaten Investitionen für die Forschung anzuregen, die Mobilität der Forscher zu för- dern und zugleich die gemeinsamen Werte als Grundlage und Rahmen der For- schungspolitik zu implementieren.5 Die gemeinsamen Werte, die in den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaa- ten zum Ausdruck kommen, sind in der Grundrechtecharta sichtbar gemacht wor- den. Einige konkrete Hinweise, die direkten Bezug auf die Forschung haben, sind in Stichworten: Menschenwürdegarantie (Art. 1), Recht auf körperliche Unver- sehrtheit (Art. 3 Abs. 1) und Grenzen für die Medizin und Biologie (Art. 3 Abs. 2), Forschungsfreiheit (Art. 13). Daraus ergibt sich eine ethische Einbettung der Wis- senschafts- und Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft.6

4 Es handelt sich um Titel XVIII des 3. Teils (=Politiken der Gemeinschaft). 5 So Hans-Heinrich Trute, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 163 EGV Rn. 7, 10 ff., aufgrund des Jahresberichts der Kommission 2001, KOM (2001), 756 endg., 8. 6 Trute (Fn. 5), Art. 163 EGV Rn. 13.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 3 118.05.20068.05.2006 09:26:5909:26:59 4 EuR – Heft 1 – 2006 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig?

Diese wird in den verschiedenen Forschungsrahmenprogrammen (FRP) der Euro- päischen Gemeinschaft (Art. 166 EG) konkretisiert. In Art. 7 des 5. FRP heißt es, dass bei allen Forschungstätigkeiten die ethischen Grundprinzipien beachtet wer- den müssen.7 In Anhang II unter der Überschrift „wissenschaftliche und technolo- gische Ziele“ wird im Hinblick auf genetisch ausgerichtete Forschungs- und Ent- wicklungstätigkeit ausgeführt, dass die Untersuchung von Fragen der biomedizi- nischen Ethik und der Bioethik unter Beachtung der menschlichen Grundwerte zu geschehen habe. Was das bedeutet, wird in einer Fußnote8 wie folgt erläutert: „Un- ter Berücksichtigung der Erklärung des Europäischen Rates von Amsterdam und der Entschließung des Europäischen Parlaments zum Verbot des Klonens von Men- schen (ABl. C 115 vom 14.4.1997, S. 92) sowie des einschlägigen Gemeinschafts- rechts werden ... innerhalb dieses Rahmenprogramms ... keine Forschungstätig- keiten im Bereich der Klonierung durchgeführt, bei denen eine Änderung des ge- netischen Erbguts von Menschen durch Veränderung von Keimzellen oder durch Eingriffe in andere Phasen der Embryonalentwicklung vorgenommen oder be- zweckt wird, oder um den Zellkern einer Keimzelle oder einer embryonalen Zelle durch den Zellkern eines anderen Individuums zu ersetzen, der im embryonalen Stadium oder zu einem späteren Zeitpunkt der menschlichen Entwicklung entnom- men wurde.“ Diese Formulierung zeigt deutlich, dass als Embryo bereits die frü- heste Form der menschlichen Entwicklung von der Kernverschmelzung an bezeich- net wird und dass alle Formen der Klonierung verboten sind. Das Europäische Parlament hat mehrfach ein Förderungsverbot für Klonierung und Klonexperimente ausgesprochen.9 Da beim therapeutischen Klonen auf nicht ge- schlechtliche Weise eine totipotente Zelle, also ein Embryo erzeugt wird, erstreckt sich das Klonverbot auch auf diese Variante. Wenn man nicht bereit ist, das thera- peutische Klonen unter das Klonierungsverbot zu subsumieren, ergibt sich das Ver- bot des therapeutischen Klonens aus folgender Erwägung: Das 5. FRP verbietet in der zitierten Fußnote „eine Änderung des genetischen Erbguts von Menschen durch Veränderung von Keimzellen oder durch Eingriffe in anderen Phasen der Embryo- nalentwicklung“. Da beim therapeutischen Klonen das Genom der Eizelle durch Entkernen verändert wird (siehe oben unter I.1) und diese Veränderung einer toti- potenten Zelle mitgeteilt wird, beruht diese als notwendiges Durchgangsstadium für die Gewinnung von embryonalen Stammzellen auf einer verbotenen Verände- rung der Keimbahn.10 Das 6. FRP vom 27.6.200211 weist in Erwägungsgrund 17 und in Art. 3 ebenfalls darauf hin, dass die Durchführung der Forschungstätigkeiten die ethischen Grund- prinzipien einschließlich derjenigen, die in Art. 6 EU und in der Charta der Grund- rechte der Europäischen Union festgelegt sind, zu beachten hat. Eine Konkretisie-

7 Beschluss Nr. 182/1999/EG des Europ. Parlaments und des Rates vom 22.12.1998, ABl. 1999, L 26, S. 6. 8 Beschluss (Fn. 7), S. 13. 9 Vgl. die Hinweise bei Jens Kersten, Das Klonen von Menschen, 2004, S. 201. 10 Siehe dazu Kersten (Fn. 9), S. 202. 11 Beschluss Nr. 1513/2002/EG, ABl. 2002 L 232, S. 2 ff.

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rung der ethischen Anforderungen fi ndet sich in Anhang 1 „Wissenschaftliche und technologische Ziele, Grundzüge der Maßnahmen und Prioritäten“. Dort werden die verbindlichen ethischen Grundsätze folgendermaßen beschrieben: „Diese um- fassen unter anderem die Prinzipien, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ergeben, den Schutz der Menschenwürde und des mensch- lichen Lebens ...“. Dabei wird Bezug genommen auf das Übereinkommen des Eu- roparates über Menschenrechte und Biomedizin (Oviedo, 4. April 1997) und das Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von Menschen (Paris, 12. Januar 1998). Weiter ist zu verweisen auf die Entscheidung des Rates vom 30. September 2002 über ein spezifi sches Programm im Bereich der Forschung, technologischen Entwicklung und Demonstration: „Ausgestaltung des Europäischen Forschungs- raumes (2002 – 2006).“12 Im Erwägungsgrund 6 wird die Beachtung der ethischen Grundprinzipien, einschließlich derjenigen, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union festgelegt sind, verlangt, siehe auch Art. 3. In Anhang 1 heißt es, dass Forschungstätigkeiten zur Züchtung menschlicher Embryonen ausschließ- lich zu Forschungszwecken oder zur Gewinnung von Stammzellen, auch durch Kerntransfer somatischer Zellen, nicht fi nanziert werden. Entsprechende Passagen fi nden sich auf Seite 8 des in Anm. 12 zitierten interinstitutionellen Aktenver- merks.

III. Forschungsfreiheit und deren europarechtliche Schranken

Die hier in Rede stehende Stammzellenforschung einschließlich das darauf beru- hende therapeutische Klonen stellen wissenschaftliche Forschung dar. Diese ist nicht nur nach deutschem Verfassungsrecht (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG) geschützt, sondern steht auch unter dem Schutz des Primärrechts der Europäischen Gemein- schaft, vermittelt durch Art. 6 Abs. 2 EUV,13 was durch Art. 13 der Grund- rechtecharta (= Art. II-73 Vertrag über eine Verfassung für Europa = VVE) sicht- barer gemacht werden soll.14 Wissenschaftliche Forschung ist nicht schrankenlos gewährleistet. Die wissen- schaftliche Forschung muss die Menschenwürde, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit der Menschen achten und der Staat muss sie Forschern gegenüber schüt- zen.15 Entsprechendes gilt für das EG-Recht nach Maßgabe der bisherigen Recht- sprechung des Europäischen Gerichtshofs,16 die in Art. 52 der Grundrechtecharta

12 Beschluss Nr. 2002/835/EG, ABl. 2002 L 294, S. 44 ff. Entsprechend Interinstitutional File 2001/0122 (CNS), Brüssel, 9.8.2002, 11385/02, wo es auf S. 7 heißt: ”During the implementation of this programme and in the re- search activities arising from it, fundamental ethical principles are to be respected. These include the principles refected in the Charter of fundamental rights of the EU, including the following: protection of human dignity and human life, … in accordance with Community law and relevant international conventions and codes of conduct …” 13 Vgl. dazu Thomas Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, 1992, S. 142 ff. 14 So Präambel zur Grundrechtecharta. 15 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 5. Aufl . 2005, Art. 5 Rn. 418. 16 Vgl. Jürgen Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583, 616- 624.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5 118.05.20068.05.2006 09:26:5909:26:59 6 EuR – Heft 1 – 2006 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig?

(= Art. II-112 VVE) zusammengefasst ist, wo auch der Schutz der Menschenwürde (Art. 1 = Art. II-61 VVE) und das Recht auf Leben (Art. 2 Abs. 1 = Art. II-62 Abs. 1 VVE) normiert sind. Was den Grundrechtsschutz betrifft, hat der Europäische Gerichtshof schon 1974 Folgendes ausgeführt:17 „Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Grund- rechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er zu wahren hat, und dass er bei der Gewährleistung dieser Rechte von den gemeinsamen Verfassungs- überlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen hat. Hiernach kann er keine Maß- nahmen als rechtens anerkennen, die unvereinbar sind mit den von den Verfas- sungen dieser Staaten anerkannten und geschützten Grundrechten. Auch die inter- nationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“ Diese Aussage wird im Vertrag über eine Verfassung für Europa (Art. I-9 Abs. 3) aufge- nommen: „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, sind als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts.“ Im Folgenden sind deshalb zunächst die die Europäische Gemeinschaft bindenden Normen der Europäischen Menschenrechtskonvention und weiterer Übereinkom- men und Zusatzprotokolle im Rahmen des Europarates darzustellen und auf die gestellte Frage anzuwenden (1.). Im Anschluss daran ist zu prüfen, inwieweit das Gemeinschaftsrecht den Schutz der Menschenwürde im Hinblick auf Embryonen konkretisiert hat (2.).

1. Europäische Menschenrechtskonvention und einschlägige Übereinkom- men mit Zusatzprotokollen

Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) schützt in Art. 2 Abs. 1 das Recht auf Leben, ohne ausdrücklich das ungeborene menschliche Leben zu erwäh- nen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat über die Erstreckung dieses Rechts auf Embryonen bisher nicht entschieden; die früher existierende Eu- ropäische Kommission für Menschenrechte hatte in ihr vorge legten Abtreibungs- fällen die Frage ausdrücklich offen gelassen.18 Das Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin, Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin vom 4. April 199719, das am 1.12.1999 für die ersten fünf Staaten, die das Übereinkommen ratifi ziert haben,20 in Kraft getreten

17 Entscheidung Nold, vgl. EuGH, Slg. 1974, S. 491 Rn. 13, dort das Zitat; vgl. dazu jetzt Art. 6 Abs. 2 EUV. 18 Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl . 1996, Art. 2 Rn. 3. 19 European Treaty Series – Nr. 164. 20 Es handelt sich um Dänemark, Griechenland, San Marino, Slowakei und Slowenien. Inzwischen haben weitere Staaten das Übereinkommen ratifi ziert.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 6 118.05.20068.05.2006 09:27:0009:27:00 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig? EuR – Heft 1 – 2006 7

ist, hat die Bundesrepublik Deutschland (noch) nicht unterzeichnet, weil der Em- bryonenschutz nicht ausreichend sei. In Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens heißt es zunächst, dass die Würde und Identität aller menschlichen Lebewesen geschützt werde. Nach Art. 2 haben das Interesse und das Wohl des menschlichen Lebewe- sens Vorrang gegenüber dem Interesse der Gesellschaft oder Wissenschaft. Art. 18 lautet in (nicht verbindlicher)21 deutscher Übersetzung: (1) Die Rechtsordnung hat einen angemessenen Schutz des Embryos zu gewähr- leisten, sofern sie Forschung an Embryonen in vitro zulässt. (2) Die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken ist verboten. Das zitierte Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin legt Art. 2 EMRK verbindlich dahin aus, dass der dort garantierte Lebensschutz auch den menschlichen Embryo umfasst, und zwar nicht nur in utero, sondern auch in vitro. Das ergibt sich einmal aus der Überschrift des Übereinkommens, zum anderen aus Art. 18 Abs. 2, der nur dahin verstanden werden kann, dass die Befruchtung einer menschlichen Eizelle in vitro zu Forschungszwecken verboten ist. In dem Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zum Schutze der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medi- zin über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen vom 12. Januar 199822 steht die Erwägung, dass die Instrumentalisierung menschlicher Lebewesen durch die bewusste Erzeugung genetisch identischer menschlicher Lebewesen ge- gen die Menschenwürde verstößt und somit einen Missbrauch von Biologie und Medizin darstellt.23 In Art. 1 des Zusatzprotokolls wird deshalb statuiert:24 (1) Verboten ist jede Intervention, die darauf gerichtet ist, ein menschliches Lebe- wesen zu erzeugen, das mit einem anderen lebenden oder toten menschlichen Le- bewesen genetisch identisch ist. (2) Im Sinne dieses Artikels bedeutet der Ausdruck menschliches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen Lebewesen „genetisch identisch“ ist, ein mensch- liches Lebewesen, das mit einem anderen menschlichen Lebewesen dasselbe Kern- genom gemeinsam hat. Mit dem Übereinkommen vom 4. April 1997 und dem Zusatzprotokoll vom 12. Januar 1998 hat der Europarat den in der Menschenrechtskonvention verbürgten Lebensschutz im Hinblick auf 1950 noch unbekannte medizinische Techniken aus- drücklich auf Embryonen erstreckt.25

21 Die verbindliche englische Fassung lautet: (1) Where the law allows research on embryos in vitro, it shall ensu- re adequate protection of the embryo. (2) The creation of human embryos for research is prohibited. 22 European Treaty Series – Nr. 168. 23 ... that the instrumentalisation of human beings through the deliberate creation of genetically identical human beings is contrary to human dignity and thus constitutes a misuse of biology and medicine. 24 Verbindliche englische Fassung: (1) Any intervention seeking to create a human being genetically identical to another human being, whether living or dead, is prohibited. (2) For the purpose of this article, the term human being “genetically identical” to another human being means a human being sharing with another the same un- clear gene set. 25 So hat die Schweiz, Mitglied des Europarates, in ihrer Verfassung vom 18.12.1998 den Embryonen schutz ver- ankert. Art. 119 Abs. 2 a: „Alle Arten des Klonens und Eingriffe in das Erbgut menschlicher Keimzellen und Embryonen sind unzulässig.“ Abs. 2 c am Ende: „ ...; es dürfen nur so viele mensch liche Eizellen außerhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort einge pfl anzt werden können.“

11_06_innen.indd_06_innen.indd 7 118.05.20068.05.2006 09:27:0009:27:00 8 EuR – Heft 1 – 2006 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig?

Diese hier vorgenommene Interpretation ist nicht allgemein anerkannt. Das folgt zunächst aus der bereits erwähnten Weigerung der deutschen Bundesregierung, das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin und das Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens zu unterzeichnen, da es nicht genügend Schutz für Embryonen biete. Bestätigt wird dies durch Interpretationsansätze, die das Verbot, menschliche Embryonen zu Forschungszwecken zu erzeugen, so verstehen, dass Forschung für therapeutische Zwecke nicht unter das Verbot fällt und insoweit Art. 18 Abs. 2 des Übereinkommens leer läuft.26 Hinzu kommt die durch das britische Parlament zugelassene Erzeugung (geklonter) Embryonen für die Gewinnung von Stammzellen bis zum 14. Tag nach der Befruchtung der Eizelle. Diese Parlaments- entscheidung wird zumindest in Großbritannien – soweit ersichtlich – nicht als Verstoß gegen das Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin und das Zusatzprotokoll über Klonen betrachtet. Der Aufwand eines gut begründeten eigenständigen Interpretationsansatzes steht in keinem Verhältnis zur Bedeutung des Übereinkommens, das juristisch unausgego- ren ist und erst von wenigen Mitgliedstaaten des Europarats unterzeichnet ist.

2. Europäisches Gemeinschaftsrecht

a) Grundrechtecharta

Die Grundrechtecharta, die im Dezember 2000 auf der Regierungskonferenz in Nizza feierlich proklamiert, aber nicht in Kraft gesetzt worden ist, entfaltet eine normative Vorwirkung,27 die noch verstärkt worden ist durch ihre Aufnahme in den Vertrag über eine Verfassung für Europa, die auf der Regierungskonferenz am 29. 10. 2004 in Rom unterzeichnet worden ist und in Zukunft in den Mitgliedstaaten Ratifi zierungsprozessen unterliegt. Art. 1 der Grundrechtecharta (= Art. II-61 VVE) erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen. Art. 1 würde eine Interpretation ermöglichen, die dem gleichlautenden Art. 1 Abs. 1 GG entspricht. Darauf ist spä- ter genauer einzugehen. Art. 3 Abs. 2 lit. d der Grundrechtecharta (= Art. II-63 Abs. 2 lit. d VVE) verbietet das reproduktive Klonen von Menschen. Aus dieser Spezialvorschrift könnte geschlossen werden, dass das Klonen zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken nicht verboten ist.28 In der nicht verbindlichen Mo- tivation des Präsidiums des Konvents heißt es, dass mit Art. 3 nicht von dem Über- einkommen über Menschenrechte und Biomedizin und dem Zusatzprotokoll über

26 So mit ausführlicher Begründung Kersten (Fn. 9), S. 83 ff. 27 Dazu Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, S. 2573 f. 28 So die herrschende Meinung, vgl. statt anderer mit weiteren Angaben Thomas Schmitz, Die EU-Grund- rechtecharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833, 834; Kyrill- Alexander Schwarz, Therapeutisches Klonen, KritV 2001, S. 182, 193; Rudolf Streinz, in: Streinz (Hrsg.), EUV/ EGV, 2003, Art. 3 GR-Charta, Rn. 2, 5; Matthias Pechstein, ebd.; Art. 6 EUV, Rn. 17.

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Klonen abgewichen werden sollte. Deshalb sei lediglich das reproduktive Klonen verboten worden. Die anderen Formen des Klonens würden von der Charta weder gestattet noch verboten. Die Gesetzgebung sei nicht gehindert, auch die anderen Formen des Klonens zu verbieten.29 Eine weitere Begründung des Klonverbots, insbesondere eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Menschenwürdegarantie, fehlt in der Begründung des Präsidenten.

b) Entschließungen des Europäischen Parlaments

Das Europäische Parlament hat sich in vier bemerkenswerten Entschließungen mit dem Klonen von Menschen befasst, auf die näher einzugehen ist. Eine Entschlie- ßung des Europäischen Parlaments ist eine Rechtshandlung, die nicht in Art. 249 EG vorgesehen ist. Deshalb ist eine Entschließung nicht im strengen Sinne ver- bindlich. Sie ist eine rechtspolitische Stellungnahme und stellt als solche „soft law“ dar, soweit sie im Amtsblatt veröffentlicht ist.30 Entschließungen dürften insbeson- dere Interpretationshilfen darstellen und haben deshalb für die hier zu untersuchen- de Frage Bedeutung. • In der Entschließung zum Klonen vom 12. März 199731 heißt es: „In der festen Überzeugung, dass keine Gesellschaft unter irgendwelchen Umständen das Klo- nen von menschlichen Wesen zu Versuchszwecken, im Rahmen von Fruchtbar- keitsbehandlungen, Präimplantationsdiagnosen, Gewebetransplan tationen oder zu irgendeinem anderen Zweck rechtfertigen oder hinnehmen darf, weil es eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt und dem Grundsatz der Gleichheit der Menschen widerspricht, denn es ermöglicht eine eugenische und rassistische Selektion der menschlichen Art, verstößt gegen die Würde des Menschen und macht Menschenversuche erforderlich.“ Die Aufzählung der Klonierungszwecke macht deutlich, dass auch das therapeu- tische Klonen unter das Verbot fallen soll. • Die Entschließung vom 15. Januar 199832 erging in Kenntnis des Übereinkom- mens über Menschenrechte und Biomedizin vom 4. April 1997 und des Zusatz- protokolls über Klonen vom 12. Januar 1998, sie wiederholt inhaltlich im We- sentlichen die vorangegangene Entschließung, fordert die Mitgliedstaaten des Europarats auf, dem Übereinkommen und dem Zusatzprotokoll beizutreten und fügt, die erste Entschließung ergänzend, Folgendes hinzu: „In der Erwägung, dass das Klonen eines Menschen defi niert wird als die Erzeugung von mensch- lichen Embryonen mit demselben Erbgut wie ein bestimmter lebender oder be-

29 Präsidium des Konvents, CHARTE 4473/00, CONVENT 49, S. 5. 30 Vgl. Thomas Oppermann, Europarecht, 2. Aufl . 1999, Rn. 586; Werner Schroeder, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 249 EGV Rn. 32. 31 ABl. C 115, 14.4.1997, S. 92, Erwägung B. Die ungeschickte Formulierung, dass Menschenversuche erforder- lich gemacht sind statt ermöglicht werden, fi ndet sich auch im englischen (requires) und im französischen Text (exige). 32 ABl. C 164, 2.2.1998, S. 164, Erwägung.

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reits verstorbener Mensch in seiner gesamten Entwicklung von der Befruchtung an, ohne Unterscheidung nach angewandter Methode.“ Mit dieser Aussage wird anerkannt, dass die menschliche Person und der ihr zu- kommende Würdeschutz mit der Kernverschmelzung beginnt. • Die Entschließung vom 7. September 200033 ist ergangen als Reaktion auf einen Vorschlag der britischen Regierung, therapeutisches Klonen zuzulassen. Das Eu- ropäische Parlament spricht sich gegen eine Unterscheidung zwischen therapeu- tischem und reproduktivem Klonen und damit gegen jede Lockerung des Klon- verbots aus. Es defi niert „das Klonen von Menschen als Schaffung menschlicher Embryonen ..., die die gleiche genetische Ausstattung wie ein anderer verstor- bener oder lebender Mensch haben, und zwar auf jeder Stufe ihrer Entwicklung, ohne jede Möglichkeit der Unterscheidung der angewandten Methode.“ • Die noch nicht im Amtsblatt veröffentlichte Entschließung vom 10. März 2005 zu dem Handel mit menschlichen Eizellen (http://www2.europarl.eu.int./omk/si- pade2) ist ergangen aufgrund von Medienberichten, wonach es in Rumänien eine Klinik geben soll, die auf die Spende von Eizellen für Bürger der Euro- päischen Union, insbesondere britischer Staatsangehörigkeit, gegen Zahlung von 1000 € spezialisiert sei. In der Erwägung H Nr. 14 wird der Beschluss der Sechsten Kommission der Vereinten Nationen vom 18. Februar 2005 begrüßt und die Kommission der EG ersucht, das Klonen von Menschen von der Finan- zierung im Rahmen des 7. FRP auszuschließen. In Nr. 15 wird die Kommission an das Subsidiaritätsprinzip erinnert und gefordert, dass andere Formen der Embryoforschung und der Embryonstammzellenforschung in Mitgliedstaaten, in denen diese Art der Forschung gesetzlich zugelassen ist, allein aus den natio- nalen Haushalten fi nanziert werden müsse. Weiter heißt es, „dass sich die EU-Finanzierung auf Alternativen wie die Forschung an somatischen Stamm- zellen und Nabelschnurstammzellen konzentrieren sollte, die in allen Mitglied- staaten akzeptiert ist und bereits zur erfolgreichen Behandlung von Patienten geführt hat.“ Die vier Entschließungen des Europäischen Parlaments sind auf der Ebene sekun- dären Gemeinschaftsrechts rechtspolitische Versuche, das Klonverbot des Primär- rechts näher zu bestimmen.34 Die vom Europäischen Parlament und vom Rat erlassene Richtlinie 98/44/EG über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfi ndungen vom 6. Juli 199835 hält in Erwägung 40 Folgendes fest: „Innerhalb der Gemeinschaft besteht Übereinstim- mung darüber, dass die Keimbahnintervention am menschlichen Lebewesen und das Klonen von menschlichen Lebewesen gegen die öffentliche Ordnung und die guten Sitten verstoßen. Daher ist es wichtig, Verfahren zur Veränderung der gene- tischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens und Verfahren zum

33 Nicht im Amtsblatt veröffentlicht; siehe http://www.euro-parl.eu.inter. 34 Ähnlich Kersten (Fn. 9), S. 119. 35 ABl. L 213, S. 13.

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Klonen von menschlichen Lebewesen unmissverständlich von der Patentierbarkeit auszuschließen.“ In der folgenden Erwägung wird als Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen jedes Verfahren, einschließlich der Verfahren der Embry- onenspaltung, bezeichnet, das darauf abzielt, ein menschliches Lebewesen zu schaffen, das im Zellkern die gleiche Erbinformation wie ein anderes lebendes oder verstorbenes menschliches Lebewesen besitzt. Art. 6 der Richtlinie schließt als gegen die öffentliche Ordnung oder gegen die gu- ten Sitten verstoßend von der Patentierbarkeit u. a. aus: a) Verfahren zum Klonen von menschlichen Lebewesen und b) Verfahren zur Veränderung der genetischen Identität der Keimbahn des menschlichen Lebewesens. Es spricht vieles dafür, dass mit diesem Patentierungsverbot alle Klonierungsver- fahren und –zwecke als gegen die öffentliche Ordnung und gegen die guten Sitten verstoßend bewertet werden.36 Diese Richtlinie ist in engem zeitlichen Zusammen- hang mit den bereits behandelten Entschließungen des Europäischen Parlaments entstanden, die alle Klonierungszwecke (E. v. 12.3.97: „... oder zu irgendeinem an- deren Zweck“) deutlich ächten.

c) Auslegung der Menschenwürdegarantie in der Grundrechtecharta

Oben ist schon auf die Bedeutung der Menschenwürdegarantie hingewiesen wor- den, die in Art. 1 der Grundrechtecharta (= Art. II-61 VVE) an prominenter Stelle aufgenommen ist. Die Grundrechtecharta ist noch nicht geltendes Recht. Aller- dings haben sich das Europäische Parlament, die Kommission und der Rat der Eu- ropäischen Gemeinschaft unmittelbar nach der Proklamation der Charta verpfl ich- tet, diese zu beachten.37 Der Europäische Gerichtshof wird auf die Dauer nicht umhin können, die Grundrechtecharta, evtl. über die Brücke des Art. 6 Abs. 2 EU zu beachten.38 Art. 1 der Grundrechtecharta (= Art. II-61 VVE) hat eine erste Auslegung durch Borowsky im Kommentar von Jürgen Meyer zur Grundrechtecharta erfahren. Bo- rowsky schreibt: Es dürfte europaweit auf Zustimmung stoßen, die Würde des Men- schen im Sinne Kants zu verstehen. Sie verbietet es, Menschen zum bloßen Objekt zu machen, ihn als Sache zu behandeln. Nach Borowsky enthält die Charta zugleich das Potential, den Embryonenschutz zu verstärken, dessen Rechtsstellung auf euro- päischer Ebene schwach sei.39 Auf europäischer Ebene sind wir noch weit entfernt von einer Dogmatik der Men- schenwürdegarantie. Es spricht viel für eine dem Art. 1 Abs. 1 GG entsprechende Interpretation des Art. 1 der Grundrechtecharta (= Art. II-61 VVE).40 Textlich ist er

36 A. A. wohl Kersten (Fn. 9), S. 120 ff. 37 Angaben bei Schmitz (Fn. 28), S. 836; siehe auch oben Fn. 27. 38 Dazu Kersten (Fn. 9), S. 88. 39 Borowsky, in: Jürgen Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 45. 40 Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 1 GR-Charta, Rn. 1 (S. 2581).

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dem deutschen Verfassungsrecht entlehnt, über dessen Interpretation Klarheit be- standen haben dürfte. Wie noch im Einzelnen darzulegen sein wird (V.1), stehen unter dem Schutz der Menschenwürdegarantie alle von Menschen gezeugten Lebe- wesen, unabhängig davon, ob die Zeugung auf natürlichem Wege oder extrakorpo- ral mit menschlichen (Keimbahn-)Zellen stattgefunden hat.41 Sobald die Zellkerne verschmolzen sind oder auf ungeschlechtliche Weise eine totipotente Zelle erzeugt worden ist, steht sie unter dem Menschenwürdeschutz. Beim Embryonensplitting werden künstlich eineiige Zwillinge erzeugt, die beide Menschenwürde haben. Beim Zellkerntransfer in eine entkernte Eizelle entsteht ebenfalls eine totipotente Zelle, die zu einer Embryonalentwicklung fähig ist und somit unter Menschenwür- deschutz steht. Die Nutzung totipotenter Zellen zu außerhalb ihrer selbst liegenden Zwecken verstößt gegen die Menschenwürde. Auf dieser Grundlage sind nicht nur entsprechende Verfahren von der Patentierung ausgeschlossen, sondern dürfen auch nicht fi nanziell gefördert werden; gegenwärtig fi ndet eine solche Förderung durch die Europäische Gemeinschaft nicht statt.

d) Bestehende Unsicherheiten und Regelungsvorschlag

Der Streit um die UN-Konvention gegen das Klonen von Menschen, über die Ende 2004 in der Presse berichtet worden ist, zeigt, dass es zahlreiche Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft gibt,42 die zwar das reproduktive Klonen ableh- nen, aber das therapeutische Klonen durch Zellkerntransfer nicht ächten wollen. Dazu gehören Belgien, Großbritannien und Schweden, die therapeutisches Klonen staatlich fördern. Im Hinblick auf das Verfahren des therapeutischen Klonens wird vom Schutz der Menschenwürde abgelenkt und semantisch beruhigt, indem die totipotente Zelle, die alle Voraussetzungen für eine embryonale Entwicklung hat, also ein Embryo ist, als „Zellkerntransferprodukt“ bezeichnet wird. Das Verhalten zahlreicher EG-Staaten bei den Beratungen über eine UN-Klonkon- vention zeigt, dass in Europa auf Gemeinschaftsebene noch nicht entschieden ist, ob über das Verbot reproduktiven Klonens (Art. 3 Abs. 2 lit. d Grundrechtecharta = Art. II-63 Abs. 2 lit. d VVE) hinaus auch andere Formen des Klonens verboten werden. Jens Kersten, der bisher die gründlichste Untersuchung über die verfassungs- rechtliche, europarechtliche und völkerrechtliche Beurteilung des Klonens von Menschen vorgelegt hat,43 unterbreitet folgenden Regelungsvorschlag, der in ein künftiges Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft aufzuneh- men wäre:44

41 Vgl. die ausführliche Begründung bei Kersten (Fn. 9), S. 403 ff., 554 ff. 42 Nach dem Bericht von Christian Schwägerl, FAZ vom 27.11.2004/Nr. 278, S. 12, handelt es sich um elf Staa- ten. Dieser Bericht und der Bericht von csl. in FAZ vom 20.11.2004/Nr. 272, S. 6, auch zum Folgenden. 43 Vgl. das in Fn. 9 zitierte Werk. 44 Kersten (Fn. 9), S. 584.

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„Die ethischen Grundprinzipien ... umfassen die Prinzipien der Charta der Grund- rechte der Europäischen Union, den Schutz der menschlichen Würde und des menschlichen Lebens, den Schutz persönlicher Daten und der Privatsphäre sowie der Umwelt gemäß dem Gemeinschaftsrecht und die einschlägigen internationalen Übereinkommen wie die Erklärung von Helsinki in ihrer letzten Fassung, das am 4. April 1997 in Oviedo unterzeichnete Übereinkommen des Europarates über Men- schenrechte und Biomedizin und das am 12. Januar 1998 in Paris unterzeichnete Zusatzprotokoll über das Verbot des Klonens von Menschen, die UN-Kinderrechts- konvention, die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und die Men- schenrechte der UNESCO, die einschlägigen Entschließungen der Weltgesund- heitsorganisation (WHO) sowie die geltenden Rechtsvorschriften und Regelungen der Länder, in denen die Forschung durch geführt wird. Deshalb werden innerhalb dieses Rahmenprogramms insbesondere keinerlei For- schungstätigkeiten durchgeführt, die das Klonen von Menschen zum Ziel haben (Art. 3 Abs. 2 Spstr.1 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union i. V. mit Art. 1 des Zusatzprotokolls zur Biomedizin-Konvention über das Verbot des Klonens von Menschen). Als Mensch gilt bereits der Embryo von seiner Entwick- lung als totipotente Zelle an. Damit ist insbesondere die Förderung des Embryo- nen-Splitting und des Zellkerntransfers ausgeschlossen. Nicht förderungsfähig sind darüber hinaus Forschungsvorhaben zur Veränderung des genetischen Erbguts eines Menschen, durch die solche Veränderungen vererb- bar werden.“ Sollte sich der Vorschlag von Kersten, der die bisher geäußerte Auffassung des Eu- ropäischen Parlaments zusammenfasst, bei der Erstellung weiterer Forschungs- rahmenprogramme nicht durchsetzen, so könnte das Problem entstehen, dass die Europäische Gemeinschaft Forschung fördert, die nach deutschem Recht verboten ist. Das würde nicht nur einen bedauerlichen Konfl ikt in den Grundwerten der Mit- gliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zeigen, sondern für Deutschland als Nettozahler der Gemeinschaft bedeuten, dass mit deutschem Steuergeld Hand- lungen fi nanziell gefördert werden, die in Deutschland verboten sind, weil sie ge- gen die Menschenwürde verstoßen, die nach Art. 1 Abs. 1 GG vom Staat zu schüt- zen ist. Im Folgenden ist deshalb die deutsche Gesetzeslage zu schildern (IV.) und ihre ver- fassungsrechtliche Fundierung zu prüfen (V.).

IV. Das deutsche Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz

Das am 1. Januar 1991 in Kraft getretene Embryonenschutzgesetz45 enthält straf- bewehrte Verbote folgender Handlungen, die im Zusammenhang der Forschung an embryonalen Stammzellen stehen:

45 Gesetz vom 13.12.1990 (BGBl. I, S. 2747).

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– Die In-vitro-Fertilisation zu anderen Zwecken, als die Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt (§ 1 Abs. 1 Nr. 2). Außerdem ist ver- boten, mehr Eizellen zu befruchten, als der Frau innerhalb eines Zyklus einge- pfl anzt werden sollen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5). – Die künstliche Übertragung von Erbinformationen (Klonen) eines Menschen, eines Verstorbenen, eines Fötus oder eines Embryos auf einen (anderen) Embryo (§ 6 Abs. 1). Als Embryo bezeichnet das Gesetz in § 8 „die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede einem Embryo entnommene totipotente Zelle, die sich bei Vorliegen der dafür erforder- lichen weiteren Voraussetzungen zu teilen und zu einem Individuum zu entwickeln vermag“.46 Die genannten Bestimmungen verbieten jede Forschung mit Stammzellen, da deren Gewinnung immer den Verbrauch eines Embryos zur Folge hat. Entsprechendes gilt für die Gewinnung von Gewebe durch therapeutisches Klonen. Dem Embryonenschutzgesetz liegt die deutlich erkennbare Wertung zugrunde, dass ein Embryo, der in vitro entstanden ist, weder zu Forschungs- noch zu therapeu- tischen Zwecken verbraucht werden darf, sondern die Chance haben muss, seinem natürlichen Telos entsprechend sich als Mensch zu entwickeln und geboren zu wer- den.47 Konsequenz dieser Wertung ist das Verbot, embryonale Stammzellen aus dem Ausland zu importieren, selbst wenn am Herkunftsort der Stammzellen der Verbrauch von Embryonen zu Forschungszwecken nicht verboten ist. Da das Em- bryonenschutzgesetz ein Strafgesetz ist, das unter strengen Voraussetzungen der Tatbestandsmäßigkeit der strafbaren Handlungen steht (Art. 103 Abs. 2 GG: nul- lum crimen sine lege), war streitig, ob Stammzellen, die im Ausland gewonnen worden sind, zu Forschungszwecken nach Deutschland importiert werden dürfen, weil der Import nicht ausdrücklich verboten war. Das Gesetz zur Sicherstellung des Embryonenschutzes im Zusammenhang mit Ein- fuhr oder Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (Stammzellgesetz) vom 28. Juni 200248 verbietet die Einfuhr und die Verwendung embryonaler Stammzellen (§ 4 Abs. 1). Abweichend davon ist nach § 4 Abs. 2 jedoch die Ein- fuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken unter den in § 6 genannten Voraussetzungen zulässig, wenn 1. zur Überzeugung der Genehmigungsbehörde feststeht, dass a) die embryonalen Stammzellen in Übereinstimmung mit der Rechtslage im Herkunftsland dort vor dem 1. Januar 2002 gewonnen wurden und in Kultur gehalten werden oder im Anschluss daran kryokonserviert gelagert werden (embryonale Stammzell-Linie),

46 Diese Defi nition wird sinngemäß wiederholt in § 3 Nr. 4 des sogleich behandelten Stammzellgesetzes. 47 Keller/Günther/Kaiser, Kommentar zum Embryonenschutzgesetz, 1992, vor § 1 Rn. 4. Dieselbe Wertung liegt Art. 119 Nr. 2 lit. a und c der Schweizerischen Bundesverfassung zugrunde. Danach sind alle Arten des Klo- nens verboten, und bei In-vitro-Fertilisation dürfen nur so viele Embryonen erzeugt werden als der Frau sofort eingepfl anzt werden können. 48 BGBl. I, S. 2277.

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b) die Embryonen, aus denen sie gewonnen wurden, im Weg der medizinisch unterstützten extrakorporalen Befruchtung zum Zwecke der Herbei führung einer Schwangerschaft erzeugt worden sind, sie endgültig nicht mehr für die- sen Zweck verwendet wurden und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies aus Gründen erfolgte, die an den Embryonen selbst liegen, c) für die Überlassung der Embryonen zur Stammzellgewinnung kein Entgelt oder sonstiger geldwerter Vorteil gewährt oder versprochen wurde und 2. der Einfuhr oder Verwendung der embryonalen Stammzellen sonstige gesetz- liche Vorschriften, insbesondere solche des Embryonenschutzgesetzes, nicht entgegenstehen. Die Ausnahme ist damit gerechtfertigt worden, dass bis zum Stichtag in manchen Ländern embryonale Stammzellen ohne Verstoß gegen das dort geltende Recht ge- wonnen worden sind. Diese Ausnahme soll aber nur gelten, soweit dazu Embryo- nen benutzt worden sind, die zum Zwecke der Herbeiführung einer Schwanger- schaft in vitro erzeugt worden waren. Die Zwecke und Methoden der Forschung, für die embryonale Stammzellen impor- tiert werden dürfen, sind wie folgt umschrieben:

§ 5 Forschung an embryonalen Stammzellen Forschungsarbeiten an embryonalen Stammzellen dürfen nur durchgeführt werden, wenn wissenschaftlich begründet dargelegt ist, dass 1. sie hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisge- winn im Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizi- nischer Kenntnisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder thera- peutischer Verfahren zur Anwendung bei Menschen dienen und 2. nach dem anerkannten Stand von Wissenschaft und Technik a) die im Forschungsvorhaben vorgesehenen Fragestellungen so weit wie mög- lich bereits in In-vitro-Modellen mit tierischen Zellen oder in Tierversuchen vorgeklärt worden sind und b) der mit dem Forschungsvorhaben angestrebte wissenschaftliche Erkenntnisge- winn sich voraussichtlich nur mit embryonalen Stammzellen erreichen lässt. Die Genehmigungsvoraussetzungen sind wie folgt normiert:

§ 6 Genehmigung (1) Jede Einfuhr und jede Verwendung embryonaler Stammzellen bedarf der Ge- nehmigung durch die zuständige Behörde. (2) Der Antrag auf Genehmigung bedarf der Schriftform. Der Antragsteller hat in den Antragsunterlagen insbesondere folgende Angaben zu machen: 1. den Namen und die berufl iche Anschrift der für das Forschungsvorhaben verant- wortlichen Person, 2. eine Beschreibung des Forschungsvorhabens einschließlich einer wissenschaft- lich begründeten Darlegung, dass das Forschungsvorhaben den Anforderungen nach § 5 entspricht,

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3. eine Dokumentation der für die Einfuhr oder Verwendung vorgesehenen embry- onalen Stammzellen darüber, dass die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 erfüllt sind; der Dokumentation steht ein Nachweis gleich, der belegt, dass a) die vorgesehenen embryonalen Stammzellen mit denjenigen identisch sind, die in einem wissenschaftlich anerkannten, öffentlich zugänglichen und durch staatliche oder staatlich autorisierte Stellen geführten Register eingetragen sind, und b) durch diese Eintragung die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 Nr. 1 erfüllt sind. (3) Die zuständige Behörde hat dem Antragsteller den Eingang des Antrags und der beigefügten Unterlagen unverzüglich schriftlich zu bestätigen. Sie holt zugleich die Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung ein. Nach Eingang der Stellungnahme teilt sie dem Antragsteller die Stellungnahme und den Zeitpunkt der Beschlussfassung der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung mit. (4) Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn 1. die Voraussetzungen nach § 4 Abs. 2 erfüllt sind, 2. die Voraussetzungen nach § 5 erfüllt sind und das Forschungsvorhaben in die- sem Sinne ethisch vertretbar ist und 3. eine Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellen forschung nach Beteiligung durch die zuständige Behörde vorliegt. (5) Liegen die vollständigen Antragsunterlagen sowie eine Stellungnahme der Zen- tralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung vor, so hat die Behörde über den Antrag innerhalb von zwei Monaten schriftlich zu entscheiden. Die Behörde hat bei ihrer Entscheidung die Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung zu berücksichtigen. Weicht die zuständige Behörde bei ih- rer Entscheidung von der Stellungnahme der Zentralen Ethik-Kommission für Stammzellenforschung ab, so hat sie die Gründe hierfür schriftlich darzulegen. (6) Die Genehmigung kann unter Aufl agen und Bedingungen erteilt und befristet werden, soweit dies zur Erfüllung oder fortlaufenden Einhaltung der Genehmi- gungsvoraussetzungen nach Absatz 4 erforderlich ist. Treten nach Erteilung der Genehmigung Tatsachen ein, die der Genehmigung entgegenstehen, kann die Ge- nehmigung mit Wirkung für die Zukunft ganz oder teilweise widerrufen oder von der Erfüllung von Aufl agen abhängig gemacht oder befristet werden, soweit dies zur Erfüllung oder fortlaufenden Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzungen nach Absatz 4 erforderlich ist. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen die Rück- nahme oder den Widerruf der Genehmi gung haben keine aufschiebende Wirkung. Die Verbote des § 6 sind z. T. strafbewehrt (§ 13) und z. T. bußgeldbewehrt (§ 14). Durch das Stammzellgesetz nicht berührt ist das Verbot therapeutischen Klonens. Denn die dafür notwendigen embryonalen Stammzellen müssten jeweils für den konkreten Therapiefall gewonnen werden. Die hier dargestellte gesetzliche Regelung des Embryonenschutzes wird von eini- gen Autoren in Frage gestellt unter dem Gesichtspunkt der Forschungsfreiheit (Art.

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5 Abs. 3 GG) und im Zusammenhang damit des Rechts auf Leben Kranker, die durch Embryonenforschung die Chance auf Heilung erhielten.49 Besonders die im September 2000 ergangene Entscheidung des britischen Parla- ments, die Erzeugung von (geklonten) Embryonen zur Gewinnung von Stammzel- len bis zum 14. Tag nach der Befruchtung der Eizelle zuzulassen, hat in Deutsch- land zur Forderung geführt, das Embryonenschutzgesetz so zu ändern, dass neue Therapiemöglichkeiten erforscht und später praktisch genutzt werden können. So auch die Empfehlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Forschung mit embryonalen Stammzellen vom 3. 5. 2001.50 Die Forderung, den Embryonenschutz zu reduzieren oder für in vitro erzeugte Embryonen gänzlich außer Kraft zu setzen, wird u. a. damit begründet, dass das Grundgesetz Regelungen, wie sie im Embryo- nenschutzgesetz enthalten sind, nicht verlange. Für die Beurteilung dieser Forderung ist zu prüfen, welchen verfassungsrechtlichen Status der Embryo hat.

V. Das verfassungsrechtliche Fundament des Embryonenschutzes

1. Der Beginn des Würdeschutzes

Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. Die Normativi- tät der Menschenwürdegarantie ergibt sich unmissverständlich aus dem 2. Satz des Artikels, der alle staatliche Gewalt verpfl ichtet, die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“.51 Träger der Menschenwürde sind alle Lebewesen, die von Men- schen erzeugt worden sind, über ihren Tod hinaus. Diese weitestmögliche Defi niti- on der Trägerschaft ist kein biologisch-naturalistischer Fehlschluss,52 sondern eine Wertung, die auf der notwendigen Bescheidung des Menschen beruht. Denn alle Abgrenzungen führen dazu, dass der Verfassungsinterpret Würde „zuschreibt“ und „versagt“. Deshalb kann nicht Voraussetzung des Würdeschutzes sein, dass sich der Träger der Würde bewusst ist, dass er Ich-Bewusstsein, Vernunft, Fähigkeit zur Selbstbestimmung hat,53 dass er geboren ist. Auch die Geburt ist eine willkürliche Abgrenzung, da der Mensch am Ende der Schwangerschaft den Zeitpunkt der Ge- burt bestimmen kann. Wie will man begründen, dass einem lebensfähigen Fötus im Mutterleib kein Würdeschutz zukommt, wohl aber der gleichaltrigen Frühgeburt. Auch allen anderen Grenzziehungen, die den Beginn des Menschenwürdeschutzes bestimmen sollen, haftet Willkür an: Lebensfähigkeit des Fötus, Ende des 3. Mo- nats der Schwangerschaft, Beginn der Hirnentwicklung, Nidation. Die Willkürlich-

49 Jörn Ipsen, Der „verfassungsrechtliche Status“ des Embryos in vitro, JZ 2001, S. 989, 995 f.; Michael Kloepfer, Humangenetik als Verfassungsfrage, JZ 2002, S. 417, 425 f., 427; Werner Heun, Embryonenforschung und Verfassung – Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos, JZ 2002, S. 517, 523. 50 Abgedruckt in WissR 34 (2001), S. 287 ff. 51 Christian Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG Kommentar, Bd. I, 5. Aufl . 2005, Art. 1 Rn. 14 ff. auch zum Folgenden. 52 So aber Horst Dreier, in: Dreier, GG, Bd. I, 2. Aufl . 2004, Art. 1 I Rn. 66. 53 So auch Dreier (Fn. 52), Rn. 64.

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keit der Nidation als Beginn des Würdeschutzes wird bestritten, weil erst der Steu- erungsapparat der Mutter die „Befehle zur Embryogenese“ gebe.54 Die Willkür- lichkeit ergibt sich bereits daraus, dass bei In-vitro-Fertilisation es wiederum der Mensch ist, der über die Einpfl anzung des Embryos entscheidet und damit über den Beginn des Menschenwürdeschutzes entscheiden würde. Wer gerade den Umstand, dass die Implantation vom Menschen abhängt, als Argument für eine Zäsur be- nutzt,55 vergisst, dass zwischen In-vitro-Fertilisation und Einpfl anzung des Em- bryos in die Gebärmutter der Frau, von der die Eizelle stammt, ein strenges, verfas- sungsrechtlich begründetes Konnexitätsverhältnis besteht. Das heißt, man kann nicht mit der „Unbehaustheit“ des noch nicht eingenisteten Embryos argumentie- ren, um seine Entwicklungsfähigkeit in Frage zu stellen und ihn als Rohstoff der Forschung anheimgeben.

2. Der menschliche Embryo ist Person, nicht Sache

Die In-vitro-Fertilisation hat die Vorstellung aufkommen lassen, dass die der Frau und dem Mann entnommenen Zeugungsingredienzien, die Eizelle und die Samen- zelle, Sachen sind, die – im Reagenzglas vereinigt – ihre Sacheigenschaft nicht ver- lieren, allenfalls eine neuartige Sache werden. Die Sprache, in der über in vitro be- fruchtete Eizellen gesprochen wird, zeigt dies deutlich: „Zellklumpen in einer Petri- schale“56, „millimetergroße Zellwände“57 oder nüchtern-wissenschaftlich die Rela- tion zwischen Trophoblastzellen und Embryoblastzellen von 93:7 betonend58. Solche Betrachtungsweisen übersehen, dass die Zeugung eines Menschen auf einer Hand- lung beruht. Wird dieser Vorgang aus dem weiblichen Körper heraus in eine Retorte verlegt, um körperliche Fehlfunktionen der Zeugungswilligen zu überwinden, sind zwar die Zeugungszutaten getrennt von den zeugenden Personen. Dies ändert den Vorgang aber nicht qualitativ. Er bleibt ein Zeugungsakt. Jede andere Betrachtung der In-vitro-Fertilisation führt zu unlösbaren Schwierigkeiten. Versagt man nämlich der befruchteten Eizelle die Personenwürde und betrachtet sie folglich als Sache, so müsste begründet werden können, dass aus einer Sache irgendwann einmal eine Per- son werden kann, was philosophisch und juristisch unmöglich erscheint.59

54 Jochen Taupitz, Der rechtliche Rahmen des Klonens zu therapeutischen Zwecken, NJW 2001, S. 3433, 3438 auf der Grundlage eines Vortrages von Johannes Huber, Möglichkeiten und Grenzen der Embryonenforschung aus der Sicht der Medizin. 55 Rüdiger Wolfrum, Aus Politik und Zeitgeschichte 2001, Nr. 27, S. 4; ihm folgend Taupitz, NJW 2001, S. 3438. 56 Stephan Jay Gould, Baers Gesetz, FAZ vom 30.8.2001. 57 Nida-Rümelin, SZ Nr. 28 vom 3./4.2.2001. 58 Heun, JZ 2002, S. 519. 59 Dazu ausführlich Christian Starck, Verfassungsrechtliche Grenzen der Biowissenschaft und Fort- pfl anzungsmedizin, JZ 2002, S. 1065, 1069 f.; ders., Der kleinste Weltbürger. Person, nicht Sache: Der Embryo, FAZ vom 25. April 2002/Nr. 96, S. 50; Josef Isensee, in: Höffe/Honnefelder/Isensee/Kirchhof, Gentechnik und Menschenwürde, 2002, S. 37, 52 f.; E.-W. Böckenförde, JZ 2003, S. 809, 811 f., der allerdings nicht mit dem Personbegriff argumentiert, im Ergebnis aber wie hier; Jens Kersten (Fn. 9), S. 411 ff., 419 ff.; Wolfgang Graf Vitzthum, Back to Kant! An Interjection in the Debate on Cloning and Human Dignity, in: Vöneky/Wolfrum (eds.), Human Dignity and Human Cloning, 2004, S. 87, 101.

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Die Personeigenschaft der befruchteten Eizelle wird dadurch infrage zu stellen ver- sucht, dass im Anschluss an angelsächsische Literatur60 bestritten wird, dass schon aus der Zugehörigkeit des Embryos zur Species Mensch, der Kontinuität seiner Entwicklung, der Potentialität, sich als Mensch zu entwickeln und der Identität des genetischen Programms von Embryo und geborenem Menschen der Menschenwür- deschutz des Embryos begründet werden könne. Das Species-Argument wird dadurch zu entkräften versucht, dass der Embryo nicht die Fähigkeit zum moralischen Handeln habe. Da das auch für das Kleinkind gilt, dem unbestrittenermaßen Würdeschutz zukommt, ist das Species-Argument nicht widerlegt. Das Entscheidende ist, dass sich ein Embryo als Mensch entwickeln kann. Das gilt auch für ungeschlechtlich erzeugte Embryonen durch Zellkerntrans- fer oder durch Embryonensplittung. Das Kontinuitätsargument wird außer Kraft zu setzen versucht unter Hinweis auf das Übergewicht an Trophoblastzellen gegenüber Embryoblastzellen, auf Kontinu- itäten schon vor Zellkernverschmelzung und auf die Kontinuität im Leben des ge- borenen Menschen, für das zahlreiche Zäsuren gelten (z. B. Volljährigkeit). Soweit die Gründe nicht an den Haaren herbeigezogen sind, ist festzustellen, dass das gan- ze Leben über das Individuum hinaus kontinuierlich ist. Die Verschmelzung der Vorkerne von Ei- und Samenzelle, die zu der „neuen zellulären Struktur in Form der sog. Zygote“ führt,61 ist aber unter dem hier allein interessierenden Gesichts- punkt des Beginns individuellen menschlichen Lebens die entscheidende Zäsur. Das Potential zu einer individuellen Entwicklung ist erst mit der Kernverschmel- zung gegeben und nicht bereits der Eizelle und der Samenzelle innewohnend. Erst nach dem Eindringen der Samenzelle in die Eizelle entscheidet sich, welcher der beiden mütterlichen Chromosomensätze an das neue Leben weitergegeben wird. Die Kontinuität in der Entwicklung des in vitro erzeugten Embryos wird nicht da- durch in Frage gestellt, dass es noch der Einpfl anzung in die Gebärmutter der Frau bedarf, von der die Eizelle stammt.62 Das Potentialitätsargument hängt mit dem Kontinuitätsargument zusammen. Es wird mit dem Argument ad absurdum zu führen versucht, dass ebenso wie der Em- bryo als späterer Grundrechtsträger ein Interesse habe, nicht im pränatalen Stadium getötet zu werden, „der Einzelne“ ein Interesse habe, „nicht durch kontrazeptive Mittel an seiner Entstehung gehindert zu werden“. Dabei wird gefl issentlich über- sehen, dass im zuletzt erwähnten Fall die „neue zelluläre Struktur in Form der sog. Zygote“ noch nicht vorliegt, es also an der Grundgegebenheit fehlt, an die das Recht anknüpft. Die Potentialität des Embryos ist eine aktive Potentialität mit fer- tigem Programm, das nicht erst bei der Nidation vervollständigt wird. So verfügt der Embryo in seinem frühesten Stadium bereits über Instrumente zur Reparatur

60 Nachweise und Darstellung bei Heun, JZ 2002, S. 519 ff. 61 So ausdrücklich Heun, JZ 2002, S. 519 r. Sp. 62 Zur sog. Unbehaustheit des noch nicht implantierten Embryos siehe oben V.1. am Ende und Kersten (Fn. 9), S. 550 f.

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von Längenverlusten der Chromosomen, die bei der Zellteilung auftreten kön- nen.63 Das Identitätsargument wird damit bekämpft, dass die genetische Identität nicht genüge. Was den individuellen Menschen ausmache, komme dem Embryo noch nicht zu. Es fehle an der Entwicklung des Gehirns. Dabei wird übersehen, dass die Entwicklung des Gehirns im Embryo seit seiner Entstehung als Programm angelegt ist. Die genetische Identität mit der Möglichkeit der Zwillingsbildung zu bestrei- ten, ist wenig hilfreich, denn wegen der Möglichkeit der Zwillingsbildung sind gegebenenfalls zwei Personen zu schützen,64 die genetisch identisch sind und spä- ter als eigenständige Individuen Grundrechtsträger sind.

3. Verbindung von Lebensschutz und Würdeschutz

Ein anderer Versuch, den menschlichen Embryo dem Schutz der Menschen- würdegarantie zu entziehen, wird auf die Entkoppelung von Würdeschutz und Le- bensschutz gestützt. Der befruchteten Eizelle wird nur Lebensschutz, nicht aber Würdeschutz „zugesprochen“.65 Mit dieser Konstruktion wird die Uneinschränk- barkeit der Menschenwürdegarantie umgangen. Der in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Lebensschutz ist dagegen durch Gesetz einschränkbar (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG). Die Entkoppelungsversuche leuchten noch nicht einmal auf den ersten Blick ein. Denn mit dem Lebensschutz für die befruchtete Eizelle wird zugegeben, dass es sich um menschliches Leben handelt. Der Gesetzgeber wird keine durchschla- genden Argumente fi nden, in das Leben befruchteter Eizellen einzugreifen; denn in menschliches Leben darf nur eingegriffen werden, wenn es das Leben eines ande- ren Menschen bedroht und die Bedrohung nicht anders als durch Tötung abgewehrt werden kann. Die befruchtete Eizelle in vitro bedroht niemanden. Bekannt ist nur die Abtreibung aufgrund medizinischer Indikation; diese ist zulässig, weil der Nasciturus das Leben der Mutter bedroht. Noch so hochrangige medizinisch-biolo- gische Forschungsziele (Heilung schwerer Krankheiten, Verlängerung des Lebens) dürfen nicht durch den Verbrauch menschlichen Lebens verfolgt werden. Auch wenn man dem Embryo die Menschenwürde versagt und ihn als menschliches Le- ben nur unter den Lebensschutz stellt, ist verbrauchende Forschung mit Embryonen verboten.

63 Josef Wisser, FAZ vom 20.7.2001, S. 44. 64 Dazu wie hier Kersten (Fn. 9), S. 552 f. m. w. N. 65 A. Podlech, Alternativkommentar zum Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rn. 58; Hasso Hofmann, AöR 118 (1993), S. 353, 376; H. Dreier, in: ders., Grundgesetz Kommentar, Bd. I, 2. Aufl . 2004, Art. 1 I Rn. 67 – 70; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rn. 57 ff.; Schmidt-Jortzig, DÖV 2001, S. 925, 928 f.; Ipsen, JZ 2001, S. 989, 994; Hans Georg Dederer, Menschenwürde des Embryo in vitro?, AöR 127 (2002), S. 1, 18.

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4. Zwischenbilanz

Zusammenfassend kann also festgestellt werden: Vom Moment der Kernver- schmelzung an ist die befruchtete menschliche Eizelle (Embryo) Person, sie gehört zur Species Mensch. Ihr genetisches Programm enthält die Potentialität der Ent- wicklung als Mensch, die kontinuierlich ohne eine besondere Zäsur erfolgt. Die Identität von Embryo und geborenem Kind ist eine genetische, um mehr kann es nicht gehen, da später bei der Entwicklung des Menschen weitere der Umwelt ent- stammende Faktoren hinzukommen, die die volle, im Übrigen im Laufe des Lebens durchaus veränderbare Identität des Menschen ausmachen. Da in der befruchteten Eizelle individuelles menschliches Leben vorliegt, kommen der verfassungsrecht- liche Würdeschutz und Lebensschutz zum Tragen.

5. Widerspruch zwischen Embryonenschutz und Abtreibungsgesetz- gebung?

Es wird geltend gemacht, dass der hier dargestellte verfassungsrechtliche Embryo- nenschutz durch die Abtreibungsgesetzgebung und die einschlägige Rechtspre- chung des Bundesverfassungsgerichts derogiert sei.66 Gesetze können nicht Verfas- sungsrecht derogieren, d. h. außer Kraft setzen, da das Verfassungsrecht höheren Rang besitzt. Was die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anbelangt, so hat es 1975 und 1993 entschieden, dass der nicht medizinisch indizierte Schwan- gerschaftsabbruch Unrecht sei und verboten werden müsse.67 Denn schon dem un- geborenen menschlichen Leben komme Menschenwürde zu. Da es in beiden Ent- scheidungen um Schwangerschaftsabbruch ging, stand nur die Zeit zwischen der Einnistung (= Beginn der Schwangerschaft) und der Geburt (= Ende der Schwan- gerschaft) zur Debatte. Die für diese Zeit getroffene Aussage, mit der der verfas- sungsrechtliche Status des Embryos begründet wurde, trifft auch auf den Embryo vor der Einnistung, und zwar auch in vitro, zu. In der Entscheidung des Bundesver- fassungsgerichts heißt es: „Jedenfalls (Hervorhebung, C.S.) in der so bestimmten Zeit der Schwangerschaft handelt es sich bei dem Ungeborenen um individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und Unverwechsel- barkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben, das im Prozess des Wach- sens und Sich-Entfaltens sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwi- ckelt.“68 Das Gericht betont, dass das Lebensrecht des Ungeborenen nicht der frei- en, ungebundenen Entscheidung eines Dritten, auch nicht der Mutter überantwortet werden dürfe.69

66 So vor allem Reinhard Merkel, Embryonenschutz, Grundgesetz und Ethik, DRiZ 2002, S. 184, 190. 67 BVerfGE 39, 1, 44; 88, 203, 255. 68 BVerfGE 88, 203, 251 f. unter Hinweis auf BVerfGE 39, 1, 37. 69 BVerfGE 88, 203, 252 f.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 2211 118.05.20068.05.2006 09:27:0209:27:02 22 EuR – Heft 1 – 2006 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig?

Gleichwohl hat das Gericht das gesetzliche Schutzkonzept der „Schwanger- schaftskonfl iktberatung“ akzeptiert. Die Mindestanforderungen an diese Beratung und an die dazu gehörenden Rahmenbedingungen hat das Bundesverfassungsge- richt im Einzelnen festgelegt.70 Leider hat der Bundesgesetzgeber diese Mindestan- forderungen nicht erfüllt,71 und wo sie der bayerische Gesetzgeber auf dem Gebiete des Rechts der ärztlichen Berufsausübung – hierfür hat der Bund keine konkurrie- rende Gesetzgebungskompetenz, vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG – ernst zu nehmen versucht hat, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts die entsprechenden landesgesetzlichen Vorschriften mit neuartigen, nicht überzeugenden Argumenten als kompetenzwidrig angesehen und für nichtig erklärt.72 Unzweifelhaft ergibt sich aus der geschilderten Rechtsprechung des Bundes- verfassungsgerichts und noch mehr aus der Abtreibungsgesetzgebung eine Schwä- chung des Schutzes ungeborenen menschlichen Lebens. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass in den Abtreibungsfällen das Problem der Annahme der Schwangerschaft durch die schwangere Frau besteht. Insoweit liegen die Dinge bei der In-vitro-Fertilisation anders.73 Das gilt erst recht im Falle des therapeutischen Klonens. Hier werden Embryonen mit der Absicht erzeugt, diese drittnützig zu ver- brauchen. Zwischen der Abtreibungsrechtsprechung und dem gesetzlichen Schutz extrakor- poral erzeugter Embryonen besteht kein Widerspruch im Grundsätzlichen.74 Ver- säumnisse des Gesetzgebers und faktische Schwierigkeiten beim Schutz des unge- borenen Lebens im Mutterleib vermögen nicht, den Schutz in vitro befruchteter Eizellen in Frage zu stellen. Nach alledem ist der verfassungsrechtliche Schutz menschlicher Embryonen nicht derogiert.75 Der gesetzliche Embryonenschutz kann ohne Verletzung des Grundge- setzes nicht aufgehoben werden.76

6. Zusammenfassung zum Embryonenschutz nach deutschem Recht

Der strikte Embryonenschutz durch die deutsche Gesetzgebung verbietet verbrau- chende Forschung mit Embryonen und das Klonen von Embryonen zu diagnosti- schen, therapeutischen und reproduktiven Zwecken. Diese Gesetzgebung ist durch

70 BVerfGE 88, 203, 270 ff. 71 Vgl. Christian Starck, Verfassungsrechtliche Probleme der deutschen Abtreibungsgesetzgebung, in: Festschrift für H. Schiedermair, 2001, S. 377, 382 ff. 72 BVerfGE 98, 265, 312 ff.; dazu kritisch Christian Starck, Neues zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes kraft Sachzusammenhangs, in: Festschrift für Maurer, 2001, S. 281, 289 ff.; Hartmut Maurer, Staatsrecht I, 2. Aufl . 2001, S. 558. 73 Dazu Claus Dieter Classen, Die Forschung mit embryonalen Stammzellen im Spiegel der Grundrechte, DVBl. 2002, 141, 143; Kersten (Fn. 9), S. 570, Fn. 110. 74 Regine Kollek, Schutz des Embryos, Freiheit der Forscher, in: Gegenwort, Zeitschrift für den Disput über Wis- sen, 1. Heft 1998, S. 52, 54; Isensee, in: Höffe/Honnefelder/Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Gen technik und Men- schenwürde, 2002, S. 37, 52; a. A. Ipsen, JZ 2001, S. 991 f. 75 Kersten (Fn. 9), S. 570, Fn. 110. 76 So Classen, DVBl. 2002, S. 145.

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das Grundgesetz gefordert. Da der Schutz der Menschenwürde in Frage steht, ist Art. 1 Abs. 1 GG einschlägig. Dies führt zur letzten Frage, ob durch eine fi nanziel- le Förderung von Forschung, die gegen die Menschenwürde verstößt, von Seiten der Europäischen Gemeinschaft für Deutschland die Grenzen der Integration über- schritten sind (VI).

VI. Schranken der Forschungsförderung durch die Europäische Gemeinschaft

1. Die Bedeutung des Art. 23 Abs. 1 Sätze 1 und 3 GG

Art. 23 Abs. 1 GG stellt das Staatsziel auf, dass die Bundesrepublik Deutschland zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung der Europäischen Union mitwirkt, „die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpfl ichtet ist und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“. Die Grundrechtsklausel ist der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ge- schuldet, wonach der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine supranationale Ge- meinschaft der Grundrechtsschutz auf supranationaler Ebene entsprechen muss.77 Da die Menschenwürdegarantie Grundlage der Grundrechte ist, die nicht nur staat- liche Achtung, sondern auch staatlichen Schutz vorschreibt, gehört die Menschen- würde zu dem Grundbestand, den die Union nicht nur durch entsprechende Normen, sondern auch in ihrem Handeln respektieren muss. Dies ergibt sich auch aus Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG, der auf Art. 79 Abs. 3 und damit auf Art. 1 GG verweist, wonach die Menschenwürde zu schützen ist. Es geht also um effektiven Grundrechtsschutz, ohne dass dieser in jeder Hinsicht dem deutschen entsprechen muss.78 Die grund- rechtlichen Schutzgüter dürfen aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden. Das wäre der Fall, wenn die Europäische Gemeinschaft fi nanzielle Mittel für For- schung bereitstellte, bei der Embryonen, die nach deutschem Recht unter Menschen- würdeschutz stehen, als Rohstoff behandelt, also vollständig verdinglicht werden.

2. Grundsatz der Gemeinschaftstreue und Luxemburger Kompromiss

Der dargestellte Konfl ikt läßt sich aus folgenden Überlegungen nur dahin lösen, dass die Europäische Gemeinschaft verbrauchende Embryonenforschung nicht för- dern darf. Das in Art. 163 EG formulierte Ziel, die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen der Industrie der Gemeinschaft zu stärken und die Entwicklung ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu fördern sowie alle Forschungsmaßnahmen zu unterstützen, die aufgrund anderer Kapitel dieses Vertrags für erforderlich ge-

77 BVerfGE 37, 271, 280 ff.; 58, 1, 30 f.; 73, 339, 376 f.; 89, 155, 174 f. 78 Claus-Dieter Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Bd. II, 5. Aufl . 2005, Art. 23 Rn. 49, 51.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 2233 118.05.20068.05.2006 09:27:0209:27:02 24 EuR – Heft 1 – 2006 Starck, Förderung der Forschung an embryonalen Stammzellen zulässig?

halten werden, und die Aufgabe der Koordinierung in Art. 165 EG sind keine Grundlage für eine Harmonierung und mittelbare Rechtsangleichung auf sensiblen Gebieten, die von der Garantie der Menschenwürde erfasst sind. Das wird vom Eu- ropäischen Parlament in seiner oben zitierten Entschließung vom 10. März 2005 (http://www2.europarl.eu.int.omk/sipade2) in Erwägung H Nr. 15 mit dem Subsi- diaritätsprinzip begründet. Das Auswerfen von Finanzen zur Förderung von Forschung, die in einem Mitglied- staat aus verfassungsrechtlichen Gründen verboten ist, durch Mehrheitsbeschluss nach Art. 165 Abs. 1 i. V. m. Art. 251, 205 EG verstieße gegen den Grundsatz der Gemeinschaftstreue. Das gilt in besonderem Maße für die hier erörterte Konstella- tion eines Verstoßes gegen die Garantie der Menschenwürde, die das Grundgesetz verfassungsänderungsfest gewährleistet. Die Gemeinschaftstreue79 ist ein der Bun- destreue nachgebildeter Grundsatz, der nicht nur für das Verhalten der Mitglied- staaten gilt, sondern auch die Gemeinschaftsorgane verpfl ichtet.80 Wenn ein Mit- gliedstaat geltend macht, dass eine Maßnahme der Gemeinschaft seine verfas- sungsrechtlichen Integrationsnormen verletzen würde, ist ein Tatbestand gegeben, auf den der Grundsatz der Gemeinschaftstreue in dem Sinne Anwendung fi ndet, dass die Maßnahme unterbleiben muss.81 Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue fi ndet Ausdruck im sog. Luxemburger Kompromiss vom 29.1.1966,82 durch den die von Frankreich betriebene „Politik des leeren Stuhles“ beendet wurde. Die entscheidenden Ausführungen lauten:83 „Stehen bei Beschlüssen, die mit Mehrheit auf Vorschlag der Kommission gefasst werden können, sehr wichtige Interessen eines oder mehrerer Partner auf dem Spiel, so werden sich die Mitglieder des Rates innerhalb eines angemessenen Zeit- raumes bemühen, zu Lösungen zu gelangen, die von allen Mitgliedern des Rates unter Wahrung ihrer gegenseitigen Interessen und der Interessen der Gemeinschaft gemäß Art. 2 des Vertrages angenommen werden können.“ In einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage hat der Rat am 27.9.2001 erklärt, dass der Luxemburger Kompromiss auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Nizza seinen Status behalten werde.84 Sehr wichtige, d. h. vitale Interessen können auf jeden Fall dann geltend gemacht werden, wenn diese aus der Verfassungsstruk- tur des betreffenden Mitgliedstaates und den verfassungsrechtlich festgelegten In- tegrationsgrenzen begründet werden.85

79 EuGH Rs. 804/79, Slg. 1981, S. 1045; Art. 10 EGV; Ole Due, Der Grundsatz der Gemeinschaftstreue, 1992; Peter Unruh, Die Unionstreue: Anmerkungen zu einem Rechtsgrundsatz der Europäischen Union, in: Europa- recht, Bd. 37 (2002), S. 41, 45 f. 80 Albert Bleckmann, Art. 5 EWG-Vertrag und die Gemeinschaftstreue, DVBl. 1976, S. 483, 487; Oppermann (Fn. 30), Rn. 486. 81 Es genügt nicht – wie es in dem in Fn. 44 zitierten interinstitutionellen Aktenvermerk heißt -, dass Forschung, die in einem Mitgliedstaat verboten ist, nur in diesem Staat nicht gefördert werden darf. 82 Hummer/Obwexer, in: Streinz, EUV/EGV, 2003, Art. 205 EGV, Rn. 45. 83 Bulletin der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, 9. Jg., Nr. 3 (März 1966), S. 9. 84 ABl. 2001, C 364 E 48; zum Rechtscharakter des Luxemburger Kompromisses vgl. Hummer/Obwexer (Fn. 82), Rn. 42. 85 So Hummer/Oberwexer (Fn. 82), Rn. 45.

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VII. Ergebnisse

1. Mit der Kernverschmelzung kommt Embryonen sowohl in utero als auch in vitro Personeigenschaft zu. Diese löst Menschwürdeschutz aus, der nach deutschem Verfassungsrecht und Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft allgemein gewährleistet ist. 2. Die Nutzung oder gar Erzeugung von Embryonen zu Zwecken wissenschaft- licher Forschung, der Diagnose oder der Heilung dritter Personen missachtet die Selbstzweckhaftigkeit menschlicher Wesen und verstößt daher gegen die Men- schenwürde. 3. Das deutsche Embryonenschutzgesetz beachtet die Menschenwürdegarantie. Das Sekundärrecht der Europäischen Gemeinschaft erscheint insoweit noch nicht gefestigt. 4. Die Europäische Gemeinschaft darf Forschung fi nanziell nur fördern, wenn sie mit den Menschenrechten, hier insbesondere mit der Menschenwürde, im Ein- klang steht. 5. Deutschland kann sich auf den Grundsatz der Gemeinschaftstreue, der im Luxemburger Kompromiss von 1966 zum Ausdruck kommt, berufen und die Förderung solcher Forschungen mit EG-Mitteln verhindern, die zur Vernichtung von Embryonen führen.

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Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

Von Martin Seidel, Bonn*

1. Thema

Die Abhandlung geht der Frage nach, ob potentielle Handelshemmnisse, d.h. Han- delshemmnisse, die noch nicht bestehen, jedoch möglicherweise entstehen können, durch präventive Rechtsangleichung des Gesetzgebers der Europäischen Union ab- gewendet werden können. Da Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes auch zulässig ist, wenn nationale Rechtsvorschriften zwar keine Handels- hemmnisse bedingen, aber die Wettbewerbsbedingungen zwischen Märkten der Mitgliedstaaten spürbar oder relevant verfälschen, stellt sich gleichermaßen die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Wettbewerbsverfälschungen, die an sich nicht nachweisbar sind, aber entstehen könnten, durch Rechtsangleichung pro- phylaktisch begegnet werden kann. Man könnte meinen, dass die Frage, der nachgegangen werden soll, nur akade- mische Bedeutung hat. Bislang hat der Gesetzgeber der Europäischen Union, d.h. das Europäische Parlament und der Rat, keinen Anlass gesehen, eine Richtlinie der Rechtsangleichung zum Zweck des Schutzes des Gemeinsamen Marktes vor poten- tiellen Handelshemmnissen oder vor etwaigen zukünftigen relevanten Verfäl- schungen des Wettbewerbs zu erlassen. Das Weißbuch der Kommission der Euro- päischen Union „zur Vollendung des Binnenmarktes“ von 1985, das der europä- ischen Öffentlichkeit die Konzeption und das Ausmaß der Rechtsangleichung zur Errichtung und zur Sicherung des Gemeinsamen Marktes darstellt, kennt die prä- ventive Rechtsangleichung nicht. Für die Lehre und Wissenschaft ist die präventive Rechtsangleichung, soweit überschaubar, bislang ebenfalls kein Thema. Einen kon- kreten Anlass zu einer vertieften Untersuchung der Frage – der sich aber seit ei- niger Zeit in brisanter Weise abzeichnet – scheinen Wissenschaft und Lehre bislang nicht zu sehen. Bestünde eine allgemeine, alle Probleme umfassende Theorie der Rechtsangleichung, namentlich der Rechtsangleichung zur Errichtung und Siche- rung des Gemeinsamen Marktes, wäre davon auszugehen, dass sich einzelne Studi- en auch der präventiven Rechtsangleichung widmen würden und aus den allgemei- nen Erkenntnissen Schlüsse über die Zulässigkeit und Voraussetzungen der präven- tiven Rechtsangleichung hergeleitet werden könnten. Wie an späterer Stelle noch einmal im Einzelnen verdeutlicht wird, führt die Rechtsangleichung zur Errichtung und Sicherung des Gemeinsamen Marktes dazu, dass staatliche Gesetzgebungszu- ständigkeiten, und zwar weitgehend auch in nicht-ökonomischen Bereichen, von den Mitgliedstaaten auf die Europäische Union verlagert werden. Nicht nur diese

* Rechtsanwalt in Bonn, früherer Angehöriger des Bundesministeriums für Wirtschaft und langjähriger Bevoll- mächtigter der Bundesregierung in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof, später Mitglied der deutschen Delegation bei der Maastrichter Konferenz über die Wirtschafts- und Währungsunion.

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Folge der Rechtsangleichung ist ausreichender Grund zur Überprüfung der Voraus- setzung einer etwaigen präventiven Inanspruchnahme der Rechtsangleichungskom- petenz durch die Europäische Union. Zu untersuchen bleibt vor allem auch die Frage, ob der Europäischen Union nicht andere Instrumente zur Abwendung etwai- ger zukünftiger Hindernisse des Handels mit Waren und Dienstleistungen zur Ver- fügung stehen. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ersetzt unge- achtet ihres inzwischen beträchtlichen Umfangs eine allgemeine, alle Aspekte um- fassende Theorie der Rechtsangleichung, wie sie von der Wissenschaft und Lehre entwickelt werden könnte, bislang nicht. Die Frage der Zulässigkeit präventiver Maßnahmen der Rechtsangleichung ist im Verlauf eines inzwischen abgeschlossenen streitigen Verfahrens vor dem Europä- ischen Gerichtshof aus dem Jahr 2000 ein erstes Mal höchst aktuell geworden, oh- ne dass ihre Brisanz sofort erkennbar wurde. Sie steht gegenwärtig in einem wei- teren, noch schwebenden Verfahren, wiederum verdeckt und nicht unmittelbar er- kennbar, unter anderen Aspekten erneut im Mittelpunkt der streitigen Auseinander- setzung. Das abgeschlossene Verfahren betraf die vom Europäischen Parlament und Rat am 6. Juli 1998 erlassene Richtlinie 98/43/EG „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Spon- soring zugunsten von Tabakerzeugnissen“.1 Der Europäische Gerichtshof hat die Richtlinie, die von der deutschen Regierung im Wege der Nichtigkeitsklage ange- fochten worden war, bekanntlich wegen Verstoßes gegen vorrangiges Gemein- schaftsrecht für nichtig erklärt.2 Die deutsche Regierung hatte argumentiert, dass der Europäischen Union im Bereich der Gesundheitspolitik seit dem Vertrag von Maastricht kraft eines ausdrücklichen Ausschlusses durch den Verfassungsgeber keine Rechtsangleichungs- und Rechtsetzungskompetenz zustehe. Wenn daher die Richtlinie, die deklariert als Maßnahme der Sicherung des Gemeinsamen Marktes vor Handelshemmnissen und Wettbewerbsverfälschungen auf der Grundlage des Artikel 95 EG-Vertrag erlassen worden sei, nicht dem Verdikt der Umgehung eines vertragsrechtlichen Verbots zum Opfer fallen soll, müssten die Voraussetzungen der Kompetenz zur Rechtsangleichung zur Herstellung der Freiheit des Waren – und Dienstleistungsverkehrs nachweisbar sein. Das beklagte Parlament, der be- klagte Rat und die Kommission als deren Streithelfer haben den Nachweis, dass der Handel mit Tabakerzeugnissen und Werbeträgern für Tabakerzeugnisse durch die zur damaligen Zeit an sich unterschiedlichen rechtlichen Regelungen der Mit- gliedstaaten über die Zulässigkeit von Maßnahmen der Werbung behindert wird, nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs nicht erbringen können. Der Ent- scheidung des Europäischen Gerichtshofs kann nicht entnommen werden, dass das beklagte Europäische Parlament und der Rat sowie die Kommission als deren Streithelfer im Verlauf des Verfahrens uneingeschränkt eingeräumt haben, dass

1 ABl. L 231 vom 30. Juli 1998, S. 9. 2 Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Deutschland /Parlament und Rat, Slg. 2000, I-8419.

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Handelsbeeinträchtigungen oder Wettbewerbsverfälschungen tatsächlich nicht vor- lägen, und sie sich hilfsweise dahin eingelassen haben, dass diesbezügliche Han- delshemmnisse oder Wettbewerbsverfälschungen jedoch als Folge der an sich nach- weisbaren unterschiedlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten durchaus ent- stehen könnten und die Rechtsangleichungsrichtlinie daher aus Gründen der Prä- vention und Abwehr gerechtfertigt sei. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs enthält indes, ohne dass dies für die Entscheidung von Bedeutung war, den beiläu- fi gen Hinweis, dass die Kompetenz zur Rechtsangleichung des Artikel 95 EG-Ver- trag unter bestimmten Bedingungen durchaus auch in Anspruch genommen werden könne, um Handelshemmnisse oder Wettbewerbsverfälschungen abzuwehren, die zwar nicht vorliegen, aber in Zukunft entstehen könnten.3 Das Europäische Parlament und der Rat müssen sich zur Zeit in einem zweiten Ver- fahren vor dem Europäischen Gerichtshof gegenüber dem von der deutschen Re- gierung erhobenen Vorwurf verteidigen, dass eine weitere Regelung der Rechtsan- gleichung, die nach ihrer Aufmachung die Beseitigung bestehender Handelshemm- nisse im Gemeinsamen Markt bezweckt, nämlich die von den beiden beklagten Parteien als Gesetzgeber der Europäischen Union am 26. Mai 2002 erlassene Richtlinie 2003/33/EG „zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeug- nissen“, die sog. zweite Tabakwerbe-Richtlinie4, ebenfalls wegen Kompetenzman- gels und Verstoßes gegen ein vertragsrechtliches Verbot nichtig ist. Bislang ist nicht an die Öffentlichkeit gedrungen, ob die beiden beklagten Gesetzgebungsorgane und die Kommission, auf deren Vorschlag hin die Richtlinie erlassen worden und die daher auf Seiten der Beklagten als Streithelfer beigetreten ist, erkannt haben, dass sie sich in einem Erklärungs- und Verteidigungsnotstand befi nden. Zur Recht- fertigung der Richtlinie dürfte es angesichts der Vorgeschichte des Verfahrens kaum ausreichen, wenn sich die beklagten Parteien lediglich dahin einließen, dass die neue Tabakwerbe-Richtlinie die Beseitigung bestehender Handelshemmnisse be- zwecke und nicht etwa nur einen Rechtsetzungsakt der Gesundheitspolitik darstel- le. Infolge des Misserfolges in dem ersten Verfahren müsste für sie feststehen, dass der Europäische Gerichtshof hohe Anforderungen an den Nachweis von Handels- hemmnissen für Werbeträger für Tabakerzeugnisse aus Gründen unterschiedlicher rechtlicher Regelungen der Mitgliedstaaten stellt. Da durch die Rechtsangleichung Kompetenzen zu Lasten der Mitgliedstaaten auf die Europäische Union verlagert werden, reicht es nicht aus, diesen Nachweis nur in Form abstrakter Auffassungen und durch nicht belegbare Behauptungen zu führen, dass angeblich bestehende Handelshemmnisse beseitigt werden müssten. Zu vermuten ist daher, dass die be- klagten Parteien und die Kommission als deren Streithelferin ihre Einlassung um- gestellt haben und nunmehr geltend machen, dass es tatsächlich nicht um bestehen-

3 Siehe Fn. 2, Randnummer 86. 4 ABl. L 152 vom 20. Juni 2003, S. 16.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 2288 118.05.20068.05.2006 09:27:0309:27:03 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes EuR – Heft 1 – 2006 29

de, sondern um zukünftige Handelsbeeinträchtigungen gehe und die Kompetenz zur Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes auch prophylaktisch zur Abwendung virtueller Handelshemmnisse ausgeübt werden könne. Seit dem Erlass der vom Europäischen Gerichtshof für nichtig erklärten ersten Tabakwerbe- Richtlinie 1998 sind – ungeachtet der bestehenden Rechtsunterschiede von Mit- gliedstaat zu Mitgliedstaat – zu keiner Zeit Handelshemmnisse oder Hindernisse des grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehrs entstanden. Den beklagten Par- teien bleibt daher zur Rechtfertigung des Rechtsaktes letztlich nur die These, dass es für die Inanspruchnahme der Regelungskompetenz zur Rechtsangleichung grundsätzlich nicht darauf ankomme, ob Hindernisse des Handels vorlägen und nachweisbar seien. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen die präventive Rechtsangleichung zulässig ist, dürfte daher in dem anhängigen Verfahren vermut- lich richtungsweisend für die zukünftige Rechtsprechung im Mittelpunkt der recht- lichen Auseinandersetzung stehen. Der Rechtsstreit wird bestehende Deutungs- zweifel über die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs, die aus verschiedenen beiläufi gen Äußerungen der Vergangenheit herrühren, beheben und wahrscheinlich zu einer weitreichenden Klärung der für die Politik der Rechtsangleichung nicht unwesentlichen Rechtsfrage führen, unter welchen Voraussetzungen von einer Kompetenz der Europäischen Union zur präventiven Rechtsangleichung ausgegan- gen werden kann.

2. Die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs

Im Hinblick auf bestimmte Äußerungen des Europäischen Gerichtshofs in früheren Urteilen wird auf verschiedenen Seiten argumentiert, dass präventive Rechtsanglei- chung im Bereich des Gemeinsamen Marktes, d.h. ein vorbeugendes Handeln des Gesetzgebers auf der Grundlage von Artikel 95 EG-Vertrag zur Vermeidung von Hindernissen für den Binnenmarkt, „nach ständiger Rechtsprechung des Europä- ischen Gerichtshofs“, schlechthin zulässig ist.5 Tatsächlich und unbestreitbar hat sich der Europäische Gerichtshof in früherer und vor allem in jüngster Vergangenheit in fünf Entscheidungen zur Zulässigkeit der präventiven Rechtsangleichung geäußert.6 In den fünf Verfahren, die zu den Äuße- rungen geführt haben, war jedoch die jeweils angefochtene Maßnahme der Rechts- angleichung, wie eine auch nur oberfl ächliche Analyse ergibt, nicht erlassen wor- den, um potentielle Handelshemmnisse oder drohende Wettbewerbsverzerrungen im Gemeinsamen Markt abzuwehren. Die besagten Entscheidungen enthalten viel

5 Die Auffassung soll auch in der Klagebeantwortung des Europäischen Parlaments anklingen. 6 Es handelt sich um die Urteile vom 13. 7. 1995, Rs. C-350/92 (Spanien/Rat) Randnr. 35, Slg. 1995, I-1985; vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat) Randnr. 86, Slg. 2000, I-8419; vom 9. Oktober 2001, Rs. C-377/98 (Niederlande/ Parlament und Rat), Randnr. 15, Slg. 2001, I-7155, vom 10. 12. 2002, Rs. C-491/01, (British American Tobacco), Randnr. 61, Slg. 2002, I-11453 und vom 14. 12. 2004, Rs. C-434/02, (Arnold André GmbH & Co KG/Landrat des Kreises Herford) Randnr. 31, noch nicht in Slg., EuZW 2005, S. 147 ff.

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mehr beiläufi g mehr oder minder gleichlautend die Aussage, dass „Artikel 95 EG zwar als Rechtsgrundlage herangezogen werden kann, um die Entstehung neuer Hindernisse für den Handel infolge einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorzubeugen, doch müsse das Entstehen solcher Hindernisse wahrscheinlich sein und die fraglichen Maßnahme ihre Vermeidung bezwecken“7. Es handelt sich um reine obiter dicta. In keinem der Urteile stellt die Äußerung zur präventiven Rechtsangleichung auch nur einen Teil der tragenden Begründung der Entscheidung dar. In den vier letzteren Entscheidungen rekurriert der Europäische Gerichtshof mit gleichlautenden Äußerungen auf sein erstmaliges Befassen mit der Frage der präventiven Rechtsangleichung. In jenem Verfahren, das zur erstmaligen Äußerung zur präventiven Rechtsangleichung geführt hat, ging es dabei wohl nicht um zukünftige Handelshemmnisse, sondern eher um einen Fall von Handelshemm- nissen, die sich infolge der unterschiedlichen Rechtslage der Mitgliedstaaten ohne ein Tätigwerden des Gemeinschaftsgesetzgebers in unmittelbarer Zukunft ergeben hätten, d.h. um bestehende Handelshemmnisse. Seitens der spanischen Regierung war eine Verordnung des Rates angefochten worden, durch die ein ergänzendes Schutzzertifi kat für Arzneimittel eingeführt worden war. Nach damaligem Recht bestanden in den Mitgliedstaaten unterschiedlich lange Fristen für den Schutz von Patenten für Arzneimittel. Bei freiem Warenverkehr drohte der länger dauernde Schutz durch die Produktion von Nachahmungen der geschützten Arzneimittel in den Mitgliedsstaaten mit kürzerer Schutzfrist beeinträchtigt zu werden. Die Ein- führung des Schutzzertifi kats sollte anstelle einer Angleichung des Patentrechts der Mitgliedstaaten, die seiner Zeit noch nicht auf der Grundlage der Artikel 100, 100a EG-Vertrag a.F. (jetzt Art. 94, 95 EG-Vertrag) für rechtlich zulässig erachtet wurde, Abhilfe schaffen. In dem Urteil führt der Europäische Gerichtshof zwar unter Be- zugnahme auf die Begründungserwägung der Verordnung aus, dass die angefoch- tene Maßnahme „einer heterogenen Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften vorbeugen“ solle. Die rechtliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten hätte „neue Unterschiede zur Folge, welche geeignet wären, den freien Verkehr von Arzneimit- teln innerhalb der Gemeinschaft zu behindern und dadurch die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes unmittelbar zu beeinträchtigen“. Mit dieser Aus- sage greift der Europäische Gerichtshof indes lediglich eine Begründungserwä- gung der angefochtene Verordnung auf. Dass die angefochtene Maßnahme des Ra- tes über die Beseitigung aktueller Beeinträchtigungen des Handelsverkehrs mit Arzneimitteln als Folge des Auslaufens zeitlich versetzter Schutzfristen hinaus die Abwehr potentieller Gefährdungen des Binnenmarktes für Arzneimittel durch eine heterogene Rechtsentwicklung bezweckt, wurde vom Rat nicht behauptet und sagt der Europäische Gerichtshof dementsprechend auch nicht. Die Aussagen zur präventiven Rechtsangleichung in den vier weiteren Urteilen sind gleichlautend und verweisen in jeweils wörtlicher Wiederholung auf das erste

7 Urteil vom 13. Juli 1995, Rs. C-350/92 (Spanien/Rat) Randnr. 35, Slg. 1995, I-1995.

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Urteil des Gerichtshofs. In keinem der vier weiteren Fälle hat die Aussage einen realen Bezug zu der jeweils angefochtenen Maßnahme der Rechtsangleichung. Bei den Äußerungen der vier Urteile handelt es sich demnach um reine obiter dicta; sie konstituieren keine ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.8 Aus dem Wortlaut der obiterdictalen Äußerungen des Europäischen Gerichtshofs ergibt sich nicht, dass die Europäische Union im Bereich des Gemeinsamen Marktes, ohne dass bestimmte Bedingungen erfüllt sein müssen, über die Kompe- tenz verfügt, Maßnahmen der Rechtsangleichung prophylaktisch zur Abwehr et- waiger zukünftig entstehender Handelshemmnisse oder künftig entstehender Ver- fälschungen des innergemeinschaftlichen Wettbewerbs zu treffen. Eine solche grundlegende Folgerung könnte als defi nitive und verbindliche Auffassung des Eu- ropäischen Gerichtshofs erst aus einem Urteil hergeleitet werden, das in einem et- waigen zukünftigen Rechtsstreit ergehen würde, in dem die vielfältigen Aspekte der präventiven Rechtsangleichung eingehender zur Sprache gelangt sind. Indes bereits nach der derzeitigen in den besagten Urteilen enthaltenen obiterdictalen Äußerung des Gerichtshofs ist die präventive Inanspruchnahme der Kompetenz zur Rechtsangleichung an Bedingungen geknüpft. Sie setzt voraus, dass die Entstehung neuer Hindernisse für den Handel durch den etwaigen Erlass neuer Rechtsvor- schriften der Mitgliedstaaten wahrscheinlich sein muss und dass die befürchtete Entstehung neuer Handelshindernisse überdies ihre Ursache in einer heterogenen – d.h. nicht gleichförmigen – Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften haben muss. Selbst bei einer heterogenen Entwicklung der Rechtsvorschriften der Mit- gliedstaaten sind präventive Maßnahmen der Rechtsangleichung ausgeschlossen, wenn gleichwohl die Entstehung von Hindernissen des Handels nicht wahrschein- lich ist, beispielsweise die Mitgliedstaaten ihre heterogenen Rechtsvorschriften auf eingeführte Waren oder Dienstleistungen nicht anwenden. Die beiden vom Ge- richtshof für unerlässlich gehaltenen Voraussetzungen schränken die Kompetenz der Europäischen Union zur präventive Rechtsangleichung beträchtlich ein. Aus den bisherigen Äußerungen des Europäischen Gerichtshofs kann ungeachtet ihrer nicht differenzierten und stereotypen Wiederholung nicht geschlossen wer- den, dass der Gerichtshof seine Meinungsbildung abgeschlossen hat oder sich an seine bisherigen Aussagen gebunden fühlt. In einem Musterprozess, zu dem sich das anhängige Verfahren entwickeln könnte, könnte der Europäischen Gerichtshof durchaus zu der Auffassung gelangen, dass die präventive Rechtsangleichung im Hinblick auf verschiedene Aspekte und Implikationen, die mir ihr verbunden sind, die aber bislang noch nicht zur Sprache gelangen konnten, an weitere Vorausset- zungen gebunden ist oder sogar weitgehender Einschränkungen unterliegt. Diese Annahme ist um so mehr berechtigt, als dem Europäischen Gerichtshof im Rah-

8 Der Gerichtshof bezieht sich auf „seine Rechtsprechung“, nicht etwa auf seine „ständige Rechtsprechung“. Den Schlussanträgen des Generalanwalts und dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 10. 12. 2002 (Rechts- sache C-376/98 – British American Tobacco, Imperial Tobacco), kann ein Bezug auf eine „ständige Rechtspre- chung“ ebenfalls nicht entnommen werden.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 3311 118.05.20068.05.2006 09:27:0409:27:04 32 EuR – Heft 1 – 2006 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

men der bisherigen fünf Verfahren nicht notwendig bekannt sein konnte, dass die Europäische Union seit Jahrzehnten zur Sicherung des Gemeinsamen Marktes vor Gefährdungen, die von der Rechtsentwicklung in den Mitgliedstaaten ausgehen könnten, über ein – nachstehend aufzuzeigendes – Verfahren zur Abwehr neu ent- stehender Hindernisse des Handels verfügt. Möglicherweise lässt dieses Verfahren nach Auffassung des Gerichtshofs die vorbeugende Inanspruchnahme der Kompe- tenz zur Rechtsangleichung weitgehend hinfällig werden. Das besagte Verfahren wahrt in stärkerem Maße die Interessen der Mitgliedstaaten und damit zugleich auch die Belange der Europäischen Union. Indem das besagte Verfahren nicht glei- chermaßen wie die präventive Rechtsangleichung mit verfassungsrechtlichen Im- plikationen verbunden ist, ist es zwischen der Europäischen Union und den Mit- gliedstaaten eher konsensfähig. Abzuwarten bleibt, ob das Europäische Parlament und der Rat bei einer Umstel- lung ihrer Einlassung, die beiden Voraussetzungen für erfüllt ansehen werden, ohne die bereits nach den bisherigen Aussagen des Europäischen Gerichtshofs die Euro- päische Union die Kompetenz zur präventiven Rechtsangleichung nicht in An- spruch nehmen darf. Im Bereich der Regelungen der Mitgliedstaaten für die Wer- bung und das Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen kann eine heterogene Entwicklung nicht festgestellt werden. Diejenigen nationalen Regelungen, die seit Jahren bestehen, haben ungeachtet ihrer Unterschiede von Mitgliedstaat zu Mit- gliedstaat erwiesenermaßen nicht zu Handelshemmnissen geführt. Die nationalen Regelungen über Werbung aus neuerer Zeit enthalten ausdrücklich sogenannte Freiverkehrsklauseln, denen zur Folge die nationalen Verbote nicht für importierte Werbemedien gelten; sie schaffen demnach keine Handels- oder Dienstleistungs- hindernisse.9 Die Kommission der Europäischen Union, der die Unterrichtung der Öffentlichkeit, vor allem auch des Europäischen Parlament obliegt, hat bislang nicht öffentlich behauptet, dass im Bereich der Tabakwerbung als Folge unter- schiedlicher nationaler Regelungen konkrete Beschwerden über bestimmte Han- delshemmnisse laut geworden sind. Anzeichen dafür, dass die nationalen Rege- lungen in Zukunft zu Handelshemmnissen führen könnten, sind nicht erkennbar.

3. Theorie und Lehrmeinungen über die Rechtsangleichung

Aus den Lehrmeinungen der Wissenschaft über die Rechtsangleichung lassen sich gesicherte Erkenntnisse über die Voraussetzungen und Grenzen der präventiven Inanspruchnahme Rechtsangleichung nicht herleiten. Soweit die Wissenschaft und Lehre eine Theorie der Rechtsangleichung, vornehmlich im Bereich ihres Binnen- marktes, entwickelt hat, wird die präventive Rechtsangleichung jedenfalls nicht in einschlägigen Einzelstudien ausreichend abgehandelt. Die vorstehend wiedergege-

9 Die in Frankreich und Italien geltenden Regelungen enthalten zwar keine derartigen Klauseln, jedoch dürfen in diesen beiden Mitgliedstaaten als Folge der Anwendung der Regelungen der Praxis – in Italien seit über vierzig Jahren – ausländische Zeitschriften mit Tabakwerbung ungehindert verkauft werden.

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benen und analysierten obiterdictalen Aussagen des Europäischen Gerichtshofs werden von der Lehre und Wissenschaft nicht näher kommentiert, vor allem wer- den keine Fragen nach weiteren Voraussetzungen der präventiven Rechtsanglei- chung aufgeworfen. Die Wissenschaft und Lehre betrachtet ersichtlich die bishe- rigen Aussagen des Europäischen Gerichtshofs bislang nicht als Anlass, die prä- ventive Rechtsangleichung als Teilbereich der Rechtsangleichung zu erforschen. Obgleich der Europäische Gerichtshof mit Fragen der Rechtsangleichung ständig befasst wird, scheinen auch weitere relevante Fragen noch ungeklärt zu sein, ohne die eine allgemeine Theorie der Rechtsangleichung mit verbindlichen Aussagen über ihre präventive Inanspruchnahme nicht entwickelt werden kann. Das gilt beispielsweise von der Frage nach den Grenzen, die der Rechtsangleichung durch das Prinzip des Wettbewerbs der Standorte und damit auch der nationalen Rechts- systeme gesetzt sind.

4. Rückblick in die Anfänge der Rechtsangleichung

Die Frage, ob der präventiven Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes Grenzen gesetzt sind, ist bereits in den frühen Jahren der Rechtsanglei- chung aufgetaucht, als die Harmonisierungsbemühungen im Bereich des Gemein- samen Marktes noch in den ersten Anfängen steckten. Seiner Zeit wurde in der zuständigen Sachverständigengruppe der Kommission quasi als Testballon ein Vor- haben der Rechtsangleichung erörtert, das die Angleichung bestimmter Regelungen im Bereich der Produktsicherheit, nämlich die angeblich unterschiedlichen natio- nalen Vorschriften über die Bauartanforderungen für sogenannte Bolzensetzwerk- zeuge betraf. Das Vorhaben war ausgesucht worden, weil zur damaligen Zeit in den Mitgliedstaaten Regelungen über Bauartanforderungen für Bolzenwerkzeuge – noch – nicht bestanden und sich das Vorhaben daher zu einer gemeinsamen Erar- beitung einer Musterrichtlinie für die Angleichung des nationalen Rechts der Pro- duktsicherheit frei von Einfl üssen durch Interessengruppen hinter verschlossenen Türen besonders gut eignete. Über die Angleichung dieses Teilbereichs des Rechts der Produktsicherheit wurde nicht mit der Zielsetzung der Beseitigung – nicht be- stehender – Handelshindernisse durch den späteren Erlass einer Rechtsanglei- chungs-Richtlinie beraten. Das Mandat beschränkte sich auf die Ausarbeitung einer Muster-Richtlinie der Rechtsangleichung im Bereich der Produktsicherheit, über deren notwendige Struktur seiner Zeit noch keine konsensfähigen Vorstellungen bestanden. Es blieb aber nicht aus, dass im Zuge der Beratungen auch über die Fra- ge diskutiert wurde, ob die Kompetenz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes – nach damaliger Rechtslage Artikel 100 EWG-Vertrag – auch prophylaktisch im Hinblick auf mög- licherweise in der Zukunft entstehende Handelshindernisse in Anspruch genom- men werden kann. Im Rahmen der damaligen Arbeiten kam es lediglich zur Erarbeitung der Grund- prinzipien und Struktur einer Richtlinie zur Angleichung des Rechts der Produktsi-

11_06_innen.indd_06_innen.indd 3333 118.05.20068.05.2006 09:27:0409:27:04 34 EuR – Heft 1 – 2006 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

cherheit, nicht jedoch zur der diskutierten Richtlinie. Die Frage der Zulässigkeit der präventiven Rechtsangleichung, die sich im Falle einer Verabschiedung der Richtlinie gestellt hätte, brauchte in den berufenen Kreisen nicht aufgeworfen und beantwortet zu werden. In der Folgezeit hat der Gesetzgeber der Europäischen Ge- meinschaft im Zuge seiner Binnenmarktpolitik, insbesondere auch nach der Verab- schiedung des Programms der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Vollen- dung des Binnenmarktes von 1985, Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten im We- ge der Rechtsangleichung ausschließlich in den Fällen durch einheitliche Rege- lungen ersetzt, in denen Handelshindernisse tatsächlich bestanden oder vorliegende grobe Wettbewerbsverzerrungen infolge von Beschwerden beseitigt werden muss- ten. Fälle, in denen die Europäische Gemeinschaft nationale Regelungen aus Grün- den der Vorbeugung durch eine einheitliche Regelung ersetzt oder durch Rechtsan- gleichung zu ersetzen versucht hat, sind nicht nachweisbar. Dahingehende Vor- schläge und Vorhaben der Kommission wären aller Wahrscheinlichkeit nach bei den Vorarbeiten in den Ausschüssen der Kommission, bei den Beratungen in den Ausschüssen des Rates und spätestens bei den Schlussberatungen im Europäischen Parlament und im Rat auf wenig Verständnis gestoßen. Die Verordnung (EWG) Nr. 1768/92 des Rates vom 18. 6. 1993 über die Schaffung eines ergänzenden Schutz- zertifi kats für Arzneimittel, die zu dem ersten der eingangs genannten Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof geführt hat, war keine Maßnahme der präven- tiven Rechtsangleichung. Die Regelung verfolgte nicht den für die präventive Rechtsangleichung typischen Zweck, der Entstehung von Handelshemmnissen durch den bevorstehenden Erlass einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenzuwir- ken, sie bezweckte vielmehr in für die übliche Rechtsangleichung typischer Weise die Beseitigung von Handelshemmnissen, die sich aus bereits bestehenden unter- schiedlichen nationalen Rechtsvorschriften ergeben, nämlich von Handelshemm- nissen, die sich als Folge des unterschiedlichen Auslaufens der nationalen Schutz- fristen aus den Patenten für Arzneimittel abzeichneten. Die beiden Vorhaben der Europäischen Union zur Angleichung der nationalen Vor- schriften über Werbung und Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen, die vom Europäischen Gerichtshof für nichtig erklärte erste Tabakwerbe-Richtlinie und die nunmehr in einem Verfahren vor dem Gerichtshof streitbefangene zweite Ta- bakwerbe-Richtlinie, stellen sich so dar, dass sie – in materieller Hinsicht – weder auf die Beseitigung bestehender Handelshindernisse noch auf die Abwendung etwaiger zukünftiger Handelsbeschränkungen abzielen; sie verfolgen vielmehr eine gesundheitspolitische Zielsetzung. Da der Europäischen Union im Bereich der Ge- sundheitspolitik die Rechtsangleichung vertragsrechtlich untersagt ist, gesetzliche Regelungen zum Schutz der menschlichen Gesundheit daher, wenn überhaupt, nur in Ausübung unbestrittener Gesetzgebungskompetenzen der Europäischen Union erlassen werden können, wird das Bestehen von Handelshindernissen bzw. das zu- künftige Entstehen derartiger Hemmnisse zur Rechtfertigung der Inanspruchnahme der Kompetenz zur Gestaltung des Gemeinsamen Marktes behauptet und vorge- schoben.

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Nicht zu bestreiten ist, dass auf nationaler Ebene staatliche Regelungskompetenzen auch präventiv zur Abwehr drohender Gefahren, sei es für Menschen, sei es für Tiere, sei es zum Schutz anderer Rechtsgüter in Anspruch genommen werden kön- nen. Daher kann auch der Europäischen Union, namentlich in Bereichen, in denen sie bereits als Gesetzgeber tätig geworden ist, nicht die Befugnis schlechthin abge- sprochen werden, ihre Kompetenzen zur Abwehr von Gefahren präventiv in An- spruch zu nehmen. Die Frage ist indes, ob das Entstehen neuer Hindernisse für den freien Handel und Dienstleistungsverkehr, das auf gesetzgeberischen Vorhaben der Mitgliedstaaten beruht, jenen Gefahren für Menschen, Tiere oder andere Rechtsgü- tern gleichgesetzt werden kann, deren Abwehr nationale Maßnahmen üblicherwei- se und zulässigerweise vorbeugend bezwecken. Mitgliedstaatliche Vorhaben der Gesetzgebung, durch die Handelshemmnisse entstehen können, sind nicht dro- henden Naturereignissen, kriegerischen Angriffen, einer Bedrohung durch Terroris- ten oder ausgebrochenen Epidemien gleichzusetzen, denen die vorbeugende Ge- setzgebung auf nationaler Ebene gilt. Fraglich ist ebenfalls, ob die Europäische Union den „Gefahren“, die aus nationalen Gesetzgebungsvorhaben für den Ge- meinsamen Markt ausgehen können, nicht auf eine andere und weniger einschnei- dende Maßnahme wirksam entgegenwirken kann. Die Gefährdungen des Gemeinsamen Marktes, denen durch präventive Rechtsan- gleichung begegnet wird, werden durch die Mitgliedstaaten und damit durch Ak- teure verursacht, die nicht außer jeder Kontrolle und Einbindung in die Europä- ische Union stehen. Die Mitgliedstaaten, die durch den Gebrauch ihrer Gesetzge- bung „Gefährdungen“ des Gemeinsamen Marktes verursachen könnten, sind zur Gemeinschaftstreue verpfl ichtet; sie haben kraft Verfassungsrechts der Europä- ischen Union alles zu unterlassen, was die Ziele der Europäischen Union gefährden könnte. Die Mitgliedstaaten sind Träger der Europäischen Union und des Integrati- onsprozesses, der sich in ihrem Rahmen vollzieht, und wirken bei der Gestaltung der Aufgaben der Europäischen Union in deren Organen und Gremien verantwort- lich mit. Die Entwicklung der Rechtsangleichung nach dem Beginn des Aufbaus des Ge- meinsamen Marktes zeigt, dass die Organe der Europäischen Gemeinschaft, insbe- sondere die Kommission und die Mitgliedstaaten, die verfassungsrechtliche Situa- tion sowie die Sach- und Interessenlage richtig eingeschätzt haben. Die Organe der Europäischen Gemeinschaft haben zu keiner Zeit eine Konzeption und Politik der präventiven Rechtsangleichung als Instrument zur Sicherung des Gemeinsamen Marktes gegen neue Handelshemmnisse entwickelt, sie haben im Gegenteil zur Sicherung des Gemeinsamen Marktes vor derartigen Gefährdungen für einen we- sentlichen Teilbereich des Binnenmarktes – vorbildgebend auch für andere Be- reiche – ein weitaus effektiveres Verfahren Gesetz werden lassen.

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5. Unterrichtung, Konsultation, Verpfl ichtung zum Stillhalten und Einstiegsrecht

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft haben sich Anfang der 1980er Jahre für den Bereich des Rechts der Produktsicherheit als einem rechtlichen Be- reich, der der Rechtsangleichung zur Sicherung des Gemeinsamen Marktes unter- liegt, zum Zweck der Abwehr neuer Handelshemmnisse auf ein Verfahren verstän- digt, das im Falle entsprechender Gesetzgebungsvorhaben der Mitgliedstaaten In- formationen und Konsultationen, die Verpfl ichtung der Mitgliedstaaten zu einem einstweiligen Anhalten der Vorhaben und die Möglichkeit einer Substituierung der geplanten mitgliedstaatlichen Regelungen durch einheitliche Regelungen der Euro- päischen Gemeinschaft vorsieht.10 Mitgliedstaaten, die im Bereich des Rechts der Produktsicherheit, d.h. für Elektro- geräte, Druckbehälter, Spielzeug, Bauprodukte, Maschinen, persönliche Schutzaus- rüstungen, nichtselbsttätige Waagen, Gasgeräte, Warmwasserheizkessel, Telekom- munikationsgeräte, Sprengstoffe, Geräte zur Verwendung in explosiver Atmosphäre und Kraftfahrzeuge, neue Rechtsvorschriften oder technische Normen zu erlassen vorhaben, sind auf Grund dieser Regelung verpfl ichtet, ihre Vorhaben der Kommis- sion und über die Kommission den anderen Mitgliedstaaten mitzuteilen. Um der Kommission und den anderen Mitgliedstaaten die Überprüfung der Vorhaben zu ermöglichen, sind die Mitgliedstaaten ferner verpfl ichtet, die geplanten Vor- schriften innerhalb einer dreimonatigen Frist nicht in Kraft zu setzen. Von dieser Ver pfl ichtung sind die Mitgliedstaaten befreit, wenn sie Dringlichkeit geltend ma- chen und die Kommission den Dringlichkeitsantrag nicht abschlägig bescheidet. Die dreimonatige Frist zum Stillhalten verlängert sich auf sechs Monate, wenn die Kommission oder ein anderer Mitgliedstaat die Befürchtung äußert, dass als Folge des Vorhabens des Mitgliedstaats Handelshemmnisse entstehen könnten. Befürch- tet die Kommission oder ein Mitgliedstaat, dass Handelshemmnisse entstehen kön- nen, muss die Befürchtung dem Mitgliedstaat in Form einer sog. Ausführlichen Stellungnahme mit Änderungsvorschlägen zur Kenntnis gebracht werden. Die Ver- pfl ichtung zum Anhalten des Gesetzgebungsvorhabens verlängert sich um ein wei- teres Jahr, wenn die Kommission ankündigt, dass sie dem Rat einen Vorschlag für eine Gemeinschaftsregelung für den Bereich, der von der nationalen Regelung er- fasst wird, unterbreiten werde. Die Verlängerung gilt auch dann, wenn ein Vor- schlag für eine Regelung der Gemeinschaft bereits dem Rat vorliegt. Das vorstehend umschriebene Verfahren eröffnet der Kommission die Möglichkeit, die geplante nationale Rechtsvorschrift bereits vor ihrem Inkrafttreten daraufhin zu überprüfen, ob sie den Handel beeinträchtigen könnte und, falls sie den Handel be- einträchtigen sollte, ob sie gegebenenfalls nicht möglicherweise aus Gründen des

10 Richtlinie des Rates vom 28. 3. 1983 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und techni- schen Vorschriften, ABl. 1983, L 109/8, geändert durch die Richtlinie 88/178/EWG ABl. 1988, L 81/75 und 94/10/EG, ABl. 1994, L 100/1.

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Allgemeininteresse gerechtfertigt ist. Regelungen der Mitgliedstaaten, die den Handel oder den freien Dienstleistungsverkehr beeinträchtigen und sich nicht mit Gründen des Allgemeininteresses rechtfertigen lassen, haben nach dem Gemein- schaftsrecht auf Grund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor dem Gemeinsamen Markt keinen Bestand; derartige Regelungen sind aufzuheben und dürfen daher nicht erst erlassen werden. Falls daher die Prüfung der Kommis- sion dahin ausfällt, dass die geplante Regelung, falls sie den Handel beeinträchtigt, nicht aus Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, muss der Mitglied- staat für den Fall, dass er das Vorhaben gleichwohl in Kraft setzt, mit der Anrufung des Europäischen Gerichtshofs rechnen. Sofern die Prüfung der Kommission er- gibt, dass die nationale Regelung zwar den Handel beeinträchtigt, jedoch aus Grün- den des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, kann die Kommission, um die Ent- stehung von Handelshemmnissen zu verhindern, dem Rat einen Vorschlag für eine entsprechende Gemeinschaftsregelung unterbreiten. Dadurch, dass die nationale Regelung durch die Gemeinschaftsregelung ersetzt wird, werden Beeinträchti- gungen des Handels, namentlich die Abschottung der nationalen Märkte, verhin- dert. Kommt es, aus welchen Gründen auch immer, zu keiner Gemeinschaftsrege- lung, trägt nicht der Mitgliedstaat, sondern die Europäische Union die Verantwor- tung für die dann entstehende partielle Segmentierung des Gemeinsamen Marktes. Das für den Bereich des Rechts der Produktsicherheit seit Jahren geltende und praktizierte Verfahren wurde bislang auf andere Bereiche der Rechtsangleichung zwar nicht förmlich erstreckt. In der Praxis gelangt es jedoch auch in anderen Be- reichen, insbesondere im Bereich des Rechts der Lebens- und Genussmittel zur Anwendung.11 Vor allem gelangt das Unterrichtungsverfahren in angepasster Form in den meisten Bereichen zur Anwendung, in denen bereits im Wege der Rechtsan- gleichung nationales Recht angeglichen ist. Wenn ein Mitgliedstaat, sofern ihm die Richtlinie die Möglichkeit hierzu eröffnet, beabsichtigt, eine angeglichene natio- nale Regelung zu ändern, ist er in der Regel auf Grund einer dahingehenden Vor- schrift der Richtlinie zur Konsultation der Kommission verpfl ichtet. Diesbezüg- liche Unterrichtungspfl ichten der Richtlinien eröffnen den Organen der Europä- ischen Union gleichermaßen wie das oben beschriebene Verfahren die Möglichkeit, die geplante nationale Regelung durch eine Gemeinschaftsregelung zu ersetzen. Auf der Konferenz von Amsterdam von 1996 wurde die Regelung des Artikel 95 (vormals 100a) EG-Vertrag für den Bereich des Schutzes der Umwelt, der Ar- beitsumwelt und der menschlichen Gesundheit durch die neuen Absätze 5 bis 8 um ein generelles Verfahren der Konsultation und der Ablösung eines nationalen Vor- habens durch eine Regelung der Europäischen Union ergänzt. Das Verfahren ge-

11 So haben zum Beispiel die Niederlande und Irland in letzter Zeit die Kommission über bevorstehende Verkaufs- und Vertriebsbeschränkungen für Tabakerzeugnisse unterrichtet und auf deren Verlangen hin die geplante Rege- lung modifi ziert.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 3377 118.05.20068.05.2006 09:27:0509:27:05 38 EuR – Heft 1 – 2006 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

langt zur Anwendung, wenn ein Mitgliedstaat, nachdem eine Maßnahme zur Har- monisierung mitgliedstaatlichen Rechts ergangen ist, auf Grund neuer wissen- schaftlicher Erkenntnisse abweichende Bestimmungen zum Schutz der Umwelt und des Arbeitslebens einzuführen beabsichtigt (Absatz 5). Indem der Mitglied- staat zur Unterrichtung der Kommission über das geplante Vorhaben und zu einem – verlängerbaren – Stillhalten verpfl ichtet ist und die Europäische Union die von ihr für gerechtfertigt gehaltene nationale Regelung durch eine gemeinschaftliche Maßnahme durch den Rat ersetzen kann, können Handelshemmnisse verhindert werden. Für den weiteren Fall, dass ein spezielles Gesundheitsproblem einen Mit- gliedstaat zu einem Tätigwerden zwingt, hat die Europäische Union ebenfalls die Möglichkeit des Erlasses einer gemeinschaftlichen Maßnahme (Absatz 8). Das für das Recht der Produktsicherheit Anfang der 1980er Jahre entwickelte Verfahren, das sich, wie immer es angepasst und modifi ziert ausgestaltet ist, für alle anderen Bereiche des Gemeinsamen Marktes zur Abwehr neuer Hindernisse des Handels eignet, dürfte auf Grund seiner Aufnahme in das vertragliche Unionsrecht auf der Konferenz von Amsterdam das allgemein akzeptierte Vorgehen der Europäischen Union für den Fall drohender neuer Handelshemmnisse darstellen. Die rein präven- tive Rechtsangleichung zur Abwehr von Handelshemmnissen, d.h. ein Vorgehen des Gemeinschaftsgesetzgebers gegen einen Mitgliedstaat im Falle bloßer Befürch- tungen des zukünftigen Entstehens von Handelshemmnissen bzw. bei einem unmit- telbar drohenden nationalen Regelungsvorhaben, das den Gemeinsamen Markt ge- fährdet, ohne dass ein Informations- und Konsultationsverfahren nach dem vorste- hend umschriebenen oder ähnlichen Modell durchgeführt wird, ist für alle Bereiche des Gemeinsamen Marktes weder erforderlich noch rechtlich geboten.

6. Verfassungsrechtliche Fragen

Die präventive Rechtsangleichung stößt, sofern sie nicht an die Vorbedingungen des Konsultationsverfahrens gebunden ist, auf verfassungsrechtliche Bedenken. Die Ausübung der Kompetenz zur Rechtsangleichung hat in mehrfacher Hinsicht Auswirkungen, die aus verfassungsrechtlichen Gründen ihrer Inanspruchnahme, die über das unerlässliche Ausmaß hinaus geht, Grenzen setzen.

a) Voraussetzungen der Rechtsangleichung zur Gestaltung des Gemeinsamen Marktes

Die Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes knüpft nicht bereits daran an, dass Rechts- oder Verwaltungsvorschriften von Mitgliedstaat zu Mitglied- staat Unterschiede aufweisen. Disparitäten der Rechtsordnungen der Mitgliedstaa- ten sind als solche mit dem Gemeinsamen Markt durchaus vereinbar. Vorausset- zung für eine Maßnahme der Rechtsangleichung ist nach der Handlungsermäch- tigung des Unionsgesetzgebers des Artikels 94, früher 100, EG-Vertrag, dass na- tionale Rechts- oder Verwaltungsvorschriften infolge ihrer Disparitäten von

11_06_innen.indd_06_innen.indd 3388 118.05.20068.05.2006 09:27:0509:27:05 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes EuR – Heft 1 – 2006 39

Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat der Errichtung oder Sicherung des Gemeinsamen Marktes unmittelbar entgegenstehen. Nationale Rechts- und Verwaltungsvor- schriften, die der Errichtung oder Sicherung des Gemeinsamen Marktes nur mittel- bar entgegenstehen, unterliegen nicht der Rechtsangleichung. Etwas anderes gilt nur in den Fällen, in denen eine besondere Kompetenz zur Rechtsangleichung dies vorsieht. Diese maßgebliche, vielfach übersehene Voraussetzung für jegliche Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Markts, dass dieser nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar betroffen sein muss, ist gegeben, wenn sich natio- nale Rechtsnormen oder Verwaltungsvorschriften, vergleichbar Zöllen, zollglei- chen Abgaben, mengenmäßigen Beschränkungen oder Maßnahmen mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen als Beschränkungen des Handels mit Waren oder Dienstleistungen, d. h. als so genannte indirekte Handelshinder- nisse oder „non tariff barriers“ erweisen. Die Voraussetzung ist – als zweite Fallge- staltung in engen Grenzen – darüber hinaus dann gegeben, wenn sich nationale Rechtsnormen spürbar als Verzerrungen der Wettbewerbsbedingungen zwischen den Mitgliedstaaten und damit für ein Eingreifen des Gesetzgebers der Europä- ischen Union als relevante Wettbewerbsverfälschungen im Gemeinsamen Markt auswirken. Dementsprechend unterliegen die nationalen Regelungen über die Werbung und das Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen, wie sie in der Europäischen Union seit Jahrzehnten bestehen, nicht der Rechtsangleichung, wenn aus ihren na- tionalen Unterschieden keine Handelshemmnisse resultieren und auch die Wettbe- werbsbedingungen für die Werbung und das Sponsoring zu Gunsten von Tabaker- zeugnissen von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat durch sie nicht relevant verfälscht werden. Innerhalb der Europäischen Union wenden diejenigen Mitgliedstaaten, in denen jegliche Werbung für Tabakerzeugnisse verboten ist, ihre Verbotsregelung nach- weislich nicht gegenüber der Werbung an, die aus Mitgliedstaaten mit erlaubter Werbung mit Waren oder Dienstleistungen als ihre Träger in ihren Hoheitsbereich gelangen. Handelshemmnisse oder Hindernisse des freien Dienstleistungsverkehrs, ohne deren Vorliegen Rechtsangleichung nicht zulässig ist, sind nicht nachweisbar. Hinzu kommt, dass die grenzüberschreitende Werbung gering ist und Werbung überwiegend begrenzt auf das Inland stationär stattfi ndet. Handelshemmnisse, die sich in Beschwerden der Einfuhrwirtschaft des Mitgliedstaates, der die Werbung verbietet, oder in Beschwerden der Ausfuhrwirtschaft des Mitgliedstaates, in dem die Werbung erlaubt ist, äußern müssten, sind, wie dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht anders zu entnehmen ist, in dem ersten Klageverfahren nicht nachgewiesen worden. Sollte sich die Verteidigung der angefochtenen zweiten Richtlinie seitens des Europäischen Parlaments und des Rates darauf konzentrie- ren, dass die Richtlinie nicht zur Beseitigung bestehender Handelshindernisse, son- dern als präventive Rechtsangleichung zur Abwehr potentieller Handelshemmnisse erlassen wurde und die präventive Rechtsangleichung aufgrund „ständiger Recht- sprechung“ des Europäischen Gerichtshofs schlechthin zulässig sei, wäre das ein

11_06_innen.indd_06_innen.indd 3399 118.05.20068.05.2006 09:27:0509:27:05 40 EuR – Heft 1 – 2006 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

Beweis dafür, dass auch nach der Einschätzung der beiden beklagten Parteien und der Kommission als deren Streithelferin Handelshemmnisse nicht zur Überzeu- gung des Europäischen Gerichtshofs nachgewiesen werden können. Die alternative Voraussetzung für Rechtsangleichung, dass der Wettbewerb relevant verzerrt sein muss, setzt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, die von der Rechtslehre für richtig erachtet wird, hohe Anforderungen voraus. So- weit sich nationale Rechtsvorschriften nicht als unmittelbare Beschränkungen des Handels mit Waren oder Dienstleitungen, vielmehr statt dessen lediglich als Stand- ortbedingungen auswirken, beeinträchtigen ihre Unterschiede von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat ungeachtet der Tatsache, dass sie unbestreitbar indirekt als Kosten der Produktion die Bedingungen des Handels mit Waren und Dienstleistungen be- einfl ussen, den Gemeinsamen Markt im Sinne des Artikels 94 EG-Vertrag nicht unmittelbar. Im Prinzip soll bei derartigen nationalen Rechts- und Verwaltungsvor- schriften, beispielsweise bei standortgebundenen Umweltschutzvorschriften, bei den Regelungen des Privatrechts, zwischen den Mitgliedsstaaten der so genannte Standortwettbewerb – wie bei den Löhnen und Arbeitsbedingungen – zum Tragen gelangen. Lediglich in jenen Fällen, in denen der Standortwettbewerb übergeord- nete Zielsetzungen der Europäischen Union gefährdet, ist Rechtsangleichung, die Aufhebung des Wettbewerbs bedeutet, geboten und zulässig. Die alternative Voraussetzung für Rechtsangleichung ist nicht bereits bei bloßen Unterschieden der Wettbewerbsbedingungen gegeben, wie sie aus einer unter- schiedlichen Gerichtsbarkeit, aus unterschiedlichen Regelungen über den Vertrieb von Waren oder Dienstleistungen, beispielsweise aus Ladenschlusszeiten, resultie- ren. Sofern diesbezügliche disparitäre Regelungen nach der Herkunft der Waren oder Dienstleistungen aus dem Inland und dem Ausland Diskriminierungen auf- weisen, unterliegen sie nicht etwa der Rechtsangleichung in Form ihrer Substituie- rung durch eine einheitliche Regelung der Europäischen Union, vielmehr sind die Diskriminierungen als Maßnahmen gleicher Wirkung wie mengenmäßige Be- schränkungen zu beseitigen. Die alternative Voraussetzung ist gleichermaßen nicht schon dann erfüllt, wenn aus unterschiedlichen nationalen Vorschriften über die Werbung und das Sponsoring zu Gunsten von Tabakerzeugnissen Unterschiede der Wettbewerbsbedingungen herrühren. Nicht zuletzt aus Gründen der verfassungs- rechtlichen Implikationen, die nachstehend im Einzelnen aufgezeigt werden, setzt ein Tätigwerden des Gemeinschaftsgesetzgebers vielmehr zusätzlich voraus, dass die Wettbewerbsbedingungen als Folge der rechtlichen Unterschiede gravierend verzerrt werden und dadurch ein übergeordnetes Ziel des Integrationsprozesses ge- fährdet wird. Bei abweichenden nationalen Rechtsvorschriften über die Werbung für Tabakerzeugnisse ist nicht erkennbar, dass die Wettbewerbsbedingungen für die Tabakwirtschaft, für die Werbewirtschaft oder für andere Wirtschaftszweige im Ge- meinsamen Markt dadurch in relevanter Weise, beispielsweise zu Lasten der Ent- wicklung der Wirtschaft in Mitgliedstaaten mit Werbeverboten, verzerrt werden, dass in einigen Mitgliedstaaten Werbeverbote bestehen und in anderen Mitglied- staaten Werbefreiheit und sowie die Freiheit des Sponsoring zu Gunsten von Tabak-

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4400 118.05.20068.05.2006 09:27:0509:27:05 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes EuR – Heft 1 – 2006 41

erzeugnissen, die beide überdies beträchtlichen Beschränkungen unterliegen, ge- währleistet sind. Nicht einmal dann, wenn die Werbewirtschaft – was nicht der Fall ist – keine andere Werbung als Tabakwerbung betreiben würde und sich die Werbe- wirtschaft als Folge der Werbeverbote einiger Mitgliedstaaten in die Länder mit Werbefreiheit verlagern würde, wäre Rechtsangleichung zur Aufhebung eines durch unterschiedliche nationale Regelungen „verfälschten Wettbewerbs“ zulässig. Gegen welche übergeordnete Zielsetzung der Europäischen Union sollte die Kon- zentration eines Wirtschaftszweigs in einem oder einigen Mitgliedstaaten ange- sichts des Prinzips des Wettbewerbs der Mitgliedstaaten als Wirtschaftsstandorte und zu diesem Zweck des grundsätzlichen Wettbewerbs der nationalen Rechts- und politischen Ordnungen verstoßen?

b) Übergang von Gesetzgebungshoheit auf die Europäische Union als Folge der Rechtsangleichung

Rechtsangleichungsmaßnahmen, durch die Handelshemmnisse beseitigt oder rele- vante Verzerrungen des Wettbewerbs behoben werden, verfolgen, indem sie den Gemeinsamen Markt sichern, eine integrationspolitische Zielsetzung. Neben ihrer integrationspolitischen Zielsetzung sind sie aber zugleich dem Regelungsanliegen der rechtlichen Materie verpfl ichtet, das sie angleichen, beispielsweise dem Schutz der Verwender von technischen Erzeugnissen (technisches Arbeits- und technisches Verbraucherschutzrecht), dem Schutz der Verbraucher von Lebensmitteln (Lebens- mittelrecht), dem Schutz der Verbraucher von Arzneimitteln (Arzneimittelrecht). Dementsprechend ist die Rechtsangleichung, und zwar bereits im ersten Durch- gang, stets zugleich Rechtsetzung. Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes ist zum Zweiten über- wiegend Rechtsetzung in nicht-ökonomischen Rechtsbereichen und zwar in Berei- chen, die zu den Kernfunktionen staatlicher Rechtsetzung zählen. Dem Lebensmit- telrecht, dem Recht der Produktsicherheit, dem Aufsichtsrecht für Finanzinstitute und Versicherungen, dem Zulassungsrecht für die Berufe des Handwerks und des Handels, dem Recht der freien Berufe, dem technischen Arbeitsschutzrecht, dem waren- und dienstleistungsgebundenen Unweltschutzrecht, dem technischen Ver- braucherschutzrecht, dem Arzneimittelrecht und nahezu allen anderen Rechtsberei- chen, die der Rechtsangleichung unterliegen, liegt primär kein wirtschaftspoli- tisches Regelungsanliegen zugrunde. Die Rechtsangleichung zur Sicherung des Gemeinsamen Marktes führt somit in Kernbereichen staatlicher Gesetzgebung dazu, dass die Europäischen Union Auf- gaben und Funktionen eines Staates übernimmt. Ihre unzulänglichen Fortschritte, insbesondere in den Aufbaujahren des Gemeinsamen Marktes, sowie die verschie- densten Versuche, die Rechtsangleichung einzuschränken, insbesondere auf grenz- überschreitende Tatbestände zu beschränken sowie die Rechtsangleichung zwecks Behebung von Verzerrungen des Wettbewerbs möglichst auszuschließen, erklären sich daraus.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4411 118.05.20068.05.2006 09:27:0509:27:05 42 EuR – Heft 1 – 2006 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

Die Rechtsangleichung ist in allen Bereichen, die sie erfasst, nicht nur im Bereich der Gestaltung des Binnenmarktes, um die es hier geht, damit verbunden, dass die Gesetzgebungshoheit in den ihr unterliegenden Rechtsbereichen von den Mitglied- staaten auf die Europäische Union übergeht. Die nationale Gesetzgebungshoheit wird zwar durch Rechtsangleichung weder verdrängt noch aufgehoben, jedoch im- merhin gegenüber der Europäischen Union in der Weise gebunden, dass sie, wenn in der Richtlinie der Rechtsangleichung keine besondere Regelung getroffen ist, nur noch nach Maßgabe von Änderungs-Richtlinien des Europäischen Gesetzge- bers ausgeübt werden kann. Alleingänge der Mitgliedstaaten zur Änderung ange- glichener Regelungen führen zu neuen Handels- oder Hindernissen des freien Dienstleistungsverkehrs und sind daher nicht zulässig. Sie könnten durch die Kom- mission und durch die anderen Mitgliedstaaten sowie über die nationalen Gerichte als Folge der Direkt- und Drittwirkung der Verpfl ichtungen aus der Richtlinie auch von Privaten klageweise vor dem Europäischen Gerichtshof geahndet werden.

c) Subsidiarität als Federationsprinzip

Indem die präventive Rechtsangleichung zu einer Überantwortung staatlicher Auf- gaben und umfassender Gesetzgebungszuständigkeiten auf die Europäische Union führt, ist sie nicht mit dem Grundsatzes der Subsidiarität, verstanden als Föderati- onsprinzip, vereinbar. Nach diesem Grundsatz dürfen der höheren Ebene nur die Befugnisse übertragen werden, die unerlässlicherweise von ihr auszuüben sind. Der Grundsatz der Subsidiarität ist nicht gewahrt, wenn sich, wie aufgezeigt, die Belan- ge der Europäischen Union auch auf andere Weise wahren lassen.

d) Minderung des Rechtsschutzes

Eine Begrenzung der präventiven Rechtsangleichung ist ferner geboten, weil die Rechtsangleichung in Zuge einer Neuordnung des Rechtsschutzes der Unionsbür- ger mit einer Einschränkung des Rechtsschutzes verbunden ist. Ungeachtet der Zweistufi gkeit des Verfahrens, nach dem sich die Rechtsanglei- chung, sofern sie im Wege von Richtlinien erfolgt, vollzieht, entsteht durch Rechts- angleichung Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht, das Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten beansprucht. Das von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung von Richtlinien des Unionsgesetzgebers erlassene nationale Recht ist zwar nationales Recht; als nationales Recht ist es aber in der Rechtsordnung der Europäischen Uni- on dadurch verankert, dass es nur durch den Unionsgesetzgeber geändert werden kann. Als Folge der Direkt- und Drittwirkung der Verpfl ichtungen aus der Richtli- nie wird das zur Umsetzung von Richtlinien ergangene nationale Recht nicht mehr von den Gerichten der Mitgliedstaaten, insbesondere nicht mehr in letzter Instanz von deren Verfassungsgerichtshöfen, sondern vom Europäischen Gerichtshof inter- pretiert.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4422 118.05.20068.05.2006 09:27:0509:27:05 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes EuR – Heft 1 – 2006 43

Der Vorrang des Rechts der Europäischen Union umfasst auch den uneinge- schränkten Vorrang der Grundrechte, die von der Rechtsordnung der Europäischen Union gewährt werden, vor den Grundrechten und den Grundfreiheiten, die die Verfassungen der Mitgliedstaaten vorsehen. Meinungsverschiedenheiten mögen darüber bestehen, ob die Grundrechte der Rechtsordnung der Europäischen Union die Mitgliedstaaten nur in den Bereichen ihres staatlichen Handelns binden, in de- nen sie das Recht und die Politik der Europäischen Union umsetzen oder zur Gel- tung bringen, oder ob sie nicht auch Geltung – und gegebenenfalls entsprechende vorrangige Geltung – vor den nationalen Grundrechten auch dann entfalten bzw. entfalten sollten, wenn die Mitgliedstaaten ausschließlich im Rahmen der ihnen verbliebenen Souveränitätsrechte handeln. Die zur Umsetzung von Richtlinien der Rechtsangleichung ergehende nationale Gesetzgebung gehört ungeachtet der Mei- nungsverschiedenheiten zu den Bereichen, in denen die Grundrechte der Europä- ischen Union Geltung beanspruchen können und gegebenenfalls mit den nationalen Grundrechten dessen Rechtsschutz verdrängen. Das Recht der Europäischen Union kennt – basierend auf Rechtsprechung des Eu- ropäischen Gerichtshofs – zwar Grundrechte und Grundfreiheiten, nicht jedoch, vergleichbar der nach deutschen Verfassungsrecht dem Einzelnen eröffneten Ver- fassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht, eine Individualbeschwerde der Unionsbürger zum Europäischen Gerichtshof. Unionsbürger, die sich durch die zur Umsetzung einer Richtlinie ergangene nationale Gesetzgebung in ihren Grund- rechten verletzt fühlen, können die Grundrechte, die ihnen die Rechtsordnung der Europäischen Union gewährt, nur über die nationalen Gerichte im Wege von Vorabentscheidungsverfahren vor den Europäischen Gerichtshof bringen. Den nationalen Gerichten ist es kraft Unionsrechts zwar nicht verwehrt, die nationale Gesetzgebung bzw. die für sie maßgebliche Richtlinie daraufhin zu überprüfen, ob vorrangiges Gemeinschaftsrecht bzw. Grundrechte der Europäischen Union gewahrt worden sind. Die Befugnis zur Verwerfung von abgeleitetem Unionsrecht wegen Verstoßes gegen vorrangiges vertragliches Unionsrecht steht jedoch unge- achtet des Überprüfungsrechts der nationalen Gerichte nur den Gerichten der Eu- ropäischen Union, nicht etwa zusätzlich den nationalen Gerichten zu. Das Vorab- entscheidungsverfahren ist kein adäquater Ersatz für die fehlende Individual- beschwerde. Weder das Recht der Europäischen Union noch das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten gewährt Rechtsansprüche auf die Einleitung eines Vorabent- scheidungsverfahrens oder auch nur ausreichende Möglichkeiten der Beschwerde, falls ein nationales Gericht Anträgen auf Anrufung des Europäischen Gerichtshofs nicht entspricht. Nach dem Unionsrecht sind ausschließlich die letztinstanzlich ent- scheidenden nationalen Gerichte, nicht dagegen auch die unteren nationalen Gerichte zur Anrufung des Europäischen Gerichtshofs bei Zweifeln über die Auslegung von Unionsrecht oder Zweifeln seiner Vereinbarkeit mit vorrangigem Unionsrecht, insbesondere den Grundrechten der Europäischen Union, verpfl ich- tet.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4433 118.05.20068.05.2006 09:27:0609:27:06 44 EuR – Heft 1 – 2006 Seidel, Präventive Rechtsangleichung im Bereich des Gemeinsamen Marktes

Durch die Rechtsangleichung wird demnach – jedenfalls in Deutschland, wohl aber auch in den meisten anderen Mitgliedstaaten – der Rechtsschutz der Unionsbürger gegen Verletzungen ihrer Grundrechte und Grundfreiheiten nicht unbeträchtlich eingeschränkt. Die Einschränkung besteht unter der geltenden Verfassungsordnung der Europäischen Union und ändert sich auch nicht für den Fall des Inkrafttretens des von der Regierungskonferenz inzwischen beschlossenen Vertrages über eine Verfassung für Europa. Die Rechtsangleichung mindert auch in materiellrechtlicher Hinsicht den Rechts- schutz der Unionsbürger. Die Grundrechte und Grundfreiheiten der Rechtsordnung der Europäischen Union sichern vielfach nicht den Standard, den die Grundrechte und Grundfreiheiten der Verfassungen der Mitgliedstaaten gewährleisten, insbe- sondere nicht den Standard, den das deutsche Grundgesetz kennt. Das gilt weniger für die Grundrechte und Grundfreiheiten, die auf Rechtsprechung des Europä- ischen Gerichtshofs beruhen, jedoch für die Grundrechte, die von der Grundrechte- Charta gewährleistet werden. Die Grundrechte-Charta wird als Teil des Verfas- sungsvertrages im Zuge ihrer Ausprägung durch die Rechtsprechung des Europä- ischen Gerichtshofs den Standard des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union in Zukunft bestimmen. Einer etwaigen Absenkung des Standards der Grund- rechte, die sich aus dem Vorrang des Rechts der Europäischen Union auch vor dem Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten ergibt, kann ein Mitgliedstaat nur dadurch begegnen, dass er den Vorrang des Rechts der Europäischen Union im Bereich der Grundrechte in Frage stellt. Hierdurch wird jedoch die einheitliche Geltung des Rechts der Union in allen Mitgliedstaaten und wird bis zu einem gewissen Grad auch der Gemeinsamen Markt in Frage gestellt.12 Die potentielle Absenkung des Standards der Grundrechte in Bereichen, in denen die Mitgliedstaaten in Durchfüh- rung und Anwendung von Unionsrecht ihre Hoheitsgewalt ausüben, spricht nicht zuletzt im Interesse der Europäischen Union ebenfalls für eine Begrenzung der Kompetenz der Europäischen Union zur präventiven Rechtsangleichung.

12 Hierzu und zu den Konsequenzen für den Binnenmarkt, falls die Schutzverstärkung unionsrechtlich legitimiert wird, Martin Seidel, Pro futuro: Kraft Gemeinschaftsrechts Vorrang des höheren einzelstaatlichen Grundrechts- schutzes?, EuZW 4/2003, S. 9, ders. Das Kompetenz- und Entscheidungssystem des Vertrages von Rom im Wandel seiner Funktion und Verfassung, in: Jürgen Bröhmer, Roland Bieber, Christian Callies, Christine Lan- genfeld, Stefan Weber und Joachim Wolf (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte, Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag, Berlin, 2005, S. 805 ff., S. 829 ff.

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7. Schlußbemerkung

Nach alledem kann davon ausgegangen werden, dass der Europäische Gerichtshof die Kompetenz der Europäischen Union zur präventiven Rechtsangleichung für sehr eingeschränkt erachten, wenn nicht sogar ausschließen wird. Über die engen Begrenzungen, die sich bereits aus den bisherigen Äußerungen des Europäischen Gerichtshofs zur präventiven Rechtsangleichung ergeben und die eine präventive Rechtsangleichung hinsichtlich der Werbung für Tabakerzeugnisse in den Mitglied- staaten ohnedies nicht ermöglichen, wird der Europäische Gerichtshof jedenfalls kaum hinausgehen.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4455 118.05.20068.05.2006 09:27:0609:27:06 46 EuR – Heft 1 – 2006

Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund? – Europäische Verwaltungsentwicklung am Beispiel der Netzzugangsregulierung bei Telekommunikation, Energie und Bahn –

Von Gabriele Britz, Gießen∗

I. Einleitung

Die überkommene Formel vom indirekten Vollzug des Gemeinschaftsrechts durch die Verwaltungen der Mitgliedstaaten1 umschreibt die europäische Verwaltungsre- alität nur (noch) grob. Die Verwaltungswirklichkeit zeichnet ein bunteres Bild. Häufi g kommt es zur Aufgabenteilung und -verschränkung zwischen den Ebenen. In diesen Teilungs- und Verschränkungsvorgängen Regelmäßigkeiten zu entdecken und zu benennen, ist eine mittlerweile bereitwillig angenommene Aufgabe der Ver- waltungsrechtswissenschaft. War zunächst vor allem von „europäischer Verwal- tungskooperation“ die Rede,2 so macht nun in Fortentwicklung des Kooperations- gedankens die Idee des „Europäischen Verwaltungsverbunds“ in hohem Tempo Karriere.3 Und während noch um eine schärfere Konturierung des Europäischen Verwaltungsverbunds gerungen wird, hält mit dem „Regulierungsverbund“ sogar schon eine gesteigerte Form der Verbundidee Einzug in die Arena verwaltungs- rechtswissenschaftlicher Begriffsbildung.4

∗ Die Verfasserin ist Professorin für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Für hilfreiche Anregungen und Unterstützung bei der Materialsuche danke ich meinem Mitarbeiter Karsten Herzmann. 1 Statt vieler W. Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EU-/EG-Vertrag, 2. Aufl . 2002, Art. 10 Rn. 23 m.w.N. 2 S. etwa E. Schmidt-Aßmann, Verwaltungskooperationsrecht in der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1996, S. 270 ff. m.w.N.; A. Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung, 1998, S. 128 ff.; J. Sommer, Verwaltungskooperation am Beispiel administrativer Informationsverfahren im Europäischen Um- weltrecht, 2001; P. M. Huber, Das Kooperationsverhältnis von Kommission und nationalen Verwaltungen beim Vollzug des Unionsrechts, FS Brohm, 2002, S. 127 ff.; G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004. 3 Bereits früh W. Kahl, Europäisches und nationales Verwaltungsorganisationsrecht, DV 1996, S. 341 (360), der von „Verbundesaufsicht“ spricht und den Verwaltungsverbund der Sache nach auch unter dem Stichwort der „Mischverwaltung“ thematisiert (ebda., S. 373 f.). In der Sache auch A. v. Bogdandy, Supranationaler Födera- lismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, 1999, S. 11 ff.; der Begriff fi ndet sich auch bei dems., Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 2001, S. 3 (18); E. Schmidt-Aßmann, Eu- ropäische Verwaltung zwischen Kooperation und Hierarchie, FS Steinberger, 2002, S. 1375 ff., aktualisiert in E. Schmidt-Aßmann, Der Europäische Verwaltungsverbund und die Rolle des Europäischen Verwaltungsrechts, in: ders./B. Schöndorf-Haubold (Hg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 1 ff.; J.-P. Schneider, Koope- rative Netzzugangsregulierung und europäische Verbundverwaltung im Elektrizitätsbinnenmarkt, ZWeR 2003, S. 381 ff. Aus jüngster Zeit auch J. Hofmann, Rechtsschutz und Haftung im Europäischen Verwaltungsverbund, 2004; J.-P. Schneider, Verwaltungsrechtliche Instrumente des Sozialstaates, VVDStRL 64, S. 238 (262) („Ver- bundverwaltung“); T. Groß, Die Kooperation zwischen europäischen Agenturen und nationalen Behörden, EuR 2005, S. 54 ff.; W. Kahl/K. F. Gärditz, Rechtsschutz im europäischen Kontrollverbund, NUR 2005, S. 555 ff.; s. auch die weiteren Beiträge in E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hg.), Der Europäische Verwal- tungsverbund, 2005. 4 Soweit ersichtlich, zuerst zum TK-Recht: H.-H. Trute/H.C. Röhl, Gutachten im Auftrag der Monopolkommissi- on zu Fragen der Umsetzung des neuen Europäischen Rechtsrahmens der Telekommunikation, 13.2.2003 (un- veröffentlicht) und dem folgend Monopolkommission, Zur Reform des Telekommunikationsgesetzes: Sonder- gutachten der Monopolkommission gemäß § 44 Ι 4 GWB, 2004, Tz. 42, 92, 95. Außerdem H.-H. Trute, Der

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4466 118.05.20068.05.2006 09:27:0609:27:06 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund EuR – Heft 1 – 2006 47

Im Folgenden sollen zunächst Funktion und Bedeutung der „Verwaltungsverbund“- Formel weiter konturiert werden (II.). Sodann wird die bislang im TK-Netzzu- gangsrecht am intensivsten verfolgte Idee des europäischen „Regulierungsver- bunds“ näher beleuchtet und auf ihr Systematisierungspotential untersucht (III.). Anschließend werden exemplarisch die Verbundstrukturen im institutionellen Ge- füge der Netzzugangsregulierung bei Energie (IV.) und Bahn (V.) analysiert. Be- sonderes Augenmerk gilt dabei der Frage, inwiefern sich im Energie- und Bahn- sektor die für den „TK-Regulierungsverbund“ bereits herausgearbeiteten spezi- fi schen Verbundkennzeichen wieder fi nden und damit zur Annahme eines einheit- lichen Typus des „Regulierungsverbunds“ berechtigen.

II. Europäischer Verwaltungsverbund

1. Verwaltungsverbund als Metapher und deskriptiv-analytischer Begriff

Der „Europäische Verwaltungsverbund“ ist eine Metapher, mit deren Hilfe be- stimmte institutionelle Entwicklungen der Verwaltung in Europa systematisierend auf einen aussagekräftigen Begriff gebracht werden können. Die intuitiv zu erfas- sende Aussagekraft dieses Begriffs lebt davon, dass das Bild des Verbunds in ande- ren, insbesondere in staatsorganisationsrechtlichen, Zusammenhängen lange etab- liert ist und damit schnell die gewollten Assoziationen hervorruft.5 Mit dem Begriff des Verwaltungsverbunds wird der derzeitige Zustand der europäischen Verwal- tungsstrukturen – sei es in ihrer Gesamtheit, sei es in ihren sektorspezifi schen Aus- prägungen – beschrieben. Es handelt sich dabei um einen deskriptiv-analytischen, nicht um einen normativen Begriff. Er beschreibt bestimmte, regelmäßig auftre- tende Strukturelemente (3., 5., 6.) und transportiert eine analytische Vorstellung von bestimmten Funktionen dieser Strukturen (4.). Wenn der Verwaltungsverbund gleich auf die zwei Grundelemente „Vollzugsteilung“ und „Vollzugsverfl echtung“ (3.) zurückgeführt wird und später noch typische Elemente der Vollzugsverfl ech- tung benannt werden (5., 6.), so geschieht dies hingegen nicht mit normativem An- spruch. Weder das europäische Primärrecht noch die nationalen Verfassungsord- nungen zwingen zur Ausbildung gerade solcher Verbundstrukturen. Mit der Formel vom Verwaltungsverbund soll vielmehr ein möglichst anschauliches Bild von prä- genden Elementen der europäischen Vollzugswirklichkeit gezeichnet werden.6

europäische Regulierungsverbund in der Telekommunikation – ein neues Modell europäisierter Verwaltung, FS Selmer, 2004, S. 565 ff.; K.-H. Ladeur/C. Möllers, Der europäische Regulierungsverbund der Telekommunika- tion im deutschen Verwaltungsrecht, DVBl 2005, S. 525 ff. Zum Energierecht: J.-P. Schneider, Kooperative Netzzugangsregulierung (Fn. 3), S. 404 ff.; C. Held/J. Prat, Die Bedeutung des Madrider Gasforums für den europäischen Gasmarktregulierungsverbund, IR 2004, S. 194 ff.; F. Arndt, Vollzugssteuerung im Regulierungsverbund, DV 2006, S. 1 ff. 5 Vgl. A. v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus (Fn. 3). 6 Vgl. zur Begriffsfunktion auch E. Schmidt-Aßmann, Der Europäische Verwaltungsverbund (Fn. 3), S. 7: „… denn Verwaltungen in Mehrebenen-Systemen sind keineswegs Produkte nur spontaner, zufälliger oder ungeordneter Aktionen und Begegnungen, sondern regelhafte Vorgänge, die zueinander in Bezug gesetzt und rechtlich abge- bildet werden müssen. Der Begriff des Verbundes soll das ermöglichen. Der Verbund ist eine Ordnungsidee ...“.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4477 118.05.20068.05.2006 09:27:0609:27:06 48 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

2. Verwaltungsverbund als Gesamtstruktur und als sektorspezifi sches Phänomen

Der europäische Verwaltungsverbund hat zwei unterschiedliche Bezugsobjekte: Als europäischer Verwaltungsverbund lässt sich einerseits die Verwaltung des Gemein- schaftsraums insgesamt bezeichnen,7 die eben zunehmend durch Verbundelemente gekennzeichnet ist. Der Begriff des Verwaltungsverbunds lässt sich aber anderer- seits auch zur Kennzeichnung der Verwaltungsstruktur einzelner Sachbereiche ver- wenden, in denen Verbundelemente besonders ausgeprägt sind.8 Beide Bedeu- tungen sind gleichermaßen sinnvoll und können darum nebeneinander bestehen.

3. „Vollzugsteilung“ und „Vollzugsverfl echtung“ als Grundelemente

In der Sache ist der Verwaltungsverbund durch zwei Grundelemente gekennzeich- net: Zum einen werden die Aufgaben des Gemeinschaftsrechtsvollzugs nicht not- wendig allein auf einer Ebene wahrgenommen (traditionell der mitgliedstaatli- chen), sondern sind auf die dezentrale und auf die zentrale Ebene verteilt („Voll- zugsteilung“). Zunehmend sind auch die EG-eigenen Organe in die Gemeinschafts- verwaltung eingeschaltet. Das für das deutsche Verfassungsrecht durch das BVerfG9 kürzlich erneut zum Leben erweckte sog. Verbot der Mischverwaltung spielt hier keine Rolle.10 Zum anderen erfolgt der Vollzug auf der jeweiligen Ebene nicht gänzlich autark, vielmehr ist die Tätigkeit der Ebenen auf verschiedene Weise durch langfristige11 „interadministrative Verbindungen“12 sowohl horizontal als auch vertikal ineinan- der verfl ochten („Vollzugsverfl echtung“). Das klassische Beziehungsmuster Ge- meinschaft – Mitgliedstaat wird nicht nur zugunsten direkter Kontakte der Kom- mission mit den zuständigen innerstaatliche Behörden überwunden,13 sondern auch zugunsten direkter Kontakte zwischen den innerstaatlichen Behörden verschie- dener Mitgliedstaaten.14 Vollzugsteilung und Vollzugsverfl echtung sind keine gegenläufi gen Elemente, son- dern können sich gegenseitig ergänzen.

7 J. Hofmann (Fn. 3), S. 28 Fn. 29. 8 Bereichsspezifi sche Verwendung etwa bei B. Schöndorf-Haubold, Gemeinsame Europäische Verwaltung: die Strukturfonds der Europäischen Gemeinschaft, in: E. Schmidt-Aßmann/B. Schöndorf-Haubold (Hg.), Der Eu- ropäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 25 (33), für die Strukturfonds-Verwaltung. 9 BVerfGE 108, 169 (182). 10 Zutreffend B. Schöndorf-Haubold (Fn. 8), S. 55. 11 Hervorgehoben von B. Schöndorf-Haubold (Fn. 8), S. 45. 12 Zum Begriff der „interadministrativen Bindungen“ J. Hofmann (Fn. 3), S. 28 ff. 13 So zutreffend B. Schöndorf-Haubold (Fn. 8), S. 45. 14 Zur „transnationalen“ Ebene der Verwaltung im europäischen und internationalen Kontext M. Ruffert, Die Glo- balisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004, S. 33ff. m.w.N.; T. Vesting, Die Staatsrechts- lehre und die Veränderung ihres Gegenstandes, VVDStRL 2004, S. 41 (57); K.-H. Ladeur/C. Möllers (Fn. 4), S. 527; C. Möllers, Transnationale Behördenkooperation, ZaöRV 2005, S. 351ff.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 4488 118.05.20068.05.2006 09:27:0609:27:06 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund EuR – Heft 1 – 2006 49

4. Kompensation defi zitärer Verwaltungsstrukturen als Funktion des Verwaltungsverbunds

Angesichts der bekannten Warnungen vor der „Verfl echtungsfalle“15 bedarf die Etablierung von Verbundstrukturen beim Vollzug des europäischen Rechts aller- dings der Rechtfertigung. Aufgabenteilung und Verfl echtungen verkomplizieren prima facie den Vollzug und können darum kaum erstrebenswert erscheinen. Hin- tergrund der Etablierung verbundartiger Vollzugsstrukturen ist jedoch deren Eig- nung, den an die europäische Verwaltung herangetragenen Erwartungen (a) gerecht zu werden. Der Verwaltungsverbund kann Defi zite (b) kompensieren (c), die sich bei der institutionellen Ausgestaltung des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht unwei- gerlich einstellen.

a) Zwei grundlegende Anforderungen an das institutionelle Gefüge beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht

Das institutionelle Gefüge für den exekutiven Vollzug des Gemeinschaftsrechts muss vor allem16 zwei Erwartungen gerecht werden: Zum einen sollen die Voll- zugskompetenz der Mitgliedstaaten wie auch deren institutionelle und verfahrens- mäßige Autonomie bei der Ausgestaltung des Vollzugs gewahrt bleiben („Autono- mieziel“). Wegen des Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 S. 1 EG) und des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 S. 2 EG) fällt der Vollzug des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mit- gliedstaaten,17 die grundsätzlich auch über die Modalitäten der administrativen Umsetzung selbst zu entscheiden haben.18 Zum anderen soll eine möglichst effek- tive Implementation des Gemeinschaftsrechts gesichert werden („Effektivitäts- ziel“),19 was insbesondere einen einheitlichen20 Vollzug erfordert. Dies hat Folgen

15 Grundlegend F. W. Scharpf, Die Politikverfl echtungsfalle: Europäische Integration und deutscher Föderalismus im Vergleich, Politische Vierteljahresschrift 26 (1985), S. 323 ff.; A. Benz, Mehrebenen-Verfl echtung: Verhand- lungsprozesse in verbundenen Entscheidungsarenen, in: A. Benz/F. W. Scharpf/R. Zintl (Hg.), Horizontale Po- litikverfl echtung: zur Theorie von Verhandlungssystemen, 1992, S. 147 ff.; ders., Politikverfl echtung ohne Po- litikverfl echtungsfalle – Koordination und Strukturdynamik im europäischen Mehrebenensystem, Politische Vierteljahresschrift 39 (1998), S. 558 ff. (561 ff.). 16 Ein weiterer Gesichtspunkt, der bei der institutionellen Ausgestaltung zu beachten ist und ebenfalls verbundar- tige Strukturen des Gemeinschaftsrechtsvollzugs fordern kann, ist die Verwaltungslegitimation, H.C. Röhl, Ak- kreditierung und Zertifi zierung im Produktsicherheitsrecht, 2000, S. 38 ff. m.w.N.; s. auch A. Benz, Verwal- tungskooperation im Mehrebenensystem der Europäischen Union – Das Beispiel der Strukturpolitik, in: E. Schmidt-Aßmann/W. Hoffmann-Riem (Hg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 45 (46). 17 R. Streinz, in: ders. (Hg.), EUV/EGV, 2003, Art. 10 Rn. 15; ders., Der Vollzug des Europäischen Gemein- schaftsrechts durch deutsche Staatsorgane, HStR VII, 1992, S. 819; S. Kadelbach, Allgemeines Verwaltungs- recht unter europäischem Einfl uss, 1999, S. 18 f.; A. Hatje, in: Schwarze (Hg.), EUV/EGV, 2000, Art. 10 Rn. 34; P. M. Huber (Fn. 2), S. 127 m.w.N.; E. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungs- idee, 2. Aufl ., 2004, S. 382. 18 S. Kadelbach (Fn. 17), S. 113; A. Hatje (Fn. 17), Art. 10 Rn. 34; P. M. Huber (Fn. 2), S. 128 m.w.N.; R. Stettner, in: Dauses (Hg.), Handbuch des Europäischen Wirtschaftsrechts, Std. Mai 2004, B. III Rn. 9. 19 P. M. Huber (Fn. 2), S. 128 m.w.N.; E. Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 17), S. 383. 20 R. Streinz, Der Vollzug (Fn. 17), S. 819; P. M. Huber (Fn. 2), S. 128; J. Hofmann (Fn. 3), S. 23.

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sowohl für die Wahl der Vollzugsebene als auch für die Ausgestaltung der Verfl ech- tungsbeziehungen der zuständigen Behörden.

b) Kompromisscharakter der Wahl der Vollzugsebene

Mit diesen beiden Zielen verbinden sich widersprüchliche Anforderungen an die Ausgestaltung des Vollzugsgefüges hinsichtlich der Wahl der Vollzugsebene:21 Das Autonomieziel spricht dafür, die Vollzugsaufgaben den nationalen Behörden zu überlassen. Eine zentrale Aufgabenwahrnehmung muss danach die Ausnahme blei- ben. Auch das Effektivitätsziel kann unter dem Gesichtspunkt der Sachnähe für eine Aufgabenwahrnehmung auf dezentraler Ebene sprechen, wenn der Vollzug ei- ne Vertrautheit mit den besonderen nationalen Gegebenheiten voraussetzt. Umge- kehrt kann das Effektivitätsziel unter dem Gesichtspunkt der Kohärenz allerdings auch für einen zentralen Vollzug sprechen, wenn sich nur so die einheitliche und gleichmäßige Geltung des Unionsrechts sicherstellen lässt. Kohärenz des Verwal- tungsvollzugs ist insbesondere in den binnenmarktrelevanten Fragen erforderlich, weil divergierende Vollzugspraktiken unterschiedliche Wettbewerbsbedingungen schaffen und den Gebrauch der Grundfreiheiten behindern können. Der effektive Vollzug binnenmarktrelevanten Gemeinschaftsrechts ließe sich darum unter dem Kohärenzgesichtspunkt z.T. besser zentral realisieren. Weil nun u.U. bei ein und derselben Vollzugsmaterie einerseits gute Gründe für den zentralen Vollzug andererseits aber auch für den dezentralen Vollzug sprechen, ist die Wahl der Vollzugsebene letztlich häufi g ein „Kompromiss“. Der Kompromiss kann in der Entscheidung für eine Ebene oder auch in einer Aufteilung der Vollzug- stätigkeit auf verschiedene Ebenen bestehen. Als Kompromiss weist die Aufgaben- verteilung jedoch notwendigerweise gewisse Defi zite entweder im Hinblick auf das Autonomieziel oder im Hinblick auf das Effektivitätsziel (oder sogar in beider Hin- sicht) auf.

c) Vollzugsverfl echtung als Kompensation für Defi zite der Vollzugsebenenwahl

Diese Defi zite lassen sich zumindest teilweise durch Formen der vertikalen oder der horizontalen Vollzugsverfl echtung kompensieren. Die Verfl echtung dient einerseits dem Effektivitätsziel, indem insbesondere durch koordinierende Maßnahmen die gleichmäßige Anwendung des Gemeinschaftsrechts gesichert wird.22 Andererseits können einige Formen der Verfl echtung „Kompetenzverzichte“ der Mitgliedstaaten kompensieren.23 Die Vollzugsverfl echtung im Verwaltungsverbund dient mithin der Eingrenzung der Defi zite einer kompromissartigen Wahl der Vollzugsebene(n).

21 E. Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 17), S. 390, spricht diesbezüglich vom „labilen Gleich- gewicht“. 22 S. statt vieler A. Hatje (Fn. 2), S. 129; E. Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 17), S. 383. 23 Ähnlich angedeutet bei E. Schmidt-Aßmann, Der Europäische Verwaltungsverbund (Fn. 3), S. 14.

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Obwohl die Verwaltungsverfl echtung somit Möglichkeiten bietet, Autonomiever- luste der Mitgliedstaaten, vor allem aber auch Effektivitätsdefi zite der jeweils zu- ständigen Vollzugsebene auszugleichen, birgt sie doch zugleich die Gefahr, die ge- nannten Defi zite noch zu verschärfen. So kann die Verfl echtung der Vollzugstätig- keiten ihrerseits eigene Effektivitätsdefi zite verursachen: Die Koordinations- und Kooperationsverpfl ichtungen erhöhen die Komplexität der Entscheidungsverfahren und verzögern damit u.U. eine Entscheidung.24 Gemeinschaftsrechtliche Koordina- tions- und Kooperationsanforderungen an den nationalen Vollzug beschneiden zu- dem ihrerseits die Vollzugsautonomie der Mitgliedstaaten25 und fi nden darum wie- derum ihre Schranken in den primärrechtlichen Kompetenzanforderungen.26 Ob die Verfl echtung die Effektivitäts- und Autonomiedefi zite in der Summe mildert oder stärkt, ist eine Frage des Einzelfalls.

5. Elemente der verbundstypischen Vollzugsverfl echtung und deren Defi zit- ausgleichpotential

Die Verfl echtung weist Elemente der Organisation, des Verfahrens wie auch inhalt- licher Steuerung durch exekutive Vollzugsprogrammierung auf, die teils im verti- kalen Interaktionsverhältnis zwischen europäischen und mitgliedstaatlichen Behör- den, teils im horizontalen Interaktionsverhältnis der Behörden der Mitgliedstaaten untereinander zur Anwendung kommen.27 Die Verfl echtungen sind sowohl hierar- chischer als auch kooperativer Art.

a) Organisation

An organisatorischen Maßnahmen zu nennen sind etwa die Einrichtung gemein- samer Ausschüsse, die Gründung mehr oder weniger rechtlich formalisierter Gre- mien und Organisationen, in denen Vertreter der mitgliedstaatlichen Behörden (und der Kommission) zusammentreffen,28 die personelle Repräsentation eines Aufga- benträgers in den Organen des anderen Aufgabenträgers29 oder die Mitwirkung an der Kreation von Organen des anderen Aufgabenträgers. Bei zentraler Vollzugszu- ständigkeit kompensieren diese Formen der Verfl echtung das Defi zit hinsichtlich des Autonomieziels, sofern ein Mitgliedstaat auf diese Weise Einfl uss auf den zen- tralen Vollzug erhält. Bei dezentraler Vollzugszuständigkeit kompensieren die orga- nisatorischen Verfl echtungen Effektivitätsdefi zite, indem sie zur Kohärenz des de-

24 Zu diesem Aspekt J. Kühling, Sektorspezifi sche Regulierung in den Netzwirtschaften, 2004, S. 423f. 25 Vgl. A. Hatje (Fn. 2), S. 129; C. Möllers, Durchführung des Gemeinschaftsrechts, EuR 2002, S. 483 (502). 26 S. Kadelbach (Fn. 17), S. 113 m.w.N.; G. Sydow (Fn. 2), S. 41 u. 43; s. auch E. Schmidt-Aßmann (Fn. 2), S. 271 (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz). Zweifelnd B. Schöndorf-Haubold (Fn. 8), S. 47. 27 Zur Unterscheidung vertikaler und horizontaler Kooperation E. Schmidt-Aßmann (Fn. 2), S. 273. 28 K.-H. Ladeur/C. Möllers (Fn. 4), S. 527, weisen zu Recht darauf hin, dass das europäische TK-Recht bereits bestehende Kooperationen der mitgliedstaatlichen Behörden formalisiert und in ihre eigenen Regelungsstruk- turen einfügt. Dies gilt auch für den Energiesektor, s. F. Arndt (Fn. 4). 29 A. Hatje (Fn. 2), S. 129.

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zentralen Vollzugs beitragen. Dies gelingt etwa mittels der aus Vertretern der de- zentralen Behörden zusammengesetzten Gremien, in denen ein Austausch von Er- fahrungen und Verwaltungspraktiken erfolgt und Kohärenz fördernde Koordinierung geleistet werden kann.

b) Verfahren

Verfahrenselemente30 der Verfl echtung sind einerseits informationeller Art.31 Zu nennen sind wechselseitige Informations-, Berichts- und Beratungspfl ichten oder auch die (gemeinsame) Einrichtung von Datenbanken und Registern. Damit lassen sich zum einen Effektivitätsdefi zite einer dezentralen Vollzugszuständigkeit kom- pensieren, wenn etwa die Effektivität hemmende Divergenzen aufgedeckt und durch koordinierende Maßnahmen – seien sie horizontaler oder vertikaler Art – be- hoben werden. Zum anderen lassen sich Effektivitätsdefi zite einer zentralen Voll- zugszuständigkeit begrenzen, weil die Akteure der zentralen Ebene auf diese Weise ihr aus der fehlenden Sachnähe resultierendes Informationsdefi zit kompensieren können. Verfahrenselemente der Verfl echtung sind andererseits Strukturen gegenseitiger Einbindung in die Entscheidung an sich.32 Zu denken ist insbesondere an Anhö- rungspfl ichten und entsprechende Mitwirkungsrechte des anderen Aufgabenträ- gers, die von einem bloßen Recht zur unverbindlichen Stellungnahme bis hin zum Vetorecht und sonstigen hierarchischen Interventionsrechten reichen können. Bei zentraler Vollzugszuständigkeit sind solche Rechte der Mitgliedstaaten oder ihrer Behörden wiederum ein Instrument zur Kompensation des Autonomiedefi zits. Bei dezentraler Vollzugszuständigkeit sind sowohl horizontale als auch vertikale Ent- scheidungsbeteiligungen kohärenzfördernde Mittel zur Kompensation des Effekti- vitätsdefi zits.

c) Exekutive Vollzugsprogrammierung durch materielles Recht

Eine eigene – stets hierarchische – Form der administrativen Interaktionsbeziehung entsteht auch durch exekutive Normierungsbefugnisse inhaltlicher Art, sofern da- mit eine materiellrechtliche Bindung der Behörden eines anderen Verwaltungsträ- gers einhergeht.33 Als Verfl echtungselemente materiellrechtlicher Vollzugsprogram- mierung sind insbesondere die Leitlinien und Empfehlungen der zentralen Ebene zu nennen, die die mitgliedstaatlichen Behörden binden und deren vollzugsverein-

30 Hilfreiche Systematisierung der Verfahrenselemente auch bei J. Hofmann (Fn. 3), S. 135 ff. 31 Zur informationellen Vernetzung etwa A. Hatje (Fn. 2), S. 134 ff. Am Beispiel des Umweltrechts J. Sommer (Fn. 2); dies., Informationskooperation am Beispiel des Europäischen Umweltrechts, in: E. Schmidt-Aßmann/ B. Schöndorf-Haubold (Hg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 57 ff. 32 E. Schmidt-Aßmann (Fn. 2), S. 290 ff. Beispiele bei P. M. Huber (Fn. 2), S. 130 f. m.w.N. 33 Vgl. T. Groß, Exekutive Vollzugsprogrammierung durch tertiäres Gemeinschaftsrecht? DÖV 2004, S. 20 ff. Ähnlich G. Sydow (Fn. 2), S. 52 ff.; F. Arndt (Fn. 4), S. 4.

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heitlichende Wirkung Effektivitätsdefi zite dezentraler Vollzugszuständigkeit kom- pensieren kann.34

6. Abgrenzung zur Verwaltungskooperation

Der Gedanke des Verwaltungsverbunds geht über eine institutionalisierte Verwal- tungskooperation hinaus. Verwaltungskooperation ist ein wichtiger Bestandteil des zweiten Elements des Verwaltungsverbunds, der Vollzugsverfl echtung. Mit Verwal- tungskooperation werden jedoch nicht sämtliche interadministrativen Verfl ech- tungsbeziehungen erfasst, die im Verwaltungsverbund denkbar sind. Während unter „Verwaltungskooperation“ – jedenfalls bei vorsichtiger Wortverwendung – nur in- teradministrative Beziehungen innerhalb eines „Gleichordnungsverhältnisses“ zu verstehen sind, lassen sich mit der Formulierung „Verwaltungsverbund“ seman- tisch problemlos auch nicht-kooperative, hierarchische Beziehungselemente erfas- sen. Als hierarchische Beziehungselemente sind etwa die zentralen Vollzugspro- grammierungsbefugnisse (s.o. 5.c.) oder auch die direkten Interventionsmöglich- keiten der Kommission in mitgliedstaatliche Verwaltungsverfahren anzusehen (s.o. 5.b.). Will man die bestehenden Vollzugsverfl echtungen in der Gemeinschaft ange- messen beschreiben, dürfen hierarchische Beziehungselemente heute nicht (mehr) ausgeblendet werden. Zwar ist der im nationalen Verwaltungsorganisationsrecht so geläufi ge Gedanke der Verwaltungshierarchie in der europäischen Verwaltung kei- neswegs als durchgehendes Organisationsprinzip ausgeprägt. Es lassen sich jedoch zunehmend einzelne Interaktionsbeziehungen hierarchischer Art beobachten.35

III. Europäischer Regulierungsverbund im TK-Sektor

Mit dem sog. „europäischen Regulierungsverbund“ scheint sich nun eine besonde- re Form des europäischen Verwaltungsverbunds aufzutun. Vom Regulierungsver- bund ist bezüglich der Netzzugangsregulierung im TK-Sektor und auch in den En- ergiemärkten gesprochen worden.36 Der Monopolkommission gilt der Regulie- rungsverbund im TK-Recht „als Mechanismus zur Herstellung und Sicherstellung einer einheitlichen Normanwendung und damit [zur] Verhinderung von Wettbe- werbsverzerrungen“. Sie bezeichnet den Regulierungsverbund als „ein noch neues Kohärenzkonzept“.37

34 Vgl. C. Möllers (Fn. 25), S. 502. 35 S. insbesondere B. Schöndorf-Haubold (Fn. 8), S. 34 u. 45 ff., zur Ausbildung aufsichtsartiger Strukturen. Tref- fend E. Schmidt-Aßmann, Der Europäische Verwaltungsverbund (Fn. 3), S. 5: „Der Verbund ist eine Ordnungs- idee, die die notwendige Handlungseinheit durch die Verschränkung zweier Organisationsprinzipien, der Prin- zipien der Koordination und der Hierarchie, herstellen will“. 36 S. o. Fn. 4. 37 Monopolkommission (Fn. 4), Tz. 92.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5533 118.05.20068.05.2006 09:27:0709:27:07 54 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

1. Besondere Verfl echtungsintensität im TK-Regulierungsverbund

Tatsächlich ist die interadministrative Vollzugsverfl echtung in der gemeinschafts- rechtlichen Ausgestaltung des Vollzugs des europäischen TK-Rechts auffallend in- tensiv. Als besondere Merkmale des europäischen Regulierungsverbunds der Tele- kommunikation werden genannt:38 – die Bindung der nationalen Regulierungsbehörde durch die konkretisierende Empfehlung der Kommission zur Marktbestimmung, – eine über die bloße Konsultation hinausweisende Abstimmungspfl icht für die nationalen Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten, – Interventionsrechte der Kommission. – die Zusammenarbeit der Regulierungsbehörden in gemeinsamen Gremien.39 Bei systematisierender Betrachtung sind damit je zwei Elemente der vertikalen und der horizontale Dimension organisatorischer, verfahrensmäßiger bzw. materiell programmierender interadministrativer Verbindungen angesprochen, die zu einer vergleichsweise starken Vollzugsverfl echtung führen:40 In vertikaler Hinsicht geht es um besonders intensive Formen der zentralen Steue- rung des dezentralen Vollzugs. Damit ist das Verwaltungskooperationsrecht verlas- sen und das Feld der hierarchischen Vollzugsverfl echtung betreten. Steuerungsins- trumente sind insbesondere vollzugsprogrammierende Empfehlungen und Leitli- nien der Kommission41 einerseits und die Einschaltung der Kommission in Verwal- tungsverfahren der nationalen Regulierungsbehörden durch Interventionsrechte42 andererseits. In horizontaler Hinsicht geht es um die Koordinierung des dezentralen Vollzugs. Koordinierungsinstrumente sind einerseits die – vergleichsweise starke – Einbin- dung von Regulierungsbehörden in die Verfahren der Regulierungsbehörde eines

38 Zu den ersten drei Merkmalen K.-H. Ladeur/C. Möllers (Fn. 4), S. 526. 39 Ebda., S. 527. 40 Quer hierzu liegt die Beobachtung, dass das Gemeinschaftsrecht selbst die Einrichtung nationaler Regulie- rungsbehörden anordnet, was angesichts der institutionellen Autonomie der Mitgliedstaaten beim Gemein- schaftsrechtsvollzug rechtfertigungsbedürftig ist. Zur Zulässigkeit gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben zur Kre- ierung nationaler Behörden W. Kahl (Fn. 3), S. 354 m.w.N. 41 Gem. Art. 19 Abs. 1 RahmenRL (RL 2002/21/EG) gibt die Kommission im Komitologieverfahren Empfehlun- gen an die Mitgliedstaaten über die harmonisierte Durchführung der Richtlinien, wobei die Mitgliedstaaten diesen Empfehlungen weitestgehend Rechnung zu tragen haben. Gem. Art. 15 RahmenRL wirkt die Kommission im Rahmen des Marktdefi nitionsverfahrens mit, das u.a. Grundlage für Zugangsmaßnahmen nach der ZugangsRL (RL 2002/19/EG) ist: Gem. Art. 15 Abs. 1 RahmenRL erlässt sie Empfehlungen in Bezug auf relevante Produkt- und Dienstmärkte. Gem. Art. 15 Abs. 2 RahmenRL legt sie Leitlinien zur Marktanalyse und zur Bewertung beträchtlicher Markmacht fest. Hierdurch werden die Mitgliedstaaten bei der Marktanalyse gem. Art. 16 RahmenRL weitgehend gebunden. 42 Beabsichtigt eine nationale Behörde, Maßnahmen im Bereich des Zugangs (z.B. Art. 5, 10, 12, 13 ZugangsRL) zu ergreifen, muss sie der Kommission gem. Art. 7 Abs. 3 RahmenRL einen Entwurf der Maßnahme zur Stel- lungnahme zur Verfügung stellen. Die nationale Regulierungsbehörde trägt den Stellungnahmen gem. Art. 7 Abs. 5 RahmenRL weitestgehend Rechnung. Die Kommission kann gem. Art. 7 Abs. 4 RahmenRL (Interventi- onsverfahren) in bestimmte Fällen sogar beschließen, die betreffende nationale Regulierungsbehörde aufzufor- dern, den Entwurf zurückzuziehen. Dazu J. Kühling (Fn. 24), S. 418; H.-H. Trute (Fn. 4), S. 574 ff.

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anderen Mitgliedstaats43 und andererseits eine Koordinierung der dezentralen Voll- zugstätigkeit durch die Abstimmung der nationalen Regulierungsbehörden inner- halb eines zentralen Gremiums, wofür im TK-Sektor die Gruppe Europäischer Re- gulierungsstellen für elektronische Kommunikationsnetze- und -dienste eingerich- tet wurde.44

2. Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma als Hintergrund des TK-Regulierungs- verbunds

Hintergrund dieser Verfl echtung ist ein besonderes Kohärenzproblem: An der Netz- zugangsregulierung in der Telekommunikation zeigt sich, dass ein Effektivitätsde- fi zit nicht bloß aus der stets kompromisshaften Wahl der Vollzugsebene innerhalb des europäischen „Mehrebenensystems“ resultiert; deren Defi zite durch vertikale und horizontale Kooperations- und Koordinationsformen zu kompensieren ist, wie gesehen, Zweck des allgemeinen Verwaltungsverbunds. Spezifi sche Kohärenzdefi - zite resultieren vielmehr auch aus der Wahl der Regulierungszuständigkeit inner- halb des nationalen gewaltenteiligen Gefüges. Es macht unter Kohärenzgesichts- punkten einen Unterschied, ob die Vollzugsentscheidungen durch den Gesetz- und Verordnungsgeber materiellrechtlich präzise determiniert und entsprechend ge- richtlich überprüfbar sind, oder ob die Konkretisierung der materiellrechtlichen Re- gulierungsmaßstäbe im Wesentlichen den Regulierungsbehörden obliegt, indem diesen ein weiter Entscheidungsspielraum überlassen wird, den sie individuell nut- zen können und müssen. Nach verbreiteter Auffassung ist Regulierung eine „Gestaltungsaufgabe“, deren Entscheidungsmaßstäbe der behördlichen Fixierung im Verwaltungsverfahren be- dürfen, so dass den Behörden typischerweise Einschätzungsprärogativen zugestan-

43 Gem. Art. 3 Abs. 5 RahmenRL tauschen die nationalen Regulierungs- und Wettbewerbsbehörden untereinander Informationen aus, die für die Anwendung der Bestimmungen der ZugangsRL notwendig sind. Gem. Art. 7 Abs. 2 RahmenRL tragen die nationalen Regulierungsbehörden zur Entwicklung des Binnenmark- tes bei, indem sie miteinander auf transparente Weise kooperieren, um in allen Mitgliedstaaten eine kohärente Anwendung der Richtlinienbestimmungen zu gewährleisten. Zu diesem Zweck versuchen sie insbesondere, Einvernehmen über die am besten geeigneten Mittel und Wege zur Bewältigung besonderer Situationen am Markt zu erreichen. Konkretisiert wird dies in Art. 7 Abs. 3 RahmenRL: Beabsichtigt eine nationale Behörde, Maßnahmen im Bereich des Zugangs (z.B. Art. 5, 10, 12, 13 ZugangsRL) zu ergreifen, muss sie den Regulie- rungsbehörden der anderen Mitgliedstaaten gem. Art. 7 Abs. 3 RahmenRL einen Entwurf der Maßnahme zur Stellungnahme zur Verfügung stellen. Die nationale Regulierungsbehörde trägt den Stellungnahmen gem. Art. 7 Abs. 5 RahmenRL weitestgehend Rechnung. Im Falle länderübergreifender Märkte führen die betreffenden nationalen Regulierungsbehörden gem. Art. 16 Abs. 5 RahmenRL gemeinsam die Marktanalyse nach Art. 16 durch und stellen einvernehmlich fest, ob spezi- fi sche Verpfl ichtungen aufzuerlegen, beizubehalten, zu ändern oder aufzuheben sind. Regulierungsbehörden koordinieren gem. Art. 21 Abs. 2 RahmenRL ihre Maßnahmen bei der Beilegung grenz- überschreitender Streitigkeiten. 44 Beschluss der Kommission zur Einrichtung der Gruppe Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (2002/627/EG), ABl. L 200. Gem. Art. 4 setzt sich die Gruppe aus den Leitern der nationalen Regulierungsstellen oder deren Stellvertretern zusammen; die Kommission ist angemes- sen vertreten und stellt das Sekretariat der Gruppe. Dazu A. Groebel, European Regulators Group (ERG), MMR 2002, XVI.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5555 118.05.20068.05.2006 09:27:0809:27:08 56 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

den werden.45 Ob besonders weitreichende exekutive Spielräume begriffsnotwen- dige Merkmale von Regulierung sind,46 kann hier dahinstehen. Das Gemeinschafts- recht47 sieht jedenfalls bei der TK-Netzzugangsregulierung weite Gestaltungsspiel- räume der nationalen Regulierungsbehörden vor.48 Diese resultieren insbesondere aus der Möglichkeit zur exekutiven „Ex-Ante-Regulierung“, deren materiellrecht- liche Vorprogrammierung sich im Wesentlichen auf eine fi nale Steuerung be- schränkt49 und deren Konkretisierung für den Einzelfall den Regulierungsbehörden überlassen bleibt.50 Sowohl die behördliche Ex-Ante-Kontroll-Befugnis als auch die lediglich fi nale Vollzugsprogrammierung sind Zeichen intensiver administra- tiver Vollzugsbefugnisse.51 Solche fl exibel handhabbaren administrativen Entschei- dungsspielräume gelten als Voraussetzung einer effektiven Regulierung. Tatsäch- lich gibt es gute Gründe, anzunehmen, dass gerade im Bereich der Netzzugangsre- gulierung angesichts dynamischer und komplexer Märkte ein hohes Maß an Regu- lierungsfl exibilität erforderlich ist, um das Regulierungsziel des Netzzugangs effektiv erreichen zu können.52 Wenn eine effektive Netzzugangsregulierung demnach einerseits die Einräumung fl exibel handhabbarer Vollzugsspielräume erfordert, so ist jedoch andererseits ge- rade durch diese Einräumung exekutiver Gestaltungsspielräume unweigerlich die Effektivität des Vollzugs des Gemeinschaftsrechts gefährdet. Wenn viele nationale Regulierungsbehörden ihre Vollzugsspielräume im Einzelfall situationsgerecht fl e- xibel nutzen, führt dies zu effektivitätsgefährdenden Kohärenzverlusten. Es besteht also ein Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma. Hier setzt nun erneut der Verbundgedanke an: Die Kohärenzdefi zite eines fl exiblen Vollzugs sind wiederum durch eine (besonders intensive) Vollzugsverfl echtung zu kompensieren.53 Dass im telekommunikationsrechtlichen Verwaltungsverbund be- sonders starke Verfl echtungselemente auszumachen sind, ist demnach nur folge-

45 E. Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht (Fn. 17), S. 141; speziell für die aktuellen Regulierungsauf- gaben im TK-Sektor H.-H. Trute (Fn. 4), S. 567; zur Regulierung im Energie-Sektor bereits J.-P. Schneider, Liberalisierung der Stromwirtschaft durch regulative Marktorganisation, 1999, S. 36 f. 46 Sehr kritisch T. v. Danwitz, Was ist eigentlich Regulierung?, DÖV 2004, S. 977 ff. 47 Gem. Art. 13 Abs. 1 ZugangsRL kann die Regulierungsbehörde den Netzbetreibern (im Wege der Ex-Ante-Re- gulierung) Verpfl ichtungen betreffend die Kostendeckung und die Preiskontrolle einschließlich kostenorientier- ter Preise auferlegen und ihnen bestimmte Aufl agen in Bezug auf Kostenrechnungsmethoden erteilen. 48 H.-H. Trute (Fn. 4), S. 579. Kritisch zur Einräumung einer behördlichen Beurteilungsermächtigung durch das nationale Recht hingegen T. v. Danwitz, Die gerichtliche Kontrolle der Entgeltregulierung im Post- und Tele- kommunikationsrecht, DVBl 2003, S. 1405 ff. 49 H.-H. Trute (Fn. 4), S. 571; ähnlich bereits ders., Regulierung – am Beispiel des Telekommunikationsrechts, FS Brohm, 2002, S. 169 (173). 50 S. insbes. Art. 8 Abs. 1 RahmenRL. 51 Für die Ex-Ante-Kontrolle C. Berringer, Regulierung als Erscheinungsform der Wirtschaftsaufsicht, 2004, S. 105 m.w.N.; J.-P. Schneider, in: Schneider/Theobald (Hg.), Handbuch zum Recht der Energiewirtschaft, 2003, § 2 Rn. 91. Für die fi nale Vollzugsprogrammierung C. Berringer, ebda, S. 218; E. Schmidt-Aßmann, Allgemei- nes Verwaltungsrecht (Fn. 17), S. 141; M. Bullinger, Regulierung als modernes Instrument zur Ordnung libera- lisierter Wirtschaftszweige, DVBl 2003, S. 1355 (1358). 52 H.-H. Trute, Regulierung (Fn. 49), S. 172 ff.; ders. (Fn. 4), S. 571. Ebenso zur Stromnetzzugangsregulierung J.-P. Schneider, Kooperative Netzzugangsregulierung (Fn. 3), S. 399 ff. Allgemein C. Berringer (Fn. 51), S. 217 f. m.w.N. 53 Sehr deutlich herausgearbeitet von H.-H. Trute/H.C. Röhl (Fn. 4).

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5566 118.05.20068.05.2006 09:27:0809:27:08 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund EuR – Heft 1 – 2006 57

richtig. Die hohe Vollzugsfl exibilität bringt den erhöhten Verfl echtungsbedarf im TK-Regulierungsverbund mit sich.54 Der durch die TK-Richtlinien geschaffene Regulierungsverbund ist darum mit der Monopolkommission tatsächlich als eine neue Form der Kohärenzsicherung anzusehen, die gerade angesichts des durch die besonderen exekutiven Flexibilitätserfordernisse ausgelösten erhöhten Kohärenzsi- cherungsbedarfs notwendig wird.55 Der TK-Regulierungsverbund lässt sich demnach als eine gesteigerte Form des Verwaltungsverbunds begreifen, mit der eine institutionelle Antwort auf das Flexi- bilitäts-Kohärenz-Dilemma der TK-Netzzugangsregulierung gegeben wird.

3. Europäischer Regulierungsverbund als allgemeines Element des europäischen (Regulierungs-)Verwaltungsrechts? Auf der Suche nach allgemeinen Strukturen des europäischen Verwaltungsrechts mag es verlockend erscheinen, im Regulierungsverbund mit seinen anhand des TK- Rechts beschriebenen Merkmalen (Verfl echtungsintensität) und der dort gefunde- nen „Daseinsberechtigung“ (Beantwortung des Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemmas) ein allgemeines Element des Regulierungsrechts zu sehen. Allerdings lässt sich schnell zeigen, dass der so beschriebene europäische Regulierungsverbund kein verallgemeinerungsfähiger Typus des Verwaltungsverbunds ist, der ohne weiteres über den TK-Sektor hinaus als Element des allgemeinen europäischen Regulie- rungsverwaltungsrechts angesehen werden könnte. Will man als Regulierungsver- bünde, wie es die Wortbedeutung nahe legt, alle Verwaltungsverbünde bezeichnen, die Regulierungsaufgaben wahrnehmen, können die eben genannten Merkmale des TK-Regulierungsverbunds weder als notwendige, noch als ausreichende noch als exklusive Merkmale von Regulierungsverbünden gelten: (a.) Die beschriebenen Merkmale sind keine notwendigen Merkmale eines Regu- lierungsverbunds, weil im Regulierungsrecht im weiteren Sinne,56 das wesentlich mehr umfasst als bloß die Zugangsregulierung in den Netzwirtschaften,57 Formen der europäischen Verbundverwaltung denkbar sind, die keineswegs diesen Intensi- tätsgrad erreichen müssen.58 Gleichwohl kann es sich dabei um Verwaltungsver-

54 Zum engen Zusammenhang zwischen fl exibler Struktur und erhöhtem Steuerungs- und Kontrollbedarf auch E. Schmidt-Aßmann, Der Europäische Verwaltungsverbund (Fn. 3), S. 15. 55 S.o. Fn. 37 sowie H.-H. Trute (Fn. 4), S. 568. 56 S. zum (nicht feststehenden) Begriff des Regulierungsrechts die Nachweise in G. Britz, „Kommunale Gewähr- leistungsverantwortung“ – Ein allgemeines Element des Regulierungsrechts in Europa?, Die Verwaltung 2004, S. 145 ff. Aus neuerer Zeit C. Berringer (Fn. 51), S. 81 ff.; J. Kühling, (Fn. 24), S. 11 ff. 57 S. nur C. Berringer (Fn. 51), S. 116, der zu Recht feststellt, es bestehe keine wesensmäßige Verknüpfung von „Regulierung“ mit dem Infrastrukturbereich. 58 Ein Beispiel bildet die Sicherstellung der Grundversorgung der Haushaltskunden mit Strom, also „das Recht auf Versorgung mit Elektrizität einer bestimmten Qualität zu angemessenen … Preisen“, die gem. Art. 3 Abs. 3 EltRL den Mitgliedstaaten obliegt. Die Tarifkontrolle über die Endverbraucherpreise bei Strom erfolgt durch die nationalen Aufsichtsbehörden. Die Kommission hat hier Überwachungs-, Analysierungs- und Empfehlungs- aufgaben nach Art. 28 Abs. 2 EltRL und kann außerdem im Rahmen der allgemeinen Wettbewerbsaufsicht nach Art. 82 EG tätig werden. Die Verfl echtung beschränkt sich im Wesentlichen auf Berichtspfl ichten der Mitglied- staaten gegenüber der Kommission nach Art. 3 Abs. 9 und Art. 4 EltRL.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5577 118.05.20068.05.2006 09:27:0809:27:08 58 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

bünde mit Regulierungsfunktion handeln, so dass man auch diese mit Fug und Recht als Regulierungsverbünde bezeichnen kann.

(b.) Die beschriebenen Merkmale sind keine ausreichenden Merkmale, weil schon der TK-Regulierungsverbund weitere, für diesen prägende, Verfl echtungsmerkmale aufweist. Prägend ist etwa neben der genannten horizontalen Koordinierung (s.o. 1.) auch die vertikale interbehördliche Koordinierung innerhalb der Gruppe Euro- päischer Regulierungsstellen.59

(c.) Die beschriebenen Merkmale sind auch keine exklusiven Merkmale, weil es auch außerhalb des Regulierungsverwaltungsrechts ähnlich intensive Formen des Verwaltungsverbunds gibt, denen ähnlich weite Vollzugspielräume der Behörden zugrunde liegen60 und die sich zum Teil derselben Verfl echtungsinstrumente bedie- nen.61 Weite Vollzugsspielräume und intensive Verfl echtung sind also keine Spezi- fi ka allein der regulierenden Verwaltung. Zu untersuchen bleibt, inwieweit wenigstens von einem „netzzugangstypischen Re- gulierungsverbund“ gesprochen werden kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Merkmale des TK-Regulierungsverbunds bei der institutionellen Ausgestaltung der Netzzugangsregulierung auch in den anderen Netzwirtschaften anzutreffen sind. Strukturelle Übereinstimmungen des institutionellen Vollzugsgefüges der Netzzu- gangsregulierung sollen nun am Energie- und am Bahnsektor untersucht werden.

IV. Die Verbundstrukturen der Netzzugangsregulierung im Energiesektor

Ob sich die Charakteristika des TK-Regulierungsverbunds auch im institutionellen Vollzugsgefüge für den Netzzugang in anderen Sektoren nachweisen lassen, soll nun zunächst an der Energienetzzugangsregulierung untersucht werden. Weil das Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma soeben als Erklärung des TK-Regulierungsver- bunds diente, ist zwecks Überprüfung der Vergleichbarkeit der beiden Sektoren vorab der exekutive Regulierungsspielraum zu betrachten, der den Regulierungsbe- hörden im Energiesektor verbleibt (1.). Anschließend ist die Aufgabenverteilung zwischen zentraler und dezentraler Ebene zu beschreiben („Vollzugsteilung“) (2.).

59 S. Art. 3 S. 2 Beschluss der Kommission zur Einrichtung der Gruppe Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste (2002/627/EG), ABl. L 200: „Die Gruppe soll eine Schnitt- stelle zwischen den nationalen Regulierungsbehörden und der Kommission bilden, um beizutragen zur Ent- wicklung des Binnenmarkts und zur einheitlichen Anwendung des neuen Rechtsrahmens für elektronische Kommunikationsnetze und -dienste in allen Mitgliedstaaten.“ S. auch Art. 5 1. UA: „Aus eigener Initiative oder auf Anforderung der Kommission berät und unterstützt die Gruppe die Kommission in allen Fragen bezüglich elektronischer Kommunikationsnetze und -dienste.“ 60 So hat etwa H. C. Röhl (Fn. 16), S. 42 f., auch bei der Arzneimittelzulassung und im Lebensmittelrecht die Ver- wendung von Modellen der Verwaltungskooperation auf Flexibilitätserfordernisse des Vollzugs zurückgeführt. 61 Für die europäische Strukturfondsverwaltung B. Schöndorf-Haubold (Fn. 8); für das europäische Umweltrecht J. Sommer (Fn. 31); für das europäische Veterinäre- und Lebensmittelrecht K. Knipschild, in: E. Schmidt-Aß- mann/B. Schöndorf-Haubold (Hg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005, S. 87 (97 f.). S. außerdem die Übersicht über interadministrative Verbindungen in verschiedenen Sektoren bei J. Hofmann (Fn. 3), S. 55 ff.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5588 118.05.20068.05.2006 09:27:0809:27:08 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund EuR – Heft 1 – 2006 59

Sodann sind die wechselseitigen Kooperationspfl ichten und Einwirkungsmöglich- keiten zu analysieren („Vollzugsverfl echtung“) (3.).

1. Materiellrechtliche Vollzugsprogrammierung und verbleibende exekutive Regulierungsspielräume

Welche Gestaltungsspielräume den Regulierungsbehörden bleiben, richtet sich vor allem nach der Intensität der materiellrechtlichen Vollzugsprogrammierung durch primäres und sekundäres Gemeinschaftsrecht sowie durch nationales Umsetzungs- recht. Die materiellrechtliche Programmierung der Netzzugangsregulierung ist beim Energienetzzugang auf Richtlinienebene vergleichsweise schwach. Der Regu- lierungsauftrag an die Regulierungsbehörden ist im Wesentlichen fi nal formuliert: Gem. Art. 23 Abs. 1 EltRL62 und Art. 25 Abs. 1 GasRL63 haben die Regulierungs- behörden „die Aufgabe, Nichtdiskriminierung, echten Wettbewerb und ein effi zi- entes Funktionieren des Markts sicherzustellen“. Die Richtlinien sind insbesondere bei der Nennung von Preisbildungskriterien für das Netznutzungsentgelt sehr zu- rückhaltend. Es müssen gem. Art. 20 Abs. 1 S. 1 EltRL und Art. 18 Abs. 1 S. 1 GasRL lediglich „objektive Kriterien“ angewandt und Diskriminierung vermieden werden. Deutlicher wird die StromhandelsVO,64 die allerdings nur den Zugang für eine grenzüberschreitende Übertragung betrifft.65 Hintergrund der Stromhandels- verordnung ist, dass der grenzüberschreitende Stromhandel und -wettbewerb nach wie vor besonders schwach ausgeprägt ist.66 Als besonders problematisch gelten die Bestimmung des Netznutzungsentgelts für den grenzüberschreitenden Strom- transport und die Zuteilung knapper Kapazitäten an den eigens für den grenzüber- schreitenden Transit bestehenden Verbindungsleitungen. Diesbezüglich trifft die StromhandelsVO präzisere Regelungen als die Richtlinien. Gem. Art. 4 Abs. 1 StromhandelsVO müssen die Entgelte, die die Netzbetreiber für den Zugang zu den Netzen berechnen, transparent sein, der Notwendigkeit der Netzsicherheit Rech- nung tragen und die tatsächlichen Kosten insofern widerspiegeln, als sie denen eines effi zienten und strukturell vergleichbaren Netzbetreibers entsprechen, und ohne Diskriminierung angewandt werden. Diese Entgelte dürfen nicht entfernungs- abhängig sein. Weitere Anhaltspunkte für die inhaltliche Ausgestaltung des Zu- gangs zu den Verbindungsleitungen fi nden sich in den Leitlinien für die Verwaltung und Zuweisung verfügbarer Übertragungskapazität von Verbindungsleitungen zwi-

62 Richtlinie 2003/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über gemeinsame Vor- schriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 96/92/EG, ABl. L 176/37. 63 Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt, ABl. L 204/1. 64 Verordnung (EG) Nr. 1228/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 über die Netz- zugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel, ABl. L 176/1. 65 S. jetzt auch Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1775/2005 über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgas- fernleitungen, KOM (2003) 741 endg. 66 Dazu H. Lecheler/J. Gundel, Die Beschleunigungsrechtsakte für den Binnenmarkt für Strom und Gas, EuZW 2003, S. 621 (627 f.).

11_06_innen.indd_06_innen.indd 5599 118.05.20068.05.2006 09:27:0809:27:08 60 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

schen nationalen Netzen, die als Anhang zur StromhandelsVO deren Verordnungs- charakter teilen. Allerdings gelten alle Kriterien der StromhandelsVO wie gesagt lediglich für den grenzüberschreitenden Netzzugang zu den Übertragungsnetzen.67 Für den Zugang im Übrigen bleibt es hingegen bei der zurückhaltenden materiell- rechtlichen Vorprogrammierung durch die Richtlinien. Gemeinschaftsrechtlich ist auch nicht vorgesehen, dass der nationale Gesetz- oder Verordnungsgeber eine sehr viel stärkere Programmierung vornimmt. Die Richtli- nien legen es vielmehr nahe, die Ausfüllung des Gestaltungsspielraums den natio- nalen Behörden zu überlassen.68 Gem. Art. 23 Abs. 2 EltRL und Art. 25 Abs. 2 GasRL obliegt es den Regulierungsbehörden, zumindest die Methoden zur Berech- nung oder Festlegung der Netzzugangsbedingungen vor deren Inkrafttreten festzu- legen oder zu genehmigen. Auf die herausgehobene Stellung der Regulierungsbe- hörden weisen auch der 15. Erwägungsgrund der EltRL und der 13. Erwägungs- grund der GasRL hin, wonach der wirksamen Regulierung durch eine oder mehre- re nationale Regulierungsbehörden eine Schlüsselrolle bei der Gewährleistung eines nichtdiskriminierenden Netzzugangs zukommt. Im deutschen Recht haben sich Gesetz- und Verordnungsgeber nun allerdings dafür entschieden, die materiellrechtlichen Maßstäbe für die Netzzugangsregulierung insbesondere hinsichtlich der Höhe der Netznutzungsentgelte recht präzise vorzu- geben. So wird die Bundesregierung durch § 24 EnWG ermächtigt, durch Rechts- verordnung die Bedingungen für den Netzzugang einschließlich der Beschaffung und Erbringung von Ausgleichsleistungen oder Methoden zur Bestimmung dieser Bedingungen sowie Methoden zur Bestimmung der Entgelte für den Netzzugang festzulegen. Auch soll die im Vorfeld politisch besonders kontrovers debattierte sog. Anreizregulierung gem. § 21a Abs. 6 EnWG nach Maßgabe einer Verordnung erfolgen. Wenngleich diese detaillierte materiellrechtliche Regulierungsprogram- mierung durch Gesetz- und Verordnungsgeber kaum den Vorstellungen des Ge- meinschaftsgesetzgebers entsprechen dürfte, der das Gros der Regulierungstätig- keit wie gesehen als exekutive Aufgabe bei den nationalen Behörden verortet, so ist die höhere Regelungsdichte nach dem neuen EnWG gemeinschaftsrechtlich wohl nicht zu beanstanden. Allerdings schwächt dies die Regulierungsbehörde, deren gemeinschaftsrechtlich intendierte Regulierungsfl exibilität auf diese Weise einge- schränkt wird.

67 Zu Rückwirkungen auf die Regulierung des Zugangs zu den nationalen Netzen s.u. 3.b. (1.) bei Fn. 76. 68 Dazu näher J.-P. Schneider, Kooperative Netzzugangsregulierung (Fn. 3), S. 394; G. Britz, Erweiterung des In- strumentariums administrativer Normsetzung zur Realisierung gemeinschaftsrechtlicher Regulierungsaufträge, EuZW 2004, S. 426 ff.; dies., Markt(er)öffnung durch Regulierung, FS von Zezschwitz, 2005, S. 374 (378 ff. m.w.N.).

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2. Vollzugsteilung

a) Regulierungsaufgaben auf zentraler Ebene

(1.) Die Kommission hat bei der Energie-Netzzugangsregulierung einige eigene Aufgaben wahrzunehmen.

(a.) Sie besitzt nach der StromhandelsVO Zuständigkeiten im Bereich des Zugangs zu den Elektrizitäts-Verbindungsleitungen zwischen den Mitgliedstaaten: Generell überwacht die Kommission gem. Art. 14 die Anwendung der StromhandelsVO. Dies ist allerdings keine netzwirtschaftsspezifi sche Aufgabe, sondern entspricht der in Art. 211, 226 EG ohnehin angelegten Überwachungsfunktion.69 Daneben hat die Kommission gewichtige Einzelaufgaben: Gem. Art. 3 Abs. 4 StromhandelsVO ent- scheidet die Kommission über die Höhe der zu leistenden Ausgleichszahlungen, die die Übertragungsnetzbetreiber nach Art. 3 Abs. 1 StromhandelsVO wegen der Kosten erhalten, die durch grenzüberschreitende Stromfl üsse über ihre Netze ent- stehen. Die Entscheidung zu den Ausgleichszahlungen ist allerdings nicht zu ver- wechseln mit Regulierungsbefugnissen bezüglich des Netznutzungsentgelts, die den Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten obliegen (s.u., 2.b.). Potentiell von besonderer Bedeutung sind die – bislang noch nicht genutzten – Normierungsbe- fugnisse, die die Kommission nach Art. 8 StromhandelsVO im Wege des Komito- logieverfahrens (Regelungsverfahren) wahrnehmen kann: Gem. Art. 8 Abs. 1 StromhandelsVO erlässt und ändert die Kommission Leitlinien zu Fragen hinsicht- lich des o.g. Ausgleichsmechanismus. Die Regulierungsbehörden der Mitgliedstaa- ten haben gem. Art. 9 StromhandelsVO für die Einhaltung dieser Leitlinien zu sor- gen. Gem. Art. 8 Abs. 4 StromhandelsVO ändert die Kommission zudem gegebe- nenfalls die im Anhang der Verordnung aufgeführten Leitlinien für die Verwaltung und Zuweisung verfügbarer Übertragungskapazität von Verbindungsleitungen zwi- schen nationalen Netzen. Da diese Leitlinien als Anhang der Verordnung den Ver- ordnungscharakter teilen, kann die Kommission hiernach unmittelbar geltendes sekundäres Gemeinschaftsrecht setzen, dessen Anwendungsvorrang die nationalen Regulierungsbehörden zu beachten haben.70 Streng genommen kann insoweit von einer exekutiven Regulierungsaufgabe nicht mehr gesprochen werden, weil die Kommission hier legislativ tätig wird.

(b.) Bei der Regulierung des Zugangs zu den nationalen Netzen hat die Kommissi- on nach der EltRL und der GasRL lediglich „Randbefugnisse“. Sie ist gem. Art. 26 Abs. 1 EltRL und Art. 28 Abs. 5 GasRL dafür zuständig, auf Antrag der Mitglied- staaten Ausnahmen von den Marktöffnungsvorschriften für kleine, isolierte Netze

69 Dazu etwa P. M. Huber (Fn. 2), S. 129. 70 Kritisch zur entsprechenden Regelung im Verordnungsentwurf über die Bedingungen für den Zugang zu den Erdgasfernleitungen C. Koenig, NuR 2005, S. 44, der die Kommission wegen dieser Eingriffsmöglichkeiten als „Superregulierer“ bezeichnet.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 6611 118.05.20068.05.2006 09:27:0909:27:09 62 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

(Strom), bzw. entstehende und isolierte Märkte (Gas) zu gewähren. Bei allen sons- tigen Ausnahme- und Freistellungsregelungen entscheidet der Mitgliedstaat oder die nationale Regulierungsbehörde selbst; allerdings wird die Kommission in diese Entscheidung durch ein Vetorecht eingeschaltet (s.u. 3.b.). Generell überwacht und überprüft die Kommission – insoweit wiederum nicht über Art. 211, 226 EG hin- ausgehend – gem. Art. 28 Abs. 1 EltRL und Art. 31 Abs. 1 GasRL die Anwendung dieser Richtlinien.

(2.) Im Energierecht scheint es mit der „Gruppe der europäischen Regulierungsbe- hörden für Elektrizität und Erdgas“ neben Kommission und Mitgliedstaaten einen dritten Regulierungs-Akteur zu geben. Diese Gruppe wurde mit Beschluss der Kommission vom 11.11.2003 (ERGEG-Beschluss)71 eingesetzt. Die Gruppe setzt sich gem. Art. 2 Abs. 1 des Beschlusses aus den Leitern der nationalen Regulie- rungsbehörden oder deren Vertretern zusammen. Gem. Art. 2 Abs. 4 ist die Kom- mission bei den Sitzungen der Gruppe vertreten. Unmittelbar außenwirksame Re- gulierungsaufgaben hat die Gruppe allerdings nicht wahrzunehmen.72 Darum ist sie weniger als eigenständiger Akteur im Netzzuggangsregulierungsgefüge anzuse- hen, sondern vielmehr als ein Instrument zur Koordinierung und Kooperation der Kommission und der Mitgliedstaaten und ihrer Behörden (s.u. 3.a. und 3.b.).

b) Regulierungsaufgaben auf dezentraler Ebene (1.) Nach der EltRL und der GasRL obliegen die Regulierungsaufgaben im Bereich des Zugangs zu den nationalen Netzen hauptsächlich den nationalen Regulierungs- behörden. Gem. Art. 23 Abs. 1 EltRL und 25 Abs. 1 GasRL betrauen die Mitglied- staaten eine oder mehrere zuständige Stellen mit der Aufgabe als Regulierungsbe- hörde. Die Regulierungsbehörden haben die Aufgabe, Nichtdiskriminierung, echten Wettbewerb und ein effi zientes Funktionieren des Markts sicherzustellen. Die Richt- linien sehen für die Regulierungsbehörden im Energiebereich vergleichsweise weit- gehende Regulierungsaufgaben vor. Zum einen verlangen Art. 23 Abs. 2 EltRL und Art. 25 Abs. 2 GasRL eine Ex-Ante-Kontrolle der Netzzugangsbedingungen: Den Regulierungsbehörden obliegt es danach, zumindest die Methoden zur Berechnung oder Festlegung der Bedingungen für den Anschluss an und den Zugang zu den na- tionalen Netzen, einschließlich der Tarife für die Übertragung und die Verteilung wie auch die Bedingungen für die Erbringung von Ausgleichsleistungen vor deren Inkrafttreten festzulegen oder zu genehmigen. Hinzu tritt eine Ex-post-Kontrolle der Netzzugangsbedingungen: Gem. Art. 23 Abs. 4 EltRL und Art. 25 Abs. 4 Gas- RL sind die Regulierungsbehörden befugt, falls erforderlich von den Betreibern der Übertragungs- und Verteilernetze zu verlangen, die Bedingungen, Tarife, Regeln, Mechanismen und Methoden zu ändern, um sicherzustellen, dass diese angemessen

71 Beschluss der Kommission zur Einsetzung der Gruppe der europäischen Regulierungsbehörden für Elektrizität und Erdgas (2003/796). 72 Zu den faktischen Wirkungen der von den Foren formulierten, unverbindlichen Leitlinien F. Arndt (Fn. 4).

11_06_innen.indd_06_innen.indd 6622 118.05.20068.05.2006 09:27:0909:27:09 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund EuR – Heft 1 – 2006 63

sind und nichtdiskriminierend angewendet werden. Nach Art. 23 Abs. 5 EltRL und Art. 25 Abs. 5 GasRL kann zudem jeder Betroffene, der eine Beschwerde gegen einen Übertragungs- oder Verteilernetzbetreiber hat, die Regulierungsbehörde da- mit befassen. Weiterhin entscheiden die Regulierungsbehörden über die für be- stimmte Fälle ermöglichten Ausnahmen und Freistellungen von den Netzzugangs- pfl ichten (Art. 24 EltRL, Art. 22, 26, 27, 28 Abs. 1 und Abs. 2 GasRL). Den Regulierungsbehörden kommen hier somit umfassende Regulierungsaufgaben zu. Diese sind angesichts der schwachen materiellrechtlichen Vorprogrammierung durch das Gemeinschaftsrecht von besonderer Tragweite. Der deutsche Gesetzge- ber hat diesen Spielraum nun allerdings, wie gesehen, beschnitten. (2.) Ein beachtlicher Aufgabenbereich obliegt den Regulierungsbehörden nach der StromhandelsVO auch bei der Regulierung des Zugangs zu den grenzüberschrei- tenden Verbindungsleitungen: Die Regulierungsbehörde kann auch hier gem. Art. 7 Abs. 4 lit.a StromhandelsVO von Fall zu Fall über Ausnahmen für neue Gleich- strom-Verbindungsleitungen von bestimmten Pfl ichten, insbesondere der Pfl icht zur Gewährung des Netzzugangs, entscheiden. Vor allem haben die nationalen Re- gulierungsbehörden aber gem. Art. 9 StromhandelsVO für die Einhaltung der Ver- ordnung und der Leitlinien nach Art. 8 StromhandelsVO zu sorgen. Sie haben da- mit insbesondere darüber zu wachen, dass die Netzbetreiber ihren Verpfl ichtungen bezüglich der angemessenen Zuweisung von Verbindungskapazitäten und – damit zusammenhängend – des Engpassmanagements nachkommen (s. Art. 5, 6 Strom- handelsVO sowie die als Anhang ergangenen Leitlinien).73

c) Zwischenergebnis Insgesamt ist im Energiesektor also wie bei der TK-Regulierung eine verbundsty- pische Aufgabenteilung zwischen zentraler und dezentraler Ebene zu beobachten, wobei in beiden Sektoren die dezentrale Aufgabenwahrnehmung überwiegt.

3. Vollzugsverfl echtung Auch im Energiesektor bestehen bei der Netzzugangsregulierung intensive Voll- zugsverfl echtungen. Die am Vollzug des Gemeinschaftsrechts Beteiligten agieren nicht völlig autark, sondern unterliegen häufi g wechselseitigen Einwirkungsmög- lichkeiten und Kooperationspfl ichten.

a) Verfl echtungen im zentralen Aufgabenbereich Organisatorische und verfahrensmäßige Verfl echtungen sind auf der zentralen Auf- gabenwahrnehmungsebene durch die Einführung von – nicht netzwirtschaftsspezi-

73 Näher zu den hiermit angesprochenen Pfl ichten der Netzbetreiber und den Aufgaben der nationalen Regulie- rungsbehörden G. Britz, Markt(er)öffnung durch Regulierung, FS von Zezschwitz, 2005, S. 374 (382 f.); s. auch H. Schroeder-Czaja, Integration Mittelosteuropas in den Elektrizitätsbinnenmarkt, 2004, S. 237 f.; J.-P. Schneider (Fn. 51), § 2 Rn. 95 ff.

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fi schen74 – Komitologieverfahren entstanden. Im Gassektor wird die Kommission gem. dem neu aufgenommenen Art. 30 GasRL von einem Komitologieausschuss unterstützt, der sich nach dem Komitologiebeschluss75 aus Vertretern der Mitglied- staaten zusammensetzt. Das Komitologieverfahren kommt insbesondere dann zur Anwendung, wenn die Kommission ihr Vetorecht gegen nationale Ausnahmeent- scheidungen bezüglich der Netzzugangsverpfl ichtung ausübt (Art. 22 Abs. 4, 27 Abs. 2 GasRL). Die EltRL kennt hingegen keinen eigenen Komitologieausschuss. Jedoch sieht Art. 13 StromhandelsVO für die Regulierung des Zugangs zu den Ver- bindungsleitungen wiederum die Einrichtung eines Komitologieausschusses zur Unterstützung der Kommission vor. Das Komitologieverfahren kommt erstens gem. Art. 3 Abs. 4 StromhandelsVO bei den Kommissionsentscheidungen zur Höhe der zu leistenden Ausgleichszahlungen zur Anwendung. Zweitens ist das Komitologie- verfahren auch hier im Rahmen der Ausübung des Vetorechts gegen nationale Aus- nahmen von der Netzzugangspfl icht bezüglich neuer Verbindungsleitungen vorge- sehen (Art. 7 Abs. 5 StrohmhandelsVO). Drittens ist der Komitologieausschuss an der Ausarbeitung und Änderung der Leitlinien beteiligt (Art. 8 Abs. 1, Abs. 4 StromhandelsVO, s.o. 2.a. (1.) (a.)). Eine weitere organisatorische Verfl echtung ergibt sich aus der Einrichtung der Gruppe der Regulierungsbehörden. Gem. Art. 1 Abs. 2 des ERGEG-Beschlusses berät und unterstützt die Gruppe die Kommission auf deren Aufforderung oder aus eigener Initiative bei der Festigung des Energiebinnenmarkts, insbesondere bei der Ausarbeitung von Entwürfen für Durchführungsmaßnahmen im Bereich der Elek- trizität und des Erdgases sowie in Fragen des Elektrizitäts- und des Erdgasbinnen- markts. So können die nationalen Regulierungsbehörden über die Gruppe der nati- onalen Regulierungsbehörden Einfl uss auf die Kommission nehmen. Darüber hinaus bestehen für die Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben der Kommission verfahrensmäßige Verschränkungen informationeller Art mit der mit- gliedstaatlichen Ebene: Gem. Art. 10 Abs. 1 StromhandelsVO übermitteln die Mit- gliedstaaten und die Regulierungsbehörden der Kommission auf Anforderung alle für die Festsetzung der Höhe der Ausgleichszahlungen und für den Erlass der Leit- linien erforderlichen Informationen.

b) Verfl echtungen im dezentralen Aufgabenbereich

Im Zuständigkeitsbereich der nationalen Behörden sind verschiedene Formen der vertikalen und der horizontalen Verfl echtung vorgesehen. Art. 23 Abs. 12 StromRL und Art. 25 Abs. 12 GasRL statuieren zunächst eine recht unspezifi sche vertikale und horizontale Kooperationsverpfl ichtung: Die nationalen Regulierungsbehörden

74 Allgemein zur Mitwirkung nationaler Behörden an Maßnahmen der Kommission im Komitologieverfahren et- wa P. M. Huber (Fn. 2), S. 132 ff. 75 Beschluss des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Ausübung der der Kommission übertragenen Durch- führungsbefugnisse (1999/468).

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tragen danach zur Entwicklung des Binnenmarkts und zur Schaffung gleicher Wett- bewerbsbedingungen durch transparente Zusammenarbeit untereinander und mit der Kommission bei.

(1.) Für die vertikalen Beziehungen zur Kommission lässt sich die Verfl echtung grob in drei Formen fassen: Erstens ist der Kommission durch Vetorechte gegen Ausnahme- und Freistellungsentscheidungen der nationalen Regulierungsbehörden Einfl uss auf die Entscheidungen der nationalen Behörden eingeräumt. Gewähren die Regulierungsbehörden nach Art. 24 EltRL, 22 Abs. 3, 26 Abs. 1 oder 27 GasRL Ausnahmen oder Freistellungen von den Netzöffnungspfl ichten, so müssen sie der Kommission hierüber Mitteilung machen und die Kommission kann die Aufhebung oder Abänderung der nationalen Maßnahme verlangen. Auch gem. Art. 7 Abs. 5 StromhandelsVO verfügt die Kommission über ein Vetorecht gegen Entschei- dungen der nationalen Behörde über eine Ausnahme für Gleichstrom-Verbindungs- leitungen von der Netzzugangspfl icht. Zweitens unterliegen die Mitgliedstaaten und deren Regulierungsbehörden zahl- reichen Mitteilungs-, Informations- und Berichtspfl ichten gegenüber der Kommissi- on. So müssen die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten etwa gem. Art. 23 Abs. 8 2. UA EltRL der Kommission bis zum Jahr 2010 jährlich zum 31. Juli in Übereinstimmung mit dem Wettbewerbsrecht einen Bericht über Marktbeherr- schung, Verdrängungspraktiken und wettbewerbsfeindliches Verhalten unterbreiten. Drittens kann die Kommission, sofern der Zugang zu den Verbindungsleitungen betroffen ist, wie bereits angedeutet wurde, über eine normative Steuerung Einfl uss auf die Tätigkeit der nationalen Regulierungsbehörden nehmen. Gem. Art. 8 Abs. 4 StromhandelsVO ändert die Kommission gegebenenfalls die im Anhang aufgeführ- ten Leitlinien für die Verwaltung und Zuweisung verfügbarer Übertragungskapazi- tät von Verbindungsleitungen zwischen nationalen Netzen. Dies tut sie insbesonde- re, um detaillierte Leitlinien für alle in der Praxis angewandten Kapazitätszuwei- sungsmethoden einzubeziehen und sicherzustellen, dass sich die Weiterentwick- lung der Engpassmanagement-Mechanismen im Einklang mit den Zielen des Binnenmarktes vollzieht. Dabei soll die Kommission dafür Sorge tragen, dass die Leitlinien das Mindestmaß an Harmonisierung bewirken, das zur Erreichung der Ziele der Verordnung erforderlich ist; sie soll allerdings nicht über das erforder- liche Maß hinaus gehen. Dieses Harmonisierungsziel ist auch in Art. 8 Abs. 3 der VO angesprochen: Gem. Art. 8 Abs. 3 StromhandelsVO enthalten die Leitlinien auch geeignete Regeln für eine schrittweise Harmonisierung der zugrunde liegen- den Grundsätze für die Festsetzung der nach den nationalen Tarifsystemen von Er- zeugern und Verbrauchern zu zahlenden Entgelte. Dabei geht es zwar zunächst nur um die Tarifsysteme für die Nutzung zur grenzüberschreitenden Übertragung. Die Steuerung der Preisbildung beim Netzzugang zu den Verbindungsleitungen kann jedoch mittelbar auch die Tarifsysteme für den rein innerstaatlichen Zugang zu den Netzen beeinfl ussen. Ein mittelbarer Einfl uss ergibt sich vor allem daraus, dass es die Kommission bei der Überwachung des richtlinienkonformen Vollzugs der die

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nationalen Netze betreffenden Netzzugangsvorschriften kaum akzeptieren dürfte, wenn nationale Tarifsysteme nach ganz anderen Kriterien gebildet sind als es die Leitlinien für den grenzüberschreitenden Zugang vorgeben.76

(2.) Für die horizontale Kooperation fi nden sich in den Richtlinien über die o.g. Generalklauseln hinaus keine spezifi schen Normierungen. Jedoch sieht Art. 7 Abs. 4 lit. e StromhandelsVO vor, dass jede Entscheidung zur Gewährung einer Ausnah- me – insbes. von den Netzzugangspfl ichten – für neue Gleichstromverbindungslei- tungen nach Konsultation der anderen betroffenen Mitgliedstaaten oder Regulie- rungsbehörden getroffen wird. An eine Bindung an die Stellungnahme – wie im TK-Recht – ist hier wohl allerdings nicht gedacht. Art. 9 StromhandelsVO be- stimmt zudem, dass die Regulierungsbehörden untereinander zusammenarbeiten, soweit dies zur Verwirklichung der Ziele dieser VO angebracht ist. Als besonders wichtiges Koordinierungsinstrument ist darüber hinaus die ERGEG anzusehen, die gem. Art. 1 Abs. 2 des Beschlusses auch die Konsultation, Koordi- nation und Kooperation zwischen den nationalen Regulierungsbehörden erleich- tern soll, um zu einer einheitlichen Anwendung der Energiebinnenmarktrichtlinien, der StromhandelVO sowie etwaiger künftiger Gemeinschaftsvorschriften im Be- reich der Elektrizität und des Erdgases in allen Mitgliedstaaten beizutragen. Offen- bar wurde der transnationale Koordinierungsbedarf zwischen den Regulierungsbe- hörden hier – wie im TK-Recht – für besonders wichtig gehalten.77 Der Einsetzung dieser Gruppe vorausgegangen waren bereits die Tätigkeiten des Europäischen Forums für Elektrizitätsregulierung und des Europäischen Forums für Erdgasregu- lierung.78 Beide Foren haben informellen Charakter. Mit dem ERGEG-Beschluss wurde der Kooperation und Koordination im Bereich der Regulierung ein for- mellerer Rahmen verliehen, um die Vollendung des Energiebinnenmarkts zu er- leichtern (6. Erwägungsgrund des Beschlusses). Ausdrücklich erklärter Zweck der in einem formellen Rahmen institutionalisierten Zusammenarbeit der Regulie- rungsbehörden ist es, die notwendige Regulierungsfl exibilität der dezentralen Ebe- ne einerseits und die Notwendigkeit einheitlicher Anwendung der Vorschriften an- dererseits miteinander in Einklang zu bringen.79 Das aus der TK-Regulierung be- kannte Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma80 wird hiermit also gezielt aufgegriffen und einer institutionellen Lösung zugeführt.

76 Vgl. F. Arndt (Fn. 4), S. 7; S. Neveling, Europäisches Energierecht, in: Danner/Theobald (Hg.), Energierecht, Std. 47. EL, Rn. 138. 77 Ein Vergleich der Kooperation der Regulierungsbehörden im Bereich der Energie und der Telekommunika- tion fi ndet sich bei K. Herzmann, Zur Kooperation der Energieregulierungsbehörden in Europa, ZNER 2005, S. 216 ff.. 78 Dazu F. Arndt (Fn. 4); C. Held/J. Prat (Fn. 4). 79 Der 4. Erwägungsgrund des Beschlusses lautet: „ Die Richtlinien 2003/54/EG und 2003/55 /EG setzen Ziele und bilden einen Handlungsrahmen für Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene, ermöglichen aber in bestimm- ten Bereichen die fl exible Anwendung der Vorschriften entsprechend den einzelstaatlichen Gegebenheiten. Die einheitliche Anwendung der einschlägigen Vorschriften in allen Mitgliedstaaten ist für die erfolgreiche Ent- wicklung eines Energiebinnenmarkts von entscheidender Bedeutung“. 80 Zu diesem Spannungsverhältnis bei der Energienetzzugangsregulierung auch F. Arndt (Fn. 4).

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4. Auswertung

Exekutiver Regulierungsspielraum: Betrachtet man allein die Richtlinien, müssten beim Energienetzzugang große exekutive Regulierungsspielräume bestehen, so dass sich aus Sicht des Gemeinschaftsrechts wie im TK-Recht das Flexibilitäts-Ko- härenz-Dilemma stellen müsste. In Deutschland wird der administrative Gestal- tungsspielraum allerdings vom Gesetz- und Verordnungsgeber durch vergleichs- weise detaillierte materiellrechtliche Vorgaben erheblich eingeengt. Vollzugsteilung: Das Gemeinschaftsrecht überlässt die exekutive Netzzugangsregu- lierung weitgehend nationalen Behörden und folgt damit dem Leitbild des indi- rekten Gemeinschaftsrechtsvollzugs durch die Mitgliedstaaten. Gleichwohl sind auch hier Züge der verbundstypischen Vollzugsteilung zu beobachten: Eigene Auf- gaben nimmt die Kommission insbes. nach der StromhandelsVO bezüglich der Hö- he der Ausgleichszahlungen für grenzüberschreitende Stromfl üsse wahr. Vollzugsverfl echtung: Es bestehen verschiedene Formen der Vollzugsverfl echtung. In vertikaler Hinsicht verfügt die Kommission über gewisse Vetorechte. Daneben beste- hen nach der StromhandelsVO wie bei der TK-Regulierung mit der Leitlinienkom- petenz der Kommission hierarchische Vollzugsprogrammierungsmöglichkeiten. Hervorzuheben sind die horizontalen Verfl echtungen zwischen den Mitgliedstaa- ten. Diese sind zwar mangels transnationaler Behördenbindung schwächer als im TK-Sektor. Mit der Einrichtung der ERGEG sind sie gleichwohl institutionell stär- ker ausgeprägt als etwa im Bahnsektor (s.u.). Die Einrichtung der ERGEG ist aus- weislich der Erwägungsgründe zum Einsetzungsbeschluss eine Reaktion auf die den nationalen Regulierungsbehörden nach den beiden Binnenmarktrichtlinien ver- bleibende Regulierungsfl exibilität. Die Gruppe soll angesichts dieser Flexibilität das erforderlich Maß an Einheitlichkeit der Rechtsanwendung herstellen. Der Energieregulierungsverbund ist damit dem TK-Regulierungsverbund sehr ähn- lich. Er bietet ebenfalls eine institutionelle Antwort auf das in den Richtlinien an- gelegte Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma.

V. Die Verbundstrukturen der Netzzugangsregulierung im Bahnsektor

Auch im institutionellen Vollzugsgefüge der Netzzugangsregulierung im Eisenbahn- sektor lassen sich intensive Verbundstrukturen nachweisen. Für die Analyse der Ver- bundelemente im Bahnbereich bietet sich eine Erweiterung des Blicks über die ei- gentliche Zugangsregulierung hinaus an. Im Eisenbahnsektor fallen bereits bezüg- lich der Errichtung der erforderlichen Netzinfrastruktur besondere Verwaltungsauf- gaben an, deren Wahrnehmung ebenfalls in Verbundformen erfolgt. Ein „transeuro- päisches Eisenbahnsystem“, das einen grenzüberschreitenden und durchgehenden Zugverkehr gestattet, entwickelt und erhält sich nicht von selbst. Wie im 14. Erwä- gungsgrund der RL 2001/16 zutreffend konstatiert wird, stehen die nationalen Ge- gebenheiten einem fl üssigen Zugverkehr im gesamten Gebiet der Gemeinschaft ent- gegen: Die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften sowie die internen Regelungen der

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Eisenbahnunternehmen und die von ihnen angewandten technischen Spezifi kationen weisen große Unterschiede auf, da sie Ausdruck der technischen Besonderheiten der Industrie des jeweiligen Landes sind und ganz bestimmte Abmessungen, Vorkeh- rungen und besondere Merkmale vorschreiben. Die Gewährleistung der technischen „Interoperabilität“ der die Strecken und ortsfesten Anlagen umfassenden Eisenbah- ninfrastrukturen des transeuropäischen Verkehrnetzes ist da-rum eine besondere Verwaltungsaufgabe im Eisenbahnbereich; es ist dafür Sorge zu tragen, dass nur solche Technologien zum Einsatz kommen, die die Interoperabilität der Systeme gewährleisten.81 Obgleich es hierbei nicht um die Regulierung des Netzzugangs im engen Sinne geht, soll dieser Bereich neben der Netzzugangsregulierung in die ver- gleichende Betrachtung einbezogen werden, weil er interessante Verbundelemente aufweist und Rückschlüsse auf den Regulierungsverbund zulässt.

1. Materiellrechtliche Vollzugsprogrammierung und verbleibende exekutive Regulierungsspielräume

(1.) Bei der Netzzugangsregulierung sind die exekutiven Regulierungsbefugnisse im Vergleich zur Zugangsregulierung im TK-Sektor eher gering. Die Netzzugangs- regulierung nach der EisenbahnbinnenmarktRL 2001/1482 beschränkt sich weitge- hend auf Ex-Post-Kontrollbefugnisse (s.u. 2.a. (1.), 2.b.). Die materiellrechtlichen Netzzugangsbedingungen werden Behörden und Netzbetreibern in wesentlichen Teilen durch die Mitgliedstaaten vorgegeben. Gewisse materiellrechtliche Vorga- ben für die Formulierung der Netzzugangsvoraussetzungen ergeben sich dabei aus der EisenbahnbinnenmarktRL.

(a.) Dies gilt zunächst für das Wegeentgelt: Die Mitgliedstaaten schaffen gem. Art. 4 Abs. 1 RL 2001/14 eine Entgeltrahmenregelung und legen grundsätzlich selbst einzelne Entgeltregeln fest. Dabei sind sie an die Vorgaben der Richtlinie gebun- den, die insbesondere eine Kostenorientierung (Art. 7 Abs. 3) und Nichtdiskrimi- nierung (Art. 4 Abs. 5) vorsieht. Die Richtlinie bestimmt nicht ausdrücklich, wel- ches Organ innerhalb des Mitgliedstaats die Entgeltrahmenregelung schaffen soll. Weil die Pfl icht, die Bedingungen der Entgelterhebung festzulegen, an die Mit- gliedstaaten adressiert ist, dürfte jedoch eher an abstrakt-generelle Regelungen durch den Gesetz- oder Verordnungsgeber gedacht sein; von den nationalen Behör- den ist diesbezüglich nicht die Rede. Tatsächlich hat der deutsche Gesetzgeber in § 14 Abs. 4, Abs. 5 des neuen AEG83 hierzu Regelungen getroffen, die durch eine Verordnung nach § 26 Abs. 1 Nr. 6, 7 AEG konkretisiert werden sollen.

81 S. dazu RL 96/48/EG über die Interoperabilität des transeuropäischen Hochgeschwindigkeitsbahnsystems so- wie RL 2001/16/EG über die Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems. 82 RL 2001/14/EG über die Zuweisung von Fahrwegskapazität der Eisenbahn, die Erhebung von Entgelten für die Nutzung von Eisenbahninfrastruktur und die Sicherheitsbescheinigung. 83 Allgemeines Eisenbahngesetz in der Fassung des Dritten Gesetzes zur Änderung eisenbahnrechtlicher Vor- schriften vom 27.4.2005, BGBl. I, 1138.

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(b.) Neben den Entgeltregeln können die Mitgliedstaaten gem. Art. 14 Abs. 1 S. 1 RL 2001/14 auch Rahmenregelungen für die Zuweisung von Fahrwegkapazität schaffen; sie müssen zudem gem. Art. 14 Abs. 1 S. 2 RL 2001/14 spezifi sche Re- geln für die Zuweisung von Fahrwegkapazität festlegen. Der Sinn dieser Differen- zierung erschließt sich nicht ohne weiteres. Vermutlich ist mit der fakultativen Rah- menregelung nach Satz 1 eine materiellrechtliche Regelung gemeint, wohingegen die obligatorische Regelungsverpfl ichtung des Satzes 2 das Verfahren der Zuwei- sung betrifft.

(c.) Für die abstrakt-generelle Festlegung der sonstigen Schienennetz-Nutzungsbe- dingungen wählt die Richtlinie hingegen ein „Selbstregulierungsmodell“, indem sie diese Aufgabe den Betreibern der Infrastruktur überlässt. Gem. Art. 3 Abs. 1 RL 2001/14 erstellt und veröffentlicht der Infrastrukturbetreiber nach Konsultati- onen mit den Beteiligten Schienennetz-Nutzungsbedingungen. Der Bundesgesetz- geber hat es dementsprechend gem. § 14 Abs. 1 AEG dem Eisenbahninfrastruktur- unternehmen und dem Zugangsberechtigten überlassen, die Netzzugangsbedin- gungen zu vereinbaren. Festzuhalten ist, dass die administrativen Entscheidungsspielräume schwächer aus- geprägt sind als bei der TK-Netzzugangsregulierung.

(2.) Im Bereich der Gewährleistung der Interoperabilität der Netzinfrastruktur er- halten die Behörden inhaltliche Maßstäbe für Aufgaben weniger durch primäres oder sekundäres Gemeinschaftsrecht, sondern durch sog. Technische Spezifi kati- onen für die Interoperabilität (TSI) der Kommission (s.u. 2.a. (2.) (a.)). Der Ent- scheidungsspielraum der nationalen Behörden ist hier nicht sehr groß.

2. Vollzugsteilung a) Regulierungsaufgaben auf zentraler Ebene

(1.) Die Regulierung des Netzzugangs erfolgt im Wesentlichen auf mitgliedstaatli- cher Ebene. Die Kommission wirkt hier nicht in vorderster Reihe mit. Gem. Art. 34 Abs. 2 RL 2001/14 prüft die Kommission lediglich auf Ersuchen eines MS oder von sich aus in speziellen Fällen die Anwendung und Durchsetzung der Bestimmungen über die Erhebung der Wegeentgelte und die Kapazitätszuweisung. Dies geht wiederum nicht wesentlich über die der Kommission nach Art. 211 und 226 EG ohnehin zu- stehenden Überwachungsbefugnisse hinaus. Es handelt sich hierbei zudem um eine bloße Ex-Post-Kontrolle.

(2.) Aufgaben der Gewährleistung der technischen „Interoperabilität“ der die Stre- cken und ortsfesten Anlagen umfassenden Eisenbahninfrastrukturen des transeuro- päischen Verkehrnetzes werden auf zentraler Ebene sowohl durch die Kommission als auch durch die Europäische Eisenbahnagentur wahrgenommen.

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(a.) Die Kommission ist im Komitologieverfahren für die Erstellung technischer Spezifi kationen für die Interoperabilität (TSI) nach Art. 5ff.RL 2001/16 zuständig. Die TSI-Entwürfe werden gem. Art. 6 Abs. 1 RL 2001/16 von einem „gemein- samen Gremium“ ausgearbeitet, in dem Betreiber der Infrastruktur, die Eisenbahn- unternehmen und die Industrie vertreten sind (Art. 2 lit. h) RL 2001/16). Die TSI sollen die nationalen Behörden bei der Überwachung der Inverkehrbringung sog. „Interoperabilitätskomponenten“84 nach Art. 8, 10 Abs. 2 RL 2001/16 binden.85 Dass die technischen Spezifi kationen auf zentraler Ebene ausgearbeitet werden, dürfte dem praktischen Vereinheitlichungsbedarf geschuldet sein.

(b.) Die institutionelle Ausgestaltung der Eisenbahnregulierung weist insofern eine Besonderheit auf, als hier neuerdings eine Europäische Agentur eingeschaltet ist. Die durch die AgenturVO86 errichtete Europäische Eisenbahnagentur ist ein „Hilfsgremium“ der Kommission. Ihre Existenz verdankt sie den bereits angespro- chenen technischen Besonderheiten der Eisenbahninfrastruktur, zu deren Bewälti- gung eine zentrale Institutionalisierung unabhängigen Sachverstands für erforder- lich gehalten wurde (vgl. 1., 8. und 10. Erwägungsgrund der AgenturVO). Die Aufgaben der Agentur beschränken sich demgemäß auf die Errichtung der er- forderlichen Netzinfrastruktur betreffende Vorgänge der technischen Regulierung. Ziel der Agentur ist es gem. Art. 1 2. UA AgenturVO, in technischen Angelegen- heiten zur Durchführung der gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften beizutragen, die über eine Verbesserung der Interoperabilität der Eisenbahnsysteme auf die Ver- besserung des Eisenbahnsektors und die Entwicklung eines gemeinsamen Kon- zepts für die Sicherheit des europäischen Eisenbahnsystems abzielen, um zur Schaffung eines europäischen Eisenbahnraums ohne Grenzen und zur Gewährleis- tung eines hohen Sicherheitsniveaus beizutragen. Die Eisenbahnagentur hat keine unmittelbaren rechtlich bindenden Außenbefugnisse, sondern gibt Empfehlungen und Stellungnahmen ab. Die Empfehlungen richten sich gem. Art. 2 lit. a) Agentur- VO an die Kommission. Stellungnahmen können sich gem. Art. 2 lit. b) Agentur- VO an die Kommission oder an die betreffende Behörde des Mitgliedstaats richten. Die Agentur koordiniert und leitet gem. Art. 12 AgenturVO insbesondere im Auf- trag der Kommission die Arbeiten zum Entwurf der TSI und gewährleistet deren Anpassung an den technischen Fortschritt. Gem. Art. 15 AgenturVO prüft die Agentur auf Verlangen der Kommission jedes Eisenbahninfrastrukturprojekt, für das ein Gemeinschaftszuschuss beantragt wird, unter dem Gesichtspunkt der Inter- operabilität.

84 „Interoperabilitätskomponenten“ sind gem. Art. 2 lit. d) RL 2001/16 Bauteile, Bauteilgruppen, Unterbaugrup- pen oder komplette Materialbaugruppen, die in ein Teilsystem eingebaut sind oder eingebaut werden sollen und von denen die Interoperabilität des konventionellen transeuropäischen Eisenbahnsystems direkt oder indirekt abhängt. Unter „Komponenten“ sind materielle aber auch immaterielle Produkte wie Software zu verstehen. 85 Allgemein zu den primärrechtlichen Grundlagen einer Bindung der Mitgliedstaaten an tertiäres Gemeinschafts- recht T. Groß (Fn. 33), S. 23 f. 86 VO Nr. 881/2004 zur Errichtung einer Europäischen Eisenbahnagentur.

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b) Regulierungsaufgaben auf dezentraler Ebene

(1.) Der nationale Aufgabenschwerpunkt liegt im Bereich der Netzzugangsregulie- rung. Dabei sind verschiedene Akteure eingeschaltet. Die Aufgaben der gem. Art. 30 RL 2001/14 einzurichtenden Regulierungsstelle beschränken sich weitgehend auf eine Ex-Post-Kontrolle.

(a.) Dies gilt zunächst für die Regulierung der Wegeentgelte. Die Regulierungsbe- hörde setzt die Wegeentgelte nicht selbst fest. Die Berechnung des Wegeentgelts und dessen Erhebung nimmt vielmehr grundsätzlich der Netzbetreiber gem. Art. 4 Abs. 1 2.UA RL 2001/14 vor. Gem. Art. 4 Abs. 2 RL 2001/14 übernimmt aller- dings bei fehlender Unabhängigkeit des Infrastrukturbetreibers eine „entgelterhe- bende Stelle“ die Berechung von Wegeentgelten; diese Stelle darf jedoch gem. Art. 30 Abs. 1 nicht mit der Regulierungsstelle identisch sein. Grundlage für die Ex- Post-Kontrolle87 durch die Regulierungsstelle ist Art. 30 Abs. 2 RL 2001/14. Ist ein Antragsteller, der Interesse am Erwerb von Fahrwegkapazität geltend gemacht hat, der Auffassung, ungerecht behandelt, diskriminiert oder auf andere Weise in seinen Rechten verletzt worden zu sein, so kann er die Regulierungsstelle befassen und zwar insbesondere mit Entscheidungen des Infrastrukturbetreibers betreffend die Entgelterhebung (lit. d)) oder die Höhe oder Struktur der Wegeentgelte (lit. e)). Gewisse Ex-Ante-Zuständigkeiten kommen der Regulierungsstelle gleichwohl zu. Die Regulierungsstelle ist in etwaige Wegeentgeltverhandlungen eingeschaltet: Gem. Art. 30 Abs. 3 RL 2001/14 beaufsichtigt die Regulierungsstelle Verhand- lungen zwischen Antragsteller und Infrastrukturbetreiber über die Höhe des Wege- entgelts. Außerhalb dieses beaufsichtigten Verfahrens sind Entgeltverhandlungen gar nicht zulässig. Die Regulierungsstelle hat einzugreifen, wenn bei den Verhand- lungen ein Verstoß gegen die rechtlichen Bestimmungen droht.

(b.) Auch die Zuweisung der Fahrwegkapazität erfolgt zunächst in Eigenregie der Infrastrukturbetreiber und ist gem. Art. 30 Abs. 2 lit. c) RL 2001/14 lediglich einer Ex-Post-Kontrolle durch die Regulierungsstelle unterworfen. Gem. Art. 14 Abs. 1 S. 3 RL 2001/14 führt der Betreiber der Infrastruktur grundsätzlich selbst die Ver- fahren zur Zuweisung von Fahrwegkapazität durch. Wiederum ist allerdings gem. Art. 14 Abs. 2 RL 2001/14 die entgelterhebende Stelle zuständig, sofern der Be- treiber der Infrastruktur rechtlich, organisatorisch oder in seinen Entscheidungen nicht von Eisenbahnunternehmen unabhängig ist. In besonderen Konstellationen hat die Regulierungsstelle ähnlich wie bei der Ent- geltregulierung auch bei der Kapazitätszuweisung Ex-Ante-Zuständigkeiten. Gem. Art. 17 RL 2001/14 können Antragsteller und Infrastrukturbetreiber Rahmenverträ- ge über die Fahrwegkapazität für einen längeren Zeitraum schließen. Ein Mitglied-

87 Nach § 14e AEG bestehen allerdings auch gewisse Möglichkeiten der Vorabprüfung, wenn ein Infrastrukturun- ternehmen beabsichtigt, den Zugang zu verweigern oder ein erhöhtes Netznutzungsentgelt zu erheben.

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staat kann gem. Art. 17 Abs. 1 S. 3 RL 2001/14 verlangen, dass solche Rahmenver- träge der Regulierungsstelle vorab zur Genehmigung vorgelegt werden. (c.) Art. 30 Abs. 2 lit.a RL 2001/14 sieht weiterhin eine Ex-Post-Kontrolle der – wie gesehen von den Infrastrukturbetreibern festgesetzten – Schienennetz-Nut- zungsbedingungen durch die Regulierungsstelle vor. (2.) Die nationalen Behörden nehmen auch bei der Errichtung der erforderlichen Netzinfrastruktur im Sinne eines interoperablen Eisenbahnsystems eigene Aufga- ben wahr. Während die Kommission vor allem für die Formulierung der tech- nischen Standards zuständig ist, tragen die Mitgliedstaaten gem. Art. 8ff. RL 2001/16 die überwiegende Aufgabenlast bei der Überwachung des Einsatzes der Interoperabilitätskomponenten. Sie treffen gem. Art. 8 RL 2001/16 alle gebotenen Maßnahmen, damit die Interoperabilitätskomponenten nur dann in den Verkehr ge- bracht werden, wenn sie die Verwirklichung der Interoperabilität des europäischen Eisenbahnsystems ermöglichen. Gem. Art. 10 Abs. 2 RL 2001/16 wird dies anhand der in den entsprechenden TSI vorgesehenen Bedingungen beurteilt. Die Wahl der dezentralen Vollzugsebene ist hier sachlich angemessen. Die erforderliche Einheit- lichkeit des Vollzugs wird durch die zentral erarbeiteten TSI gewährleistet.

c) Zwischenergebnis Sowohl bei der Wahrnehmung der Aufgaben der Interoperabilitätsgewährleistung als auch bei der Netzzugangsregulierung im engeren Sinne weist das institutionelle Gefüge im Bahnsektor Züge der verwaltungsverbundstypischen Vollzugsteilung auf. Bei der Netzzugangsregulierung bestehen allerdings nur sehr schwache zentra- le Zuständigkeiten.

3. Vollzugsverfl echtung

Auch im Bahnsektor bestehen intensive Vollzugsverfl echtungen. a) Verfl echtungen im zentralen Aufgabenbereich (1.) Im Rahmen der – ohnehin nur schwach ausgeprägten – Zuständigkeit der Kom- mission im Bereich der Netzzugangsregulierung bestehen organisatorische und verfahrensmäßige Verschränkungen mit der mitgliedstaatlichen Ebene. So haben Vertreter der Mitgliedstaaten über einen Komitologieausschuss, der die Kommissi- on gem. Art. 35 RL 2001/14 bei Entscheidungen zum Netzzugang unterstützt, Ein- fl uss auf die Entscheidungen der Kommission. Allgemein werden Entscheidungen der Kommission im Zusammenhang mit der Durchführung der Richtlinie gem. Art. 34 Abs. 1 RL 2001/14 im sog. Beratungsverfahren, mithin unter Einschaltung des Komitologieausschusses, getroffen.

(2.) Auch bei der Wahrnehmung der zentralen Aufgaben im Bereich der Gewähr- leistung der Interoperabilität der Eisenbahnsysteme ist die Tätigkeit von Kommis-

11_06_innen.indd_06_innen.indd 7722 118.05.20068.05.2006 09:27:1109:27:11 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund EuR – Heft 1 – 2006 73

sion und Europäischer Eisenbahnagentur auf verschiedene Weise vertikal mit der der nationalen Behörden verschränkt. Die Verschränkung weist Organisations- und Verfahrenselemente auf.

(a.) In den Entscheidungsverfahren der Kommission kommt es insbesondere über die Einbindung von Komitologieausschüssen zu Verschränkungen. So erfolgt eine Einbeziehung von Vertretern der Mitgliedstaaten in die Erstellung der TSI über ei- nen Komitologieausschuss, der gem. Art. 6 Abs. 6 RL 2001/16 an der Ausarbeitung, Annahme und Überarbeitung jeder TSI mitwirkt. Der Ausschuss kann während die- ser Arbeiten alle Aufträge erteilen oder alle Empfehlungen abgeben, die für die Ge- staltung der TSI sowie zur Evaluierung der Kosten und des Nutzens zweckdienlich sind. Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten an der Erstellung der TSI beteiligt, indem sie gem. Art. 6 Abs. 5 RL 2001/16 im Vorfeld die Daten bereitstellen, die er- forderlich sind, um die in Betracht gezogenen technischen Lösungen zu evaluieren.

(b.) Auch zwischen der Europäischen Eisenbahnagentur und der mitgliedstaatli- chen Ebene bestehen Verschränkungen, die hier insbesondere organisatorisch-per- soneller Art sind. So wirken Vertreter der Mitgliedstaaten in den Organen der Agentur mit. Gem. Art. 26 AgenturVO setzt sich der Verwaltungsrat aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats, vier Vertretern der Kommission und sechs nicht stimmberechtigten „Gruppenvertretern“ zusammen. Auch in den von der Agentur gem. Art. 3 AgenturVO eingerichteten Arbeitsgruppen sitzen gem. Art. 3 Abs. 3 von den nationalen Fachbehörden ernannte Vertreter. Darüber hinaus kommt es zur informationellen Verschränkung durch die Einrichtung gemeinsamer Datenbanken und Register (Art. 11 AgenturVO, Art. 19 AgenturVO).

b) Verfl echtungen im dezentralen Aufgabenbereich

Bei der Wahrnehmung der Regulierungsaufgaben der dezentralen Ebene bestehen sowohl vertikale als auch horizontale Verschränkungen hierarchischer und koope- rativer Art.

(1.) Die Zuständigkeit der nationalen Behörden konzentriert sich im Bereich der Bahnnetzregulierung, wie gesehen, auf die Netzzugangsregulierung. Hier sind die Verfl echtungen weniger intensiv als bei der TK- und Energienetzzugangsregulie- rung.

(a.) In vertikaler Hinsicht können die Mitgliedstaaten gem. Art. 34 RL 2001/14 aus eigenem Antrieb die Kommission einschalten: Die Mitgliedstaaten können gem. Art. 34 Abs. 1 RL 2001/14 alle Fragen in Zusammenhang mit der Durchführung dieser Richtlinie der Kommission vorlegen. Nach Art. 34 Abs. 2 RL 2001/14 prüft die Kommission auf Ersuchen eines Mitgliedstaats die Anwendung und Durchset- zung der Bestimmungen über die Erhebung der Wegeentgelte und die Kapazitäts- zuweisung. Hingegen bestehen keine Interventionsrechte der Kommission.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 7733 118.05.20068.05.2006 09:27:1109:27:11 74 EuR – Heft 1 – 2006 Britz, Vom Europäischen Verwaltungsverbund zum Regulierungsverbund

(b.) In horizontaler Hinsicht sieht Art. 31 RL 2001/14 eine Zusammenarbeit der nationalen Regulierungsstellen vor. Die nationalen Regulierungsstellen tauschen Informationen über ihre Arbeit und ihre Entscheidungsgrundsätze und ihre Ent- scheidungspraxis mit dem Ziel aus, ihre Entscheidungsgrundsätze in der gesamten Gemeinschaft zu koordinieren. Darüber hinaus wirkt die Kommission koordinie- rend an der Tätigkeit der nationalen Regulierungsstellen mit, indem sie diese gem. Art. 31 RL 2001/14 beim Austausch von Informationen über ihre Arbeit, ihre Ent- scheidungsgrundsätze und ihre Entscheidungspraxis unterstützt. Allerdings ist für die Koordination der Tätigkeit der Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten – an- ders als im TK- und im Energiebereich – kein eigenständiges Koordinationsgremi- um eingerichtet worden. Es bestehen auch keine spezifi schen Konsultations- pfl ichten oder gar Mitwirkungsbefugnisse der Behörden anderer Mitgliedstaaten.

(2.) Intensiver ist die Verfl echtung bei der Wahrnehmung dezentraler Aufgaben im Bereich der Gewährleistung der Interoperabilität der Eisenbahnsysteme.

(a.) Als Form der vertikalen Verschränkung ist zunächst die bereits oben beschrie- bene Befugnis der Kommission zu nennen, den Mitgliedstaaten für deren Vollzug- stätigkeit vereinheitlichend wirkende technische Spezifi kationen vorzugeben. Da- bei handelt es sich um ein hierarchisches Verfl echtungselement. Weiterhin zu nen- nen ist das mehrschichtige System von Kontrollrechten und wechselseitigen Infor- mations- und Unterrichtungspfl ichten, das gem. Art. 12 RL 2001/16 im Rahmen der Vom-Markt-Nahme von Interoperabilitätskomponenten durch die Mitgliedstaa- ten besteht: Der Mitgliedstaat, der gegen eine in seinen Augen problematische Komponente vorgeht, unterrichtet die Kommission über seine Maßnahme (Art. 12 Abs. 1 RL 2001/16). Die Kommission hat dann nach Konsultation der betroffenen Parteien festzustellen, ob sie die Maßnahme gegen die Komponente für begründet hält und unterrichtet die Mitgliedstaaten darüber (Art. 12 Abs. 2 RL 2001/16). Hält die Kommission die Maßnahme für unbegründet, muss der Mitgliedstaat diese wohl – ohne dass die Richtlinie dies ausdrücklich sagt – aufheben. Die Kommissi- on stellt sicher, dass die Mitgliedstaaten über den Verlauf und die Ergebnisse dieses Verfahrens unterrichtet werden (Art. 12 Abs. 4 RL 2001/16). Auch die Eisenbahnagentur hat Möglichkeiten, in die Tätigkeit auf mitgliedstaatli- cher Ebene einzuwirken, etwa aufgrund von Kontrollbefugnissen gegenüber den mitgliedstaatlichen Behörden (Art. 13 AgenturVO), deren Arbeitsqualität sie auf Verlangen der Kommission zu überprüfen hat. Zu den Überprüfungsbefugnissen zählen Besuche der Agentur in den Mitgliedstaaten (Art. 33 AgenturVO). Umge- kehrt können die nationalen Regulierungsstellen die Agentur gem. Art. 10 Abs. 1 AgenturVO konsultierend in Anspruch nehmen, indem sie diese um technische Stellungnahmen ersuchen.

(b.) Der Europäischen Eisenbahnagentur kommt auch im Rahmen der horizontalen Verfl echtung Bedeutung zu, indem sie Tätigkeiten der Behörden der Mitgliedstaa-

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ten koordiniert (Art. 6 Abs. 5 und Art. 12 lit. d) AgenturVO). Weitere Formen hori- zontaler Verfl echtung bestehen nicht.

4. Auswertung Die Analyse der materiellrechtlichen Vollzugsprogrammierung sowie der Aufga- benverteilung und der Tätigkeitsverschränkung zwischen den Akteuren hat im Bahnsektor ein differenziertes Bild ergeben: (1.) Netzzugangsregulierung: Exekutiver Regulierungsspielraum: Für die Netzzugangsregulierung zeichnet die Eisenbahnbinnenmarktrichtlinie nicht gerade das Bild eines besonders „interventi- onistischen Regulierers“. Die Zugangsregulierung ist zum einen inhaltlich deutlich durch materiellrechtliche Vorgaben vorprogrammiert. Die materiellrechtliche Voll- zugsprogrammierung ergibt sich aus dem Zusammenspiel von nationalem und Ge- meinschaftsrecht. Zum anderen beschränkt sich die Zugangsregulierung weitge- hend auf Ex-Post-Kontrollbefugnisse, die den Netzbetreibern tendenziell mehr Spielraum lassen als Ex-Ante-Kontrollbefugnisse. Damit fehlt es an der für den TK-Regulierungsverbund als prägend beschriebenen Prämisse eines Flexibilitäts- Kohärenz-Dilemmas. Vollzugsteilung: Die verbleibenden Regulierungsaufgaben werden im Wesentlichen auf dezentraler Ebene wahrgenommen. Vollzugsverfl echtung: Es sind gewisse Verfl echtungselemente verfahrensmäßiger und organisatorischer Art zu beobachten. Hervorzuheben sind die Ansätze zu einer horizontalen Kooperation und Koordination zwischen den Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten. Allerdings ist die horizontale behördliche Verfl echtung im Ver- gleich zur TK- und zur Energienetzzugangsregulierung schwächer ausgeprägt. Ins- besondere wurde auf die Einrichtung eines transnationalen „Behördengremiums“ verzichtet. Es bestehen auch keine spezifi schen wechselseitigen Beteiligungsrechte in den behördlichen Verfahren. Tatsächlich ist der transnationale Koordinierungs- bedarf zwischen den Behörden angesichts deren eher schwacher Regulierungskom- petenzen nicht allzu hoch. Insofern ist der Verzicht auf eine stärkere horizontale Verfl echtung konsequent. Auch das Fehlen zentraler Interventionsrechte oder einer zentralen Vollzugsprogrammierungskompetenz fügt sich in dieses Bild.

(2.) Interoperabilitätsgewährleistung: Exekutiver Regulierungsspielraum: Für die Interoperabilitätsgewährleistung be- steht zwar allenfalls eine geringe Programmierung durch materielles Primär- oder Sekundärrecht. Gleichwohl kommt es durch die TSI auch hier zu einer zentralen (tertiärrechtlichen) Vollzugsprogrammierung. Der Entscheidungsspielraum der na- tionalen Behörde ist deshalb wiederum nicht sehr groß. Vollzugsteilung: Mit der Erarbeitung der TSI ist eine bedeutende Aufgabe der zen- tralen Ebene überlassen, auf der neben der Kommission auch die Europäische Ei- senbahnagentur tätig wird. Angesichts des technischen Kohärenzbedarfs erscheint

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dies sinnvoll. Die eigentliche Vollzugsaufgabe der Überwachung der Inverkehrbrin- gung der Interoperabilitätskomponenten erfolgt aber entsprechend dem Modell des indirekten Vollzugs des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedstaaten. Vollzugsverfl echtung: Zwar ist die horizontale Kooperation und Koordination zwi- schen den nationalen Behörden nicht besonders stark ausgeprägt. Zwischen den Ebenen besteht jedoch ähnlich wie im TK-Regulierungsverbund eine vergleichs- weise starke vertikale organisations- und verfahrensmäßige Verschränkung, die dem aus technischen Gründen tatsächlich bestehenden Koordinierungsbedarf ge- schuldet sein dürfte. Es dominieren hierarchische Verfl echtungselemente in Form der zentralen Vollzugsprogrammierung durch TSI und Interventionsmöglichkeiten der Kommission. Man hat es somit mit einem Fall intensiver Vollzugsverfl echtung zu tun, die angesichts ihrer Übereinstimmung mit dem TK-Regulierungsverbund auf den ersten Blick für die Netzzugangsregulierung typisch zu sein scheint. Tat- sächlich fehlt es jedoch mangels weiter administrativer Gestaltungsspielräume am Flexibilitäts-Kohärenz-Zusammenhang, der bei der Telekommunikation für Regu- lierungsverbund spezifi sch gehalten wurde. Hier dürfte der erhöhte Kohärenzbe- darf nicht auf ein besonderes Maß an administrativer Flexibilität, sondern vielmehr auf einen erhöhten technischen Einheitlichkeitsbedarf zurückzuführen sein. Insgesamt ist der Bahnsektor damit zwar ein sehr anschauliches Beispiel für die Ausprägung von Verbundstrukturen beim Vollzug des europäischen Rechts. Es fi n- det sich reichhaltiges Anschauungsmaterial für denkbare Formen der Vollzugsver- fl echtung. Allerdings können die aufgezeigten Verbundelemente nicht als Beleg für die Existenz spezifi scher Verbundstrukturen der Netzzugangsregulierung gewertet werden. Insbesondere sind die intensiven Verfl echtungsformen bei der Interopera- bilitätsgewährleistung nicht auf einen regulierungsspezifi schen Kohärenzbedarf zu- rückzuführen. Es besteht hier, wie gezeigt, nicht das für den TK-Regulierungsver- bund prägende Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma. VI. Schluss Obgleich man es in allen drei Netzwirtschaften mit besonders fortgeschrittenen Formen des Europäischen Verwaltungsverbunds zu tun hat, hat der Sektoren-Ver- gleich keinen einheitlichen Typus des „Regulierungsverbunds“ für die Netzwirt- schaften hervorgebracht. Die Annahme, die Verfl echtungsdichte sei im TK-Sektor auf eine regulierungsspezifi sche Vollzugsfl exibilität zurückzuführen („Flexibilitäts- Kohärenz-Dilemma“), ist zwar plausibel und wurde durch die Analyse der Energie- netzzugangsregulierung bestätigt. Die Betrachtung des Bahnsektors hat jedoch ge- zeigt, dass die Verfl echtungsintensität (auch) in den Netzwirtschaften nicht notwen- dig auf einem regulierungsspezifi schen Flexibilitäts-Kohärenz-Dilemma beruhen muss, sondern andere Gründe haben kann. Es ist auch deutlich geworden, dass die Vollzugsverfl echtung im Bahnsektor gerade bei der Netzzugangsregulierung i.e.S. schwächer ausgeprägt ist als bei Telekommunikation und Energie. Dies spricht je- doch nicht dagegen, weiterhin von „Regulierungsverbünden“ zu sprechen, so lange bewusst bleibt, dass Gestalt und Funktion des Regulierungsverbunds von Regulie-

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rungsgebiet zu Regulierungsgebiet – wie gesehen sogar von Netzwirtschaft zu Netzwirtschaft – variieren können.88 Bestätigung gefunden haben die Beschreibungen des allgemeinen Verwaltungsver- bunds. Neben der TK-Netzzugangsregulierung sind auch der Energie- und der Bahnsektor gut geeignet, Charakter und Intensität der Verbundstrukturen beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts zu veranschaulichen. In allen drei Sektoren be- steht eine Aufgabenteilung zwischen europäischen und nationalen Behörden, wo- bei die nationalen Behörden nach wie vor den Hauptanteil an den Vollzugsaufga- ben übernehmen. Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat auch in allen drei Sektoren reichlich vom verbundstypischen Verfl echtungsinstrumentarium Gebrauch ge- macht. In allen drei Bereichen sind Elemente besonders intensiver interadministra- tiver Verfl echtung anzutreffen, durch die – die Rechts- und Verwaltungsträger „überspringend“ – eigene Interaktionsbeziehungen zwischen den Behörden be- gründet werden. Als besonders fortgeschrittene Verfl echtungselemente verdienen Hervorhebung in vertikaler Hinsicht vollzugsprogrammierende Empfehlungen und Leitlinien der Kommission, die Einschaltung der Kommission in Verwaltungsverfahren der nati- onalen Regulierungsbehörden durch Interventionsrechte sowie die vertikale Koor- dinierung in interbehördlichen Gremien. In horizontaler Hinsicht sind die Einbin- dung von Regulierungsbehörden in die Verfahren der Regulierungsbehörde eines anderen Mitgliedstaats und die horizontale Koordinierung der dezentralen Voll- zugstätigkeit innerhalb interbehördlicher Gremien zu nennen. Es lässt sich auch zeigen, dass die interadministrativen Verfl echtungen die für den Vollzug von Gemeinschaftsrecht typischen Defi zite im Spannungsfeld des Autono- mieziels einerseits und des Effektivitätsziels andererseits kompensieren, indem sie insbesondere den effektivitätshemmenden Kohärenzgefährdungen begegnen. Die mit der Formel des Verwaltungsverbunds auf einen Begriff gebrachte Annah- me, dass die europäische Verwaltung bestimmte – hier als verbundstypisch be- zeichnete – Regelmäßigkeiten bezüglich Vollzugsteilung und -verfl echtung und der damit verbundenen Funktionen aufweise, wurde somit bestätigt. Offen ist bislang, wie leistungsfähig diese Strukturen am Ende wirklich sind. Noch sind die formali- sierten Interaktionsbeziehungen in den Verwaltungsverbünden der Netzzugangsre- gulierung zu jung, als dass deren Effektivität beurteilt werden könnte. Eine gewisse Gefahr, dass die Statuierung immer weiterer interadministrativer Koordinations- und Kooperationspfl ichten sowie die vermehrte Einrichtung transnationaler Behör- dengremien den Vollzug eher behindert als fördert, ist nicht völlig von der Hand zu weisen.89 Dies bedarf der Beobachtung.

88 Warum Regulierungsphilosophie und institutionelle Ausgestaltung des Regulierungsverbunds in den Netzwirt- schaften teilweise voneinander abweichen, bedürfte ausführlicherer Darlegung. 89 Bemerkenswert ist der 30. Erwägungsgrund zur EltRL (RL 2003/54/EG): „Es hat sich erwiesen, dass die Ver- pfl ichtung, die Kommission über die etwaige Verweigerung einer Baugenehmigung für neue Erzeugungsanla- gen zu unterrichten, unnötigen Verwaltungsaufwand bedeutet, so dass auf die entsprechende Bestimmung ver- zichtet werden sollte“.

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RECHTSPRECHUNG

Europäische Gerichte/Gerichte der Mitgliedstaaten

Verhältnis von EG-Recht und EMRK

1. Die Vertragsstaaten der EMRK sind grundsätzlich an die Verpfl ichtungen, die sich aus der EMRK und ihren Zusatzprotokollen ergeben, gebunden, unabhängig da- von, ob sie nationales oder internationales (oder wie hier EG-Recht) anwenden. Von diesem Grundsatz macht insbesondere auch Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK keine Ausnahme, welcher das Recht auf Eigentum gewährleistet.

2. Solange sich die EMRK Vertragsstaaten beim Vollzug des europäischen Gemein- schaftsrechts an die Verpfl ichtungen aus der EMRK halten und das angewendete Recht ebenso hohe Schutzmaßstäbe aufweist, gibt es eine Vermutung dafür, dass keine Verletzung der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle vorliegt. Diese Vermutung kann allerdings durch die Umstände des Einzelfalls widerlegt werden. Der Schutz der Rechte der Einzelnen im europäischen Gemeinschaftsrecht ist mit dem Niveau der EMRK vergleichbar. Das Ergebnis wird auch durch die Umstände des hier zu entscheidenden Einzelfalles nicht verändert. Eine Verletzung des Art. 1 des 1. Zu- satzprotokolls der EMRK scheidet deshalb aus.

(Leitsätze der Schriftleitung)

Urteil des EGMR vom 30.06.2005 (Rs. 45036/98), Bosphorus v. Irland

Das Urteil ist im Internet abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int

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Das So-Lange-Prinzip im Verhältnis von EGMR und EuGH – Anmerkung zu dem Urteil der EGMR v. 30.06.2005, Rs. 450 36/98 Von Nikolaos Lavranos, Amsterdam*

I. Einführung

Der Schutz der Menschenrechte im Gemeinschaftsrecht ist ein Thema, das sich seit langem zunehmender Bedeutung und damit wissenschaftlichen Interesses erfreut.1 Ging es am An- fang vor allem darum, den Europäischen Gerichtshof (EuGH) davon zu überzeugen, dass trotz eines fehlenden Grundrechtskatalogs im E(W)G-Vertrag der Schutz von Grundrechten auf Gemeinschaftsrechtsebene notwendig und möglich ist2, richtet sich das Interesse zuneh- mend auf die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem EuGH und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hinsichtlich der Entwicklung und Bestimmung des Grundrechtsschutzniveaus in Europa.3 Der EuGH hat vor allem auch wegen der so genannten So-Lange-Rechtsprechung4 des Bun- desverfassungsgerichts (BVerfG) im Laufe der Zeit den Grundrechtsschutz in das EG-Recht mit einbezogen.5 Zuerst gestützt auf das Prinzip der allgemeinen Grundsätze und auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaten, wie sie auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zum Ausdruck kommt.6 Danach wurde der EMRK ein besonderer Status im Gemeinschaftsrecht verliehen7 und seit kurzem wird die EMRK durch den EuGH sogar direkt angewendet, als ob es sich um ganz gewöhnliches EG-Recht han- delt.8 Parallel dazu wurde die EG durch die Verträge von Maastricht, Amsterdam und Nizza in die EU transformiert und mit immer neuen Befugnissen und Aufgaben ausgestattet. Darüber hinaus kündigte sich eine Erweiterung der EU mit einer großen Anzahl neuer ehemaliger Ostblock-Staaten an, die zwischenzeitlich auch EMRK-Vertragsparteien geworden sind. Hierdurch drängte sich eine formal-juristische Verankerung eines gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtskatalogs auf. Angesichts der fortschreitenden Integration der EMRK in das Ge- meinschaftsrecht bot sich ein Beitritt der EG/EU zur EMRK als einfachste und effektivste

* Dr.iur; LL.M.; Universitätsdozent an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät – Abteilung Europarecht – an der Universität zu Amsterdam. Dieser Beitrag ist im Rahmen des vom Verfasser geleiteten dreijährigen Forschungs- projekts Concurrence of Jurisdiction between the ECJ and other International Courts and Tribunals, das von der NWO (Niederländischen Wissenschaftsorganisation) fi nanziert wird, geschrieben worden. 1 Siehe z.B.: Baumeister, Effektiver Individualrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht, EuR 2005, S. 1-35; Scheuing, Zur Grundrechtsbindung der EU-Mitgliedstaaten, EuR 2005, S. 162-191; Alston (ed.), The EU and Human Rights, Oxford 1999. 2 Siehe grundlegend: Pernice, Grundrechtsgehalte im Europäischen Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1979. 3 Vgl. etwa Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, S. 193-204; Young, The Charter, Constitution and Human Rights: is this the beginning or the end for human rights protections by Community law? EPL 2005, S. 219-240; Canor, Primus inter pares: Who is the ultimate guardian of fundamental rights in Europe? EL Rev. 2000, S. 3-21; Lavranos, Decisions of International Organizations in the European and Do- mestic Legal Orders of selected EU Member States, Groningen 2004, Kapitel 4. 4 BVerfGE 58, 1 (Solange I); BVerfGE 74, 358 (Solange II); BVerfGE 89, 155 (Maastricht Vertrag – Solange III); BVerfGE 102, 147 (Bananenstreit – Solange IV). 5 Vgl. etwa EuGH Urteil Rs. C-260/89 (ERT) Slg. 1991, I-2925; EuGH Urteil Rs. C-413/99 (Baumbast) Slg. 2002, I-7091; EuGH Urteil Rs. C-112/00 (Schmidberger) Slg. 2003, I-5659. 6 EuGH Urteil Rs. 4/73 (Nold) Slg. 1974, 491; EuGH Urteil Rs. 5/88 (Wachauf) Slg. 1989, 2609. 7 EuGH Urteil Rs. C-260/89 (ERT) Slg. 1991, I-2925. 8 EuGH Urteil Rs. C-60/00 (Carpenter) Slg. 2002, I-6279; EuGH Urteil Rs. C-413/99 (Baumbast) Slg. 2002, I-7091.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 7799 118.05.20068.05.2006 09:27:1209:27:12 80 EuR – Heft 1 – 2006 Rechtsprechung

Lösung an. Der EuGH kam jedoch in seinem Gutachten zum möglichen Beitritt der EG/EU zur EMRK zum – meines Erachtens – etwas merkwürdigen Ergebnis, dass der damalige EG-Vertrag keine ausreichende Rechtsgrundlage für einen Beitritt böte.9 Dies ist insoweit überraschend, da der EuGH – wie oben dargestellt – selbst seit vielen Jahren die EMRK mehr oder weniger direkt anwendet und damit nach seinem eigenen Gutachten ohne ausrei- chende Rechtsgrundlage und damit ultra vires gehandelt haben soll. Eine, mit Verlaub, we- nig überzeugende Argumentation. Tatsächlich lässt sich diese „plötzliche“ Zurückhaltung des EuGH in seinem EMRK-Gutachten in Sachen Grundrechte durch die Angst um die Auf- lösung seines Rechtsprechungsmonopols zugunsten des EGMR hinsichtlich des Grund- rechtsschutzniveaus innerhalb der EG-Mitgliedstaaten, die ja gleichzeitig EMRK-Vertrags- staaten sind, erklären. Würde nämlich die EG/EU der EMRK beitreten, dann würde der EuGH sein Rechtsprechungsmonopol in Sachen Grundrechte in Europa verlieren und wäre dann auch formal-juristisch an die Rechtsprechung des EGMR gebunden. Aus der Sicht des EuGH wäre ein derartiger Eingriff in seine exklusive Rechtsprechungskompetenz schwer zu akzeptieren. Dennoch scheint das Ende seines Rechtsprechungsmonopols in Sicht zu kom- men. Zunächst reagierte der EGMR auf die schleichende Einschränkung seiner Jurisdiktion durch den EuGH, indem er seinerseits seine Jurisdiktion auch auf Akte der EMRK-Ver- tragsstaaten, die der Ausführung von EG-Recht dienen, erweiterte, was einer inzidenten aber de facto-Prüfung der Rechtmäßigkeit von EG-Rechtsakten gleichkommt.10 Darüber hinaus enthält die Europäische Verfassung ausdrücklich eine Rechtsgrundlage zum Beitritt der Union zur EMRK und schreibt eine Bindung des EuGH an die Rechtsprechung des EG- MR – zumindest was das Mindestgrundrechtsschutzniveau betrifft – vor.11 Damit wäre das Gutachten des EuGH zum Nicht-Beitritt der EG zur EMRK endgültig hinfällig, wenn die Europäische Verfassung tatsächlich in Kraft treten sollte. Antizipierend auf diese neuere Entwicklung deutete der EuGH seinerseits in seinem Schmidberger-Urteil12 bereits an, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR unter

9 EuGH Gutachten 2/94 (EG-Beitritt zur EMRK) Slg. 1996, I-1759. 10 Vgl. EGMR Rs. 17862/91 (Cantoni) Urteil vom 15.11.1996; EGMR Rs. 24833/94 (Matthews) Urteil vom 18.2.1999; alle Urteile abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/search.asp?skin=hudoc-en. 11 Vgl. die folgenden Bestimmungen der Europäischen Verfassung (VVE): Artikel I-9 Grundrechte […] (2) Die Union tritt der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. Dieser Beitritt ändert nicht die in der Verfassung festgelegten Zuständigkeiten der Union. […] Artikel II-112 Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze […] (3) Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschen- rechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt. (4) Soweit in dieser Charta Grundrechte anerkannt werden, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüber- lieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, werden sie im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt. […] Artikel II-113 Schutzniveau Keine Bestimmung dieser Charta ist als eine Einschränkung oder Verletzung der Menschenrechte und Grund- freiheiten auszulegen, die in dem jeweiligen Anwendungsbereich durch das Recht der Union und das Völker- recht sowie durch die internationalen Übereinkünfte, bei denen die Union oder alle Mitgliedstaaten Vertragspar- teien sind, darunter insbesondere die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei- heiten, sowie durch die Verfassungen der Mitgliedstaaten anerkannt werden. 12 EuGH Rs. C-112/00 (Schmidberger) Slg. 2003, I-5659.

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Umständen tatsächlich Vorrang – sogar vor dem EG-Primärrecht – genießen, so dass die EG-Mitgliedstaaten sich auf die EMRK berufen können, um Einschränkungen des EG- Rechts zu rechtfertigen. Es deutete also alles daraufhin, dass der EGMR nunmehr auch ge- genüber dem EuGH die höchste richterliche Instanz hinsichtlich des Grundrechtsschutzes in Europa ist und dass er die Rolle des primus inter pares hinsichtlich der Europäischen Grundrechte auch tatsächlich spielen würde. Das mit Spannung erwartete Urteil des EGMR in der Sache Bosphorus13 war in diesem Zu- sammenhang der ultimative Testfall. Doch das Urteil des EGMR in dieser Rechtssache zeigt, dass das Verhältnis zwischen EGMR und EuGH – jedenfalls bis zum In-Kraft-Treten der Europäischen Verfassung – einen weniger hierarchischen Charakter hat, sondern viel eher dem So-Lange-Prinzip, das das BVerfG im Verhältnis zum EuGH entwickelt hat, ähnelt.14 Im Folgenden soll zunächst der Fall Bosphorus, der erst durch den EuGH und dann durch den EGMR beurteilt wurde, besprochen werden. Danach werden das Bosphorus-Urteil des EGMR und die Konsequenzen, die sich hieraus für das Verhältnis zwischen EuGH und EG- MR ergeben, näher analysiert.

II. Der Fall Bosphorus

1. Der Fall Bosphorus vor dem EuGH

Die Firma Bosphorus ist eine Türkische Charterfl uggesellschaft, die im April 1992 kurz vor der Verhängung von Sanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien für 4 Jahre 2 Flugzeuge von der staatlichen Jugoslawischen Fluggesellschaft JAT geleast hatte. Hierbei blieb JAT Eigentümerin der Flugzeuge, aber ohne Einfl uss auf das tägliche Geschäft bzw. die Art und Weise der Nutzung der Flugzeuge zu nehmen. Nach dem Ausbruch des Krieges verhängte der UN-Sicherheitsrat Wirtschaftssanktionen gegen das ehemalige Jugoslawien (relevant ist insbesondere UN Resolution 820 (1993)), die auch den gesamten Flugverkehr zwischen Jugoslawien und Drittstaaten, sowie damit zusammenhängende Aktivitäten wie etwa die Wartung der Flugzeuge von JAT in Drittstaaten untersagte. Die EG, obwohl nicht Mitglied der UN, erließ ihrerseits die Rechtsverordnung 990/9315, welche die UN Sicherheitsratsresolution 820 (1993)16 in der Gemeinschaft umsetzte. Auf- grund dessen waren alle EG-Mitgliedstaaten sowohl aufgrund von Art. 25 i.V.m. Art. 103 UN Charta als auch aufgrund der VO 990/93 verpfl ichtet, den UN Sanktionen volle Wirkung zu verleihen und diese vollständig umzusetzen. Entsprechend diesen Verpfl ichtungen setzten die irischen Behörden eines der Flugzeuge von Bosphorus, das sich auf einem irischen Flugha- fen befand, fest und hinderten es am Weiterfl ug. Bosphorus klagte gegen diese Maßnahme mit dem Argument, es handele sich um eine rechtswidrige Anwendung der Sanktionen gegen Bosphorus, da nicht JAT, sondern Bosphorus das Unternehmen leite und damit nichts mit dem ehemaligen Jugoslawien und den Sanktionen gegen dieses Land zu tun habe. Nach

13 EGMR Rs. 45036/98 (Bosphorus) Urteil vom 30.6.2005, abrufbar unter: http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view. asp?item=1&portal=hbkm&action=html&highlight=bosphorus&sessionid=3627205&skin=hudoc-en. 14 Siehe näher hierzu unten im Abschnitt III; vgl. auch Schorkopf, The European Court of Human Rights’ judg- ment in the case of Bosphorus Hava Yollari Turizm v. Ireland, German Law Journal 2005, S. 1255-1264, abruf- bar unter: http://www.germanlawjournal.com. 15 VO 990/93, ABl. 1993, L 102, S. 14. 16 UN Sicherheitsratsresolution 820 (1993), abrufbar unter: http://daccessdds.un.org/doc/UNDOC/GEN/ N93/222/97/IMG/N9322297.pdf?OpenElement.

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einem Instanzenzug in Irland legte das höchste irische Gericht (Supreme Court) die Frage der Rechtmäßigkeit der Anwendung der Sanktionen gegen Bosphorus dem EuGH vor. Der EuGH entschied kurz und bündig, dass die volle Wirksamkeit von UN Sanktionen et- waigen Einschränkungen in das Eigentumsrecht und in die Freiheit der Ausübung seines Geschäfts bzw. Handels vorgehe.17 Somit haben die irischen Behörden zu Recht die Sankti- onen gegen Bosphorus angewendet.

2. Der Fall Bosphorus vor dem EGMR

Verständlicherweise war Bosphorus mit dem Urteil des EuGH nicht zufrieden und suchte nach weiteren juristischen Möglichkeiten, um die Rechtswidrigkeit der irischen Maßnahme feststellen zu lassen. Da die Urteile des EGMR in den Rechtssachen Cantoni18 und Matthews19 bereits andeuteten, dass der EGMR bereit ist, auch Akte der EMRK-Vertrags- staaten, die der Ausführung von EG-Recht dienen, zu prüfen, verklagte Bosphorus Irland vor dem EGMR wegen Verletzung von Art. 1 des 1. Protokolls zur EMRK, welches die freie Nutzung des Eigentums garantiert. Der EGMR ließ die Klage im September 2001 mit der Begründung zu, dass eine Verletzung der Rechte von Bosphorus durchaus möglich erscheint.20 Es dauerte jedoch fast 4 (!) Jahre, bevor der EGMR sein Urteil in der Sache verkündete.21 Der EGMR beginnt seine Analyse zunächst mit der unstreitigen Feststellung, dass die Hand- lung gegen Bosphorus dem irischen Staat zuzurechnen ist und damit Bosphorus unter die Jurisdiktion Irlands fällt, so dass alle Voraussetzungen hinsichtlich ratione loci, personnae und materiae erfüllt sind.22 Auch eine Verletzung von Art. 1 des 1 Protokolls erscheint mög- lich, so dass eine materielle Prüfung erforderlich ist.23 Weiterhin ist nicht strittig, dass ein Eingriff in die Rechte Bosphorus, nämlich hinsichtlich der Nutzung des geleasten Flug- zeugs, vorliegt.24 Streitig ist insoweit nur, ob ein rechtswidriger Eingriff vorliegt oder nicht, und ob dieser Eingriff auf Art. 8 der VO 990/93 beruht.25 Zunächst wiederholt der EGMR, dass grundsätzlich die nationalen Gerichte die Aufgabe hätten, das nationale Recht, auch wenn es auf internationales Recht verweist, zu interpretieren und anzuwenden. Das gleiche gelte für die Europäischen Gerichte, welche am besten in der Lage seien, das EG-Recht zu interpretieren und anzuwenden. Die Rolle des EGMR beschränke sich in allen Fällen dar-

17 EuGH Rs. C-84/95 (Bosphorus) Slg. 1996, I-3953, Rn. 22-27. Siehe ausführlich hierzu Bohr, Sanctions by the UN Security Council and the EC, EJIL 1993, S. 256-268; Canor, “Can two walk together except if they be agreed?” The relationship between international law and European law: The incorporation of UN sanctions against Yugoslavia into EC law through the perspective of the ECJ, CML Rev. 1998, S. 137-187; Bethlehem, Regional Interface between Security Council Decisions and Member States implementation: The example of the EU, in: Gowlland-Debbas (ed.), United Nations Sanctions and International Law, Den Haag 2001, S. 291- 305; ders., The European Union, in: Gowlland-Debbas (ed.), National Implementation of UN Sanctions – A comparative study, Leiden 2004, S. 123-165. 18 EGMR Rs. 17862/91 (Cantoni) Urteil vom 15.11.1996. 19 EGMR Rs. 24833/94 (Matthews) Urteil vom 18.2.1999. 20 EGMR Rs. 45036/98 (Bosphorus) – Zulässigkeitsentscheidung, Urteil vom 13.9.2001, abrufbar unter: http:// cmiskp.echr.coe.int/tkp197/view.asp?item=2&portal=hbkm&action=html&highlight=bosphorus&sessionid=35 79851&skin=hudoc-en. 21 EGMR Rs. 45036/98 (Bosphorus) Urteil vom 30.6.2005 (Fn. 13). 22 Ebd., Rn. 137. 23 Ebd., Rn. 138. 24 Ebd., Rn. 140. 25 Ebd., Rn. 141-143.

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auf, festzustellen, ob die Auslegung der nationalen und Europäischen Gerichte mit der EMRK vereinbar seien.26 Zur Rechtsgrundlage der irischen Handlung (das Festsetzen des Flugzeugs), folgt der EGMR den Ausführungen der irischen Regierung. Obwohl die UN Sicherheitsratsresolution den Hintergrund für die EG-Verordnung 990/93 darstelle, sei die UN Resolution nicht Teil der irischen Rechtsordnung geworden (es fehlte offensichtlich an dem notwendigen Transformationsakt), so dass als Rechtsgrundlage für das Festsetzen des Flugzeugs nur die unmittelbar gültige EG-Verordnung 990/93 in Betracht komme.27 Da- nach stellt der EGMR fest, dass der irische Supreme Court zu Recht eine Vorlagefrage an den EuGH gestellt habe und dass die Antwort des EuGH den Rechtstreit de facto zu Guns- ten der irischen Regierung entschieden habe. Dies bedeute, dass die irischen Behörden und Gerichte keinen Ermessenspielraum bei dem Eingriff in die EMRK-Rechte gehabt hätten, sondern im Einklang mit den Verpfl ichtungen Irlands, die sich aus dem EG-Recht und vor allen Dingen aus Art. 8 VO 990/93 ergeben, handelten.28 Zur Rechtfertigung des Eingriffs verweist der EGMR zunächst darauf, dass im Rahmen des Art. 1 des 1. Protokolls das Verhältnismäßigkeitsprinzip zur Anwendung kommt, d.h. das Interesse des Einzelnen (hier Nutzung des Flugzeugs) müsse mit dem Allgemeininteresse (hier internationale Zusammenarbeit bei der Umsetzung von Sanktionen) abgewogen wer- den.29 Die Umsetzung von EG-Recht qualifi ziert der EGMR als Allgemeininteresse mit besonderem Gewicht.30 Danach wiederholt der EGMR, dass die EMRK im Lichte aller re- levanten völkerrechtlichen Normen und Prinzipien, die zwischen den Vertragsparteien An- wendung fi nden, zu interpretieren ist – hierzu gehöre auch das pacta sunt servanda-Prin- zip.31 Darüber hinaus habe der EGMR schon seit langem die wachsende Bedeutung der in- ternationalen Zusammenarbeit und die daraus resultierende Notwendigkeit, die Funktions- fähigkeit internationaler Organisationen zu sichern, erkannt.32 Dies gelte in ganz besonderem Maße für supranationale Organisationen wie die EG. Folglich erkennt der EG- MR die Verpfl ichtung zur Einhaltung von Gemeinschaftsrecht als Allgemeininteresse der Vertragsparteien im Sinne des Art. 1 des 1. Protokolls.33 Demnach geht es in diesem Rechts- streit um die Frage, ob und wenn ja, in welchem Umfang, das besondere Allgemeininteresse der Einhaltung von EG-Recht als Rechtfertigung für den Eingriff in die Eigentumsrechte des Klägers qualifi ziert werden kann.34 Auf der einen Seite verbiete die EMRK es den Vertragsparteien nicht, Souveränitätsrechte an internationale oder supranationale Organisationen abzugeben.35 Auf der anderen Seite blieben die EMRK-Vertragsparteien voll verantwortlich für alle Handlungen und Unterlas- sungen, unabhängig davon, ob innerstaatliches Recht oder die Einhaltung von internationa- len/supranationalen Verpfl ichtungen dem zugrunde lägen – insoweit mache Art. 1 des 1. Protokolls keinen Unterschied.36

26 Ebd., Rn. 143. 27 Ebd., Rn. 145. 28 Ebd., Rn. 148. 29 Ebd., Rn. 149. 30 Ebd., Rn. 150. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd., Rn. 151. 35 Ebd., Rn. 152. 36 Ebd., Rn. 153-154.

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Der EGMR wägt diese beiden Aspekte folgendermaßen ab: Handlungen, welche die Einhaltung von internationalen/supranationalen Verpfl ichtungen dienen, sind gerechtfertigt, so lange die betreffende internationale/supranationale Organisa- tion die materiellen EMRK-Rechte beachtet und Rechtsschutzmechanismen bietet, welche eine Kontrolle der Einhaltung der EMRK-Rechte in einem Maße ermöglicht, die dem der EMRK „äquivalent“ ist. „Äquivalent“ bedeutet dem EGMR zufolge, „vergleichbar“ und nicht „identisch“, weil eine solche strenge Voraussetzung dem Interesse der internationalen Zusammenarbeit zuwider laufen könnte.37 Allerdings könne die Feststellung einer Äquiva- lenz nicht endgültig sein, sondern unterliege der Kontrolle im Hinblick auf jede relevante Veränderung des Grundrechtsschutzes in der betreffenden internationalen/supranationalen Organisation.38 Nimmt man jedoch an, dass eine internationale/supranationale Organisation einen solchen äquivalenten Schutz bietet, dann ist anzunehmen, dass die Vertragspartei nicht von den EMRK-Verpfl ichtungen abgewichen ist, sondern dass sie lediglich ihre Verpfl ich- tungen, die sich aus der Mitgliedschaft in der betreffenden Organisation ergeben, erfüllt hat.39 Eine solche Annahme kann angezweifelt werden, wenn sich aus den besonderen Um- ständen eines Einzelfalls ergibt, dass der Schutz der EMRK-Rechte als „offensichtlich un- zureichend“ (manifestly defi cient) zu qualifi zieren ist. In diesen Fällen würde das Interesse der internationalen Zusammenarbeit hinter der Rolle der EMRK als Verfassungsinstrument der Europäischen Rechtsordnung zurücktreten.40 Da im vorliegenden Fall die angegriffene Handlung nur die Einhaltung der Gemeinschafts- rechtsverpfl ichtungen Irlands betrifft, ist nun zu prüfen, ob die Annahme gerechtfertigt ist, dass Irland bei der Erfüllung seiner Gemeinschaftsrechtsverpfl ichtungen die EMRK beach- tet hat und ob diese Annahme durch die Umstände des Falles in Zweifel gezogen wird. Der EGMR stellt zunächst fest, dass die EMRK in Laufe der Zeit eine besondere Stellung im EG-Recht bekommen habe und dass die Rechtsprechung des EuGH einen Grundrechts- schutz biete.41 Die Wirksamkeit dieser Grundrechte hänge jedoch von dem Bestehen von Rechtsschutzmechanismen ab, die eine Kontrolle der Beachtung dieser Rechte ermögli- chen.42 Sodann merkt der EGMR in diesem Zusammenhang an, dass in der Tat die Mög- lichkeit einer direkten Individualklage im Rahmen der bestehenden Verfahren vor dem EuGH/EuG beschränkt sei.43 Trotzdem böten die verschiedenen Verfahren, welche durch die Gemeinschaftsorgane und den Mitgliedstaten vor dem EuGH eingeleitet werden kön- nen, eine wichtige Kontrollfunktion hinsichtlich der Vereinbarkeit von EG-Recht mit der EMRK, die indirekt auch den Einzelnen begünstigten.44 Darüber hinaus gewährleisteten vor allen Dingen die nationalen Gerichte dem Einzelnen ein Rechtsschutzmittel, um gegen EG- rechtswidrige Handlungen vorzugehen. Das Vorlageverfahren des Art. 234 EG sowie die Entwicklung wichtiger Gemeinschaftsrechtsprinzipien, wie etwa der Vorrang und die (un)mittelbare Wirkung des EG-Rechts sowie das Haftungsrecht, hätten die Rolle der nati- onalen Gerichte bei der Anwendung des EG-Rechts und seiner Grundrechtsaspekte sehr

37 Ebd., Rn. 155. 38 Ebd. 39 Ebd., Rn. 156. 40 Ebd. 41 Ebd., Rn. 159. 42 Ebd., Rn. 160. 43 Ebd., Rn. 162. Der EGMR bezieht sich wohl auf die Plaumann-Rechtsprechung des EuGH, die er in den Rechtssachen UPA und Jégo-Quéré bestätigt hat, ohne explizit auf diese Urteile zu verweisen. 44 Ebd., Rn. 163.

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gestärkt.45 Der EuGH behalte hierbei die Kontrolle über die nationalen Gerichte. Aus alle- dem ergäbe sich, dass der Grundrechtsschutz äquivalent mit dem der EMRK sei, so dass angenommen werden könne, dass Irland nicht von seinen EMRK-Verpfl ichtungen abgewi- chen ist, als es seine Gemeinschaftsrechtsverpfl ichtungen erfüllte.46 Schließlich prüft der EGMR noch, ob Umstände vorliegen, die dieses Ergebnis in Zweifel ziehen könnten. Aus der Art des Eingriffs, dem Allgemeininteresse, dass durch die Sanktionen verfolgt wird so- wie dem Urteil des EuGH, welchem der irische Supreme Court folgen musste und auch gefolgt ist, ergebe sich, dass eine Fehlfunktion des Rechtsschutzsystems zur Kontrolle der Beachtung der Konventionsrechte nicht vorliege.47 Der EGMR kommt somit zum Schluss, dass insoweit keine Rede davon sein könne, dass die EMRK-Rechte von Bosphorus „offen- sichtlich ungenügend“ geschützt gewesen sein, so dass die Annahme eines EMRK-gemäßen Verhaltens seitens Irlands nicht in Zweifel gezogen werden könne. Folglich kam die Große Kammer des EGMR einstimmig zum Ergebnis, dass kein Verstoß gegen die EMRK vor- liegt.

III. Analyse

1. Das So-Lange-Prinzip als Model für den EGMR

Die Konsequenzen des Bosphorus-Urteils des EGMR sind folgenschwer, sowohl was das Verhältnis mit dem EuGH betrifft als auch für die Rechtsschutzmöglichkeiten des Einzel- nen. Die Hoffnungen, die der EGMR mit seinem Matthews-Urteil48 und seinem „beinah-Urteil“ im Senator Lines-Fall49 geweckt hatte, nämlich, dass er als „vierte“ Instanz auch (indirekt) die Vereinbarkeit von Handlungen der Gemeinschaftsorganen prüfen würde, haben sich nicht erfüllt.50 Im Gegenteil, der EGMR hat diese Möglichkeit fast ganz ausgeschlossen und behält sich nur noch eine „Reservejurisdiktion“ für ganz extreme Fälle vor. Dieses Modell ist ganz of- fensichtlich dem So-Lange-Prinzip, welches das BVerfG im Hinblick auf seine noch weiter- hin bestehende „Reservejurisdiktion“ hinsichtlich der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten ausübt, nachgebildet. Ein Vergleich der Prüfungsmaßstäbe des BVerfG und des EGMR macht dies deutlich. Im Solange IV-Beschluss des BVerfG be- züglich des Bananenstreits hat das BVerfG den Prüfungsmaßstab wie folgt defi niert: „Sonach sind auch nach der Entscheidung des Senats in BVerfGE 89, 155 [Maastricht Ver- trag – Solange III] Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nach Ergehen der Solan- ge II-Entscheidung (BVerfGE 73, 339 <378 bis 381>) unter den erforderlichen Grund- rechtsstandard abgesunken sei. Deshalb muss die Begründung der Vorlage eines nationalen

45 Ebd., Rn. 164. 46 Ebd., Rn. 165. 47 Ebd., Rn. 166. 48 EGMR Rs. 24833/94 (Matthews) Urteil vom 18.2.1999. 49 EGMR Rs. 56672/00 (Senator Lines) Urteil vom 10.3.2004, siehe auch die Absage der mündlichen Verhand- lung in der Rs. Senator Lines, abrufbar unter: http://www.echr.coe.int/Eng/Press/2003/oct/SenatorLinescan- celled.htm. 50 Vgl. näher: Breuer, Offene Fragen im Verhältnis von EGMR und EuGH, EuGRZ 2005, S. 229-234.

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Gerichts oder einer Verfassungsbeschwerde, die eine Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschaftsrecht geltend macht, im Einzelnen darle- gen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewähr- leistet ist. Dies erfordert eine Gegenüberstellung des Grundrechtsschutzes auf nationaler und auf Gemeinschaftsebene in der Art und Weise, wie das Bundesverfassungsgericht sie in BVerfGE 73, 339 (378 bis 381) geleistet hat.”51 Das EGMR hat seinen Prüfungsmaßstab folgendermaßen defi niert: “155. In the Court‘s view, State action taken in compliance with such legal obligations is justifi ed as long as the relevant organisation is considered to protect fundamental rights, as regards both the substantive guarantees offered and the mechanisms controlling their obser- vance, in a manner which can be considered at least equivalent to that for which the Con- vention provides (see the above-cited M. & Co. decision, at p. 145, an approach with which the parties and the European Commission agreed). By ”equivalent” the Court means ”com- parable”: any requirement that the organisation‘s protection be ”identical” could run coun- ter to the interest of international co-operation pursued (paragraph 150 above). However, any such fi nding of equivalence could not be fi nal and would be susceptible to review in the light of any relevant change in fundamental rights‘ protection. 156. If such equivalent protection is considered to be provided by the organisation, the presumption will be that a State has not departed from the requirements of the Convention when it does no more than implement legal obligations fl owing from its membership of the organisation. However, any such presumption can be rebutted if, in the circumstances of a particular case, it is considered that the protection of Convention rights was manifestly defi cient. In such cases, the interest of international co-operation would be outweighed by the Convention‘s role as a ”constitutional instrument of European public order” in the fi eld of human rights (Loizidou v. Turkey (preliminary objections), judgment of 23 March 1995, Se- ries A no. 310, § 75).”52 Hieraus wird deutlich, dass dem So-Lange-Prinzip im Wesentlichen zwei Schritte zu Grun- de liegen. In einem ersten Schritt wird der Stand des durch die EG gebotenen Grundrechts- schutzes geprüft und für mit dem Grundgesetz bzw. der EMRK vergleichbar gehalten – wenn auch nicht für identisch. In einem zweiten Schritt wird dann die eigene Jurisdiktion selbstständig durch das BVerfG bzw. den EGMR eingeschränkt, so dass nur in extremen Fällen, in denen ganz offensichtlich in schwerwiegendem Maße der Grundgesetz- bzw. EMRK-Grundrechtsschutz versagt worden ist, die Jurisdiktion durch das BVerfG bzw. EG- MR ausgeübt wird. D.h. so lange die EG einen ausreichenden bzw. äquivalenten GG- bzw. EMRK-Grundrechtsschutz bietet, wovon im Allgemeinen und beim heutigen Stand der Din- ge in der EG/EU auszugehen ist, besteht nur noch eine Reservejurisdiktion des BVerfG und des EGMR. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Maßstäben darin, dass das BVerfG eine generelle Absenkung des Mindestgrundrechtsschutzniveaus verlangt, während das EGMR offensichtlich bereits eine solche Absenkung im Einzelfall für ausrei- chend hält. Indes ist noch völlig offen was unter „manifestly defi cient“ tatsächlich zu verste- hen ist. Dies kann nur durch die zukünftige Rechtsprechung des EGMR geklärt werden, so

51 BVerfGE 102, 147, Rn. 62 (Hervorhebung durch den Autor). 52 EGMR Rs. 45036/98 (Bosphorus) Urteil vom 30.6.2005 (Fn. 13) (Hervorhebung durch den Autor).

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dass sich Spekulationen hierüber verbieten. Vergleicht man jedoch beide Maßstäbe mitein- ander, so ist zumindest festzustellen, dass das BVerfG bzw. das EGMR von ihrer Reserve- jurisdiktion nur Gebrauch machen werden, wenn der Grundrechtsschutz in einem derartigen Maße abgesunken ist, dass er unter dem absolut erforderlichen Schutzniveau liegt und damit offensichtlich ungenügend ist. Ist dies nicht der Fall, fi ndet eine Prüfung im konkreten Fall überhaupt nicht mehr statt, so dass mit dem Hinweis auf den vergleichbaren Grundrechts- schutzstand die Klage abgewiesen wird.

2. „Rechtschutzlücken“ durch die Anwendung des So-Lange-Prinzips

Die Anwendung dieses So-Lange-Prinzips gibt damit dem EuGH einen noch größeren Spielraum, um seine Rechtsprechung zum Grundrechtsschutz nach eigenem Gutdünken zu entwickeln, ohne dass er eine generelle Kontrolle durch das BVerfG bzw. EGMR zu be- fürchten hat. Im Allgemeinen ist eine solche Kontrolle gegenüber dem EuGH/EuG auch nicht nötig, da normalerweise der Grundrechtsschutz dem Niveau des Grundgesetzes bzw. der EMRK entspricht und manchmal sogar darüber hinausgeht. Dennoch gibt es Bereiche im EG-Recht, in denen dies meines Erachtens nicht oder nur sehr eingeschränkt gilt. Insbe- sondere zwei Bereiche sind hier zu nennen: zum einen die Umsetzung von WTO-Streitbei- legungsberichten53 und zum anderen die Umsetzung von UN bzw. EU-autonomen Sankti- onen innerhalb der EG/EU und ihrer Mitgliedstaaten.

a) WTO-Streitbeilegungsberichte

Die jüngsten Urteile des EuG und des EuGH bezüglich der Umsetzung von WTO-Streitbei- legungsberichte haben wiederum bestätigt, dass eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Ge- meinschaftsrecht mit dem WTO-Recht nur in sehr eingeschränkten Fällen möglich ist.54 Der EuGH und das EuG verweigern eine Normenkontrolle und schließen auch eine be- grenzte unmittelbare Wirksamkeit von WTO-Streitbeilegungsberichten praktisch aus, so dass geschädigte Einzelpersonen und Unternehmen nicht in der Lage sind, eine Schadenser- satzklage gegen die EG einzureichen.55 Dies kommt meines Erachtens einem Verstoß gegen Art. 6 EMRK gleich. Ob ein „offensichtlich ungenügender“ EMRK-Grundrechtsschutz im Sinne des Bosphorus-Urteils des EGMR vorliegt, ist nicht ohne weiteres auszuschließen und müsste daher durch den EGMR geprüft werden. Die Anwendung des So-Lange-Prin- zips durch den EGMR schließt dies nun praktisch aus. Ein effektiver Rechtsschutz gegen offensichtlich WTO-rechtswidrige EG-Akte ist also in diesen Fällen praktisch ausgeschlos- sen und wird sowohl durch den EuGH/EuG als auch den EGMR akzeptiert.

53 Siehe ausführlich hierzu Lavranos, The Communitarization of WTO Dispute Settlement Reports: An Exception to the Rule of Law, EFA Rev. 2005, S. 313-338; ders., Case-note on the Chiquita and Van Parys judgments, LIEI 2005, Heft 4 S. 449-460; a.A. Antoniadis, The Chiquita and Van Parys judgments: Rules, exception and the law, LIEI 2005, Heft 4 S. 469-476. 54 EuG Rs. T-19/01 (Chiquita) Urteil vom 3.2.2005; EuGH Rs. C-377/02 (Van Parys) Slg. 2005, I-1465. 55 Näher hierzu Weiß, Zur Haftung der EG für die Verletzung des WTO-Rechts, EuR 2005, S. 277-301; Lavranos, Die EG darf WTO-Recht weiterhin ignorieren, EWS 2004, S. 293-297.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 8877 118.05.20068.05.2006 09:27:1309:27:13 88 EuR – Heft 1 – 2006 Rechtsprechung

b) UN und EU-autonome Sanktionen

Ähnliches gilt auch für die Umsetzung von Sanktionen, die vor allem in jüngster Zeit im Rahmen der Terrorismusbekämpfung direkt auf einzelnen Personen und Organisationen ab- zielen.56 Die Umsetzung von UN Sicherheitsratssanktionen innerhalb der EG/EU erfolgt in zwei Schritten.57 Zuerst wird ein Gemeinsamer Standpunkt im Rahmen der Gemeinsamen Au- ßen- und Sicherheitspolitik (GASP; 2. Säule) angenommen und danach wird eine EG-Ver- ordnung erlassen. Der Einzelnen kann die EG-Verordnung vor dem EuG und dann dem EuGH angreifen, wenn er locus standi hat. Der locus standi ist aber – wie der EGMR in seinem Bosphorus-Urteil zu Recht selbst festgestellt hat – für den Einzelnen praktisch un- erfüllbar, da Rechtsverordnungen Allgemeingültigkeit beanspruchen, während aber eine in- dividuelle und direkte Betroffenheit des Einzelnen nachzuweisen ist. Wie die Rechtspre- chung des EuGH zeigt, ist dies ein aussichtsloses Unterfangen.58 Im Ergebnis ist also kein Rechtsschutz vor dem EuG/EuGH gegen vergemeinschaftete UN Sanktionen möglich. Gleiches gilt bei den so genannten EU-autonomen Sanktionen, d.h. Sanktionen, die die EU selbstständig verhängt und die nicht der Umsetzung von UN Sanktionen dienen. Hierbei werden Gemeinsame Standpunkte im Rahmen der GASP und der Polizeilich-Justiziellen Zusammenarbeit (PJZ, 3. Säule) als Rechtsgrundlage benutzt. Gegen Rechtsakte der 2. Säule besteht kein Rechtsmittel, da die Jurisdiktion des EuGH in der GASP ganz ausgeschlossen ist, während die Jurisdiktion des EuGH in der 3. Säule sehr eingeschränkt ist. Gemeinsame Standpunkte im Rahmen der PJZ fallen jedenfalls nicht un- ter die Jurisdiktion des EuGH.59 Fazit: Sowohl bei UN Sanktionen als auch bei EU-auto- nomen Sanktionen ist ein Rechtsschutz vor dem EuGH/EuG praktisch ausgeschlossen. Der EGMR wäre also der rettende Strohhalm, um als letzte Instanz einen Rechtsschutz zu bie- ten. Da es sich aber auch bei EU-autonomen Sanktionen um die Umsetzung von internatio- nalen Verpfl ichtungen im Sinne des Bosphorus-Urteils des EGMR handelt, denen der

56 Vgl. die verschiedenen Verfahren vor dem EuG und EuGH: EuG Rs. T-362/04, Klage erhoben am 3.9.2004 durch L. Minin gegen die Kommission, ABl. 2004, C 273, S. 37; EuG Rs. T-299/04, Klage erhoben am 7.7.2004 durch A. Selmani gegen Rat/Kommission, ABl. 2004, C 284, S.18; EuG Rs. T-49/04, Klage erhoben am 12.2.2004 durch F. Hassan gegen Rat/Kommission, ABl. 2004, C 94, S. 52; EuG Rs. T-327/03, Klage erhoben am 19.9.2003 durch Stichting Al-Aqsa gegen Rat/Kommission, ABl. 2003, C 289, S. 30; EuG Rs. T-315/01, Klage erhoben am 18.12.2001 durch Y. Kadi gegen Rat/Kommission, ABl. 2002, C 56, S. 16. EuG Rs. T-206/02 (KNK v. Rat) Beschluss des EuG vom 15.2.2005; EuG Rs. T-229/02 (PKK/KNK v. Rat) Be- schluss des EuG vom 15.2.2005; EuG Rs. T-333/02 (Gestoras Pro Amnistia u.a.) Beschluss des Präsidenten des EuG vom 7.6.2004, Berufung erhoben am 17.8.2004 gegen diesen Beschluss, das Verfahren hat das Kennzei- chen C-354/04 P, ABl. 2004, C 251, S. 9; EuG Rs. T-338/02 (SEGI) Beschluss des Präsidenten des EuG vom 7.6.2004, Berufung erhoben am 17.8.2004 gegen diesen Beschluss, das Verfahren hat das Kennzeichen C- 355/04 P, ABl. 2004, C 251, S. 10; EuG Rs. T-47/03 R (Sison v. Rat) Beschluss des Präsidenten des EuG, Slg. 2003, II-2047; EuG Rs. T-306/01 R (Aden u.a. v. Rat/Kommission) Beschluss des Präsidenten des EuG, Slg. 2002, II-2387; EuGH Rs. C-317/00 P (R) (Invest Import und Export GmbH) Beschluss des Präsidenten des EuGH, Slg. 2000, I-9541; EuG Rs. T-189/00 R (Invest Import und Export GmbH) Beschluss des Präsidenten des EuG, Slg. 2000, II-2993. Siehe näher hierzu Lavranos, Sanctions and judicial review: No love at fi rst sight, Beitrag zur Konferenz Euro- peanisation of Public International Law, 2. September 2005 in Amsterdam. Die Konferenzbeiträge werden spä- ter bei T.M.C. ASSER PRESS, Den Haag, veröffentlicht. 57 Näher hierzu Lavranos (Fn. 3), Kapitel 3, S. 94 ff.; Wessel, The EU’s Foreign and Security Policy, Den Haag 1999. 58 EuGH Rs. C-50/00 P (UPA) Slg. 2002, I-6677; EuGH Rs. C-263/02 P (Jégo Quéré) Slg. 2004, I-3425. 59 EuG Rs. T-338/02 (SEGI) Beschluss des EuG vom 7.6.2004.

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EGMR eine großes Gewicht beimisst, wird der EGMR seine Reservejurisdiktion nur in den Fällen wahrnehmen, bei denen ein „offensichtlich ungenügender“ Rechtschutz vorliegt. Al- lerdings darf nicht vergessen werden, dass das Bosphorus-Urteil des EGMR im Zusammen- hang mit einer Maßnahme in der 1. Säule erging, so dass es durchaus denkbar ist, dass der EGMR einen weniger strengen Prüfungsmaßstab in Fällen anlegt, in denen es um Maßnah- men der 2. und 3. Säule geht. Wie dem auch sei, auch der EGMR bietet nur in Ausnahme- fällen einen Rechtsschutz. Insgesamt bleibt festzustellen, dass weder der EuGH/EuG noch der EGMR einen ausreichenden Rechtsschutz bieten. Ein Ergebnis, dass aus der Sicht des Einzelnen äußert unbefriedigend ist.

3. Pragmatische Gründe für die Anwendung des So-Lange-Prinzips

Dass die Zurückhaltung des EGMR hinsichtlich der Prüfung von EG/EU-Recht wohl auch ganz pragmatische Gründe hat, sollte nicht unerwähnt bleiben. Der EGMR leidet schon seit Jahren unter der extrem hohen Anzahl von Klagen und dem Rückstau, der sich gebildet hat. Die ständige Erweiterung des Europarats und damit der EMRK mit neuen Mitgliedern hat hierbei sicherlich die Lage weiter verschärft. Mehr Geld für mehr Personal ist jedenfalls nicht zu erwarten, wie der kürzlich stattgefundene Europarat-Gipfel in Warschau im Mai 2005 gezeigt hat.60 Eine Verbesserung dagegen könnte das 14. Protokoll zur EMRK bieten, das gegenwärtig zur Ratifi zierung vorliegt.61 Im Wesentlichen würde hierdurch ein Filter- system eingeführt, in dem kleine Kammern von 3 Richtern und sogar Einzelrichter die Zu- lässigkeit der Klagen in einem höheren Tempo beurteilen – ganz offensichtlich mit dem Ziel, mehr Klagen bereits in diesem Stadium abzuweisen. Auch würden Standardfälle so- wohl formell als auch materiell durch eine 3 Richter Kammer beurteilt werden, so dass nur in Ausnahmefällen große Kammern beschließen würden. Es bleibt abzuwarten, ob dies wirklich zu einer strukturellen und spürbaren Entlastung des EGMR führen wird. Darüber hinaus dürften auch politisch-diplomatische Gründe für die Zurückhaltung des EGMR von ausschlaggebender Bedeutung sein. Schließlich käme eine inhaltliche Prüfung des EGMR im Fall Bosphorus einer inzidenten Prüfung des EuGH-Urteils im Fall Bosphorus gleich. Hierdurch würde der EGMR sich tatsächlich als pimus inter pares aufspielen und damit das relativ gute Verhältnis mit dem EuGH gefährden. Wie dem auch sei, Tatsache ist jedenfalls, dass der EGMR offensichtlich nicht bereit ist, zusätzlich auch noch EG-Rechtsfälle abzuar- beiten.

4. Die nationalen Gerichte als letzte Hoffnungsträger

Somit bleibt zum Schluss nur noch der Blick auf die nationalen Gerichte als letzte Retter in der Not. In der Tat hat das BVerfG trotz seiner Reservejurisdiktion gegenüber dem EuGH kürzlich eine deutliche Warnung gegenüber dem EuGH ausgesprochen. Es ging hierbei unter ande- rem um die Frage der Rechtsnatur von EU-Rahmenbeschlüssen. Der EuGH und die GA

60 Siehe das Abschlusscommuniqué des Gipfels und der beschlossene Aktionsplan, abrufbar unter: http://www. coe.int/t/dcr/summit/default_EN.asp. 61 Abrufbar unter: http://conventions.coe.int/Treaty/EN/CadreListeTraites.htm; vgl. ausführlich hierzu Keller/ Bertschi, Erfolgspotenzial des 14. Protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 2005, S. 204-229.

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Kokott hatten in der Sache Pupino eine weitgehende Annäherung von EU-Rahmenbeschlüs- sen mit EG-Richtlinien hergestellt, um die Verpfl ichtung zur richtlinienkonformen Interpre- tation der nationalen Gerichte auch auf EU-Rahmenbeschlüsse anzuwenden.62 Demnach sind nationale Gerichte verpfl ichtet, nationales Recht soweit wie möglich im Lichte der EU- Rahmenbeschlüsse zu interpretieren. Der EuGH hat mit diesem Urteil dem EU-Recht einen viel stärkeren supranationalen Status zuerkannt als allgemein bisher angenommen wurde. Das BVerfG vertrat zwei Wochen nach der Verkündung der Pupino-Entscheidung des EuGH in seinem Urteil zum Europäischen Haftbefehl eine ganz andere Auffassung.63 Das BVerfG stellte in diesem Zusammenhang fest: „Der Gesetzgeber war jedenfalls verpfl ichtet, die Umsetzungsspielräume, die der Rahmen- beschluss den Mitgliedstaaten belässt, in einer grundrechtsschonenden Weise auszufüllen. Eine im Vergleich zur Umsetzung von Richtlinienrecht der Europäischen Gemeinschaft be- sondere Verantwortung für die verfassungsgemäße Umsetzung ergibt sich auch aus dem Umstand, dass es sich um Maßnahmen aus dem Bereich der „dritten Säule“ der Europä- ischen Union handelt. Der Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 ist ein sekundärer Unionsrechtsakt, der die Zielvorgabe des EU-Vertrages rechtlich ausfüllt. Der Rahmenbeschluss ist nach Art. 34 Abs. 2 lit. b EU im Hinblick auf das „zu er- reichende Ziel“ verbindlich. Die unionsrechtliche Handlungsform ist zwar in ihrer Konzep- tion der Richtlinie des supranationalen Gemeinschaftsrechts nachgebildet, weicht jedoch in mehrfacher Hinsicht von dieser Sekundärrechtsquelle ab. Ein Rahmenbeschluss ist nicht unmittelbar wirksam (Art. 34 Abs. 1 lit. b EU), er bleibt für seine innerstaatliche Gültigkeit darauf angewiesen, dass er von den Mitgliedstaaten in das nationale Recht umgesetzt wird. Mit dem in den EU-Vertrag aufgenommenen Ausschluss der unmittelbaren Anwendbarkeit wollten die Mitgliedstaaten insbesondere verhindern, dass die Rechtsprechung des Europä- ischen Gerichtshofs zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien auch auf den Rah- menbeschluss erstreckt wird (zur sogenannten „vertikalen Direktwirkung“ von Richtlinien siehe EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 11 – Francovich u.a.; Rs. C-62/00, Slg. 2002, I-6325 Rn. 25 – Marks & Spencer; zusammenfassend Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, 2. Aufl . 2002, Rn. 341 ff.). Als Handlungsform des Unionsrechts steht der Rahmenbeschluss außerhalb der supranati- onalen Entscheidungsstruktur des Gemeinschaftsrechts (vgl. zum Unterschied von Unions- und Gemeinschaftsrecht BVerfGE 89, 155 <196>). Das Unionsrecht ist trotz des fortge- schrittenen Integrationsstandes weiterhin eine Teilrechtsordnung, die bewusst dem Völker- recht zugeordnet ist. So muss ein Rahmenbeschluss einstimmig vom Rat gefasst werden, er bedarf der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten, und die Umsetzung ist nicht gerichtlich durchsetzbar. Das Europäische Parlament, eigenständige Legitimationsquelle des europä- ischen Rechts, wird in dem Rechtsetzungsprozess lediglich angehört (vgl. Art. 39 Abs. 1 EU), was im Bereich der „dritten Säule“ den Anforderungen des Demokratieprinzips ent- spricht, weil die mitgliedstaatlichen Legislativorgane die politische Gestaltungsmacht im

62 EuGH Rs. C-105/03 (Pupino) Urteil vom 16.6.2005; Gutachten der GA Kokott Rs. C-105/03 (Pupino) vom 11.11.2004; vgl. Herrmann, Anmerkung zum Pupino-Urteil, EuZW 2005, S. 433-438; so zuvor bereits Lavra- nos (Fn. 3.), Kapitel 5. 63 BVerfG, 2 BvR 2236/04 (Europäischer Haftbefehl) Urteil vom 18.7.2005, abrufbar unter: http://www.bundes- verfassungsgericht.de/cgi-bin/link.pl?entscheidungen; vgl. näher hierzu: Voge l , Europäischer Haftbefehl und deutsches Verfassungsrecht, JZ 2005, S. 801-808.

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Rahmen der Umsetzung, notfalls auch durch die Verweigerung der Umsetzung, behal- ten.”64 Das BVerfG (zumindest die Mehrheit des 2. Senats) macht hiermit deutlich, dass das So- Lange-Prinzip nicht ohne weiteres auch auf das EU-Recht Anwendung fi ndet, sondern dass das BVerfG seine Reservejurisdiktion in der 3. Säule des EU-Rechts eher wahrnehmen wird, als das in der 1. Säule der Fall ist, um die bestehende Rechtsschutzlücke auf EU-Ebene aus- zugleichen. Nicht unerwähnt sollte bleiben, dass es zwei kritische abweichende Meinungen der Richter Lübbe-Wolff und insbesondere von Gerhardt gibt, der das Urteil der Senats- mehrheit nicht mittragen kann, da der Senat „sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“ gesetzt habe.65 Richter Gehardt bedauert sehr, „dass der Senat sich insoweit einer konstruktiven Mitarbeit an europäischen Lösungen verweigert. Namentlich mit der Behauptung eines inneren Zusammenhangs von Ausliefe- rungsverbot und Staatsangehörigkeit als Status sowie mit dem undefi niert gebliebenen To- pos des Vertrauens in die Verlässlichkeit der eigenen Rechtsordnung betont er einseitig die nationale Perspektive, statt einen Ausgleich zwischen den Bindungen des nationalen und des europäischen Rechts herzustellen. Dass er weder begriffl ich noch in einer Diskussion möglicher Konsequenzen auf das Urteil des Gerichtshofs in der Sache Pupino eingeht, dient dem Recht nicht.”66 Die unterschiedlichen Meinungen innerhalb des Senats zu der Frage der Rechtsnatur des EU-Rechts und inwieweit das BVerfG seine Reservejurisdiktion in diesem Bereich ausüben soll, zeigen, dass hier noch keine abschließende, durch alle Richter getragene, Position ge- funden ist.

IV. Fazit

Die Haltung des EGMR gegenüber dem EuGH entspricht der Haltung des BVerfG gegenü- ber dem EuGH. Dieser „Friedensvertrag“ zwischen den höchsten Europäischen Gerichten ist grundsätzlich zuzustimmen, da er Konfl ikte und möglicherweise divergierende Urteile zu gleichen Grundrechtsfragen auf ein Minimum beschränkt und damit eine Versplitterung des Europäischen Grundrechtsschutzniveaus vermeidet.67 Das System der Reservejurisdik- tion kann allerdings zu „Rechtsschutzlücken” führen, die im Einzelfall Grundrechtsverlet- zungen nicht mehr zu korrigieren vermag, insbesondere wenn sie nicht die strengen Voraus- setzungen des So-Lange-Prinzips, wie es das BVerfG und das EGMR anwenden, erfüllen. Aus Sicht der Europäischen Gerichte ist diese Haltung im Hinblick auf die hohe Arbeitsbe- lastung auch völlig verständlich. Dennoch dürfen praktische Erwägungen nicht dazu führen, dass ein effektiver Grundrechtsschutz für den Einzelnen nur noch auf dem Papier möglich ist. Eine wachsame und kritische Haltung aller Gerichte – insbesondere der nationalen Ge- richte – ist darum besonders angezeigt, um eine schleichende Absenkung des Grundrechts-

64 Ebd., Rn. 80-81 (Hervorhebung durch den Verfasser). 65 Ebd., Rn. 184, abweichende Meinung von Richter Gerhardt. 66 Ebd., Rn. 189. 67 Siehe allgemein zur Problematik der Gefahr der Versplitterung des internationanlen Rechts Lavranos, Con- currence of Jurisdiction between the ECJ and other International Courts and Tribunals, EEL Rev. 2005, Teil 1, S. 213-225, Teil 2, S. 240-251; Matz, Wege zur Koordinierung völkerrechtlicher Verträge, Berlin 2005; Finke, Die Parallelität internationaler Streitbeilegungsmechanismen, Berlin 2004; Shany, The Competing Jurisdictions of International Courts and Tribunals, Oxford 2003; Neumann, Die Koordination des WTO-Rechts mit anderen völkerrechtlichen Ordnungen, Berlin 2002.

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schutzes zu verhindern. Ein solche Haltung ist vor allen Dingen nötig angesichts des Um- stands, dass Beschlüsse internationaler Organisationen immer öfters direkt in die Grund- rechte Einzelner eingreifen, ohne dass ein entsprechender Rechtsschutz dagegen besteht.68 In diesem Zusammenhang ist es sehr bedauerlich, dass die Ratifi zierung der Europäischen Verfassung im Moment ins Stocken geraten ist, denn gerade die Europäische Verfassung sieht die Vergemeinschaftung der besonders sensiblen 3. Säule vor, wodurch die Jurisdiktion des EuGH auf den gesamten Bereich der 3. Säule ausgedehnt werden würde.69 Daneben enthält die Europäische Verfassung auch eine Lockerung der strengen locus standi-Voraus- setzung hinsichtlich allgemein gültiger Rechtsakte.70 Insgesamt würden die Rechtsschutz- möglichkeiten zumindest potentiell deutlich besser werden. Überdies würde die Europä- ische Verfassung auch das Verhältnis zwischen dem EuGH und dem EGMR verdeutlichen. Es bleibt daher zu hoffen, dass die Europäische Verfassung doch noch in Kraft treten wird. Abschließend bleibt somit festzustellen, dass nach dem Bosphorus-Urteil des EGMR Kla- gen vor dem EGMR, die (indirekt) EG-Rechtsakte betreffen, im Allgemeinen wenig Aus- sicht auf Erfolg haben. In Fällen, in denen sowohl der EuGH als auch das EGMR keinen effektiven Rechtsschutz bieten können bzw. wollen, bleiben die nationalen Gerichte – insbe- sondere die Verfassungsgerichte – als letzte Hoffnungsträger übrig. Das BVerfG hat in sei- nem Urteil zum Europäischen Haftbefehl ausdrücklich festgestellt, dass „das primäre Uni- onsrecht zwar mit Art. 6 EU die Frage der Homogenität der Strukturen zwischen den Mit- gliedstaaten [thematisiert]. Die bloße Existenz dieser Vorschrift, eines die Strukturprinzipien absichernden Sanktionsmechanismus (Art. 7 EU) und eines gesamteuropäischen Standards des Menschenrechtsschutzes durch die Europäische Konvention zum Schutze der Men- schenrechte und Grundfreiheiten rechtfertigen aber nicht die Annahme, dass die rechtsstaat- lichen Strukturen unter den Mitgliedstaaten der Europäischen Union materiell synchroni- siert sind und eine entsprechende nationale Einzelfallprüfung deshalb überfl üssig ist. Inso- weit kann durch das Inkraftsetzen eines strikten Grundsatzes der gegenseitigen Anerken- nung und der damit verbundenen weitgehenden gegenseitigen Vertrauensbekundung der Staaten untereinander die verfassungsrechtliche Gewährleistung der Grundrechte nicht ein- geschränkt werden (vgl. dazu auch Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, – Waite und Kennedy, NJW 1999, S. 1173 <1175>; – Matthews, NJW 1999, S. 3107 <3108>).“71 Mithin ist das BVerfG weiterhin bereit eventuelle Rechtschutzlücken im Europäischen Grundrechtsschutzsystem, d.h. sowohl hinsichtlich des EuGH und des EGMR, aufzufül- len.72

68 Siehe hierzu Lavranos (Fn. 56). 69 Vgl. Art. III-376, III-377 VVE. 70 Art. III-365 (4) VVE lautet: (4) Jede natürliche oder juristische Person kann unter den in den Absätzen 1 und 2 genannten Bedingungen gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechts- akte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben. Entscheidend ist hier, dass die Voraussetzung „individuell“ für Rechtsakte mit Verordnungscharakter nicht mehr erfüllt werden müsste. Vgl. Fredriksen, Individualklagemöglichkeiten vor den Gerichten der EU nach dem Ver- trag über eine Verfassung für Europa, ZEuS 2005, S. 99-133. 71 BVerfG (Europäischer Haftbefehl) (Fn. 63), Rn. 118 (Hervorhebung durch den Verfasser). 72 Siehe allgemein Hofmann, The German Federal Constitutional Court and Public International Law: New Deci- sions, New Approaches?, GYIL 2004, S. 9-38.

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Ausschluss der Rückzahlung von Ausgleichszahlungen für benachteiligte Gebiete wegen Irrtums der gewährenden Behörde

1. Das europäische Gemeinschaftsrecht enthält keine Rechtsvorschriften, die un- mittelbar eine Befugnis zur Rückzahlung oder zum Widerruf von Bewilligungs- bescheiden regeln. Daher richten sich die Aufhebung von Zuwendungsbescheiden und deren Folgen zunächst nach nationalem Recht. 2. Einer Körperschaft des öffentlichen Rechts ist es grundsätzlich versagt, sich im Sinne des Art. 48 Abs. 2 BayVwVfG darauf zu berufen, dass sie auf den Bestand eines VA vertraut hat oder entsprechende Leistungen verbraucht hat. Etwas an- deres gilt aber, wenn das nationale Recht durch vorrangiges Gemeinschaftsrecht überlagert wird, das eine Rückzahlungsverpfl ichtung des Leistungsempfängers ausschließt. 3. Art. 14 Abs. 4 der VO (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 sieht vor, dass die Verpfl ichtung des Leistungsempfängers zur Rückzahlung ent- fällt, wenn die Zahlung auf einem Irrtum der zuständigen Behörde beruht, der vom Leistungsempfänger, der seinerseits im guten Glauben gehandelt und alle Be- stimmungen der geltenden Verordnung eingehalten hat, billigerweise nicht erkannt werden konnte. Soweit diese Voraussetzungen erfüllt sind, entfällt die Rückzah- lungspfl icht des Leistungsempfängers, weil Art. 14 Abs. 4 der VO Nr. 3887/92 ge- genüber den an sich einschlägigen Vorschriften des BayVwVfG vorrangige Anwen- dung fi ndet.

(Leitsätze der Redaktion)

Urteil des Bayrischen Verwaltungsgerichtshofes vom 02.05.2005 (Az. 19 B 03.1726)

Tatbestand:

1. Der Kläger (Kl.) ist Eigentümer einer Alm mit Wirtschaftsgebäuden und einer Fläche von 30,03 ha. Mit Mehrfachanträgen beantragte er für die Jahre 1994 bis 1999 die Ge- währung von Ausgleichszahlungen in benachteiligten Gebieten nach den Richtlinien des Bayer. Staatsministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom 17. Au- gust 1994. In den Mehrfachanträgen ist jeweils angegeben, dass ein landwirtschaft- licher Betrieb bewirtschaftet und die Alm mit Pensionsvieh bzw. Fremdvieh bestoßen werde und die Rechtsform des Betriebes eine Körperschaft des öffentlichen Rechts sei. Das Amt für Landwirtschaft und Ernährung (AfLuE) Laufen/Traunstein bewilligte mit Bescheid vom 2. Dezember 1994 eine Ausgleichszulage i.H.v. 8.588,- DM und mit Be- scheiden vom 29. September 1995, 18. Oktober 1996, 23. September 1997, 7. Oktober 1998 und 7. Oktober 1999 Ausgleichszulagen jeweils i.H.v. 10.210,- DM, in der Zeit von 1994 bis 1999 somit insgesamt 59.638,- DM. 2. Nach einem Aktenvermerk über eine Besprechung zwischen Vertretern des Kl. und dem AfLuE am 29. Juli 1999 wurde seitens der Behörde erklärt, dass der Kl. nach der Richtlinie nicht antragsberechtigt und deshalb keine Förderung mehr zu erwarten sei. Mit Schreiben vom 15. Februar 2000 teilte das AfLuE dem Kl. mit, es sei „1998 erst- mals beim zufälligen Nachlesen der Richtlinien von 1994“ festgestellt worden, dass der

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„landwirtschaftliche Betrieb seiner Alm nicht weiter gefördert werden könne; auch die Regierung von Oberbayern und das Landwirtschaftsministerium stimmten mit dieser Ansicht überein. Mit Schreiben des AfLuE vom 20. März 2001 wurde der Kl. schließlich zu einer Rück- forderung der ausbezahlten Beträge „seit 1993“ angehört. Dem ist der Kl. mit Schrei- ben vom 13. Juni 2001 entgegengetreten. Mit Bescheid vom 27. Juli 2001 hat das AfLuE die o. g. Zuwendungsbescheide aufge- hoben und den Kl. aufgefordert, den ausbezahlten Gesamtbetrag i.H.v. 59.638,- DM zuzüglich Zinsen i.H.v. 8.312,64 DM bis spätestens 30. August 2001 zurückzuerstatten. Zur Begründung wurde angegeben, förderfähig seien seit 1994 u. a. nur Körper- schaften, die unmittelbar kirchliche, gemeinnützige oder mildtätige Zwecke (im Sinne des Steuerrechts) verfolgten. Rechtsgrundlage für den Rücknahmebescheid sei Art. 48 Abs. 2 BayVwVfG, für die Rückforderung Art. 49 a BayVwVfG; der Zinsanspruch folge aus Art. 44 a BayHO bzw. Art. 49 a Abs. 3 BayVwVfG. 3. Dagegen hat der Kl. mit Schreiben vom 22. August 2001 Widerspruch eingelegt und mit weiterem Schreiben vom 5. September 2001 ergänzt. Er trug im Wesentlichen vor, er habe die Ausgleichszahlung im guten Glauben zweckgebunden verwendet und eine Rückforderung sei wegen Fristablaufs gemäß Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG nicht mehr möglich. Mit Bescheid vom 24. Juni 2002 hat die Regierung von Oberbayern den Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Gemäß Art. 14 Abs. 1, 4 VO (EWG) Nr. 3887/92 bestehe zwar keine Verpfl ich tung zur Rückzahlung, da die Förderung aufgrund eines Versäumnisses des Amtes erfolgt sei, jedoch sei eine Rückforderung im Interesse des effektiven Ein satzes und einer sparsamen Verwendung öffentlicher Mittel geboten. Der Kl. als Gemeinde könne nach der Rechtsprechung kei- nen Vertrauensschutz in Anspruch nehmen und sich nicht auf einen Wegfall der Berei- cherung berufen; die Rückforderung sei auch verhältnismäßig. Schließlich sei die Jah- resfrist gewahrt, da das Amt sich der Notwendigkeit einer Rückforderung erst aufgrund eines ministeriellen Schreibens vom 15. Dezember 2000 bewusst geworden und zur Ermessensausübung der Kl. noch anzuhören gewesen sei. 4. Dagegen hat der Kl. am 24. Juli 2002 Klage erhoben und mit Schriftsatz seines Bevoll- mächtigten vom 23. Oktober 2002 zur Begründung im Wesentlichen vor tragen lassen: Grundsätzlich gelte der Vertrauensschutz auch zu Gunsten öffentlicher Rechtsträger. Bei einer Abwägung nach Treu und Glauben sei zu berücksichtigen, dass die Förder- mittel zweckentsprechend verwendet worden seien und dass der Fehler im Bereich der erlassenden Behörde gelegen habe. Es fehle im Rahmen des Art. 48 BayVwVfG auch an einer Ermessensausübung bzw. -begründung. Schließlich sei die Jahresfrist jeden- falls versäumt, da das Amt laut eigener Angabe bereits 1998 bzw. spätestens 1999 Kenntnis von der Rechts widrigkeit der Förderung gehabt habe. Die Regierung von Oberbayern hat mit Schriftsatz vom 11. November 2002 zur Klage- erwiderung ausgeführt: Da die Gemeinde an das Prinzip der Gesetzmäßig keit der Ver- waltung gebunden sei, könne sie sich nicht auf einen Vertrauens schutztatbestand beru- fen. Auch die Jahresfrist stehe der Rückforderung nicht entgegen, da das Amt erst mit Schreiben des Staatsministeriums vom 15. Dezember 2000 gebeten worden sei zu prü- fen, ob die seit 1994 ausbe zahlten Mittel belassen werden könnten. Dem ist der Klägervertreter mit Schriftsatz vom 21. November 2002 nochmals entge- gengetreten.

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Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13. Februar 2003 hat das Ver- waltungsgericht zunächst mit Verfügung vom 26. Februar 2003 auf eine mögliehe Ver- jährungsfrist gemäß Art. 3 VO (EG, Euratom) Nr. 2988/95 vom 18. Dezember 1995 hingewiesen und gleichzeitig eine daran orientierte ver gleichsweise Regelung (ein- schließlich Verzicht auf Zinsen) angeregt. In der weiteren mündlichen Verhandlung am 13. Mai 2003 wurde die Frage eines landwirt schaftlichen Betriebs des Kl. erörtert. Mit Urteil vom 13. März 2003 hat das Verwaltungsgericht die Klage im Wesent lichen mit folgender Begründung abgewiesen: Der Kl., der unstreitig nicht antragsberechtigt gewesen sei, könne sich als Körperschaft des öffentlichen Rechts gegenüber einer staat- lichen Förderbehörde nicht auf Vertrauensschutz oder den Wegfall der Bereicherung berufen. Der Ausgangsbescheid enthalte zwar keine Ermessenserwägungen, jedoch kä- me beim Widerruf wegen Zweck verfehlung den haushaltsrechtlichen Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit ermessenslenkende Bedeutung zu. Die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG wäre im gegebenen Fall zwar abgelaufen; da die Richt- linie ihre Grundlage jedoch in der VO (EWG) Nr. 2328/91 vom 15. Juli 1991 zur Ver- besserung der Effi zienz der Agrarstruktur habe, sei Art. 3 Abs. 1 der VO (EG, Euratom) Nr. 2988/95 vom 15. Dezember 1995 anzuwenden, wonach die Ver jährungsfrist vier Jahre ab Begehung einer „Unregelmäßigkeit“ betrage. Diese liege darin, dass der Kl. zu Unrecht angegeben habe, er bewirtschafte einen landwirtschaftlichen Betrieb. Da es sich bei der objektiv unrichtigen Angabe um wiederholte Unregelmäßigkeiten im Sinne der Verordnung handle, habe die Verjährungsfrist erst mit deren Beendigung begonnen, so dass sämtliche ab 1994 gewährte Zulagen zurückgefordert werden dürften. 5. Auf Antrag des Klägerbevollmächtigten hat der Senat mit Beschluss vom 29. Septem- ber 2004, zugegangen am 4. Oktober 2004, die Berufung des Kl. zugelassen. Einer Anregung des Senats in der Verfügung vom 22. September 2004, ob dem Vergleichs- vorschlag des Verwaltungsgerichts nahe getreten werden könne, ist der Beklagte (Bekl.) nicht gefolgt. Zur Berufungsbegründung hat der Kl. mit Faxschreiben vom 4. November 2004 u. a. geltend machen lassen: Das Verwaltungsgericht habe unberücksichtigt gelassen, dass er die jeweiligen Anträge zusammen mit Vertretern des AfLuE und insbesondere auf de- ren Anleitung hin ausgefüllt habe, so dass er darauf habe vertrauen können, die Förder- bestimmungen einzuhalten. Deshalb seiArt. 14 Abs. 4 VO (EWG) Nr. 3887/92 vom 23. Dezember 1992 anzuwenden, wonach bei Irrtum der zuständigen Behörde eine Rück- zahlungspfl icht entfalle. Zudem habe das Verwaltungsgericht den Begriff eines land- wirtschaftlichen Betriebs unzutreffend ausgelegt. So seien die dort aufgeführten Grund- sätze durchaus erfüllt, da sowohl eigene Bodennutzung als auch notwendige Stal lungen und Unterkunftsgebäude sowie Produktionsmittel als auch eigenes Per sonal vorhanden seien und in der Verfügungs- und Weisungsbefugnis des Kl. stünden; dass dieser kein eigenes Vieh, sondern Pensionstiere halte, sei unschädlich.

Der Kl. beantragt, unter Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Urteils vom 13. März 2003 den Bescheid des AfLuE vom 27. Juli 2001 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheids der Regierung von Oberbayern vom 24. Juni 2002 aufzuheben.

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Der Bekl. beantragt, die Berufung zurückzuweisen. Zur Berufungserwiderung wurde mit Schriftsatz vom 29. November 2004 im Wesentlichen vorgetragen: Der Kl. könne sich neben Vertrauensschutz auch nicht auf guten Glauben nach Art. 14 Abs. 4 VO (EWG) Nr. 3887/92 berufen. Zudem erfordere die Norm, dass „alle Be- stimmungen der geltenden Verordnung eingehalten“ wurden; dies treffe hinsichtlich des Kl. nicht zu, da er weder un mittelbar kirchliche, gemeinnützige oder mildtätige Zwecke im Sinne des Steuerrechts verfolge noch einen landwirtschaftlichen Betrieb bewirtschafte. Er hätte bei Nachlesen der Richtlinien über die Gewährung einer Ausgleichszulage erkennen können, dass er nicht antragsberechtigt sei und ihm die Zuwendung irrigerweise gewährt werde. Der Kl. übergehe den Aspekt, dass er keinen landwirtschaftlichen Betrieb führe, son- dern eine politisch motivierte, wirtschaftlich uneigennützige Hilfestellung für Landwirte leiste, die seine Alm in Anspruch nähmen. In der mündlichen Verhandlung am 27. April 2005 wurde die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert und im Hinblick auf einen materiell gerechten Ausgleich nochmals eine vergleichsweise Regelung angeregt. Seitens des Bekl. wurde ergänzend vorgetragen, dass beim Kl. jedenfalls keine landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit im Sinne Art. 18 VO (EWG) Nr. 2328/91 vorgelegen habe und damit bei ihm nicht alle Bestimmungen der geltenden Verordnung im Sinne Art. 14 VO (EWG) Nr. 3887/92 eingehalten worden seien. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die gewechselten Schriftsätze und die Akten im Behörden- und den Gerichtsverfahren sowie die Verhandlungsniederschrift vom 27. April 2005 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Kl. erfüllt die Zulässigkeitsvoraussetzungen des §124a Abs. 6 VwGO und ist auch begründet, weil die rechtlichen Voraussetzungen für eine Rück forderung der vom Bekl. geleisteten Ausgleichszahlungen für benachteiligte Gebiete nicht vorliegen. Der ange- fochtene Rückforderungsbescheid vom 27. Juli 2001 und der Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 2002 verletzen den Kl. deshalb in seinen Rechten und sind aufzuheben sowie das erstinstanzliche Urteil entsprechend abzuändern (§§113 Abs. 1,114 VwGO). 1. Rechtsgrundlage der Förderung und auch der streitgegenständlichen Rückforde rung sind die „Richtlinien des Bayerischen Staatsministeriums für Ernährung, Landwirt- schaft und Forsten für die Gewährung der Ausgleichszuzahlung im Berggebiet und in der benachteiligten Agrarzone“ vom 17. August 1994 Nr. B 4-7275-1704 sowie die dort aufgeführten gemeinschaftsrechtlichen Grundlagen, auf denen diese Richtlinie beruht. Dabei stellt die Richtlinie selbst keine Rechtsnorm dar, führt allerdings zu einer Selbst- bindung der Behörde bei deren Anwendung. Der Kl. hat von Anfang an nicht zum Kreis der antragsberechtigten Zuwendungsempfänger im Sinne Nr. 3.1 der Richtlinie gehört, da er als Kommune zwar eine dort genannte Körperschaft (des öffentlichen Rechts) darstellt, jedoch nicht „unmittelbar kirchliche, gemeinnützige oder mildtätige Zwecke im Sinne des Steuerrechts“ (§§ 51 ff. AO) verfolgt. Die Ausgleichszulagen für die Jahre 1994 bis 1999 sind dem Kl. somit zu Unrecht ausbezahlt worden. Ent- scheidungserheblich ist jedoch nicht die Frage, ob die Gewährung rechtmäßig war, son- dern ob und inwieweit die rechtswidrigen Bewilligungsbescheide aufge hoben und die fälschlicherweise gewährten Ausgleichszahlungen zurückgefordert werden können.

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1.1 Bei der Ausgleichszulage im Berggebiet geht es um eine Zuwendung, die auf der Grundlage von Gemeinschaftsrecht gewährt und aus Gemeinschaftsmitteln kofi nanziert wurde. Das Gemeinschaftsrecht enthält jedoch keine Rechtsvor schriften, die unmittel- bar eine Befugnis zur Rücknahme oder zum Widerruf von Bewilligungsbescheiden re- geln. Daher richtet sich die Aufhebung von Zuwendungsbescheiden und deren Folgen zunächst nach nationalem Recht (vgl. BVerwG, U.v. 10.12.2003 – 3 C 22.02 mit Hin- weis auf Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 729/70 vom 21.4.1970 über die Finanzierung der gemein- samen Agrarpolitik, nunmehr Art. 8 Abs. 1 VO Nr. 1258/99 vom 17.5.1999, wonach die Mitglieds staaten gemäß ihren Rechts- und Verwaltungsvorschriften die erforderlichen Maßnahmen treffen), soweit nicht hinsichtlich einzelner Punkte doch gemein schafts- rechtliche Regelungen getroffen sind und insoweit vorgehen. 1.2 Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bewilligungsbescheide ist somit grundsätzlich Art. 48 BayVwVfG. Nach Art. 48 Abs. 1 Satz 1 BayVwVfG kann auch ein unanfecht- barer rechtswidriger Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenom- men worden; ein begünstigender Verwaltungsakt darf jedoch nur unter den Vorausset- zungen der Abs. 2 bis 4 zurückgenommen werden (Art. 48 Abs. 1 Satz 2 BayVwVfG). Insoweit ist fraglich, ob eine Rücknahme der streitgegenständlichen Bescheide nicht bereits an der Verjährungsregelung des Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG scheitert. Da- nach ist eine Rücknahme nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt zulässig, in dem die Behörde von Tatsachen, welche die Rücknahme rechtfertigen, Kenntnis erhal- ten hat. Hier hat das AfLuE zwar bereits 1998 bzw. 1999 Kenntnis davon erlangt, dass der Kl. nicht antragsberechtigt ist und deshalb nicht weiter gefördert werden könne. Nach Ansicht des Senats ist davon jedoch die Frage zu unterscheiden, ob und gegebe- nenfalls wieviel früher zu Unrecht gewährte Fördermittel wieder zurückgefordert wer- den können, da hierfür andere Rechtsgrundlagen ent scheidungserheblich sind als für die Förderung selbst. Es kommt somit auf den Zeitpunkt an, ab dem die Behörde von den Rücknahme- und daraus resultierenden Rückforderungstatsachen Kenntnis hatte. Eine entsprechende Kenntnis der Behörde ist deshalb erst ab Eingang des zu dieser Fra- ge ausdrücklich eingeholten ministeriellen Schreibens vom 18. Dezember 2000 anzu- nehmen. Damit ist der streitgegenständliche Bescheid vom 27. Juli 2001 innerhalb der Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 Satz 1 BayVwVfG ergangen. Auf die Frage, ob durch die Anhörung des Kl. die Kenntnisnahme von den ent- scheidungserheblichen Tatsachen weiter hinausgeschoben wurde oder werden konnte, kommt es hier nicht mehr an. Gleiches gilt hinsichtlich der Frage, ob die Jahresfrist des Art. 48 Abs. 4 VwGO im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtliche Interesse des effek- tiven Einsatzes und einer sparsamen Verwendung der kofi nanzierten Mittel in jedem Fall gilt und ob die weitergehende Verjährungs regelung in Art. 3 Abs. 1 der VO (EG, Euratom) Nr. 2988/95 vom 18. Dezember 1995 Anwendung fi nden könnte. Lediglich ergänzend wird deshalb darauf hin gewiesen, dass letztere Verordnung ausweislich der dort vorangestellten Er wägungen eine Sanktionsregelung bei strafbaren Handlungen oder Unter lassungen (u.a. Betrug) darstellt, für die im gegebenen Fall keinerlei Anhalts- punkte vorliegen (vgl. zur Anwendbarkeit dieser VO auch Schreiben der Europäischen Kommission vom 28.5.2001 an das Bundesministerium für Ver braucherschutz, Ernäh- rung und Landwirtschaft, von dort weitergeleitet mit Schreiben vom 7.8.2001 an die Minister für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft der Länder). Mangels Anwendbarkeit des Art. 3 der VO (EG,Euratom) Nr. 2988/95 bedarf es auch keines weiteren Eingehens auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach eine „wie-

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derholte Unregelmäßigkeit“ im Sinne der Verordnung vorläge, sowie auf den Umstand, dass diese Verordnung erst am 18. Dezember 1995 in Kraft getreten ist und somit schwer lich auf die Anträge des Kl. vom März 1994 und vom April 1995 angewandt werden könnte. 1.3 Eine Rücknahme der rechtswidrigen Bewilligungsbescheide wäre nach Über zeugung des Senats nicht gemäß Art. 48 Abs. 2 BayVwVfG ausgeschlossen. Dem Kl. als Kör- perschaft des öffentlichen Rechts ist grundsätzlich die Berufung darauf versagt, auf den Bestand eines Verwaltungsakts vertraut oder die Leistungen verbraucht zu haben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundes verwaltungsgerichts sind Gemeinden ebenso wie die Länder und der Bund dem Gemeinwohl und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ver pfl ichtet, ohne dass ein vergleichbares Bedürfnis für Schutzwürdig- keit wie bei Privatpersonen besteht (vgl. U.v. 17.9.1970 -II C 48.68, U.v. 29.5.1980 – 5 C 11/78 und B.v. 29.4.1999 – 8 B 87/99 sowie BayVGH, U.v. 9.8.1999 – 4 B 99.779). 2. Bei Rücknahme eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit ist die er- brachte Leistung grundsätzlich zu erstatten und der Betrag zu verzinsen (Art. 49 a Abs. 1, 3 BayVwVfG); eine Berufung auf den Wegfall der Bereicherung (Art. 49 a Abs. 2 BayVwVfG) wäre dem Kl. aus den unter Ziffer 1.3 genannten Gründen grundsätzlich verwehrt. Diese Regelung des nationalen Rechts wird jedoch hinsichtlich der Rückzah- lung zu Unrecht gezahlter landwirtschaftlicher Beihilfen von vorrangigem Gemein- schaftsrecht überlagert. Die angewandte ministerielle Richtlinie verweist insoweit aus- drücklich auf die VO (EWG) Nr. 3887/92 der Kommission vom 23. Dezember 1992 mit Durchführungsbestimmungen zum integrierten Verwaltungs- und Kontrollsystem (INVEKOS) in der jeweils geltenden Fassung, hier i.d.F. der VO (EG) Nr. 1678/98 vom 29. Juli 1998. Letztere enthält in Art. 14 eine gemeinschaftsrechtliche Regelung zur Rückzahlung von zu Unrecht gezahlten Beträgen und deren Verzinsung. Während Art. 14 Abs. 1 dieser Verordnung allgemein eine Rückzahlungsverpfl ichtung statuiert, regelt Art. 14 Abs. 4 Umstände, unter welchen Voraussetzungen dies nicht gilt. Danach be- steht keine Verpfl ichtung zur Rückzahlung, wenn die Zahlung auf einen Irrtum der zu- ständigen Behörde zurückzuführen ist, der vom Betriebsinhaber, der seinerseits im gu- ten Glauben gehandelt und alle Bestimmung der geltenden Verordnung eingehalten hat, billigerweise nicht erkannt werden konnte. 2.1 Die vorgenannten Voraussetzungen sind nach Überzeugung des Senats hier erfüllt: Das AfLuE als zuständige Behörde hat sich hinsichtlich der Antragsbe rechtigung/För- derfähigkeit des KL, nämlich der Frage einer unmittelbaren Gemeinnützigkeit der Kör- perschaft (Ziff. 3.1 der ministeriellen Richtlinie) geirrt, was letztlich unstreitig ist (vgl. Schreiben des AfLuE vom 15.2.2000 und vom 20.3.2001 sowie Bescheid vom 27.7.2001 und Widerspruchsbescheid der Reg. v. Obb. vom 24.6.2002 sowie Schreiben vom 11.11.2002). Dieser Irrtum konnte vom Kl. billigerweise nicht erkannt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Kl. die Anträge jahrelang jeweils in Abstimmung mit der Behörde stellte und von ihm grundsätzlich keine bessere Erkenntnis verlangt werden kann als von der Fachbehörde. Auch das AfLuE selbst und die über geordnete Regierung von Oberbayern waren sich offensichtlich über die zu treffende Handhabung der ministeriellen Richtlinie nicht sicher, wie die Vorlage der Frage einer Weiterförde- rung an das zuständige Ministerium zeigt. Wenn selbst die Fachbehörde von einer nicht auszuschließenden Fehlinterpretation (vgl. Schreiben vom 15.2.2000 an den Kl.) spricht, entspräche es nicht der Billigkeit, vom Kl. eine bessere Einsicht zu fordern. Der Kl. hat auch „seinerseits in gutem Glauben gehandelt“. Dabei betrifft diese Formu-

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lierung nach dem Kontext die Redlichkeit des Betriebsinhabers bei der Antragstellung (also ein subjektives Verhalten vor Erlass des Bewilligungs bescheids). Sie bezieht sich somit nicht auf ein Vertrauen der Gemeinde in den Bestand eines rechtswidrigen Bewil- ligungsbescheids oder darauf, sich schuldbefreiend auf den Wegfall der Bereicherung berufen zu können (also auf Umstände nach Erlass des Bewilligungsbescheids). Die oben zitierte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist deshalb weder inhalt- lich ein schlägig noch auf Art. 14 Abs. 4 der Verordnung anwendbar. Dabei ist zu be- rücksichtigen, dass die Kommission ausweislich der Einführung zur VO (EG) Nr. 1678/98 ausdrücklich festlegen wollte, unter welchen Gesichtspunkten Ver trauensschutz bei der Finanzierung der gemeinsamen Agrarpolitik geltend gemacht werden kann, da- mit bei der Wiedereinziehung zu Unrecht gezahlter Beträge dieser Grundsatz in der Gemeinschaft einheitlich gehandhabt wird. Der Senat hält es deshalb für ungerechtfer- tigt, Rechtsprechung zu nationalen Gesetzen eines Mitgliedslands heranzuziehen, um eine ausdrücklich zur Frage einer Rückforderung erlassene Verordnung in einer Weise zu interpretieren oder abzuändern, die dem klar formulierten Regelungswillen der Kommission ent gegen stünde. Als „geltende Verordnung“ im Sinne des Art. 14 Abs. 4 der Verordnung ist schließlich die eingangs der ministeriellen Richtlinie angeführte VO (EWG) Nr. 2328/91 (nicht: 92) des Rates vom 15. Juli 1991 zur Verbesserung der Effi zienz der Agrarstruktur anzu- sehen. Deren Bestimmungen hat der Kl. einge halten: Es handelt sich bei der Almfl äche unstreitig um benachteiligtes landwirtschaftliches Gebiet im Sinne der Richtlinie 75/268/EWG (Berggebiet) und ihre Fläche überschreitet die Mindestfl äche von 3 ha bei Weitem (Art. 17 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 2328/91). Sowohl nach Baurecht als auch nach Gemeinschaftsrecht (INVEKOS) ist auch ein landwirtschaftlicher Betrieb gegeben: Es liegen sowohl eigene Bodennutzung als auch eigene Betriebsgebäude (Stallungen, Unter- kunftsgebäude) vor wie auch eigene Produktionsmittel (zur Milchgewinnung und Käse- zubereitung) und eigenes Personal (Sennerin); sämtliches steht auch in der Verfügungs- bzw. Weisungsbefugnis des Kl.. Dass er lediglich Pensionsviehhaltung betrieb, ist unbe- helfl ich, denn solche ist ausdrücklich vorgesehen und gerade auf Almfl ächen vorrangig anzurechnen (vgl. Ziff. 5.3.4 der ministeriellen Richtlinie). Vom Vorhandensein eines landwirtschaftlichen Betriebs ist im Übrigen auch die Fachbehörde selbst ausgegangen (vgl. Schreiben des AfLuE vom 15.2.2000). Nach Überzeugung des Senats hat der Kl. auch landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit im Sinne Art. 18 Abs. 1 VO (EWG) Nr. 2328/91 betrieben: Er hat die Ausgaben für den landwirtschaftlichen Betrieb bestritten und Einnahmen für die Pensionstierhaltung erzielt; dass letztere nicht kostendeckend waren, ist unschädlich, denn eine Gewinnerzielung ist grundsätzlich keine Fördervoraus- setzung. Soweit der Beklagte – erstmals in der Antragserwiderung vom 13. August 2003 – einwendet, der Kl. habe jedenfalls nicht aus eigenwirtschaft lichem Interesse gehan- delt (fehlende Gewinnerzielungsabsicht), führt das zu keinem anderen Ergebnis, denn dieses Kriterium war vom behördlichen Irrtum über die Antragsberechtigung/Förderfä- higkeit mit umfasst: Nach Ziff. 3.1 der ministeriellen Richtlinie waren antragsberechtigt neben Einzelunternehmen (erster Spiegelstrich) noch Mitglieder von Kooperationen (zweiter Spiegelstrich) und unmittelbar gemeinnützige Körperschaften im Sinne des Steuerrechts (dritter Spiegelstrich). Das AfLuE hat den Kl. irrtümlich der dritten Kate- gorie zugeordnet, in der nach steuerrechtlichen Gesichtspunkten von vorneherein keine Gewinn erzielungsabsicht verfolgt werden darf. Soweit dem Kl. nunmehr eine fehlende Gewinnerzielungsabsicht entgegen gehalten wird, verlässt der Bekl. diese Kate gorie,

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über deren Vorliegen er geirrt hat, und wendet als Maßstab eine andere an, was einen unzulässigen Wechsel des Förderkriteriums darstellt. Der weitere Einwand des Bekl., dass beim Kl. eine unmittelbare Gemeinnützigkeit als Vor aussetzung für die dritte Ka- tegorie gefehlt habe, kann als eigentlicher Gegen stand des behördlichen Irrtums gerade nicht entgegen gehalten werden, denn andernfalls käme Art. 14 Abs. 4 der VO (EG) Nr. 1678/98 nie zur Anwendung; insoweit unterliegt der Bekl. vielmehr einem Zirkel- schluss. Unschädlich ist schließlich auch, dass der Kl. den landwirtschaftlichen Betrieb lediglich im Nebenerwerb ausgeübt hat (vgl. entsprechende Kategorie in den Antrags- formularen sowie Einführung zur VO (EWG) Nr. 2328/91). Nicht zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass der Kl. die landwirtschaftliche Erwerbstätigkeit auch und gerade in Übereinstimmung mit den Zielsetzungen von Art. 1 der Richtlinie 75/268/EWG ausge- übt hat (vgl. Art. 18 Abs. 1 Satz 1 VO (EWG) Nr. 2328/91). Dort sind als Ziele u.a. die Erhaltung der Landschaft in Berggebieten angeführt, was auch in Ziff. 1 der ministeri- ellen Richtlinie vom 17. August 1994 aufgenommen wurde, wo als Maßnahmezweck u.a. die Erhaltung der Kulturlandschaft und ihrer touristischen Bestimmung angeführt ist. Diesem Ziel bzw. Zweck hat der Kl. – unabhängig von seiner fehlenden Antragsbe- rechtigung/Förderfähigkeit – durchaus gedient. Insgesamt ist der Kl. somit gemäß Art. 14 Abs. 4 VO (EG) Nr. 1678/98 der Kommission vom 29. Juli 1998 nicht zur Rückzah- lung der zu Unrecht gezahlten Beträge verpfl ichtet. Angesichts dieser ausdrücklichen Bestimmungen zum Wegfall einer Rückzahlungspfl icht bei behördlichem Irrtum bleibt auch kein Raum mehr zur Anwendung allgemeiner Überlegungen im Interesse eines effektiven Einsatzes von kofi nanzierten Mitteln, da gerade keine nationalen Bestim- mungen durch den „effet utile“ überlagert werden. 2.2 Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass selbst nach Ziff. 6.3.2.3 der minis- teriellen Richtlinie vom 17. August 1994 eine Rückforderung von Aus gleichszulagen, die mehr als fünf Jahre vor Bekanntwerden der Rückforderungsgründe ausgezahlt wur- den, nicht mehr geltend gemacht wird. Damit wäre der insoweit gebundenen Behörde zumindest die Rückforderung der mit Bescheiden vom 2. Dezember 1994 und 29. Sep- tember 1995 ausgezahlten Beträge in Höhe von insgesamt 18.798,- DM (ca. 9.611,25 €) unabhängig von der vorgehend behandelten gemeinschaftsrechtlichen Regelung versagt. 3. Die Zinsforderung des Bekl. ist nach der der ministeriellen Richtlinie vom 17. August 1994 zugrunde liegenden VO(EG) Nr. 1678/98 der Kommission vom 29. Juli 1998 vor- liegend gänzlich unberechtigt. Nach Art. 14 Abs. 3 Satz 3 dieser Verordnung sind nämlich keine Zinsen zu ent richten, wenn die zu Unrecht erfolgten Zahlungen auf einen Irrtum der zu ständigen Behörde zurückzuführen sind. Ein entsprechender Irrtum über die Antragsberechtigung/Förder- fähigkeit des Kl. wurde seitens des Bekl. eingeräumt (vgl. Ziff. 2.1); weiterer Voraus- setzungen – wie z.B. in Art. 14 Abs. 4 der Verordnung – bedarf es für den Wegfall einer Verzinsung nicht. Die spezielle gemeinschaftsrechtliche Regelung des Art. 14 Abs. 3 Satz 3 VO (EG) Nr. 1678/98 geht insoweit auch den allgemeinen nationalen Rege- lungen in Art. 44 a BayHO bzw. Art. 49 a Abs. 3 BayVwVfG vor. 4. Der Berufung des Kl. war somit in vollem Umfang stattzugeben. Die Kosten entschei- dung entspricht § 154 Abs. 1 VwGO; der Ausspruch über die sofortige Vollstreckbar- keit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO. Die Revision wird nicht zugelassen, da keine der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.

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KLEINERE BEITRÄGE, BERICHTE UND DOKUMENTE

Diener dreier Herren ? – Der Instanzrichter zwischen BVerfG, EuGH und EGMR

Von Jan Bergmann, Stuttgart*

I. Vorbemerkung

Seit den Fällen Solange II, Caroline von Hannover und Görgülü wird das Problem der Bin- dungswirkung europarechtlicher Entscheidungen in der Juristenwelt kontrovers diskutiert. Der Präsident des BVerfG Papier plädiert für eine prinzipielle Nichtfestlegung. Das Verhält- nis von Bundesverfassungsgericht, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichts- hof für Menschenrechte „sollte von gegenseitiger Rücksichtnahme und Kooperation geprägt sein. Man kann nicht einfach sagen: Der eine oder andere hat das letzte Wort“ (Die Zeit Nr. 25/2005, 9). Aus Sicht des Praktikers darf dem widersprochen werden. Rechtsklarheit und Rechtssicher- heit verlangen diesbezügliche Eindeutigkeit. Es kann nicht dem jeweiligen Instanzrichter überlassen bleiben, ob bzw. in welchem Umfang er im Konfl iktfall bestimmten höchstrich- terlichen Entscheidungen Bindungswirkung beimisst oder nicht. Anderenfalls zwingt man den rechtssuchenden Bürger auf einen gegebenenfalls zeitraubenden und kostspieligen Weg durch die Instanzen und stärkt den Rechtsmittel-, statt den Rechtsstaat. Im Ergebnis bleibt nur eine Lösung: Das letzte Wort in Grundrechtsfragen hat der Straßburger EGMR.

II. Nationale, supranationale und internationale Quellen der Gerechtigkeit

Klar ist, dass der Richter nur einem Herren bzw. einer Dame dient – der Gerechtigkeit. Die- se allerdings will in irdischen Gefi lden durch Gesetz und Recht vermittelt werden, weshalb insoweit absolute Bindungswirkung herrscht. Gesetz und Recht stammen im zusammen wachsenden Europa aber nicht allein aus nationalen Quellen. In zunehmender Weise ent- springen diese auch den Systemen der supranationalen Europäischen Union und der inter- nationalen Europäischen Menschenrechtskonvention. Der Instanzrichter wirkt so im dreipo- ligen Spannungsfeld zwischen Grundgesetz, Gemeinschaftsrecht und EMRK, steht gewis- sermaßen zwischen Karlsruhe, Luxemburg und Straßburg. Dies kann im Einzelfall schwer- wiegende Loyalitätskonfl ikte auslösen, wie zwei partiell konstruierte, aber nicht völlig realitätsferne Beispielsfälle aus dem Zivil- und Verwaltungsrecht illustrieren: Caroline-Fall: In Abwandlung des EGMR-Urteils „von Hannover gegen Deutschland“1 sei davon ausgegangen, dass eine französische Fotoagentur einer deutschen Boulevardzeitung eine Bilderserie zum Kauf anbietet, die Caroline beim Besuch eines Straßencafés in Rom und beim Urlaubsbummel in einer Fußgängerzone zeigt. Caroline beantragt beim zuständi- gen LG Berlin im Wege einer einstweiligen Verfügung die Untersagung von Veröffentli- chung und/oder Verbreitung der Bilder. Das Gericht legt die Sache dem EuGH zur Vorab-

* Überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 30.10.2005 im Rahmen der 39. Reinhäuser Juristenzusammenkünfte in Kassel. Der Autor ist Richter am Verwaltungsgericht Stuttgart und Honorarprofessor für Recht und Politik der Europäischen Union sowie Öffentliches Recht an der dortigen Universität. 1 EGMR, Urteil vom 24. Juni 2004, Beschwerde Nr. 59320/00, EuGRZ 2004, S. 404.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 110101 118.05.20068.05.2006 09:27:1609:27:16 102 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

entscheidung vor, der urteilt, dass der freie Waren- bzw. Dienstleistungsverkehr hier nicht eingeschränkt werden dürfe. Antrag und Rechtsmittel blieben daraufhin ohne Erfolg, ebenso wie die in Karlsruhe von Caroline hiergegen eingelegte Verfassungsbeschwerde. Das BVerfG führte aus, die abgebildete „absolute Person der Zeitgeschichte“ könne aufgrund des fotografi erten Aufenthalts an örtlich nicht abgeschiedenen Orten kein Recht am eigenen Bild beanspruchen; vielmehr gehe die auch der Unterhaltungspresse zustehende Meinungs- freiheit vor. Auf die hiergegen in Straßburg eingelegte Menschenrechtsbeschwerde urteilte der EGMR, für den Ausgleich zwischen dem Schutz der Privatsphäre und der freien Mei- nungsäußerung komme es maßgeblich auf den Beitrag an, den Fotos oder Artikel in der Presse zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leisteten. Eine „Privatperson“ wie die Beschwerdeführerin, die zwar einer Herrscherfamilie angehöre, selbst aber keine offi ziellen Funktionen ausübe, habe angesichts der Dauerbelästigung durch Fotografen berechtigte Hoffnung auf Schutz und Achtung ihrer Privatsphäre. Diese setze sich gegenüber den kom- merziellen Interessen der Medien und mangels legitimer Neugierde der Öffentlichkeit an ihrem Privatleben, sei es auch an nicht abgeschiedenen Orten, durch. Caroline wurde wegen zwischenzeitlich veröffentlichter Bilder gemäß Art. 41 EMRK eine gerechte Entschädigung in Höhe von 50.000 EUR sowie der Ersatz von Verfahrenskosten in Höhe von 5.000 EUR zuerkannt2. Sie beantragt daraufhin beim LG Berlin erneut den Erlass einer einstweiligen Verfügung, das sich fragt, ob es einer (inter partes-) Bindung an die höchstrichterlichen Ent- scheidungen unterliegt. Laserdrome-Fall: In Abwandlung des EuGH-Urteils „Omega“3 sei davon ausgegangen, dass eine deutsche Firma in Bonn ein so genanntes Laserdrome errichtet hat. Mittels in Großbri- tannien – wo solche Vergnügungsstätten seit Jahren einträgliche Publikumsrenner sind – er- worbener Franchise-Konzepte und Ausstattungsrequisiten wurde eine ausgediente Fabrik- halle zum „Tötungsparcour“ umgebaut. Das Spiel gewinnt, wer mit dem Lasergewehr mög- lichst viele Mitspieler im Kampfe abschießt. Die insbesondere auf Art. 1 Abs. 1 GG ge- stützte behördliche Verbotsverfügung wurde von der Firma angefochten. Dem zuständigen VG Köln ist unklar, ob sich die Menschenwürde auch gegen die Waren- und Dienstleis- tungsfreiheit des EG-Vertrags durchsetzt; es legt diese Frage deshalb gemäß Art. 234 EG dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Luxemburg entscheidet, dass der gemeinschafts- rechtliche Schutz der Menschenwürde bzw. der EGV-Begriff der öffentlichen Ordnung ei- nen gewissen Beurteilungsspielraum eröffnet, der in verschiedenen Mitgliedstaaten zu ver- schiedenen Defi nitionen führen kann; auch insoweit gelte gewissermaßen die EU-Devise: „In Vielfalt geeint“4. Deutschland stehe es deshalb frei, hier die Grundfreiheiten des Bin- nenmarktes einzuschränken. Das VG wies die Klage ab; Rechtsmittel blieben erfolglos. Auf die Verfassungsbeschwerde der Firma entschied das BVerfG, dass es hinsichtlich der Ausle- gung des EG-Vertrags unzuständig sei; hinsichtlich Art. 12 und 14 GG sei es zuständig, in- soweit sei aber keine Verfassungswidrigkeit gegeben, weil der Menschenwürde Vorrang ein- geräumt werden müsse. Die hiergegen in Straßburg eingelegte Menschenrechtsbeschwerde hatte Erfolg. Der EGMR urteilte, das Verbot des Laserdromes verletze die Firma in ihrem

2 Tatsächlich wurde vor dem EGMR ein Kosten- und Auslagenersatz in Höhe von 142.851,31 EUR gefordert, „für die zahllosen Verfahren, die C. vor den deutschen Instanzen führen musste“; EuGRZ 2004, S. 414. Zwi- schenzeitlich soll man sich bei einem Betrag von ca. 100.000 EUR verglichen haben. 3 EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2004, Rs. C-36/02 (Omega Spielhallen- und AutomatenaufstellungsGmbH), NVwZ 2004, S. 1471. 4 So der Leitspruch der Europäischen Union gemäß Art. I-8 des Verfassungsvertrags 2004.

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Eigentumsrecht aus Art. 1 des 1. EMRK-Zusatzprotokolls. Zwar sei die Menschenwürde generell ein hoher Wert, allerdings schütze die EMRK sie nicht explizit. In Anbetracht ihrer wenig klaren Konturen, der Freiwilligkeit des bloßen Spieles, bei dem die Akteure auf staat- lichen Schutz offenbar überhaupt keinen Wert legen, der Genehmigungspraxis von Laser- drome-Einrichtungen in anderen europäischen Staaten sowie der Aufgabe des EGMR, einen einheitlichen Grundrechtsstandard zu garantieren, könne sich der abstrakte Menschenwür- deschutz in der Abwägung nicht durchsetzen. Vielmehr gehe der europäische Mindeststan- dard des konkret verletzten Eigentumsrechtes hier vor. Wegen der Zerschlagung des einge- richteten Gewerbebetriebs müsse Deutschland der Firma gemäß Art. 41 EMRK eine ge- rechte Entschädigung in Höhe von 500.000 EUR bezahlen; außerdem wurde zur Übernah- me von Verfahrenskosten in Höhe von 5.000 EUR verurteilt. Zwischenzeitlich hatte die Firma in Stuttgart ein weiteres Laserdrome errichtet, das ebenfalls verboten wurde. Die Klage hiergegen ist beim dortigen VG anhängig, das sich fragt, ob es einer (erga omnes-) Bindung an die höchstrichterlichen Entscheidungen unterliegt.

III. Bindungswirkung von nationalem Recht und BVerfG-Entscheidungen

Die Judikative ist nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden. Ebenso ist der Richter gemäß Art. 97 Abs. 1 GG dem Gesetze unterworfen, was nicht nur eine Bindung an das Gesetz im formellen, sondern auch im materiellen Sinn bedeutet5. Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG sind schließlich die nationalen Grundrechte auch von den Organen der Dritten Gewalt als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden. Diese Grundrechte werden letztverbindlich vom Bundesverfassungsgericht ausgelegt. Die Bindungswirkung von Karlsruher Sachentscheidungen ist gesetzlich normiert. Gemäß § 31 Abs. 1 BVerfGG „binden die Entscheidungen des BVerfG“ nicht nur die Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie die Behörden, sondern ausdrücklich auch „alle Gerichte“; gemäß Absatz 2 der Norm entscheidet das BVerfG insbesondere in Normenkontrollverfah- ren sogar mit „Gesetzeskraft“. Liegt mithin keine bloße Prozess- oder Eilentscheidung bzw. keine Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde durch eine Kammer vor, bindet nach stän- diger Rechtsprechung des BVerfG nicht allein die Entscheidungsformel; Bindungswirkung entfalten dann auch die tragenden Gründe6. Tragend sind all jene Rechtssätze, die nicht hin- weg gedacht werden können, ohne dass das konkrete Ergebnis nach dem in der Entschei- dung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfi ele. Nicht tragend sind dagegen le- diglich bei Gelegenheit einer Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, die außerhalb des Begründungszusammenhangs zwischen genereller Rechtsregel und konkreter Entschei- dung stehen7. Die Bindungswirkung des § 31 Abs. 1 BVerfGG bedeutet der Sache nach, dass alle Instanzrichter Tenor und tragende Gründe einer Karlsruher Entscheidung „beach- ten“ und ihr „künftiges Verhalten danach ausrichten“ müssen. Im Rahmen ihrer Zuständig- keit müssen sie das Notwendige veranlassen, um die konkrete Entscheidung im Einzelfall durchzusetzen8.

5 BVerfGE 18, 52 <59>; 19, 17 <31 ff.>. 6 BVerfGE 1, 14 <37>; 19, 377 <392>; 20, 56 <87>; 40, 88 <93 f.>; 104, 151 <197>. Zum Streitstand in der Literatur vgl. A. Heusch, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG-MAK, 2. Aufl . 2005, § 31 Rn. 58. 7 BVerfGE 96, 375 <404>. 8 BVerfGE 2, 139 <142>.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 110303 118.05.20068.05.2006 09:27:1609:27:16 104 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Neben der inter partes-Wirkung sind die Instanzrichter gehalten, in Wiederholungs- oder Parallelfällen gemäß den vom BVerfG vorgegebenen verfassungsrechtlichen Maßstäben zu entscheiden. Ein solcher Fall ist anzunehmen, wenn ein im Wesentlichen gleich gelagerter Sachverhalt auf der Grundlage der bindenden Karlsruher Rechtsprechung keine abwei- chende verfassungsrechtliche Bewertung rechtfertigt, was letztverbindlich gegebenenfalls wiederum das BVerfG selbst überprüft9. Diese erga omnes-Wirkung erstreckt sich aller- dings nur auf die Auslegung und Anwendung des GG. Die Auslegung und Anwendung ein- facher Gesetze ist dagegen grundsätzlich Aufgabe der sachnäheren Fachgerichte10, die inso- weit nur gebunden sind, wenn das BVerfG eine bestimmte Auslegungsmöglichkeit als ver- fassungswidrig eingestuft hat11. Nach diesen Grundsätzen müsste das LG im Caroline-Fall aufgrund der inter partes-Bin- dung der Entscheidung des BVerfG der Pressefreiheit den Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einräumen und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erneut ablehnen. Auch das VG müsste im parallelen Laserdrome-Fall der Karlsruher Sach- entscheidung folgen, dass die gemäß Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Menschenwürde hier Vorrang genießt vor Art. 12 und 14 GG, und also die Klage abweisen.

IV. Bindungswirkung von Gemeinschaftsrecht und EuGH-Entscheidungen

Aus dem Wesen der Supranationalität folgt, dass sich jede Unionsbürgerin, jeder Unions- bürger auch vor den Gerichten seines Mitgliedstaates auf dasjenige Gemeinschaftsrecht be- rufen kann, das für ihn unmittelbar anwendbar ist. Aus dem Bereich des Sekundärrechts sind dergestalt regelmäßig anwendbar Verordnungen und Entscheidungen sowie, unter be- stimmten Voraussetzungen, einzelne Rechtsvorschriften einer Richtlinie. Soweit dem Ein- zelnen unbedingte und inhaltlich bestimmte Rechte verliehen werden, ist auch das Primär- recht direkt anwendbar12. Unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht muss vom natio- nalen Richter mit Vorrang judiziert werden und zwar selbst gegenüber Verfassungsrecht. Der Richter ist mithin grundsätzlich umfassend an das supranationale EG-Recht gebunden und muss im konkreten Fall entgegenstehendes nationales Recht unangewendet lassen13. Dieser Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts, der auch in Art. I-6 des EU-Verfassungs- vertrags niedergelegt ist, wurde für Deutschland (unabhängig von seinem Inkrafttreten) er- neut bekräftigt, indem und Bundesrat diesem Vertrag im Jahr 2005 mit verfas- sungsändernder Mehrheit zustimmten. Gemäß Art. 220 Abs. 1 EG sichert der Europäische Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des EG-Vertrags. Auch seine Sachentscheidungen entfalten weitreichende Bindungswirkungen für den nationalen Instanzrichter14. Hat der EuGH etwa im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens festgestellt, dass ein Mitgliedstaat gegen seine Verpfl ichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht verstoßen hat, erstreckt sich die Bin-

9 Vgl. BVerfGE 104, 151 <197 f.>. 10 BVerwGE 90, 220 <226>. 11 BVerfGE 40, 88 <94>; 42, 258 <260>. 12 Vgl. EuGH, Rs. 26/62 (Van Gend & Loos), Slg. 1963, S. 1 ff. sowie J. Bergmann, Recht und Politik der EU, 2001, Rn. 349 ff. 13 EuGH, Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, S. 1141 ff.; Rs. 11/70 (Internationale Handelsgesellschaft), Slg. 1970, S. 1125 ff.; Rs. 106/77 (Simmenthal II), Slg. 1978, S. 629 ff. 14 Vgl. C.O. Lenz / K.-D. Borchardt, EU- und EG-Vertrag, 3. Aufl . 2003, Art. 220 Rn. 19; Art. 228 Rn. 2 ff.; Art. 231 Rn. 3; Art. 234 Rn. 55 ff.

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dungswirkung zunächst auf den im Urteil konkret bezeichneten Vorwurf und wirkt so inter partes. Der verurteilte Mitgliedstaat ist zur Beachtung des Urteils sowie Beseitigung und also Beendigung des Vertragsverstoßes verpfl ichtet, was gegebenenfalls gemäß Art. 228 EG auch mittels Zwangsgeld durchgesetzt werden kann15. Die Luxemburger Entscheidung entfaltet darüber hinaus anerkanntermaßen zumindest fak- tisch auch eine erga omnes-Wirkung, d.h. dem Urteil kommt gegenüber allen Unionsbür- gern und nicht beteiligten Mitgliedstaaten Präjudizwirkung zu. Der nationale Instanzrichter ist hiernach verpfl ichtet, zugunsten einzelner Rechtsunterworfener die notwendigen Schluss- folgerungen zu ziehen. Im Falle unmittelbar anwendbarer EG-Rechtsnormen kann dies be- deuten, dass eine nationale Vorschrift noch vor ihrer etwaigen Änderung durch den Gesetz- geber außer Anwendung gelassen und gegebenenfalls ein weitergehender Anspruch, insbe- sondere auf Schadensersatz, zugesprochen werden muss. Fehlt es der verletzten EG-Rechts- norm an unmittelbarer Wirkung, müssen die Instanzrichter das nationale Recht entsprechend dem Luxemburger Urteil gemeinschaftsrechtskonform auslegen16. Verstoßen die Richter gegen diese gemeinschaftsrechtlichen Bindungen „offenkundig“, steht der Mitgliedstaat ge- genüber einem hierdurch Geschädigten in der Staatshaftung17. Vergleichbares gilt im Nichtigkeitsverfahren. Erklärt der EuGH gemäß Art. 231 EG eine angefochtene Handlung bzw. eine EG-Rechtsnorm für nichtig, wirkt dies als Gestaltungsur- teil grundsätzlich ex tunc und ebenfalls erga omnes. Die nichtig erklärte Norm muss auch vom nationalen Instanzrichter rückwirkend so angesehen werden, als habe sie niemals exis- tiert. Alle hierauf beruhenden Handlungen sind wegen fehlender Ermächtigungsgrundlage als rechtswidrig einzustufen. Die Parteien müssen in diejenige Lage zurückversetzt werden, die vor dem für nichtig erklärten Rechtsakt bestand. Hinsichtlich etwaiger kausaler Schäden muss gegebenenfalls Schadensersatz zugesprochen werden. Rechtswidrig erhobene Leis- tungen sind unter Anwendung und nach Maßgabe der nationalen Verfahrensvorschriften zurückzuerstatten18. Entsprechende Bindungswirkungen entfaltet schließlich auch ein im Vorabentscheidungs- verfahren gemäß Art. 234 EG ergangenes Urteil des EuGH. Gebunden werden hierdurch zunächst im konkreten Fall sowohl das vorlegende Gericht selbst, als auch alle anderen Ge- richte, die in demselben Rechtsstreit zu entscheiden haben, insbesondere also etwa angeru- fene Rechtsmittelinstanzen oder, bei Eilrechtsschutzverfahren, das Gericht der Hauptsa- che19; diese Gerichte dürfen allerdings trotz inter partes-Wirkung bei weiteren Unklarheiten gegebenenfalls erneut vorlegen20. In der Sache muss der nationale Richter das Vorabent- scheidungsurteil, soweit es entscheidungserheblich ist, bei seiner Falllösung „beachten“, indem er entweder das fragliche EG-Recht in der Auslegung des EuGH auf den Ausgangs- fall anwendet oder für ungültig erklärtes EG-Recht außer Anwendung lässt. Vorabentschei- dungsurteile, die die Ungültigkeit von EG-Recht feststellen, entfalten unbestritten zudem erga omnes-Wirkung, d.h. sind aufgrund des Verwerfungsmonopols des EuGH auch für je- des andere Gericht verbindlich21.

15 EuGH, Rs. 191/84 (Kommission gegen Italien), Slg. 1985, S. 3531. 16 EuGH, Rs. C-6/90 (Francovich), Slg. 1991, I-5357; Rs. C-91/92 (Faccini Dori), Slg. 1994, I-3325; Rs. C-456/98 (Centrosteel), Slg. 2000, I-6007. 17 EuGH, Rs. C-224/01 (Köbler), NJW 2003, S. 3539. 18 EuGH, Rs. 238/78 (Ireks-Arkady), Slg. 1979, S. 2955; Rs. C-228/92 (Roquette Frères), Slg. 1994, I-1445. 19 EuGH, Rs. 29/68 (Milchkontor), Slg. 1969, S. 165. 20 EuGH, Rs. C-206/94 (Paletta II), Slg. 1996, I-2357. 21 Vgl. EuGH, Rs. 66/80 (International Chemical), Slg. 1981, S. 1191.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 110505 118.05.20068.05.2006 09:27:1609:27:16 106 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Nach überwiegender Ansicht kommen zumindest faktisch auch Vorabentscheidungen, die die Gültigkeit einer EG-Rechtsnorm feststellen, erga omnes-Wirkungen zu, obwohl der EuGH insoweit selbst immer nur vorsichtig formuliert, seine Prüfung habe nichts ergeben, was die Gültigkeit der Norm beeinträchtigen könnte22. Bei reinen Auslegungsurteilen ist die erga omnes-Wirkung noch nicht ausjudiziert. Die herrschende Meinung bejaht sie aller- dings und auch der EuGH geht wohl hiervon aus, indem er letztinstanzliche Gerichte von der nach Art. 234 Abs. 3 EG eigentlich zwingenden Vorlage freispricht, sobald er die glei- che Rechtsfrage in einem anderen Verfahren geklärt hat23. Zur Wahrung der Rechtseinheit in der Europäischen Union wird auch insoweit die umfassende Bindungswirkung eines Luxemburger Urteils angenommen werden müssen. Im Caroline-Fall ist das LG aus Sicht des Gemeinschaftsrechts mithin klar gebunden. Auf- grund der inter partes-Wirkung des Vorabentscheidungsurteils müsste es den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung erneut ablehnen, weil der freie Waren- bzw. Dienstleis- tungsverkehr in der konkreten Konstellation nicht eingeschränkt werden darf. Im Laser- drome-Fall ist das VG dagegen relativ frei in seiner Entscheidung, weil der EuGH den Vor- rang der Menschenwürde vor den Grundfreiheiten des Binnenmarktes in seiner Vorabent- scheidung nur gestattet, nicht aber zwingend gefordert hat. Aufgrund des zwischenzeitlich ergangenen gegenläufi gen Urteils des EGMR und der in Art. 6 Abs. 2 EU festgeschriebenen Bindung der Union auch an die EMRK drängt sich allerdings eine erneute EuGH-Vorlage geradezu auf.

V. Bindungswirkung von EMRK-Recht und EGMR-Entscheidungen

In Fortschreibung der Pakelli-Entscheidung (– „Alle deutschen Gerichte sind gehalten, die materielle Rechtskraft der EGMR-Entscheidungen zu beachten“ –24) sowie der Entschei- dung zur Unschuldsvermutung (– „Die EGMR-Rechtsprechung dient als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des GG“ –25) hat der Zweite Senat des BVerfG nun im Görgülü-Beschluss die Bindungswirkung von EMRK und EGMR-Entscheidungen erneut grundlegend ausgelo- tet26. Hier führt das BVerfG aus, dass die EMRK und ihre Zusatzprotokolle – anders als etwa in Österreich oder der Schweiz – in Deutschland keinen Verfassungsrang genießen, sondern als völkerrechtliche Verträge über die Zustimmungsgesetze gemäß Art. 59 Abs. 2 GG im Rang eines Bundesgesetzes gelten. Bei einer echten Kollision mit dem Grundgesetz müsste sich dogmatisch also dieses durchsetzen. Theoretisch könnten so auch speziellere Bundesgesetze gegenüber der EMRK vorgehen oder später erlassene. Ein solcher Widerspruch zur EMRK, jedenfalls bezüglich der lex-posterior-Regel, dürfte allerdings praktisch auszuschließen sein27, denn „es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetz- geber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von den völkerrechtlichen Verpfl ichtungen der Bundesrepublik abweichen oder die Verletzungen solcher Verpfl ichtungen ermöglichen

22 Vgl. C.O. Lenz / K.-D. Borchardt, EU- und EG-Vertrag, 3. Aufl . 2003, Art. 234 Rn. 59, m.w.N. 23 EuGH, Rs. 283/81 (CILFIT), Slg. 1982, 3415. 24 BVerfG (Vorprüfungsausschuss), Beschluss vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 -, EuGRZ 1985, S. 654. 25 BVerfG, Beschluss vom 26. März 1987, E 74, 358 <370/374> = EuGRZ 1987, S. 203, 206 f. 26 BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 - 2 BvR 1481/04 -, EuGRZ 2004, S. 741 und NJW 2004, S. 3407. 27 So auch H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 683, 686; M. Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, NVwZ 2005, S. 412, 413.

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will“28. Das BVerfG betont zur Stärkung der EMRK immer wieder das Gebot völkerrechts- konformer Auslegung deutscher Gesetze29. Es betont weiter, dass die Gewährleistungen der EMRK als Gesetz und Recht im Sinne des Art. 20 Abs. 3 GG Bindungswirkung gerade auch für deutsche Gerichte entfalten. Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, treffe den Richter „die Pfl icht“, grundsätzlich „der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben“30. Der Instanzrichter ist mithin über Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG an die EMRK und ihre Zusatzprotokolle gebunden und muss das von ihm angewendete Recht völkerrechts- freundlich und also konventionskonform auslegen. Erstreckt sich diese Bindungswirkung auch auf die Straßburger Auslegung der EMRK, d.h. auf Entscheidungen des EGMR ? Hier gibt der Görgülü-Beschluss – wenn auch nur verbal – keine klare Antwort, weshalb er in der Rechtswissenschaft insoweit nahezu einhellig kritisiert wird31. Zu Recht, denn die diesbe- zügliche Unschärfe beschädigte das weltweit ausgefeilteste und praktisch wirksamste Men- schenrechtsschutzsystem zumindest partiell und hatte zudem europaweit reichende Konse- quenzen; das BVerfG ist nun einmal eines der angesehensten Verfassungsgerichte überhaupt und hat Vorbildfunktion. EGMR-Präsident Wildhaber berichtete von Anfragen in Reaktion auf den Görgülü-Beschluss aus anderen Staaten, etwa der Türkei, Russland, Polen und Ru- mänien, ob man sich wirklich an EGMR-Urteile halten müsse32. Die Mehrheit des Zweiten Senats zielte nun sicher nicht darauf ab, die Autorität des EGMR zu untergraben und die Verbindlichkeit der europäischen Menschenrechtsstandards zu zersetzen, obwohl die erste Presse, möglicherweise aufgrund zunächst einseitiger Information, diesen Eindruck vermit- telte33. Hintergrund dieser Rechtsunsicherheit auslösenden rhetorischen Unschärfe könnte die wohl auch im Zweiten Senat anzutreffende politische und ideelle Uneinigkeit hinsichtlich der anzustrebenden Vertiefung der Europäischen Integration sein34. Im Ringen um Worte dürfte die Überzeugung insbesondere des derzeit für Völkerrecht zuständigen Berichterstatters Di Fabio, dass (wohl nur) die Institution des Nationalstaats „Voraussetzung der Freiheit“ sei und es deshalb gelte, „den Fortbestand einer substanziellen Souveränität“ zu verteidigen35, Spuren hinterlassen haben. Andere Senatsmitglieder wiederum könnten genau diese Hal- tung als ins 19. Jahrhundert rückwärtsgewandt bewerten und der Überzeugung sein, dass der starke Nationalstaat aufgrund seiner blutigen Vergangenheit kein Zukunftsmodell für ein friedlich geeintes Europa sein kann36. Der Beschlusstext jedenfalls schwankt bei der Frage der Bindungswirkung von EGMR-Entscheidungen hin und her zwischen Völker-

28 Zitat aus: BVerfGE 74, 358 <370> = EuGRZ 1987, S. 203, 206. 29 Vgl. im Görgülü-Beschluss unter C. I. 3. a) und BVerfGE 74, 358, 370 = EuGRZ 1987, S. 203, 206. 30 Vgl. im Görgülü-Beschluss unter C. I. 4., 3. Absatz. 31 Vgl. etwa J. Meyer-Ladewig / H. Petzold („Missverständlich und nicht nur politisch fragwürdig.“), NJW 2005, S. 19; H.-J. Cremer („Karlsruher Unschärferelation“), EuGRZ 2004, S. 693; M. Breuer („Einerseits – Anderer- seits“), NVwZ 2005, S. 412; E. Benda („Glossenfähig“), Vortrag vom 5.5.05 auf dem Dt. Anwaltstag. 32 Luzius Wildhaber im Spiegel-Gespräch („Das tut weh“), Der Spiegel Nr. 47/2004, S. 52; vgl. J. Meyer-Lade- wig / H. Petzold, NJW 2005, S. 16. 33 Schlagzeilen: „Kurzsichtiger und stilloser Affront“, „Juristisches Röhren des Karlsruher Platzhirsches“; vgl. SZ, FAZ, FR und TAZ vom 20.10.2004. 34 So auch H.-J. Cremer in EuGRZ 2004, S. 683 f. Zur Stellung des BVerfG in Europa vgl. J. Bergmann, EuGRZ 2004, S. 620 ff. 35 Vgl. BVR Udo Di Fabio und Präsident des BVerfG Hans-Jürgen Papier, Die Zeit Nr. 25/2005, S. 9 („Zwei Anwälte des Nationalstaats“). 36 Vgl. etwa die ausgesprochen europafreundlichen Sondervoten von BVR’in Lübbe-Wolff und BVR Gerhardt im Urteil des BVerfG zum EU-Haftbefehl vom 18.7.05 - 2 BvR 2236/04 -, Rn. 159 ff. und Rn. 189 ff.

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rechtsfreundlichkeit und der Behauptung einer bestimmten nationalen Verfassungssouverä- nität. Formal gerechtfertigt wird dies u.a. damit, dass die Belange des „unterlegenen“ Grundrechtsträgers im Falle mehrpoliger Rechtsverhältnissen (wie etwa im Zivilrecht) mög- licherweise im Menschenrechtsbeschwerdeverfahren vor dem EGMR prozessual nicht an- gemessen berücksichtigt wurden und dieser Grundrechtsträger bei voller Bindungswirkung auch im anschließenden nationalen Verfahren nicht mehr „als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte“37. Ein wenig überzeugendes Argument angesichts der Möglich- keit des Art. 36 Abs. 2 EMRK, jede betroffene Person, die nicht Beschwerdeführer ist, am Verfahren aktiv zu beteiligen (wovon der EGMR häufi g Gebrauch macht), sowie angesichts der prozessualen Fürsorgepfl icht des beklagten Staates und dessen Gelegenheiten zur Ver- teidigung und der verschiedenen, dem EGMR regelmäßig vorliegenden Stellungnahmen aus den zuvor durchlaufenen nationalen Verfahren. Im Übrigen kennt gerade die Verfassungsbe- schwerde formal überhaupt keinen Antragsgegner; dennoch dürfte sich auch das BVerfG wohl kaum selbst gewissermaßen als „blind“ gegenüber mehrpoligen Grundrechtsverhält- nissen ansehen38. Der Görgülü-Beschluss versucht das Spannungsfeld zwischen dem drohenden Völkerrechts- bruch bei offener Missachtung von Urteilen des EGMR und der Konservierung größtmög- licher nationaler Souveränität zu lösen, indem er dem Instanzrichter – nur – eine „Pfl icht zur Berücksichtigung“ der Straßburger Entscheidungen aufgibt; die Vokabel „Beachtung“ – im herkömmlichen Sinne einer vollen Bindung – wurde offenkundig gemieden. Was aber bedeutet „berücksichtigen“ dann? Eine FAZ-Glosse fühlte sich insoweit – recht polemisch – an „Hymnen an die Nacht und Gesänge im Reich der blauen Blume“ erinnert: „EGMR-Ur- teile ,berücksichtigen’ heißt, sich ,gebührend’ mit ihnen auseinanderzusetzen. Was aber heißt gebührend? Gebührend heißt, sie ,schonend’ in die nationale Rechtsprechung einzu- passen. Was aber heißt schonend? Schonend heißt, sie als ,Auslegungshilfe’ heranzuziehen. Was aber heißt Auslegungshilfe? Auslegungshilfe heißt, die Straßburger Entscheidungen in den Willensbildungsprozess deutscher Gerichte ,einfl ießen’ zu lassen. Was aber heißt ein- fl ießen lassen? Einfl ießen lassen heißt ... sie ,zur Kenntnis nehmen’. So weiß man sich also gebunden und ,im konkreten Ergebnis doch nicht gebunden’. Karlsruhe lehrt: Die Urgram- matik des Chinesischen ist immer noch das Fachchinesisch.“39. Diese Polemik trifft jeden- falls insoweit, als der unterschiedliche Gehalt von „Beachtung“ und „Berücksichtigung“ zumindest Nichtjuristen wohl nur schwer vermittelbar ist. Zur rechtlichen Interpretation des Görgülü-Beschlusses sollte wiederum zwischen der inter partes- und der erga omnes-Wirkung eines EGMR-Urteils differenziert werden40. Hinsicht- lich der inter partes-Wirkung ist zunächst auf Art. 42 und Art. 44 EMRK zu verweisen, wo- nach Urteile des EGMR endgültig sind und in formelle und auch (allerdings in personeller, sachlicher und zeitlicher Hinsicht begrenzte41) materielle Rechtskraft erwachsen. Hieran anknüpfend verpfl ichtet Art. 46 Abs. 1 EMRK die Bundesrepublik als Vertragspartei, „in

37 Görgülü-Beschluss unter C. I. 3. a) 3. Absatz. 38 Treffend H.-J. Cremer in EuGRZ 2004, S. 695 f. Anders als beim EGMR wird beim BVerfG der Begünstigte des Ausgangsverfahrens allerdings zwingend im Wege der Zustellung benachrichtigt, sodass er sich zur Verfas- sungsbeschwerde äußern kann. 39 Chr. Geyer, Karlsruher Hymnen, FAZ vom 20.10.2004, S. 33. 40 Wegweisend: F. Raue, Innerstaatliche Wirkung von Urteilen des EGMR, Wissenschaftlicher Dienst des Dt. Bundestags, Ausarbeitung vom 17.12.2004, Reg.-Nr.: WF III – 271/04. 41 Vgl. H.-J. Cremer, in: Grote / Marauhn, Konkordanzkommentar, 2004, Entscheidung und Entscheidungswir- kung, Rn. 56 f., m.w.N.

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allen Rechtssachen, in denen sie Partei ist, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befol- gen“. Diese völkerrechtliche Befolgungspfl icht gilt in Deutschland kraft doppelfunktio- nalem Zustimmungsgesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG, das insoweit einen Vollzugsbefehl erteilt (Monismus) bzw. diese Pfl icht in innerstaatliches Recht auf die Ebene des Bundesge- setzes transformiert (Dualismus). Wird die demnach bundesgesetzliche Befolgungspfl icht allerdings als „non self executing“, d.h. umsetzungsbedürftig begriffen, hätte dies zur Folge, dass Entscheidungen des EGMR nur dann verbindlich sind, wenn spezielle Normen – wie etwa § 359 Nr. 6 StPO – es anordnen42. Ein „self executing“-Charakter von Art. 46 Abs. 1 EMRK dagegen könnte unproblematisch angenommen werden, wäre hier statt nur der Pfl icht „zu befolgen“ eine Aufhebungsrege- lung – etwa wie in § 95 Abs. 2 BVerfGG oder § 113 Abs. 1 VwGO – enthalten43. Obwohl es hieran fehlt und EGMR-Entscheidungen bloße Feststellungs-, d.h. keine Gestaltungs- oder (mit Ausnahme der Entschädigungspfl icht gemäß Art. 41 EMRK) Leistungsurteile sind, ten- diert das BVerfG wohl völkerrechtsfreundlich in Richtung „self executing“-Charakter. Denn im Görgülü-Beschluss führt es aus, dass ein Urteil des EGMR zwar keine kassatorische Aufhebungswirkung entfalte, die Vertragspartei nun aber nicht mehr die Ansicht vertreten könne, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen. In Bezug auf den Streitgegenstand seien alle staatlichen Organe – und gerade auch die Fachgerichte – verpfl ichtet, „den ohne die festgestellte Konventionsverletzung bestehenden Zustand nach Möglichkeit wieder her- zustellen“. „Dauert die festgestellte Verletzung noch an, so ist die Vertragspartei verpfl ich- tet, diesen Zustand zu beenden. Insoweit würde die Vertragspartei durch die Nichtbeendi- gung oder Wiederholung ihres als konventionswidrig festgestellten Verhaltens gegenüber dem Beschwerdeführer erneut die EMRK verletzen.“44 Wie also ist nun der fortdauernde Konventionsverstoß konkret zu beenden und der konven- tionsgemäße Zustand wieder herzustellen ? Das BVerfG stellt die Befolgungspfl icht inso- weit unter den Vorbehalt des nach innerstaatlichem Recht Machbaren. Etwa im Fall der fortdauernden Inhaftierung unter Verstoß gegen Art. 5 EMRK ist der Betroffene freizulas- sen. Im Fall eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK wird beispielsweise im Ausländerrecht eine Ausweisungsverfügung oder Abschie- bungsandrohung aufgehoben werden müssen. Generell ist ein konventionswidriger Verwal- tungsakt gegebenenfalls gemäß § 48 VwVfG zurückzunehmen. Fachgerichte müssen das Urteil des EGMR laut BVerfG allerdings nicht „schematisch vollstrecken“, sondern „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung berücksichtigen“, was zur „gebüh- renden Auseinandersetzung“ hiermit verpfl ichte. Dabei seien die Auswirkungen auf die na- tionale Rechtsordnung zu bedenken und die Wertungen des EGMR in das innerstaatliche Recht „einzupassen“, insbesondere dann, wenn es sich bei dem einschlägigen nationalen Recht „um ein ausbalanciertes Teilsystem handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen zum Ausgleich bringen will“. Komme der Richter einmal zu dem Ergebnis, dass – etwa we- gen einer geänderten Tatsachenbasis oder eindeutig entgegenstehendem Gesetzes- oder Ver-

42 § 359 Nr. 6 StPO lautet: „Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, ...wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht“. 43 § 95 Abs. 2 BVerfGG lautet: „Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgegeben, so hebt das BVerfG die Entscheidung auf, ...“; § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO lautet: „Soweit der Verwaltungsakt rechts- widrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid auf.“ 44 Görgülü-Beschluss unter C. I. 2. b).

11_06_innen.indd_06_innen.indd 110909 118.05.20068.05.2006 09:27:1709:27:17 110 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

fassungsrecht – der Pfl icht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben, nicht Rechnung getragen werden könne, müsse die Entscheidung allerdings substantiiert „begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung nicht folgt“.45 Und – das ist das eigentlich Neue und Konventionsfreundlichste am Görgülü-Beschluss – über die angemessene „Berücksichtigung“ der Urteile des EGMR wacht das BVerfG. Sollte ein Betroffener der Ansicht sein, den Straßburger Vorgaben sei vom Instanzrichter in seinem Fall nicht hinreichend Rechnung getragen worden, kann er zwar nicht unter direkter Beru- fung auf die (keinen Karlsruher Prüfungsmaßstab darstellende) EMRK, wohl aber unter Berufung auf das mittels des Rechtsstaatsprinzips aufgeladene vergleichbare Grundrecht des GG Verfassungsbeschwerde erheben. Denn das BVerfG ist „auch dazu berufen, Verlet- zungen des Völkerrechts, die in der fehlerhaften Anwendung oder Nichtbeachtung völker- rechtlicher Verpfl ichtungen durch deutsche Gerichte liegen und eine völkerrechtliche Ver- antwortlichkeit Deutschlands begründen können, nach Möglichkeit zu verhindern und zu beseitigen. Das BVerfG steht damit unmittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völker- rechts und vermindert dadurch das Risiko der Nichtbefolgung internationalen Rechts. Aus diesem Grund kann es geboten sein, abweichend von dem herkömmlichen Maßstab die An- wendung und Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch die Fachgerichte zu überprü- fen.“46 In ähnlicher Weise, wie das BVerfG die richterliche Vorlagepfl icht gemäß Art. 234 EG zum EuGH über den Weg des gesetzlichen Richters nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durchsetzt47, will das BVerfG nun wohl auch verstärkt die „gebührende Berücksichtigung“ von Entscheidungen des EGMR durch die Fachgerichte überwachen. Ein Ausdruck europa- freundlicher Kooperation der Gerichtshöfe. Gilt diese kontrollierbare Befolgungs-, Berücksichtigungs- und Begründungspfl icht im kon- kreten Fall nun ebenso für vergleichbare Parallel- und Wiederholungsfälle? Das BVerfG hat sich auch zur erga omnes-Wirkung von Entscheidungen des EGMR nur unscharf ausgespro- chen. Zum einen verweist es darauf, dass das Konventionsrecht nicht über eine § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift verfüge. Zum anderen stellt es jedoch ausdrücklich fest, die EMRK müsse vom Instanzrichter „in der Auslegung des EGMR“ in die Entscheidungs- fi ndung einbezogen werden. Die Entscheidungen des EGMR hätten „besondere Bedeutung“, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der EMRK und ihrer Protokolle widerspie- gele48. Diese Formulierungen sowie die durchgängige Betonung der Völkerrechtsfreundlich- keit des GG spricht dafür, dass das BVerfG eine erga omnes-Wirkung der Straßburger Ent- scheidungen annimmt; auch seine Kammerrechtsprechung lässt eigentlich keinen anderen Schluss zu49. Hiervon geht auch das Bundesverwaltungsgericht aus. Mit erfreulich klaren Worten urteilte es, dass der Straßburger Rechtsprechung „normative Leitfunktion“ zukommt. Insbesondere dann, wenn sich aufgrund einer gefestigten EGMR-Rechtsprechung eine ver- allgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung der EMRK feststellen lasse, hätten „die deutschen Gerichte dem vorrangig Rechnung zu tragen“50.

45 Vgl. insbesondere die Leitsätze des Görgülü-Beschlusses sowie unter C. I. 4. 3. Absatz. 46 Görgülü-Beschluss unter C. I. 4., 2. Absatz unter Berufung auf BVerfGE 58, 1 <34>; 59, 63 <89>; 109, 13 <23>. 47 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, EuZW 2001, S. 255. 48 Görgülü-Beschluss unter C. I. 2. a) und C. I. 4., 3. Absatz. 49 Vgl. etwa BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, S. 317, wo im Rahmen eines Nichtannahmebeschlusses die einschlägige EGMR-Rechtsprechung muster- gültig aufgearbeitet und vom BVerfG auf den konkreten Fall angewendet wurde. 50 BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 1999 - 4 CN 9.98 -, NVwZ 2000, S. 810, 811.

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Nach diesen Grundsätzen ist das LG im Caroline-Fall bei „Berücksichtigung“ des Urteils des EGMR weitgehend gebunden. Aufgrund der hier einschlägigen inter partes-Wirkung müsste es dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung entsprechen, weil dies die vorrangige Achtung der gemäß Art. 8 EMRK geschützten Privatsphäre verlangt. Auch das VG hat im Laserdrome-Fall das einschlägige Parallelurteil des EGMR „zu berücksichtigen“, d.h. müsste bei konventionskonformer Auslegung von Art. 1 Abs. 1 GG der Klage wegen Verstoßes gegen Art. 1 des 1. EMRK-Zusatzprotokolls stattgeben und die demnach rechts- widrige Verbotsverfügung sowie den Widerspruchsbescheid gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 Vw- GO aufheben.

VI. Konfl ikt und Konfl iktlösung

Nach der eigenen Logik der – historisch weitgehend unabhängig voneinander bzw. neben- einander entstandenen – Rechtsschutzsysteme beanspruchen somit die Entscheidungen aller drei Höchstgerichte weitreichende Bindungswirkungen inter partes und auch erga omnes. Das hierdurch für den Instanzrichter drohende Konfl iktpotenzial ist offenkundig: Im Caro- line-Fall zwingen BVerfG und EuGH zur Ablehnung des Antrages, der EGMR zwingt dage- gen zum Erlass einer einstweiligen Verfügung. Im Laserdrome-Fall ist das VG nach dem BVerfG wohl verpfl ichtet, die Klage abzuweisen, nach dem EuGH steht es dem VG frei, die Klage abzuweisen, und nach dem EGMR muss das VG der Klage stattgeben. Die wider- streitenden Vorgaben lassen sich hier auch kaum durch „gegenseitige Kooperation“ etwa im Sinne eines Mittelweges lösen. Die Gestattung von ein wenig Veröffentlichung der Fotos oder ein bisschen Laserdromespiel geht nicht. Ist der Instanzrichter damit unter Berufung auf seine sachliche Unabhängigkeit frei, derje- nigen Bindungswirkung Folge zu leisten, die ihm am sinnvollsten erscheint? Wohl kaum. Natürlich dürfen Richter grundsätzlich von den Rechtsauffassungen übergeordneter Ge- richte abweichen und auch die eigene Rechtsprechung jederzeit wieder modifi zieren oder aufgeben. Rechtspfl ege ist konstitutionell, d.h. ihrem Wesen nach uneinheitlich, woran auch der Gleichheitssatz nichts ändert51. Gleichwohl ist der Richter gemäß Art. 97 Abs. 1 GG nicht nur unabhängig; hiernach ist er zugleich (nur) dem Gesetze unterworfen. Dies bedeu- tet im Kernbereich richterlicher Tätigkeit in erster Linie die Unzulässigkeit von Einzelwei- sungen, Verwaltungsvorschriften und sonstiger Einfl ussnahme durch die Exekutive52. So- weit es eine Rechtsnorm vorschreibt – wie ausdrücklich etwa § 31 BVerfGG oder der Sache nach eben auch das EMRK-Zustimmungsgesetz in völkerrechtsfreundlicher Auslegung durch das BVerfG sowie Art. 10 und 220 EG –, ist der Richter auch an Entscheidungen an- derer Gerichte gebunden. Hierin liegt noch kein Eingriff in seine richterliche Unabhängig- keit53. Über die sachliche Unabhängigkeit des Richters ist der „Kampf um’s letzte Wort“ in Sachen Grundrechtsschutz in Europa mithin nicht zu lösen, wie im Übrigen auch das BVerfG im Görgülü-Beschluss betont54. Bei der Suche nach einer klaren Antwort müssen die Konsequenzen richterlichen Handelns pragmatisch mitbedacht werden. Aus der im Rechtsstaatsprinzip zu verankernden prozessu- alen Fürsorgepfl icht des Richters folgt, dass er all dasjenige unterlassen sollte, was Betei-

51 Vgl. BVerfGE 19, 38 <47>; 87, 273 <278>. 52 Vgl. BVerfGE 3, 213 <224>; 12, 67 <71>; 31, 137 <140>; 55, 372 <389 f.>; 60, 175 <214>. 53 Vgl. BVerfGE 12, 67 <71>; 36, 174 <185>; 42, 64 <72 ff.>. 54 Vgl. im Görgülü-Beschluss unter C. II. 2., 2. Absatz.

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ligte objektiv nutzlos schädigt. Denn der Richter ist allgemein zur Rücksichtnahme gegen- über den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpfl ichtet55. Auch im Lichte der Beispielsfälle bedeutet dies, dass in Grundrechtsfragen dem EGMR das letzte Wort ge- bührt!56 VG und LG müssen den Straßburger Vorgaben folgen und der Klage bzw. dem Antrag stattgeben. Anderenfalls würden sie die Beteiligten gegebenenfalls unter hohen Auf- wendungen durch alle Instanzen zwingen – bis am Ende der EGMR mit größter Wahr- scheinlichkeit erneut seine früheren Judikate bestätigen und die Bundesrepublik erneut zur Beseitigung der Konventionsverletzungen und zur Entschädigungszahlung sowie zur Über- nahme der Verfahrenskosten verurteilen würde. Eine objektiv unsinnige Belastung aller Be- teiligten und eine nutzlose Verschwendung der wertvollen Ressource Rechtsstaat, die aus Praktikersicht durch nichts gerechtfertigt erscheint. Dass bei dieser Lösung, die die Normenpyramide EU-Recht – GG – EMRK gewissermaßen auf den Kopf stellt, entgegenstehender Entscheidungen des EuGH nicht Rechnung getragen werden kann, wird wohl auch von Luxemburg selbst hingenommen und kann deshalb jeden- falls keinen staatshaftungsauslösenden „offenkundigen“ Gemeinschaftsrechtsverstoß57 be- gründen. Trotz der selbst geschaffenen und in Art. 6 Abs. 2 EU bestätigten Grundrechtsbin- dung ist primärer Entscheidungsmaßstab des EuGH doch regelmäßig kein „Verfassungs- recht“, sondern das detaillierte sekundärrechtliche „Gesetzesrecht“ sowie der Binnenmarkt mit seinen wirtschaftlich geprägten Grundfreiheiten, was die Luxemburger Situation we- sentlich von Karlsruhe und Straßburg unterscheidet. Im Grundrechtsbereich nimmt der EuGH so für sich auch keine über dem EGMR stehende Kompetenz in Anspruch. Im Ge- genteil: Er bemüht sich vielmehr seit Jahren aktiv um einen einheitlichen und effektiven europäischen Grundrechtsschutz58. Gewissermaßen im Vorgriff auf den seit langem gefor- derten und nunmehr in Art. I-9 Abs. 2 des EU-Verfassungsvertrags vorgesehenen EMRK- Beitritt der Europäischen Union, der eine auch formale Letztinstanzlichkeit des EGMR für das Gemeinschaftsrecht schaffen würde, lässt der EuGH in Sachen Grundrechtsschutz ge- wissermaßen kein Quäntchen Raum zwischen sich und Straßburg. Bisweilen hilft er gar, EGMR-Rechtsprechung im Wege des anerkannten Vorrangs des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten durchzusetzen59. Der EGMR bewertet deshalb neuerdings den EU-Grund- rechtsschutz ausdrücklich als „gleichwertig“60. Sobald der EGMR geurteilt hat, dürfte ihm der EuGH mithin bei nächster Gelegenheit folgen. Würden VG und LG so in unseren Bei- spielsfällen die Rechtssachen zulässig erneut dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen, würde dieser mit großer Wahrscheinlichkeit seine Rechtsprechung ändern und den Urteilen des EGMR anpassen. Ein vergleichbares Nähe- bzw. partielles Subordinationsverhältnis kann – jedenfalls ver- bal – derzeit weder zwischen Karlsruhe und Luxemburg noch zwischen Karlsruhe und Straßburg konstatiert werden. Vielmehr will sich das BVerfG die eigene Entscheidungs- macht – rhetorisch – weitreichend erhalten und pocht deshalb auf den nationalen „Souverä-

55 So ausdrücklich auch das BVerfG in E 38, 105 <111 ff.>; 40, 95 <98 f.>; 46, 202 <210>; 78, 123 <126>. 56 Ebenso R. Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, S. 193 f. Vgl. auch U. Everling, EU, EMRK und Verfassungsstaat, EuR 2005, S. 411 ff. 57 Im Sinne des EuGH-Urteils Köbler vom 30. September 2003, Rs. C-224/01, NJW 2003, S. 3539. 58 Ausführlich J. Bergmann, EuGRZ 2004, S. 623 ff., m.w.N. 59 EuGH, Urteil vom 7. Januar 2004, Rs. C-117/01 (K.B.), in dem der EuGH die Transsexuellen-Rspr. des EGMR in GB über Art. 141 EG durchsetzen will. Allgemein zum Verhältnis EGMR und EuGH s. M. Breuer, EuGRZ 2005, S. 229 ff. 60 EGMR, Urteil der Großen Kammer vom 30. Juni 2005, Beschwerde Nr. 45036/98 (Bosphorus Airways).

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nitätsvorbehalt“, wobei zumindest bezüglich der supranationalen EU zugestanden wird, dass dieser wegen Art. 23 Abs. 1 GG zwischenzeitlich „allerdings weit zurückgenommen“ ist61. Aber – man soll sich an dem orientieren, was die Richter machen. Gerade die faktische Ent- wicklung des Görgülü-Falles zeigt, dass auch das BVerfG jedenfalls der Sache nach – und hierauf kommt es für den Instanzrichter an – das letzte Wort Straßburgs durchaus anerkennt und seine Macht aktiv zur praktischen Durchsetzung von Entscheidungen des EGMR einzu- setzen gewillt ist. Mehr und mehr verdeutlicht der EGMR (insbesondere auf Druck des mit der Kontrolle der Urteilsdurchführung beauftragten Ministerkomitees des Europarates) in seinen Entscheidungen, wie genau der verurteilte Staat ein gegen ihn ergangenes Urteil um- setzen muss62. Auch im Straßburger Görgülü-Urteil übte sich der EGMR nicht in der in Karlsruhe vielfach erhofften richterlichen Zurückhaltung. Der Gerichtshof begnügte sich nicht mit der Feststel- lung, dass Deutschland mit der Verweigerung von Sorge- und Umgangsrecht Art. 8 EMRK verletzt hat und deshalb 15.000 EUR Entschädigung und 1.500 EUR Kostenersatz leisten muss. Darüber hinaus postulierte er in den Urteilsgründen, der beschwerdeführende biolo- gische Vater müsse hinsichtlich des gegen seinen Willen zur Adoption freigegebenen nicht- ehelichen Sohnes „zumindest ein Umgangsrecht“ erhalten63. Im Karlsruher Görgülü-Be- schluss des Zweiten Senates vom 14. Oktober 2004 wurden zunächst zwar die aufgezeigten unscharfen dogmatischen Vorgaben hinsichtlich der Bindungswirkung von EGMR-Ent- scheidungen gemacht. In der Sache wurde dagegen klipp und klar ausgeführt, dass die – das Urteil des EGMR „nicht gebührend berücksichtigende“ – Entscheidung des OLG Naum- burg wegen Verstoßes gegen Art. 6 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip verfassungswidrig sei, weswegen sie aufgehoben werden müsse64. Nachdem das OLG Naumburg auch in zwei- ter Runde dem EGMR dennoch keine Folge leistete, setzte der für Familienrecht zuständige Erste Senat des BVerfG am 28. Dezember 2004 auf Antrag des Vaters kurzerhand im Wege der einstweiligen Anordnung eine Umgangsregelung in Kraft. Das OLG habe voraussicht- lich die Vorgaben des EGMR wiederum verfassungswidrig nicht hinreichend „beachtet“ (!). Von ausschlaggebender Bedeutung sei zudem, „dass der EGMR in dieser Angelegenheit bereits entschieden hat, dem Beschwerdeführer müsse der Umgang mit seinem Kind ge- währt werden, und dass diese Entscheidung nach dem Beschluss des BVerfG vom 14. Ok- tober 2004 auch grundsätzlich zu berücksichtigen ist“65. Die Widersprüche hiergegen ver- warf das BVerfG sodann am 1. Februar 2005 mit erneutem Beschluss66. Schließlich gab Karlsruhe am 5. April 2005 mit weiterem Beschluss auch der zweiten Verfassungsbeschwer- de des Vaters gegen die Sorgerechtsentscheidung des OLG Naumburg statt67. Im Ergebnis wurde das Urteil des EGMR damit vom BVerfG mittels des Erlasses von insgesamt vier Beschlüssen innerhalb von gerade einmal sechs Monaten in der Praxis gegenüber dem wi- derspenstigen OLG Naumburg durchgesetzt. Größere Klarheit über die Frage, ob Straßbur-

61 Vgl. etwa im Görgülü-Beschluss unter C. I. 1. b), 4. Absatz. 62 Vgl. J. Meyer-Ladewig / H. Petzold, NJW 2005, S. 20, m.w.N. 63 EGMR, Urteil vom 26. Februar 2004, Beschwerde Nr. 74969/01 (Görgülü), NJW 2004, S. 3397. 64 Görgülü-Beschluss unter C. II. 65 BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 28. Dezember 2004 - 1 BvR 2790/04 -, EuGRZ 2004, S. 809. 66 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 1. Februar 2005 - 1 BvR 2790/04 -, EuGRZ 2005, S. 186. 67 BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 5. April 2005 - 1 BvR 1664/04 -, NJW 24/2005, VIII.

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ger Urteilen gefolgt werden muss, kann das BVerfG – durch Taten – wohl kaum schaffen. Dies bedeutet in der Sache wohl auch mehr als eine bloße „Berücksichtigung“; – und: Was für das BVerfG gilt, muss für den Instanzrichter erst recht gelten68. Die Karlsruher Taten bestätigen, dass der Instanzrichter einem Urteil des EGMR eigentlich immer, d.h. bis auf den praktisch wohl seltenen Fall Folge leisten muss, in dem sich der Sachverhalt zwischenzeitlich wesentlich geändert hat oder in dem sich ein tatsächlich ent- gegenstehendes und vorrangiges Bundesgesetz bzw. das GG selbst entsprechend der Straß- burger Erwägungen wirklich nicht mehr konventionsgemäß auslegen lässt, d.h. aus völker- rechtlicher Sicht deshalb zwingend geändert werden müsste, und solange diese Änderung noch aussteht69. Wie kann dabei mit der in § 31 BVerfGG angeordneten Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG umgegangen werden? Das Berliner Kammergericht weist den dogmatisch möglichen Weg: In einem (nur 15 Tage nach dem Karlsruher Görgülü-Be- schluss verkündeten) Urteil wich es in einem Caroline-Parallelfall ausdrücklich von der Rechtsprechung des BVerfG ab und schloss sich der neuen Linie des EGMR an. Der noch dem BVerfG folgende Beschluss des LG Berlin wurde geändert und die beantragte einst- weilige Verfügung erlassen, wonach bestimmte Fotografi en weder veröffentlicht noch ver- breitet werden dürfen. Dies sei zulässig, weil die Bindungswirkung des entgegenstehenden BVerfG-Urteil „insoweit im Hinblick auf die Völkerrechtsfreundlichkeit der Verfassung ge- lockert“ sei. Die Karlsruher Bedenken hinsichtlich der beteiligten Rechtspositionen im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis könnten zurückgestellt werden, weil im Caroline-Ver- fahren die Medienvertreter vom EGMR gemäß Art. 36 Abs. 2 EMRK hinreichend beteiligt worden seien. Und auch das Verbot des Art. 53 EMRK, wonach die Konvention nicht als Beschränkung nationaler Grundrechte ausgelegt werden darf, nehme dem Urteil des EGMR nicht seine Bedeutung bei der Abwägung widerstreitender Grundrechte70. Im Ergebnis steht mithin – jedenfalls solange die Bundesrepublik die Konvention nicht ge- mäß Art. 58 EMRK kündigt bzw. gemäß Art. 7 der Satzung des Europarates aus diesem austritt – bezüglich des Grundrechtsschutzes in Europa in aller Regel dem EGMR das letzte Wort zu. Der Instanzrichter ist auch insoweit nur „Diener eines Herren“. Für das Straßbur- ger Gericht bedeutet dies eine große Macht und zugleich eine hohe Verantwortung hinsicht- lich zeitnaher und sorgfältig begründeter Urteile. Eine Aufgabe, die sicher nicht am qualifi - zierten Richterpersonal71 oder dem grundsätzlich funktionstüchtigen EMRK-System72, wohl aber an der drückenden Überlast des EGMR scheitern könnte. Im Jahr 2004 verkünde- te der Gerichtshof 718 Urteile; in 588 Fällen stellte er eine Konventionsverletzung fest.

68 So zu Recht E. Benda, Vortrag auf dem Dt. Anwaltstag am 5. Mai 2005 in Dresden. 69 In diesem Sinne auch J. Meyer-Ladewig / H. Petzold, NJW 2005, S. 20. 70 Kammergericht, Endurteil vom 29. Oktober 2004 - 9 W 128/04 -, im Internet abrufbar unter: www.kammerge- richt.de. Diese Relativierung der gesetzlich angeordneten Bindungswirkung lässt sich auch vor dem Hinter- grund des begrenzten Regelungsziels des BVerfGG – Organisation des Karlsruher Gerichts und dortiger Ver- fahren – rechtfertigen; auch das BVerfG sieht insoweit bisweilen großzügige Auslegungsspielräume (etwa bei § 93 a Abs. 2 BVerfGG; vgl. hierzu B. Gehle, in: Umbach / Clemens / Dollinger, BVerfGG-MAK, 2. Aufl . 2005, § 93 a Rn. 4). 71 Der EGMR wurde aus Deutschland zuletzt mit dem früheren Direktor des Saarbrücker Europa-Instituts Georg Ress und nun mit der vormaligen Bundesverfassungsrichterin Renate Jaeger besetzt. 72 Vgl. hierzu etwa das erfolgreiche EMRK-interne „Rechtsmittel“ der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 43 EMRK zur Großen Kammer im sog. „Neubauern“-Urteil. Zunächst: EGMR, Urteil vom 22. Januar 2004, Beschwerden Nr. 46720/99, 72203/01 und 72552/01, EuGRZ 2004, S. 57, und sodann entgegengesetzt: EGMR, Urteil vom 30. Juni 2005 (Jahn u.a. gegen Deutschland), abrufbar im Internet unter: www.echr.coe. int/.

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Zugleich erklärte er sagenhafte 20.348 Beschwerden für unzulässig. 2006 wird, wie schon 2005, mit rund 40.000 Neueingängen gerechnet und einem Rückstand von ca. 80.000 Alt- verfahren73. Auch im Dienste der auf einen funktionstüchtigen EGMR angewiesenen deut- schen Fachgerichte sollte sich die Bundesregierung deshalb für ein rasches Inkrafttreten des 14. EMRK-Zusatzprotokolls vom 13. Mai 2004 einsetzen74, das u.a. eine Verfahrensstraf- fung und die (freilich schon im Hinblick auf Sprachgrenzen nicht unproblematische) Mög- lichkeit von Einzelrichterentscheidungen vorsieht, und sich auf der Ebene des Europarates insbesondere – etwa nach dem Vorbild der §§ 93 a und 93 b BVerfGG – für die Einführung eines Annahmeverfahrens stark machen. Zudem sollten autorisierte Übersetzungen von al- len EGMR-Entscheidungen in das Internet gestellt werden.

73 Die Hälfte der Fälle stammt aus Russland, Polen, Rumänien und der Türkei; vgl. R. Jaeger, EuGRZ 2005, S. 201. 74 Im Internet abrufbar unter http://www.egmr.org/ oder http://www.humanrights.ch/. Eine ausführliche Studie von H. Keller / M. Bertschi hierzu fi ndet sich in EuGRZ 2005, S. 204 ff.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 111515 118.05.20068.05.2006 09:27:1809:27:18 116 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips: Geltende Rechtlage und Reformperspektiven

Von Christoph Ritzer und Marc Ruttloff, Würzburg*

A. Einleitung

Der Verfassungsvertrag scheint gescheitert – die Probleme bleiben bestehen: Wie wohl je- dem föderativ oder supranational verfassten System wohnt auch der Europäischen Union eine zentralistische Tendenz inne. Verlangt wird deshalb schon seit Jahren eine Barriere ge- gen jenen schleichenden Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten und ihrer subnationalen Einheiten, der auch eine potenzielle Gefahr für die Akzeptanz der Unionsrechtsakte und damit für das Fortschreiten der Europäischen Integration bedeute.1 Von daher galt die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den jetzigen Art. 5 EG als eine der Errungenschaften des Maastrichter Vertrages. Entfalten sollte dieses Prinzip die Wir- kung eines „Wundermittels gegen den ungeliebten Eurozentrismus“2. Das mit so hohen Erwartungen eingeführte Subsidiaritätsprinzip änderte jedoch nicht allzu viel in der europä- ischen Rechtswirklichkeit. Dies offenbart nicht nur die Analyse der Judikatur des Europä- ischen Gerichtshofs, sondern auch die Vielzahl der seither von den Europäischen Gemein- schaften erlassenen Rechtsakte. Eine spürbare Begrenzung europäischer Kompetenzaus- übung erscheint daher – gerade aus dem Blickwinkel der deutschen Ministerpräsidenten3 – noch nicht wirklich erreicht. Vor diesem Hintergrund bestand für die jüngsten Reformen im Europäische Konvent4, der durch den Europäischen Rat von Laeken5 im Dezember 2001 ins Leben gerufen worden war, ausreichend Anlass, dem Themenfeld der Kompetenzabgrenzung und Subsidiarität6 eine wichtige Rolle einzuräumen.7 Aufgrund des geringen materiellrechtlichen Ertrags des Subsidiaritätsprinzips in der europäischen Rechtswirklichkeit war eine der Prämissen im Europäischen Konvent und seinen Arbeitsgruppen, dieses durch prozedurale – in unter-

* Christoph Ritzer, Wirtschaftsjurist (Univ. Bayreuth), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehr- stuhl für Europarecht (Prof. Dr. D. H. Scheuing) an der Universität Würzburg; Marc Ruttloff ist Student der Rechtswissenschaften und des Begleitstudi ums im Europäischen Recht an der Universität Würzburg. 1 Ähnlich G. Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrages von Maastricht, DÖV 1993, S. 405 f. 2 So Konow, DÖV 1993, S. 405. 3 Vgl. W. Clement, Europa gestalten – nicht verwalten, Die Kompetenzordnung der Europäischen Union nach Nizza, in: Forum Constitutionis Europae, Vorträge zum Europäischen Verfassungsrecht, FCE 3/01 (http://www. whi-berlin.de/clement.htm). 4 Vgl. hierzu die Homepage des europäischen Konvents: http://european-convention.eu.int. 5 Vgl. die „Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“ in den Schlussfolgerungen des Europä- ischen Rates, S. 19 ff. (http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/ec/68829.pdf). 6 Ein wichtiges Ziel, das dem Europäischen Konvent gesetzt worden war, bestand darin, ein übersichtlicheres und transparenteres System der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten zu entwickeln. Vgl. den Abschnitt über „Eine bessere Aufteilung und Festlegung der Zuständigkeiten in der Europäischen Union“ in der „Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union“, S. 21 f. 7 So wurden allein mit diesem „deutschen“ Thema insgesamt vier Arbeitsgruppen befasst: Arbeitsgruppe I „Sub- sidiarität“, Arbeitsgruppe IV „Rolle der einzelstaatlichen Parlamente“, Arbeitsgruppe V „Ergänzende Zustän- digkeiten“ und Arbeitsgruppe IX „Vereinfachung“, vgl. deren Abschlussberichte CONV 286/02 (AG I), 253/02 (AG IV), 375/02 (AG V) und 424/02 (AG IX). Das ist umso bemerkenswerter, als für die eigentlich als zentral zu erachtende Frage der Europäischen Institutionen im Konvent keine eigene Arbeitsgruppe eingesetzt wurde.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 111616 118.05.20068.05.2006 09:27:1809:27:18 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 1 – 2006 117

schiedlichen Ausprägungen vorgeschlagene8 – Vorkehrungen der Subsidiaritätskontrolle zu fl ankieren. Am 18. Juni 2004 einigten sich die Europäischen Staats- und Regierungschefs auf das Er- gebnis der Beratungen des Europäischen Konvents und der anschließenden Regierungskon- ferenz. Dieser „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ wurde am 29. Oktober 2004 in Rom von den Staats- und Regierungschefs feierlich unterzeichnet. Die notwendige Ratifi ka- tion in den 25 Mitliedstaaten hat durch den negativen Ausgang des Referendums in Frank- reich und des konsultativen Referendums in den Niederlanden einen schweren Rückschlag erhalten. Die Staats- und Regierungschefs halten aber zunächst trotz dieser Ratifi kationsprobleme am Ziel des Verfassungsvertrages fest. Beim Europäischen Rat am 16./17. Juni 2005 in Brüssel einigte man sich auf eine einjährige „Denkpause“ („période de réfl exion“)9. Diese Denk- pause solle aber den Willen zur Ratifi zierung des Verfassungsvertrages nicht in Frage stel- len. Im ersten Halbjahr 2006 will der Europäische Rat erneut über das Thema beraten und auf Grundlage der bis dahin zu führenden Debatte über das weitere Vorgehen beraten. Fest steht, dass unabhängig vom Schicksal des Verfassungsvertrages eine Reform des Pri- märrechtes im Interesse der Europäischen Union weiterhin unerlässlich ist, um die Leftovers von Nizza zu bewältigen. Daher wurden auch schon in der Wissenschaft verschiedene Lö- sungen diskutiert. Auch der wissenschaftliche Diskurs widmete sich bereits der Frage, wie der Verfassungsvertrag in Gänze, in anderer Form oder teilweise ins Werk gesetzt werden könnte.10 Was die Reformen im Rahmen der Subsidiarität betrifft, fanden sich die entspre- chenden Regelungen im Wesentlichen im neuen Protokoll11, das dem geplanten Verfas- sungsvertrag wie zuvor schon den Gründungsverträgen beigefügt wurde. Vor diesem Hintergrund scheint es nahe liegend, das derzeit geltende „Protokoll über die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ (im folgenden SubsProt) durch das reformierte zu ersetzen und so einen wesentlichen Teil der kompetenziellen Reformvor- schläge des Europäischen Konvents für das geltende Gemeinschaftsrecht zu bewahren. Im folgenden Beitrag soll zunächst (B.) das Subsidiaritätsprinzip nach geltendem Recht Gegenstand der Untersuchung sein, einschließlich der Frage nach dem Schattendasein des Prinzips in der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs. Anschließend (C.) soll geklärt werden, auf welchem Wege nach dem Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages, die diesbezüglichen Reformvorschläge Eingang in das geltende Gemeinschaftsrecht fi nden können, was jene Neuerungen im Einzelnen auszeichnet und wie diese zu würdigen sind.

8 Vgl. insbesondere CONV 286/02. 9 Déclaration des chefs d‘état ou de gouvernement des états membres de l‘union Européenne sur la ratifi cation du traité établissant une constitution pour l‘Europe (conseil européen des 16/17 juin 2005), Dokument Nr. SN 117/05, S. 2, http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/fr/ec/85322.pdf, 20.06.2005. 10 Vgl. umfassend zu den Optionen partieller Umsetzung trotz Scheiterns des Verfassungsvertrags J. Wuermeling, Die Tragische: Zum weiteren Schicksal der EU-Verfassung, ZRP 2005, S. 149 ff.; hierzu auch J. Monar, Optio- nen für den Ernstfall: Auswege aus einer möglichen Ratifi zierungskrise des Verfassungsvertrags, Integration 2005, S. 16 ff. 11 Protokoll Nr. 2 des VVE. Amtsblatt der Europäischen Union vom 16. Dezember 2004, C 310, S. 207 ff.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 111717 118.05.20068.05.2006 09:27:1809:27:18 118 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

B. Das Subsidiaritätsprinzip im geltenden Gemeinschaftsrecht

I. Materielle Ausgestaltung

Das Subsidiaritätsprinzip12 stammt bekanntlich aus der katholischen Soziallehre.13 Indes hat sich bei seiner Fruchtbarmachung für das Gemeinschaftsrecht ein spezifi sches gemein- schaftsrechtliches Verständnis dieses Prinzips herausgebildet, was vom ursprünglichen Ver- ständnis vor allem insofern abweicht, als es keinen Bezug mehr zur Frage zwischen Indivi- duum, Gesellschaft und Staat an sich beinhaltet. Vielmehr dient es der Abgrenzung zwi- schen verschiedenen staatlichen Ebenen. Nach dem Subsidiaritätsprinzip, wie es nach geltendem Gemeinschaftsrecht in Art. 5 Abs. 2 EG verankert ist, wird die Gemeinschaft in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zu- ständigkeit fallen, nur tätig, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maß- nahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene ereicht werden können“. Den kleineren Einheiten, den Mitgliedstaaten, soll also nach Maßgabe ihrer Leis- tungsfähigkeit der Vorrang im Handeln (Zuständigkeitsprärogative) gegenüber der größeren Einheit, der Europäischen Gemeinschaft, zukommen.14 Gleichzeitig zielt das Subsidiaritäts- prinzip auf die Gewährleistung einer größeren Bürger- und Sachnähe, Effi zienz und Trans- parenz der politischen Entscheidungen und gebietet Rücksichtnahme auf historisch gewach- sene Eigenarten und Traditionen.15 So eindeutig und unmissverständlich der Wortlaut auf den ersten Blick scheint, so unterschiedlich erweist sich seine Auslegung durch die Gemein- schaftsorgane, die Mitgliedstaaten und die Literatur im Detail. Das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 Abs. 2 EG ist dabei stets als Kompetenztrias im Zusam- menhang mit dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EG und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in Art. 5 Abs. 3 EG zu sehen. Abs. 1 stellt die Frage nach dem grundsätzlichen Können hinsichtlich der zu treffenden Maßnahme, Abs. 2 nach dem Ob, ob im Einzelfall die europäische Handlungsmöglichkeit gegenüber mitgliedstaatlichem Tätig-

12 Grundlegend zu Herkunft und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips im Allgemeinen vgl. J. Isensee, Subsidiari- tätsprinzip und Verfassungsrecht – Eine Studie über das Regulativ des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, 2. Aufl age, Berlin 2001; H. Leche ler, Das Subsidiaritätsprinzip – Strukturprinzip einer europäischen Union, Berlin, 1993; S. U. Pieper, Subsidiari tät, Köln, 1994. 13 Das Subsidiaritätsprinzip fi ndet seinen Ursprung in der katholischen Soziallehre. Ausgehend von Aristoteles wurde es von Thomas von Aquin weiterentwickelt. Unter dem Eindruck zunehmender zentralisti scher und tota- litärer Tendenzen verkündete am 15. Mai 1931 Papst Pius XI. die Sozialenzyklika „Quadragesimo Anno“, um die selbstverantwortliche Person, die Familie sowie gesellschaftliche Zwischengebilde und -verbände vor den alles an-sich-reißenden Staatsgebilden in Schutz zu nehmen und formulierte vielleicht erstmals konkret die Grundsät- ze des Subsidiaritätsprinzips: „...Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eige- nen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwe sen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen“, auf der Homepage des Vatikan online in englischer und italienischer Sprache verfügbar unter: http://www.vatican.va/holy_father/pius_xi/ency- clicals, eine deutsche Übersetzung ist unter anderem bei http://theol.uibk.ac.at/itl/319.html zu fi nden. 14 Vgl. Isensee (Fn. 12), S. 71; C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der Europäischen Union – Vorgaben für die Anwendung von Art. 5 (ex-Art 3b) EGV nach dem Vertrag von Amsterdam, 2. Aufl age, Ba- den-Baden, 1999, S. 32 ff. 15 D. Blumenwitz, Das Subsidiaritätsprinzip und die Stellung der Länder und der Regionen in der Europäischen Union, in: Randelzhofer [Hrsg.], Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, München, 1995, S. 1 (5).

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werden zurücktreten muss, und Abs. 3 die Wie-Frage, ob die konkrete europäische Maßnah- me die Grenzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit einhält.16 Eine Konkretisierung fi ndet sich seit dem Amsterdamer Vertrag im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit17. Das Subsidiaritätsprinzip ist Kompetenzaus- übungs- nicht Kompetenzverteilungsregel.18 Wortlaut, Sinn und Zweck der Norm belegen, dass die Subsidiaritätsforderung lediglich an die Gemeinschaftsorgane gerichtet ist.19 Die Prüfung anhand des Subsidiaritätsprinzips lässt sich wiederum in drei Fragen untertei- len: Erstens, ob die in Anspruch genommene Kompetenz nicht-ausschließlicher Natur ist, zweitens, ob die betreffenden Maßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene ausreichend ver- wirklicht werden können und drittens, ob die Verwirklichung auf gemeinschaftlicher Ebene eine bessere Zielverwirklichung erwarten lässt. Für den Begriff der nicht-ausschließlichen Kompetenz fi ndet sich im Vertrag jedoch weder eine Defi nition noch ein Kompetenzkata- log. Daher ist die Zuordnung der Regelungsbereiche zu den ausschließlichen Kompetenzen sehr umstritten.20 Eine weite Auslegung, wie sie vor allem die Kommission vornehmen möchte21, lässt dem Subsidiaritätsprinzip wenig Raum22 und schränkt den Anwendungsbe- reich des Subsidiaritätsprinzips zu stark ein.23 Als ausschließliche Kompetenzen hat der

16 Vgl. hierzu D. Merten, Die Subsidiarität Europas, Berlin 1993, S. 77 (78); C. Calliess, in: Calliess/Ruffert [Hrsg.], Kommentar des Vertrages über die Europäische Union und des Vertrages zur Gründung der Europä- ischen Gemeinschaft – EUV/EGV, Art. 5 Rn. 6. 17 Unter Praktibilitäts- und Justiziabilitätsgesichtspunkten gesehen, kommt dem Protokoll bedeutsame primär- rechtliche Stellung zu, vgl. Art. 311 EG. 18 Würde das Prinzip nämlich als Verteilungsregel interpretiert, so verbliebe die jeweilige Kompetenz bei den Mitgliedstaaten bis sich aufgrund der Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 EG ein Übergang auf die Gemeinschaft vollzöge. Vgl. hierzu Merten (Fn. 16), S. 81; W. Kahl, Möglichkeiten und Grenzen des Subsidia- ritätsprinzips nach Art 3b EG-Vertrag, AöR 118 (1993), S. 414 (433); P. M. Schmidhuber / G. Hitzler, Die Ver- ankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag – ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer föderalen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, NVwZ 1992, S. 720 (722). 19 Ähnlich W. Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips – Eine rechtsdogmatische und rechtspolitische Studie, Berlin, 2001, S. 331 ff.; vgl. auch R. Streinz, Die Abgrenzung der Kompetenzen zwi- schen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, BayVBl 2001, S. 481 (486). 20 Wohl nicht zuletzt aufgrund der Uneinigkeit unter den Mitgliedstaaten enthalten selbst die Ausführungen des Europäischen Rates von Edinburgh lediglich allgemeine Relationen, wonach der Anwendungsbereich des Sub- sidiaritätsprinzips umso kleiner sein soll, „je genauer eine Aufgabe durch den Vertrag defi niert wird“ (Europä- ischer Rat von Edinburgh vom 11./12. Dezember 1992, Schlussfolge rungen des Vorsitzes (Text in: EA 1993, D, S. 2 ff)). 21 Die Kommission vertritt in ihrer „Mitteilung [...] an den Rat und an das Europäische Parlament betreffend das Subsidiaritätsprinzip“ eine weite Auslegung, wonach zu den bereits angeführten ausschließlichen Zuständigkei- ten noch der Bereich der vier Grundfreiheiten, die allgemeinen Wettbewerbsregeln, die gemeinsame Organisa- tion der Agrarmärkte und die wesentlichen Elemente der Verkehrspolitik, Art. 71 lit. a und b EG, hinzuzurech- nen seien (abgedruckt in: Merten (Fn. 16) S. 112 ff.; bei Art. 71 I lit. a und b wohl auf EuGH, Urteil vom 22. Mai1985, Rs. 13/83, Slg. 1985, 1513 (Europäisches Parlament/Rat) abstellend, in dem der Rat wegen Untätig- keit, vgl. Art. 232 EG, im Hinblick auf die Ziele der Art. 71 I lit. a und b verurteilt wurde.). 22 Noch weitergehende Literaturansichten zählen gar die Herstellung des gemeinsamen Marktes, Art. 94 f. EG, hinzu (vgl. P. Müller-Graff, Binnenmarktauftrag und Subsidiaritätsprinzip?, ZHR 159 (1995), S. 66 ff). Schließ- lich wird vertreten, der Beg riff der ausschließlichen Zuständigkeit sei dem Vertrag vollkommen fremd und le- diglich Niederschlag des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts. (U. Everling, Subsidiaritätsprinzip und „aus- schließliches“ Gemeinschaftsrecht – ein „faux problème“ der Verfas sungsauslegung, in: Burmeister [Hrsg.], Verfassungsstaatlichkeit – Festschrift für Klaus Stern zum 65. Geburtstag, Mün chen 1997, S. 1234 ff.). 23 Dem widerspricht beispielsweise auch, dass Harmonisierungskompetenzen gerade bei den Mitgliedstaaten ver- bliebene Zuständigkeiten voraus setzen, was für eine geteilte Kompetenz der Gemeinschaft in diesen Bereichen spricht, vgl. Calliess, in: Cal liess/Ruffert (Fn. 16), Art. 5 Rn. 24; H. D. Jarass, Die Kompetenzverteilung zwi- schen der Europäischen Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, AöR 121 (1996), S. 173 (190).

11_06_innen.indd_06_innen.indd 111919 118.05.20068.05.2006 09:27:1909:27:19 120 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

EuGH24 inzwischen eine Reihe an Regelungsgebieten herausgearbeitet,25 wodurch die Mei- nungsunterschiede jedoch nicht beseitigt werden konnten. Den zweiten Prüfungsschritt bil- det die Vorgabe, dass gemäß dem Negativkriterium ein Tätigwerden der Gemeinschaft nur zulässig ist, „sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können.“ Gemäß den Leitlinien des Subsidiaritätsprotokolls, insbesondere der dortigen Nr. 5, müssen hierzu transnationale As- pekte vorliegen, die nicht durch alle26 Mitgliedstaaten27 zufrieden stellend geregelt werden können. Als dritten Prüfungsschritt verlangt das Besser-Kriterium die Überprüfung, ob Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder Auswirkungen in qualitativer oder quantitativer Hinsicht deutliche Vorteile gegenüber mitgliedstaatlichem Tä- tigwerden mit sich bringen. Nach Einschätzung der Kommission ist das Positivkriterium quasi als „komparativer Mehrwerttest“ gemeinschaftlichen Handelns gegenüber mitglied- staatlichem Handeln zu betrachten.28 Problematisch sind insbesondere das zweite und dritte Kriterium des Subsidiaritätsprinzips. Während sich die Frage der ausschließlichen Kompetenz grundsätzlich durch eine Katalo- gisierung der Regelungsbereiche im Rahmen der Rechtsprechung klären lässt, bereiten die Kriterien „nicht-ausreichend“ und „besser“ rechtliche Probleme. Die Begriffe sind einer- seits unbestimmt und andererseits politisch befrachtet, was sie rechtlich schwer greifbar macht.

II. Subsidiaritätskontrolle nach geltendem Gemeinschaftsrecht

Die Effektivität des Subsidiaritätsprinzips hängt in entscheidendem Maße von der Effektivi- tät der Verfahren ab, die zu seiner Gewährleistung beitragen sollen. Dazu gehören sowohl das Rechtsetzungsverfahren (prozeduraler Aspekt) als auch das Rechtschutzverfahren (pro- zessualer Aspekt).

24 Einer zu engen Auslegung hat der EuGH zuletzt in seinem Urteil zur Biopatentrichtlinie implizit widerspro- chen, indem er entgegen der Ausführungen des Generalanwalts Art. 5 Abs. 2 EG ausdrücklich prüfte. (EuGH, Urteil vom 9. Oktober 2001, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 30 ff. (Biopatentrichtlinie); hierzu auch N. Colneric, Der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaft als Kompetenzgericht, EuZW 2002, S. 175 (184).). 25 Hierzu zählen die gemeinsame Handelspolitik, das materielle Zollrecht, die Erhaltung der Fischereiressourcen sowie das interne Organisations- und Verfahrensrecht; gleiches muss denklogisch für die im Zusammenhang mit der Währungsunion, vgl. auch Art. 105 ff. EG, stehenden Materien gelten., vgl. hierzu M. Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze [Hrsg.], Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Band 1, 6. Aufl age, Baden-Baden 2003, Art. 5, Rn. 7 ff. mit Rechtsprechungs- nachweisen; R. v. Börries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, S. 263 (274 f.); ders., Gedanken zur Tragweite des Subsidiaritätsprinzips im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Everling [Hrsg.], Europarecht, Kartellrecht, Wirtschaftsrecht – Festschrift für Arved Deringer, Ba den-Baden 1993, S. 22 ff.; dem beipfl ichtend die Bundesregierung in ihrem Memorandum zum Subsidiaritätsprinzip vom September 1992 (abgedruckt in: Merten (Fn. 16), 130 ff.), da der Rechtsprechung ein System ausschließlicher, konkurrierender und paralleler Kompetenzen zu entnehmen und zudem nur in jenen Bereichen die Annahme ausschließlicher Kompetenzen sinnvoll sei, da lediglich in diesen Bereichen ein einheitliches Auftreten gegen- über Drittstaaten erforderlich sei. 26 Nach G. Langguth, in: Lenz/Borchardt [Hrsg.], EU- und EG-Vertrag, 3. Aufl age, Baden-Baden 2003, Art. 5 Rn. 32 f. genügt ein überforderter Mitgliedstaat; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Fn. 16), Art. 5 Rn. 40 hingegen ver- langt mindestens zwei überforderte Mitgliedstaaten, wegen des Wortlauts „Mitgliedstaaten“. 27 Welche Handlungsebene dabei national vorgesehen ist, ist aus Gemeinschaftsperspektive belanglos. 28 Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip, abge- druckt in: Mer ten (Fn. 16), S. 112 ff.; Vlg. auch Nr. 4 und der Nr. 5 des Subsidiaritätsprotokolls.

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1. Prozedurale Kontrolle

Zur Sicherung der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips wurden prozedurale Anforderungen im Rechtsetzungsverfahren geschaffen. Mit dem durch den Amsterdamer Vertrag hinzuge- fügten, verbindlichen Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wurden die bis dahin nicht verbindlichen Leitlinien29 zur Einhal- tung des Subsidiaritätsprinzips im Primärrecht kodifi ziert.30 Diese legen Anforderungen für das Rechtsetzungsverfahren fest. Hierzu gehören – vor allem an die Kommission adres- siert31 – insbesondere Anhörungserfordernisse, qualifi zierte Begründungspfl ichten32 und eine jährliche Berichtspfl icht33. Diese prozeduralen Vorkehrungen konnten jedoch zumin- dest den Umfang europäischer Rechtsetzung nicht spürbar einschränken. Dies ist insbeson- dere wohl darin begründet, dass diese Anforderungen nicht spezifi sch genug ausgestaltet sind und viel Raum für politische Einschätzungen lassen. Neben dieser nicht effektiven pro- zeduralen Kontrolle im Vorfeld der Rechtsetzung bleibt daher noch die Möglichkeit, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips nachträglich prozessual durch das EuG oder den EuGH zu überprüfen.

2. Prozessuale Kontrolle

In ihrer bisherigen Rechtsprechungspraxis haben EuG und EuGH eine „echte“ Subsidiari- tätsprüfung weitgehend durch Rückzug auf meist formelhafte Aussagen umgangen.34

a) Justiziabilität, Prozessualer Prüfungsmaßstab

Die prozessuale Kontrolle setzt die grundsätzliche Justiziabilität des Subsidiaritätsprinzips voraus. Seine Einhaltung ist jedoch nicht umfassend überprüfbar, die Kontrolle durch die europäische Gerichtsbarkeit muss vielmehr bei den verschiedenen Tatbestandvorausset- zungen mit unterschiedlicher Intensität erfolgen.35 Reine Rechtsfragen unterliegen hierbei

29 Vgl. die Schlussfolgerungen des Rates von Edinburgh vom 12. Dezember 1992, u. a. abgedruckt in: Calliess (Fn. 14), S. 391 ff., bzw. die interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips vom 25. Oktober 1993, u. a. abgedruckt in EuGRZ 1993, S. 602 ff. 30 Die „Leitlinien“ verfügen allerdings nur über eine eingeschränkte Direktionskraft, vgl. Lienbacher, in: Schwar- ze [Hrsg.], EU-Kommentar, Baden-Baden 2001, Art. 5 Rn. 32 f. 31 Nach Nr. 1 des Protokolls sind alle Gemeinschaftsorgane bei der Ausübung ihrer Befugnisse zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verpfl ichtet. 32 Jeder Vorschlag muss mit einer qualifi zierten Begründung versehen werden, in dem der fi nanzielle und der Ver- waltungsaufwand der Gemeinschaft, der nationalen Ebenen, aber auch der Wirtschaft und der Bürger besonde- re Berücksichtigung fi nden soll, siehe Nr. 4 und Nr. 9 des Protokolls, vgl. auch Art. 253 EG. 33 Die Kommission hat einen jährlichen Bericht über die Anwendung des Art. 5 EG dem Rat, dem Parlament, so- wie dem Ausschuss der Regionen und dem Wirtschafts- und Sozialausschuss zuzuleiten (Nr. 9 des Protokolls). Der Rat berücksichtigt dies wiederum in seinem Bericht an das Parlament über die Fortschritte der Union nach Art. 4 EU. Er prüft jeden Vorschlag der Kommission sowie eventuelle eigene Änderungsvorschläge oder gemäß Art. 251 bzw. 252 EG festgelegte gemeinsame Standpunkte auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips (Nr. 10 ff. des Protokolls). 34 Vgl. hierzu exemplarisch das jüngste Urteil, in dem sich der EuGH mit dem Prinzip auseinander setzte: EuGH, Urteil vom 12. Juli 2005, verb. Rs. C-154/04 u. C-155/04, Rn. 99 ff. (Alliance for Natural Health) (noch nicht in Slg.). 35 Vgl. hierzu R. v. Börries, Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union, EuR 1994, S. 263 (283 ff.).

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der uneingeschränkten gerichtlichen Kontrolle.36 Hierzu gehört sicherlich als Prüfungs- punkt die nicht-ausschließliche Natur entsprechender Gemeinschaftskompetenzen. In for- meller Hinsicht ist weiterhin gerichtlich feststellbar, ob das Gemeinschaftsorgan seiner Be- gründungspfl icht nachgekommen ist. Das Fehlen einer ausreichenden Begründung führt gegebenenfalls zur Nichtigkeit des Rechtsaktes wegen eines wesentlichen Formfehlers i.S.d. Art. 230 Abs. 2 EG. Demgegenüber enthalten die Kriterien des Art. 5 Abs. 2 EG gemeinschaftsrechtliche Er- messensbegriffe, die oftmals rechtspolitische Gestaltungsentscheidungen auf unsicherer Tatsachenebene notwendig machen. Aus der systematischen Stellung des Art. 5 Abs. 2 EG zwischen dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in Art. 5 Abs. 1 EG und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in Art. 5 Abs. 3 EG, die beide unbestreitbar gerichtlich über- prüfbar sind, ist zu schließen, dass auch das Negativ- und das Besser-Kriterium des Subsi- diaritätsprinzips als zwingende inhaltliche Begrenzung nicht-ausschließlicher Gemein- schaftszuständigkeiten einer Rechtskontrolle durch EuG und EuGH offen stehen.37

b) Anwendbarkeit und Schutzrichtung

Erstmals relevant wurde das Subsidiaritätsprinzip für das Gericht erster Instanz Anfang 1995 in der Rechtssache T-29/92 (SPO/Kommission)38. Das Gericht vermied jedoch eine nähere Stellungnahme, indem es lediglich die Feststellung traf, dass das Subsidiaritätsprin- zip vor In-Kraft-Treten des Maastrichter Vertrags (der betreffende Sachverhalt lag vor 1993), entgegen manchen Ansichten in der Literatur,39 mangels normativer Verankerung kein allgemeiner Rechtsgrundsatz auf europäischer Ebene gewesen sei.40 Diese Einschät- zung wurde vom EuGH nicht in diesem Fall, jedoch im Fall Kellinghusen41 bestätigt. In der zunächst beim EuG anhängigen Rechtssache C-209/94 (Buralux)42 ging es um eine Verord- nung zur Einfuhr von Abfällen in die Gemeinschaft. Die Buralux SA betrieb arbeitsteilig das Einsammeln, den Transport und das Deponieren von aus Deutschland stammendem und nach Frankreich ausgeführtem Hausmüll. Der Einfuhr von Hausmüll nach Frankreich wur- de jedoch durch den Erlass eines französischen Dekrets ein Ende gesetzt. Die Rechtsmittel- führerinnen machten gegen diesen mitgliedstaatlichen Rechtsakt unter anderem geltend, es seien Subsidiaritätsgesichtspunkte43 nicht ausreichend beachtet worden; vielmehr hätte

36 So M. Zuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht – Inhalt, Justiziabilität, Entwicklung -, in: Rodriguez; u.a. [Hrsg.], Mélanges en hommage à Fernand Schockweiler, Baden-Baden 1999, S. 635 (642). 37 Vgl. auch Nr. 13 SubsProt; Moersch (Fn. 19), S. 305 ff.; Pieper (Fn. 12), S. 271 ff.; von dessen „Überwachung“ sprechend BVerfGE 89, 155 (211); a. A.: Der Subsidiaritätsbegriff sei aufgrund seiner Unbestimmtheit ledig- lich eine abstrakte politische Leitlinie und tauge nicht zur Ableitung präziser juristischer Konsequenzen, vgl. D. Grimm, Effektivität und Effektivierung des Subsidiaritätsprinzips, Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzge- bung und Rechtswissenschaft 1994, S. 7 ff.; Lienbacher, in: Schwarze, EU (Fn. 30), Art. 5, Rn. 25 ff.; M. Schweit zer/O. Fixson, Subsidiarität und Regionalismus in der Europäischen Gemeinschaft, Jura 1992, S. 579 (582). 38 EuG, Urteil vom 21. Februar 1995, Rs.T-29/92, Slg. 1995, II-289 (SPO). 39 Zu den unterschiedlichen Ansätzen vgl. Pieper (Fn. 12), S. 197 ff.; Calliess (Fn. 14), S. 35 ff. 40 EuG, Urteil vom 21. Februar 1995, Rs.T-29/92, Slg. 1995, II-289, Rn. 331 (SPO). 41 EuGH, Urteil vom 22. Oktober 1998, verb. Rs. C-36/97 und C- 37/97, Slg. 1998, I-6337 Rn. 35 (Kellinghus- en). 42 EuGH, Urteil vom 15. Februar 1996, Rs. C 209/94, Slg. 1996, I-615 (Buralux). 43 Die Rechtsmittelführerinnen beriefen sich auf die EG-Verordnung Nr. 259/93, mit der für die Verbringung von Abfällen eine einheitliche europäische Regelung geschaffen worden ist. Hiernach können Mitgliedstaaten Maß- nahmen ergreifen, um die Verbringung von Abfällen allgemein oder teilweise zu verbieten.

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Frankreich weniger Spielraum belassen werden dürfen. Im Rechtsmittelverfahren vor dem EuGH stellte Generalanwalt Lenz jedoch zutreffend fest,44 dass das Subsidiaritätsprinzip die Mitgliedstaaten nur vor zu weit gehender Kompetenzausübung durch die Gemeinschaft schütze, nicht aber vor Belastung von Handlungsspielräumen bei den Mitgliedsstaaten. In einer jüngeren Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der Nahrungsergänzungsmittel-Richt- linie45 hat der EuGH Nr. 3 SubsProt dahingehend ausgelegt, dass das Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich nicht die Befugnisse der Gemeinschaft in Frage stelle.46 Diese Formulierung ist insofern unglücklich, als sie so ausgelegt werden könnte, dass dem Subsidiaritätsprinzip grundsätzlich keine Beschränkungswirkung zukomme.

c) Ausschließliche Zuständigkeit

In der Rechtssache C-415/93 (Bosman)47 rückte die deutsche Bundesregierung erstmals das Subsidiaritätsprinzip ins Zentrum ihrer Argumentation. Nach ihrer Ansicht stehe die nach nationalem Recht den Sportverbänden eingeräumte große Eigenständigkeit gemäß dem all- gemeinen Grundsatz der Subsidiarität einem über das unbedingt erforderliche Maß hinaus- gehenden Handeln der Gemeinschaftsorgane in diesem Bereich entgegen. Hierzu führte Generalanwalt Lenz hingegen aus, das Subsidiaritätsprinzip gelte nicht im Bereich der aus- schließlichen Gemeinschaftszuständigkeiten, wozu die Grundfreiheiten zu rechnen seien; somit könne das Subsidiaritätsprinzip einer Gemeinschaftsrechtsanwendung im Bereich des Berufsfußballs nicht entgegen gehalten werden.48 Die europäischen Kompetenzen zur Aus- gestaltung der Grundfreiheiten (wie z.B. Art. 40 EG) fallen jedoch dem entgegen nicht au- tomatisch in die ausschließliche Gemeinschaftszuständigkeit,49 so dass das Subsidiaritäts- prinzip sehr wohl in diesem Bereich grundsätzlich anwendbar ist. Dies beurteilte der EuGH im Urteil wohl ebenso,50 da er sich argumentativ mit dem Prinzip auseinandersetzte51 und es somit als grundsätzlich anwendbar erachten musste. Weitergehende Rückschlüsse auf das Verständnis des Subsidiaritätsprinzips durch den EuGH lassen die sehr allgemein gehal- tenen Ausführungen nicht zu. In der Rechtssache C-11/9552 hatte Belgien bezüglich seiner Genehmigungsverfahren zur Verbreitung von Fernsehsendungen über das Kabelnetz ausgeführt, das Subsidiaritätsprin- zip decke ein mitgliedstaatliches Tätigwerden, soweit damit keine Umgehung von Gemein-

44 GA Lenz, Schlussanträge vom 23. November 1995, Rs. C-209/94 , Slg. 1996, I-615, Rn. 83 ff. (Buralux). 45 Richtlinie 2002/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 10. Juni 2002 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel, vom 10. Juni 2002, ABl. L 183/51 vom 12.07.2002. 46 EuGH, Urteil vom 12. Juli 2005, verb. Rs. C-154/04 u. C-155/04, Rn. 102 (Alliance for Natural Health) (noch nicht in Slg.). 47 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (Bosman). 48 GA Lenz, Schlussanträge vom 20. September 1995, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4930, Rn. 130. (Bosman). 49 Dem widerspricht, dass Harmonisierungskompetenzen gerade bei den Mitgliedstaaten verbliebene Zuständig- keiten vorausset zen, was für eine geteilte Kompetenz der Gemeinschaft in diesen Bereichen spricht, vgl. oben Fn. 23. 50 EuGH, Urteil vom 15. Dezember 1995, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 81 (Bosman). 51 „Schließlich darf das Subsidiaritätsprinzip in der ihm von der deutschen Regierung gegebenen Auslegung, nach der sich das Tätigwerden der Behörden und insbesondere auch der Gemeinschaftsbehörden in diesem Bereich auf das unbedingt erforderliche Maß beschränken muss, nicht dazu führen, dass die Autonomie, über die die privaten Verbände beim Erlass von Sportregelungen verfügen, die Ausübung der dem Einzelnen durch den Ver- trag verliehenen Rechte einschränkt.“ 52 EuGH, Urteil vom 10. September 1996, Rs. C-11/95, Slg. 1996, I-4115 (Kommission/ Belgien).

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schaftspfl ichten verbunden sei. Generalanwalt Lenz führte dazu erneut aus, das Subsidiari- tätsprinzip sei im Bereich der ausschließlichen Gemeinschaftskompetenzen der Dienstleis- tungsfreiheit und des Binnenmarktes nicht anwendbar; zudem sei im Interesse eines einheit- lichen audiovisuellen Raumes eine Koordinierung nationaler Vorschriften durch die Gemeinschaft notwendig.53 Der EuGH stellte lapidar fest, Mitgliedstaaten könnten sich ih- rer Pfl icht, den freien Empfang von Fernsehsendungen sowie die freie Weiterverbreitung von Fernsehsendungen nicht zu behindern, nicht durch Berufung auf Art. 5 Abs. 2 EG bzw. Art. 3b Abs. 2 EGV a. F., entziehen.54 Hiermit wurde lediglich klargestellt, dass die unmit- telbare Anwendbarkeit und der Vorrang von Grundfreiheiten vor nationalem Recht zu unter- scheiden sind vom Subsidiaritätsprinzip,55 das lediglich Prüfungsmaßstab für abgeleitetes Gemeinschaftsrecht sein kann. 56

d) Begründungspfl icht

In der Rechtssache C-223/9457 (Einlagensicherungssysteme) war der Ausgangspunkt eine Richtlinie über Krediteinlagensicherungssysteme. In den Klagegründen rügte die deutsche Bundesregierung einen Verstoß gegen die Begründungspfl icht des Art. 190 EGV a. F. (Art. 253 EG) hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips. Generalanwalt Léger ging jedoch erneut von einer ausschließlichen Gemeinschaftskompetenz zumindest bezüglich der eigentlichen Koordinierungsmaßnahmen und damit von einer Unanwendbarkeit des Art. 5 Abs. 2 EG aus.58 Dem folgte der EuGH nicht, stellte aber fest, dass hier nicht eigentlich ein Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip, sondern vielmehr gegen die Begründungspfl icht gerügt werde.59 Im Folgenden legte das Gericht einige Begründungserwägungen zu der Richtlinie Bezug nehmend auf das Besser- bzw. Nicht-ausreichend-Kriterium aus, wonach das Subsi- diaritätsprinzip in der Sache hinreichend berücksichtigt worden sei; dies obwohl das Subsi- diaritätsprinzip in keiner Weise erwähnt war. Positiv hieran erscheint, dass demnach formel- hafte Begründungen, die lediglich auf mangelnde ausreichende Erreichung auf mitglied- staatlicher Ebene und daher besser gewährleisteter Realisierung auf Gemeinschaftsebene abstellen, der Begründungspfl icht nicht mehr genügen sollen; denn die Begründung hat um- so präziser zu sein, je größer der Ermessenspielraum ausfällt.60 Andererseits kann ein An- einanderreihen zahlreicher Begründungserwägungen in der Hoffnung, der EuGH werde sich gegebenenfalls das aus seiner Sicht Relevante heraussuchen, kaum dem Zweck der Vor- schrift entsprechen.

53 GA Lenz, Schlussanträge vom 30. April 1996, Rs. C-11/95, Slg. 1996, I-4115, Rn. 60. (Kommission/ Belgien). 54 EuGH, Urteil vom 10. September 1996, Rs. C-11/95, Slg. 1996, I-4115, Rn. 52 f. (Kommission/ Belgien). 55 So ähnlich auch B. Schima, Die Beurteilung des Subsidiaritätsprinzips durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaf ten, ÖJZ 1997, S. 761 (766). 56 Die Generalanwälte hatten zuvor bereits entsprechende Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip in ihren Schlussanträgen gemacht, ohne dass der EuGH deren Ausführungen aufgegriffen hätte. Vgl. hierzu die Über- sicht hierzu bei Calliess (Fn. 14), S. 351. 57 EuGH, Urteil vom 13. Mai 1997, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I- 2405 (Einlagensicherungssysteme). 58 GA Léger, Schlussanträge vom 10. Dezember 1996, Rs. C-223/94, Slg. 1997, I- 2405, Rn. 80 ff. (Einlagensi- cherungssysteme). 59 EuGH, Urteil vom 13. Mai 1997, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I- 2405, Rn. 24 ff. (Einlagensicherungssysteme). 60 Vgl. Calliess (Fn. 14), S. 330 ff.; Ein Beispiel für eine zu formelhafte Begründung fi ndet sich bei Schima, ÖJZ 1997, S. 769, Fn. 53.

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e) Neuere Entscheidungen, Prüfung des Besser- bzw. Nicht-ausreichend-Kriteriums

In der Rechtssache C-84/94 (Arbeitszeitrichtlinie)61 hatte das Vereinigte Königreich u.a. geltend gemacht, „der Gemeinschaftsgesetzgeber habe weder vollständig geprüft noch hin- reichend dargetan, dass die Richtlinie zur Arbeitszeitgestaltung transnationale Aspekte auf- weise, die durch nationale Maßnahmen nicht ausreichend geregelt werden könnten, [...] schließlich, dass ein Vorgehen auf Gemeinschaftsebene offenkundige Vorzüge gegenüber dem Vorgehen auf Ebene der Mitgliedstaaten habe“62. Übereinstimmend stellten zunächst Generalanwalt Léger in seinen Schlussanträgen63 und später der EuGH im Arbeitszeitricht- linien-Urteil64 fest, dass Art. 118a EGV a. F. (Art. 137 EG) die richtige Kompetenzgrundla- ge darstelle und dass im Rahmen dieser geteilten Zuständigkeit das Subsidiaritätsprinzip anwendbar war. Der Generalanwalt führte ferner aus, das vorgegebene Ziel der Harmonisie- rung setze zwingend ein supranationales Tätigwerden voraus. Die geteilte Zuständigkeit eröffne zwar grundsätzlich den Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips, jedoch leitet der Generalanwalt aus dem Bestehen einer geteilten Zuständigkeit eine uneingeschränkte Handlungsermächtigung ab. Das Vorliegen einer Gemeinschaftskompetenz ist jedoch Aus- gangspunkt und nicht Ergebnis der Subsidiaritätsprüfung nach Art. 5 Abs. 2 EG.65 Die Funktion des Prinzips liegt ja in einer Begrenzung der Gemeinschaft im Rahmen ihrer Zu- ständigkeiten – so im Ergebnis wohl auch der EuGH, wenn er fordert, dass „das bestehende Niveau des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer verbessert und die in diesem Bereich bestehenden Bedingungen bei gleichzeitigem Fortschritt harmonisiert wer- den müssen“.66 Dieses „müssen“ kann als Forderung nach einer vorausgehenden Bewertung nach dem Negativ- und Positivkriterium des Art. 5 Abs. 2 EG gewertet werden.67 Diese Be- urteilung wird jedoch gänzlich dem Rat überlassen, worauf die Formulierung „Sobald der Rat festgestellt hat [...]“68 schließen lässt. Zu Ausführungen zu den Grenzen des Ermessen- spielraums sah sich der EuGH nicht veranlasst, da die diffusen Ausführungen des Vereini- gten Königreichs keine „autonome Rüge“ bezüglich des Subsidiaritätsprinzips enthiel- ten.69 Auch die neuere Rechtsprechung enthält kaum wesentlich Konkreteres zum Subsidiaritäts- prinzip. In der Rechtssache C-376/98 (Tabakwerbeverbot)70 brachte Generalanwalt Fennelly erneut die bekannte Argumentation vor, Harmonisierungsmaßnahmen seien stets kompeten- ziell ausschließlicher Natur und Art. 5 Abs. 2 EG daher nicht anwendbar.71 Nach Ansicht des Gerichts mangelte es im Tabakwerbeverbotsfall bereits an der richtigen Rechtsgrundla-

61 EuGH, Urteil vom 12. November 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755 (Arbeitszeitrichtlinie). 62 EuGH, Urteil vom 12. November 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 46 (Arbeitszeitrichtlinie). 63 GA Léger, Schlussanträge vom 12. März 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5758, Rn. 125 ff. (Arbeitszeitrichtli- nie). 64 EuGH, Urteil vom 12. November 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 12-45 (Arbeitszeitrichtlinie). 65 So auch Schima, ÖJZ 1997, S. 767; M. Simm, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonfl ikt, 1. Aufl age, Baden-Baden 1998, S. 150 f., insbesondere auch Fn. 593. 66 EuGH, Urteil vom 12. November 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 47 (Arbeitszeitrichtlinie). 67 Vgl. Simm (Fn. 65), S. 151 f. 68 EuGH, Urteil vom 12. November 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 47 (Arbeitszeitrichtlinie). 69 Darauf weist GA Léger, Schlussanträge vom 12. März 1996, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5758, Rn. 124 (Arbeits- zeitrichtlinie) hin. 70 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 (Tabakwerbeverbot). 71 GA Fennelly, verb. Schlussanträge vom 15. Juni 2000, Rs. C-376/98, C-74/99, Slg. 2000, I-8419, Rn. 131 ff. (Tabakwerbeverbot).

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ge72 für die entsprechende Richtlinie, sodass kein Anlass mehr zur Prüfung des Art. 5 Abs. 2 EG bestand. Im Urteil zur Biopatentrichtlinie begnügten sich sowohl Generalanwalt Ja- cobs73 als auch der EuGH74 hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips damit, die Begründungs- erwägungen der Richtlinie zu wiederholen, wonach das Subsidiaritätsprinzips „stillschwei- gend, aber offenkundig“75 beachtet wäre, vor allem da die Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften und Praktiken einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes entgegenstünden.76 In der Rechtssache C-491/01 (Tabakprodukt) stellte der EuGH erneut klärend fest, dass es sich bei Harmonisierungsmaßnahmen auf Grundlage des Art. 95 EG nicht um eine ausschließliche Kompetenz handelte und Art. 5 Abs. 2 EG daher grundsätz- lich anwendbar sei.77 Des Weiteren bestätigte der EuGH die Einhaltung des Subsidiaritäts- prinzips in diesem Fall, da die Richtlinie der Beseitigung der Hemmnisse diene, die sich aus den unterschiedlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergäben; dieses Ziel könne durch mitgliedstaatliches Handeln „nicht ausreichend“ erreicht werden, wie „die heterogene Entwicklung der nationalen Rechtsvorschriften im vorliegenden Fall“ belege.78 Der Er- kenntniswert dieser Ausführungen bleibt angesichts der formelhaften Aussage gering.

III. Bewertung der Subsidiaritätskontrolle nach geltendem Gemeinschaftsrecht

Die Rechtsprechung des EuG und des EuGH hat bisher wenig zur Klärung des Subsidiari- tätsprinzips beigetragen. Und dass die Kommission schwerlich als alleinige adäquate Kon- trollinstanz dienen kann, macht deren Darlegungen zum Subsidiaritätsprinzip deutlich, wo- nach dieses vor allem im Lichte der Effektivität als Besser-Klausel zu betrachten sei.79 Da- mit wird Art. 5 Abs. 2 EG weniger als substanzielle Kompetenzschranke sondern vielmehr als fl exible Legitimationsgrundlage für eine Kompetenzwahrnehmung der Gemeinschaft interpretiert.80

72 EuGH, Urteil vom 5. Oktober 2000, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419, Rn. 76 ff. (Tabakwerbeverbot). 73 GA Jacobs, Schlussanträge vom 14. Juni 2001, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 77 ff. (Biopatentrichtli- nie). 74 EuGH, Urteil vom 9. Oktober 2001, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 30 ff. (Biopatentrichtlinie). 75 EuGH, Urteil vom 9. Oktober 2001, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 33 (Biopatentrichtlinie). 76 GA Jacobs, Schlussanträge vom 14. Juni 2001, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 59 (Biopatentrichtlinie). 77 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2002, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rn. 177 ff. (Tabakprodukt); hierzu C. Calliess, Kontrolle zentraler Kompetenzausübung in Deutschland und Europa: Ein Lehrstück für die Europäische Verfassung – Zugleich eine Besprechung des Altenpfl egegesetz-Urteils des BVerfG, EuGRZ 2003, S. 181 ff. 78 Ebenso in EuGH, Urteil vom 12. Juli 2005, verb. Rs. C-154/04 u. C-155/04, Rn. 106 (Alliance for Natural Health) (noch nicht in Slg.). 79 Vgl. EuGH, Urteil vom 12. Juli 2005, verb. Rs. C-154/04 u. C-155/04, Rn. 104 (Alliance for Natural Health) (noch nicht in Slg). 80 M. Kenntner, Das Subsidiaritätsprotokoll des Amsterdamer Vertrags – Anmerkungen zum Begrenzungscharak- ter des gemeinschaftsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips, NJW 1998, S. 2871 (2874); Konow, DÖV 1993, S. 409; beide Aspekte kombinierend Schmidhuber, DVBl 1993, S. 418; Diese Sichtweise scheint auch Nr. 3 des Subsi- diaritätsprotokolls zu bestätigen, wonach das Subsidiaritätsprinzip die Befugnisse der Gemeinschaft nicht in Frage stellt, ein dynamisches Konzept ist und die Tätigkeit der Gemeinschaft im Rahmen ihrer Befugnisse auch erweitert werden kann. Kritische Äußerungen des Ausschusses der Regionen erweisen sich wegen ihrer Unver- bindlichkeit als „stumpfes Schwert“. Hierzu einerseits Entschließung des Bundesrates vom 18.12.1992, BR- DRs. 810/92, II.3, S. 3; andererseits Konow, DÖV 1993, S. 411.

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Vor dem Hintergrund des Erfolgs konstruktiver Subsidiaritätseinwände im Rat81 scheint die „a-priori-Kontrolle“ der an Rechtsetzungsakten beteiligten Organe noch einen gewissen Er- folg zu versprechen. Eine sachgerechte und bereits praktizierte Möglichkeit, dem Subsidia- ritätsprinzip als Kompetenzausübungsschranke gerecht zu werden, stellt zudem das Verfah- ren der gegenseitigen Anerkennung dar (vgl. z.B. Hochschuldiplome), wonach die Gegen- stände nationaler Regelungen in den Mitgliedstaaten untereinander mit den jeweiligen nati- onalen Regelungen gemäß entsprechender Richtlinien als gleichwertig anerkannt werden.82

C. Reformperspektive: Übernahme des Subsidiaritätsprotokolls aus dem Vertrag über eine Verfassung für Europa in das geltende Gemeinschaftsrecht

Wie aufgezeigt, war es eines der Hauptziele des Europäischen Konvents, die Kompetenz- systematik zu überarbeiten und hierbei vor allem dem Subsidiaritätsprinzip mehr Geltung zu verschaffen. Zu diesem Zweck wollte der Konvent die bisher unbefriedigende Anwen- dung des Prinzips verbessern, ohne jedoch die Gefahr unliebsamer Verzögerungen oder Blockaden des europäischen Gesetzgebungsprozesses heraufzubeschwören.83 Dabei war die Vorgabe, für die Unionsorgane einen weiten politischen Ermessensspielraum zu erhal- ten, zugleich aber sollte bereits im Vorfeld eines Rechtsaktes eine politische Kontrolle er- möglicht werden, ohne die nachträgliche gerichtliche Kontrolle zu entwerten. Diese politische Kontrolle sollte diejenigen Akteure in die europäische Rechtsetzung einbe- ziehen, zu deren Ungunsten sich eine Kompetenzverlagerung auf die Union auswirkt und die den Verlust mitgliedstaatlichen Handlungspotentials am meisten gerügt hatten. In dem Maße wie auf europäischer Ebene Handlungsoptionen erweitert werden, fällt vor allem auch den mitgliedstaatlichen Exekutivvertretern im Rat eine Einfl ussmöglichkeit zu.84 Diese Verschiebung korrespondiert aber mit einer Beschränkung des Aktionsradiusses der nationalen Legislativorgane auf zentraler und föderaler Ebene. Den Bedenken dieser beiden politischen Akteure sollte daher vor allen Dingen mit dem neuen „Protokoll über die An- wendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“85 Rechnung getra- gen werden. Dieses umfasst dabei grundsätzlich nicht nur „Leitlinien“, sondern zwingende verfahrens- und organisationsrechtliche Vorgaben und Begründungspfl ichten mit unbe- schränkter Direktionskraft. Im Gegensatz zum bisherigen Subsidiaritätsprotokoll sind je-

81 Ein weniger wirksames Instrument scheint die rigorose Ablehnung durch einen Mitgliedsstaat im Rat zu sein, zumal dort vielfach mit qualifi zierter Mehrheit entschieden wird. Sondern viel mehr das konstruktive Vorbringen etwaiger Bedenken, siehe hierzu S. Rompe, Der Subsidiaritätsbericht der Bundesregierung für 1999, ZG 2000, S. 275 (275 ff.); vgl. Subsidiaritäts berichte der BReg von 1999 bzw. 2000, in: EuZW 2001, S. 111 f. bzw. EuZW 2002, S. 3 f.; vgl. des Weiteren jene Äußerungen, wonach auf Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips seitens der Mitgliedstaaten und der Regionen zwar geachtet und bestanden werde, Rügen jedoch explizit problematischen Konstellationen vorbehalten bleiben sollen. Vgl. die Subsidiaritätsberichte der Länder, des Bundesrates und der Bundesregierung, z.B. BT-DRs.14/4017, BR-DRs.508/00 bzw. BT-DRs.12/7132, S. 13, Nr. 43; BT- DRs.13/10109, S. 14, Nr. 11; BR-DRs.215/99, S. 18 f., Nr. 31 ff.; EuZW 2001, S. 111 f.; EuZW 2002, S. 3 f. 82 Vgl. hierzu C. Koenig/A. Haratsch, Europarecht, 4. Aufl age, Tübingen 2003, Rn. 652 ff.; das Mittel der gegenseiti gen Anerkennung betonend, Schmidhuber, DVBl 1993, S. 421. 83 Vgl. den Bericht des Vorsitzenden der Gruppe Subsidiarität des Europäischen Konvents vom 23.09.2003, CONV 286/02, S. 2. 84 Vgl. C. Calliess, Der Binnenmarkt, die europäische Kompetenzordnung und das Subsidiaritätsprinzip im Lich- te der neuen Europäischen Verfassung, in: Köck/Lengauer/Ress [Hrsg.]: Europarecht im Zeitalter der Globali- sierung: Festschrift für Peter Fischer, Wien 2004, S. 417 f. 85 Protokoll Nr. 2 des VVE: ABl. C 310/207 vom 16. Dezember 2004.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 112727 118.05.20068.05.2006 09:27:2009:27:20 128 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

doch lediglich prozedurale und prozessuale Präzisierungen und Neuregelungen enthalten, wohingegen die materiellrechtlichen Erläuterungen nicht fortgeführt werden, gleichzeitig aber in den bis dato erreichten acquis auch nicht eingriffen werden soll. Von daher stellt sich die Frage, wie der insofern errungene Konsens in Bezug auf eine stär- kere Absicherung des Subsidiaritätsprinzips auf der Verfahrensebene auch nach einem zu befürchtenden endgültigen Scheitern des Verfassungsvertrages in einem Post-Laeken-Pro- zess für das geltende Gemeinschaftsrecht bewahrt werden könnte. Es wird vorgeschlagen, dem neuen Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhält- nismäßigkeit auf der Basis des geltenden Vertragsrechts Geltung zu verschaffen.86 Als bewährtes – wenn auch in seiner rechtlichen Einordnung zweifelhaftes – Mittel im Rah- men tief sitzender Krisen auf europäischer Ebene könnte sich hierbei abermals eine außer- vertragliche, einfache völkerrechtliche Vereinbarung erweisen, mit der bereits ein Ausweg aus der „französischen Politik des leeren Stuhls“ durch den Luxemburger Kompromiss ge- funden werden konnte.87 Denkbar wäre auch die Umsetzung durch die Vereinbarung inter- institutioneller Abkommen vergleichbar der oben erwähnten von Edinburgh, wie sie zwi- schen Rat, Kommission und Parlament auf Ebene des EG-Vertrages vorgesehen sind. Pro- blematisch wäre daran allerdings, dass sich auf diesem Wege kein einklagbares Recht für die nationalen Parlamente begründen ließe.88 Dasselbe Problem ergäbe sich bei Umsetzung durch entsprechende Anpassung der Geschäftsordnungen von Rat, Kommission und Parla- ment. Schließlich bleibt als rechtlich wirkungsvolle Lösung die vollständige Übernahme des neu- en Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismä- ßigkeit89 in das geltende Gemeinschaftsrecht durch das gewöhnliche Vertragsänderungsver- fahren nach Art. 48 EU. Zumal ein diesbezüglicher Konsens im Kreise der Staats und Re- gierungschefs bei der letzten Regierungskonferenz bereits erzielt wurde, an den sich an- knüpfen ließe. Und soweit besagtes Protokoll in erster Linie einer Stärkung der nationalen Ebene im Europäischen Rechtsetzungsprozess und dessen Kontrolle enthält, wäre ein poli- tischer Widerstand in den Mitgliedstaaten nicht zu erwarten. Daher soll im Folgenden dieses neue Protokoll untersucht, und dessen Reformperspektiven bewertet werden.

I. Materielle Neuerungen

Die materiellen Neuerungen im Bereich des Subsidiaritätsprinzips, die im Verfassungsver- trag vorgesehen waren, können ohne eine vollständige Ratifi kation des Textes wohl nur schwierig gerettet werden. Das Protokoll selbst sah keine materiellen Reformen vor. Die Neuerungen in Art. I-11 Abs. 3 VVE hatten ohnehin nur wenig materiellen Gehalt, da sie im Wesentlichen nur von klarstellendem Charakter waren. Genannt seien hier die die Einbezie- hung der regionalen und lokalen Ebenen90 in den Text sowie die klarere sprachliche Ver-

86 Vgl. Wuermeling, ZRP 2005, S. 151 f.; hierzu auch Monar, Integration 2005, S. 16 ff. 87 Wuermeling, ZRP 2005, S. 152; Monar, Integration 2005, S. 22, 26, Fn. 30. 88 So auch Wuermeling, ZRP 2005, S. 152. 89 ABl. C 310/207 vom 16. Dezember 2004. 90 Auf Anregung der beiden Konventsabgeordneten, des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Teufel und des britischen Europaabgeordneten Duff, vgl. CONV 724/03, S. 62. Dies bedeutet jedoch keine materielle Än- derung, da bislang bereits bei Prü fung des Nichtausreichend-Kriteriums auch alle staatlichen Ebenen der Mit- gliedstaaten berücksichtigt werden mussten.

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knüpfung des Nicht-Ausreichend- und Besser-Kriteriums. 91 Die konkretisierenden Erläute- rungen zur Interpretation des gelten Subsidiaritätsprinzips in Art. 5 Abs. 2 EG, wie sie der Europäische Rat von Edinburgh92 beschlossen hat, und die interinstitutionellen Vereinba- rung93 zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips des europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission gelten ohnehin im Gemeinschaftsrecht fort. Die geplante abschließende Katalogisierung der ausschließlichen Gemeinschaftskompe- tenzen in Art. I-13 VVE hätte einen wesentlichen Fortschritt des Verfassungsvertrages ge- genüber dem bisherigen Vertragsrecht dargestellt.94 Bisherige Zuordnungsprobleme95 wä- ren gelöst worden.96

II. Fortentwicklung der Subsidiaritätskontrolle

Den Kern der Neuerungen im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips, nach der Konzeption des Verfassungsvertrag, bildeten die verfahrensrechtlichen Vorkehrungen, die einen herausra- genden Stellenwert zur Sicherung des Subsidiaritätsgedankens einnehmen sollten. Aber auch nach einem möglichen Scheitern des Verfassungsvertrages besteht kein Anlass, die zäh errungenen Fortschritte nun umfänglich als bloße Dokumente der Rechtshistorie zu begrei- fen. Vielmehr gilt es, sich den eigentlichen Hintergrund der vorgesehenen Neuerungen nochmals vor Augen zu halten: Man wollte den Bedenken und Befürchtungen eines immer fortschreitenden Macht- und Bedeutungsverlusts der nationalen Parlamente und den regio- nalen politischen Ebenen entgegenkommen – nachdem die Einführung des Subsidiaritäts- prinzips mit Maastrichter Vertrag und die bisherigen Mechanismen die angestellten Erwar- tungen nicht zu erfüllen vermochten. Eine Vertragsänderung nach Art. 48 EU und eine Reform des Subsidiaritätsprotokolls in der vom Verfassungsvertrag vorgeschlagenen Form ließen sich nur rechtfertigen, wenn die Neu- erungen hinsichtlich der Subsidiaritätskontrolle einen tatsächlichen Fortschritt in Aussicht stellen. Fraglich ist, welchen Wert jene prozeduralen und prozessualen Errungenschaften in der Rechtspraxis tatsächlich für die Gewährleistung des Subsidiaritätsprinzips haben könnten.

91 An die Stelle der Formulierung „und daher“ wäre ein „sondern vielmehr“ getreten, womit das kumulative Ver- hältnis der beiden Kriterien als Teile einer zweistufi gen Prüfung unterstrichen worden wäre. Vgl. C. Stewing, Das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzverteilungsregel im Europäischen Recht, DVBl 1992, S. 1518; ders., Subsidiarität und der Föderalismus in der Europäischen Union, Köln 1992, S. 108: Hiernach sollte eine Vermu- tung zugunsten der kleineren Einheit gerade nicht bestehen, sondern die Gemeinschaft sich quasi zur Kompe- tenzausweitung ermuntert betrachten. 92 BullEG 12-1992, 1 (13 f.) Nr. I.15. 93 ABl. 1993 C 329/135, siehe auch EuGRZ 1993, S. 603 ff. 94 Eine Grundlage für die Zuordnung der Sachgebiete bildete ein Bericht einer Arbeitsgruppe des Europäischen Parlaments, der sich auf die nach geltendem Gemeinschaftsrecht „gegenwärtige Aufteilung der Zuständigkeiten“ bezog. So fasste man unter die ausschließlichen Zuständigkeiten der Union vor allem jene Kompetenzen, die der EuGH in seiner Rechtssprechung bereits als ausschließlich gekennzeichnet hatte. Vgl. Europäisches Parlament, Ausschuss für konstitutionelle Fragen, A. Lamassoure (Berichterstatter): Bericht über die Abgrenzung der Zu- ständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten (2001/2024(INI)), S. 20 ff. 95 Der Binnenmarkt fi ele nach Art. I-14 Abs. 2 lit. a) VVE in den Bereich der geteilten Zuständigkeiten, was den Anwendungsbereich des Subsidiaritätsprinzips auch für Maßnahmen auf Grundlage der Binnenmarktharmoni- sierung ausdrücklich eröffnet hätte. 96 Auch wenn vereinzelt gefordert wird, den Kompetenzkatalog des VVE auf jeden Fall zu erhalten, scheint eine „schnelle“ Reform schwierig, da dieser normativ in alle anderen Bereiche des Primärrechts übergereift.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 112929 118.05.20068.05.2006 09:27:2109:27:21 130 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

1. Prozedurale Kontrolle

Vor jedem Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt muss nach dem hier vorgeschlagenen neu- en Protokoll die Kommission97 zunächst umfangreiche Anhörungen unter Berücksichtigung der „regionalen und lokalen Dimension“98 durchführen. Damit erhalten subnationale Ein- heiten erstmals ein Anhörungsrecht99 gegenüber der Kommission, dessen Nichtbeachtung als wesentlicher Verfahrensfehler die Nichtigkeit des Rechtsaktes zur Folge hat.100 In außer- gewöhnlich dringenden Fällen kann die Kommission von Anhörungen absehen. Hierin liegt kompetenzielles Konfl iktpotential, wenn die Kommission unter regelmäßiger Berufung auf außergewöhnliche Dringlichkeit die Anhörungspfl icht praktisch leer laufen ließe. Falls die europäische Gerichtsbarkeit zur Überprüfung solcher Dringlichkeit angerufen würde, dürfte sie der Kommission keine zu weite Einschätzungsprärogative zugestehen, da dies sonst einem diesbezüglichen Freibrief der Kommission nahe käme. Wie bereits teilweise praktiziert, hat die Kommission ihren Vorschlag in einem „Subsidiari- tätsbogen“ unter den Aspekten der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu begrün- den.101 Diese Begründung muss qualitative und möglichst auch quantitative Aspekten erfas- sen,102 bei Rahmengesetzen Angaben zu den Auswirkungen auf das nationale Recht aller Ebenen enthalten und zu den zu erwartenden fi nanziellen Lasten und dem Aufwand für Ad- ministration, Bürger und Wirtschaft Stellung nehmen. Inwieweit diese detailliertere Begrün- dungspfl icht den gerichtlichen Kontrollmaßstab erweitert oder die gesetzgeberische Ein- schätzungsprärogative unverändert lässt, wird die Praxis zeigen. Die vielleicht größte Neuerung des hier vorgeschlagenen neuen Protokolls besteht darin, dass die nationalen Parlamente103 – zumindest formell104 – „erstmals in der Geschichte des europäischen Aufbauwerks in die Rechtsetzung einbezogen“105 werden, indem sie die Mög- lichkeit erhalten, die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzip nach dem im SubsProt konkreti- sierten Verfahren eines „Frühwarnsystems“ zu kontrollieren. Jedes an der Rechtsetzung be- teiligte Organ – Kommission, Rat und Europäisches Parlament – hat verfahrensrechtlich relevante Beiträge, Vorschläge, Standpunkte und legislative Entschließungen den mitglied- staatlichen Parlamenten zuzuleiten.106 Binnen sechs Wochen nach Zuleitung eines Vor- schlags für einen europäischen Gesetzgebungsakt kann jedes nationale Parlament bzw. jede

97 Wie bisher ist jedes Organ der Union zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips verpfl ichtet, vgl. Art. 1 SubsProt. 98 Art. 2 SubsProt. 99 Die Kommission hat bei ihren Anhörungen jedoch nur „gegebenenfalls der regionalen und lokalen Dimension der betracht gezogen Maßnahmen Rechnung zu tragen“, Art. 2 SubsProt. 100 Vgl. hierzu Schröder, JZ 2004, S. 8 (11); C. Glietsch, Kommunale Forderungen im EU-Verfassungsentwurf weitgehend berücksichtigt, Die Gemeinde 2003, S. 674 (676); W. Grawert, Wie soll Europa organisiert werden? – Zur konstitutionellen „Zu kunft Europas“ nach dem Vertrag von Nizza – , EuR 2003, S. 971 (983); R. Hrbek, Die deutschen Länder und der Verfassungsent wurf des Konvents, Integration 2003, S. 357 (365). 101 Art. 5 SubsProt. 102 Vgl. auch Nr. 4 des bisherigen SubsProt. 103 Zur grundsätzlichen Rolle der nationalen Parlamente vgl. A. Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union. Der Beitrag der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments, Baden-Baden 2002. 104 Eine Einfl ussnahme besteht bereits im geltenden System (vgl. nur die Konferenz der Europaausschüsse (CO- SAC), siehe unten Fn. 136). Jedoch ist diese Einfl ussnahme nicht vergleichbar formalisiert wie im künftigen Recht. 105 Bericht des Vorsitzenden der Gruppe Subsidiarität des Europäischen Konvents vom 23.09.2003, CONV 286/02, S. 5. 106 Art. 4 SubsProt.

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Kammer eines solchen Parlaments etwaige Subsidiaritätsverstöße durch begründete Stel- lungnahme gegenüber den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission geltend machen.107 Hierzu kann das nationale Parlament bzw. seine Kammer nunmehr auch die regionale Parlamente mit Legislativfunktionen unter dem Vorbehalt ent- sprechender nationaler Regelungen anhören.108 Der für die begründete Stellungnahme vor- gesehene Zeitraum von nur sechs Wochen lässt allerdings ein faktisches Leerlaufen der Regelung befürchten. Die begründeten Stellungnahmen sind grundsätzlich im weiteren Ver- lauf zu „berücksichtigen“,109 wofür eigentlich bloße Kenntnisnahme durch die Unionsor- gane genügt. Immerhin ist jedoch ein Verfahren vorgesehen, um stärkeren politischen Druck aufzubauen. Danach stehen jedem nationalen Parlament zwei Stimmen zu, die sich bei Zwei-Kammer-Systemen auf beide Kammern verteilen. Werden begründete Stellungnah- men von nationalen Parlamenten oder deren Kammern, die mindestens ein Drittel110 der Gesamtzahl der Gesamtstimmen repräsentieren abgegeben, so muss der Gesetzgebungsvor- schlag von dem Organ überprüft werden, das ihn vorgelegt hat. Offen bleibt hierbei die Frage der erforderlichen Überprüfungstiefe und ob die Nichteinhaltung der Verpfl ichtung justiziabel ist, worauf die erneute Begründungspfl icht bezüglich der Entscheidung (über Festhalten, Abänderung oder Rücknahme) nach erfolgter Überprüfung hindeutet. Als weitere Neuerung ist der jährliche Subsidiaritätsbericht der Kommission neben den bis- herigen Adressaten konsequenterweise nun auch den mitgliedstaatlichen Parlamenten zuzu- leiten, Art. 9 SubsProt.

2. Prozessuale Kontrolle

Entsprechend den bisherigen Modalitäten des Art. 230 EG können auch künftig die Mit- gliedstaaten wegen Verstoßes eines Gesetzgebungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip gem. Art. III-365 VVE Klage vor dem EuGH erheben. Neuerdings wird der Kreis der Antragstel- ler durch Art. 8 SubsProt dahingehend erweitert, dass von einem Mitgliedstaat eine Klage auch „im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments über- mittelt werden“ kann,111 die somit „mittelbar“ prozessführungsbefugt sind112. Schließlich räumt Art. 8 UAbs. 2 SubsProt dem Ausschuss der Regionen ein entsprechendes Klagerecht ein, sofern für den betreffenden Rechtsakt seine obligatorische Anhörung vorgesehen ist. Damit wird die verfahrensrechtliche Stellung des Ausschusses der Regionen als „Wächter des Subsidiaritätsprinzips“ gestärkt.113

107 Vgl. Art. 6 SubsProt i.V.m. Art. 3 des „Protokolls über die Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union“, siehe, Protokoll Nr. 1 des VVE, ABl. EU C 310/204. 108 Vgl. U. Mager, Die Prozedualisierung des Subsidiaritätsprinzips im Verfassungsentwurf des Europäischen Kon- vents – Verbesserter Schutz vor Kompetenzverlagerung auf die Gemeinschaftsebene?, ZEuS 2003, S. 471 (478); Schröder, JZ 2004, S. 8 (12). 109 Art. 7 SubsProt. 110 Bei Fragen betreffend den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts genügt bereits ein Viertelquorum. 111 Diese Klage ist nicht (wie zwischenzeitlich vorgeschlagen) von einer vorherig vorgelegten begründeten Stel- lungnahme abhängig. 112 Vgl. J. Meyer/S. Hölscheidt, Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, EuZW 2003, S. 613 (621); T. Läufer, Der Europäische Gerichtshof – moderate Neuerungen des Verfassungsentwurfs, Integration 2003, S. 510 (516); M. Ruffert , Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft; Grundrechte – Insti- tutionen – Kompetenzen – Ratifi zie rung, EuR 2004, S. 165 (182); M. Lais, Die Rolle der nationalen Parlamen- te in einer künftigen europäischen Verfas sung, ZEuS 2003, S. 187 (208). 113 Vgl. Beitrag des Ausschusses der Regionen zum Europäischen Konvent CdR 127/2002, S. 6 f.

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Im Rahmen dieser ausgeweiteten Klagemöglichkeit – quasi einer „Subsidiaritätsbeschwer- de“ – darf allerdings nach dem Wortlaut nur ein „Verstoß eines Europäischen Gesetzge- bungsakts gegen das Subsidiaritätsprinzip“114 gerügt werden. Nicht erwähnt werden in die- sem Zusammenhang115 das Prinzip der Einzelermächtigung bzw. der Verhältnismäßigkeits- grundsatz. Eine ausdrückliche Normierung, dass sich die gerichtliche Prüfung auch auf die Einhaltung auch dieser beiden Regeln erstreckt, konnte im Europäischen Konvent nicht durchgesetzt werden.116 Fraglich ist daher, wie eng der Prüfungsmaßstab dieser Subsidiari- tätsbeschwerde sein würde. Nahe liegt, dass die Prüfung der Subsidiarität auch eine kompetenzielle Prüfung der Rechts- grundlage als Vorprüfung voraussetzt. Die Formulierung des Art. 5 Abs. 2 EG, die aus- drücklich an das Bestehen einer nicht ausschließlichen Zuständigkeit anknüpft, legt ein um- fangreicheres Prüfungsprogramm nahe. Außerdem ist es kaum vorstellbar, dass der EuGH die Einhaltung der Subsidiarität bejaht, selbst wenn gar keine Unionskompetenz zu Grunde liegt.117 Systematisch schließt die Prüfung der Subsidiarität immer eine Prüfung der Kom- petenzgrundlage als Vorprüfung ein. Somit lässt sich hieraus schließen, dass das Prinzip der Einzelermächtigung durch den EuGH Teil des Prüfungsmaßstabes ist. Bleibt die Frage, inwiefern das Verhältnismäßigkeitsprinzip ebenfalls in das gerichtliche Prüfungsprogramm Eingang fi nden kann. Bei der ursprünglichen Normierung (in Art. 3b des EGV) sprach man in der Literatur von einem weiteren und einem engeren Subsidiari- tätsprinzip. Hiernach erwiese sich die Erforderlichkeit als eine „weitere Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips“118. Fraglich ist, ob das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. 5 Abs. 3 EG als Teil eines weiteren Subsidiaritätsprinzips im Sinne der vorgeschlagenen Subsidiari- tätsbeschwerde anzusehen ist. Das Subsidiaritätsprinzip im engen Sinne betrifft nicht das Verhältnis von EU und privater Gesellschaft. Es beantwortet nicht die Frage, nach Grenzen staatlichen oder überstaatlichen Handelns. Die Frage beispielsweise, ob bestimmte Gegen- stände nicht besser unreguliert bleiben, damit der Zuständigkeit des Marktes überlassen sind, wird davon nicht unmittelbar berührt. Insoweit hat der engere Art. I-11 Abs. 3 VVE wenig mit der ursprünglich sozialphilosophischen Tradition der Subsidiarität zu tun. Denn das eng verstandene Subsidiaritätsprinzip eröffnet in diese Richtung keine Handhabe, wo- hingegen der potentielle Wirkungskreis des Verhältnismäßigkeitsprinzips weiter reicht.119 Fraglich bleibt aber, ob Art. 8 SubsProt bei Beschränkung des Prüfungsmaßstabes von einem weiteren oder einem engeren Verständnis ausgeht. Anknüpfungspunkt hierfür könnte der „Subsidiaritätsbogen“ des Art. 5 SubsProt sein, der grundsätzlich auch Begründungserwägungen zur Verhältnismäßigkeit fordert. Zwar dient dieser in erster Linie dazu, den Rechtsetzungsorganen die Reichweite ihrer Maßnahmen vor Augen zu führen und diese zur Selbstkontrolle zu verpfl ichten, gleichzeitig stellt dieser je- doch einen wichtigen Anker für die gerichtliche Kontrolle dar, was somit auch für die Ver- hältnismäßigkeit von Belang sein könnte. Soweit von „Klagen wegen des Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip“ die Rede ist, ließe sich auch vertreten,

114 So Art. 8 SubsProt, Hervorhebung nur hier. 115 Siehe Art. 8 SubsProt. 116 Vgl. das Konventsmitglied, J. Wuermeling, Kalanität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in den Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, S. 216 (225). 117 So Wuermeling, EuR 2004, S. 225. 118 So Zuleeg, in: Groeben/Schwarze (Fn. 25) , Art. 5, Rdnr. 37. 119 Vgl. W. Möschel, Subsidiaritätsprinzip und europäisches Kartellrecht, NJW 1995, S. 281.

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der Begriff der Subsidiarität sei in diesem Zusammenhang im weiteren Sinne120, also neben dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip und somit die komplette Schrankentrias einschließend, aufzufassen. Die Einbeziehung des Ver- hältnismäßigkeitsprinzips scheint zudem der Titel „Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit“ (Hervorhebung nur hier) nahe zu legen. Zur Frage des engen oder weiten Verständnisses der Subsidiarität ließe sich auf eine Auffas- sung zu einer weiten Auslegung zurückgreifen,121 die sich aus der juristischen Methoden- lehre nach Dworkin abgeleitet. Dworkin unterscheidet methodisch zwischen Rechtsregeln und Rechtsprinzipien.122 Angewandt auf die Subsidiarität bestehe nach Schilling ein allge- meines, über den Art. 5 Abs. 2 EG hinausreichendes Prinzip im Sinne einer „neuen Dimen- sion der Subsidiarität“.123 Grundlage dieses Verständnisses ist die Einordnung der subsidi- ären Ausübungsschranke in Art. 5 Abs. 2 EG als Regel und nicht als Prinzip im metho- dischen Verständnis.124 Das methodische charakteristische Kennzeichen nach Dworkin be- steht darin, dass eine Regel in der Weise „Alles oder Nichts“ anwendbar seien, während Prinzipien graduelle Differenzierungen zuließen.125 Die Unionsrechtliche Normierung der Subsidiarität in dessen Verständnis als Ausübungsschranke sei methodisch entgegen dem eigentlichen Wortlaut nicht als Prinzip sondern als Regel zu klassifi zieren. Insbesondere die Erwähnung der Subsidiarität im 12. Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrages soll hingegen nach Schilling den Schluss nahe legen, dass neben dem Subsidiaritätsprinzip als Rechtsregel, wie es bisher in Art 5 Abs. 2 EG seinen Niederschlag gefunden hat, die Exis- tenz eines übergeordneten tatsächlichen Prinzips der Subsidiarität im Wortsinne Dworkins anzunehmen sei.126 Dieses gleichsam übergeordnete, das Gemeinschaftsrecht „durchdrin- gende Prinzip“127, sei von allen Gemeinschaftsorganen bei der Auslegung des Gemein- schaftsrechts zu beachten.128 Ein derart umfassend verstandener Begriff scheint darauf hin- zudeuten, dass die gerichtliche Kontrolle am Maßstab der Subsidiarität neben der Ausü- bungsregel der Subsidiarität im eng verstandenen Sinn auch eine Überprüfung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit als Teil des weiten Subsidiaritätsprinzips beinhalten müsste. Für einen engen Subsidiaritätsbegriff spricht hingegen die historische Herangehensweise an die dem neuen Protokoll zugrunde liegenden Beratungen des Europäischen Konvents. So klang in keiner der Beratungen oder der Arbeitsgruppen auch nur entferntest die Erwägung an, dass neben dem (hiernach also in Wahrheit als Regel aufzufassenden) Subsidiaritätsprin- zip ein allgemeineres und weiter Raum greifendes Prinzip existiere. Vielmehr ist von einem

120 Vgl. zur dieser Unterscheidung des Subsidiaritätsprinzips im weiteren und im engeren Sinne Calliess (Fn. 16), Art. 5, Rn. 3. 121 Siehe T. Schilling, A New Dimension of Subsidiarity: Subsidiarity as a Rule and a Principle, Yb.Eu.Law 1994, S. 203 ff. 122 R. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt am Main 1984, S. 58 f. 123 So ursprünglich Schilling, Yb.Eu.Law 1994, S. 203 ff. Neuerdings setzt sich M. Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG Vertrag, Baden-Baden 2004, S. 136 hiermit auseinander und propagiert das Subsidiaritäts- prinzip als allgemeines Prinzip, das insbesondere auch zur einschränkenden Auslegung der Ermächtigungs- grundlagen heranzuziehen sei. 124 So Schilling, Yb.Eu.Law 1994, S. 213 f., der insoweit sich auf Dworkin bezieht. 125 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen (Fn. 122), S. 58 f. 126 Vgl. Schilling, Yb.Eu.Law Law 1994, S. 215 ff. 127 “A pervading principle“, Schilling, Yb.Eu.Law 1994, S. 217 m.w.N. 128 So Ludwigs, Rechtsangleichung (Fn. 123), S. 136.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 113333 118.05.20068.05.2006 09:27:2209:27:22 134 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

einhelligen Verständnis der dort normierten Subsidiarität in einem abschließenden und eng verstandenen Sinn auszugehen – ohne dass neben jener Regel ein darüber hinaus reichendes Prinzip der Subsidiarität eigenständige Berücksichtigung zu fi nden wäre. Wie aufgezeigt ist der Begriff der Subsidiarität im Rahmen des neuen Subsidiaritätsproto- kolls eng auszulegen und nun auf die Schranke des Art. 5 Abs. 2 EG (eigentlich Art. I-11 Abs. 3 VVE) beschränkt. Auch wenn eine umfassende kompetenzielle Kontrolle sinnvoll wäre, bleibt im Rahmen der neuen Subsidiaritätsbeschwerde wegen der ausdrücklichen Normierung und der Systematik der Verfassung für eine Überprüfung von Rechtsakten am Maßstab der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH kein Raum. Art. 8 SubsProt räumt aus- drücklich lediglich ein Rügerecht ein, das auf Verstöße gegen das Subsidiaritätsprinzip als solches zielt. Die Einbeziehung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in den Prüfungsmaßstab der Subsidiaritätsbeschwerde folgt aus dem Umstand, dass das Subsidiaritätsprinzip nach dem Wortlaut des Art. I-11 Abs. 3 VVE das Bestehen einer nicht ausschließlichen Kompe- tenz nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung mittelbar voraussetzt. Die Kom- petenzgrundlage stellt quasi den Einstieg in die Prüfung dar. Eine Subsidiaritätsprüfung ohne vorige Prüfung des Vorhandenseins einer (nicht ausschließlichen) Zuständigkeit nach dem Verständnis der begrenzten Einzelermächtigung bedeutete sozusagen den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Der gerichtliche Prüfungsmaßstab umfasst daher das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das der Subsidiarität. Die Verhältnismäßigkeit hat hingegen in ihrem voll umfänglichen Prüfungsmaßstab außen vor zu bleiben. Jedoch über- lagern sich die Prüfungen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit: So ist das Element der Geeignetheit einer Maßnahme grundsätzlich für beide Prinzipien relevant. Wo der EuGH die Grenze ziehen wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls liegt es durchaus nahe, überschneidende Elemente zur Verhältnismäßigkeitsprüfung dann unter dem Stichwort Sub- sidiarität intensiver zu beleuchten.

III. Perspektiven der Reformvorschläge: eine Bewertung

Insgesamt lassen das im neuen Protokoll vorgesehene „Frühwarnsystem“ und die damit ver- bundene Einbeziehung der nationalen Parlamente in den Rechtsetzungsprozess einen Ge- winn an Transparenz und demokratischer Teilhabe erhoffen. Dennoch können an der Effek- tivität jenes Systems berechtigte Zweifel bestehen, da in parlamentarischen Demokratien wie der deutschen die parlamentarische Regierungsmehrheit den von der Regierung mitge- tragenen Gemeinschaftsrechtsakten auch unter Subsidiaritätsgesichtspunkten regelmäßig nichts entgegensetzen wird. Jedoch die möglicherweise differierende Mehrheit im Bundes- rat könnte dieses Instrument bei entsprechender Gestaltung des deutschen Verfassungsrechts wahrnehmen, um die Kommission gegebenenfalls unter Druck zu setzen, sie zu Änderungen zu bewegen oder zumindest verstärkten Begründungsdruck zu erzeugen, der Anhaltspunkte für eine spätere Nichtigkeitsklage bieten könnte. 129 Auch könnte dieses neue System eine verbesserte „Kommunikationskultur“ zwischen den nationalen Parlamenten und den Uni- onsorganen fördern, um sonst gerichtlich auszutragende Konfl ikte bereits im Vorfeld zu

129 Vgl. hierzu Mager, ZEuS 2003, S. 480; Wuermeling, EuR 2004, S. 225; Lais, ZEuS 2003, S. 208, 214.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 113434 118.05.20068.05.2006 09:27:2209:27:22 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente EuR – Heft 1 – 2006 135

vermeiden.130 Wer die nationalen Parlamente hierbei lediglich als Vetospieler im Gefüge vertikaler Gewaltenteilung sieht,131 verkennt die Chance, dass diese sich zu einem kons- truktiven Gesprächspartner im europäischen Rechtsetzungsprozess entwickeln könnten. Zu- gleich führt der verstärkte Begründungsdruck dazu, dass der EuGH bei Überprüfung einer Unionsmaßnahme eine größere Breite kritischer Argumente im Gesamtkontext präsentiert bekommt. Die begründeten Stellungnahmen im Vorfeld eines Vorschlags für einen europä- ischen Gesetzgebungsakt lassen die Sichtweise der nationalen und regionalen Parlamente in die Urteilsabwägung einfl ießen und können damit zu einer gewissen Abkehr von einer früheren faktischen „in dubio pro communitate“-Rechtsprechung führen. Erfreulich ist, dass die Vorschläge zur besseren Effektuierung des Subsidiaritätsprinzips ei- ne institutionelle Verkomplizierung132 vermeiden können und gleichzeitig eine Lösung mit geringem „Blockadepotential“ gefunden wurde.133 Und auch dem Ausschuss der Regionen werden durch die Einräumung des Klagerechts wirksamere Mittel zur Wahrnehmung seiner Aufgabe als „Wächter der Subsidiarität“ in die Hand gegeben. Indes bleibt abzuwarten, ob die nationalen Parlamente der „Papierfl ut“ und der aufgrund der umfangreichen europä- ischen Gesetzgebungstätigkeit enormen zusätzlichen Arbeitsbelastung gewachsen sind. Für die deutschen Parlamentskammern Bundestag und Bundesrat wäre daher die Schaffung eines „Subsidiaritätsausschusses“ oder einer „europarechtlichen Taskforce“ aus Fachleuten der jeweils kompetenten Ausschüsse anzuregen, um den eigentlichen Europaausschuss von dieser zusätzlichen umfangreichen Aufgabe zu entlasten. Vor allem gilt es zu bedenken, dass die fachliche Breite der europäischen Gesetzgebungsvorschläge einen einzelnen Aus- schuss natürlichermaßen überfordern muss. Daher wäre zu überlegen, als solche Taskforce eine Ad-hoc-Gruppe für jeden wesentlichen Gesetzgebungsvorschlag zu bilden, die aus einem Europarechtler und einzelnen Abgeorteten zusammengesetzt wird, die für die Sach- materie eine besondere Qualifi kation aufweisen. Diese Gruppe könnte den Europa- bzw. künftigen Subsidiaritätsausschuss mit einem Fachvotum unterstützen. Zu bedenken ist aber auch die knappe Zeit, die den nationalen Parlamenten zur Arbeit eingeräumt wird.

130 Vielleicht lassen sich gar durch die intensivere Bürgernähe der nationalen Parlamentarier in ihren Wahlkreisen die Akzeptanz und das Vertrauen in die europäischen Entscheidungsprozesse fördern, was zum Abbau des viel beklagten Demokratiedefi zits beitragen könnte. Vgl. gerade zu Letzterem unter Verweis auf Luhmanns „Legiti- mation durch Verfahren“ abstellend Mager, ZEus 2003, S. 482 f. 131 So K.-P. Sommermann, Verfassungsperspektiven für die Demokratie in der erweiterten Europäischen Union: Gefahr der Entdemokratisierung oder Fortentwicklung im Rahmen europäischer Supranationalität, DÖV 2003, S. 1009 (1013). 132 Ein Vorschlag lautete, eine zweite parlamentarische Kammer aus mitgliedstaatlichen Parlamentariern als zu- sätzliches Gemeinschaftsor gan zu schaffen, mit vorgeschlagenen Befugnissen vom bloßen Konsultationsrecht bis zum Zustimmungserforder nis. Es wurde auch ein spezielles Klagerecht für eine vorgeschlagene Regional- kammer gefordert. (vgl. C. En gel, Regionen in der Europäischen Gemeinschaft: Eine integrationspolitische Rollensuche, Integration 1991, S. 9 (15); U. Goll/M. Kenntner, Brauchen wir ein europäisches Kompetenzge- richt? – Vorschläge zur Sicherung der mitgliedstaatli chen Zuständigkeiten, EuZW 2002, S. 101 (103) zu Letz- terem Entschließung des Bundesrats (24.08.1990), BR-Drs 550/90). Andere schlugen einen unabhängigen Schlichtungs-, Vermittlungs- bzw. Subsidiaritätsausschusses vor. (Hierzu J. Schwarze, Kompetenzverteilung in der Europäischen Union und föderales Gleichgewicht – Zu den Forderungen der deut schen Bundesländer im Hinblick auf die Regierungskonferenz 1996 – , DVBl 1995, S. 1265 (1267); D. O. Reich, Zum Einfl uss des Eu- ropäischen Gemeinschaftsrechts auf die Kompetenzen der deutschen Bundesländer, EuGRZ 2001, S. 1 (16); A. v. Bogdandy/J. Bast, Die vertikale Kompetenzordnung der Europäischen Union – Rechtsdogmatischer Be- stand und verfassungspolitische Reformperspektiven, EuGRZ 2001, S. 441 (456); C. Koenig/R. A. Lorz, Stär- kung des Subsidiaritätsprinzips, JZ 2003, S. 167 (170)). 133 Ähnlich Bogdandy/Bast/Westphal, Integration 2003, S. 414 (420); T. Oppermann, Eine Verfassung für die Eu- ropäische Union – Der Entwurf des Europäischen Konvents – , DVBl 2003, S. 1165 (1171); Ruffert, EuR 2004, S. 165 (182).

11_06_innen.indd_06_innen.indd 113535 118.05.20068.05.2006 09:27:2209:27:22 136 EuR – Heft 1 – 2006 Kleinere Beiträge, Berichte und Dokumente

Für die Effektivität des Frühwarnsystems ist entscheidend, ob eine qualifi zierte Anzahl Be- denken tragender nationaler Parlamente die Initiatoren europäischer Gesetzgebungsvor- schläge zu mehr als zur bloßen Kenntnisnahme bewegen kann.134 Aber je größer die Union wird, desto schwieriger dürfte es sich bei einer EU von 25 oder bald gar 30 Mitgliedstaaten gestalten, ein ausreichendes Quorum der nationalen Parlamente zustande zu bringen. Eine Steigerung der Kontrolleffi zienz könne hier die Vernetzung der nationalen Parlamente schaffen, die an der bestehenden „Konferenz der Europaausschüsse“ (COSAC)135 anknüpft, und arbeitsteiliges Arbeiten ermöglicht oder eher überforderte Parlamente in kleineren Mit- gliedstaaten am Sachverstand der größeren teilhaben lässt. Außerdem sollte man kritisch bedenken, dass die mitgliedstaatlichen Parlamente bereits nach geltendem Gemeinschaftsrecht nicht gehindert sind, im Vorfeld von Gemeinschafts- rechtsetzung kompetenzielle Kritik zu äußern,136 diese Möglichkeit aber angesichts der Fül- le der Rechtsakte bislang schon kaum wahrnehmen konnten. Eine andere Facette ergibt sich, wenn man die Effektivität des Frühwarnsystems nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Könnens, sondern auch des Wollens nationaler Parlamentarier betrachtet, die europäische Rechtsetzung wirksam zu beschränken.137 Gerade bei unpopu- lären, aber notwendigen Rechsetzungsvorhaben ist dem einzelnen Abgeordneten ein euro- päisches Tätigwerden oft lieber, als unpopuläre nationale Gesetze mit den entsprechenden Folgen im Wahlkreis verteidigen zu müssen. Die europäische Ebene kann zu gut als „poli- tischer Sündenbock“ für nationale Politiker dienen. Diesen Umstand gilt es zu bedenken, wenn die mitgliedstaatlichen Kontrollstrukturen geschaffen werden. Bei den mitgliedstaat- lichen Parlamenten sollte stets der langfristige Gestaltungsverlust gegenüber kurzfristigen politischer Schwierigkeiten im Vordergrund stehen. Offen bleibt, ob trotz der vorgeschlagenen Neuerungen im Subsidiaritätsprotokoll diese die europäische Gerichtsbarkeit veranlassen würden, künftig eine genauere Überprüfung an- hand des Subsidiaritätsprinzips vorzunehmen.138 Darüber hinaus wäre es wünschenswert, die Verhältnismäßigkeit in den Prüfungsmaßstab der Subsidiaritätsbeschwerde voll umfäng- lich aufzunehmen, wodurch die europäische Gerichtsbarkeit zu einer höheren Kontrolldichte gezwungen wäre.

134 Im Endeffekt wird sich der Erfolg der Neuregelung an der Rechtsprechung des EuGH messen lassen müssen, zu diesen Aspekten V. Epping, Die Verfassung Europas?, JZ 2003, S. 821 (827) bzw. R. Knöll/M. W. Bauer, Der Konvent zur Zukunft der EU – eine Zwischenbilanz aus Sicht der deutschen Länder, NVwZ 2003, S. 446 (447). 135 COSAC, „Conférence des Organes spécialisés en Affaires communautaires“: Die Konferenz der Europaaus- schüsse (COSAC) ist ein parlamentarisches Gremium. Sie setzt sich aus Vertretern der Europaausschüsse der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten und Vertretern des Europäischen Parlaments (EP) zusammen. Der Zusammenschluss ist das Ergebnis einer Konferenz der Parlamentspräsidenten der EU-Mitgliedstaaten und des EP in Madrid im Mai 1989 und sollte die Rolle der nationalen Parlamente durch regelmäßige Treffen der „Sonderorgane für EG-Angelegenheiten“ im Gemeinschaftsbereich stärken. Vgl. http://www.cosac.org. 136 Zur gegenwärtigen Situation in den nationalen Parlamenten, vgl. A. Maurer/D. Kietz, Die neuen Rechte der nationalen Parlamente: Umsetzungsprobleme und Empfehlungen, Diskussionspapier, März 2004, (http://www. swp-berlin.org), S. 11 ff. 137 Vgl. A. Mauer/P. Becker, Die Europafähigkeit der nationalen Parlamente: Herausforderungen des EU- Verfassungs vertrags für den deutschen Parlamentarismus, SWP-Studie 2004/S 23, 2004, (http://www.swp-ber- lin.org), S. 18 ff. 138 Vgl. hierzu M. ter Steeg, Eine neue Kompetenzordnung für die EU – Die Reformüberlegungen des Konvents zur Zukunft Europas, EuZW 2003, S. 325 (328); T. v. Danwitz, Grundfragen einer Verfassungsbindung der Eu- ropäischen Union, JZ 2003, S. 1125 (1131 f.).

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D. Zusammenfassung

In der Rechtsprechung des EuG und des EuGH nahm das Subsidiaritätsprinzip bisher nur einen geringen Stellenwert als Prüfungsmaßstab ein, was vor allem in der Schwierigkeit einer gerichtlichen Überprüfung seiner materiellen Einhaltung und in systemimmanenten juristischen Unschärfen politisch zu deutender Tatbestandselemente begründet ist. Leider wird das Kriterium der Nicht-Ausschließlichkeit ohne den abschließenden Katalog aus- schließlicher Unionskompetenzen in Art. I-13 VVE nun nicht besser handhabbar. Jedoch könnte eine interinstitutionelle Vereinbarung der europäischen Institutionen, die sich auf nun eventuell gescheiterte Version des Art. I-13 VVE stützt, diese Unschärfe beheben. Hier wird vorgeschlagen, dass neue Subsidiaritätsprotokoll als ein Teil des Verfassungsver- trages zu bewahren und es unabhängig von diesem ins Werk zu setzen. Somit lässt sich eine Reihe an notwendigen Reformbemühungen ins geltende Gemeinschaftsrecht integrieren. Prozedurale Vorkehrungen sollen dem Subsidiaritätsprinzip zu einem höheren Stellenwert und damit zu mehr Geltung verhelfen. Insbesondere die Einbeziehung der mitgliedstaatli- chen Parlamente im Vorfeld der Unionsrechtsetzung lässt neue Impulse erhoffen, sofern diese Parlamente sich als der zusätzlichen Belastung gewachsen erweisen und Willens sind, die neuen Kontrollmöglichkeiten effektiv wahrzunehmen.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 113737 118.05.20068.05.2006 09:27:2209:27:22 138 EuR – Heft 1 – 2006

REZENSIONEN

Piet Eeckhout, External Relations of the European Union – Legal and Constitutional Foundations, Oxford European Community Law Library Series, Oxford University Press, 2004, 490 S.

Dem Recht der EU-Außenbeziehungen kommt in der deutschsprachigen Literatur nur eine Nebenrolle zu. Dies allein legt einen Blick über die Sprachgrenzen nahe und erscheint bei der Vorlage eines Buchs mit dem Anspruch eines Standardwerks geradezu zwingend. Pro- fessor Piet Eeckhout vom Londoner King’s College wird hierbei vortreffl ich dem Anspruch der exklusiven Oxford EC Law Library gerecht, eine „präzise, übersichtliche und originelle“ Darstellung eines Sachgebiets des Europarechts vorzulegen. Die Bündelung seiner Erfah- rung aus der jahrelangen Beschäftigung mit der Thematik als Wissenschaftler und Mitarbei- ter des Gerichtshofs macht das Buch noch weniger entbehrlich als den Vorgängerband von MacLeod, Hendry und Hyett aus dem Jahr 1996, der sich für viele Praktiker und Wissen- schaftler im Bereich der EU-Außenbeziehungen in den vergangenen Jahren zur Standardre- ferenz entwickelt hatte. Eeckhout beginnt seine inhaltliche Darstellung zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen der EU-Außenbeziehungen mit den ausdrücklichen Vertragsbestimmungen zur Außenhan- delspolitik, die historisch den Weg für die Entwicklung des Rechtsgebiets bereiteten und ihre Aktualität bis heute nicht verloren haben. Ebenso wie im folgenden Kapitel zur Lehre von den ungeschrieben Außenkompetenzen nach der AETR-Rechtsprechung leistet er nicht nur eine lückenlose Untersuchung der Rechtsprechung der vergangenen dreißig Jahre, son- dern zeigt zugleich die zu Grunde liegenden Entwicklungslinien auf. Immer wieder regt er auch bei scheinbar umfassend erörterten Fragestellungen neue Deutungsvarianten an, die von der Tiefe seiner inhaltlichen Erfahrung zeugen. Dies gilt etwa für die Einordnung des WTO-Gutachtens 1/94 des Gerichtshofs, das durch die sachliche Begrenzung der aus- schließlichen EG-Außenhandelskompetenz für Eeckhout nicht im Widerspruch zur frühe- ren, expansiven Rechtsprechung steht, sondern auf deren Grundlage die EU-verfassungs- rechtlich gebotene Schärfung vertraglicher Kompetenzzuweisungen konsequent umsetzt. Nicht der Gerichtshof, sondern der Vertragsgeber sei berufen, soweit erwünscht den Um- fang der EG-Kompetenz dem sachlichen Ausgreifen des Welthandelsrechts insbesondere im Bereich des geistigen Eigentums anzupassen. Die Komplexität der Nizzaer Regelung missfällt freilich auch Eeckhout. Im Bereich der ungeschriebenen Außenkompetenzen überzeugt seine umfassende Darstel- lung durch die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Dimensionen der AETR-Recht- sprechung, die in anderen Publikationen all zu oft verschwimmen. Zu differenzieren sei insbesondere zwischen der oft unklaren Frage nach der inhaltlichen Reichweite einer EG- Kompetenz und dem Vorliegen der Voraussetzungen für deren Ausübung im Außenverhält- nis. In seinem Verständnis der Open skies-Urteile fand ich mich in meiner Sicht bestätigt, dass der Gerichtshof eine allgemeine Parallelität von Innen- und Außenkompetenzen an- nahm, die im Anwendungsbereich bestehenden Sekundärrechts ausschließlicher Natur sind und ansonsten als konkurrierende Außenkompetenz eine alternative Ausübung durch Ge- meinschaft oder Mitgliedstaaten erlauben (Der Binnenmarkt und die „Freiheit der Lüfte“, EuR 2003, S. 277-290). Es ist hierbei konsequent, dass Eeckhout den Sonderfall einer aus- schließlichen Außenkompetenz ohne vorherige Binnengesetzgebung nach Maßgabe des Gutachtens 1/76 zum Stilllegungsfonds für die Binnenschifffahrt aufgeben will und der

11_06_innen.indd_06_innen.indd 113838 118.05.20068.05.2006 09:27:2209:27:22 Rezensionen EuR – Heft 1 – 2006 139

konkurrierenden Außenzuständigkeit zuordnet (S. 89-91). Dies weite Verständnis konkur- rierender, nicht-ausschließlicher Außenkompetenzen ist ein roter Faden, der an anderer Stel- le mehrfach aufgegriffen wird – etwa beim Plädoyer für eine Zurückdrängung gemischter Abkommen (S. 224, 272). Die Verbindung stringenter Analyse mit eigenen Deutungslinien setzt er in der Untersuchung der zahlreichen ausdrücklichen und ungeschriebenen Kompe- tenzzuweisungen in den speziellen Gemeinschaftspolitiken fort (Kapitel 4). Im Kapitel 5 weitet Eeckhout den Blick auf den EU-Vertrag, insbesondere die GASP (der zweiten Säule), aus. Deren sachlichen Umfang sieht Eeckhout trotz der inhaltlichen Uferlo- sigkeit der Vertragsbestimmungen rechtlich aufgrund des Vorrangs des EG-Vertrags gemäß Art. 47 EU zunehmend auf Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik beschränkt, die in der Tat die Brüsseler Praxis der zweiten Säule bestimmt. Auch die Annahme einer nun- mehr unzweideutigen Völkerrechtspersönlichkeit der EU überzeugt. Die Unklarheiten der früheren Vertragslage wurden durch die Vertragsänderungen in Amsterdam und Nizza fort- schreitend beseitig und verbleibende Unsicherheiten durch die inzwischen mannigfaltige Vertragsschlusspraxis der Union mit zahlreichen Drittstaaten und der NATO auf Grundlage der Art. 24, 38 EU ausgeräumt. Als einer der wenigen Aspekte des gesamten Buchs hätte seine Abschlussthese einer einheitlichen Völkerrechtspersönlichkeit von Union und Ge- meinschaften (EG und Euratom) durch eine ausführlichere Erörterung gewonnen (S. 165). Dessen ungeachtet hat Eeckhout mit diesen Kapiteln des ersten Teils eine der bislang sorg- fältigsten Gesamtdarstellungen der kompetentiellen Reichweite des auswärtigen Handelns der Union vorgelegt. Der zweite Teil ist der Einordnung der EU in die Völkerrechtsordnung gewidmet und be- ginnt hierbei mit der Erläuterung des „Lebenszyklus“ internationaler Abkommen der Ge- meinschaft und der Union bei deren Verhandlung, Unterzeichnung und Abschluss sowie Fortentwicklung und Beendigung (Kapitel 6). Das im Vergleich zur sonstigen Materialfülle eher knapp gehaltene Kapitel steht unter der Leitfrage parlamentarischer Legitimation völ- kervertragsrechtlichen Handelns, das zunehmend die Rolle gemeinschaftsinterner Gesetz- gebung ergänzt und in Teilen ersetzt. Eeckhout legt überzeugend dar, dass effektive parla- mentarische Kontrolle durch ein Zustimmungserfordernis beim Abschluss eines Vertrags nicht erreicht werden kann, sondern möglichst eine Beteiligung im Vorfeld erfordert, insbe- sondere während der Verhandlungen. Seine anschließende Erörterung der gemischten Ab- kommen zeigt, dass diese ihre völkerrechtliche und gemeinschaftsrechtliche Komplexität bis heute nicht verloren haben (Kapitel 7). Die Entscheidung, Rechtsprobleme der Mitglied- schaft der EG in internationalen Organisationen in das Kapitel zu integrieren, ist wegen der parallel gelagerten Problematik der Ausübung von Mitgliedschaftsrechten gut nachvollzieh- bar. Im Doppelkapitel 8 und 9 wendet sich Eeckhout schließlich den zentralen Fragen der ge- richtlichen Auslegungszuständigkeit und den Rechtswirkungen internationaler Abkommen in der Gemeinschaftsrechtsordnung zu. Mit 118 eng bedruckten Seiten besitzen allein diese Ausführungen für sich genommen den Umfang einer eigenständigen Monographie und ver- dienen in der Debatte der Thematik einen festen Platz. Hier zahlt sich die Verknüpfung des am case law geschulten angelsächsischen Pragmatismus des in London tätigen Wissen- schaftlers mit der dogmatischen Schärfe des in Belgien geschulten kontinentaleuropäischen Juristen besonders aus, die Eeckhout in seiner Person verbindet. In der zentralen Streitfrage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts stimmt Eeckhout dem Gerichtshof im Ergebnis zu und nimmt hierbei auch das spätere Urteil vom 1. März 2005 in der Rechts- sache C-377/02 (Léon Van Parys) vorweg. Allerdings stützt er sein Ergebnis nicht primär

11_06_innen.indd_06_innen.indd 113939 118.05.20068.05.2006 09:27:2309:27:23 140 EuR – Heft 1 – 2006 Rezensionen

auf dieselben Erwägungen wie der Gerichtshof und jüngst Wolfgang Weiß in seinem Beitrag für diese Zeitschrift (Zur Haftung der EG für die Verletzung des WTO-Rechts, EuR 2005, Heft 3, S. 277-301). Eeckhout fragt nicht in erster Linie nach der Verbindlichkeit von Entscheidungen des WTO- Streitbeilegungsmechanismus, deren Begrenzung ihn völkerrechtlich nicht abschließend zu überzeugen scheint. Maßgeblich sei vielmehr, dass auch verbindliches Völkerrecht keine unmittelbare Anwendbarkeit qua Völkerrecht verlange – anders als das EG-Recht gegen- über dem nationalen Recht. Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit müsse vielmehr aus Sicht des Gemeinschaftsrechts beurteilt werden. Zentrale Bedeutung erlange hierbei die Einschränkung des Handlungsspielraums der anderen Gemeinschaftsorgane, die mit der Annahme einer unmittelbaren Anwendbarkeit des WTO-Rechts wegen deren fehlender Re- ziprozität bei wichtigen Handelspartnern einhergehe (S. 303-309); eine Erwägung auf die der Gerichtshof in der Rechtssache Léon Van Parys nur abschließend verweist (Rdnr. 53). Die umfassend analysierte Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Anwendung anderer völkerrechtlicher Verträge als dem WTO-Recht sei nach Maßgabe dieser Kriterien ebenfalls zu expansiv. Die inhaltliche Ausgestaltung der auswärtigen Beziehungen der Gemeinschaft und der Uni- on ist vielfach eng mit der internen Ausrichtung der einzelnen Politikbereiche verbunden. Tatsächlich ist diese enge Verbindung von interner Politik und auswärtigem Handeln, die in der Umweltpolitik besonders deutlich zu Tage tritt, ein Grund für die Bedeutung der allge- meinen verfassungsrechtlichen Überlegungen Eeckhouts. Zugleich liegt hierin aber auch der Grund für den Verzicht auf eine allgemeine Darstellung der inhaltlichen Ausgestaltung der verschiedenen Politikbereiche der EU-Außenbeziehungen. Stattdessen stellt Eeckhout in den vier Kapiteln des abschließenden dritten Teils exemplarisch die Außenhandelspolitik, die GASP, die Wechselwirkung zwischen Handelsfragen und Außenpolitik anhand zweier Fallstudien und abschließend die Menschenrechtspolitik der Gemeinschaft vor. Insbesonde- re die fünfzigseitige Einführung in die Außenhandelspolitik und die beiden Fallstudien zur Sanktionsproblematik und der Exportkontrolle sind auf Grundlage der allgemeinen Ausfüh- rungen in den ersten beiden Teilen eine überaus gelungene Darstellung dieser zentralen wirtschaftsrechtlichen Fragen der EU-Außenbeziehungen. Die GASP unterschiedet sich in ihrer rechtlichen und institutionellen Ausgestaltung dage- gen grundlegend von den auswärtigen Politikbereichen des EG-Vertrags. In den Bereichen klassischer „Diplomatie“ kommt dem Recht allgemein eine geringere Rolle zu als in der Regulierung rechtlicher Beziehungen zwischen Bürgern und Wirtschaftsteilnehmern im Recht des EG-Vertrags – nicht allein wegen der fehlenden Zuständigkeit des Gerichtshofs. In der Außenpolitik im engeren Sinn geht es weniger um die Bewirkung von Rechtsfolgen, sondern um die Entwicklung politischer Positionen und Strategien zu ihrer Umsetzung. Von daher weist Eeckhout zu Recht darauf hin, dass sein rechtlich-institutioneller Zugriff die Eigenart der GASP nur begrenzt ergreift. Allerdings kann insoweit über die lesenswerte Studie der Berliner Politologin Elfriede Regelsberger (Die Gemeinsame Außen- und Sicher- heitspolitik der EU, Nomos 2004, 128 S.) und den ersten Band der neuen Studienserie des College of Europe mit seinen zahlreichen instruktiven Beiträgen verwiesen werden (Mahn- cke, Ambos und Reynolds (Hrsg.), European Foreign Policy: From Rhetoric to Reality?, P.I.E. Peter Lang 2005, 381 S). Aus einem engeren juristischen Blickwinkel hat jüngst auch Franklin Dehousse in der zweiten Aufl age des zwölften Bands des Commentaire Mégret eine ausführliche Analyse vorgelegt (in: Dony und Louis (Hrsg.), Commentaire J. Mégret 12 – Relations extérieures, 2. Aufl age, Université libre de Bruxelles 2005, S. 439-588). Den

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Wert des verfassungsrechtlichen Zugriffs Eeckhouts auf das Recht der EU-Außenbeziehun- gen schmälern diese Verweise jedoch in keiner Weise. Es wurde bereits zu Beginn darauf hingewiesen, dass es Eeckhout mit dem besprochenen Band ohne Einschränkung gelungen ist, ein neues Standardwerk zum Recht der EU-Außen- beziehungen vorzulegen, dass jedem Wissenschaftler und Praktiker mit einem Tätigkeits- schwerpunkt in den behandelten Rechtsbereichen eine wertvolles Naschlagewerk und Quel- le akademischer Inspiration sein wird. Die Orientierung wird durch eine klare Gliederung, einen überaus ausführlichen Index der Rechtsgrundlagen und einen sorgfältigen Sachindex erleichtert. Der stolze Preis von 117 EUR für die Hardcover-Ausgabe aus dem Jahr 2004 (0-19-925165-7) wird seit Juni 2005 durch die Existenz einer Paperback-Ausgabe zum Preis von knapp 50 EUR abgemildert (ISBN 0-19-928721-X). Dies dürfte der wünschenswerten Verbreitung des Buchs nur förderlich sein.

Daniel Thym, Berlin

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114141 118.05.20068.05.2006 09:27:2309:27:23 142 EuR – Heft 1 – 2006 Rezensionen

Jörg Philipp Terhechte, Die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale des europäischen Wettbewerbsrechts. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2004, 436 Seiten, ISBN 3-8329-0672-X.

Das europäische Gemeinschaftsrecht bedarf aufgrund seines Charakters einer „Rechtsord- nung im Werden“ in weit höherem Maße als nationale Rechtsordnungen ständiger Anpas- sung und mithin größerer Flexibilität. Die Entwicklung ungeschriebener Tatbestandsmerk- male, vornehmlich durch jene Gemeinschaftsorgane, die zur Rechtsanwendung berufen sind, ist unter diesen Voraussetzungen nur logische Konsequenz der Tatsache, dass das ge- schriebene Gemeinschaftsrecht nie für sich allein stehen kann, sondern immer im Zusam- menhang mit den Zielen und Grundprinzipien der EU gelesen werden muss, welche sich ihrerseits in einem stetigen Entwicklungsprozess befi nden. Solche ungeschriebenen Tatbe- standserweiterungen oder -begrenzungen helfen, veränderten Rahmenbedingungen zeitnah und adäquat Rechnung zu tragen, sie sichern dadurch die Funktionsfähigkeit der Gemein- schaft sowie die einheitliche Anwendung der Vertragsvorschriften und sie dienen nicht zu- letzt der Transparenz und der Rechtssicherheit des Einzelnen. Trotz dieser Bedeutung, die ungeschriebene Tatbestandsmerkmale in der gemeinschaftlichen Rechtsordnung, insbeson- dere im Wettbewerbsrecht, zweifelsohne haben, hat die Frage nach ihrer Funktionsweise, nach der ihnen zugrunde liegenden Dogmatik, in der Wissenschaft bislang erstaunlich we- nig Echo hervorgebracht. Terhechte hat sich im Rahmen seiner ausgezeichneten Dissertati- on nun diesen Fragen gewidmet und erhellende Antworten gefunden. Die sehr umfangreiche Untersuchung umfasst sechs Teile. In einem einleitenden ersten Ka- pitel schildert Terhechte Intention, Terminologie und Referenzgebiet seiner Untersuchung. Letzteres bildet das europäische Wettbewerbsrecht, weil diese Materie besonders eng mit den Vertragszielen verknüpft ist und aufgrund der umfassenden Verwaltungskompetenzen der Kommission in diesem Bereich von den Gemeinschaftsorganen ständig ausgelegt, kon- kretisiert und auch fortgebildet wird. Im zweiten Teil kommt der Autor auf die Grundlagen der ungeschriebenen Tatbestands- merkmale im europäischen Gemeinschaftsrecht zu sprechen. Sie können sowohl Ergebnisse der Auslegung als auch der Fortbildung des Rechts sein. Insbesondere die Weiterentwick- lung der Wettbewerbsregeln durch die Kommission im Wege atypischer Handlungsformen wie Leitlinien oder Mitteilungen begegnet im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung rechtsstaatlichen Bedenken. Hier nimmt Terhechte überzeugend Bezug auf den von Jürgen Schwarze entwickelten Begriff der „ab- strahierenden administrativen Auslegungsgrundsätze“. Dies sind nach Schwarze von der Kommission veröffentlichte Auskünfte darüber, wie sie ein ihr durch Gemeinschaftsrecht eingeräumtes Ermessen generell ausüben will. Als „generalisierende“ Methode der Rechts- anwendung können solche Auslegungskonzepte auch als Instrument der Rechtsfortbildung herangezogen werden. Verbindlichkeit können sie hingegen nicht beanspruchen, wenngleich sie faktisch im europäischen Wettbewerbsrecht von herausragender Bedeutung sind. Der dritte Teil der Arbeit nimmt bei weitem den größten Raum ein. Hier erläutert der Autor die Erscheinungsformen der ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale im europäischen Wett- bewerbsrecht, indem er Existenz, Grundlage und Ausgestaltung jedes einzelnen Merkmals ausführlich untersucht. Das wohl prominenteste Beispiel eines ungeschriebenen Tatbe- standsmerkmals stellt das Kriterium der Spürbarkeit von Handelsbeeinträchtigung und Wettbewerbsbeschränkung im Rahmen des Art. 81 EG dar. Das Spürbarkeitskriterium wur- de von Rechtsprechung und Kommission entwickelt und wird durch die Kommission im

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114242 118.05.20068.05.2006 09:27:2309:27:23 Rezensionen EuR – Heft 1 – 2006 143

Wege von Bekanntmachungen fortlaufend konkretisiert und neueren Entwicklungen ange- passt. Es wird vom Autor als Produkt der Rechtsfortbildung identifi ziert, da eine derartige restriktive Auslegung dem Zweck des Art. 81 Abs. 1 EG entgegenliefe, der sich gerade in dessen begriffl icher Weite widerspiegelt. Hingegen verneint er mit guten Gründen die Exi- stenz einer rule of reason als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal des Art. 81 Abs. 1 EG. Vielmehr seien Ausnahmen für bestimmte Typen von Vereinbarungen oder die Berücksich- tigung wettbewerbsfördernder Effekte an sich verbotener Abreden als teleologische Ausle- gung des Merkmals „Wettbewerbsbeschränkung“ im Sinne der grundsätzlichen Integrati- onsziele des EG-Vertrags zu verstehen. Das Konzernprivileg wiederum, das der Autor als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der „Verbundenheit“ der beteiligten Unternehmen versteht, erweist sich als restriktive, teleologische Auslegung des Begriffs „Unternehmen“ in Art. 81 Abs. 1 EG. Im Rahmen des Art. 82 EG kommt Terhechte sodann für die Existenz eines Spürbarkeitskriteriums und einer rule of reason zum selben Ergebnis wie bei Art. 81 Abs. 1 EG, wobei der eng gefasste Tatbestand hier von vornherein weniger Raum für Ein- schränkungen lässt. Im Rahmen der Fusionskontrolle lässt sich in zunehmendem Maße ein ungeschriebenes Kriterium der Effi zienzwürdigung ausmachen, das sich als Produkt der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 lit. b FKVO im Lichte der allgemeinen Ziele des EG-Vertrags erweist. Art. 86 Abs. 1 EG verweist auf die Art. 81 ff. EG und damit auch auf deren ungeschriebene Tatbestands- merkmale. Dadurch wird der service public-Vorbehalt des Art. 86 Abs. 2 EG häufi g gar nicht erst relevant. Fallen Vereinbarungen, welche Leistungen zur Daseinsvorsorge betref- fen, aber unter die Wettbewerbsvorschriften, dürfen nach Terhechte die Freiräume, die Art. 86 Abs. 2 EG einräumt, nicht vorschnell eingeengt werden. Die Beeinträchtigung der Ent- wicklung des Handelsverkehrs dürfe daher nicht im Sinne einer Zwischenstaatlichkeitsklau- sel verstanden werden. Vielmehr enthalte Art. 86 Abs. 2 S. 2 EG ein ungeschriebenes Merk- mal der „Gesamtheit“, d. h. die Erfüllung einer Aufgabe im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse darf nicht dem Interesse der Gemeinschaft insgesamt zuwiderlaufen. Das Gesamt- interesse der Gemeinschaft werde durch prominente Vertragsprinzipien wie Art. 12 EG ver- körpert. Dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal ergebe sich aus der systematischen Auslegung des Art. 86 Abs. 2 S. 2 EG und sichere die Widerspruchsfreiheit des gesamten europäischen Wettbewerbsrechts. Schließlich enthält auch Art. 87 EG ein Kriterium der Spürbarkeit, welches an die Tatbestandsmerkmale der Wettbewerbsverfälschung und der Handelsbeeinträchtigung anknüpft, wie sich zuletzt aus der „de-minimis“-Verordnung der Kommission von 2001 ergibt. Auch dieses qualifi ziert der Autor als Akt der Rechtsfortbil- dung. Die genaue Untersuchung der genannten Merkmale zeigt, dass bei der Konkretisierung der ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale die Gemeinschaftsrechtsprechung häufi g einen qua- litativen, die Kommission eher einen quantitativen Ansatz verfolgt. Hierin äußert sich nicht zuletzt das unterschiedliche Selbstverständnis der beiden Organe. Während die Rechtspre- chung das Gemeinschaftsinteresse im Blick hat, wie es sich aus den Art. 2 ff. EG ergibt, sorgt die Kommission mittels atypischer Handlungsformen für die nötige Transparenz und Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung. Zwar kann eine verbindliche Fortbildung des Rechts nur durch den Gerichthof erfolgen, wo dieser sich aber im „judicial self-restraint“ übt und der Kommission gerichtlicher Kontrolle entzogene Ermessensspielräume zubilligt, kann diese mittels abstrahierender Auslegungsgrundsätze zumindest eine Selbstbindung be- wirken und damit die Gleichbehandlung vor dem Gesetz garantieren.

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114343 118.05.20068.05.2006 09:27:2309:27:23 144 EuR – Heft 1 – 2006

Im vierten und fünften Teil werden Funktion und Grenzen der Entwicklung ungeschriebener Tatbestandsmerkmale erörtert. Es wird klar herausgestellt, welch herausragende Bedeutung sie in ihrer durch atypische Handlungsformen konkretisierten Gestalt für die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten im Rahmen der Dezentralisie- rung der Wettbewerbskontrolle einnehmen. Daneben erfüllen sie die wichtige Aufgabe, das europäische Wettbewerbsrecht in seinem funktionalen Gesamtzusammenhang zu verstehen, indem sie wichtigen Strukturprinzipien der Gemeinschaft wie dem Subsidiaritätsprinzip oder dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu mehr Wirkkraft verhelfen. Im Ergebnis vermag also die spezielle, integrationspolitisch motivierte Wettbewerbskonzeption des EG-Vertrags bestimmte Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Terhechte sieht daher die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale im Dienste einer „höheren Aufgabe als dem reinen Wettbewerbs- schutz“. Die Ausführungen über deren dogmatische Begründung und Legitimation bleiben bedauerlicherweise etwas konturlos. Hier hätte sich der Leser eine tiefgehendere Beschäfti- gung mit der Problematik gewünscht. Im abschließenden 6. Teil der Arbeit wird deutlich, dass künftig die Bedeutung der Weiter- entwicklung der Tatbestände des Wettbewerbsrechts eher zu- denn abnehmen wird. Im Rah- men des Art. 81 EG macht dies der Übergang vom Anmelde- zum Legalausnahmensystem erforderlich. Im Beihilfen- und Fusionskontrollrecht tragen ungeschriebene Tatbestands- merkmale dazu bei, die Arbeitsüberlastung der Kommission zu reduzieren und sichern so die Verwaltungseffi zienz und praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. Besondere Erwähnung verdient meines Erachtens die Tatsache, dass der Autor immer wie- der über den Tellerrand des europäischen Wettbewerbsrechts hinausblickt und seine dogma- tischen Erwägungen nicht nur aus dem Vergleich zu mitgliedstaatlichen Wettbewerbsord- nungen herleitet, sondern auch auf die Analyse amerikanischer oder asiatischer Rechtsord- nungen stützen kann. Wie Terhechte richtig bemerkt, steht das Gemeinschaftsrecht in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis sowohl zu den mitgliedstaatlichen, als auch zu au- ßereuropäischen Rechtsordnungen. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie sich die De- zentralisierung der Wettbewerbskontrolle auf die hier behandelte Thematik auswirken wird. Trotz der gerade stattfi ndenden tiefgreifenden Veränderungen des europäischen Wettbe- werbsrechts ist die Lektüre dieser insgesamt hervorragenden Arbeit jedem auch allgemein am Wettbewerbsrecht Interessierten von größtem Nutzen.

Bertold Bär-Bouyssière, Brüssel

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114444 118.05.20068.05.2006 09:27:2309:27:23 EuR – Heft 1 – 2006 145 Europarechtliches Symposion beim Bundesarbeitsgericht

Das Bundesarbeitsgericht und der Deutsche Arbeitsgerichtsverband e. V. veranstalten

am 11. und 12. Mai 2006 in Erfurt

zum fünften Mal ein Europarechtliches Symposion.

Programmablauf

Donnerstag, 11. Mai 2006 10:30 Uhr Begrüßung der Teilnehmer Ingrid Schmidt Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts 10:40 Uhr Grußworte Die Rezeption der Betriebsübergangsrichtlinie in den Mitgliedstaaten 11:15 Uhr Rechtsvergleichender Überblick aus kontinentaleuropäischer Sicht Prof. Dr. Robert Rebhahn Universität Wien 12:00 Uhr Diskussion Moderation: Dr. Udo Isenhardt Präsident des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes e. V. 13:00 Uhr Mittagspause 14:30 Uhr Anwendungsfragen und -probleme der Betriebs übergangsrichtlinie im Vereinigten Königreich Sir David Edward Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften a. D. Vortrag in englischer Sprache, Übersetzung: Dr. h.c. Reinhard Schinz Der Betriebsübergang nach dem Systemwechsel in ein neues Arbeits- und Wirtschaftsrecht am Beispiel Sloweniens Prof. Dr. Janez Novak Richter am Obersten Gerichtshof der Republik Slowenien 16:00 Uhr Kaffeepause

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114545 118.05.20068.05.2006 09:27:2409:27:24 146 EuR – Heft 1 – 2006

16:30 Uhr Diskussion Moderation: Friedrich Hauck Vorsitzender Richter am Bundesarbeitsgericht

18:00 Uhr Ende des 1. Konferenztages 19:30 Uhr Gesellschaftsabend im Kaisersaal

Freitag, 12. Mai 2006 09:00 Uhr Die Auslegung europäischen oder die Anwendung nationalen Rechts? Grundsätze und Kriterien für die Behandlung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten mit europarechtlichem Bezug Prof. Dr. Dr. Juliane Kokott Generalanwältin beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Koreferat Burghard Kreft Richter am Bundesarbeitsgericht 10:15 Uhr Kaffeepause 10:30 Uhr Diskussion Moderation: Edith Gräfl Richterin am Bundesarbeitsgericht 11:45 Uhr Schlusswort Dr. Udo Isenhardt Präsident des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes e. V. 14:00 Uhr Rahmenprogramm

Die Veranstaltung fi ndet im Bundesarbeitsgericht in Erfurt, Hugo-Preuß-Platz 1, statt. Für die Teilnahme am Symposion wird ein Kostenbeitrag von 162,40 Euro erhoben. Bei Teilnah- me am Gesellschaftsabend (Büfett) am 11. Mai 2006 ist ein weiterer Kostenbeitrag von 25,00 Euro zu entrichten. Die Konferenzsprache ist Deutsch. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt. Weitere Informationen und das Anmeldeformular fi nden Sie im Internet unter www.httpV/www.BAG-Symposion.de Daneben können Anfragen gerichtet werden an: ORG Offi ce GmbH – Veranstaltungs- und Kongressorganisation Auf der großen Mühle 3; 99198 Erfurt - Linderbach Fax: 0361 4203691; E-Mail: BAG-Symposion2006@orq-offi ce.de Für telefonische Auskünfte stehen Ihnen zur Verfügung: ORG Offi ce – 0361 4203690 Bundesarbeitsgericht, Herr Becker – 0361 2636 1207

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114646 118.05.20068.05.2006 09:27:2409:27:24 EuR – Heft 1 – 2006 147

BIBLIOGRAPHIE

Zusammengestellt von der Schriftleitung der Zeitschrift Europarecht unter Mitarbeit von Florian Gröblinghoff

Bücher und Zeitschriften

Abkürzungsverzeichnis

AG ...... Die Aktiengesellschaft AgrarR ...... Agrarrecht AJDA ...... L’Actualité Juridique Droit Administratif ALJ ...... Antitrust Law Journal AÖR ...... Archiv des Öffentlichen Rechts ArbRB ...... Arbeitsrechts-Berater AuA ...... Arbeit und Arbeitsrecht AuR ...... Arbeit und Recht AVR ...... Archiv des Völkerrechts BayVBl ...... Bayerische Verwaltungsblätter BB ...... Betriebsberater Blätter ...... Blätter für deutsche und internationale Politik CDE ...... Cahiers de Droit Européen CMLR ...... Common Market Law Review CRI ...... Computer und Recht International Verw ...... Die Verwaltung DB ...... Der Betrieb DS ...... DER STAAT DÖD ...... Der Öffentliche Dienst DÖV ...... Die Öffentliche Verwaltung DVBl ...... Deutsches Verwaltungsblatt DVP ...... Deutsche Verwaltungspraxis ECFR...... European Company and Financial Law Review EIPR ...... European Intellectual Property Review EJIL ...... European Journal of International Law ELF ...... The European Legal Forum ELRev ...... European Law Review EuGRZ ...... Europäische Grundrechtszeitung EurUP ...... Zeitschrift für Europäisches Umwelt- und Planungsrecht EuZ ...... Zeitschrift für Europarecht EuZW ...... Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EWS ...... Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht GewArch ...... Gewerbearchiv GPR ...... Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht GRUR ...... Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht GRUR int ...... Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht international IHR ...... Internationales Handelsrecht IIC ...... International Review of Industrial Property and Copyright Law inte ...... integration

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114747 118.05.20068.05.2006 09:27:2409:27:24 148 EuR – Heft 1 – 2006 Bibliographie

IPG ...... Internationale Politik und Gesellschaft IPrax ...... Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts JA ...... Juristische Arbeitsblätter JB ...... Juristische Blätter JCMS...... Journal of Common Market Studies JuS ...... Juristische Schulung JR ...... Juristische Rundschau JRP ...... Journal für Rechtspolitik JZ ...... Juristenzeitung Kreditwesen ...... Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen K&R ...... Kommunikation und Recht KritJ ...... Kritische Justiz KritV ...... Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft LIEI ...... Legal Issues of Economic Integration MedizinR ...... Medizinrecht MDR ...... Monatsschrift für Deutsches Recht MJECL ...... Maastricht Journal of European and Comparative Law MJIL ...... Maastricht Journal of International Law MRM ...... MenschenRechtsMagazin NdsVBl ...... Niedersächsische Verwaltungsblätter NILR ...... Netherlands International Law Review NJ ...... Neue Justiz NJB ...... Nederlands Juristenblad NJIL ...... Nordic Journal of International Law NJW ...... Neue Juristische Wochenschrift NUR ...... Natur und Recht NVwZ ...... Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NWVBl ...... Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter NZA ...... Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht ÖJ ...... Österreichische Juristenzeitung OR ...... Osteuropa Recht OstEur ...... Osteuropa OstEurW ...... Osteuropa-Wirtschaft ÖZÖR ...... Österreichische Zeitschrift für Öffentliches Recht RabelsZ ...... Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RdA ...... Recht der Arbeit RdE ...... Recht der Energiewirtschaft RDIDC ...... Revue de Droit international et de droit comparé RdW ...... Recht der Wirtschaft RIW ...... Recht der Internationalen Wirtschaft RL ...... Recht der Landwirtschaft RMCUE ...... Revue du marché commun et de l’Union Européenne RTDE ...... Revue Trimestrielle Droit Européen RuP ...... Recht und Politik SächsVBl ...... Sächsische Verwaltungsblätter SEER ...... South East European Review for Labour and Social Affairs SEW ...... Tijdschrift voor Europees en economisch recht S+F ...... Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden SZIER ...... Schweizer Zeitschrift für Internationales und Europäisches Recht

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114848 118.05.20068.05.2006 09:27:2409:27:24 Bibliographie EuR – Heft 1 – 2006 149

ThürVBl ...... Thüringer Verwaltungsblätter UPR ...... Umwelt und Planungsrecht VBlBW ...... Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg VerwArch ...... Verwaltungsarchiv VergabeR ...... Zeitschrift für Vergaberecht VN ...... Vereinte Nationen VR ...... Verwaltungsrundschau Wbl ...... Wirtschaftsrechtliche Blätter WiVerw ...... Wirtschaftsverwaltung WRP ...... Wettbewerb in Recht und Praxis WuW ...... Wirtschaft und Wettbewerb ZaöRV ...... Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZAR ...... Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik ZEUP ...... Zeitschrift für Europäisches Privatrecht ZEUPR ...... Zeitschrift für Europäisches Umwelt und Planungsrecht ZEUS ...... Zeitschrift für Europarechtliche Studien ZfU ...... Zeitschrift für Umweltpolitik und Umweltrecht ZfRV ...... Zeitschrift für Rechtsvergleichung, Internationales Privatrecht und Europarecht ZFW ...... Zeitschrift für Wasserrecht ZLW ...... Zeitschrift für Luft- und Weltraumrecht ZNER ...... Zeitschrift für neues Energierecht ZRP ...... Zeitschrift für Rechtspolitik ZUM ...... Zeitschrift für Urheber und Medienrecht ZUR ...... Zeitschrift für Umweltrecht ZvglRWis...... Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft ZWR ...... Zeitschrift für Wasserrecht ZWeR ...... Zeitschrift für Wettbewerbsrecht

11_06_innen.indd_06_innen.indd 114949 118.05.20068.05.2006 09:27:2409:27:24 150 EuR – Heft 1 – 2006 Bibliographie

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Beilagenhinweis: Dieser Ausgabe liegt ein Prospekt der Nomos Verlagsgesellschaft bei. Wir bitten freund- lichst um Beachtung.

Die Zeitschrift EUROPARECHT erscheint sechsmal im Jahr. Schriftleitung: Armin Hatje und Ingo Brinker. Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Armin Hatje, Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld, Telefon: (0521) 106 44 12, Telefax: (0521) 106 60 37; RA Dr. Ingo Brinker LL.M., c/o Gleiss Lutz Hootz Hirsch, Prinzregentenstraße 50, 80538 München. © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Printed in . Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vor- herigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Überset- zungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. ISSN 0531-2485 Bezugsbedingungen: Erscheinungsweise sechsmal jährlich; Abonnementspreis jährlich 128,- Euro inkl. Jah- res-CD-ROM (inkl. MwSt.) zuzüglich Porto und Versandkosten (zuzüglich MwSt.); Preis des Einzelheftes 26,- Euro (inkl. MwSt.); Bestellungen nehmen der Buchhandel und der Verlag entgegen; Abbestellungen vierteljährlich zum Jahresende. Zahlung jeweils im voraus an Nomos Verlagsgesellschaft, Postscheckk. Karlsruhe 736 36-751 und Stadtsparkasse Baden-Baden, Konto 5-002 266. Anzeigenverwaltung und Anzeigenannahme: Sales friendly, Bettina Roos, Maarweg 48, 53123 Bonn, Tel. 02 28/9 78 98-0, Fax 02 28/9 78 98 20, e-mail: [email protected] Ve rl ag : Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Postfach 10 03 10, D-76484 Baden-Baden, Telefon (07221) 21 04-0, Telefax 21 04 27.

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