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Carl-Hans Hauptmeyer

NIEDERSACHSEN

Landesgeschichte und historische Regionalentwicklung im Überblick Carl-Hans Hauptmeyer

NIEDERSACHSEN Landesgeschichte und historische Regionalentwicklung im Überblick

ISENSEE VERLAG OLDENBURG Herausgegeben von der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung N L P B http://www.nlpb.de Hannover 2004

Redaktion: Peter Hoffmann Umschlagentwurf: Stefanie Heinrich Abbildungen: Die Abbildungen sind - wenn nicht anders vermerkt - von den Autorinnen und Autoren zur Verfügung gestellt worden.

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung dar. Für die inhaltlichen Aussagen trägt der Autor die Verantwortung.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

ISBN 3-89995-064-X

© 2004 Isensee Verlag, Haarenstraße 20, 26122 Oldenburg - Alle Rechte vorbehalten Gedruckt bei Isensee in Oldenburg 5

Inhalt

Vorwort ...... 7

Aktuelle Herausforderungen...... 8 Chancen und Probleme ...... 8 Aktuelle Regionalentwicklungen - vier Beispiele ...... 9

Raum und Geschichte ...... 12 Tradition und Gegenwart...... 12 Niedersachsen in Deutschland - heutige Bevölkerungsstruktur in historischer Dimension ...... 13 Niedersachsen – Land und Name...... 14 Naturpotential und Geschichte ...... 17 Stufen der kulturlandschaftlichen Entwicklung ...... 19

Historische Entwicklungen und Strukturen ...... 22 Aufbauen (bis um 1500)...... 22 Ur- und Frühgeschichte ...... 22 Germanen und Römer, Altsachsen und Friesen ...... 23 Eingliederung in das Reich der Franken, Sachsen als Königsland ...... 25 Staufer und Welfen ...... 28 Hochmittelalterliche Agrarverfassung ...... 29 Eine spätmittelalterliche Grafschaft – das Beispiel ...... 32 Territorialisierung von Herrschaft ...... 34 Bäuerliche Freiheiten und Gemeinden ...... 36 Landwirtschaft und Grundherrschaft im Spätmittelalter ...... 37 Adel und Landstände...... 38 Rohstoffe und Rohstoffverarbeitung ...... 40 Städte ...... 41 Gewerbe, Zünfte, Stadtbewohner ...... 44 Verkehr und Handel...... 47 Städtische Verfassung – die „Große Braunschweiger Schicht“ ...... 50 Menschen und ihr Lebensalltag ...... 52 Religion und Kirche ...... 54 Regionen in Niedersachsen - Aufbau im Mittelalter ...... 55

Mithalten (bis um 1800) ...... 59 Ein Herrschaftskonflikt zwischen Mittelalter und Neuzeit - die Hildesheimer Stiftsfehde ...... 59 Städtische – das Beispiel Hannover ...... 60 Ein Fürst der Reformationszeit - Herzog Heinrich der Jüngere ...... 62 Staat und Kirche im 16. Jahrhundert ...... 63 6

Dorf und Landwirtschaft im 16. Jahrhundert ...... 65 Blüte und Krise des Städtewesens ...... 68 Der Dreißigjährige Krieg und seine Folgen ...... 69 Ausbau frühmoderner Staatlichkeit ...... 71 Niedersächsische Residenzstädte im 17. und 18. Jahrhundert ...... 73 Ein Universalgelehrter in der Provinz - Gottfried Wilhelm Leibniz...... 78 Merkantilismus und Wirtschaftsmodernisierung ...... 80 Der als europäischer Wirtschaftsraum ...... 82 Aufklärung und moderne Bildung ...... 83 Beginn der agrarischen Modernisierung - die Celler Landwirtschaftsgesellschaft ...... 87 Revolution im Kleinstaat? Der schaumburg-lippische Bauernaufstand...... 88 Menschen in Stadt und Land ...... 91 Regionen in Niedersachsen - Mithalten durch Imitation...... 92

Nachholen (19. Jahrhundert) ...... 96 Napoleonische Zeit - Innovationen und Zusammenbrüche...... 96 Agrarreformen...... 98 Restitution der alten politischen Ordnung - die „Göttinger Sieben” ...... 101 Revolution 1848 – das Beispiel Oldenburg...... 102 Massenarmut und Auswanderung...... 103 Eisenbahnen ...... 106 Preußen in Niedersachsen ...... 106 Industrialisierung und Urbanisierung – das Beispiel Hannover ...... 108 Regionen in Niedersachsen – Nachholen zwischen Identität und Zivilisationskritik ...... 112

Konkurrieren (20. Jahrhundert) ...... 115 Nach dem Ersten Weltkrieg - neue Politische Systeme ...... 115 Wenig golden - die zwanziger Jahre ...... 116 Blut, Boden und Zerstörung...... 119 Kontinuität zwischen Zusammenbruch und Neuanfang ...... 123 Konkurrieren - Beharrung versus Modernität...... 128

Zukunftspotentiale im historischen Gefüge ...... 133

Literaturhinweise ...... 136 Ausgewählte Internetseiten ...... 141 Abbildungsnachweise ...... 142 Kurzvita ...... 143 7

Vorwort

In den letzten drei Jahrzehnten ist eine reichbar. Um nicht nur knappe Überblicke Fülle von landes- und regionalgeschicht- zu geben, wird eine gemischte Dar- licher Fachliteratur über Niedersachsen und stellungsweise gewählt, die Zusammen- seine Landesteile entstanden. Große, de- hänge vermitteln möchte und zusätzlich tailreiche Übersichtswerke stehen neben konkretisierende Beispiele anbietet. Die tiefschürfenden Einzelstudien. Schwer- Auswahl ist zwangsläufig abhängig von punkt der Forschung ist mittlerweile die den wissenschaftlichen Interessen und neue und neueste Geschichte. Daher ist es Defiziten des Autors. an der Zeit, einmal mehr in einem politisch Für kritische Anregungen, wertvolle bildenden Sachbuch einen Überblick zur Hinweise und Hilfe danke ich: Mareile Geschichte Niedersachsens zu liefern und Bernard, Dr. Manfred von Boetticher, Julia dabei die offensichtlich große Bedeutung Borchers, Gerburg Brückner, Dorothea der mittelalterlichen und der frühneuzeit- Hauptmeyer, Peter Hoffmann und Dr. lichen Geschichte sowie den Stellenwert Hans Otte. der externen ökonomischen Kräfte hervor- zuheben. Eine thematische, regionale und zeit- Hannover, im Januar 2004, liche Vollständigkeit ist hierbei nicht er- Carl-Hans Hauptmeyer 8 Aktuelle Herausforderungen Aktuelle Herausforderungen

Chancen und Probleme Entwicklungspotentiale Niedersachsens sind über Jahrhunderte immer wieder von Heimat in Niedersachsen ist keinesfalls nur nachholender Modernisierung oder Kon- mit Fachwerkbauernhaus samt „Groot kurrenzfähigkeit durch Imitation geprägt Dör“ und gekreuzten Pferdeköpfen oder gewesen. Charakteristisch für Nieder- Grünkohl mit Wurst zu verbinden, sei sachsen ist im interregionalen Vergleich diese nun Pinkel oder Brägenwurst, son- die hohe Stabilität sozialer Milieus und dern ebenso mit dem Veranstaltungspark eine Langlebigkeit regionaler Identitäten. „Autostadt Wolfsburg“ oder dem türki- Damit verbunden sind eine große Ein- schen Döner-Lokal am kleinstädtischen flussnahme öffentlicher Institutionen und Marktplatz. Das vorherrschend lutherische eine aus relativer Rückständigkeit Lehren ziehende Zukunftsorientierung, die Ent- Niedersachsen hat heute nicht nur calvini- wicklungssprünge ermöglicht. stische und römisch-katholische Minder- Nicht verlässlich geklärt ist eine Fülle heiten, sondern auch russisch- orthodoxe von Fragen: Warum verändern sich manche und muslimische. Niedersachsen ist seit Regionen rasch? Warum verharren andere? seiner Gründung nach dem Zweiten Welt- Warum bedeutet finanzielle regionale krieg ein Zuwanderungsland. Um 1950 Förderung nicht zwangsläufig Wachstum? waren über 2 Millionen Menschen als Wie wird Wandel ausgelöst? Worauf beru- Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus hen die oft jahrhundertelangen Kontinu- Ost- und Mitteldeutschland in Niedersach- itäten? Unter welchen Umständen kommt sen neu ansässig. Neben den deutsch- es zu Brüchen? Bedarf es zur flexiblen re- stämmigen Zuwanderern der jüngsten gionalen Entwicklung generell starker re- Zeit aus Osteuropa lebt heute ca. eine gionaler Bindungselemente zwischen den halbe Million Ausländerinnen und Aus- Menschen? Lässt sich durch öffentliche länder in Niedersachsen. Arbeitsmigran- Stärken-Schwächen-Diskussionen binnen ten der 1960er Jahre aus Süd- und Süd- kurzem regionales Bewusstsein konstruie- osteuropa sehen nun bereits ihre Groß- ren? Auf welche Elemente der Vernetzung kinder in Niedersachsen aufwachsen. von wirtschaftlichen und nichtwirtschaft- Niedersachsen verändert sich, den- lichen Aktivitäten muss in einer Region noch bleibt das Land langdauernd, trotz zurückgegriffen werden, um neue Entwick- vieler kleiner Erfolge, wirtschaftlich hinter lungsschübe anzuregen? Wie lässt sich bei den ökonomischen Zentren des deut- zurückweichendem staatlichen Einfluss schen Südwestens zurück. Wirtschafts- eine zerstörerische Konkurrenz der Re- wissenschaftliche Modelle können un- gionen verhindern? Können aus der gleichzeitige historische Regionalent- tradierten, charakteristisch mitteleuropäi- wicklungen nicht mehr zureichend deu- schen Qualität des Kleinteiligen Anhalts- ten. Finanzielle Förderung einer Region punkte für soziale Integrationsprozesse in garantiert dort keinesfalls wirtschaftliches den expandierenden Megazentren der Welt Wachstum. Soziale Milieus, regionale gewonnen werden? Identitäten und Mentalitäten rücken Zentral für regionale Entwicklungs- zunehmend in das Interesse von Wissen- prozesse ist es, in Zukunft auf diese Fragen schaft, Planung und Politik. Die regionalen Antworten zu finden und zu klären, ob die Aktuelle Herausforderungen 9

Globalisierung Chancen für eigenständige freiwilligen Bürgerengagements laut, wird regionale Entwicklungen schafft oder nur an örtliche und regionale Identitäten an- regionale Handlungsspielräume für Re- geknüpft und steigt das Bemühen, aktionen belässt. Überall drängt die Heimat als Entwicklungspotential zu be- Anpassung der Wirtschaftsstrukturen und greifen. Der führende amerikanische -entwicklungen an Globalisierungspro- Wirtschaftshistoriker Jeffrey Williamson zesse und steht oft im Widerspruch zum von der Harvard Universität stellt an der als ebenso dringend angesehenen Schutz Entwicklung der Einkommenssituation in der Umwelt und der behutsamen Nut- Europa seit Ausgang des 19. Jahrhunderts zung der Naturpotentiale. Gerade im keine wesentlichen großräumigen Verän- Durchgangsland Niedersachsen erscheint derungen fest, also ausgerechnet für jene zum einen der Ausbau der Verkehrs- Zeit, in der wegen der Industrialisierung infrastruktur dringend geboten, während grundsätzliche Veränderungen zu erwar- sich zum anderen in der wirtschaftlich we- ten gewesen wären. Dies verweist auf die niger bedeutenden Fläche die Aufrecht- Notwendigkeit, zur Lösung aktueller erhaltung von öffentlichem Personen- Probleme die langen Linien der Geschich- nahverkehr und die Pflege des Straßen- te zu betrachten und legt nahe, am ehe- systems nicht mehr rechnen. sten innerhalb der kleinteiligen Regionen Gleichwertige Bildungs- und Berufs- statt im großen Zusammenhang Wandel chancen sowie gleichartige Lebens- zu erwarten. qualität in allen Regionen des Landes sind trotz langwährender Regionalförderun- gen keineswegs gegeben. Wenige Stand- Aktuelle Regionalentwicklungen - orte blühen, aber mancherorts, wie im vier Beispiele nördlichen und südlichen ehemaligen Zo- nenrandgebiet, wird dringend nach Zu- Prognosen zeigen, dass die Bevöl- kunftsvisionen gesucht. Landkreise wie kerung Niedersachsens insgesamt abneh- Lüchow-Dannenberg dürften kaum ohne men dürfte, obgleich für die westlichen finanzielle Umverteilung oder den gänz- Landesteile Zunahmen erwartet werden. lich neuen Zuschnitt der kommunalen Ein rechtwinkeliges Dreieck der wirt- Gebiete und Zuständigkeitsbereiche le- schaftlichen Entwicklung zeichnet sich ab. bensfähig bleiben. Zwar wächst weiterhin Die eine Kathete zeigt vom rheinisch- das private Vermögen einer kleinen westfälischen Raum über Bremen hinauf Gruppe von Menschen, und manche gut- nach Hamburg, die andere von Wolfsburg situierte Unternehmen tragen wenig zur über Lüneburg nach Hamburg, die Finanzierung des Gemeinwohls bei, aber Hypotenuse bildet der Städtegürtel von vielerorts droht ein Finanzkollaps und ver- Osnabrück über Hannover bis Wolfsburg. langt die Aufgabenüberprüfung und Neu- Den niedersächsischen Gebieten außer- zuordnung von Tätigkeitsfeldern der Öf- halb und im Kern dieses Dreieckes werden fentlichen Hand. Hatte Niedersachsen große Zukunftsprobleme vorhergesagt, nach dem Zweiten Weltkrieg sehr von Mi- dem Westen Niedersachsens hingegen granten profitiert, so zeigt sich heute eine vom Landkreis bis zum Landkreis Abkapselung einzelner aktueller Zuwan- Rotenburg ein reges Wachstum. Ein Blick derergruppen bis zur Intergrationsun- auf vier ausgewählte niedersächsische willigkeit. Regionen zeigt die gänzlich unterschied- Unter solchen Bedingungen externer lichen Entwicklungsrichtungen. Es wird zu Prägung wird der Ruf nach Stärkung des fragen sein, ob sich dies auf kurzfristige 10 Aktuelle Herausforderungen

Veränderungen oder auf langfristige Das Oldenburger Münsterland ist seit Strukturen zurückführen lässt. Ende des 30-jährigen Krieges ein katho- Traditionell war der im Südwesten des lisches Diaspora-Gebiet. Aus dieser Son- Landes gelegene niedersächsische Teil des dersituation ergab sich nicht zuletzt durch Weserberglands ein ökonomisches Inten- die Auseinandersetzung mit konfessionell sivgebiet. Heute aber haben die Land- abweichenden Obrigkeiten ein ausge- kreise Hameln-Pyrmont, Holzminden und prägtes regionales Selbstbewusstsein. Die Schaumburg erhebliche wirtschaftliche Region sticht bundesweit heraus durch Probleme. Hier leben auf einer Fläche demographische Auffälligkeiten wie hohe von 2.164 km2 409.000 Menschen. Die Kinderzahl und niedrige Scheidungs- Besiedlungsdichte liegt mit 189 Ew/km2 häufigkeit, durch eine produktive Land- deutlich über dem Landesdurchschnitt, wo- wirtschaft sowie ein hohes Wirtschafts- bei diese innerregional von Nord (Schaum- wachstum, das sich auf der Landwirt- burg) nach Süd (Holzminden) abnimmt. schaft vor- und nachgelagerte Bereiche Das Weserbergland ist als Teil des stützt. In der Region werden 7 % der niedersächsischen Berg- und Hügellandes Schweine, 12 % aller Schlacht- und eine altindustrialisierte Region. Gestützt auf Masthühner, 18 % aller Legehennen und regionale Rohstoffvorkommen (u.a. Holz, 27 % aller Puten, Enten und Gänse von Steine und Erden) entwickelten sich hier be- ganz Deutschland gehalten. reits im Mittelalter zahlreiche Gewerbe und Das überproportionale Wachstum ge- hernach frühe Industrien. Im Norden des genüber anderen Regionen ist zum einen Raumes gibt es zudem ein starkes Dienst- aus dem Nachholbedarf zu erklären, der leistungsgewerbe, u.a. im Gesundheitstou- z.B. aus eher geringem Bildungsniveau re- rismus. Der Raum Weserbergland leidet sultiert, zum anderen aus flexiblen heute jedoch unter den Folgen der Struk- Anpassungen an moderne Marktmecha- turkrisen im industriellen Sektor und unter nismen basierend auf hoher sozialer den Einbußen im Gesundheitstourismus. Stabilität. Wichtig ist der Katholizismus, Die teils ungünstige Verkehrslage verstärkt die Langlebigkeit sozialer Milieus, das diese Schwierigkeiten. Gegenwärtig gibt es Bewusstsein von einer spezifischen regio- Bemühungen zur besseren regionalen Ko- nalen Identität (Heimat), die Einfluss- operation und zur Entwicklung von Kon- nahme öffentlicher regionaler Institu- zepten zum Standortmarketing. tionen und eine aus Traditionen Lehren Eine gegenteilige Entwicklung zeigt ziehende Zukunftsorientierung. Die nach- das Oldenburger Münsterland, also die holende Modernisierung beruht auf Nutz- Landkreise Vechta und Cloppenburg. barmachung der endogenen agrarischen Dieser im Westen Niedersachsens zwi- Potentiale bis in Hochtechnologiebe- schen den Städten Oldenburg im Norden reiche. Die regionale Ungleichzeitigkeit und Osnabrück im Süden gelegene Raum ökonomischer, gesellschaftlicher und kul- galt lange Zeit als rückständig, zeigt aber tureller Entwicklungen scheint zumindest während der letzten beiden Jahrzehnte in diesem Fall ein Zukunftspotential zu nächst dem Raum Wolfsburg im nieder- sein. sächsischen Vergleich die relativ höchsten Als der bedeutendste Wachstumsraum Wachstumsquoten. Das Gebiet umfasst Niedersachsens werden in der jüngeren 2.231 km2, in dem 273.000 Menschen le- Statistik die kreisfreie Stadt Wolfsburg ben. Das entspricht einer um 45 Personen und der nördlich angrenzende Landkreis je km2 geringeren Einwohnerdichte als im Gifhorn ausgewiesen. Das Gebiet umfasst übrigen Niedersachsen. bei 292.000 Einwohnern eine Fläche von Aktuelle Herausforderungen 11

Einwohner BIP- Erwerbs- Einwohner Fläche Besied- 2016 BIP 2000 Wachstum tätige Region 30.6.2002 2001 lungsdichte (Prognose) 1992 - 2000 2000

Anzahl km 2 Ew/km2 Anzahl Mio. Euro % 1 000

Hameln- Pyrmont 162 201 796,12 203,7 154 428 3 569 11,4 69,6 Holzminden 80 491 692,47 116,2 76 176 1 784 8,5 32,3 Schaumburg 166 721 675,55 246,8 165 781 3 044 13,0 60,1 Weserraum 409 413 2 164,14 189,2 396 385 8 397 11,4 162,0 Cloppenburg 152 208 1 418,13 107,3 163 707 2 611 36,2 60,9 Vechta 128 885 812,52 158,6 140 636 2 917 56,0 64, Ol.-Münsterland 281 093 2 230,65 126,0 304 343 5 528 46,0 124,9 Gifhorn 173 310 1 562,73 599,0 187 025 2 317 26,5 49,4 Wolfsburg 122 198 204,01 110,9 95 670 8 449 49,2 98,3 Raum Wolfsburg 295 508 1 766,74 167,3 282 695 10 766 43,7 147,7 Hannover, Std. 516 807 204,07 2 532,5 473 574 22 529 20,1 386,7 Umland 606 830 2 086,21 290,9 604 348 11 203 31,4 219,9 Reg. Hannover 1 123 637 2 290,28 490,6 1 077 952 33 732 23,7 606,6

Niedersachsen 7 970 012 47 616,48 167,4 7 889 621 175 809 20,4 3 485,8

Statistische Angaben zu ausgewählten niedersächsischen Regionen Quelle: Niedersächsisches Landesamt für Statistik

1.766 km2. Die Besiedlungsdichte ent- fenbüttel, Peine). Zusätzlich existieren re- spricht nahezu der des Landes, wobei es gionale Kooperationen (z.B. Wolfsburg erhebliche innerregionale Unterschiede AG), die im Zusammenhang mit neuen zwischen der Stadt Wolfsburg und dem Gewerbeansiedlungen sowie neuen direkt angrenzenden südlichen Teil des Sport- und Eventstätten zugleich das kul- Landkreises einerseits und dem dünn be- turelle Angebot stärken. Offenbar ent- siedelten Norden des Landkreises Gifhorn steht auf diese Weise ein neues Wir- andererseits gibt. Gefühl in dieser Region. Wäre 1938 nicht die „Stadt des KdF- Als viertes Beispiel sei auf den Raum Wagens bei Fallersleben“ gegründet wor- Hannover verwiesen. Die mit großen den und hätten sich nicht britische Hoffnungen besetzte EXPO 2000 brachte Offiziere nach dem Zweiten Weltkrieg für einen Innovationsschub vor allem durch einen Fortbestand des Rüstungsbetriebes Infrastrukturinvestitionen, deren langfri- als PKW-Produktionsstätte entschieden, stig Wirkung noch nicht abzusehen ist. bestünde hier ein Durchschnittsgebiet in Die nur teilweise gelungene Nachnutzung der südöstlichen niedersächsischen Geest. des EXPO-Geländes verweist allerdings Nun aber ist Wolfsburg als Sitz des VW- auf große Folgeprobleme. Konzerns Standort des mit Abstand größ- Am 1.11.2001 vereinigten sich der ehe- ten Industrieunternehmens Niedersach- malige Landkreis Hannover sowie die sens. Die Stadt Wolfsburg und der Landeshauptstadt Hannover zur Region Landkreis Gifhorn sind dicht miteinander Hannover. Diese besteht aus der Landes- verflochten, vor allem durch intensive hauptstadt sowie den 20 Städten und Pendlerbeziehungen und durch im Land- Gemeinden ihres unmittelbaren Umlandes. kreis Gifhorn ansässige Zulieferbetriebe In der Region Hannover leben auf einer für das VW-Werk. Eng ist zudem die Fläche von 2.290 km2 insgesamt 1.114.000 Verbindung mit dem Großraum Braun- Menschen. Die Besiedlungsdichte der Re- schweig (Braunschweig, Salzgitter, Wol- gion insgesamt ist mit 487 Einwohnern pro 12 Aktuelle Herausforderungen km2 ungefähr drei Mal so hoch wie im die äußerst günstige Verkehrslage fortan Landesdurchschnitt, wobei diejenige der bis hin zum industriellen Wachstum ge- Landeshauptstadt nach wie vor erheblich nutzt werden konnte. Die Region Hannover höher als die des Umlandes ist. ist die einzige Großstadtregion des Landes. Die Region Hannover ist das politische, Sie hat bundesweite Bedeutung u.a. als kulturelle und wirtschaftliche Zentrum Messeplatz oder als Standort wichtiger Un- Niedersachsens. Hier befinden sich 14 % ternehmen und Institutionen im Dienst- der Einwohner und 17 % der Arbeitsplätze leistungsbereich sowie in Wissenschaft und Niedersachsens, hier werden 19 % der Forschung. wirtschaftlichen Leistung des Landes er- Die ausgewählten Entwicklungen und bracht. Zwischen der Stadt und ihrem Um- Probleme zeigen einerseits, dass die in land existieren intensive funktionale Bezie- Niedersachsen zukünftig zu beschreiten- hungen (Pendler, Wanderungen, Verkehr), den Wege keinesfalls einheitlich sein kön- wobei es einen klaren Trend gibt: Ein- nen. Andererseits werden die bekannten wohner und Arbeitsplätze gehen der Kern- Schwierigkeiten des Landes in einer auf stadt verloren und wandern ins Umland ab. Wirtschaftswachstum ausgelegten glo- Die Bildung der Region Hannover ist der balisierten Vernetzung deutlich. Aus der Versuch, auf die nur noch im Verbund zu lö- Geschichte lassen sich für solche Probleme senden Probleme eine politische Antwort nicht einfache Antworten finden. Wohl zu geben. aber vermag mit einem Blick auf die Für die im Mittelalter nur durchschnittli- Geschichte das vorhandene Potential für che Stadt brachte die Erhebung zur welfi- zukünftige Entwicklungen ausgelotet zu schen Residenz 1636 einen Schub, mit dem werden.

Raum und Geschichte

Tradition und Gegenwart schen Zeiträumen, gleichsam Konstanten der Geschichte. Strukturen der Herrschaft Heutige Gegebenheiten sind Ergebnisse und Gesellschaft oder die Mentalitäten historischer Prozesse und Strukturen, der regionalen sozialen Gruppen verän- gleichgültig ob diese von außen einwirken dern sich gemächlich, Brüche sind selten. oder im Innern entstehen. Wer freilich Nur an der Oberfläche der Geschichte heutzutage in Wirtschaft, Verwaltung flackert das alltägliche Geschäft. Die Ge- oder Politik erfolgreich sein möchte, wirft schichtswissenschaft ermittelt, beschreibt das Hergebrachte über Bord, ist kreativ, in- und interpretiert diese Veränderungen, novativ und will modernisieren. Dies ist und sie erklärt Kontinuität oder Wandel. nur das übliche Auf und Ab in kurzen Diese Überlegungen auf den nieder- Schwingungen. Die schnelllebigen Ereig- sächsischen Raum bezogen zeigen in nisse geschehen vielmehr in tradierten einem Vergleich der heutigen Bevölke- Strukturen. Die Handlungsspielräume sind rungsdichte Deutschlands rasch, dass ak- begrenzt. Geschichte verläuft für einzelne tuelle Interpretationen erst durch histori- Sachverhalte nebeneinander in ganz sche Erörterung Tiefe erlangen. Wer nur unterschiedlichen Phasen. Klima und auf die großräumige Einordnung schaut, Landschaft sind, gemessen an histori- wird anhand der zentralen Lage Nieder- Raum und Geschichte 13 sachsens in Europa auch eine zentrale angedeuteten regionalen Ungleichheiten. Rolle Niedersachsens in Europa vermuten. Der dicht besiedelte Ost-West-Gürtel von Dies war und ist aber nicht so. Das von der Wolfsburg im Osten bis Göttingen im Fläche her zweitgrößte Bundesland liegt Süden und Osnabrück im Westen hebt nur an vierter Stelle der Bevölkerungszahl sich klar vom dünnbesiedelten Norden ab, und der Wirtschaftsleistung unter den 16 in dem Bremen und vorrangig Hamburg Ländern. Niedersachsen hat, simpel aus- als insulare Zentren liegen. gedrückt, mehr als der Osten Deutsch- Bei einer historischen Interpretation ei- lands, aber weniger als der Süden. ner Karte der Bevölkerungsdichte kann zurückgegriffen werden bis auf die Spätantike. Der Limes, der das römische Niedersachsen in Deutschland - Reich von Germanien trennte, zeichnet heutige Bevölkerungsstruktur sich noch heute ab. Im damals römischen in historischer Dimension südwestlichen Teil Deutschlands ist auch aktuell die Bevölkerungsdichte höher. Die jüngere Bevölkerungsverteilung Reichte die Karte weiter, so ließe sich die der Bundesrepublik Deutschland belegt so genannte „EU-Banane“ erkennen, je- speziell für Niedersachsen die eingangs ner hoch entwickelte Bereich Europas, der

Eine Karte der aktuellen Bevölke- rungsdichte Deutschlands zeigt von Südwesten nach Nordosten Leitlinien der regionalen histori- schen Entwicklung. 14 Raum und Geschichte sich von Oberitalien bis nach Südengland Innerhalb dieser groben historischen erstreckt und bereits in der Spätantike Interpretation einer aktuellen Bevöl- herausragende wirtschaftliche Bedeutung kerungsdichtekarte Deutschlands wird nördlich des Mittelmeerraumes besaß. deutlich, dass die für den niedersächsi- Erst vor 1200 Jahren, zur Zeit Karls des schen Raum wirksamen interregionalen Großen, wurde der niedersächsische Disparitäten im Wesentlichen bereits im Raum missioniert und in das, antike Ge- Mittelalter feststanden. Selbst die Industri- danken mit christlichen Argumenten mi- alisierung fand hier nicht in Gebieten schende, geistige Geflecht Europas inte- neuer Rohstoffgewinnung statt, sondern griert. Der deutsche Süd-Nord-Unter- vorrangig in bereits dichter besiedelten schied hat seine Ursprünge in der Spät- Zonen. Der niedersächsische Raum lag antike und im frühen Mittelalter. im frühen Mittelalter am nordöstlichen Als zweite historische Phase bildet die Rand der europäischen Wirtschafts- Bevölkerungsdichtekarte die Zeit der Han- zentren West- und Südeuropas. Im Hoch- dels-Expansion und des Städtewachstums und Spätmittelalter rückte Niedersachsen im hohen Mittelalter ab. Im Rahmen der in die Mitte zwischen die ökonomisch Ostexpansion und Ostkolonisation wur- hoch entwickelten Landschaften Oberita- den landwirtschaftliche Modernisierung liens, Süddeutschlands oder Flanderns und entwickeltes Städtewesen in den und die vom europäischen Handel erreich- Norden und Osten Mitteleuropas impor- ten Randzonen Skandinaviens und Osteu- tiert, doch im Nordosten nicht im gleichen ropas. Diese Mittellage blieb in der frühen Maße wie im Süden und Westen verwirk- Neuzeit erhalten, wurde aber von der sich licht. Die Grundzüge des deutschen Ost- rasch ausweitenden Kluft zwischen West- West-Gegensatzes gehen bis auf das hohe und Osteuropa überformt. Während Mittelalter zurück. der Hauptindustrialisierungsphase seit der Diese regionale Grundgliederung wur- Mitte des 19. Jahrhunderts holte Deutsch- de in der frühen Neuzeit stabilisiert, doch land den wirtschaftlichen Rückstand ge- traten im Rahmen der Westverlagerung des genüber den Zentren im Westen auf. Handels nach 1500 neue interne Zentren Innerhalb des deutschen Wirtschafts- hinzu, die ebenfalls in der Bevölkerungs- raumes stand Niedersachsen allerdings dichtekarte dargestellt werden. Hier sind stets hinter den ökonomisch bestimmen- zunächst die von der Handelsexpansion den Gebieten zurück, auch wenn es in- profitierenden neuen Metropolen wie terne Zentren besaß und besitzt. Hamburg oder Leipzig zu nennen. Sodann sind die Hauptorte der Territorien zu beach- ten, die nicht direkt am neuen Wirt- Niedersachsen – Land und Name schaftssystem Anteil hatten und daher auf staatlicher Ebene Modernisierung betrie- Niedersachsen ist Teil der westlichen, ben: am wichtigsten Berlin, aber auch Dres- modernen, international verfochtenen den oder München. Darüber hinaus sind Welt, gehört aber nicht zu den ökono- exportorientierte Bergbau- und Gewerbe- misch führenden Ländern der Bundes- landschaften wie Sachsen hervorzuheben. republik Deutschland. Das Bundesland ist Aus der Industrialisierungsphase des 19. mit ca. 47.500 km2 Fläche größer als Jahrhunderts belegt die Bevölkerungs- Belgien, als die Schweiz, als die Nieder- dichtekarte schließlich die Industrialisierung lande oder als Dänemark. Die Einwohner- auf Kohle und Eisen am Beispiel des Ruhr- zahl von knapp 8 Millionen reicht nahezu gebietes. an diejenige Schwedens oder Österreichs Raum und Geschichte 15

Niedersachsen liegt zentral im europäischen Raum. heran und übertrifft diejenige Nor- vordem preußischen Provinz Hannover wegens, Finnlands, Dänemarks oder der geschaffen. Diese alten Länder und deren Schweiz. Landesteile besitzen langwährende, ei- Dieses im europäischen Kontext kei- genständige Traditionen, die in Nieder- nesfalls bedeutungslose Land der Bundes- sachsen bis heute die regionale Vielfalt republik entstand als ein Ergebnis der po- prägen. litischen Neuordnung Deutschlands nach Dennoch wird häufig auf „die“ Nie- dem Zweiten Weltkrieg. Mit der Verord- dersachsen hingewiesen, die sturmfest nung Nr. 55 der britischen Militärre- und erdverwachsen seien, so wie sie das gierung vom November 1946 wurde es Niedersachsenlied benennt. Auch wird aus den Ländern Oldenburg, Schaum- gern der über hundert Jahre alte Vers von burg-Lippe und Braunschweig sowie der den Eichen, die, solange sie in alter Kraft 16 Raum und Geschichte um Hof und Haus wüchsen, offensichtlich gang des 12. Jahrhunderts als Wappen er- verhindern sollten, dass in Niedersachsen scheint und 1361 auf einem Siegel eines „die alte Stammesart“ aussterbe. Der Ver- Welfenherzogs auftaucht. Auf diese Weise such, von der Abstammung her für die Zeit versuchten die Welfen den Anspruch auf von der Spätantike bis in unsere Tage eine die Vormachtstellung ihres Hauses im Einheitlichkeit des menschlichen Verhaltens Gebiet des alten Stammesherzogtums zu im Gebiet des heutigen Niedersachsens zu dokumentieren. Damit konnte der Eindruck konstruieren, führt allerdings in die Irre. Es erweckt werden, es handele sich um das gab im frühen Mittelalter zwei Stämme, Wappen des alten Herzogtums, obwohl nämlich im Nordwesten die Friesen und im dies noch keine Wappen gekannt hatte. Süden, in der Mitte sowie im Osten die Darüber hinaus trug die „Sachsenchronik“ Sachsen. Zumindest seit der frühmittelalter- von 1492 zur weiteren Verbreitung des lichen Ansiedlung im nordwestdeutschen Sachsenrosses bei. Hier wurde fälschlich be- Raum teilten sich die Sachsen zudem in ver- hauptet, das Pferdewappen gehe auf den schiedene regionale Stammesverbände auf, sächsischen Herzog Widukind (Ende 8. deren Trennung sich schematisch für den Jahrhundert) zurück, denn dessen Taufe niedersächsischen Raum von West nach Ost habe aus dem schwarzen, dem heidnischen in Westfalen, Engern und Ostfalen be- Ross, ein weißes, ein christliches, werden schreiben lässt. lassen. Jene frühmittelalterliche Dominanz Seit dem 13. Jahrhundert prägte der sächsischer bzw. friesischer Bevölkerung schriftlich zusammgefasste „Sachsen- hat sich bis in das 20. Jahrhundert hinein spiegel“ das Recht im Gebiet von Ems und nur graduell verändert. Zu denken ist hier- Ruhr bis zur Elbe. Gern wird auch die bei an die teilweise slawische Besiedlung hochdeutsche Lautverschiebung im 16. des östlichen Niedersachsens im Mittelalter, Jahrhundert als Beispiel für Tradition und an die zunehmende jüdische Bevölkerung Einheitlichkeit genutzt. P, t und k wurden der größeren spätmittelalterlichen Städte, in der Alltagssprache des Nordens eben an Flamen oder Holländer in hochmittel- nicht zu pf, ts und ch. Aber die Ver- alterlichen Gründungsdörfern. In der frü- breitung der plattdeutschen Sprache gilt hen Neuzeit kamen Hugenotten, Salzbur- ebenso für Schleswig-Holstein, Meck- ger oder obersächsische Bergarbeiter hin- lenburg oder den westfälischen Teil zu, im 19. Jahrhundert ost- und ostmittel- Nordrhein-Westfalens. Sofern Trennendes europäische Landwirtschaftsarbeiter. Die hieran deutlich werden sollte, dann die wesentliche Bevölkerungsveränderung trat lange währende Differenzierung zwischen nach dem Zweiten Weltkrieg ein, als sich Oberdeutschland und Niederdeutschland. weit mehr als 2 Millionen Menschen in Zudem gab es den Begriff Nieder- Niedersachsen niederließen: als Heimat- sachsen bis zum 14. Jahrhundert nicht. vertriebene und Flüchtlinge, als Übersiedler Denn die lockeren Stammesverbände der aus der DDR, als Arbeitskräfte aus dem me- Friesen und Sachsen nahmen getrennte diterranen Raum und jüngst als aus Ost- Entwicklungen. Erst den Cirksena gelang europa Hinzuziehende. es im 15. Jahrhundert in (Ost-)friesland Um Einheitliches in Niedersachsen zu eine dominierende Stellung über konkur- verlangen, müssen Hilfskonstruktionen ge- rierende Herren, Klöster und Großbauern baut werden. Das Pferd wurde als Lan- zu erreichen. Für das sächsische Stammes- deswappen erst 1952 festgelegt, wenn- gebiet erwies sich die teils gewaltsame gleich es an sächsischen Stammesmythos Christianisierung zur Zeit Karls des Großen anknüpft, im Stader Raum schon am Aus- als bedeutungsvoll. Zum einen wurden Raum und Geschichte 17

Bistümer gegründet, die speziell für die Kompetenzerweiterungen der Territorial- territoriale Ordnung der nächsten Jahr- fürsten brach. Immerhin stammt aber aus hunderte wichtig wurden, zum anderen jener Zeit die Gewohnheit, mit dem gelangten neue Herrscherfamilien in her- Begriff Niedersachsen überterritoriale Zu- ausragende Positionen, voran schließlich sammenschlüsse zu bezeichnen. Ein gutes die Welfen. Doch selbst Heinrich dem Lö- Beispiel ist der 1835 gegründeten „His- wen glückte es im 12. Jahrhundert nicht, torischen Verein für Niedersachsen“. die verschiedenen räumlichen Herrschaf- Seit der frühen Neuzeit zeigte sich die ten zu einen. zunehmende Verbindung des Nieder- Als 1354 die Reichskanzlei erstmalig sachsenbegriffes mit dem welfischen Ho- den Nordwesten bis nach Vorpommern heitsgebiet wegen der wachsenden Be- mit dem Begriff „saxonia inferior“ ab- deutung der Welfen als Territorialfürsten im grenzte („niederes Sachsen“), diente dies Gebiet des niedersächsischen Reichs- nur der Unterscheidung gegenüber dem- kreises. Den letzten Anstoß gab die An- jenigen Teil Mitteldeutschlands, den wir nexion des Königreichs Hannover durch heute als Sachsen benennen. Ursache Preußen 1866. Wenn es nicht mehr oppor- war, dass das Recht, den deutschen König tun erschien, Begriffe, die an die Welfen er- zu wählen, die Kurwürde also, nicht etwa innerten, zu verwenden, bedienten sich vor den Nachfahren des Welfen Heinrich des allem die Preußenskeptiker des Begriffs Löwen zustand, sondern den konkurrie- Niedersachsen. Die am Ende des letzten renden Askaniern und hier speziell den Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung Wittenbergern. Als diese ausstarben, fiel gewinnende Heimatbewegung tat ihr übri- die Kurwürde 1422 an die Markgrafen ges. Man entsann sich des alten Sammel- von Meißen, die Wettiner, sie wanderte begriffs Niedersachsen, um primär auf das gleichsam nach Osten und führte zur Be- hiesige bäuerliche Element hinzuweisen, zeichnung des südostdeutschen Raumes das es gegen Verstädterung und Prole- als (Ober-)Sachsen. tarisierung zu schützen und als gesell- Erst als am Ende des 15. Jahrhunderts schaftliches Vorbild zu pflegen gälte. die Idee einer grundsätzlichen Reichs- Die gerade seit den 1920er Jahren um reform gedieh und die Hoffnung keimte, den Geographen Kurt Brüning gedeihen- einen Ausgleich zwischen aufstrebenden den Forschungen zur wirtschaftlichen Territorialfürsten und kaiserlicher Ober- Entwicklung zeigten dazu manche Ver- hoheit zu finden, wurde der Name flechtungen auf dem Gebiet des heutigen Niedersachsen 1512 schließlich verstetigt, Niedersachsens. Brüning selbst legte und zwar als Bezeichnung für einen der Denkschriften vor, die ein Niedersachsen Reichskreise. Dieser „niedersächsische unter Einschluss u.a. beider Teile Schaum- Reichskreis“ ließ allerdings Gebiete des burgs und Lippes für sinnvoll hielten. Das heutigen Niedersachsens im Westen aus, Bundesland Niedersachsen hat zwar keine z.B. die Grafschaft Schaumburg, und tiefen historischen Wurzeln, entstand reichte im Osten bis in die Altmark und 1946 jedoch keineswegs aus dem Nichts. nach Mecklenburg. Anders als dem schwäbischen oder dem fränkischen Reichskreis, in denen dominierende Terri- Naturpotential und Geschichte torialfürsten rar waren, gelang es dem bis zur Auflösung des Alten Reiches 1806 Eine natürliche landschaftliche Ab- bestehenden Niedersächsischen Reichs- grenzung Niedersachsens gibt es, sieht kreis nie, eine Macht zu erreichen, die man einmal vom Küstensaum ab, ebenso 18 Raum und Geschichte wenig wie eine bevölkerungsbezogene. wichtig. Die wesentlichen Landschafts- Dies macht deutlich, wie sehr die Raum- typen sind: die Marsch des Küstensaumes abgrenzung von den territorialen und und der Mündungsgebiete von Ems, staatlichen Entwicklungen abhing. Weser und Elbe; die Geest samt ihren Bis auf das Hochgebirge umfasst Mooren und den Urstromtälern der Elbe Niedersachsen alle Landschaftstypen, die und Aller-Weser; die Lößbörden; das Berg- in Mitteleuropa vorkommen. Das Natur- und Hügelland mit dem Westharz als potential, in dem sich menschliche Gesell- Mittelgebirge. schaften je nach ihrer Entwicklungsstufe Von dem Naturpotential, das den entfalten konnten, ist demnach äußerst Menschen zur Verfügung stand, gewähr- vielfältig. Prägend für die Differenzierung ten die ohnehin eher raren Bodenschätze der Landwirtschaft, die wesentlich abhän- bis weit in die Neuzeit geringe wirtschaft- giger von den naturräumlichen Voraus- liche Anreize, mussten sie doch sehr ober- setzungen war als heute, wirkten die flächennah anstehen, um unter den Bodennutzungsmöglichkeiten. Für die ge- mittelalterlichen Bedingungen genutzt werblichen Entwicklungen waren Roh- werden zu können. Die Erze des Rammels- stoff- sowie Energievorkommen und für berges und das Salz Lüneburgs bildeten den Handel günstige Verkehrssituationen Ausnahmen, die für die wirtschaftliche

Marsch, Geest, Lößbörde und Berg- und Hügelland sind die wichtigen Landschaften Niedersachsens. Raum und Geschichte 19

Bedeutung des mittelalterlichen Nieder- Hügelland, und für eine industrielle Ex- sachsens Höhepunkte setzten. Vereinzelt pansion der verkehrsgünstig am Nord- wurde im Berg- und Hügelland oder in der rand des Berg- und Hügellandes und im Geest (Raseneisenstein) Eisen gewonnen. fruchtbaren Ackerbaugebiet gelegenen Holz und Holzkohle waren leichter zu- Städte von Osnabrück über Hannover bis gängliche Brennstoffe. Torf zum Heizen, Braunschweig. Hinzu trat gerade in die- Ton zur Töpferei und zur Backsteinher- sem Raum um 1900 die Möglichkeit, die stellung, Kalke, Sande oder Steine zum Kalisalze des Zechsteins auch in größeren Bauen standen nicht in allen Land- Tiefen abzubauen, wodurch Niedersach- strichen, vergleichsweise aber an vielen sen bis zum Ausgang des 20. Jahrhun- Orten zur Verfügung. Nur im „Pötjerland“ derts ein wichtiger Bergbaustandort blieb. - zwischen Weser und östlich und Bis heute haben Braunkohletagebau bei nördlich des Sollings - gewannen die Ton- Helmstedt, zunächst Erdöl- und sodann warenherstellung und im selber Erdgasförderung in der Geest, Erdgasge- die Glasproduktion am Ausgang des Mit- winnung mittlerweile gar im Offshore- telalters eine gewisse überregionale Be- betrieb der Nordsee und Zementher- deutung. Neben der Landwirtschaft und stellung auf Mergelbasis insbesondere den direkt Landwirtschaftsgebundenen östlich Hannovers ihre Kontinuität be- Nahrungsmittelgewerben hing die Mehr- wahrt. Hingegen wurden der Kalibergbau zahl der übrigen Produktionsbereiche we- drastisch reduziert und der Steinkohle- niger von hiesigen Bodenschätzen als von abbau sowie die seit der Mitte des 19. forst- und landwirtschaftlich erzeugten Jahrhunderts noch einmal kräftig prospe- Rohstoffen ab, wie Holz (als Bau-, Werk- riende Erzgewinnung im Harz eingestellt. und Brennstoff), Viehprodukten (auch So bleiben vom Naturpotential als wich- Knochen, Felle) oder Gewerbepflanzen tige Basis die günstigen Verkehrsdurch- (insbesondere Lein). Insgesamt weist das gangslagen im Binnenland und die Ver- Naturpotential Niedersachsen ein in erster kehrsvorteile der Küste sowie die großen Linie landwirtschaftliche und im Übrigen weiterhin land- und forstwirtschaftlich auf Verkehrsdurchgang und weniger auf genutzten Flächen mit ihren besonderen Gewerbe und originären Handel bezo- Möglichkeiten für Naturschutz und Tou- gene Funktionen zu. rismus. Wichtige Vorbereitungen für gra- duelle Veränderungen wurden in den frühneuzeitlichen Territorialstaaten ge- Stufen der kulturlandschaftlichen troffen. Mit der breiten Nutzung der Entwicklung Erzvorkommen im Oberharz gedieh der Westharz zu einer wichtigen europäi- Die heutige Kulturlandschaft erhielt schen Montanregion des 17. und 18. ihre Prägung seit dem Übergang jungstein- Jahrhunderts. Auch wurden die Stein- zeitlicher Siedler zur Landwirtschaft. Ro- kohlevorkommen am nördlichen Rand dungen und Wiederbewaldungen sind des Berg- und Hügellandes mehr und allerdings bis in die Zeit zum Ende des er- mehr zum Brennen von Kalk oder zum sten nachchristlichen Jahrtausends in Befeuern von Schmieden genutzt. Dies der Fläche kaum nachzuvollziehen. Das schuf die Basis für eine kleinteilige und nachfolgende allmähliche Bevölkerungs- auf den vorhandenen Rohstoffen (z.B. As- wachstum führte zur Ausdehnung des Alt- phalt, Sand zur Glasherstellung) aufbau- siedellandes über die Inseln besserer Geest- ende Industrialisierung im Berg- und böden und leichter zu bearbeitender 20 Raum und Geschichte

Die vier Stufen der Siedlungsentwicklung im Bereich der Bortfelder Sandlößplatte nordwestlich von Braunschweig zeigen die charakteristischen Veränderungen der ländlichen Kulturlandschaft vor den Agrarreformen.

Böden in der Börde und im Hügelland hin- Holz für das Salzsieden benötigt wurden. aus. Die Ortsnamen auf –rode oder –hagen Um 1300 war die bewaldete Fläche gerin- verraten noch heute den Landesausbau des ger als heute. In der Geest bei Lüneburg hohen Mittelalters. Im Hannoverschen trugen Schafhaltung und Abschlagen des Wendland entstanden die Vorformen der humosen Bodenhorizontes zur Verbes- Rundlinge als charakteristische Siedlungs- serung der kargen Felder (Plaggendün- form im Durchmischungsgebiet slawisch- gung) dazu bei, dass ein großes Gebiet ver- sächsischer Bevölkerung. heidete (Lüneburger Heide). Der Waldbe- Die bis dahin kleinen zentralen Orte stand im Harz konnte sich seit Mitte des 14. gediehen zu Städten, neue Städte wurden Jahrhunderts nur erholen, weil Bergbau gegründet. Dort, wo nunmehr Rohstoffe und Hüttenwesen aus Brennstoffmangel mit hohem Energieaufwand verarbeitet und wegen des Bevölkerungsrückganges in wurden, schritt die Entwaldung besonders eine tiefe Krise gerieten. rasch voran. Dies gilt für den Harz um die Lagen in der Marsch die Siedlungen Hüttenplätze bei Goslar ebenso wie für den anfangs wie, teils künstlich geschaffene, Raum um Lüneburg, wo große Mengen Inseln (Warften und Wurten) im Über- Raum und Geschichte 21 schwemmungsgebiet der Küste und der der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Flussmündungen, so entstanden in der zu einer Bergbaulandschaft von europäi- Zeit nach 1000 Ringdeiche und bald scher Bedeutung, die das Umland einbe- ganze Deichlinien. Diese waren auch drin- zog. Im Westen Niedersachsens began- gend notwendig, um die mit Meeres- nen die Moorkolonisation mit Anlage so spiegelanstieg und Absinken des Landes genannter Fehnkolonien und die Landge- einhergehenden schweren Flutschäden winnung durch Einpolderung am Meer. zu dämmen. Dennoch fielen gerade im Nachhaltig wurde das Landschaftsbild 14. Jahrhundert große Siedlungsbereiche, jedoch erst durch die Agrarreformen ver- z.B. im Jadebusen, dem Meer zum Opfer. ändert, die am Ausgang des 18. Jahr- Die erste prägende Phase der Kultur- hunderts begannen und teils ein Jahr- landschaftsentwicklung neigte sich ab hundert lang währten. Statt vieler langer, 1300 ohnehin dem Ende zu, da die Bevöl- schmaler Besitzparzellen dominierten nun kerungszahl gemessen an den Ernäh- rechteckige Felder die Agrarflächen. Große rungsmöglichkeiten und dem Güteraus- Heidegebiete wurden, oft mit der schnell- tausch zu groß geworden war. Land- wachsenden Kiefer, planmäßig wiederbe- wirtschaftliche Grenzertragsgebiete wur- waldet, bisherige zur Weidewirtschaft den bis ca. 1450 aufgegeben und bewal- genutzte Wälder wurden Forsten. Der deten erneut. Auch in den übrigen zunehmende Maschineneinsatz in der Gebieten konzentrierten sich die Sied- Moorkultivierung verringerte die weiten lungen auf wesentlich weniger Plätze, Feuchtgebiete in Niedersachsen bis zur und viele Fluren wurden brachgelassen Mitte des 20. Jahrhunderts auf ein Mini- (Orts- und Flurwüstungen). Infolge dieser mum. Mit der Industrialisierung wuchsen so genannten Wüstungsphase bildet sich etliche Städte rasch in die Fläche hinein, der Siedlungsausbau des hohen Mittel- wenngleich der urbanisierte Raum in Nie- alters heute nur noch bedingt in der dersachsen zunächst vergleichsweise klein Kulturlandschaft ab. blieb. Eisenbahnlinien und Kanäle legten Als die Bevölkerung seit der Mitte des Schneisen in die Landschaft. Großflächige 15. Jahrhunderts für erneut ca. 150 Jahre Felder, trockengelegte, agrarisch genutzte wieder wuchs, standen anders als im ehemalige Moore besonders im Nord- Hochmittelalter kaum mehr Gebiete zur westen, die aufgeforsteten Heiden und die Verfügung, die mit einfachen Mitteln hät- Ballungsgebiete um die Stadtkerne gestal- ten urbar gemacht werden können oder ten die Kulturlandschaft seit Agrarre- als Wälder und Heiden nicht bereits wich- formen und Industrialisierung. tige Ergänzungsareale für Landwirtschaft Diese agrarisch geprägte, von urbani- und Gewerbe waren. Daher blieben sierten Inseln unterbrochene Kulturland- die kulturlandschaftlichen Veränderungen schaft wurde noch einmal innerhalb der zunächst gering, vielmehr wurden die ge- letzten 50 Jahre verändert. Die zunehmend nutzten Bereiche intensiviert. Anders war mechanisierte Landwirtschaft benötigte dies, als die erneute Bevölkerungsreduk- immer weniger Arbeitskräfte, zwang zu tion des 17. Jahrhunderts sich dem Ende Hofaufgaben, verlangte nach großen Par- neigte. Nach dem Dreißigjährigen Krieg zellen, asphaltierten Wegen und begradig- nahmen mehr noch als zuvor die Territo- ten Gräben und Bächen. Manche Fehlent- rialfürsten das Heft in die Hand, um wicklungen der Flurbereinigung wurden die Wirtschaft zu fördern. Der den allerdings während der letzten 15 Jahre un- braunschweigischen und hannoverschen ter ökologischen Gesichtspunkten zurück- Welfen gehörende Westharz gedieh seit genommen. Um die Dörfer, vorrangig der 22 Aufbauen (bis um 1500) stadtnahen Regionen, wuchsen rasch Neu- trotz vieler Räume, die für die Zukunft bausiedlungen von Berufspendlern. Die Sorge bereiten, Standort moderner wirt- Städte ihrerseits erschlossen neue Sied- schaftlicher Entwicklung, sei es in der Auto- lungen im Randbereich. Die so genannte mobilindustrie in Wolfsburg, in hochwerti- Suburbanisierung reicht heute tief in den gen Dienstleistungen in Hannover oder in ländlichen Raum. Zugleich wurden ganze der Agrarwirtschaft im Oldenburger Industriezweige aufgegeben, die das Land- Münsterland. schaftsbild prägten, so der Bergbau im Insgesamt zeigt die Kulturlandschaft Harz. Die Expansion der Mobilität, vor allem Niedersachsens zum größeren Teil gleich- des Individualverkehrs, ließ die Verkehrs- wohl ein für Mitteleuropa vergleichsweise flächen drastisch wachsen. Auf diese Weise agrarisches, dörflich und kleinstädtisch ge- gibt es Areale, in denen die menschliche prägtes Bild. Die weiterhin die physiogeo- Nutzung der Landschaft nachlässt, wäh- graphischen Bedingungen widerspiegelnde rend große Gebiete weiterhin umgestaltet Landschaft verweist auf die Leitlinien ihrer werden. Das ökonomisch im Bundesgebiet regionalen Differenzierungen seit dem keineswegs führende Niedersachsen ist Mittelalter.

Historische Entwicklungen und Strukturen Aufbauen (bis um 1500)

Ur- und Frühgeschichte an gibt es auch erste schriftliche Überlie- ferungen. Phasenhaft gab es im niedersächsischen Die frühe Landwirtschaft dürfte keine Raum zwischen den Eiszeiten kleine Jäger- dauerhaft offenen Feldformen und lang- und Sammlergruppen, wie steinzeitliche Funde früher menschlicher Kultur vorran- gig in den Terrassenschottern der Flüsse zeigen. Mit der letzten Eiszeit endete diese Altsteinzeit. Für eine Sesshaftigkeit kommt aber erst die Zeit nach der letzten Eiszeit in Frage, als die Menschen von ei- ner aneignenden zu einer produzierenden Lebensweise übergingen, also als sich auch im Süden Norddeutschlands vor gut 6000 Jahren allmählich der Ackerbau durchsetzte. Archäologische Zeugnisse gehen von da an über Feuersteinmateri- alien oder einfaches Werkzeug weit hin- aus. Namensprägend für diese noch vor- schriftlichen Kulturen bleiben die Leit- fundstücke. Daher werden, in chronologi- scher Reihenfolge, die Kulturen der Band- keramik, der Trichterbecher, der Einzel- gräber, der älteren und jüngeren Bronze- Gut erhalten ist der Grabhügel von Evessen bei zeit sowie der älteren Eisenzeit unter- Wolfenbüttel (Ende 3./Anfang 2. Jahrhundert schieden. Von der römischen Kaiserzeit v. Chr.). Aufbauen (bis um 1500) 23 währenden festen Siedlungsplätze ge- nommen, und Knüppeldämme im Moor kannt haben. Die bandkeramischen Fun- verweisen auf die zunehmende Handels- de konzentrieren sich auf die Lößbörden intensität selbst zwischen entfernteren und das Leinetal der Zeit zwischen 4500 Gebieten. Erstmalig gab es große, perma- und 3200 v. Chr. und deuten neben nent besiedelte und agrarisch genutzte Töpferei auch auf frühe Textilherstellung. Gebiete in Niedersachsen in diesem von Trichterbecher finden sich im Verlauf des den Römern fortan als germanisch ge- dritten vorchristlichen Jahrtausends auch kennzeichneten Gebiet. in der Geest. Beeindruckt haben die spä- teren Menschengenerationen die aus je- ner Zeit herrührenden Großsteingräber. Germanen und Römer, Unter den vielen Theorien, die um jene Altsachsen und Friesen gewoben werden, dürfte zumindest der Hinweis wichtig sein, dass die Gesell- Die Wiege der heutigen europäischen schaft über einzelne Familiengruppen hin- Kultur stand im östlichen Mittelmeerraum. aus organisiert gewesen sein könnte. Für die Griechen war Norddeutschland of- Während der nachfolgenden Einzel- fenbar unbekannte Peripherie. Erst die rö- grabkultur unterschied sich die jeweilige mische Expansion ließ auch dieses Gebiet in Wirtschaftsweise nur wenig. Immerhin das Interesse einer über Schriftlichkeit ver- waren Schwein und Rind domestiziert, fügenden Hochkultur gelangen. Von dort der Hakenpflug verbreitet, die Ernte mit aus betrachtet, war der Norden Mittel- scharfem Feuersteingerät üblich, und das europas barbarisch. Versuche, ihn zu Wohnen in einfachen Hausformen kann durchdringen oder dichter an das römische belegt werden. Imperium zu fügen, scheiterten, nicht zu- Auf die Zeit von ca. 1700 v.Chr. werden letzt mit der Vernichtung des Heeres von die ersten, offensichtlich importierten Quintilius Varus im Jahre 9 nach Christus Bronzeobjekte datiert. Die jüngst immer durch die Cherusker, offenbar bei Bram- weiter zurückverfolgten Verhüttungen am sche in Kalkriese. Harz lassen es wahrscheinlich werden, dass Claudius Ptolemäus (ca. 100-178 n. die Kupferverarbeitung am Rammelsberg Chr.) verfasste eine tabellarische Zu- bereits auf die Bronzezeit zurückgeht. Die sammenstellung von über 8000 Orten Beilagen der Grabhügel weisen auf ver- und Gegenden. Er schrieb, dass Sachsen schiedene regionale Kulturkreise in Nieder- östliche Nachbarn der bis zur Elbe siedeln- sachsen hin, die Stufungen zwischen Bau- den Chauken seien, nach Norden be- ern, Handwerkern und Kriegern kannten. grenzt durch die Landenge der kimbri- Die Verhüttung von Eisen setzt in schen Halbinsel, also das heutige Niedersachsen in der Zeit nach 700 v. Chr. Schleswig-Holstein. Tacitus nannte in sei- ein. Der vielerorts in der Geest unter dün- ner Germania 50 Jahre zuvor noch keine ner Bodendecke anstehende Raseneisen- Sachsen, aber viele gemeinsame Gott- stein wurde direkt vor Ort verarbeitet. heiten verehrende Stämme. Die Anfänge Bäuerliche Siedlungen an der Küste und der Sachsen als kriegerischer Stammes- Burgsiedlungen im Binnenland deuten bund auf religiöser Basis im Gebiet nörd- auf Siedlungskonstanz über etliche Gene- lich der Elbe liegen im Dunkeln. rationen hinweg. Der schollenwendende Die Chauken im Westen Nieder- Pflug fand vermehrt Anwendung, die sachsens, die Langobarden in der nörd- Textilherstellung wurde immer differen- lichen Mitte, die Angrivarier, Bructerer und zierter, die Marsch wurde in Kultur ge- die Cherusker in der Mitte waren vielleicht 24 Aufbauen (bis um 1500)

Aus den Überlieferungen verschiedener antiker Schriftsteller lassen sich die germanischen Siedlungs- gebiete vor der Völkerwanderungszeit rekonstruieren. die wichtigsten unter den germanischen der Langobarden, den nötigen Siedlungs- Stämmen in der Zeit vor der Völker- freiraum schuf oder kriegerische Expansion wanderung. Viele Funde, hervorzuheben ist im Mittelpunkt stand, ist nicht eindeutig zu der Hildesheimer Silberfund, verweisen auf klären. Als das römische Reich zerfiel, fe- Kontakte und Handelsbeziehungen der stigte sich die bis in die heutige Zeit prä- Germanen mit dem Gebiet südlich des gende Besiedlung Niedersachsens durch Limes. Durch die Ausgrabungen auf der Friesen und Sachsen. Wurt Feddersen-Wierde bei Bremerhaven Handelsbeziehungen mit dem sich seit sind wir sehr gut über die differenzierten Ausgang des 5. Jahrhunderts konsolidie- Wirtschafts- und Wohnformen der Nord- renden fränkischen Herrschaftsbereich im seegermanen informiert. Raum zwischen Frankreich und Südwest- Die Siedlungsverhältnisse wurden auch deutschland gediehen rasch. Die politi- in Norddeutschland während der Völ- schen Kontakte nahmen mit dem Macht- kerwanderungszeit des 4. und 5. Jahrhun- zerfall der Merowinger ab. Daher konnten derts grundsätzlich verändert. Die Friesen sich die Friesen im 7. Jahrhundert auch begannen ihre Expansion aus dem nieder- nach Süden ausdehnen. Die unter den ländischen Gebiet entlang der Küste nach Karolingern im 8. Jahrhundert wiederer- Norden, die Sachsen drangen seit dem 4. starkenden Franken setzten sich aber bis Jahrhundert aus dem dänischen Gebiet in 733/34 gegen die friesische Expansion den niedersächsisch-westfälischen Raum durch und weiteten ihren Einfluss bis auf ein. Im 6. Jahrhundert siedelten sie bereits die Höhe Groningens aus. Seit dieser Zeit am Mittelgebirgsrand. Ob die Abwande- sind zudem mehrere Feldzüge der Franken rung von Stämmen nach Süden, wie im Fall unter Karl Martell und seinen Söhnen ge- Aufbauen (bis um 1500) 25 gen die Sachsen in Westfalen und Nord- ren sächsischen Stammesgliederung liefert hessen belegbar. Thüringen wurde fester der von Utrecht aus um 770 nach Sachsen an Franken angefügt. Da die Franken reisende Missionar Lebuin, dessen Lebens- Burgen im Südosten und Südwesten des geschichte in Form einer Heiligenvita knapp sächsischen Stammesgebietes anlegten, ein Jahrhundert später aufgeschrieben kann von einer latenten weiteren Expan- wurde. Hier erfahren wir von der angeblich sion der Sachsen ausgegangen werden, einmal im Jahr stattfindenden Stammes- der die Franken vorbeugen wollten. versammlung in Marklo, ein uns heute nicht Stamm heißt weniger gemeinsame bekannter Ort im Südwesten Nieder- Abstammung, sondern lockere kulturelle, sachsens (Marklohe bei Nienburg wurde religiöse und militärische Gemeinschaft ver- erst 1934 in diesem Sinne umbenannt). Aus schiedener Sippenverbände von oft unter- verschiedenen Siedlungsregionen kamen schiedlicher Abstammung. Weder das frie- dazu 12 Adlige und ebenso viele Freie und sische noch das weiträumige sächsische Halbfreie, um gemeinsame Gesetze zu er- Gebiet des 8. Jahrhunderts waren einheit- neuern, zentrale Fragen der Rechtspre- lich verfasst, sondern es gab große re- chung zu klären oder Beschlüsse über Krieg gionale Unterschiede. Ein gemeinsames und Frieden zu fällen. Auch in Sachsen exi- Stammeskönigtum hatte sich beispiels- stierte kein gemeinsames Königtum, aber weise bei den Friesen nicht behauptet. Eine es gab herausragende Geschlechter, von relativ genaue Bestandsaufnahme der inne- denen uns u.a. die Familie der Widukinde im Westen Sachsens bekannt ist. Regionale Grundherrschaften des Adels über Bauern gelten als wahrscheinlich.

Eingliederung in das Reich der Franken, Sachsen als Königsland

Von Westen und Süden her erreichten einzelne Missionare den niedersächsi- schen Raum. Ob allerdings der Missions- gedanke allein im Mittelpunkt der Ex- pansion des Frankenreiches während der letzten drei Jahrzehnte des 8. Jahr- hunderts nach Norden zur Zeit Karls des Großen stand, muss offen bleiben. In ei- ner ersten Phase wurde der Raum des südöstlichen Niedersachsens eingenom- men. Während der zweiten Phase stand die Auseinandersetzung der Franken im Westen Niedersachsens mit dem sächsi- schen Fürsten Widukind im Vordergrund, der sich 785 unterwerfen musste. Wenn- Merians Beschreibung des Niedersächsischen gleich in der dritten Phase bis 804 noch Reichskreises aus dem Jahr 1653 zeigt Widu- Aufstände zu bekämpfen waren, so stand kind (links) und Karl den Großen (rechts) aus nun der Ausbau eines Netzes von Bis- historisierender Sicht des 17. Jahrhunderts. tümern im sächsischen Bereich im Mittel- 26 Aufbauen (bis um 1500) punkt (Paderborn, Münster, Osnabrück, Generell gab es in Mitteleuropa im Bremen, Minden, später Verden und Hil- modernen Sinne keine Staaten. Überörtli- desheim). 815 wurde das für die nord- che Herrschaft basierte auf der Verfügung westdeutsche Geschichte so wichtige über Land und Leute. Verschiedene Kloster Corvey zunächst im Solling ge- Herrschaftsbereiche durchdrangen einan- gründet, dann an die Weser verlegt. der. Macht hatte, wer über seine ange- Durch die Umsiedlung regionaler stammte Sippe hinaus einen weiten Kreis Machthaber und ihre Einbeziehung in das von Menschen an sich binden konnte fränkische Herrschaftssystem entstand („familia“) und in sein Gefolge viele eine neue Gruppe fränkisch-sächsischer lokal bedeutende Große einzufügen ver- Großer, während im friesischen Bereich mochte. Die Festigung der Macht überge- nur die lockere Eingliederung individueller ordneter gegenüber untergeordneten Herrschaftsbereiche in die Bistümer fest- Herren geschah zwar oft in Formen des zustellen ist. Die Bischofsstühle wurden Lehnsrechts, wenn der Lehnsherr Schutz zumeist von Angehörigen der neuen Füh- und Schirm versprach und vom Lehns- rungsgruppe besetzt. Die Sprengel der mann Rat und Tat erwartete, doch gab es Bistümer boten erste Ansätze zu einer in Norddeutschland bei weitem kein ein- überregionalen Herrschaftsgliederung, heitliches Lehnssystem, das verlässlich durchbrochen von den gestreuten Herr- Herrschaft organisiert hätte. Wer über schaften der neuen Abteien und denjeni- größere Bereiche gebot, musste reisen, gen des lokalen Adels. Eine einheitliche um sich immer wieder vor Ort seiner Gauordnung unter vom Frankenkönig Macht zu vergewissern. eingesetzten Grafen gab es nicht, wohl 841 und 843 schienen im Süden Nie- aber den Versuch, das Gerichtswesen re- dersachsens Aufstände die neue Ord- gional zu ordnen. Im Osten Nieder- nung zu bedrohen, und auch die Nor- sachsens gewannen die Liudolfinger bis manneneinfälle entlang der Flüsse schä- zum 10. Jahrhundert eine herzogliche digten die sich konsolidierenden Ver- Stellung, im Westen überragten die Widu- hältnisse, aber vom Ende des 9. Jahr- kinde andere Herrscherfamilien, während hunderts an setzte eine Phase der politi- in Ostfriesland regional bedeutende schen Beruhigung und des wirtschaft- Herren recht unangetastet dominierten. lichen Wachstums ein. Der vornehmlich

Die ehemalige Benediktiner- klosterkirche St. Michaelis ist ein vorzügli- ches Beispiel für romanische Baukunst in Niedersachsen. Aufbauen (bis um 1500) 27 um den Harz begüterte Liudolfinger Hein- Bautätigkeit. Hier hebt sich zur Zeit des rich (um 876-936) konnte sogar den Bischofs Bernward (ab 993 im Amt) Machtkampf mit dem ostfränkischen Hildesheim ab, u.a. mit der Michaeliskirche König Konrad wagen. Nach dem Tod oder den technisch und künstlerisch her- Konrads erhielt er die Königswürde. Fünf ausragenden Domtüren von 1015. Könige bzw. Kaiser aus der sächsischen Mit Konrad II. folgten den sächsischen Herzogsfamilie regierten mehr als hundert Herrschern ab 1024 für ein Jahrhundert Jahre das sich festigende Reich. Heinrichs Könige aus dem salischen Haus. Brachten Sohn Otto I., genannt der Große, (912- die Salier zwar Hausgut aus dem deutschen 973) knüpfte ab 936 bewusst an das kö- Süden ein, so übernahmen sie doch die kö- nigliche karolingisch-fränkische Erbe und niglichen Besitzungen im Norden. Strei zwi- an die Rückbesinnung auf imperiale römi- schen den sächsischen Großen und den sche Tradition an. Mit der Expansion nach Saliern schien vorprogrammiert zu sein und Mitteldeutschland und der Gründung des eskalierten zur Zeit Heinrichs IV. Zwischen Erzbistums Magdeburg gelangte der 1073 und 1075 kam es zu einem militäri- niedersächsische Raum erstmalig in die schen Konflikt, den der deutsche König ge- für ihn so charakteristische Mittellage. wann. Dennoch gelang es ihm nicht, den In seinen Stammlanden beauftrage Harzraum als zentrale Landschaft des Otto I., ab 962 Kaiser, mit Grenzsicherung Reiches gegenüber den Billungern oder und Hoheitsrechten Hermann Billung. den Grafen von Northeim zu behaupten. Schon dieser nannte sich Herzog. Für über Im Westen Niedersachsens bemühten sich 150 Jahre konnten die Billunger die sächsi- die Bischöfe von Osnabrück, vorrangig je- sche Herzogswürde bewahren. Als 1024 doch die Erzbischöfe von Bremen, ihre mit Heinrich II. der letzte deutsche König Herrschaftsbereiche auszubauen. Sie nutz- aus dem Haus der Liudolfinger, nunmehr ten hierzu wie alsbald auch die weltlichen zumeist Ottonen genannt, starb, waren Herrscher immer öfter unfreie Personen, die Billunger in Sachsen das mächtigste die sie zur Verwaltung herrschaftlicher Geschlecht. Rechte oder zur militärischen Sicherheit Das östliche sächsische Stammesgebiet einsetzten (Ministerialität). Zwischen die- gedieh im 10. Jahrhundert zu einer sen und den hochadligen Herren nahmen Zentrallandschaft des Reiches. Um den Grafen eine regional die Herrschaft glie- Harz lagen wichtige, immer wieder be- dernde Funktion ein. Diese verdankten ihre suchte Herrschaftsorte (Pfalzen) wie Werla Position oft dem König oder einem Bischof, und dann Goslar. Goslarer Kupfer und standen zu diesen in Lehnsverhältnissen Silber sowie Lüneburger Salz gehörten zu und summierten zahlreiche ältere, ge- den ökonomischen Grundlagen des König- streute Rechte. tums. Der niedersächsische Raum erlebte Ostfriesland wich hiervon weiterhin eine kulturelle Blüte. Im von den Ottonen ab. Benachbarte Herren, seien es nun die geförderten Stift Gandersheim wirkte in Bischöfe oder weltliche Fürsten, bemüh- der Mitte des 10. Jahrhunderts eine wohl ten sich vergeblich, übergeordnete gräfli- dem sächsischen Adel entstammende che Rechte zwischen Ems und Weser auf- Dame namens Hrotsvith, bekannt als zubauen. In der Marsch verstanden es aus Roswitha von Gandersheim, die in lateini- dem Händlerbauerntum erwachsene re- scher Sprache Lesedramen, Verslegenden gionale Machthaber in den verschiedenen und Geschichtsdichtungen verfasste. Zu friesischen Ländern (“terrae“), entspre- Beginn des 11. Jahrhunderts entfaltet sich chende Versuche abzuwehren, ohne aller- in den kirchlichen Zentren eine rege dings selbst eine sichere und längerwäh- 28 Aufbauen (bis um 1500) rende Hoheit erlangen zu können. Wenn- 1152-1190, ab 1155 Kaiser) beließ ihm gleich die von Karl dem Großen den Frie- aus reichspolitischen Gründen große Frei- sen verliehene Freiheit eine Legende ist, räume, die Heinrich als Herzog von Bayern drückt diese doch die faktischen Verhält- und Sachsen insbesondere im Norden zur nisse richtig aus. Ausdehnung von Hoheitsansprüchen und Herrschaftsrechten nutzte. Die zunehmen- de Bevölkerungszahl und das Wirtschafts- Staufer und Welfen wachstum der Zeit konnte Heinrich, wie viele andere Fürsten auch, zur Förderung Nach dem Aussterben der Billunger von Markt, Gewerbe und Handel in den 1106 schien es, als ob zwei adlige Familien entstehenden Städten nutzen, war in der in der Mitte und im Osten Niedersachsens Ostexpansion allerdings nicht so erfolgreich die Nachfolge antreten könnten, nämlich wie Albrecht der Bär aus dem askanischen die Welfen und die Askanier, mit denen Haus. über die weibliche Linie der Billunger Von seiner der Reise eines Königs nicht Erbverbindungen bestanden. Zunächst nachstehenden Pilgerfahrt in das Heilige setzte sich aber der im Osten Nieder- Land brachte Heinrich zur Ausstattung sachsens begüterte Lothar von Süpplingen- des Braunschweiger Domes den Grund- burg durch, auch in den Konflikten mit dem stock für den Reliquienschatz mit. Denn deutschen König. Von 1125 bis 1137 folgte Heinrichs Hauptort im Norden wurde er, ab 1133 Kaiser, dem letzten Salier, Braunschweig, wo an ihn das bronzene Heinrich V., auf dem deutschen Königs- Löwenstandbild ebenso wie der Dom erin- thron. Unterdessen stärkten die Welfen in nern. Hier ist sein Grabmal, gemeinsam mit Norddeutschland ihre Stellung. Sie waren seiner zweiten Ehefrau Mathilde von ursprünglich im nördlichen Bodenseeraum England, zu finden. Das Grab wurde übri- beheimatet und besaßen auch italienische gens in der NS-Zeit geöffnet, als der Dom Vorfahren. Dank kluger Heiratspolitik weit- zu einer nationalsozialistischen Weihestätte ete sich ihr Einflussbereich stetig aus, so missbraucht wurde. Dass Heinrich dunkel- dass sie im Norden u.a. in die vormaligen haarig und eher kleinwüchsig war, musste Besitzungen der Billunger, der Brunonen bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg (Raum Braunschweig) und der Grafen von strengstens verschwiegen werden. Northeim gelangten und dazu in Bayern die Heinrich wählte zur Ausdehnung seiner Herzogswürde innehatten. Heinrich der Herrschaft keineswegs – wie oft zu jener Stolze, Schwiegersohn Kaiser Lothars, Zeit üblich - nur rechtmäßige Mittel. Den konnte sich Hoffnung auf die deutsche zuvor in Holstein eingesetzten Grafen Königskrone machen, scheiterte freilich von Schaumburg nahm er beispielsweise gegenüber Konrad III. aus dem in Schwa- den entwicklungsträchtigen Handelsplatz ben begüterten Haus der Staufer. Ein über Lübeck ab, dem im Westen mächtigen ein Jahrhundert immer wieder aufbrechen- Erzbischof von Bremen das Erbe der in der Konflikt zwischen den Staufern und Sachsen einst bedeutenden Grafen von den Welfen begann. Stade. Kritik, Opposition und Widerstand Heinrichs des Stolzen gleichnamiger mehrten sich, häufig unterstützt von dem Sohn stellte den Löwen als Herrschafts- Askanier Albrecht dem Bären. Dies und symbol heraus und erhielt daher den Heinrichs Weigerung, 1176 dem Kaiser die prägenden Namen: Heinrich der Löwe. Sein Gefolgschaft bei dessen Italienfeldzug zu Vetter aus dem staufischen Haus, Fried- leisten, nutzte schließlich Kaiser Friedrich, rich I., genannt Barbarossa, (König von um einen lehnsrechtlichen Prozess gegen Aufbauen (bis um 1500) 29

Heinrichs Gewalttätigkeiten und Rechts- Im weiteren Verlauf des Mittelalters brüche anzustrengen. Heinrichs Absicht, und erst recht in der frühen Neuzeit kon- Zugriff auf die am Rammelsberg gewonne- zentrierte sich die Macht auf eine stetig nen Metalle zu gewinnen, darf hierbei auch abnehmende Zahl von Territorialfürsten. zu bedenken sein. Heinrich widersetzte Innerhalb dieses Verdrängungsprozesses sich dem Prozess, wurde 1180 in Abwe- war die Expansion der Welfen von ihrem senheit geächtet und seiner Herzogswürde Kerngebiet in Ostniedersachsen nach sowie aller Lehen und Eigengüter entledigt. Westen die erfolgreichste. Seit dem 13. Dies nahm der Welfe nicht widerstandslos Jahrhundert wurde immer häufiger dar- hin, konnte aber, zeitweilig im englischen auf geachtet, dass die Herrschaftsgebiete Exil, nur seine Eigengüter im Osten Nieder- nicht gestreut in einzelnen Dörfern lagen, sachsens bewahren. Eine Herzogswürde sondern eng beieinander. Dies wird oft als für Gesamtsachsen gab es fortan nicht Übergang vom „Personenverbandsstaat“ mehr, ja, wahrscheinlich war 1180 sogar zum „institutionalisierten Flächenstaat“ die Bildung eines großen norddeutschen beschrieben. Dieser Prozess geschah nach Herrschaftsraumes gescheitert, und zwar der Entmachtung Heinrichs des Löwen bis in das 18. und 19. Jahrhundert hinein, 1180 in weiten Teilen Niedersachsens sehr als Preußen dies gelang. gemächlich, denn der Erzbischof von Der Erzbischof von Köln übernahm im Köln, Heinrichs Nachfolger im Westen, westfälischen Teil Sachsens die Herzogs- vermochte es nicht, sich die Terrains im würde, der Askanier Bernhard von Anhalt, mittleren und westlichen Niedersachsen Sohn Albrechts des Bären, für die öst- zu sichern. So entstand in der Mitte und lichen Teile. Da die Askanier, und in ihrer im Westen Niedersachsens ein neuer Rechtsnachfolge die Wettiner, ihren Herr- Herrschaftsfreiraum. Hier festigten nun- schaftsbereich stetig nach Südosten verla- mehr einzelne Grafen, ob sie sich nach gerten, wanderte - vermittelt durch das der Schaumburg oder nach Hoya benann- Herrschaftshaus - auch der Name Sachsen ten, ihre Herrschaft neben derjenigen der in das heute so benannte Gebiet. Als Bischöfe, wie z.B. der Osnabrücker. Be- Heinrich 1195 starb, war das Welfenhaus reits das Leine-Wesergebiet lag anfangs aber keineswegs völlig entmachtet. Sein außerhalb des welfischen Zugriffs. Sohn Otto konkurrierte in der Königswahl Von allen diesen dargestellten Vorgän- von 1198 mit dem Staufer Philipp von gen auf herrschaftlicher Ebene des 8. bis Schwaben und herrschte nach dem Tod 13. Jahrhunderts dürften die einfachen Philipps 1208 für sieben Jahre allein im Menschen im Lande wenig erfahren ha- Reich. Der Staufer Friedrich II. folgte dem ben: Am ehesten dann, wenn sich der Welfen als deutscher König. Eine Ver- Tross eines Herrn im nahen Umfeld söhnung deutete sich an, so dass niederließ und versorgt werden wollte Heinrichs Enkel Otto, genannt das Kind, oder wenn kriegerische Ereignisse das 1235 vom Kaiser wieder als Herzog einge- Leben unsicher machten. setzt wurde. Räumliche Basis hierfür war das Eigengut der Welfen. Da dieses breit gestreut im Osten Niedersachsens lag, Hochmittelalterliche hier aber mittlerweile zwei Städte heraus- Agrarverfassung ragten, nämlich Braunschweig und Lüne- burg, wurde das neue, als Reichslehen Fränkische und sächsische Adlige hat- vergebene Herzogtum (vereinfacht) ten im 9. Jahrhundert nach der Einbe- „Braunschweig-Lüneburg“ genannt. ziehung Sachsens in den fränkischen 30 Aufbauen (bis um 1500)

Herrschaftsbereich als Grafen Amtsgüter am ehesten bei Bischöfen und Klöstern zu erwerben können, die oft zu Familien- finden. Ein gutes niedersächsisches Beispiel gütern entfremdet wurden. Zugleich waren für eine kirchliche Villikationsorganisation auch die entstehenden Bistümer, Kirchen liefert die Benediktinerabtei Corvey (heute und Klöster mit Land und Leuten ausgestat- Bundesland Nord- rhein-Westfalen), im 11. tet worden. Diese kirchlichen Institutionen Jahrhundert die größte Grundherrschaft in schufen am ehesten gestreute und um Sachsen überhaupt. Ihr Besitz ballte sich mit Haupthöfe gruppierte Großgrundherr- Herrenhöfen und zugeordneten Bauern- schaften (Villikationen) oder übernahmen hufen in Klosternähe, außerdem im We- Vorformen hierfür vom Adel. Gebiete mit serbergland, im Leinetal sowie in einem fruchtbaren, aber leicht zu bearbeitenden breiten Gürtel zwischen Ems und Hunte. Böden und mit bereits um 1000 dörflicher Dazu kamen kleinere Streubesitzeinheiten Siedlungsweise (Altsiedelland) eigneten in ganz Nordwestdeutschland, so dass sich vorrangig hierfür. Wegen der wenig Corvey zu Beginn des 12. Jahrhunderts ca. entwickelten Marktbeziehungen spielten 100 Herrenhöfe und ca. 3.000 Hufen Land grundherrliche Eigenwirtschaften noch (über 20.000 ha) besaß. Im Durchschnitt eine bedeutende Rolle. gruppierten sich 25 Bauernhufen (Zinsland) Seit dem 10. Jahrhundert wird eine all- um einen Fronhof, der wiederum eine mähliche Erweiterung der Getreideanbau- Durchschnittsgröße von 4-5 Hufen (Salland) flächen und Zunahme der Kleindörfer an- besaß. Seit dem 12. Jahrhundert wurden genommen. „Liberi“ (Freie) gab es nach der die bäuerlichen Naturalabgaben mehr und Jahrtausendwende immer weniger, „servi“ mehr durch Geldzahlungen abgelöst und oder „mancipia“ (Unfreie) weiterhin, „liti“ immer häufiger kirchliche Ländereien gegen (Halbfreie/Hörige) immer mehr. Diese Nutzungsentgelte (Pacht, Lehen) an den Halbfreien machten den wesentlichen Kreis niederen Adel vergeben. Viele dieser Hof- der Menschen aus, die in Landwirtschaft besitzer betrachteten ihr Gut zunehmend und Gewerbe arbeiteten. Sie hatten das als Privateigentum. Daher gingen die Ein- herrschaftliche Land gegen eine Natu- nahmen des Klosters gerade aus schwierig ralabgabe zu bestellen und Transport- zu kontrollierenden Liegenschaften stetig dienste zu leisten, konnten fallweise aber zurück, bis schließlich viele Höfe in Besitz auch Naturalrenten liefern oder gewerblich gehobener Bediensteter (Ministeriale) über- wirtschaften. Grundlage für eine vollwer- gingen und oftmals die Grundlage für ein tige bäuerliche Existenz war die dem Hof späteres ritterschaftliches Gut bildeten. So (oft „curia“) zugeordnete Hufe (“man- etablierten sich aus ehemaligen Villikations- sus“), deren Größe häufig gut 7 ha betrug, gütern, insbesondere in Westniedersach- jedoch regional weit differierte. sen, räumlich enger konzentrierte Grund- Gestufte Großgrundherrschaften waren herrschaften eines neuen, vorwiegend aus

Viele niedersächsische Siedlungen liegen an der Grenze zwischen einem feuchten Niederungsbereich und höher gelegener Ackerflur. Aufbauen (bis um 1500) 31 kirchlichen Ministerialen hervorgegange- Heide- und Moorplaggendüngung und nen niederen Adels. schließlich die sich wenigstens auf besseren Bis zum 12. Jahrhundert verfestigten Böden durchsetzende Mehrfelderbrach- sich zunächst die grundherrschaftlichen wirtschaft. Da die Bevölkerung schneller Bindungen der Landbevölkerung, dann wuchs als die Agrarproduktion und -ver- brachten Städtewesen und Landesausbau marktung, sicherten steigende Getreide- neue Formen relativer Freiheit und Frei- preise die Rentabilität der Innovationen. Als zügigkeit. Die ältere geburtsständische Ge- Folge des Bevölkerungsdrucks wurden im sellschaft wandelte sich in eine berufsstän- Altsiedelland verstärkt neue, nur noch mit dische. An die Stelle von Herrschaft über wenig Land ausgestattete Hofstellen am Personen und einzelne Landwirtschafts- Rande der Dörfer angelegt. Sie waren oft flächen trat jene über Orte und Gebiete. auf gewerblichen Zuerwerb angewiesen. Unter den Bedingungen des Wirtschafts- Auch durch Rodung und Expansion in bis- wachstums zerfiel das Villikationssystem, her unbesiedelte Gebiete wurden neue denn die mit der Rodungsexpansion und landwirtschaftliche Nutzflächen gewon- dem Städtewachstum verbundenen Frei- nen. Am meisten profitierten jedoch die heiten und Freizügigkeit vertrugen sich Städte von dem Bevölkerungsboom. nicht mit der auf Hörigkeit ausgerichteten In derselben Phase, als die Städte wuch- alten Ordnung. Doch blieben Geld-, Pro- sen und das Villikationssystem zerfiel, wur- dukt- und Arbeitsrenten die ökonomischen den auch viele neue Klöster gegründet. Grundlagen des Herrenlebens. Wichtigste Besondere Bedeutung erlangten seit Mitte Einnahmequelle war der hofbezogene des 12. Jahrhunderts die wegen der effi- Grundzins, gefolgt vom dorfbezogenen zienten Methoden des Grundbesitzerwerbs Zehnt. Verschiedene Besitz-, Rechts- und und der Nutzung der Ländereien für die Herrschaftsformen überlagerten sich oft mittelalterliche Landwirtschaft innovativ auf engstem Raum, so dass ein Bauer häu- wirkenden Zisterzienserklöster. Weite ar- fig das Land verschiedener Herren bewirt- rondierte Gebiete wurden zu Großgrund- schaftete. Seit dem 14. Jahrhundert wur- herrschaften (Grangien) zusammengefasst, den die Bauern zusätzlich von der Umlage die von abhängigen Arbeitskräften bewirt- der Beden (Steuern) zur Finanzierung der schaftet wurden. Je mehr die niedersächsi- entstehenden Territorialherrschaften bela- schen Zisterzienserklöster allerdings im stet. 14. Jahrhundert zur Rentengrundherr- Durch die flächenhafte Verbreitung seit schaft zurückfanden, desto häufiger legten längerem bekannter effektiverer Agrar- sie in den Städten Höfe als Abgabestätten techniken erhöhte sich, vorrangig seit dem ihrer Hintersassen und Verkaufssplätze an. 12. Jahrhundert, auch im niedersächsi- Agrarüberschüsse wurden vermarktet und schen Raum die agrarische Produktivität. Geldüberschüsse gewinnbringend z. B. in Hierzu zählen: die wachsende Bedeutung Salinen investiert. des Getreidebaus gegenüber der Viehwirt- Ganz offensichtlich erfasste auch den schaft, die allmähliche Verbreitung neuer niedersächsischen ländlichen Raum in der oder veränderter landwirtschaftlicher Ge- Zeit vom 12. bis zum Beginn des 14. Jahr- räte, die bessere Ausnutzung der tierischen hunderts eine erste Welle der Kommer- Arbeitsenergie, das allmähliche Vordringen zialisierung. der Pferde- gegenüber der Ochsenbe- spannung, die optimierte Bodenbearbei- tung durch Lockerung mit Mergel, Ver- wendung tierischen Düngers oder der 32 Aufbauen (bis um 1500)

Eine spätmittelalterliche kerungs- und Wirtschaftswachstum des Grafschaft – das Beispiel hohen Mittelalters einherging, z.B. mit der Schaumburg Stadtgründung Lübecks. Im 16. Jahrhundert war die Grafschaft Ein anschauliches Beispiel für die in die Ämter Sachsenhagen, Stadthagen, Entstehung von Territorialstaaten in Nie- Arensburg, Bückeburg, Schaumburg, Ro- dersachsen bietet die Grafschaft Schaum- denberg, Lauenau, Bokeloh und Mes- burg im Raum zwischen Steinhuder Meer, merode eingeteilt. Diese Ämter gingen , Süntel und Weser. Erleichtert auf ältere Drosteien zurück, die zumeist wurde die Territorienbildung der Grafen um herrschaftliche Burgen des Spätmittel- von Schaumburg durch das Machtva- alters entstanden waren. Die Ämter besa- kuum im östlichen Westfalen nach 1180. ßen eigene große Landwirtschaftsbe- Die Schaumburger ragten zunächst nicht triebe. Zugleich wurden vom Amt aus die gegenüber anderen Adelsgeschlechtern bäuerlichen Dienste organisiert und die des Weserraumes hervor, beteiligten sich landesherrlichen Steuern erhoben. aber im 12. Jahrhundert als in Holstein Kommerzialisierung und Kapitalisie- eingesetzte Grafen bereits an der Binnen- rung von Herrschaftsrechten spielten und Ostexpansion, die mit dem Bevöl- beim Aufbau des Gesamtterritoriums stets

Die Ämter der Grafschaft Schaumburg des 16. Jahrhunderts entstanden aus verschiedenen Ho- heitsbezirken. Nach Aus- sterben des Grafen- hauses 1640 wurde die Grafschaft 1647 geteilt. Aufbauen (bis um 1500) 33 eine Rolle. Im Rahmen des Bevölkerungs- Klosters Möllenbeck und der Vogtei Exten wachstums und der Freizügigkeit des ho- waren seit dem 13. Jahrhundert die hen Mittelalters beteiligten sich die Grafen von Sternberg. Am Ende des 14. Schaumburger Grafen an der Rodung des Jahrhunderts kauften die Schaumburger, Düllwaldes nördlich des Bückeberges, nachdem sie die Grafschaft Sternberg be- gründeten hier zahlreiche Dörfer mit be- reits ererbt hatten, diese Vogtei anderen sonderen Vorrechten für die Bauern Erben ab. Die übrigen Teile des Amtes (Hägerrecht) und schufen mit Stadthagen Schaumburg erwarben die Schaumburger einen überlokal bedeutenden Wirt- ebenfalls durch Kauf und Verpfändung schafts- und Herrschaftsmittelpunkt. unter Abstoßen von Randbezirken von Durch Kauf, Verpfändung, aber auch den Edelherren zur Lippe und dem Bistum durch finanziell unterstützte Erbschaft Minden. Die Ämter Rodenberg, Bokeloh und Belehnung erreichten die Schaum- und Mesmerode stammten weitgehend burger noch im 13. Jahrhundert die aus dem Besitz der ausgestorbenen Territorialhoheit über dieses Gebiet. Grafen von -Roden, aber auch Das Amt Sachsenhagen erwarben die aus verpfändetem Gut, das die Herzöge Schaumburger 1297 durch einen länge- zu Braunschweig-Lüneburg den Schaum- ren Verpfändungsprozess von den sächsi- burgern zusammen mit dem Amt Laue- schen Herzögen aus dem Hause der Aska- nau überlassen mussten. nier. Das Amt Arensburg scheint im 13. Diese Art von Territorialbildung for- Jahrhundert als eine Gründung der derte ein politisches Unternehmerge- Schaumburger um die Arensburg, die ei- schick der Grafen. Sie verlangte aber auch nen Pass über das sicherte, die Bereitstellung der zum territorialen entstanden zu sein. Im Amt Bückeburg Ausbau notwendigen Mittel durch die waren das Kloster und die Landstände, denn die Grafen waren adlige Familie von Arnheim sehr begütert. durch ihre Machterweiterungen, die zu- Das Kloster Obernkirchen musste die dem von Teilungen der Herrschaftsbefug- Schaumburger im 13. Jahrhundert als nisse untereinander begleitet wurden, Vögte anerkennen. Die Ausübung von stets in arger Finanznot. Die Bischöfe in Vogteirechten war oft ein erster Schritt Minden, die Herzöge von Braunschweig- zur weltlichen Einflussnahme auf kirch- Lüneburg, die mit den Fürstentümern lichen Besitz. Die Arnheimer wurden Lüneburg und Calenberg direkte Nach- durch militärische Aktionen und durch barn der Schaumburg waren und die in Verpfändungen aus ihren Herrschafts- Norddeutschland immer aktiveren Land- rechten gedrängt. Hier lässt sich auch be- grafen von Hessen (-Kassel) konnten, da sonders gut verfolgen, wie im 13. und 14. sie sich gegenseitig blockierten, die Jahrhundert die Schaumburger verschie- Herrschaftsbildung der Schaumburger dene Gerichtsrechte an sich brachten und nicht verhindern. Immerhin erreichten sie welche Bedeutung diese und die damit aber bis zum 16. Jahrhundert, dass die verbundenen bäuerlichen Dienste für den Schaumburger Grafen Teile ihres Gebietes Ausbau eines Territoriums besaßen. diesen Nachbarn zu Lehen auftrugen, Selbst im Kernbereich der Herrschaft ohne dass zunächst die Herrschafts- um die Schaumburg herum entstand das befugnisse der Schaumburger dadurch gleichnamige Amt aus verschiedenen eingeengt wurden. Eine Auflösung der Teilen, nämlich den Klöstern Möllenbeck Grafschaft in zwei Hauptteile (ab 1647 und Fischbeck, den Vogteien Exten, Schaumburg-Lippe und Grafschaft Lachem und Hattendorf. Vögte des Schaumburg hessischen Anteils) konnte 34 Aufbauen (bis um 1500) nach dem Aussterben des schaumburgi- barer Herrschaftskonkurrenz zu weltlichen schen Grafen- hauses im Mannesstamm Herren standen. Der Bischof von Münster 1640 dennoch nicht verhindert werden. griff, erfolglos, bis nach Ostfriesland, der Osnabrücker Bischof konkurrierte mit den Grafen von Ravensberg und von Teck- Territorialisierung von Herrschaft lenburg. Während es den Verdener Bischöfen nie gelang, ein über die Wird der Blick wieder auf das gesamte Bischofstadt und Rotenburg (Wümme) Niedersachsen gelenkt, so konnten nach hinausgehendes Gebiet zu herrschen, 1180 zunächst die Bischöfe ihre tradierten profitierten die Hildesheimer Bischöfe von Rechte am besten zur Ausbildung territo- ihrer gesicherten Stellung, als nach 1235 rialer Hoheit nutzen. Stets muss zwischen die welfische Expansion begann. Seit dem der Diözese, also dem geistlichen Spren- 14. Jahrhundert war auch der Mainzer gel, und dem Hochstift, also dem welt- Erzbischof Landesherr in Niedersachsen, lichen Herrschaftsbereich, unterschieden da er von den Grubenhagener Welfen das werden. Im Regelfall war die Diözese weit- südliche um Duderstadt erwarb. aus größer. Voran stand der Bremer Familienverbindungen spielten auch Erzbischof, der sich das Erbe der Grafen beim Aufbau oder bei der Bewahrung bi- von Stade sicherte. Er ließ vorrangig ent- schöflicher Territorien eine Rolle. Mit we- lang der Unterweser gezielt neue Sied- nigen Ausnahmen stammten nämlich die lungen anlegen und schreckte keineswegs Bischöfe aus hochadligen Familien, die ih- vor militärischen Mitteln zurück, um bei- rerseits territoriale Fürstentümer aufbau- spielsweise die Stedinger links der We- ten. Die notwendigen geistlichen Weihen sermündung zu unterwerfen. Die Ent- wurden rasch erteilt oder Dispense vom wicklung des Hochstiftes Osnabrück zeigt, Papst erwirkt. Zwar waren die Domkapitel wie benachbarte Bischöfe um Hoheits- bei der Wahl des Bischofs im Prinzip frei, gebiete rangen und Bischöfe in unmittel- doch stammten deren Angehörige zu-

Nach der Entmachtung Heinrich des Löwen 1180 und der Einsetz- ung der Welfen als Herzöge zu Braun- schweig und Lüneburg 1235 konnten sich im mittleren Niedersach- sen zunächst viele kleine Grafschaften be- haupten. Aufbauen (bis um 1500) 35 meist ihrerseits aus dem Adel. Hier domi- heim durchbrochener Territorialkomplex, nierte allerdings der niedere Adel. Dieser der von der Weser bis zur Elbe reichte. Den freilich war auch in den weltlichen Welfen gelang es jedoch trotz kluger Territorien auf vielerlei Weise in Politik und Expansionspolitik nicht, eine reichspoliti- Herrschaft eingebunden. Die Domkapitu- sche Stellung wie im 12. Jahrhundert lare führten mehr und mehr ein adliges, wiederzugewinnen. Vom Wahlrecht für denn ein spezifisch geistliches Leben. So den deutschen König blieben sie seit 1356 verwundert es wenig, wenn zum einen endgültig ausgeschlossen. Faktisch war nachgeborene Söhne von Territorialfürs- das große ostniedersächsische Gebiet der ten die Bischofsstühle besetzten und um Welfen in viele Einzelfürstentümer aufge- die Wahl der Bischöfe bisweilen harte teilt, die volle territoriale Hoheitsrechte be- Kämpfe entbrannten. saßen. Dies lag daran, dass das Herzogtum Charakteristisch für die Zeit nach 1180 nicht in der Hand eines Herzogs allein ist der Ausbau von selbständigen Graf- blieb, sondern zwischen den Söhnen in schaften, ähnlich wie am Fall der Schaum- einzelne Fürstentümer aufgeteilt wurde. burger dargestellt. Hier ist für das nieder- Die königliche bzw. kaiserliche Belehnung sächsische Gebiet neben den west- galt aber für alle Teillinien. Mit der Auf- niedersächsischen Grafschaften Lingen, splitterung begannen bereits die Söhne Tecklenburg und Bentheim auf Oldenburg Ottos des Kindes 1267, die mit der Teilung hinzuweisen, das im Grenzbereich des des Lüneburger vom Braunschweiger sächsischen und des friesischen Sied- Bereichs eine fast sieben Jahrhunderte lungsgebietes eine eigenständige Stellung währende Trennung begründeten. Sie war behauptete. Das Paktieren der Olden- die Basis für die letzte Teilung von 1635, burger Grafen von Fall zu Fall, mal mit, die ihrerseits die Voraussetzung für die mal gegen den Erzbischof von Bremen, noch 1946 gültige Differenzierung zwi- mal mit, mal gegen die friesischen Re- schen dem von Hannover und von Braun- gionalherrschaften, wird hier besonders schweig aus verwalteten Gebiet schuf. deutlich. Im mittleren Weserraum waren Trotz aller Konflikte zwischen den verschie- es vor allem die Grafen von Hoya, die, ge- denen Häusern der Welfenfamilie und ih- schickter als die Diepholzer, ein eigenes ren einzelnen Linien gerieten die welfi- Territorium aufbauten. Besonders groß schen Herrschaftsbereiche nur einmal in war die herrschaftliche Zersplitterung im ernsthafte Gefahr, als nämlich 1369 das engeren Bereich von Leine und Weser. Haus Lüneburg ausstarb. Kaiser Karl IV. Einzelne, zeitweilig sehr erfolgreiche Gra- überging aus seinen reichspolitischen fen konnten kleine Territorien aufbauen, Interessen heraus das welfische Haus verloren sie aber fast alle an die Welfen. Braunschweig und setzte die Herzöge von Ein Sonderfall blieb das Pyrmonter Territo- Sachsen-Wittenberg aus dem Haus der rium, das erst 1922 zur preußischen Askanier als Nachfolger ein. In einer bluti- Provinz Hannover kam. gen, das Land sehr schädigenden Aus- Die welfischen Kernlande um Lüne- einandersetzung von 1371 bis 1388, dem burg, Celle, Braunschweig und den Harz Lüneburger Erbfolgekrieg, setzten sich wurden bereits im 13. Jahrhundert um letztlich die Braunschweiger Welfen durch den Raum Hannover und Teile des Weser- und erlangten die Reichsbelehnung. Leineberglandes bis Hannoversch-Mün- Weiterhin gesondert verlief die Ent- den erweitert. Bis zum 16. Jahrhundert wicklung in Ostfriesland, die speziell für entstand ein recht geschlossener, im die Marsch auf die Gestaltungsspielräume Wesentlichen nur vom Hochstift Hildes- freier Bauern verweist. 36 Aufbauen (bis um 1500)

Bäuerliche Freiheiten Handelsaustausch mit den benachbarten und Gemeinden florierenden Städtelandschaften, trieben sogar selber Handel, und einige besonders Förderte die Aufwärtsentwicklung der Wohlhabende übernahmen im 14. Jahr- Landwirtschaft im hohen Mittelalter einer- hundert schließlich als Häuptlinge regio- seits die Entstehung höherer Freizügigkeit nale Herrschaftsfunktionen. Gegen deren und neuer persönlicher Freiheit, so zwan- Versuche, im 15. Jahrhundert grundherr- gen zugleich die steigende Siedlungs- schaftliche Bindungen aufzubauen, wehr- dichte und die wachsende Intensität der ten sich die freien Marschbauern erfolg- landwirtschaftlichen Nutzung die Men- reich, so dass die politische Organisa- schen zu mehr Zusammenarbeit. Hier- tionsform der „Landesgemeinden“ akti- durch entstanden ländliche Gemeinden, viert wurde und persönliche Abhängig- die am Küstensaum auch politische Auf- keitsverhältnisse eher zwischen freien gaben übernahmen, während die Ge- Bauern und deren Warfs- und Heuer- meinden des Binnenlandes in die Ab- leuten als zwischen Häuptlingen und hängigkeit der entstehenden Territorial- Bauern existierten. In den blutigen Kon- staaten gerieten, von denen sie allerdings flikten der Häuptlinge konnte sich wäh- auch gegen Interessen des niederen Adels rend des 15. Jahrhunderts die Familie oder der Klöster geschützt wurden. Cirksena durchsetzen, die von 1464 bis zu Über Freiheit oder Unfreiheit der Bauern ihrem Aussterben 1744 die ostfriesischen ist viel debattiert worden. Generell muss Grafen stellte. Stets mussten sie allerdings zwischen persönlicher Freiheit (Fehlen eines auf die Sonderrechte der Marschbauern Leibherrn, Freizügigkeit) und Freiheit des Rücksicht nehmen, und die seit dem 15. Besitzes unterschieden werden. Unstrittig Jahrhundert rasch wachsende Stadt ist, dass es nach dem Ende der Karo- Emden spielte eine Sonderrolle. lingerzeit im heutigen Niedersachsen so ge- In den Flussmarschen von Weser und nannte Freibauern gab, der Grad und die Elbe entstanden im 11. Jahrhundert im rechtliche Bestimmung ihrer Freiheit aber Rahmen der u.a. vom Bremer Erzbischof sehr unterschiedlich gewesen sein dürften. initiierten Kolonisation neue bäuerliche Die Zahl der nichtadligen Freien verringerte Freiheitsrechte, die sich in größerer Freizü- sich stetig, allerdings konnten sich Bauern gigkeit sowie in Dienst- und Abgaben- er- persönlich freikaufen. leichterungen ausdrückten. In der Folge Einen Sonderfall stellt die im 13. gelang es den Territorialfürsten, grund- Jahrhundert voll ausgebildete Freiheit der herrliche Strukturen auszubauen und die Großbauern in der friesischen Marsch dar. bäuerliche Selbstorganisation zurückzu- Sie war primär Freiheit nach außen, und drängen. Dies geschah im Falle des zwar einer Minderheit von Großbauern, Stedingerkreuzzuges 1234 auch durch ge- die ihrerseits Kleinstellenbesitzer, Lohnar- waltsame Unterwerfung. In Teilen des beiter und Gesinde abhängig hielten. niedersächsischen Berg- und Hügellandes Auch wenn einige Kontinuitätsmerkmale und in vorgelagerten Geestbereichen ent- in vorfränkische Zeit zurückreichen, lässt standen seit dem 12. Jahrhundert in Form sich die friesische Freiheit nicht, wie gern so genannter Hufendörfer angelegte behauptet, auf Karl den Großen zurück- Siedlungen mit Hägerrecht. Hier konnten führen. Die friesische genossenschaftliche die Bauern ihre Gemeindeangelegen- Agrarverfassung wurde durch die Not- heiten selbständig regeln, ihr Land teilen wendigkeit des Deichbaus gefördert. Die oder veräußern und die niedere Ge- Großbauern profitierten von dem regen richtsbarkeit ausüben. Aufbauen (bis um 1500) 37

Die Bildung bäuerlicher Gemeinden Landwirtschaft und Grund- als häufigster Selbstorganisationsform auf herrschaft im Spätmittelalter dem Lande mag auf Hofrechtsverbände des Villikationssystems ebenso zurückge- Von der zu Beginn des 14. Jahrhunderts hen wie auf freie, den wirtschaftlichen in Europa einsetzenden Agrardepression, Gegebenheiten angepasste Zusammen- die bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts an- schlüsse. Wirtschaftliche Basis der genos- hielt, blieb auch der niedersächsische Raum senschaftlichen Gemeindebildungen war nicht verschont, doch waren die Auswir- die Nutzung der landwirt- schaftlichen kungen sehr differenziert. Es handelte sich Ergänzungsflächen und der nicht an ein- um eine Krise des Getreidebaus. Diese zelne Bauern zur Individualbewirtschaf- wurde offensichtlich ausgelöst durch einen tung vergebenen Areale wie Wälder, Bevölkerungsüberhang im Vergleich zur Heiden, Wiesen und Weiden, in der Ernährungsbasis. Neuzeit oft „Gemeinheiten“ genannt. In dieser von Mangelernährung und Fragen der gemeinsamen Nutzung dieser Bevölkerungsrückgang gekennzeichneten Flächen wurden von den Markgenossen- Phase breitete sich 1349/50 die Pest aus. In schaften geregelt, auf deren Mark- den Städten forderte sie zwar Tausende gerichten zumeist die älteren Berech- von Todesopfern, doch wurde nach dem tigten mit überwiegend größeren Höfen Abebben der Epidemie die Bevölkerungs- oder auch die Grundherren ihrem höhe- zahl durch Zuwanderung und Geburtenzu- ren Nutzungsanteil entsprechend do- nahme rasch wieder stabilisiert. Auf dem minierten. Im Streusiedlungsgebiet der Land führten Seuchenverluste und westniedersächsischen Geest überschnit- Abwanderungen in Verbindung mit der ten sich häufig die verschiedenen Bauer- Agrardepression häufig zur Aufgabe von schafts-, Kirchspiel- und Markgenossen- Feldern und ganzen Dörfern (Flur- und schaftsgemeinden. Stärker dorfbezogen Ortswüstungen). Auf unterschiedliche Wei- waren dagegen die Gemeinden der mitt- sen bemühten sich die Grundherren um leren Geest, des Berg- und Hügellandes Anpassung an die neue Situation. Der und am ausgeprägtesten in den zentral- Rückgang der Agrareinkommen zwang zur niedersächsischen Börden. Sicherung der Eigenversorgung. Schen- Über diese Formen der ländlichen Gemeinden gingen die „Landesgemein- den“ Ostfrieslands, der Elb- und Weser- marschen allerdings hinaus, weil sie eigen- ständige Aufgaben innerhalb der politi- schen Organisation einer Region erlangten (kirchspielbezogene landständische Mitbe- stimmungsrechte). Im Binnenland war den entstehenden fürstlichen Territorialstaaten zur Durchsetzung ihrer Staatlichkeit die Domestizierung des Adels zumeist wichti- ger als die Kontrolle über die Gemeinden. Hier stärkte am Ausgang des Mittelalters In den späteren mittelalterlichen Bilderhand- schriften des Sachsenspiegels sind viele Abbil- die zu fiskalischen Zwecken betriebene dungen über bäuerliche Arbeit zu finden. Hier „Bauernschutzpolitik“ der Landesherr- wird der Acker mit einem vom Pferdegespann schaften die dörflichen Gemeinschaften gezogenen schollenwendenden Beetpflug be- gegenüber den regionalen Grundherren. arbeitet. 38 Aufbauen (bis um 1500) kungen, Rentenverschreibungen, Verkäufe bäuerlicher Dienste und Gelderträge zum und Verpachtungen von Land oder von Aufbau von Amtswirtschaften durch die Einnahmen aus Land mehrten sich. entstehenden Territorialherrschaften. Die Westniedersachsen war von der Agrar- Durchsetzung des Meierrechts beruhte auf depression weit weniger betroffen als das dem fiskalisch begründeten landesherr- mittlere und südliche Niedersachsen. lichen Schutz der Bauern vor steigenden Gebiete mit ausgeprägter Viehwirtschaft, grundherrlichen Belastungen seit dem 16. vorrangig die Fluss- und Seemarschen, Jahrhundert und auf der Vereinheitlichung konnten sogar profitieren, ebenso wie der Grundherrschaftsformen sowie der unterbäuerliche Gruppen, für die Hof- Festlegung von so genannten Bauern- stellen frei wurden. Einzelne Klöster klassen durch den Territorialstaat vom 16. vermochten sich durch Erschließung bis zum 18. Jahrhundert. Das Meierrecht si- zusätzlicher Einkunftsmöglichkeiten (Er- cherte dem Landesherrn Steuern und weiterung von Zehntrechten, Investi- Dienste, dem Grundherrn eine feste Ein- tionen in die Lüneburger Saline, Arron- nahme und dem Bauern durch Lebens- dierung landwirtschaftlichen Besitzes) zeiterbpacht und Anerbenrecht die dauer- weitgehend schadlos zu halten. Generell hafte Bewirtschaftung einer Hofstelle. In bemühten sich die Grundherren, ihren Gebieten mit weniger intensivem Ausbau Besitz auf ein engeres Gebiet zu kon- der Landesherrschaft und in Regionen mit zentrieren. So war das Ergebnis der vorherrschender Viehwirtschaft, also be- Wüstungsphase ein intensivierter Anbau sonders in Westniedersachsen, setzte sich auf deutlich reduzierter Fläche. das Meierrecht nicht oder erst spät durch. Im Verbreitungsgebiet bäuerlicher Un- Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts freiheit wurden verstärkt Zeitpachtver- zeichnet sich eine neue Agrarkonjunktur hältnisse mit Bauern abgeschlossen. Da- ab, die zu einer Konsolidierung der Land- neben wuchs die Zahl von vererblichen Hof- wirtschaft mit steigender Bevölkerungs- und Landverpachtungen gegen Naturalab- zahl, Neuansiedlung von Kötnerhöfen und gaben. Langfristig setzte sich das Erbrecht Anlage von Kleinstellen (Brinksitzer) führte. nur eines Kindes (Anerbenrecht) gegen Leistung eines festen Naturalzinses durch. Eine wichtige Folge der spätmittelalter- Adel und Landstände lichen Krise war für Niedersachsen die Herausbildung des so genannten Meier- Grundherren der Bauern waren rechts, einer Lebenszeiterbpacht. Es nimmt Klöster, selten Städte und Bürger, oft der eine Mittelstellung zwischen westeuropäi- jeweilige Landesherr, häufig der so ge- scher freier Zinspacht und osteuropäischer nannte niedere Adel. Dieser entstammte Gutsuntertänigkeit ein. Auffällig ist, dass oft der Ministerialität, aber auch alten sich das Meierrecht am ehesten in den von freien Geschlechtern. Charakteristisch für der Krise des Getreidebaus betroffenen Ge- Niedersachsen ist, dass der Adel zumeist bieten im mittleren Niedersachsen verbrei- über Streubesitz verfügte. Dabei darf frei- tete, also im Umkreis von Städten, deren lich nicht übersehen werden, dass am Getreidenachfrage besonders hoch war. Ausgang des Mittelalters auch kleine ge- Historische Stationen zur Entstehung des schlossene Herrschaftsbereiche entstan- Meierrechts waren zeitlich befristete Land- den waren, in denen Grundherrschaft und verpachtungen im Mittelalter, das Vor- Gerichtsherrschaft zusammenfielen. dringen der Lebenszeiterbpacht während Zum einen verfügte der niedere Adel der Agrardepression und die Aneignung über eigenen Grundbesitz und diesen be- Aufbauen (bis um 1500) 39

Die Landesherren waren im späten Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit auf die finanzielle und politische Unterstützung der Landstände angewiesen. wirtschaftende Menschen, zum anderen Gebiete mit nur wenigen Adelsfamilien. stand er zum Landesherrn in lehnsrecht- Hier entstanden langwährende bäuerliche licher Bindung und war diesem zu Rat und politische Mitwirkungsmöglichkeiten (Ost- Tat verpflichtet. Daher war mit dem niede- friesland) oder eine frühzeitige adelsunab- ren Adel der Begriff Ritter verbunden. Für hängige Herrschaft des Landesfürsten den Fürsten zogen gerüstete Reiter in den (Oldenburg). Besonders weit gedieh die Krieg, begleitet von Hilfspersonen. Oft politische Partizipation in den bischöflichen verwaltete der niedere Adel als Drosten Territorien, wo das zumeist adlige Dom- auch die landesherrlichen Sitze und kapitel neben den ritterschaftlichen Stan- Burgen. Da der Adel über Einkünfte und deskollegen eine starke Stellung durch das zum Teil auch Dienstleistungen der bäuer- Recht der Bischofswahl erhielt. lichen Hintersassen verfügte, brauchte er Wie in weiten Teilen des Reiches war seinerseits nicht landwirtschaftlich tätig der Ausbau territorialer Herrschaft ohne zu sein, ja er besaß oft eigene Geldmittel, die Mitbeteiligung des Adels nicht durch- die dem Landesherrn zur Verfügung ge- zusetzen. Lehns- und Hoftage könnten stellt werden konnten. Oft wurden zur die Vorgänger der Landtage gewesen Geldbeschaffung Zollrechte, Burgen, ja sein, die sich in den meisten der nieder- ganze regionale Herrschaftsbereiche (Äm- sächsischen Territorien im Laufe des 14. ter) an den Adel verpfändet. Jahrhunderts etablierten. Landstände wa- Auf diese Weise erwarb der niedere ren neben dem Adel die Klöster und in bi- Adel im Spätmittelalter zahlreiche Mitbe- schöflichen Territorien das Domkapitel. stimmungskompetenzen in den sich her- Eine bedeutende Rolle, gerade in Finanz- ausbildenden Territorialstaaten. Ausnah- angelegenheiten, spielten die Städte. Alle men blieben Ostfriesland, die Weser- und drei bzw. vier Landstände verfügten über Elbmarschen sowie Oldenburg, allesamt Einkommen aus bäuerlicher Arbeit oder 40 Aufbauen (bis um 1500) aus Handel. Im Regelfall reichte das Marsch und Geest bedeutungsvoll. Auch Hausgut der Landesherren nicht aus, um wenn die planmäßige Moorkolonisation die für die territoriale Erweiterung und erst in der frühen Neuzeit begann, waren Absicherung notwendigen Mittel aufzu- Torfstich und Handel mit dem in den bringen. Daher gehörte es zu den zentra- Städten begehrten preiswerten Brenn- len Aufgaben der Landtage, über Krieg material bereits im Mittelalter üblich. Das und Frieden zu entscheiden oder die Berg- und Hügelland verfügte über di- Ausstattung der Töchter des Landesherrn verse nutzbare Steinvorkommen und im zu finanzieren, wenn dies für die Heirats- Harz bei Goslar auch über Schiefer. Die politik wichtig erschien. Ob Landtage jähr- Waldungen waren nicht nur lebenswich- lich, öfter oder seltener gehalten wurden, tig für die Bau- und Brennholzversorgung ob sie an festen oder wechselnden Orten sowie die Weidewirtschaft, sondern boten stattfanden, war in den einzelnen Terri- die Basis für Holzflößerei und Köhlerei. torien unterschiedlich. Die Landstände ih- Die Kohlelager bei Osnabrück und im rerseits suchten sich die Gewährung der Schaumburgischen wurden zur lokalen landesherrlichen Bitten (daher „Bede“ als Versorgung von Schmieden genutzt. Die Begriff für Steuerzah- lungen der Zeit) mit vereinzelten Eisenerzvorkommen erbrach- Privilegien zu versüßen. Für den Adel war ten geringe Ausbeute, und auch die im dabei das Recht wichtig, Herrschaftsämter Spätmittelalter einsetzende Glas- wie die in die Hand zu bekommen, für die Städte Papierproduktion blieben bescheiden. die Autonomie in Gewerbe, Handel und Herausragende Bedeutung in der Politik. Als im Fürstentum Lüneburg bei- mittelalterlichen Rohstoffgewinnung und spielsweise die Herzöge nach dem Lüne- -verarbeitung besaß der seit dem 9. burger Erbfolgekrieg sehr geschwächt Jahrhundert sicher belegte, aber deutlich waren, mussten sie in der so genannten ältere Harzbergbau. Er war eine der „Sate“ mit den Landständen 1392 einen Grundlagen des sächsischen Königtums. Vertrag schließen, der die fürstliche Regie- Silber und Kupfer erreichten Süd- rungsgewalt eng beschränkte und von deutschland, Flandern, England und den den Ständen abhängig machte. Ostseeraum. Mit der Reichsfürstenbeleh- nung Ottos des Kindes 1235 gingen die königlichen Rechte über den Harzer Rohstoffe und Bergbau an die Welfen über. Seit dem aus- Rohstoffverarbeitung gehenden 13. Jahrhundert gewann die Stadt Goslar wichtige Verfügungsmög- Will man sich der Bedeutung der im lichkeiten über die Produktion in den Gru- Vorangegangenen schon oft erwähnten ben und Hütten. Die gewerbliche Verar- niedersächsischen Städte nähern, ist auf beitung der Metalle fand vorwiegend in die Bodenschätze hinzuweisen. Rammels- Braunschweig statt. berger Erze und Lüneburger Salz waren im Mitte des 14. Jahrhunderts kam der Mittelalter zwei europaweit bedeutende Harzer Bergbau jedoch fast völlig zum und für die Stadtentwicklung wichtige Erliegen. Die wasser- und bergtechnischen Rohstoffe. Probleme häuften sich, die Pest raffte viele Im Übrigen ermöglichten die lokalen Arbeiter dahin, die Übernutzung der Sandsteinvorkommen immerhin einen Wälder ließ die Holzkohleproduktion sin- Export in die glazial oder marin geprägten ken, und es fehlte an Kapital für notwen- Regionen. Töpferfähige Tone standen viel- dige Investitionen. Goslar nutzte die fol- fältig an, und die Ziegelherstellung war für genden Jahrzehnte, um die von vielen Aufbauen (bis um 1500) 41

Adligen, Klöstern und anderen Städten verheideten, wurden seit dem 13. Jahr- gehaltenen Grubenanteile billig zu erwer- hundert die Verkehrsverbindungen immer ben. Mit effektiverer Wasserhebetechnik weiter ausgebaut. Um Holz zu importie- wurde der Bergbau ab 1445 umfangrei- ren und Salz zu exportieren, erwarb die cher als zuvor wieder aufgenommen. Stadt Handels- und Zollprivilegien und be- Nach langen Konflikten musste die Stadt teiligte sich am Bau des Stecknitzkanals aber 1552 zugunsten der Welfen auf die nach Lübeck, über den der Salzbedarf des wesentlichen Rechte am Rammelsberg gesamten Ostseeraumes gedeckt wurde. verzichten. Zunehmend geriet die Silber- Durch die Salzgewinnung und insbeson- und Kupfergewinnung gegenüber dem dere durch die Einnahmen aus dem Salz- zwar weniger wertvollen, aber gewerblich handel gedieh Lüneburg neben Braun- nützlicheren Blei ins Hintertreffen. schweig zur wichtigsten niedersäch- Bis zu der Krise im 14. Jahrhundert sischen Hansestadt. wurde auch in drei Revieren des Ober- harzes durch nahe Klöster Erz abgebaut, die geförderten Mengen dürften mit Städte Ausnahme des Klosters Walkenried nicht über den Eigenbedarf hinausgegangen Die mittelalterliche Gesellschaft war sein. eine agrarische. Etwa vier Fünftel der Ebenfalls herausragende wirtschafts- Menschen wohnten auf dem Lande und geschichtliche Bedeutung besaß die lebten zumindest mittelbar von der Gewinnung des bis ins 19. Jahrhundert Landwirtschaft. Die Entwicklung der hinein wichtigsten Konservierungsmittels: Städte ist deshalb eng verbunden mit der Salz. Die Lüneburger Saline war die allgemeinen und primär agrarischen Wirt- größte im mittelalterlichen Reich und für schaftsentwicklung sowie mit den Ver- das nördliche und östliche Mitteleuropa hältnissen der auf der Verfügung über die wichtigste. Daneben existierten noch Land und Leute basierenden weltlichen diverse kleinere Salinen in Niedersachsen. Herrschaft. Vom Land hob sich die mittel- Urkundlich ist die Lüneburger Salzge- alterliche Stadt ab. In ihr dominierten winnung seit 956 nachzuweisen, um Bürger, die frei über Eigentum verfügen 1231 wurde bereits in 48 Siedehütten mit konnten. Die Bürger wählten selbst einen drei, später vier Pfannen gesotten. Wegen Stadtrat. Sie umgaben ihre Stadt mit einer der Bevölkerungszunahme und der Mauer. Städte konnten sich selber vertei- Entfaltung des hansischen Handels stieg digen. Städte waren also viel unabhängi- die Salznachfrage rasch an, 1269 wurde ger als das unter feudaler Herrschaft ste- unter herzoglicher Obhut die „neue hende Land. Sie zeigten im Mittelalter im Sülze“ angelegt. Von der wachsenden Kleinen, was für die modernen Staaten Nachfrage profitierten vorrangig die später charakteristisch wurde. Städte wa- Bürger, insbesondere die Führungsgruppe ren aber keineswegs Orte früher Demo- der die Pfannen bewirtschaftenden Sülf- kratie, sondern kannten Dominanz weni- meister, aber auch die immer häufiger in ger Geschlechter ebenso wie Unfreiheit Salzrenten investierenden kirchlichen von Randgruppen und Unterschichten. Institutionen. Städte konzentrieren sich im nie- Da die Geestgebiete in der Umgebung dersächsischen Raum auf ein West-Ost- der Stadt durch den immensen Holz- Band, verlaufend am nördlichen Fuß des verbrauch der Saline und der Schafbe- Berg- und Hügellandes (Osnabrück bis weidung auf den abgeholzten Flächen Braunschweig) und auf die im Osten gele- 42 Aufbauen (bis um 1500) gene Süd-Nordlinie des Leinetals und des Villikationsmittelpunkt Meppen. Zur Zeit nördlichen Harzvorlandes (Göttingen bis der deutschen Könige und Kaiser aus dem Lüneburg). Schließlich sind die Flussüber- sächsischen Herrscherhaus der Liudolfin- gangs- und Hafenlagen bedeutungsvoll ger nahm zwar der Handel zu und Markt-, (Bremen, Hamburg, Stade, Emden). Im Zoll- oder Münzrechte wurden vergeben, rohstoffreicheren Berg- und Hügelland ist doch fehlten den expandierenden Sied- die Städtedichte höher als in der kargen lungen freilich wesentliche weitere Merk- Geest. Die Marsch kannte bis an die male und Privilegien der späteren Jahr- Schwelle zur frühen Neuzeit keine Städte. hunderte. Hier fand in Großdörfern eine unmittel- Das für die Entwicklung der Land- bare Durchmischung von Landwirtschaft, wirtschaft und für den Landesausbau so Gewerbe und Handel statt. wichtige Wirtschafts- und Bevölkerungs- Die Entstehung der niedersächsischen wachstum des 12. und 13. Jahrhunderts Städte verlief der allgemeinen Entwick- bot die Basis für das Gedeihen der Städte lung entsprechend. Da der deutsche Nor- über die frühen Kerne hinaus. Wichtiger den allerdings außerhalb des vom Limes Ort für die städtische Entwicklung war der begrenzten Herrschaftsgebietes des römi- herrschaftlich geförderte Markt an einer schen Imperiums lag, kann es hier keine günstigen Stelle, z.B. einem Flussüber- Städte geben, die bis in die Spätantike zu- gang. Der Markt musste durch eine Burg rückreichen und mit Hilfe früher kirch- bewacht werden. Handwerker ließen sich licher Einrichtungen eine Kontinuität ins am Markt nieder, Landbewohner zogen Mittelalter wahrten. Dennoch gehen auch hinzu. Bewohnergruppen verschiedener im niedersächsischen Raum die frühesten Herkunft und Rechtsstellung wuchsen all- Stadtkerne auf kirchliche Einrichtungen mählich zur rechtsgleichen Bürgerschaft seit dem Beginn der Christianisierung zur zusammen. Durch Handel und Gewerbe Zeit Karls des Großen zurück. Die Bischof- wurde Geld verdient. Der Bischof oder der sitze in Bremen und Hamburg, Osnabrück, Herzog, der die entstehende Stadt geför- Verden, Minden und Hildesheim des 9. dert hatte, war auf dieses Geld begierig. Jahrhunderts vereinten Domburg, Herr- Nicht immer gaben die Bewohner der ent- schaftssitz, Landwirtschaft, erste Hand- stehenden Stadt es ihm freiwillig als werke zur Versorgung und frühen Waren- Marktabgabe oder Zoll. Waren sie mäch- austausch auf einem alsbald privilegierten tig genug, verlangten sie Privilegien, z.B. Markt. Ähnliches gilt für frühe Siedlungen selbst Münzen schlagen zu dürfen, an Klöstern (z.B. Gandersheim), nur war Gericht auszuüben oder einen Rat zu deren Zahl im Vergleich zu Süddeutsch- wählen. Städtische Rechte wuchsen also, land deutlich geringer. Etliche Städte je wohlhabender eine Stadt wurde und je gehen zudem auf Burgplätze wichtiger finanzschwächer der Stadtherr war. So regionaler Herrscher zurück, so Braun- konnten sich viele Städte allmählich ganz schweig auf den Sitz der Brunonen. und gar von ihrem Stadtherrn lösen und Handel als wesentlicher Niederlassungs- handelten politisch völlig unabhängig von grund der Menschen allein ist nur für we- ihm. Celle und Wolfenbüttel gediehen zu nige frühstädtische Siedlungen zu finden, Residenzstädten, weil die Landesherren wie im Fall von Bardowick. In einzelnen ihren Einfluss in Lüneburg und Braun- Fällen konnte die Konzentration klöster- schweig nicht halten konnten. Doch nur licher Landwirtschaftsgüter wesentlich für Goslar, einem der Hauptorte der Könige eine Stadtentwicklung werden, wie im Fall und Kaiser aus dem sächsischen und dem des bereits genannten Klosters Corvey am salischen Haus, gelang es, im Mittelalter Aufbauen (bis um 1500) 43

Hildesheim zeigt, wie eine mittelalterliche Stadt aus ver- schiedenen Teilen zusammen- wuchs (Domburg, klösterliche und kirchliche Einrichtungen, Stadtteile). allein den deutschen König als Stadtherrn des Bückeberges roden zu lassen, um hier zu haben, also Reichsstadt zu sein. Hagenhufendörfer anzulegen, also Reihen- Faktisch war auch Bremen bereits im dörfer mit großen Freiheiten für die Be- Mittelalter Reichsstadt. wohner. Dass die Schaumburger Grafen In der Expansionsphase wurden im letztlich Herren über das Gesamtareal wur- Rahmen gezielten herrschaftlichen Landes- den, lag nicht zuletzt daran, dass sie in der ausbaus nicht nur Wälder gerodet oder Mitte zwischen ihren Dörfern eine Burg-, Marschen und Sümpfe urbar gemacht, Kirchen- und Marktsiedlung schufen und sondern auch Städte neu gegründet. Ein diese mit Stadtrechten ausstatteten. gutes Beispiel hierfür ist Stadthagen. Die Zwar lebten die Städte von ihrem land- Schaumburger Grafen, aber auch die Min- wirtschaftlichen Umland, und auch die dener Bischöfe, die sächsischen Herzöge städtischen Einwohner hatten ihre Gärten aus dem askanischen Haus und die nördlich oder konnten den städtischen Wald und von Hannover begüterten Grafen von die Weiden nutzen. Wirtschaftliche Basis Roden begannen den Düllwald nördlich einer jeden Stadt jedoch waren die 44 Aufbauen (bis um 1500)

Gewerbe. Aus dem nahen städtischen zum Früh- und Hochmittelalter expansive Umland wurde ein Teil der gewerblichen städtische Wirtschaft nicht zu organisie- Rohstoffe gewonnen. Hier lagen auch ren gewesen. Gilden und Zünfte gestalte- Verarbeitungsstätten für agrarische und ge- ten Bereiche des menschlichen Zusam- werbliche Produkte (z.B. Mühlen, Bleichen). menlebens und der Ökonomie, für die die Offenbar im Zusammenhang mit dem Kräfte der adligen oder kirchlichen Stadt- Bodenpreisverfall anlässlich der Agrar- herren und der städtischen Räte nicht aus- depression im 14. Jahrhundert konnten die gereicht hätten. Städte ihren Einflussbereich auf Teile des Von der städtischen Frühzeit an lassen Umlandes ausdehnen. Landwehrringe und sich jene korporativen Organisations- Bannmeilen wurden zum Schutz vor wirt- formen nicht nur bei Kaufleuten, sondern schaftlicher Konkurrenz um die Städte he- auch bei Handwerkern feststellen (Bruder- rum geschaffen, aber auch Gerichtsrechte schaften, Gilden, Ämter). Der Entstehungs- in umliegenden Dörfern ausgeübt oder prozess von Zünften und Gilden verlief ge- ganze Dörfer erworben. Außerdem wurden mäß der jeweiligen Stadtentwicklung und die Wald- und Weideflächen außerhalb des dem Stand der Autonomie gegenüber dem Stadtgebietes durch die Bürger genutzt. Stadtherrn unterschiedlich. In Hildesheim Es gab in Niedersachsen am Ausgang oder Bremen standen die frühen Handels- des Mittelalters nur wenige Mittelstädte und gewerblichen Vereinigungen unter der mit 2.000-5.000 Einwohnern (Duder- Obhut des Bischofs, während die nachfol- stadt, Einbeck, Emden, Göttingen, Han- genden Zünfte ihre Privilegien durch den nover, Stade und Verden), Großstädte mit Rat der Stadt erhielten. In Braunschweig, 10.000-20.000 Einwohnern (Goslar, der wichtigsten Gewerbestadt Niedersach- Hildesheim, Lüneburg, Osnabrück, Bre- sens, erreichten die Zünfte der einzelnen men und Braunschweig) und keine Welt- Stadtteile eine sehr unabhängige und die stadt. Dies spricht für eine mehr gewerbli- Geschicke des Stadtregiments stets mitprä- che als fernhändlerische Funktion der gende Position. In Lüneburg nahmen die wichtigen niedersächsischen Städte. Das Sülfmeister wegen der überregionalen Bevölkerungswachstum im 12. und 13. Bedeutung der Saline eine Sonderstellung Jahrhundert war hauptsächlich das Resul- ein. Hier war im Vergleich zu Braunschweig tat des Zuzugs von Gewerbetreibenden die Ratsaufsicht über die Zünfte zugleich aus der näheren Umgebung. In den deutlich strenger. In kleineren Städten wur- Städten waren die Handwerkerbürger den erst im späten Mittelalter unter landes- zwar die zahlenmäßig größte Gruppe, herrlicher Aufsicht Zünfte eingerichtet, die doch dominierte, vornehmlich in den grö- oft auf religiöse Bruderschaften zurückgin- ßeren Städten, ein Patriziat, das sich in der gen. In Ostfriesland ist aufgrund der späten Regel durch Fernkaufhandel und privile- Stadtentwicklung erst 1455 eine Zunft von gierten Grundbesitz die faktische Herr- Goldschmieden in Emden nachweisbar. schaftsausübung sicherte. Die Zünfte trugen zu einer Pro- fessionalisierung der Handwerke und zur sozialen Regulierung bei. Sie nahmen so- Gewerbe, Zünfte, Stadtbewohner ziale, karitative und rituelle Aufgaben wahr, wobei die geselligen und religiösen Das Handwerkerbürgertum stellte den Funktionen die wirtschaftlichen weit über- Kern der Stadtbewohnerschaft. Ohne kor- wiegen konnten. Da die Mehrheit der porative Zusammenschlüsse von Händlern Stadtbürger korporativ organisiert war und Handwerkern wäre die im Vergleich und das ökonomische Gewicht einer Stadt Aufbauen (bis um 1500) 45 zunächst einmal vom Gewerbefleiß ab- außerhalb des Haushaltes der Kernfamilie hing, musste der Rat der Stadt stets arbeiteten, war in Niedersachsen ohnehin Handwerkerinteressen berücksichtigen. offenbar geringer als in wirtschaftlich hö- Allerdings waren die niedersächsischen her entwickelten Gebieten. Da die stadt- Korporationen nirgendwo so einflussreich bürgerlichen Freiheitsrechte im Wesent- wie vergleichsweise in den oberschwäbi- lichen familien- und erbrechtlicher Art schen Reichsstädten. waren, kamen sie zwar auch den Frauen Generell ist im Spätmittelalter eine zugute, doch durften Frauen nicht wie Verfestigung der zünftigen Organisations- Gesellen wandern oder die Gymnasien formen, eine Differenzierung der Ge- und Universitäten besuchen. Die Mit- werbeordnung und eine Professionali- wirkung der Frauen in der gewerblichen sierung der Handwerksausbildung fest- Produktion der Städte beschränkte sich zustellen. Als Basis für die wirtschaftliche auf zeitweilige Betriebsführung im Fall der Expansion und zur Ausschaltung außer- Verwitwung, auf Zu- und Hilfsarbeiten, zünftiger Konkurrenz bemühten sich die auf Tätigkeiten in den haushaltsverwand- Zünfte um den Erwerb von Privilegien und ten Nahrungs- und Bekleidungsgewerben Monopolen (Prinzip der Nahrung). Einer- sowie auf die den Mütterpflichten nahen seits sollten die Zünfte nicht durch über- Heilberufe. Somit waren eigenberuflich örtliche Konkurrenz bedroht, andererseits arbeitende Frauen in den unteren sozialen aber auch nicht der städtische Handel ge- Gruppen weit überrepräsentiert, und in schmälert werden. So gab es in manchen diesen waren viele Mägde zu finden. Städten Strategien zur gänzlichen Ab- Frauen waren nicht von vornherein als schottung, in anderen Städten zur Öffnung gewerbetreibende Mitglieder von den der Märkte. Stetig nahm der ausschlie- Gilden und Zünften ausgeschlossen, doch ßende Zunftzwang zu, der vor einer Über- arbeiteten sie selten eigenverantwortlich. besetzung schützen sollte. Davon betroffen Allerdings finden sich im Handwerk von waren vorrangig Kinder aus Berufs- Stadthagen unverheiratete weibliche Fa- gruppen, die als unehrlich galten. Verlangt milienmitglieder als Gesellinnen, und es wurden nunmehr die eheliche Geburt, eine gab eine eigene Zunft der Leinwebe- spezielle Berufsausbildung und die persön- rinnen. Selbständige Meisterinnen arbei- liche Freiheit. Verstärkte Reglementie- teten in Bremen und in Lüneburg. rungen, wie langjährige Lehr- und Wan- Der soziale Status der Väter und Ehe- derjahre, die Anfertigung eines Meister- männer prägte denjenigen der Frauen. stücks und die Zahlung von Aufnahmege- Letztlich galt für die Mehrheit der Be- bühren, trugen dazu bei, dass Söhne, die völkerung, dass Ehefrau und Ehemann zum das väterliche Handwerk erlernten, bevor- Erhalt der Subsistenz und der Versorgung zugt wurden. Nichtzünftige gewerbliche ihrer Herrschaft als „Arbeitspaar“ zu- Arbeit wurde am Ausgang des Mittelalters sammenwirkten. Den größten Verantwor- in den Städten zurückgedrängt, ja nicht- tungsfreiraum konnten Frauen erreichen, zünftige Handwerker wurden als „Bön- die einem Großhaushalt vorstanden. Im hasen“ verfolgt, allerdings bildeten von der Übrigen boten allein karitative und religiöse Stadtobrigkeit organisierte Eigenbetriebe Tätigkeiten Frauen die Möglichkeit, eine wichtige Ausnahmen (z.B. Ziegeleien). selbständige Existenz zu führen (z.B. Be- Die Spezialisierung der Gewerbe und ginen). In städtische Führungspositionen die Professionalisierung der Berufe verän- konnten sie nicht gelangen. derte insbesondere das Leben der Frauen. Der im Stadtrat und den leitenden Der Anteil der Frauen, die erwerbstätig Ämtern dominierende Herrschaftskreis 46 Aufbauen (bis um 1500)

position besonders gut bewahren, wo es sich gegenüber erfolgreichen Aufsteigern nie völlig abschloss oder Standesgleiche von außen immer wieder einheiraten ließ. Wenngleich sich unter Patriziat und Handwerkern während des Spätmittel- alters ständische Verfestigungen und Ab- schließungstendenzen abzeichnen, war die soziale Flexibilität immer noch variab- ler als auf dem Land. Da in der Stadt wachsender Reichtum, Übergang zum Fernhandel und zunehmender Grund- besitz sozialen Aufstieg ermöglichten, sind die aus Steuerbüchern ermittelten Vermögen als Maßstab für die soziale Gliederung genutzt worden. Das Ideal- modell sieht eine in drei Bereiche horizon- tal getrennte zwiebelähnliche Figur vor, die sich von einer Unterschichtbasis der unterständischen Stadtbewohner (unehr- liche Handwerker, Arbeiter, Tagelöhner, Mägde, Knechte, Ausgestoßene) in einem dicken Bauch des Mittelschichtbürger- tums wölbte, um in einer schmalen patri- zischen Oberschichtspitze zu münden. In Hermen Botes Weltchronik um 1500 wird Diese Vorstellung trifft aber die tatsäch- Braunschweig mit Stadttor, Bürgerhäusern und lichen Ungleichheiten nicht vollständig. Kirchen gezeigt. Beispielsweise konnten Geistliche ebenso arme, auf die Stiftung von Seelenmessen kam im Wesentlichen durch Fernhandels- angewiesene Vikare sein wie auch ange- tätigkeiten zu Macht, Vermögen und sehene, politisch mächtige, wohlhabende Ansehen, war aber unterschiedlicher sozi- Äbte der in Städten gelegenen und an ih- aler Herkunft. Bis zum 14. Jahrhundert rer Wirtschaft beteiligten Klöster. hatten sich in allen größeren Städten die Über soziale Schichten hinaus lassen Führungsgruppen zum stadt- und wirt- Analysen von Steuerbüchern auch soziale schaftsbeherrschenden Patriziat zusam- Viertelsgliederungen der Städte erkennen. mengefügt. Dessen Charakteristika wa- Die Ballung bestimmter Handwerker in ein- ren: eine spezifische, von der übrigen zelnen Vierteln ergab sich vorrangig aus Bürgerschaft abgehobene Lebensweise, dem sozialen Status und aus geselligen ständischer Abschluss in einem Heirats- oder religiösen Gründen, richtete sich aber kreis, wirtschaftliche Macht durch Fern- bisweilen auch nach der Produktionsme- und Großhandel sowie durch Renten- thode. Gerber brauchten nahes Wasser, bezüge aus Grundbesitz, Ratsfähigkeit Weber feuchte Produktionsräume. Die bes- und faktische Herrschaftsausübung in der ten Wohnquartiere lagen zumeist in der Stadt. Bei aller Tendenz zur ständischen Stadtmitte nahe dem Markt und fielen zum Verfestigung konnte das Patriziat aber ge- Rand hin ab. Die Hauptverkehrsachsen wa- rade dort seine wirtschaftliche Leitungs- ren die „reichsten“ Straßen. Aufbauen (bis um 1500) 47

Das Testament des Göttinger Ratsherrn feindschaft nach der ersten Pestwelle Hans von Oldendorp bietet einen Einblick 1349/50 einen vorläufigen Höhepunkt. In in patrizische Mentalität zwischen irdi- Lüneburg wurden 1350 sämtliche Juden schem Gewinn- und Erfolgsstreben und ermordet, während sie offenbar nur in Besinnung angesichts des Todes. Olden- Goslar vor Übergriffen geschützt werden dorp plagte das schlechte Gewissen, sich konnten. Im 15. Jahrhundert setzte sich die nicht die Muße für Wallfahrten genommen systematische Verdrängung und Vertrei- zu haben. Seinen reichlichen Geld- und bung von Juden in Niedersachsen fort, ent- Pretiosenbesitz stiftete er diversen kirch- weder durch direkte Ausweisung oder lichen und karitativen Einrichtungen, dafür durch horrende Schutzgeldforderungen. sollten in 13 Kirchen für ihn sowie seine er- Aus Bremen gibt es seit dem Ende des 14. ste und seine zweite Ehefrau Seelenmessen Jahrhunderts keine Nachrichten mehr über gelesen werden. Redlichkeit und Ehrlich- die schon zuvor sehr kleine Judenge- keit als Berufsprinzipien spätmittelalter- meinde. In Braunschweig reichte die wirt- licher Fernhändler könnten nicht nur dem schaftliche Bedeutung der Juden und auch Wunsch nach sicherer Geschäftspartner- der Judenschutz am weitesten. schaft, sondern auch der Kompensation ei- ner nicht den kirchlich-religiösen Prinzipien gemäßen Lebensweise entstammt haben. Verkehr und Handel Selbst die Frömmigkeit und die Armen- fürsorge besaßen kommerziellen Charak- Der niedersächsische Raum war eine ter. Denn Erwerbsprinzip und ökonomi- Verkehrsdurchgangslandschaft. Auch wenn scher Rationalismus waren zwei Berufs- die exakte Lage mittelalterlicher Ver- merkmale, die jeder Großkaufmann ent- kehrswege nur noch schwer zu rekonstru- wickeln musste. Reichtum war der soziale ieren ist, lassen sich aufgrund schriftlicher Wertmaßstab, Rechenhaftigkeit ein All- Quellen der Städte die Transportwege be- tagsverhalten, die Planung in Zeitrhyth- stimmter Handelsgüter z. T. sehr genau men, die nicht die Natur vorgab, unabding- nachvollziehen. Der seit der Ostex-pansion bar. Insofern glich der Fernhändler mehr ständig zunehmende West-Ost-Handel den modernen Menschen als seinen Zeit- wurde überwiegend entlang der Nord- und genossen. Ostseeküste abgewickelt, auf dem Land- Die zunehmenden Sozialregulierungen weg aber hauptsächlich durch die Börden des späten Mittelalters förderten offen- am Nordrand des Berg- und Hügellandes sichtlich die Abschottung gegenüber nicht (Helweg). Der Nord-Süd-Verkehr konzen- in das Handwerkerbürgertum integrierten trierte sich auf Ostniedersachsen und das Gruppen. Beispielhaft deutlich wird das an Leinetal; am Ausgang des Mittelalters ge- der Ausgrenzung von Juden, die parallel wann der Weserhandel an Bedeutung. zum Ausbau und zur organisatorischen Städte gediehen vor allem dort, wo an Verfestigung der Handwerke zunahm. wichtigen Handelsrouten der Verkehr den Juden sind im 11. Jahrhundert erstmals für mittelalterlichen technischen Bedingungen Bremen und Goslar erwähnt, spätestens im gemäß gebrochen werden musste, ein 13. Jahrhundert gehören sie in allen nie- Umladen also notwendig war. Handel und dersächsischen Städten zu einer wichtigen Herrschaft bedingten einander. Verkehrs- Bevölkerungsgruppe, gerade in den Ge- knotenpunkte wie Bremen, Osnabrück, werben. Waren die Juden schon im hohen Verden oder Hildesheim waren Bischofs- Mittelalter Opfer von Vertreibungen und sitze, Lüneburg und Braunschweig dienten Gelderpressungen, so erreichte die Juden- den Welfen als Hauptorte. 48 Aufbauen (bis um 1500)

Niedersächsische Städte liegen an den wichtigsten Verkehrswegen des Mittel- alters. Bedeutendstes Ver- kehrskreuz war Braun- schweig.

Zwischen Göttingen, Hameln, Han- schließlich ca. alle 10 km erhoben wur- nover und Braunschweig kreuzten sich die den. Zölle wuchsen zu einer allgemeinen wichtigsten Handelsrouten. Beispielsweise Handelsbelastung an, die nur fallweise durch den Erwerb von Pfandschlössern durch gegenseitige Zusicherung von Zoll- oder wichtigen Zöllen gelang es Städten freiheiten ausgeräumt werden konnte. wie Lüneburg oder Braunschweig, große Wurden im Früh- und Hochmittelalter Verkehrskontrollräume zu schaffen. Ost- Höhenwege auf Gebirgsrücken, Talschul- friesland aber war nur über die Weser mit tern oder Terrassenrändern bevorzugt, kon- Zentralniedersachsen verbunden, durch zentrierten im Spätmittelalter die Städte die Ems jedoch mit Westfalen und dem den Verkehr auf die Fläche. Die meisten Rheinland. Größere Bedeutung besaß der mittelalterlichen Landverbindungen waren Seeverkehr nach Flandern, England und unbefestigte Erdwege, die bestenfalls in den norddeutschen Küstenstädten. den Städten und ihrer nächsten Umgebung An der Küste waren noch am Ausgang gepflastert waren. Zunächst dominierten des Mittelalters ehrlicher Handel und Ochsengespanne auf den Landwegen, Piraterie nicht eindeutig voneinander ge- dann bis ins 15. Jahrhundert zweirädrige trennt. Da Straßenraub ein weit verbreite- pferdebespannte Wagen und Saumtiere. tes Übel war, entwickelten die Städte im Schließlich setzten sich mehrspännige Binnenland ein eigenes Geleitswesen, das Frachtwagen durch, die allerdings selbst oft besseren Schutz bot als das lan- auf den Haupthandelswegen über eine desherrliche oder adlige. Geleit und Transportleistung von 30 km pro Tag nicht Wegeunterhaltung bildeten die Rechts- hinauskamen. Massentransporte, vor allem grundlage für die Erhebung von Zöllen, von Getreide, wurden möglichst auf den die im spätmittelalterlichen Leinebergland Flüssen oder küstenparallel durchgeführt. Aufbauen (bis um 1500) 49

Die Kosten des Land-, Binnenschiffs- und und quantitativ nicht mit demjenigen Seetransports standen etwa im Verhältnis Oberitaliens oder Flanderns zu vergleichen. von 10:2:1. Den Handel auf den unbegra- Die Städte importierten vor allem Getreide digten Binnenflüssen erschwerten freilich und exportierten Leinwand oder Bier. Aller- zahlreiche natürliche und auch künstliche dings übernahmen die größeren nieder- Hindernisse wie Mühlen, Zoll- und Stapel- sächsischen Städte gegenüber den exter- plätze. Für die Entfaltung des hansischen nen Zentren Vermittlerpositionen. Immer Küstenhandels spielte die hochbordige, häufiger schlossen fernhandelsorientierte einmastige Kogge eine herausragende Städte untereinander Verträge über Han- Bedeutung. Sie wurde im 15. Jahrhundert delserleichterungen. In der Hanse enga- von den größeren Hulks und diese wiede- gierten sich die niedersächsischen Städte rum von den geräumigeren Dreimastern erst spät. 27 niedersächsische Städte, Bre- der immer stärker werdenden niederländi- men eingeschlossen, agierten zeitweise im schen Konkurrenz verdrängt. hansischen Verbund. Insbesondere in der Mit dem Florieren des hochmittelalter- Zeit der spätmittelalterlichen Agrarkrise, als lichen europäischen Fernhandels ging Nahrungsmittel billig waren und sich nach eine Ausweitung der Geldwirtschaft so- den Pestumzügen viel Kapital in wenigen wie der Wechsel- und Kreditgeschäfte Händen ballte, erreichte der Handel seine einher. Die Bezahlung mit Geld drängte Hochblüte. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts den Tausch zurück. Das Münzrecht, vom verlangsamte die Konkurrenz der Nieder- deutschen König als Regal beansprucht, länder und der Territorialfürsten die Han- wurde faktisch an viele regionale delsexpansion. Herrscher verliehen. Die Lokalinteressen Bedeutendster Handelsort des Spät- verhinderten einen überregional einheit- mittelalters war Braunschweig, gefolgt von lichen Münzfuß, doch setzten sich seit Lüneburg und Bremen. Auch Goslar expor- dem 12. Jahrhundert die aus einer tierte nicht nur Metalle, sondern trieb re- Lübischen oder Kölner Silbermark ge- gen Handel mit anderen Gütern. Hildes- münzten Pfennige im nordwestdeutschen heim verfügte über weiterreichendere Raum durch. Im Laufe des hohen und spä- Handelsverbindungen als Hannover. Im ten Mittelalters erwarben viele Städte zu- südniedersächsischen Raum kooperierten mindest das Recht auf Nutzung der Göttingen, Northeim, Münden und das Münze. seit Mitte des 14. Jahrhunderts als „Bier- Für ein differenziertes Kreditwesen be- stadt“ bekannte Einbeck miteinander. stand noch kein Bedarf. Die wichtigste Die ostfriesischen Fernhändler wurden wahrgenommene Kreditquelle des Han- im Spätmittelalter von denjenigen der be- dels lieferte der an Immobilien oder feste nachbarten Städte, insbesondere Bremen Einkünfte gebundene städtische Renten- und Hamburg, verdrängt. Beide Städte markt. Handelsplatz war der Markt, der bemühten sich um zunehmende Einflüsse zunächst unter herrschaftlichem, dann in Ostfriesland. Hamburg etablierte sich unter städtischem Schutz stand. Märkte nicht nur an der Elbmündung, sondern er- dienten der lokalen Versorgung. Gemein- reichte im 15. Jahrhundert zeitweilig eine sam boten Markt, Zoll und Münze wich- Kontrolle der Emsmündung, konnte frei- tige Voraussetzungen für einen erfolgrei- lich nicht den Übergang der Stadt Emden chen Handelsplatz und die Basis für die an die Grafen aus dem Haus Cirksena ver- Stadtentwicklung. hindern. Der Aufschwung des niedersächsischen Bremens Handel expandierte bis 1358 Handels im hohen Mittelalter war qualitativ zunächst in Konkurrenz zum hansischen. 50 Aufbauen (bis um 1500)

Stades Bedeutung sank in dem Maße, wie Nach der Entmachtung Heinrichs des Hamburg wuchs. Osnabrück behauptete Löwen war der Einfluss der welfischen seine Vermittlerposition zwischen West- Stadtherren zurückgedrängt worden. Die falen und Norddeutschland. Am Ausgang Räte der Stadtteile erreichten weitge- des Mittelalters allerdings überragte Ham- hende Autonomie und bildeten seit 1269 burg alle anderen Städte des Küsten- zudem einen Gesamtrat. In diesem domi- bereichs. Die Hanse verlor seit Mitte des nierten die Patrizier, die als wohlhabende 15. Jahrhunderts rasch an Handelskapa- Fernhändler zunehmend ihr Vermögen in zität gegenüber den Holländern, während Immobilien und Landbesitz sicherten. Nürnberg, Köln, Hamburg und Leipzig Was sich im Nachfolgenden als ver- den Handel aus den norddeutschen meintlich sicheres Geschehen ab 1374 Städten zunehmend abzogen. Die Han- darstellt, beruht wie so oft auf einer pro- delskraft Antwerpens, die Frachtkapa- blematischen Quellenlage. Als wichtigstes zitäten der Niederländer und das Silber Zeugnis soll eines herausgehoben wer- Böhmens verwiesen am Ausgang des den, das so genannte „Schichtbuch“ von Mittelalters auf neue wirtschaftliche Ver- Hermen Bote, das 1514 abgeschlossen hältnisse, denen sich die niedersächsi- wurde. Bote ist der wichtigste Autor in schen Handelsstädte in den Folgejahr- Niedersachsen am Ausgang des Mittel- hunderten zu stellen hatten. alters, als das Mittelniederdeutsche noch

Städtische Verfassung - die „Große Braunschweiger Schicht“

An der so genannten „Großen Braun- schweiger Schicht“ von 1374, einem Bürgeraufstand, lässt sich die spätmittelal- terliche Sozialordnung und Verfassung ei- ner niedersächsischen Stadt exemplarisch erläutern. Braunschweig war noch ausgeprägter als die anderen niedersächsischen Städte eine Gruppenstadt, in der verschiedene privilegierte Orte und Siedlungskerne all- mählich zu einer Stadt am Verkehrskreuz des Okerüberganges zusammenwuchsen: Burgbezirk, Altstadt (mit eigenen älteren Siedlungskernen), Altwiek, Hagen, Neu- stadt, Sack, Chorherrenstift St. Blasius / Dom), Benediktinerkloster St. Ägidien. Braunschweig war am Ausgang des 14. Jahrhunderts zur wichtigsten Handels- stadt zwischen westfälischen und mittel- deutschen, süd- und norddeutschen Städten gediehen, zählte mehr als 15.000 Hermen Botes „Schichtbuch“ (vor 1514) be- Einwohner und war damit die größte richtet über die Bürgerkämpfe im mittelalter- Stadt des niedersächsischen Raumes. lichen Braunschweig. Aufbauen (bis um 1500) 51 die übliche Schriftsprache war. Neben ei- gegenüber einem wesentlichen Teil der ner bekannten Weltchronik schrieb er Ratsoligarchie. Sechs Ratsmitglieder wur- wohl auch die berühmten Geschichten den noch am selben Tag getötet, zwei wei- über Til Eulenspiegel nieder. In seiner tere vier Tage später nach einem Schnell- Heimatstadt, wo er als städtischer Be- gerichtsverfahren hingerichtet. Teils frei- diensteter arbeitete, verfasste Bote eine willig, teils gezwungenermaßen verließen „Chronik der Unruhen“ für den Zeitraum viele Angehörige der bisherigen Patriziats- von 1292 bis 1514, erläuterte also die ver- familien die Stadt. Ihre Vermögen wurden schiedenen Bürgeroppositionen in Braun- konfisziert. Rasch wurde ein neuer Rat ge- schweig. Seine Intention war eindeutig. Er bildet. bemühte sich zu beweisen, wie verderb- Die Vertriebenen aber, die in den be- lich die Auflehnung gegen die Herrschaft nachbarten Hansestädten Unterschlupf des Rates und die alte Ordnung sei. fanden, erreichten, dass im Sommer 1375 Hierbei erleide jeder nur Schaden, und Braunschweig verhanst wurde, d.h. fak- niemand trage einen Nutzen davon. tisch ein Handelsboykott durchgeführt In Braunschweig brach 1374 ähnlich werden sollte. Die Zusammensetzung des wie bereits 1292 ein Aufstand aus. Anlass neuen Rates wechselte rasch, allmählich war eine geplante Steuererhöhung. Der fand eine Annäherung zwischen alten Rat der Stadt war einer Aufforderung des Geschlechtern und den neuen statt; das Welfenherzogs Ernst gefolgt, sich an ei- waren einige Patrizier, viele bisher nicht- ner Fehde gegen den Erzbischof von patrizische Kaufleute und etliche füh- Magdeburg zu beteiligen. Diese lag rende Gildemeister. 1380 wurde in durchaus im Interesse der Stadt, da der Lübeck schließlich ein Kompromiss zwi- Magdeburger Erzbischof einer der territo- schen Vertriebenen und dem neuen Rat rialen Konkurrenten im Braunschweiger geschlossen und Entschädigungen festge- Umland war. Die Fehde schlug fehl, etli- setzt. Auf diesem Willen zum Ausgleich che Braunschweiger Bürger wurden ge- beruhte die Verfassungsreform von 1386. fangen genommen, und der Erzbischof Der neue „Gemeine Rat“ wurde mit 105 verlangte für deren Freilassung 4.000 Personen aus allen Stadtteilen besetzt Mark Silber, eine ungeheuere Menge. Der und die ökonomisch wie politisch bedeu- Rat war der Ansicht, dieses Geld könne tendsten 14 „ratsfähigen“ Gilden am nur durch eine Sondersteuer aller Bürger Stadtregiment beteiligt. Quantitativ war aufgetrieben werden, wollte sich aber zu- das Patriziat nun in der Minderheit, fak- nächst der Zustimmung der wichtigsten tisch besetzte es aber auch hernach die Zunftvorsteher, der Gildemeister, versi- wichtigsten Führungsämter. chern. Diese versammelten sich am 17. Bürgeroppositionen und Bürger- April 1374. Das Gerücht über die ge- kämpfe gab es in vielen der größeren plante Steuererhöhung verbreitete sich niedersächsischen Städte des Spätmittel- rasch. Es sollte eine Kornsteuer, eine alters, wenngleich nicht in der Häufigkeit Steuer auf das Grundnahrungsmittel also, und Intensität wie in Braunschweig. Stets sein. Aufgeregte Menschenmassen ka- ging es um das neue Austarieren der men noch während der Besprechung der Ratsherrschaft und den Versuch der Ein- Gildemeister zusammen; als diese der ver- beziehung neuer Gruppen. Trotz der sammelten Schuster- und Gerberzunft Dominanz der Stadtpatriziate wurde bür- von der zu erwartenden Steuererhöhung gerliche Mitbestimmung daher nie völlig berichteten, brach der Aufstand los. Es zurückgedrängt. kam zu Plünderungen und Gewalttaten 52 Aufbauen (bis um 1500)

Menschen und ihr Lebensalltag und oft nährstoffarm. Roggen war das all- tägliche Grundnahrungsmittel, das Brot- Das Alltagsleben der Menschen war getreide schlechthin. Hungerkrisen führ- vermutlich mehr durch Missernten, ten nicht nur zu Krankheitsanfälligkeit, Viehsterben, Hunger, Not und Krankheit als sondern auch zu Trägheit und Apathie. durch Freude, Lust und Erfolge geprägt. Vom landwirtschaftlichen Jahreslauf hin- Der Tod war allgegenwärtig. Etwa 40% der gen die saisonalen Lebenszyklen ab, wie Kinder starben vor ihrem 14. Lebensjahr, Todeshäufungen im Spätwinter oder und nur 3,5% der Menschen erreichten das Hochzeiten nach der Ernte und Geburten 70. Lebensjahr. Wer aber bis zum Er- im Spätfrühjahr zeigen. Aufgrund der ge- wachsenenalter überlebt hatte, wurde ringen Konservierungs- und Lagerungs- immerhin durchschnittlich gut 40 Jahre alt. möglichkeiten richtete sich der Speiseplan Ältere Menschen litten unter hochgradigen im Jahresgang nach der Pflanzenreife oder degenerativen Veränderungen, die auf er- den Einstallungsmöglichkeiten für Vieh. nährungsbedingte Stoffwechselstörungen Trocknen, Räuchern, Einsalzen, Einkochen hindeuten. Die Erwachsenensterblichkeit und Kühlen waren die üblichen Mittel, lag besonders in der Altersphase zwischen Nahrungsmittel zu konservieren. Weil die 30 und 40 sowie 50 und 55 Jahren be- Zähne der Menschen schon in jungen sonders hoch. Haushaltsgrößen überstie- Jahren miserabel waren, wurden die mei- gen durchschnittlich kaum 4 Personen. sten Speisen lange gekocht, bis sie einen Durch Hungerkrisen, Kriege und Brei ergaben. Dadurch war die Kost vita- Seuchen, aber auch durch die systemati- min- und mineralstoffarm. Die weichen sche Ausgrenzung von Randgruppen und geschmacklosen Speisen mussten wuchs vornehmlich der Bedarf der Städte durch kräftiges Würzen wieder genießbar an karitativen Einrichtungen. Ende des 15. gemacht werden. In Nieder- Jahrhunderts sind für Hildesheim 11 Spi- sachsen standen Salz, die einheimischen täler, für Braunschweig 23 und für Osna- Küchenkräuter und Honig zur Verfügung. brück 15 Armen- und Krankenpflege- Man trank Wasser, auch Milch, seltener einrichtungen bekannt, die den notwen- gesüßten und gewürzten Wein. Seit im digen Bedarf aber bei weitem nicht 14. Jahrhundert Hopfen zum Brauen ge- decken konnten. nutzt wurde, eignete sich Bier am besten Die sich ausprägende berufsständische als haltbares Getränk. Gliederung der Gesellschaft förderte die Der Hausbau in Stadt und Land unter- Bildung von Kernfamilien aus Eltern und schied sich erst allmählich. Im hohen Kindern. Mittelpunkt der Wirtschaft auf Mittelalter waren Grubenhäuser in Pfos- dem Land oder in der Stadt war der tenbauweise auch in den Städten noch Haushalt, in dem der notwendige Lebens- üblich, Steinhäuser (Kemenaten) wohlha- unterhalt und die zur Versorgung der bender Stadtbewohner besondere Aus- Herrschaft geforderten Leistungen erwirt- nahmen. Vom Land her drangen die schaftet werden mussten. Kinder wurden Ständerbauten auch in die Stadt vor. Vor- so jung wie möglich in die Arbeitsprozesse bild war das niederdeutsche Hallenhaus; integriert. Die Erwachsenen arbeiteten bis dieser Haustyp breitete sich seit dem 12. ins Alter und gaben erst spät die Haus- und 13. Jahrhundert auf dem Land rasch haltsführung an die Folgegeneration ab, aus. Er bot großen Speicher-, Stallungs- die erst dann heiraten durfte. und Wohnplatz. Während der Agrar- Die Ernährung der Menschen war mit konjuktur mussten die Bauern allmählich Ausnahme der Wohlhabenden einseitig größere Erntemengen lagern und mehr Aufbauen (bis um 1500) 53

Mittelalterliche Haushalte waren schlicht ausgestattet. Einfache Holzgeräte und graue Keramikartikel bildeten den Grundstock des Küchengeschirrs. Erst in der spätmittelalterlichen Stadt wuchs die Vielfalt, und die städtischen Führungs- gruppen begannen, sich durch den Seltenheitswert ihrer Haushaltsgeräte von den übrigen Stadtbewohnern abzuset- zen. Während seit dem späten 13. Jahrhundert reiche Familien ihr Steinzeug aus Siegburg einführen ließen, blieben die ärmeren Menschen bei der örtlich gefer- tigten Holzschale und dem Holzbecher oder erwarben die einfachen Kugeltöpfe aus der heimischen Produktion. Bunt- metallgeschirr blieb den Festtagen vorbe- halten. Gewöhnlich kamen die Menschen nur zur Morgen- und Abendmahlzeit zusam- men. Auf dem Tisch stand das Holz- und Keramikgeschirr. Löffel und Messer trug man bei sich. Eng saß die Speiserunde auf Bänken um den frei beweglichen Tisch. Das Universalmöbel war die Truhe. Das Mobiliar erfüllte die Grundbedürfnisse der Mahlzeiten und des Ruhens, des Sitzens und des Liegens, der Lagerung und der Lebensmittelzubereitung. Soziale Differ- enzierung wurde an Kleidung, Ge- Das nordwestdeutsche Heimhaus setzte sich im Laufe des Mittelalters in vielen niedersächsi- schmeide, Bett-, Tisch- oder Wand- schen Regionen durch. Es vereinte Scheune, schmuck deutlich, kaum am Mobiliar. Stall und Wohnraum unter einem Dach. Die Kleidung der Menschen war über- wiegend funktional und schlicht. Bis weit Vieh überwintern. Eine Trennung von in das 15. Jahrhundert trugen Männer wie Vieh und Mensch gab es ebenso wenig Frauen die hemdartige Tunika aus Leinen, wie Intimität, ausreichende Wärme, Sau- Wolle oder Barchent mit ausgeschnitte- berkeit und reine Luft. Städtische Häuser nen Ärmeln, dazu knöchellange strumpf- wurden bis zum Ausgang des Mittelalters ähnliche Hosen oder weite Röcke, Halb- nach diesem Vorbild errichtet, alsbald stiefel oder niedrige Schlupfschuhe, eine aber auch zweigeschossig und mit kugelige Kappe oder ein Kopftuch. Wie Kammern links und rechts der Diele ge- das Mobiliar, so unterschied sich die baut. Je höher der soziale Status lag, de- Kleidung der einfachen Leute zwischen sto eher wurde zur Neuzeit hin das Leben Stadt und Land kaum. Im Verlauf des in einem großen Raum durch die räumli- Mittelalters aber nahm die soziale Dif- che Trennung der Verrichtungen in kleine ferenzierung der Kleidung ständig zu und Einzelräume abgelöst. wurde gerade innerhalb der Stadtbe- 54 Aufbauen (bis um 1500) völkerung ein wichtiger, vom Rat gesteu- Archidiakonate. Eine kirchliche Organisa- erter Indikator für den gesellschaftlichen tion in der Fläche entstand. Aus den Rang. Hieran zeigt sich die wachsende Städten wissen wir von christlich-welt- Bedeutung der Sozialregulierung in der lichen Vereinigungen wie den Beginen spätmittelalterlichen Stadt. und Begarden, die Frauen oder Männern ein der Religion und Nächstenliebe ge- weihtes Leben in persönlicher Autonomie Religion und Kirche boten. Städtische Heilig-Geist-Spitäler entstanden zur Versorgung Armer und Seit zur Zeit Karls des Großen die ers- Kranker. Gebetsbruderschaften traten ten Bistümer in Niedersachsen gegründet hinzu (Kalande). Zünfte hatten in Kirchen worden waren und alsbald Benediktiner- eigene Altäre. Wohlhabende Menschen abteien folgten, ist auch die niedersächsi- statteten aus Sorge um ihr Seelenheil sche Geschichte eng mit derjenigen der Kirchen aus oder schufen Memorien- christlichen Kirche verquickt. Es waren stiftungen. Angehörige der Kirche, die wie Widukind Welt und Kirche, Religion und Alltag von Corvey in der Mitte des 10. oder waren nicht voneinander getrennt, son- Adam von Bremen und auch Roswitha dern lagen eng zusammen. Dennoch wis- von Gandersheim in der Mitte des sen wir bis in das 14. Jahrhundert hinein 11. Jahrhunderts über das historische wenig über die Religiosität der Menschen. Geschehen berichteten. Unsere frühen Während die Menschen zum Teil noch Kenntnisse über Land und Leute beruhen in feuchten Grubenhäusern wohnten, fast völlig auf bischöflichen und klöster- wuchsen große steinerne Kirchen. Mittel- lichen Überlieferungen. Der Verdener alterliche Kirchen waren „ewige Bau- Dom oder die Marktkirche Hannovers sind stellen“, sie waren Alltagsorte, Stätten des bauliche Zeugnisse bischöflicher oder bür- Gebetes und der Kommunikation. Die gerlicher christlicher Baukultur. Prächtige Messe in den Kirchen war, da in lateini- Bildhandschriften, voran das Evangeliar scher Sprache gehalten, unverständlich. Heinrichs des Löwen, sind sakrale Kunst- Die Zeremonie, die Bildsprache der ausge- schätze von herausragender Bedeutung. malten Kirchen, der Klang der Gesänge Neben die Benediktinerklöster der frü- oder der Duft von Räucherartikeln beka- hen Zeit traten seit dem 12. Jahrhundert men daher eine kaum zu überschätzende Zisterzienserabteien wie Hude, Loccum rituelle Bedeutung. Vieles deutet darauf oder Riddagshausen. Der Stellenwert der hin, dass vorchristliche alltägliche Reli- Ritterorden in Niedersachsen war gering. gionsvorstellungen tradiert wurden. Als in den Städten die soziale Kluft zu- Offensichtlich gehören Heiligenverehrung nahm, ließen sich im 13. Jahrhundert und Reliquienglaube hierzu. Bettelmönche nieder, voran die Franzis- Die allgemeinen Entwicklungen kirch- kaner. Das Gebäude des nieder- licher Probleme, seien es nun der In- sächsischen Landtages geht auf das han- vestiturstreit des 11. Jahrhunderts oder noversche Franziskanerkloster zurück. In die neue Armutsbewegung des 13. Jahr- einzelnen Städten und auch auf dem hunderts, bilden sich auch in der nieder- Lande traten Augustinerklöster hinzu. Das sächsischen Geschichte ab. Im Spätmittel- Netz der Kirchen wurde während alter erreichten die Stadträte mit Kirchen- des hochmittelalterlichen Bevölkerungs- patronatsrechten und Aufsicht über das wachstums stetig dichter, und bischöfliche Kirchenvermögen eine konkurriende Po- Sprengel wurden unterteilt in einzelne sition zu den Bischöfen. Religion wurde Aufbauen (bis um 1500) 55 quasi kommunalisiert. Gleichzeitig schlos- immer am Rande des Reichsinteresses; le- sen sich mehr und mehr Menschen zu diglich der Harzraum mit der einzigen frommen Laienbewegungen zusammen. niedersächsischen mittelalterlichen Reichs- Am Ende des Mittelalters, im 15. Jahr- stadt Goslar avancierte unter Ottonen und hundert, ging von Niedersachsen ein Saliern kurzzeitig zu einer Zentralland- wichtiger Impuls zur Klosterreform aus. schaft des Reiches. Selbst während der Während der Konzilien von Konstanz Blüte der Hanse kamen die bedeutendsten (1415 bis 1419) und Basel (1431 bis 1447) niedersächsischen Hanseorte kaum über wurden grundsätzliche Reformen debat- eine Vermittlerrolle hinaus. Bis zur spät- tiert. Im niederländischen Windsheim mittelalterlichen Agrarkrise und dem Aus- konzipierte Ideen zur Klosterreform wur- bau der Territorialstaaten bestimmten Adel den insbesondere im südniedersächsi- und Klerus – vor allem Klöster - in erhebli- schen Bursfelde rasch aufgegriffen. Bis zu chem Umfang die Wirtschaft. Nur Braun- 115 Klöster fühlten sich in der „Bursfelder schweig, Lüneburg und Bremen besaßen Kongregation“ zur alten Klosterzucht, zur anerkannt überregionale Bedeutung. Von Verbreitung erbaulicher Schriften und zur regionaler Wichtigkeit waren ferner Hildes- Pflege kirchlicher Musik verpflichtet. Zwar heim, Osnabrück, Stade und an der Wende war dies kaum eine die einfachen Leute zur Neuzeit Emden. berührende Veränderung, doch wurden Auch wenn Niedersachsen im Mittel- mit ihr Spiritualität und Mystik verbreitet, alter feiner als in späteren Zeiten in wirt- gerade im Lied. Frömmigkeit und Kirchen- schafts- und sozialhistorische Teilräume kritik nahmen zu gleichen Teilen am gegliedert war, unterlag es doch den all- Ausgang des Mittelalters zu und deuten gemeinen mitteleuropäischen wirtschaft- auf die folgende, in Niedersachsen sehr lichen Grundstrukturen und Tendenzen. wirksame, Reformation. Zumindest vier Fünftel der Menschen wa- ren in der Landwirtschaft oder der Verar- beitung ihrer Produkte tätig (agrarische Regionen in Niedersachsen - Gesellschaft). Herrschaft war überwie- Aufbau im Mittelalter gend an Land und die hier tätigen Leute gebunden (Feudalordnung). Mit Aus- Ein Rückblick auf das Mittelalter zeigt, nahme weniger Städte spielten Handel wie wichtig diese Zeit für die weitere und Gewerbe nur eine geringe Rolle. niedersächsische Geschichte ist, vorrangig Diese agrarische Gesellschaft unterlag für die ökonomische Entwicklung. langfristigen wirtschaftlichen Schwankun- Die wirtschaftlichen Strukturen des gen, die sich in Bevölkerungswachstum niedersächsischen Raumes wurden von und -rückgang, ökonomischer Konjunk- den naturräumlichen Bedingungen vorge- tur und Krise ausdrückte. Mit dem fast prägt. Die Inwertsetzung des physiogeo- ununterbrochenen Bevölkerungswachs- graphischen Potentials erfolgte jedoch tum vom 10. bis 14. Jahrhundert gingen, gemäß den historisch-kulturellen regiona- vorrangig seit dem 12. Jahrhundert, ein- len Entwicklungsmustern. Niedersachsen her der Landesausbau, eine Intensivierung trat erst spät, als Ergebnis der karolingi- der Agrarwirtschaft, eine Belebung des schen Expansion gegen Ende des 8. Markt- und Geldverkehrs, eine Lockerung Jahrhunderts, in engere Verbindungen zu der herrschaftlichen Bindungen, eine Spe- den ökonomisch höher entwickelten Ge- zialisierung des Handwerks und schließ- bieten West- und Mitteleuropas. Insbe- lich die Entwicklung von Städten zu Ge- sondere Friesland und die Geest blieben werbe- und Handelszentren. Dank neuer 56 Aufbauen (bis um 1500)

Bewirtschaftungsformen, ertragreicherer kehrs, der Gewerbe, des Handels und der Pflanzensorten und besserer Geräte kam Städte. Bis zum Beginn des 14. Jahr- es zu Produktions- und Produktivitätsstei- hunderts wuchs die Bevölkerung schneller gerungen in der Landwirtschaft. Zugleich als die Nahrungsmittelproduktion, zuneh- wurden die Herren-Bauern-Beziehungen mende Fehl- und Unterernährung und kommerzialisiert: Bäuerliche Frondienst- schließlich die Pest von 1349/50 führten leistungen wurden zunehmend durch zu hohen Bevölkerungsverlusten. In Folge Naturalabgaben und Geldzahlungen er- der mangels Nachfrage sinkenden Ge- setzt. In den Städten entstand unter herr- treidepreise stürzte der Ackerbau in eine schaftlicher Aufsicht eine sozial gestufte schwere Krise: Wüstungen und wieder en- arbeitsteilige Bürgerschaft. Händler und gere Bindungen der Bauern an ihre Herren Handwerker versorgten die lokalen und waren die Folge. überlokalen Märkte, waren aber weit Ab ca. 1450 deuten viele Indizien auf mehr auf die Nahrungsmittelzufuhr aus graduelle Veränderungen der wirtschafts- dem Umland angewiesen. und sozialhistorischen Bedingungen hin. Das ausgehende 12. und das 13. Jahr- Die bäuerlichen Hofstellen konsolidierten hundert waren gekennzeichnet von den sich, das Anerbenrecht setzte sich fast Entfaltungen des Markt- und Geldver- überall durch, die städtischen Zünfte

Am Ausgang des Mittelalters lassen sich sieben Regionen in Niedersachsen unterscheiden. Aufbauen (bis um 1500) 57 schlossen sich ab, der hansische Handel Gruppe der wohlhabenden Händler- geriet ins Stocken. Neue Formen der bauern dominierte in den Landesgemein- Volksfrömmigkeit entstanden, während den. Städte mit mittelalterlichen Charak- zugleich die Juden aus den Städten ver- teristika gab es - mit Ausnahme Emdens drängt wurden. Die Bevölkerungsverluste seit dem 15. Jahrhundert - nicht. Die auf dem Lande waren inzwischen ausge- Markt- und Handelsorte unterschieden glichen, das kultivierbare Land verteilt. sich nicht prinzipiell von den Dörfern. Bevölkerungswachstum erfolgte fortan 2. Die Seemarschen und anrainende zugunsten der unterbäuerlichen und Geestgebiete der Weser- und Elbe- unterbürgerlichen Gruppen, die besten- mündung (Elbe-Weser-Winkel): Der Elbe- falls über einen Garten verfügten und auf Weser-Winkel war wirtschaftlich eng mit Zuerwerb angewiesen waren. Bremen und Hamburg verflochten. Beide Werden diese naturräumlichen, politi- Städte wurden u.a. aus diesen Gebieten schen und vor allem ökonomischen mit Agrarprodukten versorgt. Die bäuer- Differenzierungen des niedersächsischen lichen Gemeinden, organisiert in den ein- Raumes während des Mittelalters zu- zelnen „Ländern“, vermochten aber eine sammengeführt, so deutet sich für den zumeist mit den beiden Städten und auch Ausgang des Mittelalters eine Gliederung dem Bremer Erzbischof vertraglich gere- in sieben Regionen an, die zugleich die gelte weitgehende Autonomie zu bewah- Trennung Westniedersachsens (1.-3.) vom ren. Auch hier stand die reiche Marsch der mittleren und östlichen Niedersachsen (3.- armen Geest weit voran. Wiederum kannte 7.) anzeigen. Eine solche Differenzierung die Geest grundherrschaftliche Bindungen macht selbstverständlich nicht an den der Landbevölkerung, während in der heutigen Landesgrenzen halt. Sie ist im Marsch relativ selbständig agierende Detail überformt von abweichenden Aus- Bauern voranstanden, die jedoch nicht die wirkungen der hochmittelalterichen Ver- Freiräume der führenden Landbewohner- dorfung sowie der spätmittelaltelrichen gruppe Ostfrieslands erreichten. Nur Stade Wüstungsphase, von der unterschied- kam in diesem städtearmen Gebiet über lichen Verbreitung adliger Güter, von den eine kleinräumliche Marktbedeutung hin- bäuerlichen Leistungen in Geld-, Natural- aus. Bremen spielte als Handelsmittelpunkt oder Arbeitsrenten und von Marktnähe zwischen West- und Nordeuropa sowie als oder Marktferne. Umschlagplatz für binnenländische Waren 1. Ostfriesland: Ostfriesland lag isoliert eine Sonderrolle. vom wirtschaftlichen Geschehen im 3. Südwest-Niedersachsen: Dieser niedersächsischen Hinterland, verfügte Raum gehörte im südlichen Teil wirt- aber über gute Verbindungen nach West- schaftlich und politisch zu Westfalen, war falen und Westeuropa sowie nach mit Westfalen jenseits der heutigen Bremen, Hamburg und Dänemark. Die Landesgrenze eng verbunden - im west- Wirtschaft stützte sich auf die Vieh- und lichsten Teil auch mit den Nieder- Viehproduktexporte aus der Marsch, war landen - und zugleich Durchgangsgebiet jedoch auf Getreide und Holzeinfuhren von dort nach Bremen, Hamburg und angewiesen. Die reiche Marsch besaß dem Ostseeraum. Es überwog die land- eine ökonomisch wesentlich größere Be- wirtschaftliche Selbstversorgung der häufig deutung als die arme Geest. In der Geest in Streusiedlungen lebenden, aber in viel- herrschten adlige und klösterliche Grund- fältigen gemeindlich-genossenschaftlichen herrschaft vor, die Marschbauern hinge- Verbänden organisierten Bauern. Selbst gen waren persönlich frei, und die kleine wenn diese als Eigenhörige persönlich un- 58 Aufbauen (bis um 1500) frei waren, wirtschafteten sie von herr- Vor allen anderen Städten besaß Braun- schaftlichen Auflagen eher unbeschränkt. schweig Handelsverbindungen nach Die soziale Kluft zwischen Vollbauern und Nordwesteuropa und in das östliche Kleinstellenbesitzern konnte an der Wende Mitteleuropa. Die Bauern standen zwar zur Neuzeit ähnlich weit sein wie an der in grundherrschaftlichen Abhängigkeiten Küste. Im wiederum städtearmen Gebiet zumeist in Frühformen des Meierrechts, spielte das südlich anschließende Osna- und vereinzelt existierten noch alte brück als Gewerbe- und Handelsort (eben- Formen der Unfreiheit, aber in den mit so zur West-Ost-Verkehrslandschaft gehö- stattlichen Dörfern dichtbesiedelten Löß- rend, siehe 5.) eine hervorgehobene Rolle, börden zwischen Hannover, Hildesheim, insbesondere seit dem Aufblühen der Braunschweig und Helmstedt wurden die Leinenwirtschaft in seinem Umland. weitaus höchsten Ernten eingefahren. Die 4. Das südniedersächsische Berg- und Landwirtschaft verlangte viele Hilfskräfte, Hügelland: Durch das südniedersächsische die wiederum zeitweilig in der gewerb- Berg- und Hügelland zog sich die Nord- lichen Produktion (Spinnerei, Weberei) Süd-Verkehrsachse des Leinetals. Diese aktiv waren, so dass die innerdörfliche so- band den Raum an Mittel- und Südwest- ziale Differenzierung zwischen Vollspän- deutschland ebenso wie an die nördlich nern und Kleinbauern weiter reichte als anschließenden niedersächsischen Land- im südlich anschließenden Gebiet und viel schaften bis hinauf zum Ostseegebiet. An weiter als in der nördlichen Geest. Für den ihr lagen zahlreiche Städte als Etappenorte agrarischen Bereich kann das westfälische und Gewerbeplätze. Die Landbevölkerung Gebiet mit einem höheren Anteil eigen- blieb grundherrschaftlich gebunden, über- höriger Bauern vom östlichen Gebiet, wiegend in frühen Formen des Meierrechts dem Kernraum des späteren Meierrechts, oder auch des Erbenzinsrechts. Die soziale unterschieden werden. Differenzierung klaffte zumeist nicht gar 6. Die mittlere niedersächsische Geest: zu weit auseinander, da die durchschnittli- Die locker mit kleineren Dörfern besie- che Hofgröße eher klein blieb. In etlichen delte mittlere niedersächsische Geest be- Gebietsteilen konnten regionale Rohstoff- saß mit Ausnahme des Uelzener Beckens wirtschaften exportorientiert betrieben nur karge landwirtschaftliche Möglich- werden: z.B. Tonwaren, Glas (Raum Ith- keiten. Die grundherrschaftlich abhängi- Solling), Bier (Einbeck), Textilien (Göttin- gen Bauern waren auf große Ergänzungs- gen). flächen angewiesen, um die Subsistenz zu 5. Die mittelniedersächsische Börde erreichen. Die sozialen Gegensätze in den samt dem Harzvorland: Das heute am Dörfern blieben daher eher gering. Im dichtesten besiedelte, städtereichste und Osten wurde das Gebiet von der Nord- das höchste Bruttosozialprodukt erwirt- Süd-Verkehrsachse durchschnitten, an schaftende Gebiet Niedersachsens stand der mit Uelzen wenigstens eine kleinere, bereits im späten Mittelalter voran. Von mit Lüneburg - quasi der südlichen Einbeck-Seesen aus schloss es sich bruch- Partnerin Lübecks - aber eine Braun- los an den südlichen Bereich an. Hier schweig und Bremen kaum nachstehende kreuzten die meisten Ost-West-Wege die Stadt lag, die durch Salz zu Reichtum ge- Nord-Süd-Achse, hier lagen mit Braun- kommen war und mittlerweile den Han- schweig, Goslar, Hildesheim bedeutende del im gesamten mittleren Niedersachsen Städte nahe beieinander, hier boten die kontrollierte. Harzmetalle gerade für Braunschweigs 7. Die östliche niedersächsische Geest: gewerbliche Wirtschaft gute Grundlagen. Die östliche niedersächsische Geest unter- Mithalten (bis um 1800) 59 schied sich von der westlichen nur inso- Osten deuteten sich am Ende des Mittel- fern, als sie zum größeren Teil Kolonisa- alters bereits Ansätze zur Gutsherrschaft tionsgebiet mit den charakteristischen an. Die Städte blieben klein und gerieten Rundlingsdörfern war. Im äußersten über Marktorte kaum hinaus.

Mithalten (bis um 1800)

Ein Herrschaftskonflikt zwischen Venezianer oder Schaumburger und focht Mittelalter und Neuzeit - Schlachten in Frankreich, Italien oder bei die Hildesheimer Stiftsfehde Soltau. Als der Hildesheimer Bischof sich 1519 nicht mit seinen Landständen über Territorialstaatliche Expansion, reichs- die Tilgung der Schulden des Landes eini- politische Einordnung, ständische Mit- gen konnte, waren Erich und seine welfi- bestimmung oder Veränderung der schen Vettern zur Stelle, hofften sie doch, Kriegstechnik: viele noch ganz mittelalter- jeder auf seine Weise, aus der Adels- fronde gegen den in Hildesheim residie- liche, aber bereits auf die Neuzeit deuten- renden Bischof Johann IV. ihr Kapital den politischen Probleme zeigt die zu schlagen. Erich, sein Wolfenbütteler Hildesheimer Stiftsfehde 1519-1523, ins- Vetter Heinrich und dessen Bruder Franz, besondere, wenn sie aus der Perspektive der Mindener Bischof war, schlossen sich der Calenberger Welfen beobachtet wird. dem aufständischen Adel an. Ihr Interesse Ab 1495 war Calenberg im Gefolge der lag im unmittelbaren territorialen Zuge- erneuten welfischen Erbteilung endgültig winn. Für Herzog Heinrich von Lüneburg ein eigenes Fürstentum innerhalb des war ein Erstarken seiner Calenberger und Gesamtherzogtums Braunschweig-Lüne- Wolfenbütteler Verwandten wenig ange- burg geworden. Erich I. regierte hier bis nehm. Er hielt deshalb zum Hildesheimer 1540 im zweigeteilten Gebiet von Nien- Bischof, wie auch die kleineren Grafen der burg bis Hannoversch-Münden. Im ge- näheren Umgebung, also die Schaum- samten Spätmittelalter lebten die Herzö- burger, Lipper, Hoyaer und Diepholzer. ge noch nicht in festen Residenzen. Sie Leidtragende dieser Fehde waren die wohnten mal auf dieser, mal auf jener ih- Bauern und Bürger. Im Frühjahr 1519 rer Burgen. Ihre zahlreichen Fehden, die überzog die Partei des Hildesheimer sie nicht zuletzt zur Festigung ihres Bischofs das Calenberger Land mit schlim- Territoriums anzettelten, führten sie noch mer Verwüstung. Die Dörfer brannten, gemeinsam mit ihren Rittern. Kamen sie auch die Städte und in Gefangenschaft, musste das Geld der wurden Opfer der Flammen. Die nicht Landstände zur Auslösung gesammelt minder brutale Gegenpartei unterlag am werden. Im Dienste des Kaisers oder gar 29. Juni bei Soltau. Erich I. wurde gefan- fremder Herren fochten sie auf vielen gen genommen. 20.000 Gulden hätten Schlachtplätzen Europas, so auch Erich I. die Stände zahlen müssen, die Städte Kaum der Kinderstube entwachsen, bürgten dafür. 20.000 Gulden, dafür ging er an den Hof des bayerischen hätte man mehr als 3.000 Fässer Heringe Herzogs und später in das Gefolge Kaiser für die Fastenzeit kaufen können. Doch Maximilians, den er 1504 vor dem Tode die Summe wurde nicht fällig. Karl V. war bewahrte. Er kämpfte gegen Türken, 1519 zum König gewählt worden. Die unterlegene Partei der Stiftsfehde hatte 60 Mithalten (bis um 1800) ihn unterstützt. Zum Dank setzte sich Karl formationszeit, doch verweisen ihre Ergeb- nun für diese ein, so dass sich nach weite- nisse bereits auf die Glaubensspaltung: Bis ren kriegerischen Aktionen der Wolfen- heute überwiegt nur im engeren Umkreis bütteler und der Calenberger Herzog um die Stadt Hildesheim, im so genannten 1523 den größten Teil des Hildesheimer „kleinen Stift“, der katholische Bevöl- Territoriums für die nächsten 120 Jahre si- kerungsanteil im Gegensatz zu dem lutheri- chern konnten. schen des Wolfenbütteler und Calenberger Auch wenn er noch Fehde und nicht Teiles. Krieg heißt, so war dieser Konflikt dennoch keine Adelsfehde mehr, wie sie im späten Mittelalter vielfach gestritten wurde. Im Städtische Reformation - Mittelalter kämpften kleine Trupps von das Beispiel Hannover höchstens ein paar hundert Rittern gegen- einander. Bei Soltau sollen dagegen 15.000 Martin Luthers Kirchenkritik verbrei- Personen auf dem Schlachtfeld gestanden tete sich in den Jahren nach 1517 rasch, haben. Artillerie, wenn auch noch eine pri- nicht zuletzt durch Druckschriften. Am 26. mitive, führte das braunschweig-wolfen- Juni 1533 schwor eine Versammlung von büttelsche Heer, und viel Fußvolk kämpfte Bürgern auf dem hannoverschen auf beiden Seiten. Das waren vorrangig mit Marktplatz, zu Martin Luthers Wort zu- langen Lanzen (daher Landsknechte) aus- sammenzustehen. Dies ist der Beginn der gerüstete Reisige, die im Karree erfolgreich Reformation in Hannover „von unten“, den schwer gepanzerten Reitern widerste- ihr wich der Rat im September 1533 durch hen konnten. Erich I. war als Herzog Flucht in das altgläubige Hildesheim. der letzte Ritter. Landsknechtsheer und Dabei waren die Bedingungen für die Artillerie ließen aus den Rittern in wenigen Aufnahme der evangelischen Lehre in Jahrzehnten nur noch Gutsherren, Verwal- Hannover alles andere als günstig. Die tungsbeamte, Hofbedienstete oder hier wie städtische Autonomie war erreicht, zu- dort sich verdingende Heerführer werden. gleich bestand gutes Einvernehmen mit Andersherum betrachtet, benötigte ein dem welfischen Landesherrn, der wiede- Landesherr seit dem 16. Jahrhundert immer rum die Beziehungen zu Kaiser und Reich weniger seinen Adel zur Kriegsführung. pflegte. Ein städtisches Kirchenregiment Auf die Dauer verfügte der Landesherr im war etabliert und der Rat mit dem alten Vergleich zu allen anderen Herr- Kirchensystem fest verbunden. Anders als schaftsträgern im Lande über die besten in manchen Städten dieser Zeit drohte Ressourcen, Artillerie und Fußvolk zu be- keine soziale oder ökonomische Krise, die zahlen. An Erich I. und seiner Zeit wird ein der führenden Ratsgruppe hätte gefähr- Stück von beginnender Stärkung landes- lich werden können. Allerdings erleich- herrlicher Obrigkeit deutlich, die langfristig terte die seit 1448 bestehende Verfassung absolutistische Tendenzen annahm, kurz- eine Patriziatsherrschaft. Die meisten fristig aber von Erich nicht ausgenutzt wer- Zünfte, die so genannten kleinen Gilden, den konnte. Finanziell begab er sich immer waren gar nicht im Rat vertreten, und im stärker in die Abhängigkeit seiner Rat dominierte die Kaufmannschaft. Eine Landstände. Den territorialen Zugewinn im kleine Gruppe wohlhabender Bürger hielt Nordwesten des Hochstifts Hildesheim die Macht in der Hand. nahm er gern an. Zwar gehört die Hildes- Da aber die Wirtschaftslage günstig heimer Stiftsfehde noch nicht zu den krie- war, kamen immer mehr Handwerker und gerischen Auseinandersetzungen der Re- Händler aus den nicht ratsbeteiligten Mithalten (bis um 1800) 61

Im Hannoverschen Neuen Rathaus werden die reformatorischen Ereignisse vom Juni 1533 in einem monumentalen Ölbild aus dem Jahr 1912/13 dargestellt.

Gilden zu Vermögen, doch blieb ihnen der dass ein Teil der Bürgerschaft im Juni 1533 Aufstieg in die städtische Führungs- die städtische Tradition des Schwurver- gruppe verwehrt. Diese Händler und bandes wieder aufgriff. Handwerker konnten aber auf die charak- Altgläubige Geistliche und Bürger teristischen genossenschaftlichen Tradi- wurden bedroht. Daraufhin ließ der tionen der Stadt verweisen. Wie in vielen Landesherr die Zufahrtsstraßen sperren. anderen Städten auch, ja letztlich wie Hunger und Anarchie machten sich breit. beim großen Bauernkrieg von 1525 in Radikale Zwinglianer und Wiedertäufer Mittel- und Süddeutschland, bot die stellten auch das neu errichtete Ratsre- evangelische Bewegung nach 1517 eine giment in Frage. Benachbarte Städte, in Chance, das verkrustete Herrschafts- denen die Reformation ebenfalls Fuß fas- system aufzubrechen. Das Auftreten von ste, schalteten sich ein und erreichten im Lutheranhängern ab 1524 versuchte Juli 1534 einen Ausgleich, der die Refor- der Rat mit repressiven Mitteln zu unter- mation sicherte, die einstige Führungs- drücken. Dies stärkte aber diejenigen in gruppe aber dauerhaft entmachtete. der Bürgerschaft, die nach neuer Mitbe- Der neue Rat erweiterte in der stimmung drängten. Kirchenordnung von 1536 seine bisher Diese sehr heterogene Gruppe stellte bereits großen Möglichkeiten der welt- in Eingaben an den Rat Forderungen nach lichen Einflussnahme auf kirchliche Kirchenreform und Beschwerden über Angelegenheiten in der Stadt. Die klöster- Missstände, meist wirtschaftlicher Art, zu- lichen Konvente wurden aufgelöst, eine sammen. Unter dem Einfluss auswärtiger Disziplinargerichtsbarkeit für den Klerus Geistlicher standen alsbald eindeutig re- eingerichtet, Eheangelegenheiten dem formatorische Forderungen im Mittel- Rat unterstellt, Pfründenvermögen einge- punkt. Der einheimische Klerus hielt zum zogen. Das Abendmahl wurde in beiderlei Rat. Dieser machte Zugeständnisse, frei- Gestalt gereicht, und die Predigt in deut- lich nicht in der Religionsfrage, ja musste scher Spache gehalten. sich sogar der landesherrlichen Unter- Im Detail verlief die Reformation in an- stützung vergewissern. Dies führte dazu, deren niedersächsischen Städten unter- 62 Mithalten (bis um 1800) schiedlich. Ein Resultat war am Ende frei- das Welfenhaus zurückerhielt, passt exakt lich stets das Gleiche: die Erweiterung der hierzu. Interessant aber im Zusammen- obrigkeitlichen und sozialdisziplinieren- hang der Reformation ist, auf welche den Befugnisse des Rates. Weise dieses erfolgte. Trotz anfänglicher Niederlagen – er wurde in der Schlacht bei Soltau 1519 ver- Ein Fürst der Reformationszeit - nichtend geschlagen – ging Heinrich als Herzog Heinrich der Jüngere Sieger aus der Hildesheimer Stiftsfehde von 1519 bis 1523 hervor. Sein Braun- Die Städte waren Vorreiter der Re- schweiger Territorium reichte nun in ei- formation. Die Territorialfürsten entschie- nem Ring um Hildesheim bis zu Innerste, den in Glaubensfragen zumeist weniger Leine und Weser. Im Jahre 1530 bestätigte aus religiöser Überzeugung denn aus poli- Kaiser Karl V. diesen Zugewinn. Zwischen- tischer Opportunität. Dabei spielten die je- zeitlich war Heinrich 1525 an der Nieder- weilige Machtverteilung im Reich und die schlagung des Bauernkrieges in Mittel- Beziehungen zum Kaiser eine wesentliche deutschland beteiligt und war auch bei Rolle. Ein gutes Beispiel hierfür ist der der Hinrichtung von Thomas Müntzer zu- Welfe Herzog Heinrich der Jüngere (1489- gegen. Doch die geistlichen Zustände in 1568) zu Braunschweig-Wolfenbüttel. der Region entwickelten sich nicht im Zwei seiner Brüder waren Bischöfe in Sinne des Herzogs. Der Reformation in der Minden und Verden bzw. Erzbischof von weitgehend autonomen Stadt Braun- Bremen. In seiner Regierungszeit bewies sich Heinrich als Fürst und Krieger gleichermaßen. Er war machtbewusst, schroff und leidenschaftlich, aber er besaß auch reichlich taktisches und diplomati- sches Geschick. In den konfessionellen Auseinandersetzungen der Epoche blieb er als ein getreuer Gefolgsmann Kaiser Karls V. altgläubig, auch wenn er die Notwendigkeit kirchlicher Reformen sah. Sein außenpolitisches Streben korre- spondierte mit dem erfolgreichen Be- mühen, sein Herzogtum im Inneren zu fe- stigen und zu modernisieren. Er baute die Verwaltung und Rechtsprechung seines Territoriums aus (Kanzleiordnung / Hofgericht), etablierte die Primogenitur (Erstgeburtsrecht, um Erbteilungen zu ver- hindern) und förderte seine Festungs- und Residenzstadt Wolfenbüttel. Nicht zuletzt interessierte er sich stark für die ökonomi- schen Möglichkeiten seiner Zeit und deren fiskalische Nutzung für seine Ziele. Dass er gemäß alten Rechten von der Reichsstadt Das Epitaph zeigt Herzog Heinrich den Jün- Goslar den Rammelsberg mit seinen geren in charakteristischer Rüstung des 16. Hütten im Riechenberger Vertrag 1552 für Jahrhunderts. Mithalten (bis um 1800) 63 schweig musste er zusehen, auf jene in alten Widersacher. Damit scheiterte er der Reichsstadt Goslar konnte er keinen zwar an der relativ starken Stadt Braun- Einfluss nehmen. Als beide Städte sich schweig, Goslar aber stand schließlich al- 1532 dann sogar der Vereinigung der lein gegen den Herzog und musste ihm evangelischen Reichsstände, dem Schmal- den Rammelsberg abtreten. Sein Sohn kaldischen Bund, anschlossen, nahm die Heinrich Julius profitierte vom politischen Lage für ihn bedrohliche Dimensionen an. Erfolg des Vaters. In der - Dies hing nicht unmittelbar mit Braun- frage anerkannte er jedoch die Fakten, schweig oder Goslar zusammen, sondern unterstützte überzeugt das Luthertum mit dem viel mächtigeren Landgrafen und gründete mit der Universität Helm- Philipp von Hessen. Er spielte im Bund stedt eine der Reformation verpflichtete eine einflussreiche Rolle und betrieb wie Bildungsstätte. Heinrich eine expansive Herrschaftspo- litik. Herzog Heinrich unterstützte so 1538 den Zusammenschluss der katholi- Staat und Kirche im schen Reichsfürsten zur Liga gegen eben 16. Jahrhundert diesen Schmalkaldischen Bund der prote- stantischen Reichsstände. Während der In den Städten war die Reformation nun folgenden Auseinandersetzungen teils rasch, teils, wie in Hildesheim, nach war er in der Wahl seiner militärischen etlicher Zeit erfolgreich. In den Territorien Mittel keineswegs zimperlich. Dies setzte sich die Reformation unter den ge- brachte ihm in einer Schrift Martin Luthers nannten reichspolitischen Bedingungen („Wider Hans Worst“) den Beinamen zumeist ebenfalls durch. Dies spiegelt sich „Heinz Mordbrenner“ ein. auch im welfischen Fürstentum Calen- Im Jahr 1542 erlitt er gegen die berg wider, dessen Reformationsgesche- Truppen des Schmalkaldischen Bundes hen zwischen den altgläubigen Herzögen eine vernichtende Niederlage. Gegen die Erich I. und Erich II. sowie der lutherischen Koalition der Reformierten, der u.a. der Ehefrau und langjährigen Witwe Erichs I., Landgraf von Hessen, der Kurfürst von Herzogin Elisabeth, und dem Reformator Sachsen, Heinrichs eigene welfischen Antonius Corvinus immer wieder her- Vettern aus Grubenhagen und Celle so- vorgehoben wird. Am Ende des 16. wie alle wichtigen Städte der Region un- Jahrhunderts war Niedersachsen über- ter Einschluss Goslars angehörten, besaß wiegend lutherisch. er zunächst keine Chance, zumal ihn auch In weiten Teilen Ostfrieslands verbrei- der Kaiser aufgrund seiner vielen kleinen tete sich jedoch der Calvinismus. Er fand ra- und großen Rechtsbrüche nicht dauerhaft sche Verbreitung in den wirtschaftlich auf- unterstützen mochte. Sein Territorium strebenden Niederlanden und wurde in der wurde besetzt, die Reformation einge- expandierenden Stadt Emden aufgegriffen. führt. Heinrich selbst floh und wurde in Graf Edzard war Lutheraner, sein Nach- Hessen gefangen gesetzt. folger Graf Enno II. öffnete sich dem Doch er hatte politisches Glück, denn Calvinismus, und Ennos Witwe Anna bot im Schmalkaldischen Krieg 1546/47 un- dem aus Polen stammenden Johannes a terlag der evangelische Bund letztlich Lasco die Chance, eine exakte Kirchen- dem Kaiser. In der Folge errang auch ordnung aufzubauen, die bei aller Strenge Heinrich im Juni 1547 seine alte Position die gemeindliche Mitbestimmung sicherte. wieder, betrieb die Rekatholisierung der Gemessen an der Situation zum Region und führte Feldzüge gegen seine Ausgang des Mittelalters erlangte ein 64 Mithalten (bis um 1800) evangelischer Landesherr bereits im 16. stände und speziell die Arbeit ihrer Jahrhundert dadurch einen Macht- Ausschüsse lieferten die ständischen und zugewinn, dass er seit der Reformation kirchlichen Organisationsmuster die zugleich als „summus episcopus“ fun- Grundstruktur für einen bürokratischen gierte, also die Landeskirche leitete. Staatsaufbau. Regelmäßige Visitationen unterwarfen die Mit Reformation und Herausbildung Pfarreien einer zumindest halbstaatlichen der Konfessionen wurde die Kirche orga- Kontrolle. Dazu wurden im Regelfall teils nisatorisches Vorbild und personelle kirchlich, teils weltlich besetzte Konsis- Mitträgerin des Staates. Auch nach der torien gegründet, denen die Überwa- Reformation blieben die bischöflichen chung der Kirchenzucht oblag. Viele lu- Territorien erhalten, das Hochstift Osna- therische Landesfürsten zogen die Klöster brück freilich mit einem 1648 festgelegten und deren umfangreiche Liegenschaften, Wechsel zwischen einem katholischen Vermögen, Kunst- und Kulturschätze ein. Wahlbischof und einem welfischen, luthe- Anders die Welfen: Sie ließen die Klöster rischen Prinzen. Lutherische Geistliche bestehen, die nunmehr mehrheitlich der nahmen Führungsämter im Territorialstaat Versorgung von nach lutherischen Prin- ein, wie der Abt von Loccum im welfi- zipien lebenden Frauen aus Adelsfamilien schen Fürstentum Calenberg. Der unter dienten. Der braunschweigische Kloster- landesherrlicher Aufsicht stehende luthe- fond und die hannoversche Kloster- rische Klerus entwickelte im evangeli- kammer sind heute die Rechtsnachfolger schen Pfarrhaus eine eigene Form von so- dieser landesherrlichen Klosteraufsicht. zialer Disziplin und Vorbildfunktion. In Obwohl in den welfischen Territorien das Lehre und Kirchenorganisation wurden Kirchengut, insbesondere dasjenige der allmählich rationalistische Prinzipien ver- Klöster, nicht in das landesherrlich-staatli- breitet, und viele Pfarrer trugen gerade che Eigentum integriert wurde, standen auf dem Lande zur besseren Kenntnis Kirche und Klöster nunmehr unter landes- über Anbaumethoden bei. herrlicher Aufsicht. Vermittelt über die re- Straffere kirchliche und staatliche gelmäßigen Versammlungen der Land- Organisationsformen bedingten einander.

Die evangelisch-refor- mierte Pfarrkirche in Grimmersum (Gemein- de Krummhörn) zeigt die Trennung ostfrie- sischer ländlicher Kir- chen in Langhaus und Glockenturm. Mithalten (bis um 1800) 65

Generell richteten die Landesfürsten im 16. Wesentliche Ämter in den entstehen- Jahrhundert ortsfeste Kanzleien ein, für den den Verwaltungen und jeweiligen Kirchen nördlichen Teil des Fürstentums Calenberg der Länder lagen in der Hand weniger adli- z.B. in Neustadt am Rübenberge. Hier arbei- ger Familien. Darunter stiegen theologisch teten nunmehr bürgerliche, juristisch aus- und juristisch geschulte Beamtengruppen gebildete und besoldete Räte und auf, die sich ihrerseits sozial abschlossen. Schreiber. Nicht mehr wie bisher von Fall zu Ganz selbstverständlich galt die Religion als Fall wurde eine Urkunde ausgestellt, wenn öffentliche Landesfrage. Deshalb war sie ein Rechtsgeschäft schriftlich festgehalten immer wieder Thema auf Landtagen. Den werden musste. Jetzt wurden die Vorgänge Landständen lag sehr daran, dass das aus als solche niedergeschrieben: Akten ent- der Reformationszeit herrührende religiöse standen auf diese Weise. Die Neustädter Bekenntnis unangetastet blieb. Die Lan- Kanzlei tauschte ihre Verwaltungsprobleme desfürsten hatten im Gefolge der Refor- mit dem Vogt auf dem Calenberg (Festung mation ihren Einfluss erhöhen können. Die bei Nord stemmen, heute Ruine) fortan in nicht zuletzt durch die Verwaltungs- schriftlicher Form aus. Der Vogt dort und reformen gestärkten Landesfürsten stan- später der Amtmann führten eigene Akten den zumeist völlig in Abhängigkeit zu den über Korrespondenzen und Rechtsge- sie finanzierenden Ständen. schäfte. Stets waren die Landesherrschaf- ten darauf bedacht, die lokalen Wirt- schaftsbetriebe der Amtleute zu stärken Dorf und Landwirtschaft im und auf diese Weise die bäuerlichen, oft an 16. Jahrhundert Gerichtsrechte gebundenen, Dienste an sich zu ziehen. Der große Bauernkrieg, der 1524/25 Die adligen Drosten an den herrschaft- Süd- und Mitteldeutschland erschütterte lichen Sitzen durch Amtmänner zu ersetzen und für kurze Zeit die gesamte politische oder die verpfändeten Burgen vom Adel Ordnung im Reich in Frage stellte, fand in wieder einzulösen, stärkte zwar langfristig Norddeutschland nicht statt. Offensichtlich die landesherrliche Verwaltung, doch ver- wuchsen die Spannungen zwischen den schlang dies auch viel Geld. Zudem began- Meiern und Kötnern auf der einen, den nen viele Fürsten an ihren Hauptorten Grundherren und dem Landesherrn auf der Schlösser zu bauen, so auch Erich II. von anderen Seite gar nicht bis zur Entladung, Calenberg. In Neustadt am Rübenberge weil die Besitz- und Lebensverhältnisse der ließ er ab 1562 das für hiesige Verhältnisse Bauern auskömmlich blieben, die Landes- prächtige Schloss Landestrost errichten herren übertriebene Forderungen der und es mit soliden Befestigungsanlagen si- Grundherren gegenüber den Bauern ein- chern. Dazu kamen die hohen Kosten für dämmten und weil die Landesherren letzt- die Hofhaltung. Der Zugewinn an Macht lich zu mächtig waren, um überhaupt at- durch effektivere Territorialverwaltung tackiert werden zu können. wurde daher z.T. wieder aufgehoben, denn In der zweiten Hälfte des 15. Jahr- schließlich waren es weiterhin die Land- hunderts hatte sich bereits angedeutet, stände, die außerordentliche Finanzmittel dass die Bevölkerungszahl wieder zunahm gewähren mussten. In der Grafschaft und die Wüstungsphase auf dem Lande Schaumburg beispielsweise übernahmen überwunden war. Zu Beginn des 16. von 1577 bis 1582 wegen der hohen Jahrhunderts setzte ein Aufschwung in Verschuldung die Landstände die Re- Handel und Landwirtschaft ein. Die Neu- gierung. schaffung von Kleinbauernstellen (Kötner, 66 Mithalten (bis um 1800) dann Beibauern, Brinksitzer, Heuerlinge) de, Radmacher, Schneider und Schuster deuten hierauf ebenso wie der Ausbau der allemal erlaubt; Zimmerleute, Tischler und Adelsgüter. Anders als im hohen Mittelalter Glaser bedürften einer besonderen entstanden während dieser ersten frühneu- Konzession, alle anderen Handwerke zeitlichen Phase des Bevölkerungs- und seien auf dem Lande verboten. Das Wirtschaftswachstums also keine neuen Landhandwerk war regulierungsbedürftig Dörfer oder große Rodungsfluren. Die Alt- geworden. Es gab also auf dem Lande bauern hielten die guten Ackerflächen fest mittlerweile so viele Gewerbetreibende, im Besitz, und die Nutzungen der Wald- dass die städtischen Handwerker vor de- marken waren so genau unter den Dörfern ren Konkurrenz geschützt werden sollten. und Grundherren aufgegliedert, dass kaum Den Landesherren kam es darauf an, die Zurodungen mehr möglich und wirtschaft- Steuerkraft der städtischen Handwerker lich tragbar waren. zu bewahren. In die Dörfer kam auf diese Weise eine Mit dem Bevölkerungswachstum des neue Bewohnergruppe, die nicht bäuer- 16.Jahrhunderts stieg auch die Nachfrage lich war. In vielen Dörfern gab es fortan nach gewerblichen Gütern und nach Streitereien, ob diese neuen Kleinstellen- Leistungen bauender und reparierender besitzer, die oft ca. 20% der Haushalte Handwerker. Die Vollbauern vermochten ausmachten, nun die Gemeinheit mitbe- die zusätzlichen Arbeiten nicht zu erbrin- nutzen dürften, ob sie die Gemeinde- gen, wollten sie nicht ihre Haupttätigkeit lasten mittragen sollten, oder ob sie viel- vernachlässigen. Aber die neuen Klein- leicht wie Kötner dem Landesherrn mit stellenbesitzer, die sich von ihrem weni- Handarbeit zu dienen hätten. Und es kam gen Land nicht ernähren konnten, waren über das zwingend notwendige Hand- geradezu angewiesen auf die handwerk- werk hinaus ein neues wirtschaftliches lichen Tätigkeiten, und Bauern mit größe- Element in die Dörfer hinein: Gewerbetrei- ren Betrieben setzten gern Kleinstellen- bende. besitzer als Arbeitskräfte beispielsweise in Im Landtagsabschied von 1601 für die der Ernte ein. Es begann im 16. Jahr- braunschweigischen Welfenlande heißt es hundert eine neue Arbeitsteilung im Dorf. z.B., auf dem Lande seien die Leinen- Diese Entwicklung verlief in Nie- weberei und die Handwerke der Schmie- dersachsen ungleich. Der Anteil neuer

Im Winter wurden auf der Tenne des nordwest- deutschen Hallenhauses die Vorbereitungsarbei- ten für die Textilher- stellung erledigt (Dar- stellung aus dem 19. Jahrhundert). Mithalten (bis um 1800) 67

Hofstellen scheint in der kargen Geest ge- siver Wirtschaft dennoch große Mengen ringer gewesen zu sein als in den Ge- Getreide angeboten werden. Die traditio- bieten mit besseren Böden. Auch zeichnet nellen Grundherrschaftsverhältnisse und sich ab, dass in den Gebieten um die die Freiräume, die den Grundherren von Städte der gewerblich arbeitende Anteil den Landesherrschaften belassen wur- von Kleinstellenbesitzern höher lag als in den, verschärften diese so genannte stadtfernen Bereichen. Deutlich wird dies „zweite Leibeigenschaft“ im östlichen im Raum Osnabrück, wo die Garn- und Mitteleuropa. Leinenproduktion auf dem Land stetig zu- Bauernlegen durch Adlige zeigte sich nahm und die Ware von städtischen auch in den Getreideanbaugebieten Nie- Händlern vertrieben wurde. dersachsens. Adlige, die sich während der Eine flächenhafte Optimierung der zahlreichen europäischen Konflikte des Landwirtschaft dürfte nicht erfolgt sein. 16. Jahrhunderts als Heerführer verding- Wegen des Bevölkerungswachstums stie- ten, konnten ihre von der Getreidepreis- gen die Getreidepreise. Hiervon profitier- steigerung schon deutlich verbesserten ten vorrangig die Grundherren, die Ge- Einnahmen optimieren. Die prächtigen treide vermarkten konnten, Bauern Schlösser der Weserrenaissance gehen jedoch nur dann, wenn ihre Höfe ertrag- auf Markt- und Kriegsgewinne des Adels reich waren und stadtnah lagen. Im zurück. Doch war die Stellung des Adels Umfeld der Städte, so um Osnabrück, nirgends so stark, um große Gutsbezirke Hannover oder Braunschweig konnte wie in Ostmitteleuropa aufzubauen. Viel- demnach ein doppelter Vorgang begin- mehr waren es die Landesherrschaften, die nen: eine Intensivierung der Land- an der Steuerfähigkeit der Bauern und an wirtschaft und eine zunehmende gewerb- der Erbringung von Hand- und Spann- liche Produktion auf dem Lande. diensten interessiert waren, und daher Gemessen an den Niederlanden, wo Überbelastungen der Landbevölkerung zu Städte wie zunächst Antwerpen und so- vermeiden wussten. Der Aufbau der von dann Amsterdam sehr schnell wuchsen Amtmännern organisierten und von ver- und weite Bereiche des Umlandes gleich- gleichsweise mäßigen bäuerlichen Diens- sam zu modernen, oft der Antike ent- ten bewirtschafteten Domanialwirtschaf- nommenen, Formen der Landwirtschaft ten verweist auf diese Tatsache. Im Sinne zwangen, waren die landwirtschaftlichen einer Konsolidierung der Finanzverhältnisse Verhältnisse in Niedersachsen mit ihrem in den Territorien lag die Sicherung des hohen Subsistenzanteil stabil. Frucht- Bauerntums sogar im Interesse des Adels. wechsel- und Gartenbauwirtschaft oder Die bereits im Mittelalter deutliche Tendenz freie Zeitpachtverhältnisse blieben in zur Erblichkeit und Unteilbarkeit der Niedersachsen weitgehend fremd. Auch Bauernhöfe wurde nun mit wenigen regio- gemessen am östlichen Mitteleuropa ver- nalen Ausnahmen festgeschrieben. änderte sich wenig. Dort setzte sich zu- In den Ämtern wurden im Auftrag der nehmend die Gutsherrschaft durch. Nicht Landesherrschaft im Laufe des 16. Jahr- zuletzt, weil die Nachfrage nach Getreide hunderts zunehmend Register über die in den Niederlanden so drastisch stieg, be- bäuerlichen Betriebe und ihre Leistungs- mühten sich im östlichen Mitteleuropa die fähigkeit angelegt. Diese Amts- und Grundherren, möglichst viel Bauernland Hausbücher geben tiefe Einblicke in das in die Hand zu bekommen und über die Leben und Wirtschaften auf dem Lande. bäuerliche Arbeitskraft mehrtägig pro Ähnlich wie zu Beginn des 14. Jahr- Woche zu verfügen. So konnten in exten- hunderts deuteten sich zu Anfang des 17. 68 Mithalten (bis um 1800)

Jahrhunderts erneut Krisenerscheinungen che Wurzeln, verdankte aber ihren Aufstieg an. Die Balance zwischen Anzahl der dem sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahr- Menschen und (Nahrungsmittel-) Güter- hunderts abzeichnenden Wirtschaftswachs- versorgung geriet erneut ins Wanken. tum. Hier zog die Stadt zunächst Nutzen Gerade als die Waage ausschlug, begann aus den Versuchen Hamburgs, einen Han- der Dreißigjährige Krieg, brachte Handel delspunkt an der Emsmündung auszu- und Wandel völlig durcheinander und bauen, sodann aus den Interessen der Cirk- fügte Hunderttausenden von Menschen sena, einen bedeutenden zentralen Ort zur im mittleren Europa unsägliches Leid zu. Stabilisierung der jungen Grafenrechte in Ostfriesland zu besitzen. War Emden am Ausgang des 16. Jahrhunderts bereits zu ei- Blüte und Krise des Städtewesens nem ansehnlichen Handelsplatz gediehen, so profitierte die Stadt letztlich von den spa- Bis zum Beginn der Krisenanzeichen im nisch-niederländischen Auseinandersetzun- 17. Jahrhundert profitierten zunächst auch gen. Viele holländische Fernhändler flohen die Städte vom Wirtschaftswachstum seit nach Emden, englische Händler verlagerten Ausgang des 15. Jahrhunderts. Dies lässt von Antwerpen ihre Geschäfte an die Ems- sich bereits an den, allerdings nicht exakt stadt. Ausdruck dieser Blütezeit war das ab bestimmbaren, Bevölkerungszahlen ab- 1574 erbaute Rathaus am Delft mit seiner lesen. Im 16. Jahrhundert stiegen die Ein- prächtigen Renaissancefassade. Doch als wohnerzahlen in Hannover von gut 5.000 die holländischen Fernhändler die Stadt in auf mehr als 6.200, in Hildesheim von 7.400 den achtziger Jahren wieder verließen, blieb auf 9.200, in Lüneburg von 11.000 auf ca. sie zwar ein wichtiger Hafenplatz, konnte 16.000, in Braunschweig von ca. 15.000 aber die kurzzeitige internationale Position auf ca. 16.500, in Emden aber von 3000 auf nicht behaupten. Konflikte mit der Lan- 15.000. Das Bevölkerungswachstum er- desherrschaft um die calvinistische Kon- scheint auf den ersten Blick verwunderlich, fession und um die Unabhängigkeit der zumal die hansischen Handelsverbindungen Stadt führten zu offenen Auseinander- in der Ostsee zusammenbrachen. Diese setzungen, die immerhin für mehr als ein wurden jedoch mehr als ersetzt durch die Jahrhundert die Sonderstellung der Stadt Intensivierung des Handels in der Nordsee sicherten. und von hier aus in die Niederlande, nach Ist Emden also als Stadt zu verstehen, England, Frankreich, Portugal und Spanien. die ihren Aufschwung der frühneuzeitlichen Internationale Handelskontakte in die, von internationalen Handelsverlagerung zu ver- Europa aus betrachtet, neue Welt, oder ent- danken hat, so zeigt sich ein Beispiel ähn- lang der afrikanischen Küste, sodann nach licher Art auf territorialfürstlicher Initiative Indien oder Ostasien spielten für nie- am Beispiel des Oberharzes. Die Bergstädte dersächsische Städte keine Rolle, wohl aber hier wurden von den welfischen Landes- die Kontakte zu Städten wie Antwerpen herren angelegt, um die Oberharzer Erze zu und Amsterdam, die ihrerseits den interna- brechen und zu verhütten. Kupfer, Blei und tionalen Austausch pflegten. auch Silber gelangten in den internationa- Die neuen Abhängigkeiten der Städte len Handelskreislauf. Ohne die erhöhte von der Verlagerung der Handelsschwer- Silbernachfrage im internationalen Handel punkte aus dem Mittelmeer und aus der und ohne die hohen, zum Scheiden von Ostsee auf Nordsee und Atlantik zeigten Silber notwendigen Bleimengen wären sich am eindrücklichsten am Beispiel von diese fürstlichen Aktivitäten nicht zu verste- Emden. Die Stadt besaß zwar mittelalterli- hen. Es standen also auch hier internatio- Mithalten (bis um 1800) 69 nale Warenbeziehungen und die Hoff- befestigungsanlagen, die wegen der Ver- nungen, an ihnen lukrativ zu partizipieren, besserung der Artillerie zukünftig Sicherheit im Mittelpunkt. versprachen, konnte die Mehrzahl der Die Welfenherzöge aus dem Fürsten- Städte fortan nicht finanzieren. Kleinere tum Braunschweig-Wolfenbüttel gingen und mittlere Städte verzichteten zwar nicht voran und gewährten die so genannten auf die mittelalterlichen Mauern, diese bo- Bergfreiheiten, die den sich niederlassen- ten jedoch keinen militärischen Schutz den Bergleuten eine Freistellung von staat- mehr. Für das Städtewesen galt ähnlich wie lichen Belastungen und eine hohe Auto- für die Landwirtschaft, dass der Höhepunkt nomie in den neuausgebauten Orten des Wachstums im 16. Jahrhundert über- beließ. Bergleute und Hüttenfachleute ka- schritten war, als der Dreißigjährige Krieg men aus dem mitteldeutschen Raum, spe- nach Norddeutschland übergriff. ziell aus dem Erzgebirge, Handwerker, Fuhrleute usw. aus dem benachbarten Harzvorland. Wildemann, Zellerfeld, Grund, Der Dreißigjährige Krieg Lautenthal, Clausthal, St. Andreasberg und und seine Folgen das erst im 17. Jahrhundert Stadtrecht er- haltende Altenau erreichten bis 1600 eine Als in Böhmen ein Krieg begann, nach- Gesamteinwohnerzahl von ca. 6.000 dem die evangelischen Stände im Konflikt Menschen. So wurde im 16. Jahrhundert mit den katholischen Habsburgern Fried- die Basis geschaffen, dass der Oberharz zu rich von der Pfalz zum König gewählt hat- einer europaweit wichtigen und für das öst- ten, deutete sich ein wirtschaftlicher Nie- liche Niedersachsen zentral bedeutenden dergang in Europa insgesamt an. Zunächst Wirtschaftslandschaft des 17. und 18. wütete der Krieg allein in Böhmen, erst Jahrhunderts gedieh. 1625 griff er auf Norddeutschland über Mit Ausnahme von Goslar, das seit 1552 und hier speziell auf die welfischen unter dem Verlust des Rammelsberges litt, Landesteile. Von 1613 bis 1634 regierte ist bis zu den achtziger Jahren des 16. in dem braunschweigisch-calenbergischen Jahrhunderts in der Geschichte der einzel- Teil Herzog Friedrich Ulrich. Er überließ die nen Städte Niedersachsens überwiegend Regierung zunächst landständischen Rä- Wachstum und Ausdehnung der Handels- ten, dann seinem Bruder Christian und der beziehungen festzustellen. Lüneburg er- Mutter Elisabeth, Schwester des Dänen- lebte seine letzte Blüte als Salzstadt, bevor königs Christian IV. Welfenherzog Christian die südwesteuropäischen Salze als Kon- hatte sich schon am Krieg in Böhmen betei- kurrenzprodukt erfolgreicher waren, Ein- ligt, obgleich die norddeutschen Territorial- beck als Bierstadt seinen Höhepunkt. fürsten neutral bleiben wollten. Es lag also Am Ausgang des Jahrhunderts mehr- nahe, dass die gegnerischen Truppen der ten sich die Stagnation und Krisenzeichen. katholischen Liga unter Tilly nach der Das entsprach durchaus einer gesamteuro- Niederlage des „tollen Christian“ die päischen Entwicklung, dürfte aber in gro- Stammlande des Welfen heimsuchten, zu- ßen Teilen Nordwestdeutschlands damit zu mal der Dänenkönig 1625 in den Krieg ein- tun haben, dass die niederländischen griff. Dieser tat es, teils um die Sache des Städte und dazu Hamburg einen Vor- Protestantismus zu retten, teils um seine sprung im überseeischen Handel erreicht Macht in Norddeutschland auszudehnen. hatten, der für expansive Entwicklungen im Am 30. Juli 1625, die Ernte hatte ge- Binnenland nur sehr eingeschränkte rade begonnen, rückten Tillys Truppen Freiräume beließ. Die teuren Bastionärs- von der Deisterpforte aus nach Nordosten 70 Mithalten (bis um 1800) vor. Die Bauern flohen in Scharen nach Goslar einen Separatfrieden schlossen. Nur Hannover, während ihre Dörfer ausgeplün- einzelne Durchzüge schwedischer Soldaten dert wurden. Als sich Ende Oktober die Be- beunruhigten noch die Menschen. satzung der Feste Calenberg ergab, fiel mit Der Westen Niedersachsens blieb mit Ausnahme der Stadt Hannover das Calen- Ausnahme von Ostfriesland von tief berger Land in Tillys Hand. Die in Verden greifenden Kriegsfolgen verschont. Die liegenden dänischen Truppen schickten un- Grafschaft Oldenburg konnte sich in ihrer ter der Führung Hans Michaels von Anlehnung an Dänemark zur Zeit des Obentraut nur eine Reiterabteilung zur Grafen Anton Günther (1603-1667) sogar Erkundung aus. Diese konnte Nienburg konsolidieren. In den Verkehrsdurch- entlasten, wurde aber von Tillys Heer bei gangsbereichen des mittleren Nieder- völlig aufgerieben. Obentraut fiel; sachsens aber war das Land zerstört. Eine das dem „deutschen Michel“ bei Seelze ge- geordnete landwirtschaftliche Produktion setzte Denkmal erinnert weiter an ihn. Als wurde über Jahre hinweg unmöglich. Die Tilly im August 1626 das niedersächsisch- Handelskontakte der Städte lagen danie- dänische Heer bei Lutter am Barenberge der. Schätzungsweise um ein Drittel war besiegte, war die welfische Macht in Nord- die Bevölkerungszahl hier gesunken. deutschland zunächst gebrochen. Zwar Immerhin vermochten die Überlebenden wurde Hannover nicht von den Tillyschen die Dorfgemarkungen zu bewirtschaften Truppen eingenommen, musste sich aber und brauchten keine Fluren dauerhaft mit großen Zahlungen freikaufen. Herzog aufzugeben. Kein Dorf war so entvölkert, Friedrich Ulrich war in Gefahr, sein Land zu dass sich der Wiederaufbau nicht mehr verlieren. Entlastung brachte der Sieg des lohnte. Viele Hofstellen blieben allerdings lüneburgischen Herzogs Georg über die noch unbewirtschaftet. Bis ins 18. Jahr- kaiserlichen Truppen bei Hessisch-Olden- hundert hinein mühten sich die Landes- dorf 1633. Damit fiel die schlimmste Last, herrschaften, leerstehende Hofstellen zumal die Welfen schon vor dem West- wieder zu besetzen, um die Menge der fälischen Frieden mit dem Kaiser 1642 in Steuerzahler zu erhöhen.

Bei Friesoythe gewannen die kaiserlichen Truppen unter Tilly zu Weihnachten 1623 gegen das Mansfeldische Heer. Niedersachsen geriet für drei Jahre unter Tillysche Hoheit. Mithalten (bis um 1800) 71

Am Ende des Dreißigjährigen Krieges terbunden zu sein. Der territoriale Zu- deuteten sich politische Verschiebungen gewinn Brandenburgs in Mitteldeutsch- an, die für lange Zeit Wirksamkeit be- land und in Westfalen hatte das mittlere wahrten. Der Lüneburger Herzog Georg und südliche Niedersachsen in eine erhielt in der letzten großen Erbausein- Zwischenlage gebracht. Zugleich war mit andersetzung der Welfen das Fürstentum Schweden in den Stiftsgebieten Bremens Calenberg und bezog 1636 Hannover als und Verdens die nordeuropäische Zentral- Residenzstadt. Dieser Tatsache ist im macht der Zeit kraftvoll in Niedersachsen Wesentlichen der Aufstieg Hannovers hin vertreten. Hinzu kam, dass nach dem Tod zur größten Stadt Niedersachsens zu des für sein Territorium so erfolgreichen Beginn des 19. Jahrhunderts zu verdan- Oldenburger Grafen Anton Günther 1667 ken. Die Welfen mussten im Frieden von die in Dänemark regierende Nebenlinie 1642 auf die nach der Hildesheimer Stifts- des Hauses in Personalunion den größten fehde gewonnenen Anteile des Hochstifts Teil der Grafschaft Oldenburg bis 1773 verzichten, erreichten im Westfälischen übernahm und im niedersächsischen Be- Frieden von Münster und Osnabrück reich Statthalter einsetzte. 1648 aber die so genannte „Alternation“ im Hochstift Osnabrück, also die abwech- selnde Besetzung des Bischofsstuhls Ausbau frühmoderner durch einen evangelischen welfischen Staatlichkeit Fürsten und einen Katholiken. Weitere Hoffnungen auf Zuerwerb zerschlugen Dennoch begannen alsbald territorial- sich. Die säkularisierten Bistümer Minden, politische Veränderungen, die vorrangig Halberstadt und Magdeburg fielen an den von den in Hannover zunächst nur über Kurfürsten von Brandenburg, die Bistü- kleine Bereiche im mittleren und süd- mer Bremen und Verden erhielt Schwe- lichen Niedersachsen regierenden Welfen den. ausgingen. Deren Fürstentümer wurden Bescheiden waren dagegen die Be- durch das Erbe des weit größeren Fürsten- reiche, die von der Grafschaft Schaum- tums Lüneburg 1705 erweitert. Herzog burg an die Welfen gelangten. 1640 war Ernst August war es nach langen Aus- das Grafenhaus ausgestorben. In einem einandersetzungen und unter hohen fi- langwierigen und reichsrechtlich schwieri- nanziellen Belastungen zudem 1692 ge- gen Prozess wurde Schaumburg 1647 lungen, in die Reihe der Kurfürsten, also schließlich in zwei Hauptteile zergliedert. der den König wählenden Fürsten, aufzu- Die Grafschaft fiel im Wesentlichen an die steigen. Seine Ehefrau Sophie von der Landgrafen von Hessen. Diese nahmen Pfalz kam aufgrund verzweigter Ver- den südwestlichen Teil mit der Stadt wandtschaften als nicht-katholische An- selbst in Besitz, mussten aber den wärterin für die Nachfolge der englischen nordöstlichen Teil mit den Städten Königin in Frage, was 1701 im „Act of Bückeburg und Stadthagen an eine lippi- Settlement“ festgeschrieben wurde. sche Nebenlinie verlehnen. Dieser Teil Sophiens und Ernst Augusts Sohn konnte sich, gemeinhin als Schaumburg- Georg Ludwig bestieg 1714 als Georg I. Lippe bekannt, trotz aller Zugriffsversuche den englischen Thron. Die Personalunion behaupten und ging als eigenständiges währte bis 1834. Territorialpolitische Land 1946 in Niedersachsen auf. Vorteile hatte das Kurfürstentum hier- In der Mitte des 17. Jahrhunderts durch beim Erwerb des einst bremisch- schien die welfische Westexpansion un- verdenschen, sodann schwedischen Elbe- 72 Mithalten (bis um 1800)

größten und weitgehend autonomen Stadt Niedersachsens waren sich die Welfen allerdings einig. Gemeinsam un- terwarfen sie 1671 Braunschweig. Mehr und mehr zeigte sich in Nieder- sachsen eine hannoversch-preußische Konkurrenz. Die Kurfürsten von Branden- burg, ab 1701 Könige in Preußen, erlang- ten 1702 die Grafschaft Lingen, 1707 die Grafschaft Tecklenburg und folgten 1744 dem 1662 gefürsteten, nun ausgestorbe- nen, Haus Cirksena in Ostfriesland. Nicht zu Preußen oder einem der bei- den welfischen Häuser gehörten am Ausgang des 18. Jahrhunderts im wesent- lichen: Herrschaft Jever, Grafschaft Olden- burg, Niederstift Münster, Hochstift Osna- brück (jedoch welfische Alternation), Amt Ritzebüttel (später Cuxhaven), Grafschaft Schaumburg-Lippe, Grafschaft Schaum- burg, Grafschaft Pyrmont, Hochstift Hil- desheim, Herrschaft Plesse, Eichsfeld. In der Geschichte des Welfenhauses von Gott- Nach dem Ende des Dreißigjährigen fried Wilhelm Leibniz wird Kurfürst Ernst Au- Krieges wurde der niedersächsische Raum gust von Hannover als zeitgenössischer absolu- noch einmal vom Siebenjährigen Krieg tistischer Fürst dargestellt. 1756 bis 1763 in Mitleidenschaft gezo- gen. Vorrangig der Tatsache, dass Kur- Wesergebietes 1715/19. Im Übrigen wa- hannover durch die Personalunion seiner ren die politischen, ökonomischen und Landesherren mit England dessen Politik kulturellen Unterschiede zwischen Eng- teilen musste, ist die belastende französi- land und Hannover so groß, dass von dort sche Besetzung von Teilen Niedersachsens nur wenige Initiativen zur Modernisierung zuzuschreiben. Die 1754 im amerikani- des welfischen Mutterlandes ausgingen. schen Ohio-Tal beginnenden kriegeri- Doch wuchs in den letzten Jahrzehnten schen Auseinandersetzungen zwischen des 18. Jahrhunderts die Bereitschaft der England und Frankreich dehnten sich führenden Gruppen in Hannover, von rasch auf Westindien, Westafrika und England zu lernen. 1689 hatte Hannover Indien aus. England trachtete mit Hilfe bereits das Elbherzogtum Lauenburg er- Preußens, Hannover zu schützen und worben. 1752 kam die Grafschaft Bent- Frankreich zu treffen. Frankreich verbün- heim, zunächst als Pfand, hinzu. Der dete sich mit Österreich, Russland, Schwe- Erfolg der hannoverschen Welfen führte den und dem übrigen Reich. Den europäi- zu wachsenden Konflikten mit den schen Krieg löste Friedrich II. von Preußen Vettern in Braunschweig-Wolfenbüttel, im August 1756 durch seinen Präventiv- die ihren Bereich nicht wesentlich über angriff gegen Sachsen aus. Das hannover- den Raum Braunschweig und einen vom sche Heer sollte im Frühjahr 1757 ein Harz zur Weser gerichteten Bereich auszu- Vordringen der Franzosen hindern, die mit dehnen vermochten. Im Umgang mit der der Besetzung des Kurfürstentums Eng- Mithalten (bis um 1800) 73 land zu schädigen dachten. Aber nach landständischen Ausschüsse bestehen, so dem Sieg in der Schlacht bei Hastenbeck dass etliche Adelsfamilien Land- und am 27. Juli stand den französischen Schatzräte stellten, die wesentlich die ter- Truppen das Kurfürstentum offen. Preu- ritorialstaatliche Politik zu beeinflussen ßische Truppen unter dem Braun- vermochten. Adlige Regierungstätigkei- schweiger Herzog Ferdinand brachten ten und landständische Aufgaben ver- Entlastung. Ihm bereitete Hannover am schmolzen miteinander. Insbesondere im 12. Februar 1762 einen triumphalen Kurfürstentum Hannover zeichnete sich Empfang, wovon ein Kupferstich der ei- immer klarer eine eindeutige Trennung gens errichteten monumentalen Ehren- zwischen führenden Adelsfamilien, die pforte zeugt. Am 17. Juni 1763 besuchte Staatsaufgaben wahrnahmen, und den der aller militärischen Rückschläge zum vornehmen Verwaltungsfamilien ab. Trotz letztlich siegreiche Preußenkönig Zwar überwog im niedersächsischen Friedrich II. die Stadt. Raum ein gemäßigter landesherrlicher In den einzelnen Territorien Nieder- Absolutismus, der gerade in der Phase der sachsens hatte sich seit dem 17. Jahr- Aufklärung manche Modernisierung zu- hundert ein allmählicher Wandel zum bü- ließ, doch spielte der jeweilige Hof eine rokratischen Staatswesen mit absolu- wichtige Rolle für das politische und kul- tistischen Herrschaftstendenzen vollzo- turelle Leben. gen. Die Interessenkongruenz von Land- adel und Staat blieb erhalten. Gleichgültig jedoch, in welchem Umfang der territori- Niedersächsische Residenzstädte ale Adel als Landstand auch während der im 17. und 18. Jahrhundert frühen Neuzeit die politischen Geschicke eines Territoriums weiterhin mitbe- In den Residenzstädten trafen ältere stimmte, seine soziale Stellung als Grund- städtische Freiheit und neuer fürstlicher herr blieb unangetastet; vielfach gelang Gestaltungswille direkt aufeinander. Da sogar die Schaffung geschlossener Ge- seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert richtsbezirke und damit die Exemtion aus die Entwicklungsmöglichkeiten der nie- den territorialstaatlichen Ämtern. Ein Teil dersächsischen Städte durch internationa- der Ritter hatte als Kriegsunternehmer len Warenaustausch ohnehin sehr redu- von den Konflikten im 16. Jahrhundert ziert waren, wird an den Residenzstädten profitiert. Viele sicherten sich seit dem 17. zugleich deutlich, wie abhängig städ- Jahrhundert die wichtigen territorialstaat- tische Prosperität fortan von fürstlicher lichen Heeres- und Staatsämter. Im Förderung war. Regelfall blieb eine politische Mitbe- Hannover nahm die deutlichste Auf- stimmung des Adels, teilweise auch der wärtsentwicklung. Die Stadt war im Städte und, wie in Ostfriesland, sogar der Dreißigjährigen Krieg nicht eingenommen Bauern erhalten. Gerade weil die hanno- worden, konnte sich freilich 1636 dem verschen Kurfürsten während der Perso- militärisch erfolgreichen Georg von Ca- nalunion immer seltener von England in lenberg nicht widersetzen, als er ent- ihre Heimat kamen, dürfte diese relative schied, diesen geschützten Ort seines Autonomie der Stände in einem wichti- Territoriums als Residenz zu beziehen. gen Teil Niedersachsens gestärkt worden Zwar sicherte der so genannte Resi- sein. denzvergleich der Stadt alle alten Rechte Auch dort, wo die Landstände faktisch und Privilegien, die - bis auf die finanzielle entmachtet wurden, blieben vielfach die Einordnung in das landesherrliche Terri- 74 Mithalten (bis um 1800) torium - denjenigen der Reichsstädte stets protestierte der hannoversche Alt- kaum nachstanden, doch boten geschickt stadtrat heftig, bewirkte aber so gut wie eingefügte Formulierungen fortan dem nichts. Landesherrn die Möglichkeit, selber zu 1676 musste er gar zusehen, wie eine entscheiden, ob er sich an die Einhaltung landesherrliche Kommission eingesetzt des Vertrages halten wollte oder nicht. wurde, die alle Missstände in der Stadt- Schon der 1637 begonnene Umbau des verfassung und -verwaltung beseitigen alten Franziskanerklosters zum Schloss sollte. Das Ergebnis wurde der Stadt 1699 brachte den ersten Streit. Die hier unter- als Weihnachtspräsent überreicht: Ent- gebrachten städtischen Einrichtungen machtung der bisherigen Führungsgruppe mussten ausziehen, und die Folgekosten und wesentliche Straffung der wurden der Stadt aufgebürdet. Eine lange Verfassungs- und Verwaltungsorgane, die Kette von landesherrlichen Eingriffen in fortan der landesherrlichen Kontrolle un- die städtischen Angelegenheiten folgte. terstanden. Schon sechs Jahre zuvor hatte Ob 1639 der Bauplatz für ein Zeughaus der Herzog mit dem Gildereglement tief in gestellt werden musste, ob 1642 ein städ- die alten städtischen Freiheiten eingegrif- tischer Teich zum herzöglichen Karpfen- fen, wenn er die traditionsreichen autono- teich deklariert wurde, ob links der Leine men Zünfte faktisch zu landesherrlichen gar die Calenberger Neustadt als Kon- Ämtern degradierte. kurrenzsiedlung der Altstadt planmäßig Wohl mangelt es nicht an lamentieren- ausgebaut wurde, ob Alt- und Neustadt den Vorsprachen des Rates und bisweilen 1653 mit einer gemeinsamen modernen auch der Zünfte beim Landesherrn über Bastionärsbefestigung umgeben wurden, die angeblich unsäglich schlechte wirt- ob 1686 die Akziseordnung die Mit- schaftliche Lage der Stadt, aber zu inner- sprache Hannovers als Landstand in ter- städtischen Oppositionen, gar Bürger- ritorialen Finanzierungsangelegenheiten kämpfen, die aus der frühneuzeitlichen drastisch einschränkte, ob viele andere Stadtgeschichte als Revolten gegen die kleine und größere Übergriffe geschahen, städtischen und landesherrlichen Obrig- keiten durchaus bekannt sind, kam es in Hannover nicht. Verfassung und Ver- waltung waren am Ende des 17. Jahr- hunderts - betrachtet man sie aus späterer Sicht - allemal marode und wenig bürger- freundlich, die gewerbliche Organisation in den Zünften verkrustet. Aber diese Ordnung der Handwerke bot den einzel- nen Produzenten Schutz gegen die ver- drängenden Kräfte des Marktes. Die ältere Struktur der Altstadt als Gewerbeort mit gewissem Fernhandel blieb erhalten, obgleich in der Calen- berger Neustadt, wo auch Juden, Re- formierte und Katholiken sich niederlas- sen durften, die eigentlichen Hof- Vor den Toren vor Hannover wurde seit der handwerke und –lieferanten angesiedelt Mitte des 17. Jahrhunderts die Sommerresi- worden waren. Hannover hatte besser als denz Herrenhausen ausgebaut. andere Städte den Dreißigjährigen Krieg Mithalten (bis um 1800) 75

überstanden und erlitt trotz der wachsen- partner wechselten völlig. Nicht mehr die den Konkurrenz des Landes und der städtische Führungsspitze opponierte ge- Calenberger Neustadt keine grundsätz- gen landesherrliche Eingriffe, vielmehr be- lichen Erwerbseinbußen. Denn der perso- klagten sich viele städtische Bürger, letzt- nelle Zuzug in die Stadt schuf Ausgleiche lich vergeblich, beim Landesherrn über zumindest im Dienstleistungsbereich. Da- den allzu selbstbewussten Bürgermeister, rüber hinaus wuchs das im weiteren Sinne der unter seiner Regie beispielsweise kulturelle Angebot in der Stadt voran 1736 das erste städtische Krankenhaus durch die Sommerresidenz in Herren- begründen half, 1737 den Neubau des hausen, sodann durch Ausbildungs- Schnellen Grabens veranlasste, 1740 die stätten, Theater, neue Bauten, nicht zu Leineschifffahrt gen Bremen wiedereröff- vergessen die Karnevalsfeste nach venezi- nete, ab 1746 den Torftransport vom Alt- anischem Vorbild, an denen sich auch das warmbüchener Moor auf dem Schiff- Bürgertum beteiligte. graben erneut ermöglichte, 1753 durch Der Fortzug des Hofes mit dem Beginn die Gründung der Brausozietät den zu- der Personalunion 1714 wird in der lan- rückgehenden hannoverschen Broyhan- desgeschichtlichen Literatur stets als Absatz zu steigern sich bemühte, das Einbruch bewertet. Der Hofstaat wurde Armenwesen mit den zeitgenössischen reduziert, das Leben in der Stadt insge- Mitteln der Arbeitshausdisziplinierung zu samt provinzieller, sieht man von den ste- verringern suchte und schließlich ab 1747 tig selteneren Aufenthalten der Könige in die Stadt im Süden vor dem Aegidientor der kurfürstlichen Residenz und den bis- erweitern ließ. weilen damit verbundenen Besuchen an- Wohnten zur Zeit des Ausbaus der derer Monarchen einmal ab. Wer Dresden Calenberger Neustadt bald nach dem oder München im 18. Jahrhundert mit Dreißigjährigen Krieg vielleicht 6.000 Hannover verglich, suchte vergeblich Personen in der Altstadt, so erhöhte sich nach herausragenden Attributen der die Einwohnerzahl beider Städte bis zur Welfenmetropole. Mitte des 18. Jahrhunderts auf ca. 17.000 Aber Hannover blieb herrschaftlicher und überschritt die Grenze von 20.000 Mittelpunkt des Kurfürstentums und Sitz nach dem Beginn des 19. Jahrhunderts. der zur Regierung verordneten Räte. Das gesamte unmittelbare Umland war in Diese befragten zwar in jeder Kleinigkeit die Residenzfunktion eingegliedert. die Londoner Kanzlei; hiervon profitierte Ein merkwürdiges Gemisch von allerdings alsbald die arg beschränkte Stagnation und Umbruch prägte die Stadt Autonomie der Stadt. Lokale und soziale am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Noch Sonderstellungen konnten sich neu verfe- standen kleinbürgerliche Enge und zünfti- stigen, weil fortan der landesherrliche ger Geist im Mittelpunkt. Selbst das 1786 Eingriff fast völlig fehlte. Das Gilde- geschaffene Commerz-Kollegium schien reglement wurde faktisch nicht mehr be- mehr den agrarisch-gewerblichen Inte- achtet, die Stadtverwaltung kaum mehr ressen der adligen und beamteten Land- kontrolliert. Ein weiterer Ausbau der besitzer als dem freien Unternehmertum Calenberger Neustadt unterblieb, so dass zuzuarbeiten. Auch Grupens Amtsnach- beide Städte immer friedlicher nebenein- folger herrschten autoritär. Zugleich aber ander existierten. Unter Bürgermeister ließ die größere Autonomie der Stadt ins- Grupen (1725-1761 im Amt) nahm sich gesamt mehr als noch einhundert Jahre die Stadt viele alte Autonomieansprüche zuvor dem Bürgertum die Möglichkeit zu wieder heraus; ja die Konfrontations- besserer Bildung und offenerem Denken. 76 Mithalten (bis um 1800)

Gerade die Aufstiegschance in der Ver- für die Wirtschaftsförderung Braun- waltung schien die Grenzen zwischen schweig-Wolfenbüttels fallen auf, wäh- dem traditionellen Landadel und dem im rend, bezogen auf die Territoriumsgröße, Territorialstaat avancierten Bürgertum zu Schaumburg-Lippe die höchsten Ausga- verwischen. Beamte, Ärzte, Advokaten ben für die Hofhaltung und das Militär- u.a. verstanden sich weniger als Stadt- wesen kennzeichnet. Generell aber galt, bürger denn als Bürger im Staat. Der von dass die Landesherren zur Finanzierung ih- einer breiten Gruppe Gebildeter finan- rer Hofhaltungen die ihnen zur Verfügung zierte Leibniztempel von 1789/90 ist eines stehenden Mittel so weit überzogen, dass der äußeren Zeichen dafür, dass Auf- für binnenwirtschaftliche Investitionen klärung, individuelle Bildung, Natur- nur wenig Geld zur Verfügung stand. zugewandtheit oder so genannte engli- Die Dauer der Residenzzeit wich stark sche Freizügigkeit miteinander in sinnvolle voneinander ab. Einzig Bückeburg war Verbindung treten konnten. Allmählich ab 1607, kaum unterbrochen durch ging das altadlig-hofadlig geprägte gesell- das „Schaumburger Interregnum“ 1640- schaftliche Leben über in eine neue von 1647, durchgängig Residenz des landan- bürgerlichen Beamten und Literaten be- sässigen Herrscherhauses. Wolfenbüttel stimmte Form. musste den Hof 1753 nach Braunschweig Der Blick auf die anderen Residenz- ziehen lassen, hatte aber durch seinen ge- städte zeigt, dass nur Bückeburg und zielten Ausbau als Residenzstadt vor den Wolfenbüttel samt dessen Nachfolger Toren des mächtigen und lange unabhän- Braunschweig während des gesamten 17. gigen Braunschweigs insbesondere im 16. und 18. Jahrhunderts Sitze eines im Lande Jahrhundert die charakteristischste Prä- ansässigen Landesherren blieben. Alle an- gung durch den frühmodernen Staat in deren Residenzen hatten wenigstens zeit- Niedersachsen überhaupt erhalten. Doch weilig quasi eine auswärtige Residenz schon bald nach 1671 begann der allmäh- über sich, weil aufgrund der schwedi- liche Verlust höfischer Funktionen zugun- schen Kriegsgewinne, aufgrund der dyna- sten Braunschweigs, und nach dem stischen Verknüpfungen der Herrscher- Wegzug des Hofes ging die Einwohner- häuser oder aufgrund der Wahl zahl Wolfenbüttels in zwei Jahrzehnten auswärtiger geistlicher Reichsfürsten zu um fast 40% zurück. Bischöfen der Landesherr eine nicht in Ähnlich erlebte Celle im 16. Jahrhun- Niedersachsen gelegene Hauptresidenz dert eine intensive Förderung als Residenz besaß. Schaumburg-Lippes Souveränität der Lüneburger Welfenherzöge. Als Celle war dazu durch die hessen-kasselsche die Residenzfunktion 1705 verlor, bekam Lehnshoheit und die preußischen wie han- die Stadt mit dem Oberappellationsgericht noverschen Expansionsbemühungen häu- 1711, mit dem Zucht- und Irrenhaus 1710- fig bedroht. 1732, dem Landgestüt 1735 und der Den Braunschweiger Welfenherzöge Landwirtschaftsgesellschaft 1764 im Kur- eröffneten sich materielle Ressourcen, die fürstentum Hannover territorialstaatliche denjenigen der hannoverschen Vettern Aufgaben, die einen allzu raschen Be- kaum nachstanden, so dass Wolfenbüttel deutungsverlust der Stadt verhinderten. und nach der Eroberung 1671 Braun- Aurich, ab 1565 stetig ausgebaute schweig spezielle Förderungen erhielten, Residenz der Cirksena, wurde zum preußi- die Braunschweig gemessen an seiner schen Verwaltungsort degradiert, als mittelalterlichen Stellung dringend be- 1744 das ostfriesische Grafenhaus aus- nötigte. Die umfangreichen Investitionen starb und von Friedrich dem Großen ge- Mithalten (bis um 1800) 77 gen heftigste Proteste Kurhannovers be- Reichsfreiheit nahe Position konnte sie erbt wurde. Zudem hatte Aurich stets nicht bewahren, als Ernst August eine ab- Emden, das die landständischen Verwal- solutistische Politik gleichsam übte, die er tungsteile behielt, als erfolgreichere Kon- in Hannover später verwirklichte. Karl von kurrentin. Lothringen und Ernst August II. regierten Mit dem Tod von Graf Anton Günther das Hochstift hernach zeitüblich absoluti- endete ein absolutistisches Hofleben in stisch. Karl war selten im Land, anders als Oldenburg. Immerhin hielt über das 17. Ernst August, der sich bemühte, die rasch Jahrhundert hinweg ein gewisser Auf- an Kraft verlierende städtische Wirtschaft schwung der Außenhandelsbeziehungen zu fördern. Boten die lange Zeit der der Stadt an. Erst 1773 bezog die jüngere Minderjährigkeit des letzten welfischen Holstein-Gottorper Linie hier wieder Fürstbischofs Friedrich der regionalen Residenz. Verwaltung gute Mitbestimmungs- Osnabrück und Hildesheim spielten als chancen, so blieb das Territorium unter Bischofsstädte eine Sonderrolle. Da das Clemens August 1728-1761 nie vergesse- Hochstift Osnabrück seit dem Westfä- nes Nebenland eines der bedeutendsten lischen Frieden alternierend einen ge- geistlichen Fürsten der Zeit, woran bei- wählten katholischen Bischof oder einen spielsweise das prachtvolle Jagdschloss nachgeborenen hannoverschen Welfen- Clemenswerth bei Sögel erinnert. herzog zum Landesherrn hatte, unterlag Das Hochstift Hildesheim hing we- die Stadt wechselnden Einflüssen. Ihre der sentlich stärker von den Kölner Erz-

Oldenburg ist ein typisches Beispiel für eine barocke Festungsstadt in Niedersachsen (Darstellung von 1764). 78 Mithalten (bis um 1800) bischöfen aus dem wittelsbachischen zählte ähnlich wie Bückeburg 1780 keine Hause ab und kannte bis auf die kurze 2.000 Einwohner, Braunschweig dagegen Zwischenphase einer sehr bescheidenen 1788 immer noch mehr als Hannover, Hofhaltung durch Jobst Edmund von nämlich ca. 25.000. Brabeck 1688-1702 erst ab 1763 mit Einzelne Charakteristika kehren in den Friedrich Wilhelm von Westphalen wieder Residenzstädten immer wieder: Schloss- im Lande residierende Fürstbischöfe. Den- neu- oder -ausbau, Errichtung von Kanz- noch versuchten die Bischöfe seit der leigebäuden, Marställen usw., Anlage von Stiftrestitution 1643, die weitgehend herrschaftlichen Neustädten (insbeson- autonome Stadt Hildesheim in ihren Rech- dere in Hannover und Celle) vor den klei- ten zu schmälern. Das Vertrauen Hildes- neren der schon im Mittelalter wichtigen heims auf welfische Hilfe gegen den Städten oder Ausbau des Ortes selber wie Bischof blieb wegen der dortigen Städte- in Aurich und Bückeburg. Stetig stieg der politik stets zwiespältig. Gerade durch Anteil der fürstlichen Bediensteten, der diese Konstellationen bewahrte aber Hofhandwerker und Soldaten an der städ- Hildesheim die vergleichsweise stärkste tischen Bevölkerung. In Aurich bewohn- innerstädtische Autonomie, erhielt aller- ten fürstliche Bedienstete 1735 ein Viertel dings auch wenig landesherrliche För- aller Häuser, in Wolfenbüttel machten sie derung. 1754 samt Soldaten ein Drittel der Betrachtet man vergleichend das Haushaltungen aus, Braunschweig zählte Verhältnis der Städte zu den Landesherren 1788 fast 3.400 Garnisonangehörige. In und die innerstädtischen Verhältnisse al- allen Residenzstädten wurde das Aus- lein, so erscheint zum einen die große bildungswesen gefördert, voran das der Ähnlichkeit aller Residenzstädte unterein- höheren praktischen Bildung verpflichtete ander als hervorhebenswert. Zum ande- Collegium Carolinum 1745 in Braun- ren fällt der unmittelbare Zusammenhang schweig. Die Verfassungs- und Gewerbe- vom Sitz des Landesherrn im Territorium ordnungen wurden jedoch durch die mit dem intensiven Eingriff in städtische Landesherren gegen z.T. heftigen städti- Belange auf. Innerhalb dieser beiden Ähn- schen Widerstand zu einer so genannten lichkeiten muss aber deutlich unterschie- „beauftragten“ Selbstverwaltung hin ver- den werden zwischen den Städten, die ändert. Dabei blieb die soziale Gliederung schon im Mittelalter vollwertig entwickelt in den Residenzstädten, jedenfalls außer- waren, und denjenigen Orten, die über- halb des unmittelbar hofbezogenen und haupt erst in einen städtischen Rang hin- akademischen Milieus, relativ unverän- eingelangten, nämlich Aurich und Bücke- dert. Ein rascheres Bevölkerungswachs- burg. Wolfenbüttel stand dazwischen, da tum ist erst am Ende des 18. Jahrhunderts es als Neuentwicklung wesentlich schon und auch nur in den ohnehin größeren im 16. Jahrhundert ausgebaut worden Städten festzustellen. war. Trotz vieler kleiner Querelen waren daher Aurich und Bückeburg gefügsa- mere Residenzstädte als vergleichsweise Ein Universalgelehrter in der Osnabrück. Und es weichen innerhalb die- Provinz - Gottfried Wilhelm ser Ähnlichkeiten selbstverständlich auf- Leibniz grund der unterschiedlichen überkomme- nen Infrastrukturen die Einwohnerzahlen Mehr als vierzig Jahre wirkte in einer und wirtschaftlichen Möglichkeiten der dieser Residenzstädte, in Hannover, einer Residenzstädte voneinander ab. Aurich der größten Gelehrten Europas. Die Be- Mithalten (bis um 1800) 79 deutung von Gottfried Wilhelm Leibniz Hervorgehoben werden sollten die (1646-1716), dessen Kenntnisse, Ideen- von Leibniz forcierten Bemühungen aus reichtum und Kreativität nur wenige den Jahren nach 1680, die Konfessionen Wissenschaftler späterer Jahrhunderte zu zusammenzuführen, wozu Konferenzen erreichen vermochten, kann kaum über- durchgeführt wurden, die Einigungen ver- schätzt werden. Noch vergeblich blieben hießen. Letztlich erwiesen sich freilich die 1669 die Bemühungen, den gebürtigen trennenden Elemente als zu stark, so dass Leipziger in Hannover einzustellen. Her- die Versuche nach 1700 scheiterten. Für zog Johann Friedrich begann zwei Jahre das Fürstenhaus wichtig war der 1685 darauf seinen regen Briefwechsel mit Leibniz erteilte Auftrag, eine Geschichte Leibniz, umwarb ihn 1673 erneut, doch der Welfen zu schreiben. Dazu reiste erst am 21. Januar 1675 erklärte sich Leibniz 1687 für zwei Jahre nach Süd- Leibniz zögernd bereit, von Paris nach deutschland, Österreich und Italien, um Hannover zu kommen. Zunächst wohnte u.a. Materialien zu sammeln. 1691 wurde er im Leineschloß. 1698 bezog er das Leibniz auch die Leitung der Wolfen- 1648 errichtete Haus Schmiedestraße 10, bütteler Hofbibliothek übertragen, was das, im Zweiten Weltkrieg zerstört, heute seine Verdienste besonders würdigte, die als Neubau am Holzmarkt steht. Als Konkurrenz zwischen beiden Zweigen des Hofrat und Bibliothekar übernahm er die Welfenhauses aber einmal mehr anregte. Leitung der Hofbibliothek, deren Bestand Aus seinen vielen technischen Überle- er in den Folgejahren auf ca. 50.000 gungen seien zwei herausgegriffen. 1696 Bücher ausbaute. Mit allen wichtigen Per- legte Leibniz Pläne zur Wasserversorgung sönlichkeiten der Zeit stand er in Kontakt. der großen Fontäne in Herrenhausen vor, Er regte die Gründung von Akademien doch sie wurden verworfen: ein Fehler, der Wissenschaften an, widmete sich der wie sich herausstellte, denn sie erwiesen Geschichte des Welfenhauses, begrün- sich im nachhinein als geeignet. Während dete die Differential- und Integralrech- seiner Zeit als Verantwortlicher für die nung und entwarf als Philosoph ein ratio- technische Weiterentwicklung im Harzer nalistisch-idealistisches Denkgebäude, Berg- und Hüttenwesen entwickelte er das mechanistische Naturerklärungen mit eine neue Mühlenart, bei der sich die christlichem Glauben zu verbinden Flügel wie bei einer Drehtür um eine senk- suchte. Leitend dabei war die Überzeu- recht gelagerte Achse drehten. Diese gung, dass Gott eine alles verbindende „Horizontal-Windkunst“ ließ sich aller- Harmonie und Ordnung geschaffen habe, dings nicht in die Praxis umsetzen. die sich im Großen und in den kleinsten Seit 1698 konnte Leibniz sich stärker Spuren des Lebens und Denkens zeige. auf seine wissenschaftlich-literarische Ar- Konnte Leibniz zur Zeit des Herzogs beit konzentrieren. Die königliche Biblio- Johann Friedrich sein gesamtes Potential thek nahm er mit in sein Haus Schmie- auch zum Zweck des Hofes nutzen, so destraße 10. Das Jahr 1700 brachte wurden seine Tätigkeiten während ein wissenschaftsgeschichtlich wichtiges der Regierungsphase Ernst Augusts Ereignis. Unter Vermittlung der Tochter stärker auf historisch-politische Aktivi- Ernst Augusts und brandenburgischen täten zugunsten des Welfenhauses und Kurfürstin, Sophie Charlotte, richtete auf technische Aufgabenstellungen be- Kurfürst Friedrich III. die von Leibniz ange- schränkt. Mit der Kurfürstin Sophie dage- regte Berliner Akademie der Wissen- gen verband ihn eine enge geistige Bezie- schaften ein und berief Leibniz als deren hung. ersten Präsidenten. 1707 zeigten die 80 Mithalten (bis um 1800)

Studien zur welfischen Geschichte ihre porium des Zentrums, als „Tor zur Welt“. Erfolge. Der erste von drei Bänden (bis In der hochwertigen Produktion gewerb- 1711) der von Leibniz zusammengetrage- licher Güter vermochten die nieder- nen Quellen zur welfischen Geschichte er- sächsischen Städte, anders als phasen- schien. weise im Mittelalter, seit dem 17. Mit dem Tod der Kurfürstin Sophie Jahrhundert nicht mehr international zu 1714 schmolz Leibniz’ politischer und kul- konkurrieren. Was der Markt seit Ende des tureller Einfluß am Hof dahin. 1715 wurde 16. Jahrhunderts nicht mehr leistete, ver- ihm von der Landesherrschaft ein Rückzug suchten die Territorialstaaten zu kompen- aus den Staatsgeschäften nahegelegt. Am sieren. Ihre Anstöße konnten allein aus 14. November 1716 starb er; Hof und Kapitalmangel kaum wirtschaftlicher Bevölkerung nahmen wenig Anteil an der Art sein, sondern wirkten primär im Trauerfeier und der Beisetzung in der Neu- politisch-kulturellen Bereich. Dement- städter St. Johanniskirche. Man gedachte sprechend dominierten in der Stadt- seiner häufiger erst in den Folgejahr- förderung die drei Hauptbereiche territo- zehnten. 1750 erschien der erste Band der rialstaatlicher Aktivitäten: Bürokratie, von ihm zusammengetragenen „Origines Militär und Hofhaltung. Guelficae“, eine Quellensammlung zur In den Territorialstaaten profitierten welfischen Geschichte, und 1790 ermög- die Residenzstädte am meisten von der lichten private und königliche Stiftungen fürstlichen Förderung. Besaß Hannover die Anlage einer Gedenkstätte für den be- am Ende des Mittelalters im Vergleich zu deutenden Gelehrten, des Leibniztempels, Braunschweig, Lüneburg und Goslar le- der zunächst am Westende der Esplanade diglich nachrangige Bedeutung, so gedieh (Waterlooplatz) aufgestellt wurde und seit die Stadt bis zum Ausgang des 19. 1935 im Georgengarten steht. Jahrhunderts zu einem in übernationale Leibniz gelang es zwar nicht, der un- Verbindungen integrierten eigenständi- angefochtene Fürstenberater zu werden. gen Hauptort zwischen Hamburg, Berlin, Er baute aber ein internationales Netz- dem rhein-mainischen und dem rheinisch- werk wissenschaftlicher Kommunikation westfälischen Gebiet. Daher ist Hannover auf. Er war Vordenker vieler wichtiger wis- ein gutes Beispiel dafür, wie während der senschaftlicher Erkenntnisse in zahlrei- frühen Neuzeit innerhalb der den welt- chen Disziplinen. Er repräsentiert umfas- ökonomischen Metropolen nachgeordne- send das barocke Interesse an der Totalität ten Räumen ein Konzentrationsprozess des Wissens. Manchen Menschen in auf wenige lokale Zentren begann. Die an Niedersachsen ist er dennoch eher wegen Zahl reduzierten Hauptorte gelangten des zwei Jahrhunderte später nach ihm samt ihrem Umland in führende Positi- benannten Kekses bekannt. onen, was sich deutlich im Verkehrsnetz der Chausseen unmittelbar vor dem Eisen- bahnbau ausdrückt. Merkantilismus und Details der Außenverflechtungen zei- Wirtschaftsmodernisierung gen, dass Niedersachsen während der frü- hen Neuzeit stark von den westlichen öko- Typisch für den niedersächsischen nomischen Zentren beeinflusst wurde. Raum des 17. und 18. Jahrhunderts ist die Innerhalb der modernen Weltsystemthe- im Vergleich zu den nahen Niederlanden orie werden solche Gebiete „Halbperi- deutlich geringere Stellung der Städte. Die pherie“ genannt. Seit dem 16. Jahrhun- wichtige Ausnahme war Hamburg als Em- dert verdienten Arbeitssuchende aus Mithalten (bis um 1800) 81

Westniedersachsen saisonal und biswei- len dauerhaft ihr Brot als so genannte Hollandgänger außerhalb der Region. Niedersächsische Territorialstaaten ver- dingten ihre Soldaten an die im Westen gegeneinander kämpfenden Mächte oder nahmen deren Subsidiengelder. Der im Binnenland (in den Börden) angebaute Weizen wurde nur zu Festtagen im Land konsumiert, im Übrigen aber u.a. nach England verschifft. Auch die bäuerliche Anteilswirtschaft, das charakteristische Meierrecht, kann unter dem Gesichts- punkt der Außenverflechtungen gesehen werden. Die Bauern waren in der Mehr- zahl - ob persönlich frei oder nicht - Lebenszeiterbpächter zu Anerbenrecht. Der Landesherr erhielt zumeist ein bis zwei Diensttage pro Woche, der Wie dieser ambulante Korbwarenhändler aus Grundherr vorrangig Naturalleistungen. der Gegend um Königslutter (ca. 1830) waren Der Anteil der freien Verfügbarkeit über viele Menschen aus den ländlichen Unter- schichten auf Gewerbe und Kramhandel ange- die Arbeitszeit lag höher als in ostelbi- wiesen. schen Gebieten der Gutsherrschaft und niedriger als in rheinischen Gebieten der reinen bäuerlichen Pacht. stellung in Grünenplan und der Porzellan- Die Landesfürsten nutzten das Prinzip erzeugung in Fürstenberg Spezialindus- der Konkurrenzfähigkeit durch Imitation, trien neu aufgebaut. um ihre Territorien zumindest wettbe- Wegen der Dominanz einer mittelbäu- werbsfähig zu halten. Stets spielte die erlich geprägten Agrarwirtschaft war die Förderung der Gewerbe eine wichtige Protoindustrialisierung, also die im 16. Rolle. Dazu wurden externe Arbeitskräfte Jahrhundert begonnene gewerbliche angelockt, beispielsweise als nach der Durchdringung ländlicher Räume, nicht Aufhebung des Ediktes von Nantes 1689 nur eine halbproletarische, sondern auch viele Hugenotten aus Frankreich fliehen eine bäuerliche Wirtschaftsform, wie die mussten. Mit einer größeren Zahl besser Räume Osnabrück, Schaumburg und das ausgebildeter wirtschaftender Menschen Wendland belegen. Neben die städtische unabhängig zu werden von teuren gewerbliche Wirtschaft trat im 18. Jahr- Importen, den Geldabfluss zu mäßigen hundert zunehmend die ländliche. Flachs- und eine aktive Handelsbilanz zu erzielen spinnerei und Leinenweberei dominierten war das oft gesetzte, aber selten erreichte in Niedersachsen. Die in vielen Teilen des Ziel des später so benannten „Merkan- Raumes hergestellte, meist grobe, Lein- tilismus“. Erfolgreich waren am ehesten wand gelangte im 18. Jahrhundert in kleinere Territorien, voran Braunschweig- die Niederlande, nach England, Spanien, Wolfenbüttel. Selbst in kleineren Städten Portugal, nach Nordamerika und in die wurden arbeitsteilige, nicht zunftgebun- Karibik. Der internationale Export nieder- dene Großhandwerksbetriebe gefördert sächsischer Einfach-, Roh- und Halbfertig- (Manufakturen) oder mit der Glasher- produkte trug zur engeren Bindung des 82 Mithalten (bis um 1800) niedersächsischen Raumes an die Han- Der Harz als europäischer delszentren Westeuropas bei. Wirtschaftsraum Die Aufwertung der Fleckensiedlungen als lokale Marktorte hängt hiermit un- Im Rahmen der territorialstaatlichen mittelbar zusammen. Das Marktgeflecht Wirtschaftsförderung wurde zwar die bei wurde in der niedersäch-sischen Fläche Osnabrück und im Schaumburgischen vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahr- sowie im Deister oder anste- hunderts offensichtlich rasch verdichtet. hende Steinkohle genutzt, doch reichte Viele dieser Flecken unterhielten Handels- die Bedeutung nicht wesentlich über die verbindungen nach Hamburg, Bremen, Versorgung regionaler Schmieden hinaus. Braunschweig oder Hannover. Weiterhin fanden Obernkirchener, Velpker Deutlich wird die Beschleunigung des oder Bentheimer Sandstein ihren Absatz wirtschaftlichen und sozialen Wandels in ebenso wie die den heimischen Ton ver- den niedersächsischen Territorialstaaten am arbeitenden Töpfereiartikel des Ith-Hils- Ausgang des 18. Jahrhunderts, als einmal Raumes. Die Lüneburger Saline konnte mehr die Bevölkerungszahl zu wachsen be- wegen der internationalen Konkurrenz gann und das wirtschaftliche Tal der Zeit nicht mehr die Mengen des 16. Jahrhun- nach dem Dreißigjährigen Krieg durch- derts produzieren. Die kleineren, territori- schritten war. Was nun an Neuerungen in alstaatlich geförderten Salinen errangen Landwirtschaft und Gewerbeförderung er- nur lokale Bedeutung. Wie nie zuvor probt und zumeist „von oben“ durchge- stand bei Rohstoffgewinnung und -verar- führt wurde, galt in Teilen Westeuropas beitung der Harz voran. schon als seit langem verwirklicht. Die sich Hatten im 16. Jahrhundert die braun- spürbar wandelnde soziale und wirtschaftli- schweig-wolfenbüttelschen Welfenher- che Lage des ländlichen Raumes in zöge im Wesentlichen den Oberharzer Deutschland Mitte und Ende des 18. Jahr- Bergbau gefördert, so geschahen Neu- hunderts regte den Prozess der Agrar- aufteilungen im Zusammenhang mit den reformen an. Von den Kameralisten, also Erbauseinandersetzungen nach dem Tod den Staatsökonomen der Zeit, wurde die des Herzogs Friedrich Ulrich 1634 und Binnenkolonisation hoch bewertet. Ein weiteren Tauschvorgängen. Vom so ge- Beispiel hierfür ist die zwischen 1763-65 er- nannten Kommunionsharz fielen vier folgte Ansiedlung kurhannoverscher Sol- Siebtel an die in Hannover regierenden daten, die weitgehend der ländlichen Welfen, drei Siebtel an diejenigen in Unterschicht entstammten und als Ge- Wolfenbüttel. Diese Ordnung blieb bis werbetreibende, Hollandgänger oder Fuhr- 1789 bestehen, dann gelangte der leute auf neugeschaffenen Kleinstellen im Oberharz an Hannover, der Unterharz an Raum zwischen Hunte und Mittelweser ar- Braunschweig. In der zweiten Hälfte des beiteten. Die gute Agrarkonjunktur ließ 17. Jahrhunderts erwuchs um das Harzer Rationalisierungen und Modernisierungen Berg- und Hüttenwesen mit der Berg- in der Agrarwirtschaft zu. Die kameralisti- warenhandlung gleichsam ein Staatskon- schen Reformansätze gerieten allerdings zern mit großer regionaler Ordnungs- am Ausgang des 18. Jahrhunderts ins macht und internationaler Ausstrahlung. Stocken, weil die Bauern in der überwie- An der Spitze stand je ein Berghaupt- genden Mehrheit an der genossenschaft- mann, dem das Bergamt unterstand. lichen Ordnung und die Grundherren am Dieses war in die Abteilungen „von der überkommenen Agrarsystem festhalten Feder“ (Verwaltung) und „vom Leder“ wollten. (Betrieb) unterteilt. Mit durchschnittlich Mithalten (bis um 1800) 83 knapp einer Tonne Silber pro Jahr am Bergbau und Hüttenwesen gerieten Rammelsberg und bis zu 15 Tonnen pro nicht zuletzt wegen zunehmender auswär- Jahr im Oberharz wurde eine beachtliche tiger Konkurrenz in den letzten Jahrzehnten Menge dieses lukrativen Edelmetalls er- des 18. Jahrhunderts in eine wirtschaftlich zeugt, im 18. Jahrhundert zeitweilig fast schwierige Lage, die erst Mitte des 19. zwei Drittel der deutschen Silberpro- Jahrhunderts mit der Erschließung des duktion. Ein Teil wurde zur Münzprägung neuen Lagers am Rammelsberg wieder in den welfischen Territorien benötigt. günstiger wurde. Weder die beginnende Ebenso bedeutend war das Blei, das zur Romantisierung des Harzwaldes noch der Silbergewinnung im Harz genutzt, aber frühe Harztourismus konnten im 19. Jahr- auch exportiert wurde und für zahlreiche hundert wesentliche Besserungen bringen. Gebrauchsgegenstände, ja auch zur Bald nach 1800 war der Oberharz ein Ab- Waffen und Munitionsherstellung verar- wanderungs- und Auswanderungsgebiet. beitet wurde. Daneben stand eine eben- Die Bedeutung des Harzes für die eu- falls exportorientierte Eisenproduktion. ropäische Montanwirtschaft bis zum Zur Trockenhaltung der Stollen wurde Ausgang des 18. Jahrhunderts kann, trotz eine differenzierte Wasserbewirtschaf- großer Forschungsanstrengungen der tung ersonnen, in der Teiche als Speicher letzten Jahre, noch nicht exakt gewürdigt eine wichtige Funktion zum Betreiben werden. In den welfischen Territorien von Wasserrädern wahrnahmen, die nahm das Berg- und Hüttenwesen eine wiederum die Pumpen wie auch die Fahr- gesonderte Funktion war. Einerseits war und Förderwerke in Gang hielten. Der die Verwaltung so autonom, dass sie Wald, dringend notwendig für die gleichsam einen Staat im Staate darstellte, Gewinnung von Holzkohle zur Ver- andererseits dürften die Erträge wesent- hüttung, wurde einer kontrollierten, für lich die Staatshaushalte finanziert haben. andere Regionen als vorbildlich gelten- den, Forstwirtschaft unterstellt. Stetig wurde die Verhüttungstechnik ver- Aufklärung und moderne Bildung bessert. Wasserwirtschaft, Forstwirt- schaft und Verhüttung griffen allerdings Bergbau und Hüttenwesen beruhten tief in den Naturhaushalt ein. Schwefel- auf Erfahrung und tradiertem Wissen, das und Schwermetallemissionen schädigten innerhalb des engeren Montanbereiches Boden, Wald und Menschen. weitergegeben wurde. Das höhere Bil- Zur Versorgung der Bergwerke und dungswesen orientierte sich nicht an der Hütten sowie der Menschen, die in technischen Anwendungen, sondern den Oberharzer Bergstädten keine klima- blieb zunächst den klassischen Disziplinen tischen Bedingungen für ertragreiche (Theologie, Jura, Medizin, Philosophie) Landwirtschaft vorfanden, war ein breit vorbehalten. So war die 1576 eingerich- organisiertes Beschaffungssystem nötig. tete welfische Universität Helmstedt ein Hiervon profitierten auch die Harzrand- Hort der evangelischen Religionsunter- städte, wo Kornmagazine angelegt wur- weisung im reformatorisch-humanisti- den oder umfangreiche Fuhrarbeiten zwi- schen Geist Philipp Melanchthons und schen Harz und Harzrand zu erledigen des naturrechtlichen Denkens. Die von waren. Schätzungsweise dürften bis zu dem Theologieprofessor Georg Calixt 10.000 Menschen in die Montanwirt- (1586-1656) entwickelte Konzeption, die schaft des Harzes einbezogen oder von ihr getrennten Konfessionen auf der Grund- abhängig gewesen sein. lage frühchristlicher Lehraussagen wieder 84 Mithalten (bis um 1800) zu vereinen, beschäftige das ganze 17. sche Halle und auch gegen das braun- Jahrhundert führende Politiker und schweig-wolfenbüttelsche Helmstedt zu Theologen. War die Universität Helmstedt verstehen. Hatte in der 1694 eröffneten im ersten Jahrhundert ihres Bestehens im Universität Halle bereits, anders als in evangelischen Deutschland eine bedeu- Helmstedt, die empirische Wissenschaft tende Ausbildungsstätte für Theologen Fuß fassen können, so sollte in Göttingen und Staatsbedienstete, so verlor sie diese diese ganz im Geist der Aufklärung im Bedeutung zum Ende des 17. Jahrhun- Mittelpunkt stehen. derts und wurde 1810 geschlossen. Die Der Name Georgia Augusta verwies 1610 zunächst in Stadthagen gegründete auf den Kurfürsten und englischen König schaumburgische Universität Rinteln Georg II. Auch diese Universität war davon spielte bis zu ihrer Auflösung ebenfalls geprägt, Männer auszubilden, die zukünf- 1810 nur wegen ihrer Rechtsgutachten tig vorrangig im Staatsdienst tätig werden eine über das hessische Territorium hin- sollten. Die Berufung der Professoren ob- ausgehende Rolle. lag nicht den Fakultäten, sondern blieb in Mit der Universität Göttingen erhielt Staatshand. Doch erstreckte sich die Niedersachsen eine der Aufklärung ver- Herkunft der Studentenschaft bald, mit pflichtete und bis in die zweite Hälfte des norddeutschem Schwerpunkt, auf das 20. Jahrhunderts in Niedersachsen kon- ganze Reich und auch auf England und kurrenzlose Universität. 1734 nahm sie Frankreich. Weitgehende Zensurfreiheit, mit 113 Studenten ihre Arbeit auf. Ihre religiöse Toleranz, der Aufbau einer frei Entstehung geht im Wesentlichen auf den zugänglichen Universitätsbibliothek und hannoverschen Minister Gerlach Adolf die Ergänzung um eine ganz der von Münchhausen (1688-1770) zurück Forschung gewidmete Akademie der und war als Konkurrenz gegen das preußi- Wissenschaften trugen wesentlich zur

Die Universität Helmstedt war am Ende des 16. und im 17. Jahrhundert eine wichtige Ausbildungs- stätte für Theologen und Juristen. Mithalten (bis um 1800) 85

Attraktion bei. Gerade in den Rechts- Sekretär der Militärverwaltung nach wissenschaften, der Medizin, der Hannover; er galt als diskreter Vermittler Mathematik und auch der Geschichte der führenden zeitgenössischen Literatur. lehrten angesehene Wissenschaftler. Gleichzeitig ließ sich Ludwig Christoph Für die tätige Aufklärung, die mit ra- Heinrich Hölty, 1748 in Mariensee bei tionalem Denken Verbesserungen für die Neustadt am Rübenberge geboren, der Menschen erbringen wollte, standen Dichter schwermütiger oder auch naiv- weniger die Universitäten, vielmehr volkstümlicher Gedichte und Balladen, Diskussionszirkel wie Lesegesellschaften hier wieder nieder. 1776 erschien das oder die Korrespondenz zwischen Gleich- Trauerspiel „Julius von Tarent“, das den gesinnten im Mittelpunkt. Dies senkte ge- 1752 in der Calenberger Neustadt Han- sellschaftliche Schranken und ließ dem novers geborenen Johann Anton Leise- Bürgertum die Möglichkeit zu besserer witz bekannt machte. Bereits 1767 war Bildung und offenerem Denken. Gerade der Schweizer Johann Georg Zimmer- die Aufstiegschancen in der Verwaltung mann als königlicher Leibarzt an den Hof schienen die Grenzen zwischen dem tra- berufen worden. Er war bald ebenso ditionellen Landadel und dem im Terri- Modearzt des Adels wie der Bürger. Dem torialstaat avancierten Bürgertum zu ver- breiten schriftstellerischen Werk Zimmer- wischen. Beamte, Ärzte, Advokaten aus manns entstammen zahlreiche Schilde- dem Bürgertum, wie sie in Göttingen aus- rungen der Situationen in und um gebildet wurden, verstanden sich weniger Hannover. Ernst Brandes, zentrale Figur als Stadtbürger denn als Bürger im Staat: des politischen, gesellschaftlichen und li- Sie brachten Aufklärung, individuelle terarischen Hannovers am Ausgang des Bildung, Naturzugewandtheit oder so ge- 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nannte englische Freizügigkeit miteinan- und August Wilhelm Rehberg, der als der in sinnvolle Verbindung. Allmählich Schriftsteller, Philosoph und Politiker ging das altadlig-hofadlig geprägte ge- Bekanntheit erlangte, setzten sich früh im sellschaftliche Leben über in eine neue, reformkonservativen Sinn mit der Franzö- von bürgerlichen Beamten und Literaten sischen Revolution auseinander. Karl bestimmte Form. Vom durchschnittlichen August von Hardenberg skizzierte während Stadtbewohner blieb dieser Betrieb be- der Zeit, die er bis 1782 im hannoverschen wusst distanziert, öffnete sich aber Staatsdienst verbrachte, die Leitlinien der gegenüber der Politik in einer gedank- später in Preußen z.T. verwirklichten Re- lichen - freilich kaum tätigen - Ausein- formpolitik. Gerhard Johann David (von) andersetzung mit den überkommenen Scharnhorst wirkte zunächst in Schaum- absolutistisch-aristokratischen burg-Lippe, lehrte an der hannoverschen Herrschaftsverhältnissen. Artillerieschule und skizzierte Ideen, die er Bildungsbürgertum und Adel traten in hernach in Preußen zur Heeresreform um- vorsichtigen Kontakt. Die Verbindung setzte. Johann Christian Kestner kehrte herzustellen half der gemeinsame Staats- 1773 als Archivsekretär in seine Heimat- dienst. stadt zurück und heiratete Charlotte Buff Boie, Hölty, Leisewitz, Zimmermann aus Wetzlar. Die von Goethe bewunderte u.a. ließen Hannover am Ausgang des 18. Frau ist als Lotte im „Werther“ verewigt. Jahrhunderts zu einem literarischen 1777 wurde Georg August Christian Mittelpunkt gedeihen. 1775 kam Heinrich Kestner geboren. Als Diplomat und Kunst- Christian Boie, Mitbegründer des Bundes forscher machte er sich einen Namen. „Göttinger Hain“, für sechs Jahre als Seine Kunstsammlung lieferte den 86 Mithalten (bis um 1800)

Grundstock für das später nach ihm be- Knigges ausgingen, seine Stellung aber nannte Museum in Hannover. verschlechterten. Gustav Friedrich Wil- Die kurfürstliche Bibliothek (heute helm Großmann, 1788 als Hoftheater- Landesbibliothek Hannover) im Archiv- direktor nach Hannover berufen, wurde gebäude zählte 1801 bereits 103.000 mehrfach wegen der Aufführung herr- Werke. 21.000 Bände umfasste 1791 die schaftskritischer Stücke gerügt. 1794 Privatbibliothek des Geheimsekretärs wurde er ins Clevertorgefängnis eingelie- Georg Friedrich Brandes. Auch andere hö- fert, nachdem er in einem Schauspiel die here Beamte verfügten mittlerweile über Ausbeutung der Bauern und die Unfähig- größere Büchersammlungen. Viele kleine, keit der Herrscher kritisiert hatte, und er- private Lesezirkel entstanden in der zweiten hielt Berufsverbot. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Es lag nahe, Vervollkommnung des Menschen mit dass 1799 etliche Honoratioren der Stadt Hilfe der Rationalität, im Sinne individueller eine der Aufklärung verpflichtete umfas- Glückseligkeit, aber auch der Gemein- sendere Lesegesellschaft (Societäts- nützigkeit, waren die der Aufklärung ver- Bibliothek, später Museumsgesellschaft) in pflichteten Ziele. Hierfür stand wie kaum ein der Leinstraße 22 einrichteten, der alsbald anderer Gotthold Ephraim Lessing (1729- über 200 Personen angehörten. Auch sol- 1781). 1770 wurde er nach wechselvollem che Leseclubs halfen, die kulturellen Inte- Leben an die angesehene Wolfenbütteler ressen der Bürger zusammenzuführen und Bibliothek berufen (Herzog-August- Standesunterschiede innerhalb der gebilde- Bibliothek). Seine Schriften für Vernunft, ten Gruppe zu verwischen. Bücher und Menschlichkeit, Freiheit und Toleranz, ge- Zeitungen zu halten, die von der im Land gen Fürstenwillkür, Vorurteil und kirchliche vorherrschenden Meinung abwichen, ver- Bevormundung sollten bei den Lesern und bot das königliche Zensuredikt von 1793, das den Umlauf revolutionärer Schriften zur Zeit des Höhepunktes der Französischen Revolution verhindern sollte. Nach Hamburg, aber noch vor Bremen, war Hannover dennoch von 1700 bis 1765 die zweitwichtigste Bücherstadt Norddeutsch- lands mit 11 % der Neuerscheinungen, wurde dann aber von Göttingen überflü- gelt. Kritik keimte auf, wurde aber schnell unterdrückt. Adolf Freiherr Knigge aus Bredenbeck bei Hannover formulierte ra- dikale Aufklärungsgedanken, doch fielen diese kaum auf fruchtbaren Boden. 1788 veröffentlichte er, für drei Jahre in Han- nover lebend, hier die ersten beiden Bände seiner kritisch-aufklärerischen Schrift „Über den Umgang mit Men- schen“, die keinesfalls Benimmbücher waren. Hieran knüpften sich diverse poli- So könnte es gewesen sein: Lessing und Men- tische Kontroversen gerade mit Zimmer- delssohn während eines Gesprächs in Wolfen- mann an, die im Rechtsstreit zugunsten büttel (Federzeichnung von 1912/13) Mithalten (bis um 1800) 87 den Zuschauern seiner Theaterstücke vorur- verbesserung durch Klee als Zwischen- teilsfreie Erkenntnis wecken. Aber auch der frucht oder den Nutzen des Stallmistes Braunschweiger Hof war nicht so tolerant, führte. Lessings Streit mit einem konservativen lu- Landwirtschaftliche Gesellschaften therischen Pfarrer zu unterstützen, sondern wurden in Anlehnung an englische Vor- unterwarf ihn der Zensur in Publikationen bilder in den sechziger Jahren des 18. über Religionsfragen. Während Lessings Jahrhunderts auch in Deutschland gegrün- Wirkens im Herzogtum Braunschweig er- det, eine der bedeutendsten befand sich in schienen seine Werke „Emilia Galotti“ und Celle. Sie ging auf einen bürgerlich-adligen posthum das zentrale Drama im emanzipa- Gesellschaftszirkel in Celle zurück, der dar- torischen Geist, das Lessing Weltbe- aus resultierte, dass Celle bis 1705 eine der rühmtheit verlieh, „Nathan der Weise“. welfischen Residenzstädte gewesen war, landwirtschaftliche Ausschüsse hier weiter- hin tagten und das Oberappellations- Beginn der agrarischen gericht Kurhannovers hier angesiedelt war. Modernisierung - die Celler 1764 wurde die Gesellschaft gegründet. Landwirtschaftsgesellschaft Legationsrat Jobst Anton von Hinüber er- öffnete die erste Sitzung. Er verlas Auszüge Von der Aufklärung ließen sich viele aus Briefen Burchard Christians von Behr, Fürsten inspirieren und waren bemüht, die des seinerzeit für die deutschen Lande Prinzipien der Vernunft in den Landes- Georgs III. von England zuständigen angelegenheiten walten zu lassen, um eine Geheimrats in London. Behr teilte mit, dass Modernisierung des Staatswesens zu errei- Georg III. nach dem Beispiel anderer Länder chen. Allerdings bestand die Gefahr, dass auch „in dero deutschen Provinzen eine sich rationales Denken gegen die monar- Gesellschaft ökonomischer Patrioten“ für chischen und ständischen Prinzipien der sehr wünschenswert halte. In „einmütiger Zeit wenden konnte und Kritik nicht allein Freude und Bereitwilligkeit“ beschlossen der Optimierung des Staatswesens diente, die Anwesenden, diesem königlichen An- sondern dessen Leitstrukturen an sich in sinnen nachzukommen. Die acht anwesen- Frage stellte, so wie es in Frankreich 1789 den Herren, die in den ersten Jahren ab geschah. 1764 das Leitungsgremium der Ge- In vermittelter Form gilt dies für den sellschaft bildeten, waren hierauf allesamt Leitsektor der Ökonomie in der alten stän- gut vorbereitet. Ein Geistlicher, vier dem dischen Gesellschaft, die Landwirtschaft. In Altadel angehörende Gutsbesitzer und Westeuropa, vorrangig in Teilen der Nie- Amtsträger der Landschaft, zwei Gutsbe- derlande und Englands, wurde in der zwei- sitzer ohne ständische Ämter, ein hoher ten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuneh- Beamter: Sie alle hatten sich bereits mit mend deutlich, dass nur eine Landwirt- Modernisierungen in der Ökonomie und im schaft, die das alte grundherrschaftliche Staatswesen beschäftigt, ja Neuerungen System hinter sich ließ, die notwendigen der Agrarwirtschaft teils selbst erproben Innovationen leisten konnte, um die Er- lassen. Im Mittelpunkt stand zunächst die nährung der stetig steigenden Bevölkerung Information der großen Grundbesitzer zu sichern. Aus wirtschaftlichem Druck und über Neuerungen in der Landwirtschaft. aufklärerischer Rationalität gedieh eine Hierzu wurde eine eigene Zeitschrift ge- agrarische Bewegung, die in adligen und gründet, aus der später die bedeutenden bürgerlichen Zirkeln zu Diskussionen um „Annalen der niedersächsischen Land- verbesserte Erträge nach der Boden- wirtschaft“ erwuchsen. 88 Mithalten (bis um 1800)

Bereits im ausgehenden 18. Jahrhun- versität. Er war einer der großen Schritt- dert gewann die Gesellschaft insgesamt macher für Innovation in der Land- fast 300 Mitglieder. Mehr als ein Drittel wirtschaft. Er erzielte viele Erfolge in der hiervon waren Angehörige des Kameral-, Verbesserung der landwirtschaftlichen Be- Forst-, Militär- und Fortifikationswesens, triebsführung, der Verbreitung von Frucht- Adlige und staatliche Beamte also, mehr als wechselsystemen, der Entwicklung des ein Viertel studierte Bürger, ein weiteres Kartoffelanbaus und der Schafzucht. knappes Viertel gewerbetreibende Bürger, Viele Vertreter der Celler Gesellschaft dazu etliche Gutsbesitzer ohne besonderes zeigten: Wenn die landwirtschaftliche Amt, kein eigentlicher Bauer. Hieran wird Innovation nicht allein auf die Domänen deutlich, wie sehr die agrarische Innovation und adligen Güter beschränkt bleiben eine Bewegung der aufgeklärten Herrscher, sollte, dann mussten Reformen die bäuer- des Adels und der Bürger war. Die ordent- lichen Bindungen an den Grundherrn lö- lichen und korrespondierenden Mitglieder sen, mussten die Brachen beendet, der lieferten Beiträge zur landwirtschaftlichen Drei-Felder-Zyklus beseitigt und die Ge- Innovation und Agrarreform für das Publi- meinheiten separiert, also aufgeteilt kationsorgan der Gesellschaft. Auf diese werden. Weise trug die Gesellschaft wesentlich zur Diskussion über Agrarverbesserungsmaß- nahmen bei, der sich auch die anfänglich Revolution im Kleinstaat? skeptische Mehrheit des landständischen Der schaumburg-lippische Adels kaum entziehen konnte. In charakte- Bauernaufstand ristisch aufklärerischem Optimismus hoffte die Gesellschaft aber auch, durch verständ- Ideen zur Verbesserung der Land- liche Reformschriften, die an die Pastoren wirtschaft trafen am Ausgang des 18. verteilt wurden, die Bauern selbst zu agrar- Jahrhunderts keineswegs nur auf eine ökonomischen Veränderungen zu be- dumme Bauernschaft, die unbelehrbar in wegen. einfachen Verhältnissen weiterexistieren Bekannt wurde die Königliche Land- wollte. Bäuerliche Proteste und bäuerliche wirtschaftsgesellschaft den Zeitgenossen Anregungen zur Verbesserung von Staats- und der Nachwelt durch Albert Daniel wesen und Ökonomie zeigten sich am Thaer (1752-1828). Von 1784 bis 1828 war Ausgang des 18. Jahrhunderts in etlichen er Mitglied des engeren Ausschusses der Teilen Niedersachsens und besonders an- Gesellschaft. Er hatte Medizin studiert, ar- schaulich in Schaumburg-Lippe zwischen beitete seit 1778 als Stadtphysikus und 1784 und 1793. Zuchthausarzt in Celle, wurde 1780 zum Anlass der bäuerlichen Proteste waren, Hofmedikus und 1796 zum Leibarzt er- wie so oft, Steuererhöhungen in dem nannt. Auf seinen Äckern und Wiesen bei durch den Siebenjährigen Krieg, durch Celle experimentierte er mit seinen den extremen Ausbau des Militärwesens „Grundsätzen des rationellen Ackerbaus“ zur Zeit des Grafen Wilhelm und durch ab- und verwirklichte viele Ideen, die er über solutistische Misswirtschaft verschuldeten den englischen Landbau gelesen hatte. Im Territorialstaat. Seit 1784 wurde eine über preußischen Möglin erhielt Thaer die 80-prozentige Zusatzkontribution erho- Chance, eine landwirtschaftliche Lehr- ben, die dem von Hannover und Preußen anstalt mit einem Versuchsgut aufzubauen, erzwungenen Straßenbau dienen sollte. und er lehrte von 1810 bis 1818 Land- Die Bauern weigerten sich bis hin zur wirtschaft an der neuen Berliner Uni- Reichskammergerichtsklage, die neuen Mithalten (bis um 1800) 89

Lasten zu tragen. Nach dem Tod des starr- fall unmittelbar aufeinander. Was zu- sinnigen Grafen Philipp Ernst 1787 zeich- nächst als Revolte gegen die Landes- nete sich unter der Regentin Fürstin herrschaft um erhöhte Steuerforderun- Juliane ein Kompromiss ab. Über einen gen erscheint, gerät in ein anderes Licht, Vergleichsentwurf wurde gar ein Plebiszit wenn auf die rasche Zunahme der unter- unter allen Hofbesitzern gehalten. Den bäuerlichen Gruppen im Dorf geschaut Bauern sollten alle alten Rechte bestätigt wird. Träger der Oppositionsbewegung und ihnen sollte Akteneinsichten bei der waren Bauern, die größere Höfe besaßen, Erhebung von Zusatzsteuern gewährt besser gebildet waren und durchaus be- werden. Die Landesherrschaft war sogar reits marktorientiert wirtschafteten. bereit, hierüber mit den Bauern einen Ver- Innerhalb des Dorfes, oft auch im Ver- trag zu schließen. Aber die Bauern lehn- bund mehrerer Dörfer, organisierten die ten mehrheitlich den Vergleich ab, denn Bauern die Bestellung der in Gemen- auch er enthielt zusätzliche Steuer- gelage einer Vier- bis Sechsfelderwirt- forderungen. Viele Dorfschaften erhoben schaft aufgeteilten Besitzparzellen, die zugleich sehr unterschiedliche Detailfor- Nutzung der Gemeinheiten, die Zehnt- derungen bis hin zur gänzlichen Ab- leistungen sowie die Dienstleistungen schaffung der grundherrschaftlichen Ord- gegenüber dem Landesherrn, und sie nung. Im März 1793 begann die Lan- führten die Gemeindekasse. Über alles desherrschaft, unterstützt von Entschei- wachte der Bauer- oder Hachmeister, des- dungen des Reichskammergerichts, die sen Amt zumeist in Reihe unter den Zusatzkontributionen gewaltsam einzu- Vollbauern umlief. treiben. Daraufhin leisteten knapp 1000 Viele Dörfer verfügten über einen be- Bauern des Amtes Stadthagen offenen, stimmten Versammlungsplatz, an dem, oft gewaltsamen Widerstand. zu festen Terminen, Gemeindeangelegen- Im April 1793 marschierte auf heiten erörtert wurden. Die Bauern besa- Ansuchen der schaumburg-lippischen Re- ßen zwar keine politischen Mitsprache- gierung und mit Genehmigung des rechte im Kleinstaat, was aber an in- Reichskammergerichts preußisches und stitutionalisierter gemeindlicher Selbst- hannoversches Militär ein. Der Steuer- organisation fehlte, wurde durch die große kompromiss wurde gewaltsam durchge- Selbständigkeit der die dörfliche Ordnung setzt. Einige der bäuerlichen Akteure bestimmenden Vollbauern auf ihren Höfen konnten verhaftet werden. Sie wurden zu mehr als wettgemacht. Einige führten z.T. Geld- und Zuchthausstrafen verurteilt. nur mit den Marschbauern der Küste ver- Die einen gesonderten Prozess führende gleichbare Betriebe mit viel Personal und Stadt Stadthagen hingegen vermochte ihr enger Marktanbindung. Streng von ihnen altes Recht der Rechnungskontrolle sozial getrennt lebten die Kleinbauern und wiederzuerlangen. Handwerker. Kleinstellenbesitzer waren oft Grundherr war in ca. 90% der Fälle von gemeindlichen Rechten ausgeschlos- der Landesherr, unterste landesherrliche sen. Jedoch gehörten soziale Hierarchi- Instanz das Amt. Da die Landstände ent- sierung und wechselseitige Abhängigkeit machtet waren, glich das Land einer gro- eng zusammen. Denn die Über- und ßen Grundherrschaft mit territorialstaat- Unterordnung wurde durch vertikale Be- licher Funktion. Nur die Stadt Stadthagen schäftigungen von Dienstpersonal, durch besaß noch relevante Sonderrechte. In der zwangsgegebene Nachbarschaftshilfen Grafschaft Schaumburg-Lippe trafen also und durch Arbeitsteilungen häufig wieder Landesherrschaft und Bauern im Konflikt- aufgehoben. 90 Mithalten (bis um 1800)

Der Landesherrschaft gelang es nie, nahmen zu erhöhen und den Staats- die dörflichen Informationszirkel zu er- einfluss auf dem Lande zu vergrößern. Die fassen. Selbst bei den Amtmännern Bauernrevolte hatte den status quo für die herrschte keine klare Kenntnis darüber, Gemeindebestimmenden Vollbauern gesi- welche Personen zu den aktivsten des chert, nicht aber die territorialstaatlichen Widerstandes gehörten und wie die Ansprüche aufgehoben, nicht die Kommunikation zwischen ihnen erfolgte. Nutzungsmöglichkeit zusätzlicher Acker- Man ging irrtümlich von einer Rädels- flächen erbracht und nicht die innerdörfli- führertheorie aus, war auf Denunzianten che Konkurrenz durch die stetig wach- angewiesen, auch zufällig im Dorfkrug sende Zahl nicht gemeindeberechtigter Aufgeschnapptes. Es gab also so etwas Kleinstellenbesitzer gemindert. wie ein bäuerliches kommunikatives Netz- Widerstand konnte mittlerweile auf werk, das keine Führungspersonen im en- Unterstützung durch einige juristisch ge- geren Sinne verlangte. Vielmehr handelte schulte und politisch geübte Bürger und die Akteursgruppe relativ gleichberechtigt vereinzelt auch Adlige rechnen. Alle und homogen. Die Gastwirtschaften wa- Personen, die mit den Bauern kooperier- ren eine wichtige Nachrichtenbörse. Ex- ten, sahen Aufklärung nicht allein als ein territoriale Marktorte boten darüber hin- geistiges, sondern immer mehr als ein po- aus einen sicheren Platz des Austausches litisches Problem. Über die schon lange und der Information. üblichen Rechtshilfen hinaus gab es also In einem größeren Territorialstaat mit Verquickungen der Bauern mit außerbäu- stehendem Heer und hierarchisierten erlichen reformfreudigen Personen und in Gerichtswesen hätten die Untertanen der Sache auch mit dem Vorgehen der keine entsprechende Revoltenchancen Städte. Zwar gab es kein geschlossenes gehabt, zumal, wenn der Staat mit dem städtisch-bäuerliches Vorgehen, doch die Landtag noch ein politisches Forum be- Ähnlichkeit der Forderungen ist deutlich. saß, das Konflikte mildern helfen konnte. Bindeglied der Interessen war der Wunsch Erfolgreich war der Protest letztlich nicht. einzelner Personen, die sich an der Auf- Die Steuer-, Dienst- und Abgabenpro- klärung orientierten, nach Einfluss und bleme sowie die Gemeinheitsnutzungen Reform im Staat. Das eröffnete neue blieben ungelöst; die Notwendigkeit der Konflikte mit dem ideell durchaus der umfassenden Agrarreformen wurde stetig Aufklärung zugewandten Staat, der aber deutlicher. Die Bevölkerung wuchs immer nach autoritären Prinzipien handelte. rascher. In diesem Gebiet mit Anerben- Beim Austragen des Streites zeigte sich recht hieß das, die Zahl der unter- und allerdings einmal mehr, dass Aufklärung außerbäuerlichen Dorfbewohner schwoll und Absolutismus im Prinzip unvereinbar an und die sozialen Spannungen im Dorf waren. nahmen zu. Die Dorfbestimmenden Voll- Die Konfliktbereitschaft minderprivile- bauern wollten sich den wandelnden wirt- gierter Gruppen am Ausgang des 18. schaftlichen und gesellschaftlichen Bedin- Jahrhunderts wuchs generell und spitzte gungen der Agrarkonjunktur und des sich 1792/93 zu. Viele im Staatsdienst ste- Bevölkerungswachstums anpassen, aber hende oder dem Staat nahe stehende das Dorf als Bereich des Friedens, der Personen nutzten in allen Konfliktfällen Nachbarschaft und der guten Wirtschaft die propagandistische Möglichkeit, Oppo- erhalten. Die Landesherrschaft war allein sitionen, Widerstandbewegungen und interessiert, die landwirtschaftliche Öko- Revolten mit dem Revolutionsmakel zu nomie zu fördern, um die Kassenein- stigmatisieren. Vertreter oppositioneller Mithalten (bis um 1800) 91

Gruppen mussten sich zumindest seit Essen und Trinken beispielsweise könnten 1793 hüten, Frankreichassoziationen auf- mit wenigen Nuancierungen wiederholt kommen zu lassen. Unmittelbaren Ein- werden, wie sie für das Mittelalter formu- fluss aus Frankreich gab es aber nicht. liert wurden. Allerdings sind wir gerade seit Hier handelten keine Revolutionäre, die der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Kreisen „norddeutscher Jakobiner“ viel besser über Einzelheiten der All- angehörten, und Revolutionsemissäre aus tagskultur informiert. Dazu trägt einerseits Frankreich sind nicht nachzuweisen. die Zunahme entsprechender Schriftzeug- Immerhin war der Alphabetisierungsgrad nisse bei, andererseits das Überkommen der Landbevölkerung sehr hoch, es lief von Gebrauchsgegenständen bis in unsere Schrifttum aus Frankreich und von deut- Zeit. Die soziale Kluft zwischen arm und schen Jakobinern um, und die relativ libe- reich, hochadlig oder kleinbäuerlich drück- rale Pressezensur wurde erst zu Beginn te sich weit ausgeprägter in Wohnung und der neunziger Jahre drastisch verschärft. Kleidung aus als im Mittelalter. Insofern er- Und ganz offensichtlich wurde die Hoff- scheint die überkommene ständische nung der Oppositionsbewegung auf Gesellschaft am Ende ihrer Zeit am ausge- Erfolg durch die politische Situation seit prägtesten. dem Herbst 1792 gestärkt. Insofern trug Die Bürger der niedersächsischen die Französische Revolution zur Inten- Städte spielten in der frühen Neuzeit eine sivierung der Konflikte vielleicht bei. Sie geringere Rolle als im Mittelalter. Mit waren aber regionalinternen Ursprungs. Ausnahme Hannovers und am Ende des Für die Jahre nach 1789, insbesondere 18. Jahrhunderts Bremens stagnierten die das Jahr 1793, sind in Niedersachsen viele niedersächsischen Städte, und die inter- weitere Einzelbeipiele für die Unzufrie- nationale Handelseinbindung der weni- denheit von Bauern und Bürgern mit den gen größeren Städte nahm ab. Das herkömmlichen Verhältnissen zu finden. Fernhändlerpatriziat wurde seit dem 17. Die vielen kleinen Proteste, Eingaben oder Jahrhundert durch eine Juristenelite er- Aktionen zeigen aber keine Geschlossen- setzt. Die Mehrzahl der Städte zählte weit heit, die sozial oder regional übergreifend weniger als 5000 Einwohner und bot al- hätten Erfolge erzielen können. In den lein einem regionalen Gewerbe Platz. Das neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts er- in Gilden und Ämtern organisierte Hand- kannten zudem die Landesherrschaften, werksbürgertum prägte das städtische welches Bedrohungspotential in tätiger Bild. Stetig nahm der landesherrliche Aufklärung steckte. Sie verschärften die Einfluss in städtischen Angelegenheiten Kontrollen und gingen härter gegen zu. Bürgerliche Feste orientierten sich Kritiker vor. mehr und mehr am fürstlichen Vorbild. So beteiligten sich die Hannoveraner am hö- fischen Karneval des welfischen Fürsten. Menschen in Stadt und Land Nur in den größeren Städten bildeten sich unter dem Zeichen der Aufklärung neue Das schaumburg-lippische Beispiel intellektuelle Zirkel. Gerade diese trugen zeigt vieles von den sich am Ende des 18. am Ausgang des 18. Jahrhunderts zur Jahrhunderts andeutenden Veränderungen wachsenden Kritik an den überkomme- in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. nen Herrschaftsverhältnissen bei. Dennoch hatte sich das Alltagsleben der Die Landbevölkerung bestand unter- Menschen seit dem Mittelalter nur wenig dessen keinesfalls überwiegend mehr aus verändert. Viele Aussagen über Wohnen, Bauern. Neben den Dorfhandwerkern 92 Mithalten (bis um 1800) nahm die Zahl der Kleinstellenbesitzer zu, Regionen in Niedersachsen - die auf Nebenerwerb und Wanderarbeit Mithalten durch Imitation angewiesen waren. Vielleicht strenger noch als in den Städten wurden auf dem Land Was veränderte sich vom Mittelalter zur innerörtliche soziale Hierarchien gepflegt. frühen Neuzeit? Niedersachsen lag im frü- Dies wurde überlagert von wachsender hen und hohen Mittelalter am nordöst- Disziplinierung des Verhaltens durch Kirche lichen Rand der europäischen Wirtschafts- sowie Schule und die zunehmende Reg- zentren und im Spätmittelalter in der Mitte lementierung des Lebens durch staatliche zwischen den ökonomisch hoch entwickel- Aufsicht. Kirchliche Moralvorstellungen ten Landschaften sowie den vom europäi- und der Drill, mit dem ein Teil der Männer in schen Handel erreichten Randzonen Skan- ein hierarchisches Soldatenleben gepresst dinaviens und Osteuropas. Diese Position wurde, trugen zur Verhaltensgleichschal- ökonomischer Zuordnung, aber politischer tung bei. Selbständigkeit, zwischen hoch entwickel- Es hat den Eindruck, als ließe die Inten- ten Gebieten (Zentrum) und gering ent- sität der lokalen und regionalen Volks- wickelten Gebieten (Peripherien) ist für die kultur während der frühen Neuzeit nach. dem 16. Jahrhundert folgenden Phasen als Aber hierüber sind wir schlecht informiert. so genannte Halbperipherie gekennzeich- Dies gilt auch für die sozial sehr differen- net worden. Sucht man eine Unterschei- zierten und inhomogenen Außenseiter dung vom Mittelalter zur frühen Neuzeit für und Randgruppen der frühneuzeitlichen die Geschichte Niedersachsens, so ist zu- Gesellschaft in Niedersachsen. Zu diesen nächst eine Verstärkung dieser Zwischen- zählten Menschen, die von der bestim- lage, dieser halbperipheren Situation, zu er- menden Mehrheit aus betrachtet, den fal- kennen. In der hochwertigen Produktion schen Glauben hatten, aber keineswegs gewerblicher Güter vermochten die nieder- arm sein mussten, also Juden und, bis auf sächsischen Städte nicht mehr international kleine Gebiete, auch Katholiken und zu konkurrieren. Die einfache Waren- Calvinisten/ Hugenotten. Die bäuerlichen produktion verlagerte sich mehr und mehr und bürgerlichen Gruppen prägten das auf das billiger arbeitende und genügend Gesellschaftsbild, selbst wenn sie nicht Arbeitskräfte besitzende Land. Es zeigt sich mehr in der Mehrheit waren. Kleinstellen- seit dem 16. Jahrhundert eine allmähliche besitzer, erst recht Knechte, Mägde und Wandlung von der mittelalterlichen, auf Dienstpersonal, dann Soldaten, Wander- Europa beschränkten, zu der frühneuzeit- arbeiter und fahrendes Volk unterlagen lichen, auf die Welt ausgreifenden Situ- Ausgrenzungsmechanismen, die auch ation. Im Mittelalter blieb das wirtschaftli- mit Disziplinierungsmaßnahmen (Zucht- che Beziehungsgeflecht Niedersachsens auf und Armenhäuser, Arbeitsverordnungen) Europa orientiert. Sobald aber die neuen durchgesetzt wurden. Dieser Blick auf die Wirtschaftszentren Westeuropas (in zeit- sozialen Gruppen in Niedersachsen ver- licher Reihenfolge: Antwerpen, Amster- mittelt nicht den Eindruck einer besonde- dam, London) während ihres Hinausgrei- ren Dynamik. Innerhalb dieser strukturel- fens in die Welt immer mehr Kapital len Konstanz werden eine nur schwache häuften und in den Handelskreislauf reinve- Rolle des Bürgertums und eine Dominanz stieren konnten, konnte Niedersachsen ins- der feudalen Herrschaft deutlich. Beide gesamt nicht mithalten. Aussagen gelten für die frühe Neuzeit Diese halbperiphere Lage innerhalb mehr noch als für das Mittelalter. der interregionalen Wirtschaftsbeziehun- gen änderte sich bis ins 19. Jahrhundert Mithalten (bis um 1800) 93 nicht grundsätzlich. Trotzdem waren - ge- Hamburg, in Verwaltung, Kultur und messen an Osteuropa - die wirtschaft- Bildung auf die Residenzstädte. Ent- lichen und gesellschaftlichen Verhältnisse sprechend gelangten die an Zahl reduzier- des niedersächsischen Raumes selbst ge- ten Hauptorte samt ihrem Umland in füh- gen Ende des Dreißigjährigen Krieges rende, in der Industrialisierungsphase (1618-1648) weiterhin modern und ent- dann neu genutzte Funktionen, die sich wickelt, gegenüber dem Westen hinge- im Verkehrsnetz der Chausseen unmittel- gen rückständig. bar vor dem Eisenbahnbau ausdrückten. Die innere Struktur des niedersächsi- Nun lag Hannover wie eine Spinne im schen Raumes wandelte sich während der Netz, nicht mehr Braunschweig. frühen Neuzeit entweder durch Einflüsse Verglichen mit den Niederlanden oder von außen oder aber durch das Eingreifen England blieb die Gesellschaftsordnung der sich auch im niedersächsischen Raum stabil. Es dominierten die mittelbäuer- festigenden Territorialstaaten, insbeson- lichen Betriebe und das an Zahl ver- dere der hannoverschen und braunschwei- gleichsweise geringe Handwerkerbürger- gischen Welfen. Ihnen verdankt der Ober- tum der eher kleinen Städte. Die harz als neue Bergbaulandschaft seine Herrschaft des Adels und der Landes- rasche Entwicklung. Die Gliederungen zwi- fürsten nahm selten despotische Züge an. schen den Regionen blieben im Wesent- Selbst, wenn die Bauern, wie in Teilen lichen bestehen, aber innerhalb der Regio- Westniedersachsens, unfrei waren, konn- nen veränderten sie sich zugunsten der ten sie über ihren jeweiligen Haushalt und Hauptorte. Das waren die wichtigen über die Gemeindeangelegenheiten recht binnenländischen Städte, auf die sich die eigenständig entscheiden. Beziehungen von der Fläche her neu aus- Die Mehrzahl der Bevölkerung lebte richteten. Unter den neuen Welt- weiterhin unabhängig von Marktbe- markteinflüssen gedieh Hamburg seit ziehungen. Externe Krisen wirkten sich dem 16. Jahrhundert zu einem Vorort des daher nur gedämmt auf die einzelne modernen Westens Europas, gleichsam Kleinstadt oder das einzelne Dorf aus. Im ein Stück Zentrum in der Halbperipherie. Regelfall bestand die weitgehende Selbst- Emden nahm eine deutlich abge- versorgung innerhalb einer Region fort. schwächte, aber vergleichbare Funktion Die Mehrzahl der Bevölkerung verfügte im 16. Jahrhundert wahr, Bremen seit über eine eigene, zumindest bescheidene dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. Zum landwirtschaftliche oder gewerbliche neuen internen Hauptort stieg vor allen Ernährungsgrundlage, die das Überleben anderen Hannover auf. Braunschweig in Krisenzeiten erleichterte. Die so ge- blieb bei geringerer Dynamik wichtig. nannte „moralische Ökonomie“ blieb ge- Lüneburg oder Osnabrück erlitten Ver- wahrt. Trotz anfänglicher landesherrlicher luste, Städte wie Goslar oder Einbeck ver- Gegenbemühungen existierten Zünfte loren radikal. Wurde eine von den weiterhin und wurden in den Flecken, Weltmarktbeziehungen nicht positiv be- also kleinen Minderstädten, gar neu ge- einflusste Stadt nicht wenigstens vom schaffen. Hoch war die Konstanz der Ge- Territorialfürsten gefördert (z.B. Aurich meindeverbände in Bruderschaften und oder Bückeburg), sank sie während der Stadtvierteln der städtischen Bewohner frühen Neuzeit zur Bedeutungslosigkeit sowie in Kirchspielen, Markgenossen- ab. Es begann, weit vor der Industria- schaften usw. der ländlichen Bewohner. lisierung, also ein Konzentrationsprozess Im Vergleich zum Westen Europas blieb auf wenige Hauptorte: im Fernhandel auf der Anteil der außerhalb dieser Ordnung 94 Mithalten (bis um 1800) stehenden Personen gering, ebenso wie fahrungen übernehmen und die dort er- der Anteil von Spitzenvermögen. kannten Fehler vermeiden, nachholende Die relative gesellschaftliche Stabilität Modernisierung gedieh daher zum nie- drückte sich vielfach aus: Keine dramati- dersächsischen Wirtschaftsprinzip. Wäh- schen Veränderungen der Geschlechter- rend sich Westeuropa rasch veränderte beziehungen, keine rasche Wandlung und seine Peripherien, z.B. die neuen herkömmlicher Verhaltensweisen, kein überseeischen Kolonien, in wenigen Jahr- Ent- stehen von Massendelinquenz. Das zehnten umstrukturierte, verlief der histo- Meierrecht verweist hierauf ebenso wie rische Wandel in der Halbperipherie ge- die indirekte Beteiligung der Bauern an mächlich. Daher blieben während der der regionalen und lokalen Verwaltung. frühen Neuzeit die im Mittelalter gepräg- Während sich das Zentrum rasant verän- ten Wirtschaftsregionen Niedersachsens derte und die Peripherien z.T. in wenigen so beharrlich bestehen. Jahrzehnten umstrukturierte, verlief der Durch imitierende Konkurrenz und historische Wandel in der Halbperipherie nachholende Modernisierung versuchten gemächlich: gerade halbperiphere Gebiete aufzuho- len. Für diese ist zwar im Gegensatz zum - keine Gutsherrschaft, keine rein land- sich rasch verändernden Zentrum die rela- wirtschaftlichen Rentensysteme; kein tive Stabilität der gesellschaftlichen Ord- einheitlicher Absolutismus, aber auch nung charakteristisch und die räumliche keine eindeutigen Vor- und Frühformen wie zeitliche Mittelstellung zwischen des Parlamentarismus; Frühkapitalismus und Refeudalisierung. - Ballung von so genannten Nebenländern Doch ließ sich innerstaatliche Dynamik der Nachbarstaaten, aber zunehmende durch Übernahme von außen erzeugen. Verselbständigungsmöglichkeiten; Aufgeklärter Absolutismus scheint ein - Bemühen der Territorialstaaten um eine Indiz hierfür zu sein. Er erfüllte eine inno- Reglementierung aller Lebensbereiche vatorische Funktion in Regionen, wo der ihrer Untertanen, aber faktisch völliger Rückstand gegenüber dem Zentrum ge- Misserfolg einer Sozialdisziplinierung ring war und Hoffnung bestand, durch noch am Ende des 18. Jahrhunderts; Reform „von oben“ jenen aufzuholen. - Verflechtung mit den Zentren des Gerade die protestantischen Terri- Welthandels, aber hohe Autarkie; torialstaaten in Norddeutschland waren - durchaus bereits Verlagssystem, Proto- wichtige Träger der ökonomischen So- industrialisierung und Manufakturen, zietäten, denen in großem Umfang eng- aber lange Konstanz der traditionellen lische Fachliteratur zur Verfügung stand. In Sozialordnung; der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts be- - Rückgang der Bedeutung vieler Städte, teiligten sich die kurhannoverschen Land- aber Konzentration bisher differenzierter stände, wie u.a. die Celler Landwirtschafts- städtischer Leistungen auf einige wenige gesellschaft zeigt, an Modernisierungs- Hauptorte; diskussionen. Dies verweist darauf, dass - verminderte Bedeutung der städtischen von den ständischen Verfassungen des aus- Handelshäuser, aber wachsende Bedeu- gehenden 18. Jahrhunderts trotz mancher tung einzelner Unternehmer und der Unterschiede Verbindungen zu den Reprä- staatlichen Wirtschaftsförderungen. sentativverfassungen des frühen 19. Jahr- hunderts zu ziehen sind und Reformdenken Eine große Chance hatte die Halbperi- des späten 18. Jahrhunderts in Reform- pherie generell: Sie konnte Zentrumser- tätigkeiten des frühen 19. Jahrhunderts Mithalten (bis um 1800) 95

übergehen konnte. Die regionalen Bauern- Gesellschaft und zwischen den Regionen revolten am Ausgang des 18. Jahrhunderts im niedersächsischen Raum wesentlich sind in den Kontaktbereich zwischen stän- differenzierter. Hierbei spielen die physio- discher Reformbereitschaft seit der Mitte geographischen Bedingungen des nieder- des 18. Jahrhunderts und den durchge- sächsischen Raumes ihre unübersehbare führten Reformen des frühen 19. Jahrhun- Rolle: Küstennähe, Verkehrsdurchgangs- derts einzuordnen. Die Proteste und lage, Rohstoffe usw. Am Ausbau der Unruhen wurden vereinzelt von Land- Chausseen unmittelbar nach dem Sieben- ständen unterstützt. Teils war die land- jährigen Krieg zeigt sich beispielhaft, wie ständische Repräsentation der Bauern ein bewusst sich Kurhannover der zentralen von ihnen verfolgtes Ziel. Verkehrslage war und welche Bedeutung Diese Ereignisse müssen im Zusam- dem interregionalen Speditionshandel zu- menhang mit dem Anwachsen der sozia- gemessen wurde. len Probleme und Differenzierungen im In vielen Gebieten arbeitete mittler- ländlichen Raum am Ausgang des 18. weile ein differenziertes und z.T. speziali- Jahrhunderts gesehen werden. Denn pa- siertes Landhandwerk für überregional rallel zur Französischen Revolution, aber agierende Verleger und Händler. Der ohne direkte Beeinflussung durch sie, Kommerzialisierungsgrad war generell nahmen die offen ausgetragenen Kon- gestiegen. Von den Seehäfen wurden flikte über Veränderungen und Reformen Massengüter aufgenommen. Der Import in Wirtschaft und Gesellschaft zu. Blieb wurde finanziert durch den Absatz von Gedankengut der Aufklärung am Aus- heimischen Rohstoffen und Halbfertig- gang des Siebenjährigen Krieges noch produkten. Für Westeuropa waren Gebie- auf die gebildeten Führungsgruppen be- te wie der niedersächsische Raum daher schränkt, so erreichte es eine Generation wichtige Absatzmärkte transatlantischer später vereinzelt auch die Bauern. und asiatischer Importwaren. Im Gegen- Letztlich festigte sich allerdings mit der zug kamen u.a. Blei, Textilien, Töpfer- wachsenden Distanz gegenüber der Fran- waren oder Getreide auf den internatio- zösischen Revolution die konservative nalen Markt. Breite Teile der nieder- Grundhaltung der führenden politischen sächsischen Gesellschaft waren nun- Gruppen. mehr als Konsumenten und als agrarisch- Am Ende des 18. Jahrhunderts deu- gewerbliche Produzenten in überregio- tete sich in vielen Bereichen an, dass die nale Beziehungen eingeordnet. So blieb Modernisierungsbemühungen noch nicht der niedersächsische Raum zwar hinsicht- ausreichten, um den Abstand zum Zen- lich der räumlich funktionalen Hier- trum zu verringern. Zugleich verweisen archisierung gegenüber den westeuro- diese Veränderungen aber auf zahlreiche päischen Zentren weiterhin in halb- endogene Entwicklungspotentiale. Ge- peripherer Stellung, doch gedieh das messen an der Zeit um 1500 war um interne Entwicklungspotential mit wach- 1800 die Arbeitsteilung innerhalb der sender überregionaler Integration. 96 Nachholen (19. Jahrhundert)

Nachholen (19. Jahrhundert)

Napoleonische Zeit - tion des „Heiligen Römischen Reiches Innovationen und Deutscher Nation“. 1803 wurden die vielen Zusammenbrüche kleinen Herrschaften, voran die kirchlichen, in größere Gebietseinheiten überführt, um Trotz aller sich andeutenden Verän- die westrheinischen territorialen Verluste derungen am Ausgang des 18. Jahr- zu kompensieren (Reichsdeputationshaupt- hunderts bestand noch die traditionelle schluss). Die bis dahin in Niedersachsen be- landwirtschaftliche Ordnung, herrschten stehenden geistlichen Fürstentümer Osna- noch in den Territorien die Fürsten ge- brück und Hildesheim wurden aufgelöst. stützt auf den hiesigen Adel, ohne eine Hannover erhielt das ehemalige Hochstift Konstitution, die auf den Menschen- Osnabrück, während das Hochstift Hildes- rechten beruhte. Aber die USA und West- heim zunächst ebenso wie die frühere europa wiesen neue Wege, und auch in Reichsstadt Goslar und das Untereichsfeld Niedersachsen zeigten sich wirtschaftlich in preußischer Hand war und erst 1815 an und politisch neue Richtungen. Die innen- Hannover gelangte. Oldenburg vergrö- bürtigen Kräfte für einen wirtschaftlichen ßerte sein Territorium insbesondere durch und politischen Fortschritt blieben freilich den Zugewinn der münsterschen Ämter schwach. Die Anregungen kamen meist Cloppenburg und Vechta (Niederstift von außen und von oben. Münster, „Oldenburger Münsterland“). Für In den Kriegen mit Frankreich zeigte wenige Jahre existierte im Westen das sich die rückständige staatliche Organisa- Herzogtum Arenberg-Meppen.

Karte des Königreichs Westphalen 1812: in na- poleonischer Zeit standen große Teile Niedersach- sens direkt oder indirekt unter französischer Herr- schaft. Nachholen (19. Jahrhundert) 97

Noch im selben Jahr wurde die neue geschlagen geben musste, begrüßten da- Ordnung im englisch-französischen Krieg her die Menschen das Ende der Fran- verändert. Ab 1803 geriet Kurhannover – zosenzeit, obgleich sofort alle politischen mit kurzer Unterbrechung einer preußi- Liberalisierungen beendet wurden. Her- schen Zeit - bis 1813 unter napoleonische zog Friedrich Wilhelm von Braunschweig, Herrschaft, weil es, wie schon im Sieben- der so genannte „Schwarze Herzog“, jährigen Krieg, als Anhängsel an England wurde als erfolgreicher preußischer Ge- Teil des wichtigsten Gegners Frankreichs neral der Befreiungskriege gefeiert. war. Als größtes der alten Territorien ge- Der Wiener Kongress 1815 legte die hörte der Süden Kurhannovers seit 1807 Grundstruktur auch für die Grenzen der gemeinsam mit Hildesheim und Braun- Länder des heutigen Niedersachsens: das schweig zum französischen Königreich nun zum Königreich erhobene ehemalige Westphalen, einem von Marburg bis Halle Kurfürstentum Hannover (mit dem einsti- und Uelzen reichenden neugeschaffenen gen Hochstift Hildesheim, der Stadt Goslar, Staat. Hier wurde Napoleons Bruder dem Untereichsfeld, der Niedergrafschaft Jérôme als König eingesetzt und bezog Lingen, – endgültig - der Grafschaft Bent- Residenz in Kassel. 1810 gelangte das heim, Arenberg-Meppen und Ostfriesland), nördliche Hannover an Frankreich, als das Herzogtum Oldenburg, das Herzogtum Napoleon den gesamten norddeutschen Braunschweig, das Fürstentum Schaum- Küstensaum einschließlich Oldenburg an- burg-Lippe. Das Kurfürstentum Hessen be- nektierte, um die Kontinentalsperre ge- saß weiterhin den Südostteil der alten genüber England besser zu kontrollieren. Grafschaft Schaumburg, das Fürstentum Nur Schaumburg-Lippe blieb formal unab- Waldeck die Grafschaft Pyrmont und die hängig, da es einst rechtzeitig dem Hansestadt Hamburg das Amt Ritzebüttel Rheinbund beigetreten war. (später Cuxhaven) samt Neuwerk. Im Königreich Westphalen war eine 1806 war, drei Jahre nach dem Verfassung errichtet worden, die alle we- Reichsdeputationshauptschluss, das „Hei- sentlichen bürgerlichen Freiheitsrechte ge- lige Römische Reich Deutscher Nation“ währte. Als 1808 der napoleonische Code aufgelöst worden. Mit dem Wiener Civil auch im Königreich Westphalen in Kongress wurde neun Jahre später aus 37 Kraft trat, folgten ihm die Gewerbefreiheit souveränen Fürsten und vier freien und die Ablösung der alten bäuerlichen Städten der Deutsche Bund gegründet, Lasten. Die Trennung von Verwaltung und der bis 1866 Bestand hatte. In Deutsch- Rechtsprechung oder die Abschaffung land begann die Zeit des „monarchischen von Standesvorrechten: Für die Menschen Prinzips“. Die liberalen bürgerlichen Kräf- zeigten sich hoffnungsvolle Ansätze, doch te, die voll Optimismus den Befreiungs- diese wurden selten ausgebaut. Alsbald krieg mitgetragen hatten, sahen sich als- überlagerten die Klagen über zu hohe ma- bald getäuscht. Der Aufforderung der terielle Belastungen die Vorteile der Libe- Wiener Schlussakte, in den Staaten eine ralisierung. Bisweilen kam es zu Übergrif- Verfassung einzurichten, kam umgehend fen der Soldaten auf die Zivilbevölkerung. nur Schaumburg-Lippe nach. Hannovers Da die Masse der Menschen zunehmend Verfassung von 1819 war restaurativ. unter den umfangreichen Nahrungs- Charakteristisch ist zudem, dass sich und Futtermittelablieferungen, unter den Hannover in den neuen katholischen Steuern, Truppeneinquartierungen und Landesteilen (Teile vom Emsland, Teile von Soldatenaushebungen litt, stieg der Un- Hildesheim und Eichsfeld) noch schwerer mut ständig. Als Napoleon sich schließlich tat als Oldenburg (Münsterland), den 98 Nachholen (19. Jahrhundert)

Nichtprotestanten staatsbürgerliche Gleich- Stände geschaffen hatte, nur wenige berechtigung zuzubilligen. Der liberalen Repräsentanten des Volkes vertreten wa- Regierung durch den Geheimen Kabi- ren, so dass jegliche Reform vom Adel er- nettsrat Rehberg folgte 1821 die konserva- folgreich abgewehrt wurde. tive Ära des Grafen Münster. In Nord- und Im Herzogtum Braunschweig stürmten Westdeutschland wurde die politische und am 7./8. September Braunschweiger wirtschaftliche Übermacht Preußens unter- Bürger das Schloss, setzten es in Brand, dessen gar zu deutlich. Oldenburg, Braun- und der unbeliebte Herzog Karl II. floh. schweig und Schaumburg-Lippe kooperier- Nach längeren Verhandlungen übernahm ten mit Preußen. sein Bruder Wilhelm, unterstützt von den politisch und wirtschaftlich wichtigen Gruppen im Herzogtum, die Herrschaft. Agrarreformen Als sich in Niedersachsen viele weitere Unruhen zeigten, wurde auch in Han- Trotz wiederkehrender wirtschaftlicher nover das restaurative Ministerium des Einbußen seit dem Ausgang des 18. Grafen Münster abgelöst, und die heimli- Jahrhunderts wuchs die Bevölkerung wei- che Reformdiskussion der vergangenen ter. Die Agrarreformdiskussion des späten Jahre schwoll an. Der Regierungsantritt 18. Jahrhunderts hatte nur zu wenigen er- Wilhelms IV. in England nach dem Tode sten Ergebnissen geführt. Vereinzelt wa- Georgs IV. erleichterte dies. Ein liberales ren gemeinschaftlich genutzte Wald-, Staatsgrundgesetz wurde beraten und Weide- und Heideflächen aufgeteilt wor- trat 1833 in Kraft. Zwischen Hannover den. Oft waren die bäuerlichen Dienste und seinen Nachbarstaaten wurden Ver- zwar nicht abgelöst, aber gegen eine handlungen aufgenommen, um die ge- Geldzahlung abgestellt worden. Brachen- werbehinderlichen Zölle zu beseitigen. besömmerung (Zwischenfrüchte auf 1834 konnte der Hannoversch-Olden- Brachland), speziell durch Kleeanbau, burgische Steuerverein gegründet wer- hatte sich verbreitet. Die Moorkultivierung den, dem sich 1836 Braunschweig und im westniedersächsischen Raum wurde Schaumburg-Lippe anschlossen. Erste vorangetrieben. Die in der Zeit der fran- Schutzzölle gegen englische Textilpro- zösischen Herrschaft anfänglich geför- dukte wurden eingeführt, um die jungen derte Bauernbefreiungen wurden in der frühindustriellen Gewerbe zu sichern. politischen Restaurationsphase nach 1815 Stets werden die Agrarreformen im zurückgenommen, und Krisenerschein- Königreich Hannover hervorgehoben, ungen in der Agrarproduktion hatten die weil sie in vielerlei Hinsicht Vorbild für die Euphorie gegenüber Neuerungen in der nachfolgenden Vorgänge in anderen Landwirtschaft vermindert. niedersächsischen Territorien wurden und Zwar lässt sich die Julirevolution in weil, anders als in Preußen zuvor, die Frankreich 1830 nicht für alle Verän- Ablösungszahlungen so gehalten waren, derungen in unserem Raum verantwort- dass Landabtretungen zugunsten von lich machen. Doch immerhin: Schlechte Großgrundbesitzern gering blieben. Vor- Ernten, Teuerung und Arbeitslosigkeit lie- rangig getragen vom Osnabrücker Johann ßen zu dieser Zeit auch viele Menschen in Carl Bertram Stüve (1798-1872) wurden Niedersachsen unwillig sein. Die politisch 1831/33 und 1842 die wichtigsten Agrar- Gebildeten fragten sich, warum z.B. im reformgesetze im Königreich Hannover in Landtag des Königreiches Hannover, den Kraft gesetzt. Was bisher regional erprobt der König 1819 gegen den Willen der worden war, erfasste für die folgenden Nachholen (19. Jahrhundert) 99

Jahrzehnte das gesamte Königreich. Alle die allesamt nun von einem Wegesystem Grundlasten der Bauern wurden gegen erschlossen wurden. Bisweilen wurden Geldzahlungen und nur in Ausnahme- sogar Höfe aus dem engen Dorfkern an fällen durch Landabtretungen abgelöst. den Dorfrand verlegt. Das gesamte Konsequent wurden die Gemeinheits- Verfahren war sehr kompliziert. Damit teilungen fortgeführt: Erst die General- nach erfolgter Zustimmung kein „Ver- teilungen, als die von mehreren Gemein- koppelungsinteressent“ widersprechen den zusammen genutzten Wälder oder konnte, hielt man den gesamten Vorgang Weiden separiert wurden, schließlich die in einer umfangreichen Urkunde, dem Spezialteilungen, wenn nun der einem Verkoppelungsrezess, fest. Dieser und die Dorf verbleibende Gemeinheitsrest antei- dazugehörige Verkoppelungskarte blei- lig an die Hofbesitzer kam. Die Gemein- ben bis heute Grundlagen für Grund- heitsteilung ließ die Brachen verschwin- stücksangelegenheiten im ländlichen den. Die Verkoppelung brachte schließlich Raum. eine Neuordnung der Fluren und Wege. In den Dörfern begann eine Arbeit- Durch alles zusammen wurde die bäuerli- steilung, die diejenige der Zeit seit dem che Gemeinde als Zwangsgemeinde auf- 16. Jahrhundert weit übertraf. Die Ar- gehoben. beitsmehrbelastung der Vollbauern nach Am meisten Land erhielten die Groß- den Agrarreformen und während der bauern, am wenigsten die Kleinstellen- schnellen Produktionssteigerungen war besitzer. Da diese aber vor allen anderen so stark gewachsen, dass sie nicht nur mit auf die Gemeinheit angewiesen waren, Hilfe der Tagelöhnerarbeit ausgeglichen um ihr zur Ernährung dringend nötiges werden konnte, sondern das Aufgeben Vieh weiden zu können, bekamen häufig der im Hause mitbetriebenen handwerk- alle Hofbesitzer einen Sockelanteil von lichen Tätigkeiten verlangte. Vor dem der Gemeinheit, z. B. 0,5 ha. So erlangte Maschineneinsatz stand also in den auch der Kleinstellenbesitzer ein wenig Dörfern die Arbeitsteilung, ähnlich wie in Land. den Städten des späten Mittelalters oder Alles geschah selbstverständlich unter in den vorindustriellen Manufakturen des staatlicher Obhut, doch nicht ohne An- 18. Jahrhunderts. Noch arbeiteten die hörung der Bauern. Für die Verkoppelung Handwerker für die dörfliche und musste genau vermessen werden, in wel- nachbardörfliche Nachfrage. Erste Ar- chem Flurstück die einzelnen Hofbesitzer beitskräfte verdienten schon außerhalb Parzellen besaßen. Den Boden teilte man des Dorfes Geld, je nach dem, welche in Bonitätsklassen ein. Jeder Grund- Zuerwerbsquellen nahe lagen, oder ob besitzer sollte nach der Flurbereinigung Wanderarbeit möglich war. ebensoviel Land gleicher Güte bewirt- Im alten Dorf vor den Agrarreformen schaften können wie zuvor. Dann erfolgte waren die streng in soziale Gruppen ge- die Neuordnung der Parzellen. Die ein- trennten Bauern unmittelbar aufeinander heitlich bewirtschafteten Feldeinheiten angewiesen, weil der Flurzwang und die (Zelgen) der Mehrfelderwirtschaft wurden Gemeinheitsnutzung sie zum gemeinsa- aufgelöst. Die in vielen Teilen Nieder- men Handeln verpflichtete. In der bäuer- sachsens verbreiteten schmalen, langen lichen Gemeinde musste über zentrale Wölbäcker von ca. 0,2 ha, einst aus pflug- Fragen des Wirtschaftens entschieden und wassertechnischen Gründen sehr werden. Nun aber, da jeder Bauer unab- nützlich, legte man zu neuen Feldern von hängig von Flurzwang und Gemein- etwa einem Hektar und mehr zusammen, heitsnutzung arbeitete und da nach den 100 Nachholen (19. Jahrhundert)

Lastenablösungen neue Arbeitskraft frei Um 1900 holte man aus einer Rübe schon stand, war man im Dorf nur noch mittel- über 15% Zucker heraus. Das Rübenblatt bar, nämlich durch Arbeit, aufeinander konnte an das Rindvieh verfüttert werden, angewiesen. Sobald sich die Bauern von die Rübe selbst ist eine gute Vorfrucht für Fremdarbeitskräften frei machen und Getreide. Insgesamt: Rüben erbrachten Maschinen arbeiten lassen konnten, ga- den höchsten Ertrag, mussten freilich ge- ben sie Teile ihrer Verpflichtungen gegen- hackt, verzogen und mit einer zweizacki- über den restlichen Dorfbewohnern auf, gen Grabegabel geerntet werden. So ver- weil die Abhängigkeiten entfielen. Sobald wundert es nicht, dass auf den Gütern die Dorfhandwerker dem Marktdruck saisonal Wanderarbeiter aus dem öst- preiswerter Fabrikerzeugnisse und alsbald lichen Mitteleuropa bei der Ernte halfen. städtischer Warenhäuser erlagen, mus- Auf den kargen Böden setzten sich andere sten sie sich beruflich zur Stadt orientie- Sonderkulturen durch, die den Getreide- ren, weil das Dorf keine Arbeit mehr bot. anbau ergänzten, voran der ebenfalls ar- Sobald die Tagelöhner über ausreichende beitsintensive Kartoffelanbau. Verkehrsmittel verfügten (Eisenbahn, in An dem baulichen Erscheinungsbild Stadtnähe Straßenbahn) konnten sie sich der Dörfer gingen diese großen Verän- Arbeit dort suchen, wo sie angeboten derungen nicht spurlos vorbei. Heute prä- wurde. gen weite Ziegeldachflächen die alten Mit dem Abschluss der Agrarreform- Dorfkerne, sofern diese noch intakt sind. maßnahmen, also zumeist in der zweiten Dreiseithofanlagen, aus rotem Backstein Hälfte des 19. Jahrhunderts, war die gemauert, werden als alte Höfe bezeich- Grundlage für eine neue Landwirtschaft net. Doch sie sind kaum über 100 Jahre und die heutige Kulturlandschaft gefes- alt. Das herkömmliche niedersächsische tigt. Der Ackerlandanteil stieg von 1850 Hallenhaus genügte, gerade in den Gebie- bis 1900 um mehr als ein Viertel (heute ten mit guten Böden, den Ansprüchen der liegt er kaum höher als 1850), während neuen Landwirtschaft nicht mehr. Der gleichzeitig die Ernteerträge pro Hektar Dachboden als Speicher reichte nicht aus, um mehr als ein Drittel anwuchsen. Viel eine Scheune musste her. Diese wurde pa- mehr Menschen konnten nunmehr er- rallel zum alten Haus gebaut, nicht aus nährt werden, obgleich der Maschinen- Fachwerk, das mit Lehmziegeln oder, einsatz zunächst noch gering blieb. noch altertümlicher, mit Weidengeflecht Arbeitsintensiv musste die Landwirtschaft und Lehmschlag gefüllt wurde, sondern betrieben werden, besonders als seit der wenigstens aus Fachwerk mit Ziegel- Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr steinen und immer öfter nur aus Ziegel- Bauern in den fruchtbaren Lößbörden und steinen. Seitlich versetzt bot das Scheu- in Gebieten guten Bodens im Berg- und nentor den Ackerwagen Einlas, wurde Hügelland sowie in der Geest (z.B. Uelzen) möglicherweise repräsentativ mit Sand- dazu übergingen, die ertragreiche Zucker- steinsäulen geschmückt. Auch die kleinen rübe anzubauen. Kleine Zuckersiedereien Ställe links und rechts der Diele des wurden zu großen Fabriken ausgebaut Hallenhauses wurden zu eng, als stetig bzw. neu gegründet. Erst in der Mitte des mehr und größeres Vieh für immer län- 18. Jahrhunderts hatte man begonnen, gere Zeit im Stall stand. So verband man den noch geringen Zuckeranteil (2-3%) die neue Scheune mit dem alten Haus aus Runkelrüben herauszukochen. Durch durch einen Stallteil. gezielte Weiterzüchtung wurde der Ausgedient hatte nun das niedersäch- Zuckergehalt der Rübe wesentlich erhöht. sische Hallenhaus als „Alles-unter-einem- Nachholen (19. Jahrhundert) 101

Dach-Gebäude“. Es wurde zum Wohn- Königreich Hannover nicht. Die Per- haus umgebaut. War es gar baufällig oder sonalunion endete. König Ernst August konnte der Bauer besonders intensiv vom (1771-1851), wegen des ihm von seinem Zuckerrübenboom profitieren, dann fiel treuen Volk gewidmeten Denkmals vor das Hallenhaus und wich einem durchaus dem hannoverschen Hauptbahnhof von bürgerlichen Klinkerwohngebäude mit den Hannoveranern oft despektierlich rückseitig angefügtem Stallteil. Eine „Bahnhofsvorsteher“ genannt, erließ am Ziegelsteinmauer trennte Hof und Straße; 5. Juli 1837, kaum eine Woche nach sei- fertig war die „Rübenburg“. Die Neben- nem festlichen Einzug in Hannover, sein erwerbsbauern, beispielsweise frühere Regierungspatent, mit dem das Staats- Kötner, hatten hieran weniger Anteil. Ihre grundgesetz in Frage gestellt und sodann Gebäude wurden meist nur mit einem am 1. November aufgehoben wurde. Stallvorbau ergänzt. Die vielen neuen Etliche Göttinger Professoren prote- Anbauer im Dorf, die gar kein Land mehr stierten in einem an die Universi- beackerten, sondern nur noch einen tätsleitung gerichteten Schriftstück. Garten besaßen, bauten sich aus Klinkern Sieben unter ihnen, die sich nicht beugen die typischen Zwerchgiebelhäuser mit wollten, mussten dies am 11. Dezember seitlichem oder separaten kleinen Schup- 1837 mit der Entlassung, quasi einem pen und Stall. Für Niedersachsen als Agrarland besa- ßen die Reformen im Landwirtschafts- sektor sehr große Bedeutung. Das mitt- lere Bauerntum wurde stabilisiert und in die Lage versetzt, zur agrarischen Ge- samtversorgung Deutschlands beizutra- gen. Die prinzipiell eher konservativen Staaten Niedersachsens zeigten sich im wichtigsten Wirtschaftsbereich reformfä- hig und tradionsverhaftet zugleich.

Restitution der alten politischen Ordnung - Die „Göttinger Sieben“

Das Königreich Hannover war das größte Land im Gebiet des späteren Niedersachsen und der viertgrößte Staat des Deutschen Bundes. Nach der Juli- revolution 1830 in Frankreich waren nicht nur die Agrarreformen im Königreich Hannover vorangetrieben worden, son- dern es hatte eine Verfassungsdebatte be- gonnen, die zu dem Staatsgrundgesetz mit Zweikammersystem samt Budget- recht führte. 1837 bereits endete die be- Sieben Göttinger Professoren protestierten gegen hutsame Liberalisierung. In England war die Aufhebung des Hannoverschen Staatsgrund- Thronfolge in weiblicher Linie möglich, im gesetzes und wurden ihres Amtes enthoben. 102 Nachholen (19. Jahrhundert)

Berufsverbot, bezahlen: Friedrich sonders konservativ, und der interne Christoph Dahlmann, wesentlicher Verfassungsstreit währte fort, doch wurde Verfasser des Staatsgrundgesetzes, die in vielen Sachbereichen der öffentlichen Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, der Verwaltung ganz pragmatisch weitergear- Jurist Albrecht, der Theologe und beitet. Orientalist Ewald, der Historiker und Germanist Gervinus und der Physiker Weber. Sie verwiesen auf den Eid, den sie Revolution 1848 – auf die Verfassung abgelegt hatten. das Beispiel Oldenburg Rechtsgrund ihrer Entlassung aber war, ganz fadenscheinig, die öffentliche Ver- Tendenziell waren die inneren Verhält- breitung des Protestes. Wohl 400 Studen- nisse in allen niedersächsischen Staaten ten, fast die Hälfte der Göttinger Studen- vor 1848 ähnlich. Es mangelte, mit tenschaft, demonstrierten hiergegen Ausnahme der größeren Städte, voran öffentlich. In vielen Städten Deutschlands Braunschweigs, an einem liberalen Bür- fanden die sieben Professoren Unter- gertum, das ähnlich tatkräftig wie im stützung durch die liberale Öffentlichkeit. deutschen Südwesten hätte politisch agie- Eine Änderung der Situation ergab sich ren können. Dennoch waren auch die nicht, und der Deutsche Bund verhielt sich Menschen in Niedersachsen an der deut- hinhaltend. Den „Göttinger Sieben“ ist schen Revolution beteiligt. Als charakteri- eingedenk ihres politischen Mutes und zur stisches Beispiel für den agrarischen, noch Stärkung von Liberalität, Toleranz und de- nicht von Industrialisierung oder Eisen- mokratischen Tugenden mit dem vom bahnnetz erreichten niedersächsischen Bildhauer Floriano Bodini zwischen 1995 Raum eignet sich hierfür das Groß- und 1998 geschaffenen Kunstwerk neben herzogtum Oldenburg. Dem Überkomme- dem hannoverschen Landtag ein Landes- nen verhaftet, war Oldenburg neben denkmal gesetzt worden. Hessen-Nassau der einzige Staat im Gefährlich erschien der konservativen Deutschen Bund, der dem Auftrag der Regierung unter dem Minister Georg Bundesakte, eine landständische Ver- Schele von Schelenburg nach der Ent- fassung einzurichten, nicht nachgekom- lassung der sieben Göttinger Professoren men war. Mehr als die Gemeindeord- ein zunächst behutsam formulierter, aber ung von 1831 hatte die Oldenburger von allen anwesenden Ratsherren getra- Verfassungsbewegung nach 1830 nicht gener Protest des Magistrats der Resi- erreichen können. Immerhin war die denzstadt Hannover 1839 beim Deut- Zensur so milde, dass neue Presseorgane schen Bund gegen die zunehmende über die wirtschaftliche Krise der vierziger spionierende Staatsaufsicht. Stadtdirektor Jahre oder über die liberale Bewegung Wilhelm Rumann wurde umgehend abge- in Südwestdeutschland berichteten. 1847 setzt. Über 1.000 Bürger zogen protestie- wurde der Großherzog in Petitionen an rend vor das Schloss Montbrillant (Stand- das nicht eingelöste Verfassungsver- ort des heutigen Universitätshauptge- sprechen erinnert. bäudes), und Ernst August beugte sich Ein eilig geschriebener Verfassungs- dem richterlichen Freispruch des Magis- entwurf wurde nicht mehr diskutiert, trats, ja musste Rumann eine Pension ge- denn rasch verbreitete sich 1848 die währen. Kenntnis von der französischen Februar- Das Königreich Hannover galt in der revolution. Aus dem katholischen Olden- öffentlichen Diskussion seit 1837 als be- burger Münsterland waren keine aufbe- Nachholen (19. Jahrhundert) 103 gehrenden Stimmen zu hören, wohl aber lich unspektakulär. In Braunschweig hatte aus der Frankreich nahen Exklave Birken- die Liberalisierungsphase nach 1830 feld und aus Jever, das erst jüngst seine keine Abbrüche erfahren wie in Han- Unabhängigkeit verloren hatte, auch aus nover. Anders als 1837 verhielt sich auch dem zu Oldenburg gehörenden Fürsten- der hannoversche König 1848 geschickt, tum Lübeck. Dazu mischten sich behutsa- berief den Oppositionspolitiker Stüve als mere Meinungen aus der Stadt Olden- Innenminister ins Kabinett, wo dieser burg und auch aus der Staatsverwaltung. wesentliche Neuerungen in die Wege Der Großherzog musste reagieren, hob leitete: die hannoversche Städteordnung am 10. März 1848 die Zensur gänzlich auf mit ihrer bürgerlichen Selbstverwaltung in und forderte die Amtsausschüsse und den Gemeinden, Trennung von Legislative Stadtvertretungen auf, 34 Männer zur und Exekutive, Aufhebung der Zensur, Beratung einer Verfassung zu benennen. Einführung einer einheitlichen Staats- Die Wahl war von weiteren Petitionen und kasse, Abschaffung der adligen Standes- von Protesten gegen das indirekte Wahl- vorrechte und Öffentlichkeit der Stände- verfahren begleitet, das auch für die Wah- versammlung. len zum Frankfurter Paulskirchenparla- Dies alles zeigt, was die Agrarrefor- ment angewendet wurde und große Teile men ebenfalls andeuteten, die Bereit- der Bewohnerschaft ausschloss. Zudem schaft zur Reform von oben, wenn nur protestierten Schauer- und Schiffs- der äußere oder innere Druck genügend zimmerleute, Landarbeiter und Heuer- groß wurde. Eigenständige Innovationen linge gegen die sozialen Verhältnisse. Bis wurden kaum geschaffen, vielmehr in an- zum Jahresende waren ca. 20 politische deren Teilen Deutschlands und Europas Vereine gegründet worden, die sich sozia- entworfene Vorbilder übernommen. Im len Fragen oder dem deutschen Eini- Vergleich zu Südwestdeutschland oder gungsgedanken widmeten. Westeuropa blieb das bewahrende Mo- Der im September 1848 zusammen- ment stets stärker als das modernisie- tretende Landtag besaß trotz des eine rende. Dies gilt auch für die Auseinander- kleine Wählergruppe begünstigenden setzung mit der neuen sozialen Frage des Wahlverfahrens eine liberale Mehrheit. 19. Jahrhunderts: Massenarmut und Pro- Das Staatsgrundgesetz vom 18. Februar letarisierung. 1849, nach hartem Ringen mit der groß- herzoglichen Verwaltung ausgehandelt, war eine liberale Verfassung, die u.a. reli- Massenarmut und giöse Toleranz, Trennung von großherzo- Auswanderung glichem und staatlichem Gut, Ab- schaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit, Das sich am Ende des 18. Jahrhun- Budgetrecht des Landtages und die derts deutlich abzeichnende Bevölke- Grundrechte gewährleistete. Auch das rungswachstum setzte sich trotz vieler enge Zensuswahlrecht wurde etwas ge- kleiner agrarischer Krisen fort. Von den lockert. Der noch im aufgeklärt absoluti- zwanziger bis zu den fünfziger Jahren des stischen Denken verhaftete Großherzog 19. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl Paul Friedrich August (1783-1853) hielt in Niedersachsen überschlägig um 20 %, sich fortan, ohne innere Anteilnahme, an im Königreich Hannover z.B. von ca. 1,6 die Verfassung. Millionen Menschen auf knapp 2 Milli- In den anderen drei niedersächsischen onen. Da Handel, Gewerbe und frühe Staaten zeigte sich die Zeit von 1848 ähn- Industrie nur in wenigen Zentren beschei- 104 Nachholen (19. Jahrhundert)

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten viele Menschen aus Niedersachsen aus. Die meisten lie- ßen sich in den USA nieder. dene Aufwärtstendenz zeigten, blieb das Zigarrendrehen in den Dörfern um Pyr- Bevölkerungswachstum wie bisher fast mont oder die hoch entwickelte Woll- völlig auf den ländlichen Raum be- textilproduktion im Eichsfeld. Da die Staa- schränkt. Hier hatte, im 16. Jahrhundert ten die Qualitätskontrolle förderten, beginnend und im 18. Jahrhundert sich konnten Waren gleich bleibenden Stand- durchsetzend, das ländliche Gewerbe ards geliefert werden, so im hannover- manchen Arbeitsplatz schaffen können. schen Wendland, wo das Leinenheim- Die Protoindustrialisierung, also die ge- gewerbe seit dem Ausgang des 18. werbliche Durchdringung des ländlichen Jahrhunderts rasch gedieh. Raumes, nahm in den ersten Jahrzehnten In der Mitte des 19. Jahrhunderts gal- des 19. Jahrhunderts stetig zu. Einerseits ten Stadt und Land in Niedersachsen als wurden einfach in Handarbeit zu ferti- mit Handwerkern überbesetzt, vor allem gende Produkte vom internationalen mit Gewerben, die wenig Qualifikation Markt verlangt, andererseits blieb Men- benötigten. Die Möglichkeiten, sich schen, die außer einer Unterkunft und et- außerhalb der landwirtschaftlichen Tätig- was Garten nichts besaßen, keine andere keiten den Lebensunterhalt zu sichern, Möglichkeit, als in Wanderarbeit, Tage- wuchsen seit der Mitte des 19. Jahr- lohn und Gewerbe tätig zu sein (halbpro- hunderts zwar in den Dörfern, da nach letarische Haushalte). den Agrarreformen eine neue Arbeits- Über die traditionell protoindustriellen teilung begann. Zugleich aber verschlech- Gebiete, wie das Osnabrücker Land mit terte sich die allgemeine Lage. Für Garn- seinem Leinengewerbe, und die kleinstäd- spinnerei und Weberei wurden die tischen Textilmanufakturen hinaus nahm englischen Fabriken zu einer Konkurrenz, das nichtzünftige Handwerk vor allem im die hiesige Preise rasch unterbieten Berg- und Hügelland zu. Hier lassen sich konnte. Zudem verloren die Niederlande neben dem weit verbreiteten Garn- ihre Funktion als Wirtschaftsmotor im spinnen Spezialisierungen finden wie das Westen. Die Zahl der saisonal arbeitenden Nachholen (19. Jahrhundert) 105

Hollandgänger, wohl 30.000 um die Jahr- hoben wurde. Es könnten allein aus Nie- hundertwende, ging bis 1860 auf weni- dersachsen, exakt lässt sich die Zahl nicht ger als 5.000 zurück. Auch die weiterhin bestimmen, bis zu 300.000 Menschen intensiv betriebene Moorkolonisation in ausgewandert sein. Ostfriesland und in Oldenburg konnte nur Auswanderung war bis auf geringe kleinen Bevölkerungsgruppen eine Zu- Ausnahmen ein Unterschichtenphänomen. kunft bringen, zumal die Arbeitsbedin- Städtische Bürger und erbende Bauern gungen hart und die Chancen auf eine blieben, höhere soziale Kreise ohnehin. Überwindung der Armut in den Fehn- Meist gingen ganze Gruppen aus einer kolonien gering blieben. Siedlung, im Allgemeinen weitaus mehr In dieser Zeit boten die USA Hoffnung. Männer als Frauen, bisweilen ganze Unter Missachtung der den Indianern ge- Familien. Bis zum Bau der Eisenbahn reisten gebenen territorialen Sicherheiten be- viele Menschen auf der Weser nach gann in den vierziger Jahren des 19. Jahr- Bremen. Dort spezialisierte man sich rasch hunderts eine rasche Westexpansion. auf das lukrative Auswanderergeschäft. Zunächst wurde die Prärie durchquert, Die Gründung der Stadt Bremerhaven nach Oregon sowie Kalifornien gerieten in den 1827 bei Geestemünde geht nicht nur auf Blickpunkt, dann der mittlere Westen zur die im Vergleich zu Bremen bessere Erreich- Besiedlung freigegeben. 1854 wanderten barkeit durch die vergrößerten Hochsee- mehr als 400.000 Menschen in die USA schiffe zurück, sondern auch auf die ein. Neben dem von Hungerkrisen ge- Massenauswanderung. plagten Irland kam aus Deutschland eine Die Obrigkeiten in den niedersächsi- etwa gleichstarke Auswanderergruppe, schen Staaten betrachteten die Auswan- gemeinsam stellten Iren und Deutsche derung zwiespältig. Gern entledigten sie fast zwei Drittel der USA-Einwanderer sich auf diesem Wege unbeliebter Per- zwischen 1851 bis 1860. Nur unterbro- sonen, doch fürchteten sie einen zu großen chen vom amerikanischen Bürgerkrieg Verlust von Menschen. Allmählich setzte 1861-1865 kamen sodann bis zum Ende sich aber die Erkenntnis durch, dass der der neunziger Jahre die meisten Einwan- drohenden Massenarmut nur mit Auswan- derer aus Deutschland. Besonders im derung zu begegnen war. Die Auswan- mittleren Westen, im Gebiet von Illinois derungserlaubnis wurde erleichtert, bei bis hinunter nach Texas, lassen sich in den Männern aber darauf geachtet, dass sie ih- USA viele Orte nachweisen, die sich auf ren Pflichten zum Militärdienst nachge- Einwanderung aus Niedersachsen bezie- kommen waren. hen. Die dort verbreiteten Familiennamen Viele Auswanderer hatten nach der verweisen noch heute auf die Herkunfts- strapaziösen Überfahrt einen ebenso gebiete. Es sind vor allem niedersächsi- schwierigen Weg in den mittleren Westen sche Räume, die in der Mitte des 19. vor sich. Dort bekamen sie zwar Land, Jahrhunderts dicht besiedelt waren und in mussten es aber in eigener Arbeitskraft denen das ländliche Gewerbe beheimatet urbar machen. Nicht alle Auswanderer war, also z.B. Teile des Osnabrücker fanden gute Bedingungen in den USA vor Landes oder Schaumburgs. und manche waren auf falsche Verspre- Als Ziel der Auswanderung standen chungen hereingefallen. Etliche kamen die USA bei weitem an erster Stelle. Aber zurück. Ortsnamen wie Texas (bei Hameln es gab auch Gruppen, die beispielsweise und Gifhorn) verweisen in Niedersachsen aus dem Sollingraum nach Jamaika ge- noch heute darauf. langten, als dort die Sklavenarbeit aufge- 106 Nachholen (19. Jahrhundert)

schweig, drängten Hannover, sich an Eisenbahnen Eisenbahnprojekten zu beteiligen. Hier waren die Vorbehalte groß, sei es aus Seit den siebziger Jahren des 19. Jahr- Sorge vor militärischer Nutzung der Bahn hunderts ebbte der Auswandererstrom oder vor einem Verlust der Geschäfte aus Niedersachsen allmählich ab. Dies heimischer Fuhrbetriebe. Auch schreckte steht im unmittelbaren Zusammenhang das schwierige Verfahren, das Land für die mit der Industrialisierung. Die regionale Trassen zu bekommen, und schließlich Industrialisierung, voran im Berg- und fehlte stets das Geld. Daher wurden Hügelland und in der traditionell städterei- Staatsbahnen gegründet. Sie bedienten chen Zone von Osnabrück bis Braun- sich privater Kapitalbeschaffung dank si- schweig, setzte ebenso wie der Eisen- cher verzinster Anlagen. bahnbau erst spät ein, da mit der Ab 1844 waren Hannover und landwirtschaftlichen und auf heimischen Braunschweig mit einer Eisenbahn ver- Rohstoffen aufbauenden gewerblichen bunden. Bis in die 1860er Jahre wuchs das Produktion bis weit in das 19. Jahrhundert Netz rasch. Mit Ausnahme einer Quer- hinein ein Grundeinkommen der Bevöl- verbindung durch das westliche Nieder- kerung gesichert werden konnte. sachsen bestanden bereits alle noch heute Zwar war und ist Niedersachsen ein existierenden Hauptlinien. Daran schloss Verkehrsdurchgangsland, doch die Ver- sich eine Phase des Baus von Nebenlinien kehrsnetze boten zunächst wenig Hoff- und Kleinbahnen an. Eisenbahnknoten- nung auf eine Verbesserung des für ge- punkte wurden die Basis neuer Städte, so werbliche Intensivierung so wichtigen Lehrte. Städte, die sich dem Eisenbahnbau Handels. In England war vorgeführt wor- widersetzten, waren der Stagnation aus- den, dass die Verbesserung der Verkehrsin- geliefert, so Eldagsen. Städte, die Eisen- frastruktur, also zunächst Kanäle und bahnanschluss erhielten, hatten für viele Straßen, dann Eisenbahn, für eine Indus- Jahre gute Entwicklungsmöglichkeiten, trialisierung ebenso unerlässlich war wie denn voran stand der Gütertransport. Für das Vorhandensein von Arbeitskräften, die Massengüter, gewichtige Rohstoffe und Verfügbarkeit über Rohstoffe und die Fertigprodukte ergaben sich ganz neue Schaffung von Absatzmärkten. Trotz vieler Vermarktungsnetze. Und schließlich ent- Pläne blieb ein umfangreicher Kanalbau je- stand um das Eisenbahnwesen herum ein doch außerhalb der oldenburgischen und eigenständiger Gewerbe- und Industrie- ostfriesischen Fehngebiete aus. Anderes zweig. galt für den Chausseebau. Hier hatte das Königreich Hannover eine Vorreiterrolle schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Preußen in Niedersachsen Jahrhunderts übernommen. Als 1835 die erste Deutsche Eisenbahn Tief in die politische Geschichte Nie- zwischen Nürnberg und Fürth verkehrte, dersachsens schnitt die Annexion des begann auch in Niedersachsen eine leb- Königreichs Hannover 1866 durch Preu- hafte Diskussion, in der vor allem im ßen ein. Seit dem 17. Jahrhundert bereits Herzogtum Braunschweig der ökonomi- umgaben im Osten und im Südwesten sche Nutzen der Eisenbahn rasch erkannt brandenburgische Besitzungen die nieder- wurde. Bereits 1838 wurde die Linie sächsischen Fürstentümer. Bei der Anlage Braunschweig-Wolfenbüttel eröffnet. von Chausseen und beim Eisenbahnbau, Preußen vor allem, aber auch Braun- bei der Aufhebung der Zollgrenzen in Nachholen (19. Jahrhundert) 107

Deutschland und der Durchsetzung von frontation zwischen den beiden Groß- zumindest regionaler Gewerbefreiheit mächten im Deutschen Bund um hatte Preußen stets Interessen, die auf Schleswig-Holstein setzte er in formaler den Großstaat ausgerichtet waren, der so Neutralität faktisch allein auf die Habs- unterschiedliche Gebiete wie Ostpreußen burger. Preußen marschierte im Bundes- oder das Ruhrgebiet umfasste. Preußen krieg 1866 gegen Hannover. Am 29. Juni war die Vormacht im Deutschen Bund kapitulierte die nicht auf den Krieg vorbe- und vor allem in Norddeutschland. reitete hannoversche Armee im thüringi- In Hannover hatte sich König Ernst schen Langensalza. Am 3. Juli wurde das August schließlich den neuen innen- und österreichische Hauptheer bei Königgrätz außenpolitischen Gegebenheiten ange- in Nordböhmen geschlagen. Mit dem passt. Als sein blinder Sohn Georg V. 1851 Prager Frieden vom 23. August 1866 die Herrschaft antrat, setzten sich Reali- wurde der Deutsche Bund aufgelöst. tätsferne und ein gleichsam mystischer Damit war einer kleindeutschen Reichs- Konservatismus durch. Außenpolitisch gründung ohne Österreich, wie sie 1871 vermochte Georg die herausragende erfolgte, der Weg bereitet. Das König- Stellung Preußens nicht an- zuerkennen, reich Hannover aber wurde am 20. und innenpolitisch hob er 1855 die libe- September 1866 von Preußen ebenso an- rale Verfassung wieder auf. Anders als die nektiert wie Kurhessen, Nassau und die übrigen drei Staaten Niedersachsens, die Stadt Frankfurt. Der von Preußen initiierte sich Preußen anpassten, suchte Georg Norddeutsche Bund ersetzte bis zur Autonomie bei lockerer Bindung an Reichsgründung 1871 die nach der Österreich. In der sich zuspitzenden Kon- Auflösung des Deutschen Bundes feh-

Der Raum Niedersachsen zwischen 1815 und 1866: mit der Annexion des Königreichs Hannover 1866 wurde Preußen die wichtigeste Macht in Niedersachsen. 108 Nachholen (19. Jahrhundert) lende überstaatliche Organisation. von Zöllen blockierten Handelsverflech- Das entmachtete Welfenhaus, die tungen und an der Modernisierung des Mehrheit des Adels und des lutherischen Verwaltungsaufbaus. Dennoch formierte Klerus, große Teile der Staatsverwaltung sich in der Provinz Hannover eine anti- und viele Menschen gerade auf dem preußische politische Bewegung, die sich Lande machten nach der Annexion aus ih- in der Deutsch-Hannoverschen-Partei eta- rer antipreußischen Haltung kein Hehl. blierte. Sie stützte sich auf den Adel, auf Das Wirtschaftsbürgertum in den Städten Teile des konservativen Bürgertums und und liberal eingestellte Menschen, voran auf die Mehrheit der Bauern in der Geest. der Nationalliberale Politiker Rudolf von Aus den ähnlich laufenden Konfliktlinien Bennigsen, sahen dagegen die Vorteile mit Preußen und dem Reich heraus ko- auf dem Weg zu einem deutschen Na- operierte die welfische Partei oft mit dem tionalstaat und vor allem zu einer im ehe- katholischen Zentrum. In den allmählich maligen Königreich dringend notwendi- wachsenden industriellen Ballungsge- gen ökonomischen Modernisierung. Die bieten gewann die Sozialdemokratie zu- entstehende Sozialdemokratie setzte nehmend an Bedeutung. ohnehin auf überregionale und internatio- nale Kooperation. Preußen beließ das hannoversche Industrialisierung Staatsgebiet als eigenständige Provinz in und Urbanisierung – seinen herkömmlichen Grenzen mit Han- das Beispiel Hannover nover als Hauptstadt. Der Provinziallandtag erhielt u.a. Befugnisse für das Kultur- und Die vergleichsweise bescheidene und Sozialwesen, für den Straßen und Eisen- inselartige Industrialisierung Niedersach- bahnbau und die agrarischen Verbes- sens erhielt durch das Eisenbahnnetz und serungsmaßnahmen. Mit der Reichs- in den Jahren nach 1866 durch die preußi- gründung von 1871 nach dem deutsch- sche Gewerbeliberalität im ehemaligen französischen Krieg mussten auch die drei Königreich Hannover einen kräftigen nichtpreußischen Staaten in Niedersachsen Anstoß. Die über gewerbliche Produktion viele Rechte in Gesetzgebung und hinausgehenden Impulse liegen aber zeit- Verwaltung an das Reich abgegeben. Die lich früher. Vorreiter, noch vor dem tradi- Militärhoheit entfiel. tionell gewerblich wichtigeren Braun- Als in Braunschweig 1884 das Her- schweig, war der Raum Hannover. zogshaus ausstarb, wären die entmachte- Hannover war seit 1636 Residenz- ten hannoverschen Welfen erbberechtigt stadt. Hiervon profitierten auch Handel, gewesen. Da diese Preußen gegenüber un- Verkehr und Gewerbe. Im Dorf Linden, versöhnlich blieben, machte erst 1913 die westlich der Calenberger Neustadt, waren Hochzeit des Prinzen Ernst August, einem darüber hinaus bereits seit dem 17. Großsohn des letzten hannoverschen Jahrhundert zahlreiche Gewerbe angesie- Königs, mit der Kaisertochter Viktoria Luise delt worden. Die günstige Verkehrslage, den Weg für die Erbfolge frei. die gesicherte Versorgung aus dem agra- In der Rückschau wird die Annexion risch ertragreichen Umland und die im Hannovers 1866, anders als von vielen Deister anstehende Steinkohle ermöglich- Zeitgenossen, als nützlich angesehen. Die ten es Vater und Sohn Egestorff, in Linden neue Provinz Hannover partizipierte an schon während der ersten Jahrzehnte des den Vorteilen der preußischen Gewerbe- 19. Jahrhunderts von der Kalkbrennerei freiheit, an den nun weiträumigen, nicht zur Maschinenfabrikation überzugehen. Nachholen (19. Jahrhundert) 109

Die erste 1846 in Linden gebaute Lokomotive für die hannoversche Staats- bahn erhielt den Namen Ernst August.

Begünstigend wirkten sich nicht nur viele Weber, die den stetig wachsenden die kurzzeitigen Gewerbefördernden Textilbedarf deckten. Eine einzige Dampf- staatlichen Initiativen nach 1830 aus, son- maschine betrieb nunmehr sechzig Web- dern auch die frühe Gemeinheitsteilung, stühle und diverse weitere Arbeitsgeräte. Verkoppelung und Lastenablösung, die in Noch lagen die Produktionskosten hoch, Linden schon 1840 beendet waren. und auf dem Lande konnte feinere Qua- August Söhlmann wartete 1833 in seiner lität angeboten werden. So beschäftigte Lederwarenfabrik im viergeschossigen diese Fabrik zwar 50 Arbeiter, ohne frei- Gebäude an der Lindener Ihmebrücke mit lich der Heimindustrie der Kleinbauern einer Neuheit auf: Eine Dampfmaschine gefährlich zu werden. betrieb die Borkenmühle und die Leder- In Hannover entstand um Karl Kar- walke. Johann Egestorff hat diesen ersten marsch 1831 die Höhere Gewerbeschule, industriellen Einsatz einer Dampfma- die Vorläuferin der heutigen Universität. schine im Königreich Hannover noch mit- In den Folgejahren begannen sich die erlebt. Im Jahr darauf starb er. Sein Sohn Handelserleichterungen dank der Zoll- aber sollte mit dieser Maschine Erfolg ern- vereine auszuwirken, doch den wesent- ten. Georg Egestorff (1802-1868), älte- lichen Industrialisierungsschub bot die stes Kind Johanns, setzte in seiner 1835 Einbeziehung Hannovers in das Eisen- gegründeten Eisengießerei und Maschi- bahnnetz ab 1843. Als Borsig in Berlin be- nenfabrik erstmalig eine 6 PS starke reits 100 Lokomotiven hatte bauen las- Dampfmaschine ein. Da aber erst wenige sen, wurde am 4. Juni 1846 die erste andere Betriebe maschinenabhängig ar- Egestorffsche Lokomotive von 24 Pferden beiteten, blieb Egestorffs Maschinen- durch die Altstadt zum neuen hannover- fabrik zunächst ein mit ca. 50 Beschäf- schen Bahnhof gezogen. Auch die ande- tigten arbeitender großer Handwerks- ren Lindener Betriebe profitierten vom zu- betrieb, in dem Eisenwaren verschiedener sätzlichen Bedarf der Eisenbahn. Art hergestellt wurden. So verdienten in Linden und Umge- Viel wichtiger erschien zum damaligen bung um 1850 wohl schon ca. 1.000 Zeitpunkt die mechanische Baumwoll- Personen ihr Geld nicht als Bauern, weberei, die 1837 von zwei Bankiers und Handwerker und Gesinde, sondern als zwei Kaufleuten an der Ihme gegründet Lohnarbeiter. 14 Stunden am Tag arbeite- wurde. Denn im Calenberger Land und ten sie, dazu kam der oft lange Fußweg besonders in Linden arbeiteten schon vom Heimatdorf zum Arbeitsplatz. Viele 110 Nachholen (19. Jahrhundert)

Arbeiter versuchten, in Linden direkt zu licher Förderung die Georgsmarienhütte, wohnen. Auf diese Weise überholte 1858 bei Peine die Ilseder Hütte ge- Linden, mit Ausnahme von Hannover, gründet, 1856 in Bückeburg eine nieder- rasch die Bevölkerungszahl der alten sächsische Bank. Neben vielen kleinge- Flecken und Städte des Calenberger werblichen Neugründungen profitierten Landes. Die Wohnsituation der Arbeiter hiervon in Linden die Egestorffsche kann man sich kaum schlecht genug vor- Maschinenfabrik, die 1857 schon 780 Be- stellen. Selbst wenn die Menschen in der schäftigte zählte, und die nach englischer Altstadt Hannovers Unterschlupf fanden, Planung ausgestattete, als Aktiengesell- ging es ihnen nicht besser. Die wohlha- schaft finanzierte Lindener Baumwoll- benden Hannoveraner bauten sich Villen Spinnerei und Weberei, die 1855 ihren am Stadtrand, Teile der Altstadt wurden in Betrieb aufnahm und deren Beschäftig- den folgenden 100 Jahren zum Slum. tenzahl bald 1.000 erreichte. In den fol- Am 1. April 1848 wurde in Hannover genden Jahren ließ der Bankier und Unter- ein Arbeiterverein gegründet, der auf ei- nehmer Adolph Meyer seine Mecha- nen drei Jahre älteren Gesellenleseverein nische Weberei auf über 400 moderne zurückging. In den ersten Tagen des Aprils Webstühle vergrößern. 1848 streikten 300 Arbeiter der Eges- Die Lindener Industrialisierung hatte torffschen Maschinenfabrik für eine kür- mit der Baustoffverarbeitung begonnen. zere Arbeitszeit. Egestorff kam den Arbei- Nun, im ersten Boom nach 1848, traten, tern entgegen, fortan wurden nur noch wie generell in Deutschland, die Textil- 11 Stunden pro Tag gearbeitet. Dies wa- herstellung und die Maschinenfabrikation ren Randerscheinungen der Revolution in den Vordergrund. Doch die wirtschaftli- von 1848. che Prosperität hatte ihren Preis. In Die Liberalisierungsphase nach 1848 Hannover klagte man über die Luftver- reichte aus, um neue Initiativen in Bewe- schmutzung, weil der vorherrschende gung zu setzen, die von der Regierung Westwind den Rauch herüberblies. Leine hernach durchaus behutsam gefördert wie Ihme verloren ihre Sauberkeit. Und die wurden. Als 1854 endlich das Königreich Arbeiter, die Lindens Einwohnerzahl zu Hannover dem Deutschen Zollverein bei- Beginn der sechziger Jahre auf 10.000 an- trat, kam die günstige Verkehrslage wachsen ließen, fanden immer schwieri- Hannovers und seiner Umgebung ganz ger Unterkunft. Rasche Erweiterungen zur Geltung. Zölle im Binnenland entfielen Hannovers und Lindens, auch die als vor- fortan, und gegen die billigen englischen bildlich bekannte neue Arbeitersiedlung Textilien schützten hohe Einfuhrzölle. Von Fannystraße, konnten nur mühsam den Osten nach Westen, von Norden nach notwendigen Wohnraum sichern. Ende Süden banden nunmehr Eisenbahnlinien der 1850er Jahre trat Stagnation ein. Als das politische Zentrum des Königreiches in die preußische Annexion 1866 die den nationalen Güteraustausch ein. Die Gewerbefreiheit und die Freizügigkeit al- Calenberger Börde gewährleistete die ler Einwohner brachte, machten sich in Ernährung wachsender Menschenmen- der Lindener Industrie die Erleichterungen gen. sofort bemerkbar, indem die Beschäftig- Kohle stand im Deister bei Breden- tenzahlen rasch wieder wuchsen. beck, und an. Vom neuen Boom künden beispiels- Nur Eisen fehlte und das nötige Kapital weise Dampfziegeleien. Im Übrigen tru- zum Weiterführen der Industrialisierung: gen die Unternehmungen Henry Bethel 1856 wurden bei Osnabrück unter staat- Strousbergs vor allen anderen das indu- Nachholen (19. Jahrhundert) 111 strielle Wachstum, obgleich Strousberg zu hart und die Wohnsituation meist zu nur zweieinhalb Jahre in Linden wirkte. miserabel. Während mit dem Geld der Nach Georg Egestorffs Tod 1868 erwarb Gründerjahre eine Aktiengesellschaft er dessen Eisengießerei und nach der anderen eingerichtet wurde, Maschinenfabrik. Egestorff war noch ein und entsprechend aus der Strousberg- patriarchalisch gesonnener Unternehmer schen Fabrik nach dessen Ausscheiden die gewesen, der sich um seine Arbeiter küm- „Hanomag“ entstand, wuchs Linden all- merte. Strousberg dagegen herrschte mählich zum „roten Linden“. Schon die über ein ganzes in Deutschland verstreu- umfangreichen Streiks 1905/06 der Ar- tes Mischunternehmen, in dem das Lin- beiter in Hannover, Linden und in den dener Werk nur eines von vielen blieb. Bergbauorten am Deister hatten gezeigt, Von ihm wurde endgültig die handwerks- dass die junge gewerkschaftliche und po- nahe Produktion aus den Werkshallen litische Organisation es den Arbeitern er- vertrieben, und die Massenproduktion möglichte, ihre Forderungen vorzutragen genormter Teile zog ein. In Rumänien und zum Teil sogar durchzusetzen. Diese baute Strousberg die Staatsbahn auf, de- Streiks wandten sich gegen materielle Not ren Lokomotiven er in Linden herstellen nach den Nahrungsmittelpreissteigerun- ließ. Die dortige Maschinenfabrik wuchs gen der Zeit, sie richteten sich gegen eine schnell zum größten Unternehmen der deutlich spürbare Rationalisierungswelle Region. in der Wirtschaft, gegen unwürdige Schon zwei Jahre nach der Gründung Arbeitsbedingungen und politische Ent- der Lindener Bahnhöfe am Küchengarten mündigung. und Fischerhof lag der dortige Waren- Der einer Boomphase anlässlich der umschlag doppelt so hoch wie in Han- Reichsgründung von 1871 und der fran- nover. Die Arbeiterzahl in den Strous- zösischen Reparationen folgende so ge- bergschen Werken schnellte auf über nannte Gründerkrach hatte die wirt- 2.000 empor, obgleich die Produktion ra- schaftliche Aufwärtsentwicklung Hanno- tionalisiert wurde. 1873 zählte man vers kaum aufgehalten. Die Verkehrs- knapp 6.400 Arbeiter in Linden, zwei gunst der Stadt ließ sie und Linden im Zu- Drittel der gesamten Arbeiterschaft im sammenhang mit der Industrialisierung Raum Hannover. Der Rest arbeitete in Deutschlands rasch weiterwachsen. Aus Hannover selbst oder in den Ziegeleien, der Residenz und Handwerkerstadt Kalkbrennereien, Kohlengruben usw. Die wurde bis zum Ersten Weltkrieg eine meisten Arbeiter kamen entweder als Industriestadt von überregionaler Bedeu- Tageswanderer aus den umliegenden tung. Firmen wie die Conti, Pelikan, Dörfern oder als dauerhaft Bleibende aus Bahlsen, Riedel de Haen zeigen, wie we- den Harzrandregionen, Pommern, Schle- nig nunmehr die hiesigen Rohstoffe als sien und Sachsen. Für die zugewanderten vielmehr die hervorragenden Verkehrs- Arbeiter in Linden ließ Strousberg zwi- situationen die wirtschaftliche Expansion schen der Göttinger Straße und dem förderten. Dass ab 1905 auch im Ca- Werksgelände eine Arbeiterwohnsied- lenberger Land (Empelde, ) lung bauen, doch den Aufstieg der politi- Kali gefördert wurde, geriet fast zur schen Arbeiterbewegung, die sich parallel Nebensächlichkeit gemessen am Erfolg, mit dem Zuwachs in Linden zwischen den die Verkehrsverflechtungen den 1867 und 1872 konstituierte, konnte er neuen Industrien boten, zumal 1909 der nicht verhindern. Dafür war die materielle Seelzer Verschiebebahnhof den Betrieb Lage der Arbeiter zu schlecht, die Arbeit aufnahm. 1875 wohnten in Hannover 112 Konkurrieren (20. Jahrhundert) schon 87.000, in Linden 21.000 Men- Bomlitz bei Walsrode. Hier wurde eine schen, während die Dörfer ihre frühneuzeitliche Papiermühle zur Pulver- Einwohnerschaft seit dem 17. Jahrhun- mühle umgenutzt, die bald zu einer welt- dert höchstens verdoppelt hatten. 1891 weit exportierenden Munitionsfabrik ge- und 1907 fanden die ersten größeren dieh. Die oldenburgischen Städte Del- Eingemeindungen nach Hannover statt. menhorst und Nordenham profitierten 1909 zog das 1885 zur Stadt erhobene von der Nähe zum Meer. Linden nach und vergrößerte sich um Einen Sonderfall stellt Wilhelmshaven Limmer, Davenstedt, Badenstedt, Bornum dar. Hier, in geschützter Lage am Jade- und 1913 Ricklingen. Diese Orte hatten busen, hatten bereits französische ihr dörfliches Antlitz noch nicht verloren, Admirale während der napoleonischen doch an ihren Rändern wuchsen die Zeit einen Kriegshafen konzipiert. Preu- Wohnsiedlungen, wenige Bauern und ßen griff die Idee auf und erwarb ab 1856 Gewerbetreibende wurden reich durch von Oldenburg das Terrain für eine Grundstücksverkäufe und Häuserbauten. Marineanlage. 1869 erhielt das Militär- Dieser strukturelle Wandel spiegelt gelände seinen Namen nach König (später sich klar in den Wahlergebnissen wider. Kaiser) Wilhelm I. Als seit der Reichsgrün- Die Sozialdemokraten bzw. ihre Vorläufer dung 1871 der Kriegshafen rasch wuchs, erhielten bei überregionalen Wahlen im wurde auf oldenburgischer Seite die Stadt Wahlkreis Hannover/ Linden trotz zum Teil Rüstringen ausgebaut, die 1937 mit eingeschränkter politischer Entfaltungs- Wilhelmshaven vereinigt wurde. Die auf möglichkeiten 1867 11,1%, 1878 26,4%, die Marinebedürfnisse ausgerichtete 1912 53,0%; zur gleichen Zeit sank der Monostruktur hat nach dem Zweiten welfische Stimmenanteil von 68,4% über Weltkrieg zu schweren ökonomischen 44,6% auf 11,1%, derjenige der Problemen der um 1900 stark prosperie- Liberalen stagnierte um 31,6%, 24,3% renden Stadt geführt. In vielerlei Hinsicht und 26,7%. ist die Entwicklung des von niedersächsi- schem Gebiet umschlossenen Bremer- havens ähnlich. Regionen in Niedersachsen – Allmählich entstanden Vorformen des Nachholen zwischen Identität und für Niedersachsen heute so wichtigen Zivilisationskritik Tourismus. Bad Pyrmont hatte im 18. Jahrhundert gekrönte Häupter angezogen, Industrialisierung in Niedersachsen ge- so Zar Peter den Großen. Bad Nenndorf war schah regional und nicht flächenhaft. zur Zeit des Königs Jérôme expandiert, und Zentren nächst Hannover waren vor allem Norderney wurde bereits von der welfi- Braunschweig, sodann Osnabrück und schen Herrscherfamilie in der Mitte des 19. generell das Gebiet des Berg- und Hügel- Jahrhunderts aufgesucht. Mit der romanti- landes. Hier boten die Gewerbetradition schen Hinwendung zur Natur gewann der und die heimischen Rohstoffe (z.B. der Harz eine neue Bewertung trotz der großen Asphalt bei Eschershausen oder das Holz Bergbau- und Hüttengebiete. Seit dem für die Möbelindustrie in Lauenau, Bad Ausgang des 19. Jahrhunderts galt auch Münder und Springe) den Ansatzpunkt die Lüneburger Heide nicht mehr als öde, für die Gründung vieler kleiner und mittle- von menschlicher Gestaltung geschaffene rer Betriebe. Selbst in der Geest konnte Wildnis, sondern als in ihrer Kargheit faszi- unter Sonderumständen eine örtliche nierende Landschaft. Zu diesen Industrialisierung stattfinden wie in Umbewertungen trug die Heimatbe- Konkurrieren (20. Jahrhundert) 113

1861 wurde die „Alte Einfahrt“ für den Marinehafen Wilhelms- haven gebaut. wegung bei, im Fall der Heide speziell zu pflegen gälte. Bemerkenswerterweise Hermann Löns (1866-1914). waren es in Wirtschaft und Staat gut eta- Gegen Industrialisierung und Urba- blierte Bürger, die solche Gedanken formu- nisierung richtete sich in Niedersachsen lierten. Rasch durchmischte sich produktive zunehmend Kritik, die bäuerliche und re- Heimatpflege, die vor zu schneller Verän- gionale Traditionen idealisierte. Aus dem derung und unwiederbringlicher Zer- Prozess der Territorialentwicklung hatte störung bewahren wollte, mit antizivilisa- sich ergeben, dass zunehmend der Name torischer politischer Haltung, die gerade Niedersachsen mit dem welfischen Ho- nach dem Ersten Weltkrieg nationalistisch heitsgebiet verbunden wurde. Den letzten bis völkisch wurde. Von der Heimat- Anstoß gab die Annexion des Königreichs bewegung wurden die angeblich so eini- Hannover durch Preußen 1866. Um ein genden Bänder, die Niedersachsen zu- häufiges Missverständnis zu vermeiden: sammenhielten, gewebt, seien sie die ge- Die antipreußische Bewegung welfisch meinsame Abstammung von den Alt- orientierter Gruppen ist nicht gleichzuset- sachsen oder aber das Hallenhaus, wo- zen mit der niedersächsischen Heimat- möglich mit den als altsächsisch postulier- bewegung. Allerdings gibt es viele Ver- ten Pferdeköpfen, oder der Beginn der wandtschaften, auch personeller Art, und niedersächsischen Geschichte vor etwa immer dann, wenn es nicht opportun er- 1200 Jahren im Kampf Widukinds gegen schien, einen Begriff, der an die Welfen den „Sachsenschlächter“ Karl. Da verwies erinnern könnte, zu verwenden, nutzte politisch manches auf den Nationalsozia- die welfische politische Bewegung den lismus, im ökologischen Gedanken der Begriff Niedersachsen. Heimatpflege aber auch auf die heutigen Die am Ende des 19. Jahrhunderts zu- Umweltbewegungen. nehmend an Bedeutung gewinnende Dies macht die merkwürdige Trennung Heimatbewegung hatte einen gewichtigen und zugleich Durchmischung des frühen und eigenständigen Kern in und um Heimatgedankens mit der romantischen Bremen. Hier, wie auch in Hannover, be- Verklärung einer als besser angesehenen al- diente man sich des alten Sammelbegriffs ten bäuerlichen Welt auf der einen Seite Niedersachsen, um primär auf das hiesige und mit den Bemühungen um Erhaltung bäuerliche Element hinzuweisen, das es ge- bewährter regionaler Identität auf der an- gen Verstädterung und Proletarisierung zu deren deutlich. In den katholischen Gebie- schützen und als gesellschaftliches Vorbild ten, Teilen des Emslandes, im Oldenburger 114 Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Münsterland, in und um Hildesheim oder im wie das Ruhrgebiet und keine Massen- Eichsfeld, wurde die überkommene regio- proletarisierung wie einst in den engli- nale Kooperation und das besondere katho- schen Industriegebieten. Mit ca. 30 % lag lische Selbstbewusstsein gestärkt. Dies ge- um 1900 der Anteil Erwerbstätiger im ge- schah in der Auseinandersetzung mit den werblichen Sektor um 5% niedriger als im Zugriffen aus Oldenburg oder Hannover auf Reich. Plattdeutsch blieb in seinen klein- herkömmliche Organisationsformen des teiligen Ausformungen die Alltagsspra- Alltagslebens und der Institutionen. Die che, Hochdeutsch die Ausnahme für identitätstiftende Kraft von Tradition und re- Verwaltung und Oberschicht. Die ländlich- gionaler Geschichte wurden genutzt, ohne bäuerlichen und die kleinstädtisch-bürger- dass dies zwingend rückwärtsgewandte lichen Milieus waren weiterhin prägend. Idealisierung heißen musste. Die sich in der frühen Neuzeit andeu- Anders als in den Jahrhunderten zuvor tende Tendenz, dass nur wenige Haupt- zeigte sich Regionalität am Ausgang des orte wuchsen, während die Mehrzahl der 19. Jahrhunderts nicht nur in den spezifi- kleinen Städte zwar auch Aufwärtsent- schen Lebens- und Wirtschaftsweisen eines wicklungen kannten, aber hinter den we- Gebietes, in seiner politischen Verfasstheit, nigen wichtigen Städten zurückblieben, seinem territorialen Zuschnitt oder der dy- setzte sich fort. Ungewöhnlich gering war nastischen Verbindung, sondern in der die Mobilität im Vergleich zum Reichs- Artikulation durch Menschen, die in diesem durchschnitt. Das in vielen Bereichen Gebiet wohnten. Ausgelöst wurde dieses schmale Wachstum reichte allerdings aus, durch Angleichung und externe Überfor- bis zum Jahrhundertende die Auswan- mung. Hierin zeigt sich die charakteristi- derungswelle abebben zu lassen, ja in der sche Kraft von Regionalität gegen Zen- noch kaum mechanisierten Landwirt- tralismus, aber auch gegen unreflektiert als schaft auf saisonale Arbeitskräfte Ost- solche bewertete Bedrohung. mitteleuropas angewiesen zu sein. Die Die soziale Kluft weitete sich: zwischen wesentlichen Landschaftszonen Nieder- dem Proletariat in den wenigen industriel- sachsens bildeten sich weiterhin deutlich len Zentren, den Kleinstellenbesitzern und ab. Gewerbliche Intensivierung fand vor Landarbeitern einerseits und andererseits allem im Berg- und Hügelland statt, indu- den traditionellen Führungsgruppen, den strielle Urbanisierung in den Städten am Bauern und der wachsenden Zahl von Rande der Lößbörde und in guter Ver- Personen, die in Verwaltung und Wirt- kehrslage. In der Landwirtschaft fiel die schaft reüssierten. In den größeren Geest trotz auch hier steigender Erträge Städten und den Gewerbeorten gewann gegenüber den Lößgebieten relativ zu- die Sozialdemokratie zunehmend an Be- rück, da auf den guten Böden die Speziali- deutung. Auf dem Lande herrschten die li- sierung und Intensivierung größeres beralen und konservativen Parteien vor, in Wachstum brachte. Die sich im Mittelalter der Provinz Hannover die Welfenan- bereits andeutende Differenzierung Nie- hänger, die auf Reichsebene in ihrer anti- dersachsens in bestimmte Regionen ver- preußischen Haltung mit dem politischen änderte sich nicht prinzipiell. Katholizismus kooperierten. Wiederum Die ökonomischen Zentren lagen wie gilt, dass gemessen an den Gebieten Eu- bisher im Westen Europas. Die gegenüber ropas mit weit stärkerer und schnellerer Niedersachsen weiterhin wirtschaftlich Industrialisierung die soziale Differenzie- bedeutungsvolleren Niederlande waren in rung vergleichsweise gering blieb. Nie- ihrer Überlegenheit von England abgelöst dersachsen kannte keine Urbanisierung worden. Frankreich und die hochindustri- Konkurrieren (20. Jahrhundert) 115 alisierten Teile Deutschlands drängten in Niedersachsen. Die Durchsetzung Nie- nach. Im Osten der USA zeigte sich seit dersachsens mit inneren Peripherien dem Ende des Bürgerkriegs eine Wirt- nahm im interregionalen Vergleich trotz schaftskapazität ungeahnter Größe. des wirtschaftlichen Gesamtwachstums Selbst wenn Deutschland an der Wende zu. Wie schon für die frühe Neuzeit gilt, zum 20. Jahrhundert Teil des Zentrums im dass die damit verbundene nachholende Weltsystem wurde, es waren Hamburg, Modernisierung und die Konkurrenz- Berlin, der rhein-mainische Raum und nun fähigkeit durch Imitation auch ihre allen voran das Ruhrgebiet, die rascher ex- Vorteile hatten, beispielsweise in relativer pandierten als die industriellen Hauptorte sozialer Stabilität oder der Vermeidung von schlimmen ökologischen Schäden. Konkurrieren (20. Jahrhundert) von schlimmen ökologischen Schäden. Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Nach dem Ersten Weltkrieg - Rückwirkungen. Da England die Zufuhr neue politische Systeme von Nahrungsmitteln und Rohstoffen nach Deutschland unterband, war die Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Versorgung der städtischen Bevölkerung, der niedersächsische Raum von demokra- anders als auf dem Land, nicht mehr ge- tischen Verhältnissen weit entfernt. währleistet. Mit wachsender Kriegsdauer Anders als der Reichstag wurden die und steigenden Alltagsnöten wuchs in Landesvertretungen und örtlichen Räte den größeren Städten der Unmut. Soziale nach verschiedenen Formen des Zensus- Verbesserungsvorschläge und Wahl- wahlrechts gewählt. Frauen waren ausge- rechtsänderungen kamen zu spät. schlossen. Doch über die sozialen Als sich am 4. November 1918 in Kiel Grenzen hinweg wurde der Beginn des Matrosen weigerten, noch einmal mit der Ersten Weltkrieges begrüßt. Hochseeflotte gegen England auszulau- Schon bald nach 1914 zeigten sich ge- fen, verbreitete sich diese Nachricht wie rade für die Städte allerdings schwere ein Lauffeuer. Allerorts schlossen sich meuternde Matrosen und Soldaten dem Widerstand gegen das kaiserliche Regime an. Die Revolution von 1918/19 ging von der Küste aus und fand in den Städten statt. Die Massenbewegung des Novem- bers und Dezembers 1918 war ein spon- taner Aufstand. Im Dezember bereits hat- ten sich auf Reichsebene die gemäßigten Sozialdemokraten auf dem Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte durchgesetzt. Interessant ist der Braunschweiger Fall. Ca. ein Drittel der Landesbevölkerung von etwa einer halben Million lebte in der Hauptstadt. Seit der Industrialisierung war die dortige sozialdemokratische Bewe- Während des Ersten Weltkrieges mußten viele Frauen Arbeiten übernehmen, die bisher von gung deutlich radikaler als diejenige in Männern verrichtet wurden. Hannover und Linden. Früh schon wurde 116 Konkurrieren (20. Jahrhundert) der vom Kaiser verkündete so genannte Arbeiter einsetzte. Am 9. April begann im Burgfrieden zwischen den verschiedenen Land Braunschweig der Generalstreik der politischen Kräften im Reich kritisiert. linken politischen Kräfte. Unerwartet rea- 1916 und 1917 gab es große Streiks und gierte das Bürgertum mit einem Gegen- Protestversammlungen. Als sich die SPD streik. Es drohte ein Bürgerkrieg. Daraufhin 1917 reichsweit spaltete, ging die verhängte die Reichsregierung den Aus- Braunschweiger Mehrheit zur neugegrün- nahmezustand über das Land Braun- deten unabhängigen Sozialdemokratie schweig. Freikorpstruppen rückten in der (USPD). Stärke von ca. 10.000 Mann ein, bejubelt Am 6. November 1918 traf ein kleiner vom Bürgertum. Die Hoffnungen auf eine Trupp Matrosen in Braunschweig ein. proletarisch-sozialistische Musterrepublik Binnen kurzem waren ein Arbeiter- und waren zerschlagen, auch wenn mit Sepp ein Soldatenrat gegründet. Am 8. Novem- Oerter zunächst ein Ministerpräsident der ber zogen wohl 20.000 Menschen vor das USPD gewählt wurde. Schloss, und Herzog Ernst August musste Mit Ausnahme von Cuxhaven, Wil- die ihm vorgelegte Abdankungsurkunde helmshaven und von Bremen verlief die unterzeichnen. Die „sozialistische Repu- Revolution von 1918/19 keinesfalls so spek- blik Braunschweig“ wurde ausgerufen. takulär wie in Braunschweig. In Hannover Tags darauf dankte in Spa Kaiser Wil- dominierten die gemäßigteren Mehrheits- helm II. ab. Widerstand gegen den Zu- sozialisten. In den kleineren Städten mit ih- sammenbruch der Monarchien gab es in rer mittelständischen Industrie wurden die Braunschweig nicht. Dies belegt, wie zer- alten Eliten nur vereinzelt verbal angegrif- rüttet das alte politische System war. Doch fen. Für die Sozialdemokratie ergab sich blieben nahezu alle Angehörigen der hier ab 1919 zumindest die Chance, gleich- Verwaltung im Amt, ebenso die Kreis- berechtigt politisch mitzuwirken. direktoren und Bürgermeister. Rasch zeigte sich eine große Diskrepanz zwi- schen radikalen Sozialisten in den In- Wenig golden - dustriebetrieben und dem Bürgertum in die zwanziger Jahre Braunschweig, den Kleinstädten sowie den Bauern auf dem Lande. Deren politi- Oldenburg erhielt 1919 eine republi- sche Vertreter schlossen bereits im De- kanische Verfassung, Braunschweig 1921, zember 1918 ein Wahlbündnis. Als kurz Schaumburg-Lippe 1922. Alle drei Länder vor Weihnachten im Land Braunschweig erklärten sich zu Freistaaten. Faktisch gewählt wurde, erreichte die USPD nur 14 nahm die Selbständigkeit gegenüber dem der 60 Sitze und wurde sogar von der SPD Reich stetig ab. In Oldenburg dominierte überholt. Dies war, wie in vielen Teilen die Demokratische Partei unter Theodor Deutschlands zu jener Zeit, die erste Wahl, Tantzen. In Braunschweig spielte der bei der für ein Landesparlament keine auf Sozialdemokrat Heinrich Jasper zeitweilig dem Steuerzensus ruhende Einschrän- eine führende Rolle. Im Gewerbeorien- kung galt. tierten Schaumburg-Lippe mit dem hohen Gegen eine Koalitionsregierung aus kleinbäuerlichen und kleinbürgerlichen USPD und SPD protestierten die radikalen Bevölkerungsanteil war die Sozialdemo- Sozialisten. Generell stieg auf der Linken kratie vorherrschend. Dennoch besaß das der Unmut gegen die sozialdemokratische Fürstenhaus, im 19. Jahrhundert zu Wohl- Spitze in Berlin, die unter Minister Gustav habenheit gelangt, ein hohes Ansehen. Noske die Reichswehr gegen streikende Die seit den zwanziger Jahren um den Konkurrieren (20. Jahrhundert) 117

Geographen Kurt Brüning gedeihenden Rindviehhaltung, in der Geest dagegen Forschungen zur wirtschaftlichen Ent- rasches Aufholen im Kulturlandanteil, im wicklung zeigten manche Verflechtungen Ackerbau und in der Viehhaltung. Die auf dem Gebiet des heutigen Nieder- Tendenz zur Monokultur einer flächenun- sachsens. Brüning legte Denkschriften abhängigen Schweinehaltung zeigte sich vor, die ein Niedersachsen unter Ein- im Raum Cloppenburg bereits vor dem schluss u.a. beider Teile Schaumburgs und Ersten Weltkrieg. Der Wandel wurde Lippes für sinnvoll hielten. Die von Hugo durch den zwar späten, dann jedoch Preuß nach dem Ersten Weltkrieg ausge- höchst wirksamen, Anschluss des arbeitete, allerdings gescheiterte, Neu- Gebietes an die Eisenbahn beschleunigt. ordnung im deutschen Reich sah als Nun konnte Mineraldünger importiert Gegengewicht zu einem übermächtigen und der Stand- ortnachteil des kargen Land Preußen ein Reichsgebiet Nieder- Bodens gegenüber der Marsch ausge- sachsen unter Einschluss von Schleswig- glichen werden. Die Ballungszentren in Holstein vor. Der welfischen politischen Westdeutschland nahmen zugleich im- Partei DHP misslang schließlich 1924 ein mer größere Mengen von Schlachtvieh Volksbegehren zur Wiederherstellung des ab. Die interne kommunikative, soziale Landes Hannover, um das es zur Inte- und finanzielle Grundlage für den gration anderer politischer Kräfte auch Veränderungsschub in der Geest bildete Pläne für ein Land Niedersachsen gege- ein lebhaftes Vereins- und Genossen- ben hatte. schaftsleben, das von katholischen Die wirtschaftlichen Verhältnisse wa- Geistlichen und bürgerlichen Honora- ren ambivalent. Industrialisierung und tioren angeregt wurde. Dank der hohen Bevölkerungsballung im Ruhrgebiet, in externen Vieh- und Viehproduktnach- Hamburg, Bremen und in den wenigen frage konnten sich in beiden Gebieten großen Städten Niedersachsens ließen mittelgroße Bauernhöfe behaupten, die den Bedarf nach landwirtschaftlichen in der Eigenversorgung überwiegend Produkten im nahen Umfeld steigen. Dies marktunabhängig blieben. wirkte auf die niedersächsischen Agrar- Hier wie überall aber hatte die Land- gebiete ungleich, wie eine Gegen- wirtschaft erhebliche Einbußen durch die überstellung der westniedersächsischen Unterbrechung der überseeischen Zu- Marsch mit der südlichen Oldenburger fuhren während des Ersten Weltkrieges Geest zeigt. In der Marsch herrschte tradi- erlitten. Die Versorgung der Landwirt- tionell eine von vollbäuerlichen Betrieben schaft mit betriebsfremden Düngemitteln dominierte marktorientierte Viehwirt- war seither das zentrale Problem. Nieder- schaft mit hohem Grünlandanteil vor. In sachsen spielte zwar eine wichtige Rolle der Geest hingegen spielte der subsi- durch seine Kalivorkommen, große stenzorientierte Ackerbau eine viel grö- Lücken aber entstanden bei der Phos- ßere Rolle, und die soziale Zergliederung phor- und Stickstoffversorgung, die der Bevölkerung war nicht so breit. wegen der insgesamt schwierigen wirt- Gerade die als konservativ geltenden schaftlichen Lage während der Weimarer südoldenburgischen Geestbauern pass- Republik nicht ausgeglichen werden ten sich sehr rasch den sich wandelnden konnten. Die knappen Devisen wurden Marktbeziehungen an und trieben die für den Erwerb industrieller Rohstoffe Agrarmodernisierung vehement vor- ausgegeben oder von den Repara- wärts. Diese hieß in der Marsch Inten- tionsgläubigern beansprucht. 1920 lagen sivierung einer bereits hoch entwickelten die Hektarerträge bei den zentralen 118 Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Nahrungsmitteln Roggen und Kartoffeln der ausgehenden 1920er Jahre getroffen. unter denjenigen von 1900 und erreichten Märkte brachen zusammen, internatio- am Anfang der 1930er Jahre im nale Verflechtungen wurden zerstört, die Reichsdurchschnitt nur 1,8 t/ha für Produktion war rückläufig, und die Roggen und 18 t/ha für Kartoffeln. Arbeitslosigkeit nahm drastisch zu. Für Kaum deutete sich eine Norma- viele niedersächsische Betriebe bedeutet lisierung der landwirtschaftlichen Ver- der Ausgang der 1920er Jahre auch das hältnisse an, da verfielen Ende der 1920er Produktionsende. Jahre rasch die Agrarpreise durch ein Mitten in dieser Zeit liegen die so ge- Überangebot auf den internationalen nannten „Goldenen Zwanziger“. Der Agrarmärkten und, ausgelöst durch die Begriff kennzeichnet vorrangig die glit- Weltwirtschaftskrise, durch einen Kon- zernde großstädtische Massenkultur, und sumrückgang der Bevölkerung in den diese war speziell mit Berlin verbunden. Industriestaaten. Selbst im stark agrarisch Daher fand sie ihren niedersächsischen geprägten Niedersachsen war die Land- Ausdruck am ehesten in den größeren wirtschaft noch weit von einer internatio- Städten. Trotz aller ökonomischen Pro- nalen Wettbewerbsfähigkeit entfernt. Die bleme in den 1920er Jahren war eine Mechanisierung war gering. Die andau- Modernisierung der Wirtschaft nicht zu ernden Meliorationsmaßnahmen, vor al- übersehen. Blieben es zu Beginn des lem in den Mooren Westniedersachsens, Jahrhunderts die chemische und die schufen kaum leistungsfähige Neuhöfe. elektrotechnische Industrie, die Neue- Mitte der 1920er Jahre lag der Erwerbs- rungen brachten, so nahm nun der anteil der niedersächsischen Bevölkerung Dienstleistungsanteil zu. Mit den An- in der Landwirtschaft immer noch bei gestellten entstand eine neue soziale 38,5 %. Ein letztes Mal stieg in den Dör- Gruppe in den Städten. Die Berufs- fern der Anteil der Gewerbetreibenden. tätigkeit von Frauen, im Krieg allein als Heimgewerbe, wie bis weit in die Zeit der Ausgleich für nicht zur Verfügung ste- Industrialisierung hinein, hatte zwar kaum hende männliche Arbeitskraft stark ge- mehr eine Bedeutung, doch nahm die wachsen, war nach 1918 zunächst dra- Spezialisierung der einzelnen Berufe stisch rückläufig, stieg aber mit dem weiterhin zu. Industriell gefertigte Waren zunehmenden Bedarf an Büropersonal. drangen in immer größerer Menge in den Kaufhaus, Kino, sozialer Wohnungs- ländlichen Raum vor. bau, Autos, Sportveranstaltungen, Aus- Im industriellen Sektor unterlag Nie- flug ins Grüne: Hier zeigt sich eine neue dersachsen den allgemeinen Bedin- Urbanität, die den Stadt-Land-Gegensatz gungen. Die Währungs- und staatlichen nicht geringer werden ließ. In der bilden- Haushaltsprobleme waren nicht gelöst. den Kunst nahm Alexander Dorners Die Inflation von 1923 vernichtete die „Kabinett der Abstrakten“ im hannover- Geldvermögen. Die Reparationen und die schen Provinzialmuseum seit 1927 eine internen sozialen Auseinandersetzungen internationale Sonderstellung ein. In belasteten die Wirtschaft. Nach der Hannover wirkte der Maler und Schrift- Währungsreform von 1923/24 wuchs steller Kurt Schwitters (1887-1948), der in allerdings die Wirtschaft rasch. Die um- der NS-Zeit nach Norwegen bzw. England fangreichen Investitionen gingen aber zu emigrieren musste. Die von ihm kreierte Lasten einer zunehmenden Auslands- „Merzkunst“ im dadaistischen Sinne verschuldung. In dieser Situation wurde wollte Beziehungen schaffen zwischen al- Deutschland von der Weltwirtschaftskrise len Dingen der Welt. Als Basis diente ihm Konkurrieren (20. Jahrhundert) 119 die Technik der Collage für Bilder ebenso terungen der Marktsituation rasch zu. wie für Texte. In seinem Wohnhaus in Hitler, an agrarischen Fragen kaum inter- Hannover-Waldhausen entstand eine auf essiert, und die NSDAP, bislang primär die Etagen verteilte begehbare Raum- stadtbezogen agierend, sahen die politi- plastik, der 1943 im Krieg zerstörte sche Chance, mit geringem Einsatz Teile Merzbau. 1927 gründete Schwitters die der Landbevölkerung und der bäuerlichen Künstlergruppe „die abstrakten hanno- Organisationen für sich zu gewinnen. ver“. 1929 übertrug die Stadtverwaltung Im protestantischen, ländlich-kleinstädti- Hannover Kurt Schwitters die Gestaltung schen Milieu Niedersachsens fand der ihrer Formulare und Drucksachen. - „Das Nationalsozialismus frühe und ihn tra- Goldene“ war kurz, insgesamt gesehen gende Anhänger. Nichtsdestoweniger zeigten die 1920er Jahre in Niedersachsen wurde auf dem Lande in Durchmischung nur wenig hiervon. von Anpassung und Resistenz die milieu- gebundene Identität gewahrt. Die sich zu Anfang der 1930er Jahre Blut, Boden und Zerstörung anbahnende Kooperation der national- konservativen Parteien und Verbände mit In der preußischen Provinz Hannover der NSDAP manifestierte sich in Bad lag die Wählerschaft der NSDAP bereits in Harzburg am 11. Oktober 1931. Die den 1920er Jahren teils weit über dem selbsternannte „nationale Opposition“ Reichsdurchschnitt. In Braunschweig trat wollte die Demokratie stürzen. Eine die NSDAP schon 1930 in die Regierung Woche nach Formierung der „Harzburger ein. Hier wurde der Österreicher Adolf Front“ ließ Hitler in Braunschweig ca. Hitler zum Regierungsrat ernannt und so- 100.000 SA-Leute aus dem ganzen Reich mit eingebürgert. In Oldenburg übernahm aufmarschieren. die NSDAP 1932 mit einer absoluten Die Weltwirtschaftskrise hatte die Mehrheit die Regierungsgewalt. Seit der deutsche Wirtschaft mittlerweile stark ge- staatsstreichartigen Einsetzung am 20. Juli schädigt. Zu Beginn des Jahres 1933 wa- 1932 eines Reichskommissars in Preußen ren fast 8 Millionen Menschen arbeitslos. mit seiner bis dahin sozialdemokratischen Dies schwächte die politischen Organi- und Zentrumsregierung unterstand auch sationen der Arbeiterschaft. Als Hitler am die Provinz Hannover quasi einer Reichs- 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt aufsicht. Die Wahlergebnisse zu Beginn der wurde, war, trotz zuvor zurückgegangener dreißiger Jahre zeigen, wie rasch die kon- Wahlergebnisse, mit einer breiten Unter- servativen Wähler zur NSDAP übergingen stützung der NSDAP aus Niedersachsen zu und ihr breite Mehrheiten schufen. Aber in rechnen. Die systematische Zerstörung der den katholischen Gebieten Niedersachsens Presse und der Organisationen der politi- und auch dort, wo die SPD sehr stark war, schen Linken begannen auch in Nieder- blieb die Distanz zum NS-Regime größer, sachsen bereits im Februar 1933. Am 11. und vereinzelt regte sich Protest. Bei der April 1933 wurde der erste Häftling in das Reichstagswahl 1932 erhielt die NSDAP im KZ Moringen (bei Göttingen) eingewiesen. 77,8 %, im katholischen Die drei Emslandlager hatten binnen kur- Aschendorf und Vechta aber keine 9 %, zem ca. 4.000 Häftlinge, die Mehrheit aus und in Hannover konnte die SPD noch 43 der Arbeiterbewegung (Protestlied „die % bewahren. Moorsoldaten“). Hier war der überzeugte Ende der 1920er Jahre nahmen die Pazifist Carl von Ossietzky ab 1934 inhaf- bäuerlichen Proteste gegen Verschlech- tiert. Als er den Friedensnobelpreis für 1935 120 Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Wo Stadtobere sich nicht anpassten, wurden sie, so Oberbürgermeister Ernst Böhme in Braunschweig, verhaftet und gewaltsam zum Rücktritt gedrängt. Im ländlichen Raum gelang es der NSDAP nach der Machtübertragung 1933, mit den bekannten Praktiken und gegen nur fallweisen regionalen Widerstand Land- räte und Gemeindeverwaltungen gleich- zuschalten. Der Aufbau des Reichsnähr- standes durch Darré schuf einen um- fassenden Organisationsrahmen für die Landwirtschaft, doch löste dieser nicht die Probleme der Überschuldung, der Steuer- verweigerung, der Arbeitskräfteabwan- Wolfsburg geht auf die „Stadt des KdF-Wagens derung, ja der generell mangelnden bei Fallersleben“ zurück. Hitler legte 1938 den Marktanpassung. Das Reichserbhofgesetz Grundstein für das Volkswagenwerk. wurde von vielen Bauern als Hindernis für erhielt, wurde er unter internationalem eine sinnvolle Hofführung aufgefasst und Druck freigelassen, starb aber an den verschärfte die Entschuldungsprobleme. Folgen der Haft. Niedersachsen wurde ganz im Sinne der Da für viele anpassungsbereite Men- Heimatbewegung als „altgermanisches“ schen alsbald mit Verbesserungen der so- Bauernland gepriesen. Die wichtigen Blut- zialpolitischen Leistungen und Abnahme und Boden-Veranstaltungen der National- der Arbeitslosigkeit positive Änderungen sozialisten fanden in Niedersachsen statt: der Alltagssituationen eintraten und der der Reichsbauerntag in Goslar und das Mythos gepflegt wurde, die Deutsche Ar- Erntedankfest auf dem Bückeberg bei beitsfront hebe die Klassengegensätze Hameln. Auf tradierte historische Re- auf, konnte sich die große Mehrheit im- gionalität wurde hierbei nicht geachtet. mer weniger der Anziehungskraft des NS- Viel Verfolgung, aber im engeren Sinne Staates entziehen. Aus dem Kreis des in wenig Widerstand gab es in Niedersachsen. Verwaltung und Wirtschaft wichtigen Widerstand leistete am ehesten die politi- Bürgertums kam die Großzahl der sche Linke in den großen Städten. Auf dem „Märzgefallenen“, die rasch der NSDAP Lande und in den Kleinstädten blieb allein beitraten. Die Mehrzahl der Menschen er- eine gewisse Renitenz gegen als unsinnig lag dem Hitlermythos und ließ sich von erachtete Maßnahmen. Die katholischen kurzfristigen innen- und außenpolitischen ländlich-kleinstädtischen Milieus erwiesen Erfolgen blenden, während die Unter- sich am resistentesten. Die evangelischen drückung von Minderheiten, die Diskrimi- Kirchen schlossen sich dem neuen System nierung der Juden und, seit der Autarkie- mit hoher Anpassungsbereitschaft und nur politik, die Vorbereitung des Zweiten geringen Ausnahmen an. Generell überwo- Weltkrieges bereits mitten in den 1930er gen bei weitem die Zustimmung und das Jahren begannen. Über die Zwangs- Mitmachen. Der stetig ausgebaute Über- mechanismen des Staates, die einge- wachungs- und Verfolgungsapparat tat das schränkte Meinungsfreiheit und die zu- Seine hierzu. nehmende Bespitzelung wurde hinweg- Mit dem Gesetz über den Neuaufbau geblickt. der Länder wurde die Eigenstaatlichkeit von Konkurrieren (20. Jahrhundert) 121

Oldenburg, Braunschweig und Schaum- von Importen unabhängiger zu werden, burg-Lippe beendet. Als Verwaltungs- sollten die wenig ergiebigen Eisenerze des einheiten blieben die drei Länder ebenso Raumes ausgebeutet werden. Im Ende wie die preußische Provinz Hannover be- 1937 begonnenen Hüttenwerk wurde stehen. Die NSDAP-Parteigaue Osthan- 1940 der erste Hochofen betrieben. Auch nover, Südhannover-Braunschweig und hier arbeiteten auf die Dauer in der weit- Weser-Ems sowie Westfalen Nord (mit bei- aus größten Zahl Zwangsarbeiter, und die den Teilen Schaumburgs) übernahmen zu- städtebauliche Neuordnung kam in der nehmend politische Aufgaben. Cha- NS-Zeit nicht voran. rakteristisch für den NS-Staat war die Von den ca. 15.000 Juden im Gebiet Vermischung von Leitungskompetenzen Niedersachsens haben fast nur die weni- und die Konkurrenz zwischen Organisa- gen überlebt, die vor der Massen- tionen, die keine klaren Entscheidungs- vernichtung Deutschland haben verlassen strukturen schufen und daher einem klei- können. Die Mehrheit der Juden lebte in nen Kreis, letztlich Hitler, alle Freiräume den Städten, in den Viehzuchtgebieten beließen, ohne, so im Fall des Massen- Westniedersachsens häufiger aber auch mordes an Juden, eigentliche Befehle ertei- im ländlichen Raum. Obwohl hier eine len zu müssen. Eine neue regionale lange gute Kooperation zwischen Bauern Gliederung blieb im Wesentlichen aus. und jüdischen Viehhändlern bestanden Allein das „Groß-Hamburg-Gesetz“ von hatte, fügte sich die Landbevölkerung der 1937 schlug Harburg dem erweiterten beginnenden Judenvernichtung. Überall Hamburg zu. Das alte Amt Ritzebüttel mit in den Städten brannten auch in Nieder- dem hamburgischen Cuxhaven kam an sachsen am 9./10. November 1938 die Hannover, Wilhelmshaven an Oldenburg. Synagogen. Der sozialen und religiösen Die heutigen Städte Wolfsburg und Diskriminierung schloss sich wirtschaftli- Salzgitter gehen auf Neugründung bzw. che Ausplünderung der Juden an. Das un- Zusammenlegung während der NS Zeit würdige Leben in so genannten Juden- zurück. Die „Stadt des KdF-Wagens bei häusern begann und dann ab 1941 die Fallersleben“, das spätere Wolfsburg, ver- Deportation mit dem Massenmord in den dankt vermutlich Hitlers persönlicher Vernichtungslagern: der Holocaust. Entscheidung ihre Entstehung. Hier sollte Mit dem großen Truppenübungsplatz der von Ferdinand Porsche konzipierte bei Munster, den anfänglichen NS- Volkswagen, für den alsbald 300.000 Vorzeigeobjekten Wolfsburg und Salz- Bürger sparten, gebaut werden. Um gitter, seinen wenigen, aber kriegswirt- das an Mittellandkanal, Ost-West-Bahn- schaftlich wichtigen Industriestandorten strecke und neukonzipierter Autobahn und mit seinen großen Landwirtschafts- gelegene Werk war eine nach NS-Vor- gebieten war Niedersachsen eng mit der stellungen musterhaft entworfene Groß- Vorbereitung des Krieges, der Rüstung siedlung geplant. Die 1938 beginnenden und der Versorgung verbunden. Anders Bauarbeiten kamen aber bis auf zwei grö- als während des Ersten Weltkrieges war ßere Baukomplexe in der heutigen Stadt die Nahrungsmittelversorgung ab Kriegs- Wolfsburg und über die Fabrik nicht hin- beginn 1939 relativ gut geplant, so dass aus. Mit Kriegsbeginn wurde das Werk trotz aller Mängel in der Durchführung Rüstungsbetrieb, das viele tausend der Kriegswirtschaftsverordnung die Zwangsarbeiter beschäftigte. Von Beginn niedersächsische Landwirtschaft wesent- an für die Rüstung waren die „Hermann- lich half, den Krieg zu ernähren. Aus- Göring-Werke“ in Salzgitter geplant. Um ländische Arbeitskräfte wurden alsbald 122 Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Nach einem Fliegeralarm verlassen Stadtbewohner den Luftschutzbunker (Foto aus Oldenburg 1945). zwischen rücksichtloser Ausbeutung und haben. In Hannover waren es allein 45.000 verhaltener Toleranz als notwendig im ein- Menschen, im Gau Weser-Ems insgesamt zelnen landwirtschaftlichen Betrieb ak- 100.000. Die Rüstungsindustrie wäre ohne zeptiert. Vor allem die altindustrialisierten diese ausbeuterischen, oft menschen- Städte, voran Hannover und Braun- verachtenden Knechtschaftsarbeitsverhält- schweig, trugen zur Kriegsvorbereitung nisse schon längst zusammengebrochen. bei. Hier profitierten Industrie und zulie- Während der letzten drei Kriegsmonate fernde Gewerbe von der Rüstungswirt- fanden allein im Lager Bergen-Belsen wohl schaft. Mit zunehmender Kriegsdauer 34.000 Menschen den Tod. Wenig verbrei- wurden immer mehr arbeitsfähige Men- tet ist die Tatsache, dass wahrscheinlich bis schen aus Ostmittel- und Osteuropa de- zu 100.000 russische Kriegsgefangene in portiert und in der Industrie eingesetzt. Ab Niedersachsen gestorben sind, die Mehr- 1942 wurden die KZs in den Dienst der zahl verhungerte in unwürdigsten Kriegs- Wehrwirtschaft gestellt. Niedersachsen ist gefangenenlagern unter freiem Himmel. durchsetzt von einer Vielzahl von Ar- Die große Mehrheit der angepassten beitslagern und KZ-Außenlagern, die im Menschen in Stadt und Land bemerkte seltensten Fall abgeschieden lagen, son- von 1939 bis 1941 noch wenig vom Krieg. dern den Menschen in Stadt und Land be- Propaganda und das Bestreben, so viel kannt waren. Normalität wie möglich im Alltagsleben zu Die Zahl der Zwangsarbeiter und bewahren, prägte die politisch gesteuerte Kriegsgefangenen, die in Rüstungsindus- Stimmung. Die ersten Bombenangriffe trie, Landwirtschaft, auf Baustellen, in der Alliierten 1940 wurden systematisch Stadtverwaltungen usw. arbeiteten, dürfte bagatellisiert. Am 10. Februar 1941 aber am Kriegsende bei fast 600.000 gelegen wurde Hannover Opfer des ersten großen Konkurrieren (20. Jahrhundert) 123

Luftangriffs auf eine deutsche Großstadt, Kontinuität zwischen 1943 war Hannover bereits großflächig Zusammenbruch und Neuanfang zerstört. Braunschweig 1944. Von Westen her rückten die alliierten Überleben - das allein stand zunächst Truppen vor und erreichten am 10. April im Mittelpunkt. Viele Menschen waren zu- 1945 Hannover, am 12. April Braun- dem psychisch schwer geschädigt. Ver- schweig. Am 30. April beging Hitler in meintlich brave Familienväter hatten sich Berlin Selbstmord. Am 15. April wurde an der Front oder in Lagern als brutale das KZ Bergen-Belsen befreit. Den Siegern Mörder gezeigt. Andere Männer konnten zeigte sich ein erschütterndes Bild von ihre schlimmen Leiden und Erfahrungen Gewaltexzessen, Menschenverachtung aus Krieg- oder Gefangenschaft nie verar- und Tod. Am 4. Mai nahm Feldmarschall beiten. Viele vor und im Krieg geborene Montgomery bei Lüneburg die Teilka- Kinder erlebten fortan eine „vaterlose pitulation der Wehrmacht am britischen Gesellschaft“. Frauen waren von Flucht, Frontteil entgegen, am 9. Mai war der mangelnder Aufnahmebereitschaft oder Krieg mit der Gesamtkapitulation Bombennächten traumatisiert. Am wenig- Deutschlands zu Ende. Etwa 300.000 sten waren die Bewohner der ländlichen Soldaten aus dem niedersächsischen Räume und der Kleinstädte vom Krieg in Gebiet waren im Krieg gestorben oder Mitleidenschaft gezogen worden. Zer- galten als vermisst, 132.000 Männer wa- störungen blieben hier gering, doch star- ren in russischer Kriegsgefangenschaft. ben auch aus diesen Gebieten viele Wohl 15.000 Menschen waren in den Männer im Krieg. Am meisten hatten die Städten Opfer des Bombenkrieges gewor- Städte gelitten. Emden war zu 74% zer- den. Fast alle Juden Niedersachsens wa- stört, Wilhelmshaven zu 62%, Osnabrück ren ermordet worden. Niedersachsen zu 55%, Hannover und Braunschweig zu hatte, so sagte der Pfarrer, SPD-Minister in 52%, Hildesheim zu 43%. Zu Kriegsende Niedersachsen und spätere Berliner lebten 600.000 Evakuierte aus den nieder- Bürgermeister Heinrich Albertz im Jahr sächsischen Großstädten, aus dem 1953, ca. 640.000 Kriegsopfer auf allen Ruhrgebiet, Hamburg und Bremen im länd- Seiten zu beklagen. lichen Raum Niedersachsens.

Emden, hier das Rathaus am Delft, war die am schlimmsten im Zweiten Weltkrieg zerstörte Stadt Niedersachsens. 124 Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Das Land Niedersachsen entstand 1946 aus den Ländern Oldenburg, Schaumburg-Lippe, Hannover und Braunschweig.

Es gab keine „Stunde Null“. Die zurückkehren und den demokratischen Menschen, die den Krieg selbst in seinen Neuaufbau gestalten. unsinnigsten Jahren getragen hatten, dieje- Die Infrastruktur war zerstört, die nigen, die den Nationalsozialismus trotz sei- Versorgung der Menschen bedroht, die ner ungeschminkten Inhumanität unter- Arbeitslager und KZs wurden aufgelöst. In stützt hatten, machten weiter. Viele wollten einer solchen Situation mussten Chaos, nicht eingestehen, dass sie in einem Teil ih- Anarchie und Rache verhindert werden. res Lebens ethisch und moralisch versagt Dies gelang nicht zuletzt durch den Auf- hatten. Viele waren als junge Menschen bau einer straffen Militärverwaltung der wie selbstverständlich in das NS-System Alliierten. Der niedersächsische Raum ge- hineingewachsen, von ihm geprägt, stan- hörte zur britischen Besatzungszone, Bre- den ohne Perspektive und suchten neue men und Bremerhaven zur amerikani- Orientierung. Etliche sahen aber auch die schen. Die in großer Zahl neu eingesetzten Chance zu einem Neuaufbau in Demo- Leitungspersonen waren vom Bürger- kratie und Humanität und setzten sich kri- meister bis hinauf zum Oberpräsidenten tisch mit ihrer nahen Vergangenheit ausein- allein ausführende Organe ohne eigene ander. Manche konnten aus dem Exil Entscheidungskompetenz. Die Demokra- Konkurrieren (20. Jahrhundert) 125

Manche der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge konnten wenigstens einen Teil ihrer Habe mit in den Westen bringen (Foto aus Vegesack, 27. März 1945). tisierung sollte von unten geschehen, be- Das Bundesland Niedersachsen ent- gann daher in den Kommunen. Nach bri- stand 1946 keineswegs aus dem Nichts. tischem Vorbild wurde die Trennung in Zumindest seit dem Ausgang des 19. hauptamtliche Verwaltungsleitung (Ge- Jahrhunderts war manches vorbereitet meindedirektor) und ehrenamtliche Rats- worden, so dass sich der Sozialdemokrat repräsentation (Bürgermeister) eingeführt Hinrich Wilhelm Kopf als Oberpräsident, und auch auf die Landkreise übertragen. später Ministerpräsident für Hannover in Im September und Oktober 1946 fanden Anlehnung an die deutsch-hannoversche die ersten Kommunalwahlen statt. politische Bewegung im Laufe des Jahres Bereits im Mai 1945 hatte Kurt Schu- 1945 bereits soweit durchzusetzen ver- macher sein sozialdemokratisches Büro in mochte, dass ein „Gebietsrat Nieder- Hannover eröffnet. Am 6. Oktober 1945 sachsen“ für die noch eigenständigen trafen sich Vertreter der wieder belebten Länder und die hiesigen Provinzen des SPD in Wennigsen am Deister zur ersten aufgelösten Landes Preußen eingerichtet überregionalen Konferenz. Auch die wel- wurde. Braunschweiger Pläne für ein ver- fische politische Bewegung formierte sich größertes Land im Südosten scheiterten als Niedersächsische Landespartei, später ebenso wie entsprechende Oldenburger Deutsche Partei. CDU und FDP entstan- Vorhaben für den Nordwesten. Bremen den im bürgerlichen-christlichen und bür- und Bremerhaven standen nicht zur Dis- gerlich-liberalen Spektrum neu. Die alten position. Ergebnis langer Verhandlungen Länder im Gebiet Niedersachsens ein- war nach manchen zähen Widerständen schließlich der zuvor preußischen Provinz die am 23. November 1946 verkündete Hannover blieben in ihren alten Grenzen und ab 1. November rückwirkend gültige im Wesentlichen bestehen. In ihnen wur- Verordnung Nr. 55 der britischen Mili- den ebenfalls noch 1945 Minister- tärregierung: Aus den Ländern Olden- präsidenten und 1946 Landtage einge- burg, Schaumburg-Lippe, Braunschweig setzt. und Hannover wurde das Land Nie- 126 Konkurrieren (20. Jahrhundert) dersachsen mit seiner Hauptstadt Han- Lager Bergen-Belsen in einem eigenstän- nover gegründet. Der eingesetzte Landtag digen Gemeinwesen ihr Dasein, bis eine konstituierte sich am 9. Dezember 1946 Großzahl von ihnen in den neugegründe- und wählte den bisherigen hannover- ten Staat Israel reisen konnte. Viele schen Ministerpräsidenten Hinrich Wil- Zwangsarbeiter, die noch 1945 in ihre ost- helm Kopf zum ersten niedersächsischen europäische Heimat zurückkehrten, er- Ministerpräsidenten. Dieser bildete ein wartete dort die Erfahrung des Verlusts Allparteienkabinett wie auch nach der er- der sozialen Anbindung und erneute sten Landtagswahl am 20. April 1947. Unterdrückung unter dem Vorwurf der Unter dem Stichwort „reeducation“ Kooperation mit den Nationalsozialisten. lief parallel die bis 1950 durchgeführte Niedersachsen folgte in der prozentua- Entnazifizierung. Als diese von deutschen len Aufnahme von Heimatvertriebenen Spruchkammern übernommen wurde, und Flüchtlingen unmittelbar Schleswig- gab es in vielen Fällen ein gegenseitiges Holstein und Bayern. Fast 2,2 Millionen Reinwaschen („Persilschein“), zumal sich Menschen, ca. ein Drittel der Bevölkerung rasch zeigte, dass auf Fachkräfte, die dem Niedersachsens, waren im Jahr 1947 als alten Regime gedient hatten, nicht ver- Flüchtlinge oder Evakuierte registriert. Die zichtet werden konnte. Noch 1945 öffne- Mehrzahl kam aus Schlesien, gefolgt von ten Schulen und Hochschulen wieder ihre Ostbrandenburg/Ostpommern und Ost- Tore. Gerade im Schulsektor gelang unter preußen. Wegen der Zerstörung der grö- Einsatz von bereits in der Weimarer Repu- ßeren Städte lebten zwei Drittel in blik aktiven Pädagogen um den nieder- Gemeinden unter 5.000 Einwohnern. sächsischen Kultusminister Adolf Grimme Heinrich Albertz, seit 1948 Minister für eine Neuorientierung. Demokratisch lizen- Flüchtlingsangelegenheiten, machte sich sierte Medien wurden begründet, darun- keine Illusionen, wenn er die Überfrem- ter in Hannover die so bekannten Zeit- dungsängste der Landbevölkerung kriti- schriften „Stern“ und „Spiegel“. sierte und immer wieder gleiche Lebens- Die Einwohnerzahl Niedersachsens er- bedingungen für Heimatvertriebene und höhte sich von 1939 mit 4,5 Millionen Flüchtlinge im Vergleich zur ländlich-klein- Menschen auf 6,2 Millionen im Oktober städtischen Stammbevölkerung forderte. 1946. Die weitaus größte Menge der Gerade dort, wo wenig Erfahrung mit Bevölkerungszunahme stellten die Flücht- sich wandelnden Arbeitsverhältnissen und linge ab Winter 1944 und die Heimat- sozialer Fluktuation bestand, war die vertriebenen 1945 und 1946. Viele ließen Bereitschaft der Stammbevölkerung ge- sich in der Hoffnung, bald wieder zurück- ring, den Heimatvertriebenen und Flücht- kehren zu können, im Osten Nieder- lingen erträgliche Lebensverhältnisse zu sachsens nieder. Nur die wenigsten fan- gewähren. Wer nicht plattdeutsch sprach, den angemessene Unterkünfte. Die war in vielen Teilen des ländlichen Raumes Vielfachbelegung von Häusern, Woh- zunächst einmal ausgeschlossen. Hinzu nungen und Baracken unter Zurück- kamen unterschiedliche Alltagsbräuche drängung jeglicher Privatheit war Alltag. bis hin zu konfessionellen Konflikten. Noch im Sommer 1947 wohnten ca. Anfänglich rückten Heimatvertriebene 300.000 Menschen in Wohnlagern, noch und Flüchtlinge am ehesten in Arbeitsver- 1950 wurde der Fehlbedarf an Woh- hältnisse nach, die auf dem Lande wäh- nungen mit 730.000 beziffert. Zur selben rend des Krieges von Fremdarbeitern er- Zeit fristeten bis zu 13.000 Überlebende bracht worden waren. Noch 1950 lag der des Holocausts nahe dem ehemaligen Anteil an Arbeitern unter den Heimat- Konkurrieren (20. Jahrhundert) 127 vertriebenen und Flüchtlingen bei drei noch nicht abzusehen, als im März 1946 Vierteln, im Falle der Stammbevölkerung blumengeschmückt der 1.000 Volkswagen aber bei kaum mehr als einem Drittel. das Werk verließ. Auch Hannovers Zusage, Doch waren Motivation und Wille zur auf einem ehemaligen Rüstungsindus- Wiedererlangung einstiger sozialer Posi- triegelände bei Laatzen 1947 eine erste tionen groß. Industriemesse durchzuführen, ließ die spä- Demontagen der Industrien, insbeson- tere Bedeutung dieser Veranstaltung noch dere in Wilhelmshaven und Salzgitter, re- nicht ahnen. Nach der Währungsreform duzierten die ohnehin raren Arbeitsplätze stieg die Arbeitslosenquote kurzzeitig auf zusätzlich. Die Ernährungslage und die 22%, und im Landtag fanden sich keine Versorgung mit Brennstoff blieben prekär. Mehrheiten für grundlegende gesell- Im Frühjahr 1948 stellte sich Minister- schaftspolitische Reformen. präsident Kopf an die Spitze eines Evakuierte und nach Kriegszerstörung „Hungermarsches“ der hannoverschen ihres Wohnraumes auf das Land geflohene Metallarbeiter zum britischen Haupt- Städter versuchten so rasch wie möglich in quartier. Erst im Zusammenhang mit der ihren Wohnort zurückzukehren. Sie verlie- Währungsreform am 21. Juni 1948 endete ßen als erste die Dörfer und Kleinstädte. die Bewirtschaftung der Lebens- und Heimatvertriebenen und Flüchtlingen war Versorgungsmittel. Die Entscheidung briti- dies verwehrt. Sie organisierten sich daher scher Offiziere, im Volkswagenwerk nicht nicht nur vor Ort, sondern schufen sich mit nur Reparaturen durchführen, sondern dem BHE (Block der Heimatvertriebenen auch den später so benannten „Käfer“ und Entrechteten) eine eigene politische bauen zu lassen, war eine für Nieder- Partei, die bei ihrer ersten Beteiligung an sachsen ungemein bedeutende Weichen- den Landtagswahlen 1951 ca. 15 % der stellung. Der künftige Erfolg war freilich Stimmen gewann. 1963 schied der BHE be-

Die Mehrheit der Heimat- vertriebenen und Flücht- linge ließ sich im öst- lichen Teil Niedersach- sens nieder. 128 Konkurrieren (20. Jahrhundert) reits aus dem Landtag aus. Die mittlerweile dervereinigung halfen, an Traditionen an- voranschreitende Integration der Heimat- zuknüpfen, stellen aber die Gebiete, für vertriebenen und Flüchtlinge war dem die eine Zonenrandförderung nun entfiel, Wirtschaftswachstum zu verdanken. Allen vor neue Herausforderungen. anderen Orten voran beruht Wolfsburgs Die regionale Vielfalt Niedersachsens Wachstum und der Erfolg des VW-Werkes blieb trotz der vielen Veränderungen der auf dem Zuzug und der Arbeitskraft von Nachkriegszeit in alter Form bestehen. Heimatvertrieben und Flüchtlingen. Sobald Gerade in den Gebieten, die sich einst Heimatvertriebe und Flüchtlinge aber den vom hannoversch-welfischen und vom ländlichen Raum verließen, fehlten dort bil- preußischen Einfluss hatten freihalten lige Arbeitskräfte, und schon aus diesem können, voran in Oldenburg und in Grund nahm der Zwang zur Mechani- Schaumburg-Lippe, hielt die Sorge vor ei- sierung zu. 1948 wurden in Niedersachsen ner zentralisierenden Vereinnahmung an. ca. 14.000 Traktoren gezählt, 1961 waren Oldenburg und Braunschweig waren zu- es fast 125.000. nächst immerhin eigenständige Verwal- tungsbezirke. Von den sechs zur späteren Abstimmung gelangenden Volksbegehren Konkurrieren - über die Neugliederung des Bundes- Beharrung versus Modernität gebietes waren 1956 die beiden aus Niedersachsen erfolgreich, eben diejeni- Mit der fast 550 km langen Grenze zur gen aus Oldenburg und Schaumburg- sowjetischen Besatzungszone, dann DDR, Lippe. In den abschließenden Volksent- hatte Ostniedersachsen bis 1989 einen scheiden von 1975 stimmten in Olden- Teil seines Hinterlandes verloren. Zusam- burg 31,0 % und in Schaumburg-Lippe mengehörige Orte oder Regionen waren 39,5 % der Abstimmungsbeteiligten für getrennt. Hiervon war insbesondere der die Wiederherstellung eigener Länder. Landkreis Lüchow-Dannenberg nachteilig Dies reichte nicht aus, um eine entspre- betroffen. Immerhin konnte die Zonen- chende Entscheidung des Bundestages randförderung manchen wirtschaftlichen herbeizuführen, jedoch half es, über die Ausgleich leisten. Die Öffnung der DDR- Traditionsbestimmungen der vorläufigen Westgrenze und die anschließende Wie- niedersächsischen Verfassung hinaus, Einrichtungen kultureller Eigenständigkeit in beiden Landesteilen zu fördern. So ist Niedersachsen weiterhin kein „Zentral- staat“. Vielmehr können die regionalen kulturellen Spezifika von Ostfriesland bis zum Eichsfeld weiterhin gepflegt werden. Das Wirtschaftswachstum zur Zeit der jungen, 1949 gegründeten Bundes- republik Deutschland verlief in Nieder- sachsen langsamer als im Durchschnitt. Dies lag nicht zuletzt an der stark land- wirtschaftlichen Prägung. 1960 waren in Niedersachsen immer noch ca. 20% der Die Grenze zwischen der britischen und sowje- Erwerbspersonen in der Landwirtschaft tischen Besatzungszone zerschnitt traditionelle tätig, im Bundesgebiet nur 14%. Regio- Verbindungen Niedersachsen nach Osten. nale Förderung des ländlichen Raumes Konkurrieren (20. Jahrhundert) 129

In den 1960er Jahren nahm die Mechanisierung der Landwirtschaft rasch zu. Der traktorgezogene Mähdrescher bestimmte das Bild der Getreideernte. war daher stets von besonderer Bedeu- Problemen wie in den hannoverschen tung. Als großer Erfolg gilt der Vororten Mühlenberg oder Vahrenheide. Emslandplan, der über Jahrzehnte erheb- Allmählich reichte im phasenhaft anhal- liche Strukturverbesserungen im Süd- tenden Wirtschaftswachstum das Angebot westen Niedersachsens schuf. Küsten- der vorhandenen Arbeitskräfte trotz anhal- saum und Zonenrandgebiet erhielten spe- tender Landflucht nicht mehr aus. Auch in zielle Förderungen. Ebenso diente die den niedersächsischen Städten wurden aus kommunale Gebiets- und Verwaltungs- strukturschwachen Gebieten des mediter- reform in der Mitte der 1970er Jahre der ranen Raumes Arbeitskräfte angesiedelt, Effektivierung lokaler und regionaler die überwiegend zunächst einfachere und Strukturen, rief aber in vielen, sich im schlechter bezahlte Tätigkeiten überneh- Verlust ihrer Autonomie als vereinnahmt men mussten. fühlenden Gemeinden langwährendes In der Struktur der politischen Parteien Unverständnis hervor. zeigte sich in den 1950er Jahren zunächst In den Städten war bis zum Ende der ebenfalls ein langes Beharren. Der 1960er Jahre die Wohnungsnot allmählich Deutschen Partei gelang es aber nicht, gemildert. An den Rändern der Städte wa- sich dauerhaft auf Bundesebene zu eta- ren große Neubausiedlungen entstanden, blieren. Viele ihrer Vertreter wechselten die am Ende der 1960er Jahre monumenta- Anfang der 1960er Jahre zur CDU. Damit len Charakter annahmen. Solche Planun- hatte die „deutsch-hannoversche“ politi- gen waren im vorherrschenden Wirt- sche Bewegung kein wirksames politi- schaftsoptimismus gediehen. Die infra- sches Sprachrohr mehr. Desgleichen strukturellen Einrichtungen folgten oft schlossen sich viele Vertreter des BHE der nicht oder wurden im Rahmen von räum- CDU an. Die CDU verlor damit die enge licher Funktionsteilung gar nicht geplant. Anlehnung an den politischen Katho- Dies führte zu entsprechenden sozialen lizismus und öffnete sich den protestan- 130 Konkurrieren (20. Jahrhundert) tisch-bürgerlichen Wählern. Rechtsradi- hannoverschen Wendland verbunden. kale Parteien von der SRP der Nach- 1969 lag das Pro-Kopf-Einkommen in kriegszeit bis zur NPD Ende der 1970er Niedersachsen noch immer 11,3% niedri- Jahre fanden immer wieder Zulauf. Die ger als im Bundesdurchschnitt, und es wa- FDP entfernte sich allmählich von natio- ren noch 14% der Erwerbspersonen in der nalliberalen Traditionen. In der SPD, bis Landwirtschaft tätig im Gegensatz zu Mitte der 1970er Jahre stärkste politische 10% im Bundesdurchschnitt. Unter den Kraft, spielte die Klientel aus dem traditio- konjunkturell guten Bedingungen seit nellen Arbeitermilieu eine zunehmend ge- Ausgang der 1960er Jahre wurden viele ringere Rolle zugunsten akademisierter Reformplanungen für Bildung, Infra- Gruppen. Seit Mitte der 1970er Jahre eta- struktur und Wirtschaft formuliert. Hierzu blierten sich ökologische Protestbewe- gehört die Gründung der Universitäten gungen als Partei der Grünen. Ihr Aufstieg Oldenburg und Osnabrück ebenso wie die ist gerade in Niedersachsen mit dem genannte kommunale Gebiets- und Widerstand gegen die Zwischen- und Verwaltungsreform. Endlagerung von atomarem Abfall im Zugleich setzte mit der Individual-

Ländliche Räume und wenige Oberzentren prägen Niedersachsen (Landesraumordnungsprogramm 1994). Konkurrieren (20. Jahrhundert) 131 motorisierung eine Umkehr der Stadt- Wilhelmshavens als Marinestandort mit Land-Migration ein. Immer mehr Städter Ansiedlung neuer Industrien auszuglei- zogen hinaus aufs Land, um dort den chen, scheiterten letztlich. Niedersachsen Wunsch nach einem Einfamilienhaus zu verzeichnete 1983 schon wieder eine verwirklichen. Die Dörfern besaßen mitt- Arbeitslosenquote von 11,3%. lerweile nicht nur Elektrizität, sondern Allen voran dem Automobilbau mit sei- auch Wasserleitung und Kanalisation, und nen Zuliefererindustrien hat Niedersachsen die Mechanisierung der Landwirtschaft zu verdanken, dass ein ökonomischer nahm rasch zu. Die Löhne in der Land- Rückfall ausblieb. Ohne den Volkswagen- wirtschaft konnten mit denjenigen der konzern wäre Niedersachsen ein weitaus Industrien nicht mithalten, zumal VW ärmeres Land. Damit ist Niedersachsen neue Werke in Hannover und Emden aber auch abhängig vom Wohlergehen der gründete. Staatliche Förderungen halfen, Automobilindustrie. Daneben verhieß ein die seit den Agrarreformen im Wesent- zweiter Sektor zunehmende Expansion, lichen unveränderten Fluren neuzuordnen nämlich derjenige der Dienstleistungen. (Flurbereinigung) sowie Wege- und Gra- Hier konnte zunächst Braunschweig von bensysteme anzulegen. Seit den 1970er seinen wissenschaftlichen Einrichtungen Jahren war klar, dass im ländlichen Raum profitieren und Hannover von der äußerst immer weniger Höfe in der stetig kapital- günstigen Verkehrslage, erst recht seit dem intensiveren Landwirtschaft würden mit- Fortfall der innerdeutschen Grenze. Für halten können. Aufgrund der wachsen- Hannover erwies sich vor allem die Indus- den städtischen Konkurrenz gaben triemesse mit ihren vielen Folgeausstellun- parallel dörfliche Handwerksbetriebe und gen bis hin zur weltgrößten EDV-und Com- Einzelhandelsunternehmen auf. Vorran- puterfachmesse von herausragender Be- gig im Ring um die größeren Städte wur- deutung. Ohne diese Vorbereitungen hätte den die Dörfer zunehmend zu Wohn- Hannover nicht im Jahr 2000 Standort der Pendler-Orten, in denen die Freizeit- Weltausstellung sein können. Das Kon- Feierabend-Gemeinschaft der städtisch kurrieren zwischen den Regionen zeigte für sozialisierten Neubürger dominierte. Von Niedersachsen manche Erfolge. dieser so genannten Suburbanisierung Viele Umstrukturierungen in Wirtschaft profitierten vornehmlich mittlere Orte, und Dienstleistungen deuteten sich in den die, oftmals als Hauptorte der vergrößer- 1970er Jahren an. Der CDU-Ministerpräsi- ten Gemeinden, das Handels- und Dienst- dent Ernst Albrecht verstand es, die Mo- leistungsangebot verbessern konnten. dernisierungen mit den kulturellen Tradi- Gleichzeitig verloren die traditionel- tionen in Niedersachsen zu verknüpfen. In len, auf heimischen Rohstoffen basieren- den 1980er Jahren zeigten sich aber die in- den Industrien an Bedeutung. Der Kohle- neren Widersprüche immer deutlicher. Die bergbau im und am Rande des Berg- und Anti-Atomkraft-Bewegung war letztlich er- Hügellandes kam ebenso zum Erliegen folgreich, als der Ministerpräsident 1987 wie der Erzbergbau am Rammelsberg. Die eingestehen musste, dass die Gesamtkon- Eisenverarbeitung in und bei Peine sowie zeption von Zwischen- und Endlager im Salzgitter erlitt Einbußen. Bald zeigte sich, Wendland nicht durchzusetzen sei. Auch dass auch der Kalisalzabbau nur noch an rief die rasche Umgestaltung des länd- wenigen Standorten konkurrenzfähig lichen Raumes durch Flurbereinigung, Zer- war. Werftindustrie, wie in Emden, oder siedlung der Fläche oder Zerstörung histori- Fischerei, wie in Cuxhaven, litten unter scher Bausubstanz immer mehr Kritiker auf Einbußen. Die Versuche, die Verluste den Plan. Die Heimatbewegung, die ihre 132 Konkurrieren (20. Jahrhundert)

Nähe zur Vorbereitung des Nationalso- erhofften Modernitätsschub gebracht. Die zialismus nicht hatte leugnen können und Chancen, die durch die EXPO 2000 hätten zu vergreisen drohte, erhielt Zulauf von jün- entstehen können, wurden von vielen nicht geren, sozial und ökologisch interessierten gesehen. Das im 20. Jahrhundert in Nie- Menschen. Vielerorts entstanden Ge- dersachsens charakteristische Konkurrieren schichtswerkstätten, die das bedrohte lo- im Modernisierungsprozess war nur partiell kale historische Erbe zu retten gedachten. erfolgreich. Anders als die Bundesländer im Stadtsanierung und Dorferneuerung hie- Westen und Süden Deutschlands mit ihren ßen fortan immer weniger Abreißen und traditionell großen Gebieten an Industrien Neubauen, sondern wurden unter denk- und Dienstleistungen, anders auch als die malpflegerischen und erhaltenden Argu- vom starken Nachholbedarf geprägten menten neu gedacht. Auf diese Weise blieb neuen Bundesländer, ist für Niedersachsen die Hamelner Altstadt ebenso erhalten wie weiterhin das Spannungsfeld von Beharren so manches Rundlingsdorf im hannover- versus Modernität charakteristisch. Viel- schen Wendland. leicht ist dies ein nützliches Zukunfts- Die 1990er Jahre haben nicht den oft potential.

Zur EXPO 2000 war die Welt in Hannover zu Gast (Foto: Martin Stöber). Zukunftspotentiale im historischen Gefüge 133 Zukunftspotentiale im historischen Gefüge

Niedersachsen ist schön. Es hat faszi- gebundene Milieus sich selbst bei internem nierende Landschaften, mit Ausnahme Wandel als stabil erweisen, so neigen diese des Hochgebirges alle, die Deutschland zu zur Ausgrenzung anderer, als fremd bewer- bieten hat. Große Teile Niedersachsens teter Milieus: Abschottung ist nicht nur sind landwirtschaftlich und forstwirt- „Schuld der Fremden“. Die Beharrungs- schaftlich genutzte Flächen, die mannig- kraft gegenüber dem als fremd Einge- fache Elemente traditioneller Kulturland- stuften verlangt korrespondierend dazu die schaft bewahrt haben. Viele Dörfer und allmähliche Anpassung der „Neuen“ an die Kleinstädte pflegen trotz des Subur- „Alten“ und trägt zur relativ geringen banisierungsprozesses die Charakteristika Weiterentwicklung des Tradierten bei. Dies ihrer früheren Erscheinungsbilder. Selbst hat sich bei der schleppenden, aber letztlich für die größte Stadt, Hannover, wird von erfolgreichen Integration der Heimatver- Externen die Überschaubarkeit gelobt. triebenen und Flüchtlinge gezeigt. Der Küste und dem Harz bieten sich Sie waren für den wirtschaftlichen Auf- wegen ihrer landschaftlichen Besonder- schwung unverzichtbar, haben das kultu- heiten gute Möglichkeiten zur Opti- relle Leben bereichert, sie und ihre Nach- mierung der touristischen Potentiale. fahren sind aber heute Niedersachsen und Über die Systemumbrüche hinweg gilt in die Traditionen der niedersächsischen Niedersachsen als ein Land, in dem die tra- Orte und Regionen eingebunden. Dies lässt ditionellen sozialen Milieus ihre Bin- auch im Hinblick auf neue Zuwanderungs- dungskraft auch für sich als modern ver- gruppen Optimismus zu. stehende Menschen bewahren. Allerdings Die regionalen Verhältnisse und die gibt es kaum das „typisch Nieder- interregionalen Verflechtungen gediehen sächsische“, das sich in einfacher Form nie so, dass der niedersächsische Raum eine marktfördernd einsetzen ließe. Bei- im jeweiligen historischen Weltmaßstab spielsweise ist das in vielen Teilen Nie- herausragende Stellung hätte erlangen dersachsens verbreitete Schützenwesen können. Er hielt aber Anschluss, und die nicht ein alle Niedersachsen umfassendes Integration in das internationale System Band, sondern charakteristisch für das bo- nahm zu. Gemessen an den im interregio- denständig-protestantische Milieu dörf- nalen Geflecht gegebenen Entwick- licher, kleinstädtischer oder stadtteilbezo- lungspotentialen des niedersächsischen gener Bürger. Aber die lebensweltliche Raumes errang speziell die Stadt Hannover Verbindung mit dem Herkunftsort oder seit dem Mittelalter immer mehr Be- das sich Aneignen neuer lokaler Identität deutung und gedieh in der frühen Neuzeit im aktuellen Wohnort, die „symbolische zu einem Hauptort, bis schließlich im 20. Ortsbezogenheit“, ist immer wieder anzu- Jahrhundert im weiten Umkreis nur noch treffen. Hamburg, Berlin, Frankfurt, Düsseldorf und Zwischen Hannover-Linden oder Bücke- Köln als bedeutungsvollere Städte und burg, Baltrum oder Wustrow, Nordhorn Bremen als gleichwertige Stadt übrig blie- oder St. Andreasberg prägen ganz unter- ben. Deutschland gehört heute zum schiedliche Faktoren diese Milieubindung. Zentrum des modernen Weltsystems. Zen- Was dabei Heimat ausmacht, ist keines- trumsregionen sind stets mit inneren wegs etwas Statisches. Wenn soziale, orts- Peripherien durchsetzt. Die Fläche Nord- 134 Zukunftspotentiale im historischen Gefüge westdeutschlands ließe sich als aktuelle in- in der Agrarwirtschaft deutlich, wird aber nere Peripherie beschreiben, aus der sich von den Suburbanisierungsringen der bei- allerdings einzelne Regionen herausheben: den großen Städte überlagert. Die innere der interne Hauptort Hamburg, noch deut- Fläche ist von der Landwirtschaft geprägt. lich vor Hannover und Bremen. In Zeiten, zu Stade hat, wie in Mittelalter und früher denen staatliche Kräfte eine zunehmende Neuzeit, eine gewisse Sonderposition hal- Entwicklungsrolle übernahmen, konnte ten können. über mehr als drei Jahrhunderte das bis da- Der landwirtschaftlich orientierte, aber hin in mittlerer Reihe stehende Hannover von Verkehrsdurchgangslinien erfasste gedeihen. Heute, da eine globalisierte Raum Südwest-Niedersachsens galt über Weltwirtschaft das historische Geschehen lange Zeit als rückständig, hat aber eine auf prägt, könnte langfristig Wolfsburg eine den traditionellen Werten beruhende vergleichbare Entwicklung nehmen. Veränderung erfahren. Die bäuerlich-klein- Die für das ausgehende Mittelalter fest- städtischen Strukturen und konfessionellen gestellte regionale Gliederung Niedersach- Milieus boten Sicherheit über eine Agrar- sens wurde in den Folgejahrhunderten in- modernisierung hinaus. Osnabrück, als zur- tern verändert und unterlag prinzipiellen zeit von den Bewohnern besonders positiv historischen Formationsveränderungen wie bewertete Stadt, steht mit guten Zu- dem Übergang von der agrarischen zur in- kunftsaussichten wie einst im Mittelpunkt. dustriellen Gesellschaft. Dennoch erscheint Das südniedersächsische Berg- und eine Differenzierung in sieben Regionen Hügelland gilt trotz seiner günstigen Ver- einmal mehr als sinnvoll, die wie einst Un- kehrslage mittlerweile als Sorgenkind. Die terschiede Westniedersachsens zum mittle- traditionelle Mischung von Landwirtschaft, ren und östlichen Niedersachsen anzeigt. Rohstoffverarbeitung und Gewerbe hält Ostfriesland hat in hohem Maße Eigen- überregionaler Konkurrenz zurzeit nicht ständigkeiten bewahrt, wie u.a. die weite stand. Die Vielfalt der Erwerbsmöglich- Verbreitung der plattdeutschen Sprache keiten und der Nutzung neuer Markt- zeigt. Ostfriesland kennt im agrarischen chancen besitzt aber langen zeitlichen Bereich weiterhin den Unterschied zwi- Rückhalt. Dies drückt sich jüngst in der schen Marsch und Geest samt deren ehe- Vielzahl von Initiativen aus, die aktuelle maligen Moorgebieten. Landwirtschaft und Situation mit Kreativität von innen her zu Kleingewerbe besitzen bis heute hohe überwinden. Im Harz jedoch hat die fast Bedeutung gegenüber der geringen völlige Einstellung des Bergbaus nicht durch Industrialisierungsdichte und dem schma- den Tourismus aufgefangen werden kön- len Dienstleistungsangebot. Eine Sonder- nen. Dieser steht zudem unter hohem rolle spielt seit dem 16. Jahrhundert Konkurrenzdruck. Emden, allerdings heute trotz des VW- Die mittelniedersächsische Börde samt Werkes mit den erheblichen Strukturpro- dem Harzvorland ist ungebrochen das ver- blemen einer Hafenstadt. Die Funktion des kehrsmäßig am besten eingebundene, am interregionalen mittelalterlichen Handels dichtesten besiedelte, städtereichste und mit Agrargütern hat, so mag man behaup- das höchste Bruttosozialprodukt erwirt- ten, der Tourismus übernommen. schaftende Gebiet Niedersachsens. Mit Die Seemarschen und anrainenden seinen Standorten Hannover, Braun- Geestgebiete der Weser- und Elbe- schweig und im Nordosten nun Wolfsburg mündung (Elbe-Weser-Winkel) sind wie scheint es ökonomische Zukunftspro- einst eng mit Bremen und Hamburg ver- bleme meistern zu können. flochten. Der Marsch-Geest-Gegensatz ist Die mittlere niedersächsische Geest ist Zukunftspotentiale im historischen Gefüge 135 weiterhin ein Kerngebiet der Land- gend. Diese hat über die Jahrhunderte wirtschaft. Die Verstädterungsringe von hinweg eine Durchmischung von Abkap- Hamburg, aber auch von Bremen und selung und Öffnung geschaffen und eine Hannover reichen weit in sie hinein. gewisse historisch-kulturelle Vielfalt er- Lüneburg hat am Ostrand seine eigen- möglicht, die aber stets eine kräftige kon- ständige Position zu halten vermocht. Im servative Komponente besaß. Darauf be- Westen hat seit der frühen Neuzeit ruhen regionale Identitäten, und in dieser Oldenburg, will man es zu diesem Gebiet liegt die Kraft zu kreativem Wachstum. hinzurechnen, seine regionale Bedeutung Steuerung von oben war in Nieder- stetig steigern können. sachsen immer vergleichsweise stark, nahm Die östliche niedersächsische Geest aber fast ausnahmslos keine despotischen hat im Norden mit Lüchow-Dannenberg oder unterdrückenden Formen an. Lokale einen Landkreis, der nach dem Zu- oder regionale Freiräume wurden nie gänz- sammenbruch der Protoindustrialisierung lich zurückgedrängt, schlimmstenfalls nur den wirtschaftlichen Anschluss nicht wie- kurzfristig. Diese Mischung ließe heute ein der gewonnen hat. Teile des ehemaligen ausgeprägtes Subsidiaritätsprinzip zu. Als Zonenrandgebietes haben in westlichen Historiker möchte man den Politikern und Orten Brandenburgs und Sachsen-An- Planern gern zurufen, sie mögen nicht die halts ernstzunehmende Konkurrenz er- Modernitätsfloskeln nachbeten oder den halten. Die Ausstrahlungskraft Wolfs- meinungsbildenden Versuchungen der burgs reicht aber weit. Lobbyisten erliegen, sondern auf die Mit Niedersachsens Geschichte ist Wünsche der Menschen hören. Jene wer- trotz aller kleinräumigen Differenzierun- den sich immer dann als nicht unerfüllbar gen offensichtlich stets verbunden, dass zeigen, wenn unter hohem ethischen Stan- es einerseits zu jeweiligem Weltniveau dard gefragt wird, wie früher im Ort und in nicht reichte, aber andererseits innerhalb der Region Konflikte gelöst und Zukunfts- der gegebenen Verhältnisse trotz interner probleme bewältigt wurden, welche Widerstände Aufstiegsbedingungen ge- Schwierigkeiten dabei auftauchten und nutzt werden konnten. Dies ist künftigen welche kreativen Veränderungen erreicht Entwicklungen keineswegs abträglich. Bei wurden. Bürgerbeteiligungen in Planungs- relativer sozialer Stabilität kann Wandel prozessen, Verbund- projekte, runde vorrangig als nachholende Modernisie- Tische, Zweckverbände usw. sind nicht von rung geschehen und verhilft durch Imi- ungefähr auf diesem Wege: für die tation zu Konkurrenzfähigkeit, ja, zum Menschen und mit den Menschen. Überholen von Konkurrenten, ohne dass Kalter Machtmissbrauch, brutale dabei die Fehler allzu rascher Veränderun- Zwangsmaßnahmen, Massenknechtschaft gen gemacht werden müssen. Die damit der Menschen, dieses alles kennt Nie- einhergehende Leitmentalität der Men- dersachsen nur aus wenigen räumlichen schen ist freilich, von den jeweiligen Welt- oder zeitlichen Sonderfällen, aber nie dau- metropolen aus gesehen, recht provinziell erhaft. Diese gewisse Mitmenschlichkeit und durchschnittlich. und vergleichsweise verträgliche soziale Für dieses Niedersachsen, dessen Ungleichheit sind Vorteile von Gebieten, in räumliche Vielfalt aus dem Mittelalter her- denen ein internationaler Anschluss zwar rührt und dessen wirtschaftliche Mittel- gegeben war, aber die dörflich-kleinstädti- mäßigkeit schon vor der Industrialisierung schen Milieus vorherrschten. Die Verhält- feststand, war stets die Mittellage zwi- nismäßigkeit zu gewohnten menschlichen schen Ost und West, Nord und Süd prä- Dimensionen blieb gewahrt. Hieran sollte 136 Literaturhinweise künftige Politik und Planung anknüpfen. und ein wenig dem Fortschritt hinterher. Zum einen muss genau beobachtet wer- Das hat vergleichsweise auskömmliche den, in welchen Bereichen der Weltwirt- Lebensbedingungen geschaffen, die schaft ökologisch vertretbare und sozial Chance geboten, ohne allzu viele Fehler zu verantwortende Zukunftschancen lie- aus den Vorbildern zu lernen, und oft gen, zum anderen muss das aus den hi- neue Zukunftspotentiale geformt. Kon- storischen regionalen und lokalen Sonder- kurrenzfähigkeit durch Imitation und heiten erwachsene Potential der Men- nachholende Modernisierung sind daher schen gefördert und für die Innovationen niedersächsische Prinzipien. Das Motto eingesetzt werden. „sturmfest und erdverwachsen“ sollte für Niedersachsen war stets sehr differen- Niedersachsen neu formuliert werden: bo- ziert, zugleich insgesamt eher mittelmäßig denständig, aber zukunftsfähig.

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Abbildungsnachweise

Die Abbildungen wurden aus folgenden Horst Kuss, Bernd Mütter (Hg.), Ge- Werken entnommen: schichte Niedersachsens neu entdeckt. Braunschweig 1996 (Westermann) Neithard Bulst u.a. (Hg.), Die Weser – Land Niedersachsen. Tradition und Ge- EinFluß in Europa. Brake 2001 (Weser- genwart. Hannover 1976 (Niedersächsische renaissance-Museum Brake) Landeszentrale für politische Bildung) Albrecht Eckhardt, Heinrich Schmidt (Hg.), Klaus Mlynek, Waldemar R. Röhrbein Geschichte des Landes Oldenburg. (Hg.), Geschichte der Stadt Hannover 1. Oldenburg 1987 (Holzberg) Hannover 1992 (Schlütersche) Bernd Ulrich Hucker u.a. (Hg), Nieder- Hans Patze (Hg.), Grundlagen und frühe sächsische Geschichte. Göttingen 1997 Mittelalter (Geschichte Niedersachsens 1) (Wallstein) Hildesheim 1985 (Lax) Carl-Hans Haupmeyer, Souveränität, Par- Niedersachsen. Ein Porträt. Hannover und tizipation und absolutistischer Kleinstaat. Braunschweig 1999 (Niedersächsische Hildesheim 1980 (Lax) Landeszentrale für politische Bildung) Horst-Rüdiger Jarck, Gerhard Schildt (Hg.), Hans Heinrich Seedorf, Hans-Heinrich Braunschweigische Landesgeschichte. Jahr- Meyer (Hg.), Niedersachsen als Wirtschafts- tausendrückblick einer Region. Braun- und Kulturraum (Landeskunde Niedersach- schweig 2000 (Appelhans) sen 2). Neumünster 1996 (Wachholtz) Kurzvita 143

Prof. Dr. Carl-Hans Hauptmeyer Jg. 1948 - 1972 Staatsexamen Lehramt an Gymnasien - 1975 Promotion - 1978 Habili- tation - 1983 Universitätsprofessor für „Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit unter Einschluß der Regional und Lokalgeschichte” am Historischen Seminar der Universität Hannover - 1998 Vorsitzender des „Niedersächsischen Instituts für Historische Regionalforschung e.V.” - Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Anwendung der Regional- geschichte, Stadtgeschichte, Geschichte ländlicher Räume, Wirtschafts- und Sozial- geschichte Niedersachsens, allgemeine Geschichte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit.