IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Man konnte also sagen, daß die Ereignisse der letzten Zeit an sich nichts Neues darstellten, denn ähnliches war auch früher schon vorgekommen. Aber daß es jetzt mit Billigung der ­Obrigkeit geschah, war neu und unbegreiflich. Ignazio Silone, Fontamara Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? Augustinus von Hippo, De Civitate Dei

In diesem Kapitel geht es um die Verfolgung der Verbrechen, die an politischen Gegnern, an Geistlichen und an Frauen wegen „verbotenen Umgangs“ verübt wurden, ebenso um die Tötungen, die von den Nationalsozialisten gegen Kriegs- ende begangen wurden. Im Gegensatz zu der rassisch motivierten Verfolgung – Juden oder „Zigeuner“ waren ja von vornherein aus der „Volksgemeinschaft“ aus- geschlossen – , war das Ziel hier die „“ und Ausschaltung von Personen, die sich in den Augen der Nationalsozialisten an den Idealen der „Volks- gemeinschaft“ vergingen. Im weitesten Sinne ging es vielfach um die Kontrolle des Privaten – seien es (sexuelle) Beziehungen, Wahlverhalten oder religiöse und politische Einstellungen und Gesinnungen. Wer nicht dem Ideal der nationalen Solidarität zu huldigen schien, bekam die punitive Seite des Konzepts der „Volks- gemeinschaft“ zu spüren. Die große Mobilisierungskraft der „Volksgemeinschaft“ führte zu wüsten Ausschreitungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Außen- seiter. Dies griff dabei der ordentlichen Justiz stets vor oder ersetzte sie vollstän- dig. Die „Volksgemeinschaft“ war, wie Ian Kershaw jüngst überzeugend analysiert hat, ein Konstrukt der NS-Propaganda1, Martin Broszat hat schon früher auf den quasi teleologischen Charakter des Begriffs („Volksgemeinschaft“ als „Zielprojek­ tion“)2 hingewiesen. In diesem Sinne musste immer wieder neu an die „Volksge- meinschaft“ appelliert werden, ihre Dynamik bedingte, dass stets neue „Feinde“ identifiziert wurden, zu ihrer Realisierung mussten im NS-Sinn ­irrende „Volks­ genossinnen und -genossen“ ausgegrenzt, stigmatisiert und wenn nötig „aus­ gemerzt“ werden. Andererseits könnte dagegen argumentiert werden, daß das Modell der „Volksgemeinschaft“ 1933 noch nicht ausgeprägt genug war, um die Kujonierung der politischen Gegner effektiv durchzusetzen, da innerhalb der NS- Bewegung noch unterschiedliche Strömungen vorherrschten – die Gewalt gegen die Regimegegner wäre dann eher als Fortsetzung der Auseinandersetzungen der späten Weimarer Republik zu sehen. Ähnliche Betrachtungen wären zu den ande- ren Themenkomplexen möglich: Religiöse „Dissenter“ wurden nicht nur im Drit- ten Reich ausgegrenzt, „mit dem Feind fraternisierende“ Frauen nicht nur bei den Nationalsozialisten an den Pranger gestellt, ebenso Defätisten nicht nur im Zwei-

1 Vgl. Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. 2 Broszat, Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus, S. 403. 730 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ten Weltkrieg hingerichtet. Die vorliegenden Überlegungen hinsichtlich der Fra- ge, ob es sich um Verbrechen der „Volksgemeinschaft“ – also um eine spezifisch nationalsozialistische Kriminalität – oder um sicher radikale, aber keineswegs außer­gewöhnliche Taten, die analog auch in anderen gewalttätigen Gesellschaften hätten begangen werden können, sind daher keinesfalls abschließend, sondern müßten durch weitere Forschungen überprüft werden. Vielleicht bilden einige der Fälle, die im folgenden erwähnt werden, dazu eine Grundlage.

1. Verbrechen an den politischen Gegnern 1933

Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch Gegner anderer politischer Cou- leur wurden nur wenige Tage und Wochen nach der „Machtergreifung“ bereits verhaftet, verschleppt und misshandelt, in einigen Fällen kam es sogar zu Tötun- gen. Einrichtungen und Organe der Arbeiterbewegung wie Konsumgenossen- schaften oder Tageszeitungen wurden unter Anwendung von Schusswaffen durch- sucht und verwüstet, linke Parteien und Gewerkschaften verboten und zerstört. Schätzungen gehen davon aus, dass allein 1933 bis zu 100 000 Menschen verhaftet und zeitweise in den frühen Konzentrations- und Schutzhaftlagern festgehalten wurden. Nachdem durch den Terror der Jahre 1933/1934 die politischen Gegner entweder zur politischen Tatenlosigkeit eingeschüchtert, in den Untergrund ge- trieben, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder bereits ermordet waren, wand- te sich das NS-Regime anderen Abweichlern des nazistischen Ideals der „Volks­ gemeinschaft“ zu, seien es Angehörige der bündischen Jugend, Geistliche oder Frauen, die Verhältnisse mit „fremdrassigen“ Männern hatten. Die Ermittlungen zu diesen Straftaten, die meist den Straftatbestand der Frei- heitsberaubung, Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung, Sachbeschädigung oder des Landfriedensbruchs erfüllten, und ihre Strafverfolgung wurden im Drit- ten Reich unterdrückt. Anfänglich wurden vielfach noch unmittelbar nach den Ausschreitungen Anzeigen eingereicht. In Wolfstein, wo es am 22. 6. 1933 zu bru- talen Ausschreitungen der SA und Angehörigen eines RAD-Lagers gegen ehema- lige Angehörige des Stahlhelms und einen katholischen Pfarrer kam, in deren Fol- ge ein Stahlhelmführer nach schweren Körperverletzungen am 4. 7. 1933 an einer Blutvergiftung starb, hatte die Gendarmerie schon tags darauf Anzeige beim ­Bezirksamt erstattet, auch eines der Opfer zeigte am 27. 6. 1933 die Tat an. Zwar wurde gegen einen Beschuldigten noch die Voruntersuchung eröffnet, das Verfah- ren dann aber im September 1933 vom LG Kaiserslautern eingestellt. Im Dezem- ber 1946 nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlung gegenüber 40 Beschuldigten wieder auf.3 In Rosenheim wurde am Abend des 29. 5. 1936 ein Kaplan Opfer

3 Vgl. Kaiserslautern 7 Js 84/47 = KLs 41/48, Ks 8/50, Ks 9/50, AOFAA, AJ 3676, p. 38; siehe auch „Wolfstein“, in: Rheinisch-Pfälzische Rundschau, 16. 8. 1948; „Die Ausschreitungen am 22. Juni 1933 in Wolfstein. Zwei Angeklagte vor dem Schwurgericht – Die Mißhandlung der Stahlhelmführer und der Tod Franz Klingers“, in: Pfälzische Volkszeitung, 20. 4. 1950. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 731

­einer „Demonstration“, in deren Verlauf zunächst Steine auf sein Wohnhaus ge- worfen wurden, bis die von SA und SS geführte Menge in sein Haus eindrang, Demolierungen vornahm und die Polizei den Geistlichen in „Schutzhaft“ nahm. Noch auf dem Weg zur Polizeistation wurde er bespuckt, beschimpft und geschla- gen. Der Pfarrer hatte den „Volkszorn“ verursacht, indem er einen HJ-Angehöri- gen geschlagen hatte, der die Sonntagsmesse nicht besucht hatte. Das nachfol­ gende Ermittlungsverfahren4 wurde durch „Führererlaß“ vom 10. 3. 1937 nieder­ ge­schlagen.5 Wenn die Verfahren im Dritten Reich nicht „durch Niederschlagung“ beendet wurden, griffen die reichsweiten Amnestien. Ein noch in der NS-Zeit an- hängig gewordenes Verfahren6 wegen der Ausschreitungen gegen einen politisch missliebigen Apotheker am 13. 4. 1938 in Regen hatte mit dem Straffreiheitsgesetz vom 30. 4. 1938 sein Bewenden, erst 1947 konnte es wiederaufgenommen wer- den.7 Die Amnestien erstreckten sich auch auf Fememorde vor 1933. Ein Angehö- riger der Stabswache des SS-Abschnitts IV , Walter Kampe, war am 12. 10. 1932 im Sickter Forst bei Braunschweig als angeblicher Verräter auf Befehl des SS-Oberführers von einem anderen Mitglied der Stabs­ wache, Walter Kau., getötet worden. Der Führer des SS-Abschnitts IV, Friedrich Jeckeln, stattete Kau. dazu mit Pistole und Munition aus, erinnerte Kau. ange- sichts von dessen Einwendungen an den Diensteid und äußerte sinngemäß: „Er- statten Sie mir Vollzugsmeldung! Das weitere erledige ich! Kommen Sie mir nicht mit der Ausrede, Sie hätten es nicht geschafft, dann müssen Sie selbst dran glau- ben.“ Walter Kau. spiegelte seinem Opfer vor, er wolle sich von der SS abwenden und bereite seine Flucht vor. So wiegte er Walter Kampe in Sicherheit. Gemein- sam ließen sie sich mit einem Auto in den Wald fahren, wo Walter Kau. sein Op- fer mit sieben Schüssen in Kopf, Brust und Bauch niederstreckte. Der Fahrer des Autos erstattete am 14. 10. 1932 Anzeige. Walter Kau. floh mit Jeckelns Hilfe mit dem Zug nach München, von dort wurde Kau. zur österreichischen Grenze ge- bracht und gelangte über einen Verbindungsmann in Innsbruck nach Malcesine am Gardasee, wo in einer von der NSDAP gemieteten Villa zahlreiche in Deutsch- land gesuchte Straftäter lebten, die unter Leitung von SS-Oberführer Theodor Ei- cke militärische und politische Schulungen erhielten. Nach der „Machtergreifung“ kehrte Eicke mit dem Gros der Männer aus Malcesine zurück, Walter Kau. reiste erst im April 1933 nach Deutschland und wurde unter Jeckeln bei der SS-Stabs- wache der SS-Gruppe Süd in München eingesetzt. Das gegen Walter Kau. anhän- gige Verfahren8 wurde aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit vom 21. 3. 1933 eingestellt, Kau. am 29. 11. 1933 in ein festes Beamtenverhältnis bei der bayerischen Politischen Polizei übernommen, 1934/1935 war er beim Gestapa in als Kriminalpolizeihauptwachtmeister

4 Vgl. Traunstein 1 Js 96a–k/36. 5 Vgl. Traunstein 2 Js 2375–2384/47, StA München, StAnw 16046. 6 Vgl. Deggendorf 2 Js 181/38. 7 Vgl. Deggendorf 1 Js 909/47 = KMs 5–13/47. 8 Braunschweig 1 F 699/32. 732 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? beschäftigt. Als er aber durch Betrug, Untreue und Unterschlagung straffällig wur- de, ließ ihn die Partei fallen, er wurde 1937 aus NSDAP und SS ausgeschlossen, bevor er Ende 1937 wegen der oben genannten Delikte zu einer 15-monatigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Der Mord an Walter Kampe wurde ihm erst 1949 zum Verhängnis, als er zunächst zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, auf Revision der Staatsanwaltschaft dann vom OGHBZ Köln zu lebenslänglicher Haft. Eine Verurteilung wegen des KRG 10 lehnte das Gericht ab, weil die Tat vor dem Beginn der NS-Gewaltherrschaft in Deutschland verübt wurde.9 Ähnlich erging es einem früheren SA-Obersturmführer, der an der Tötung des Leiters der KPD- Ortsgruppe Asseln am 13. 2. 1933 bei einer Schlägerei beteiligt gewesen war. Er war bereits am Tattag 1933 festgenommen worden und hatte die Tat gestanden. Zu ei- ner Ahndung kam es jedoch nicht – er wurde durch das Straffreiheitsgesetz vom 21. 3. 1933 amnestiert. Im November 1945 zeigte ein Rechtsanwalt die ungesühnte Tat an, im Mai 1946 wurde der Täter wegen Totschlags zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.10 Auch die Erschießung des NS-Gegners Ernst Bader durch einen NS- Anhänger in der Nacht vom 5./6. 2. 1933 in der Gemarkung Gönningen bei Reut- lingen wurde aufgrund der Amnestie vom 21. 3. 1933 nicht geahndet.11 Bei NS- Tötungsverbrechen wurde schon 1933 in anderer Weise auf die Täter aufmerksam gemacht, nachdem die Opfer ihr Vertrauen in die Justiz verloren hatten: Nach der Erschießung des kommunistischen Jugendführers Hans Kestler in Frankfurt-Bo- ckenheim am 18. 2. 1933 durch Hermann Sch. wurde mit einem Fahndungsplakat im Landgerichtsgebäude nach den Tätern gesucht. Auf den Aushang schrieb je- mand: „Der Mörder ist Hermann Sch. [vollständiger Name], Dachdeckermeister, Frankfurt, Bredowstraße“. An dem Wohnhaus brachte ein Unbekannter die Auf- schrift an: „Hier wohnt der SA-Mörder Sch.“ Zeugen schüchterte Hermann Sch. ein, indem er sagte: „Wer heute noch von dem Mord an Kestler spricht, der be- kommt es mit der zu tun. Im übrigen gilt der Schuß, der den Kestler traf, als von Göring abgegeben.“ Hermann Sch. behauptete, sich selbst nach der Tat gestellt zu haben und vom 1. 5.–13. 7. 1933 in U-Haft gewesen zu sein, doch erst im Dezember 1946 wurde das Verbrechen mit einer lebenslangen Zuchthausstrafe wegen Mordes in Tateinheit mit schwerem Landfriedensbruch bestraft.12 Obwohl die Verfolgung der politischen Gegner während der gesamten NS-Zeit andauerte, fiel die zahlenmäßig wohl größte Verfolgungswelle in die Anfangszeit des Nationalsozialismus. So lagen die Ereignisse mehr als eine Dekade zurück, als Nachkriegsermittlungen einsetzten. In einem polizeilichen Ermittlungsbericht vom 6. 7. 1946 hieß es, die Recherchen – zu Festnahmen und Misshandlungen ­politischer Gegner von April bis Juni 1933 in Wuppertal – seien außerordentlich schwierig gewesen: „Äußerst erschwert wurden die Ermittlungen – abgesehen von der Länge der zurückliegenden Zeit – durch das bei den früheren NS-Aktivisten

9 Vgl. Braunschweig 1 Js 767/45 = 1 Ks 34/48, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 613–616. 10 Vgl. Dortmund 12 Js 262/45 = 12 KLs 4/45. 11 Vgl. Tübingen Js 10407/48, AOFAA, AJ 804, p. 599. 12 Vgl. Frankfurt 3 Js 232/45 = 18/3 KLs 11/46, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31866/1–5. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 733 stets in Erscheinung tretende Verhalten. Keiner weiß etwas, keiner kennt den an- deren. Dieses steigert sich bei dem Beschuldigten W. bis zu der Behauptung: ‚Ob geschossen worden ist, weiß ich nicht.‘ Daß ihm als dem Wachhabenden [im SA- Heim Aue] der durch Kopfschuß verwundete Pattberg übergeben wurde, stört ihn dabei nicht.“13. Der Oberstaatsanwalt von Limburg schrieb am 20. 8. 1946 in seinem Einstellungsvermerk über die Straftaten in Schupbach, wo am 16. 5. 1933 SPD- und KPD-Angehörige von Gendarmerie und SA verhaftet und in der Turn- halle eingesperrt worden waren, während ihre Wohnung durchsucht wurde: „Die Ermittlungen durch die Polizei und den Untersuchungskommissar in Weilburg sind schlecht geführt und völlig unübersichtlich. Die einzelnen Vorfälle sind auch in den verschiedensten Aktenstücken verstreut und nicht übersichtlich und sach- gemäß behandelt. Nach so langer Zeit kann auch heute über die lange zurücklie- genden Vorgänge naturgemäß Sicheres nichts mehr festgestellt werden. Soweit nicht Anklage erhoben ist, bzw. die Beschuldigten noch nicht zurückgekehrt sind, wird das Verfahren eingestellt.“14 In einem Zeitungsartikel zum Prozess zur Misshandlung, Nötigung und Verhaf- tung von Reichsbannerangehörigen am 6. 3. 1933 in Wachenheim sowie der Fest- nahme und Misshandlung dreier führender Sozialdemokraten und zweier Juden am 25. 6. 1933 in Bad Dürkheim wurde der Vorsitzende des Schwurgerichts, LG- Rat Dr. Brink, zitiert, der von fast unüberwindlichen Schwierigkeiten bei der Er- mittlung – angesichts der verflossenen Zeit, der Erinnerungslücken und Irr­tümer in den Aussagen – gesprochen habe.15 In Neustadt bei Coburg war der jü­dische Arzt Dr. Joachim Engel am 22. 3. 1933 von zehn SA-Männern in seiner Sprech- stunde festgenommen und in einem Wald bei Coburg mit Knüppeln und Stahl­ ruten brutalst misshandelt worden, anschließend wurde er im Rathaus in Coburg erneut malträtiert, bis er auf ärztliches Anraten am 27. oder 28. 3. 1933 entlassen wurde, da er bereits bleibende gesundheitliche Schäden davongetragen hatte. In der Nachkriegszeit wurden Ermittlungen gegen 28 Personen, darunter frühere Stadträte, Bürgermeister, NSDAP-Kreis- und Ortsgruppenleiter sowie SA-Führer, SA-Sonderkommissare und SA-Hilfspolizei eingeleitet, ohne dass ihnen eine Betei- ligung nachgewiesen werden konnte. Die Polizei äußerte: „Durch die ständig wach- sende Abneigung der Bevölkerung, über die damaligen Vorgänge noch Angaben zu machen und infolge des langen Zeitraumes, der seitdem verstrichen ist, wurden die Ermittlungen stark erschwert.“16 Für die Opfer oder deren Angehörige, die an der Ahndung interessiert waren, konnte dies keine befriedigende Auskunft sein. Auch bei den Recherchen zu dem Überfall auf die sozialdemokratische Fränkische Tagespost in Nürnberg vom 9./11. März 193317 stellten amerikanische Beobachter

13 Wuppertal 5 Js 3433/46 = 5 KLs 88/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 191/128. 14 Limburg 5 Js 76/46 = Limburg 5 KMs 1/46, HStA Wiesbaden, Abt. 463, Nr. 1211. 15 Vgl. „Die Urteile im Wachenheim-Dürkheimer Prozeß“, in: Die Rheinpfalz, 11. 8. 1950. Dies bezog sich auf Frankenthal 9 Js 63/47 = 9 Ks 7/50, AOFAA, AJ 3676, p. 37. 16 Coburg 1 Js 242/46 = 1 Js 1250/53, StA Coburg, StAnw Coburg Nr. 76–81. 17 Die Ermittlungen endeten schließlich in dem Verfahren Nürnberg-Fürth 3c Js 128–198/49 = 441 KLs 110/49, StA Nürnberg, StAnw Nürnberg 2444/I–VI. 734 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? fest: „This case is another example for the fact that the prosecutors meet difficul- ties in finding witnesses who would testify against Nazis.“18 Obwohl die Ausschreitungen des Jahres 1933 gegen politische Gegner sich als vergleichsweise kurze Eruptionen der Gewalt darstellen, litten die Opfer teils lebens- lange an den Folgen der Misshandlungen oder starben sogar daran. Öffentliche De- mütigungen, wochen- und monatelange Freiheitsberaubungen, Entlassungen, Ar- beitslosigkeit und zerstörte Berufschancen kamen hinzu. Die Politische Polizei bzw. Gestapo behielt die ihnen bekannten politischen Gegner über Jahre hinweg miss- trauisch im Auge, einige wurden gegen Kriegsende anhand „Schwarzer Listen“ ver- haftet, teils auch ermordet. In Wuppertal wurden am 6. 3. 1933 der Direktor des Arbeitsamtes Wuppertal, Oberregierungsrat Wilhelm Bökenkrüger, sowie die recht- mäßig gewählten Betriebsräte, Gewerkschaftsleiter und Vorstände einzelner Behör- den ihrer Ämter enthoben, Bökenkrüger musste am 7. 3. 1933 sein Dienstzimmer verlassen und wurde durch die SA festgenommen, anschließend war er in Polizei- haft und im KZ Kemna eingesperrt. Nach dem Zusammenbruch zeigte Bökenkrü- ger, mittlerweile Präsident des Landesarbeitsamtes Mittelrhein-Saar und von 1947 bis 1949 Arbeitsminister in Rheinland-Pfalz, die Ausschreitungen an.19 Andererseits gibt es immer wieder Beispiele, in denen die Misshandelten dar- um ersuchten, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Der ehemalige Bürgermeister von Lohfelden, der am 12. 12. 1934 Opfer einer aufgeputschten Menschenmenge geworden war, die in seinem Haus die Fenster einwarf, ihn zum Verzicht auf seine Pension nötigte und von der Polizei in „Schutzhaft“ nehmen ließ, bat – als er nach dem Krieg wieder in sein Amt eingesetzt war – das Gericht im Interesse von Ruhe und einer friedlichen Zusammenarbeit im Dorf darum, die Angelegenheit nicht weiter zu verfolgen. Zwei der Beteiligten hätten sich in der Nachkriegszeit bei ihm entschuldigt und durch besondere Arbeitsleistungen ihren Willen zum Wiederaufbau bekundet. Das Verfahren wurde daraufhin eingestellt.20 Die Straftaten an politischen Gegnern waren eines der häufigsten Delikte bei der Verfolgung von NSG-Verbrechen in der Besatzungszeit. Angesichts der nazis- tischen Massenvernichtung von Menschenleben während des Krieges sind die Delikte gegen die politischen Gegner der frühen Jahre der NS-Herrschaft fast in Vergessenheit geraten, zumindest aber deutlich in den Hintergrund getreten. Und doch war die „Machtübernahme“ und die Festigung der nationalsozialistischen Macht in weiten Teilen des Reichs mit Gewaltverbrechen von bis dahin unge- kanntem Ausmaß verbunden. Zu den bekanntesten Verbrechen gehört die soge- nannte „Köpenicker Blutwoche“ im Juni/Juli 1933, bei der Tötungen und schwere Misshandlungen politischer Gegner durch die SA begangen wurden. Vorausge- gangen war die Erschießung von zwei SA-Männern, die am 21. Juni 1933 nachts im Rahmen einer Großaktion in das Haus eines Gegners eingedrungen waren,

18 Wochenbericht, 31. 5. 1947, NARA, OMGBY 17/183 – 3/14. 19 Vgl. Wuppertal 5 Js 468/47 = 5 KLs 76/48, 5 Ks 31/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Ge- richte Rep. 240/169–172. 20 Vgl. Kassel 3 Js 187/46 = 3 KLs 14/48. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 735 dabei jedoch für Einbrecher gehalten wurden. Als Reaktion wurden reihenweise politische Gegner reihenweise verhaftet, in SA-Lokalen und im Gerichtsgefängnis Köpenick misshandelt und gefoltert, etwa zwei Dutzend von ihnen kamen bei den Ausschreitungen ums Leben. Häufig praktizierten die Nationalsozialisten die öffentliche Demütigung der Gegner, bei der die Opfer dem Gespött einer gaffenden, teils auch gewaltbereiten Menge ausgeliefert wurden. Wahlplakate der NS-Gegner oder heimlich ange- brachte Parolen mussten in „Abwaschaktionen“ entfernt werden, bei denen die zusammengeholten Personen in unzureichender Bekleidung und mit unzurei- chenden Werkzeugen das Papier von den Wänden kratzen oder Aufschriften übertünchen mussten. Andere wurden gezwungen, Rizinusöl zu trinken. Ein ­häufig angewandtes Mittel zur Bloßstellung waren die sogenannten Parade- oder Prangermärsche, deren Opfer oft in lächerlicher Aufmachung, von SA, SS oder Parteigängern eskortiert, in ihrem Heimatort herumgeführt wurden, vielfach wurde der Aufmarsch auf entehrenden Fotografien festgehalten.

1.1 Prangermärsche Dass die Prangermärsche ehrabschneiderisch (und auch geschäftsschädigend) waren, erkannte selbst die NS-Justiz: In Leck hatte sich der Uhrmacher Max N., NSDAP-Mitglied seit 1931, mit dem NSDAP-Ortsgruppenleiter aus persönlichen Gründen überworfen und war aus der NSDAP ausgeschlossen worden. Bei einer Versammlung des Tannenbergbunds am 2. 7. 1933 in Leck beleidigte er die Ehe- frau des NSDAP-Ortsgruppenleiters (wegen ihres ehebrecherischen Verhältnisses mit einem NSDAP-Fahnenträger) als „Hure“ und wurde daraufhin in „Schutz- haft“ genommen. Am 3. 7. 1933 rottete sich die SA aus Leck und Fresenhagen vor dem Gerichtsgefängnis zusammen und forderte die Auslieferung von N., der Strafanstaltsoberwachtmeister (selbst ein SA-Angehöriger) gab auf Druck nach. Dann hängten sie N. ein Schild um die Brust, auf dem es vorne hieß: „Ich bin ein großer Lump“, auf der Rückseite stand: „Ich habe den Volkskanzler beleidigt.“ In einem SA-Zug von etwa 15 Leuten wurde N. durch die Stadt ge- führt, nach einer Viertelstunde griff die Polizei ein und brachte Nahnsen zurück ins Gefängnis. Von dem Prangermarsch wurde auf der NSDAP-Ortsgruppenver- sammlung berichtet, im „Lecker Anzeiger“ erschien ein Artikel, in dem es hieß, Hermann Peter M. habe die Tat „ehrlich und mutig“ verteidigt, obwohl diese „vielen Lecker Spießbürgern nicht gefallen“ habe. Der Prangermarsch, die Ver­ öffentlichung und Verbreitung von etwa 200 Fotos von N. mit dem Schild um den Hals – das Foto wurde zusammen mit dem Text: „Ich stelle mich vor: Max N., Uhrmacher, Leck“, als Postkarte vervielfältigt – bedeuteten eine große Geschäfts- schädigung für diesen. Im Juli 1935 ­klagte N. wegen der Geschäftsschädigung auf Schadensersatz, das OLG Kiel sprach ihm einen Schadensersatz von 2000,- RM zu, die NSDAP-Kreisleitung Niebüll zahlte ihm schließlich 2383,- RM.21 Das Ver­

21 Vgl. Flensburg 2a Js 1054/49 = 2a Ks 23/49, LA Schleswig-Holstein, Abt. 354 Flensburg, Nr. 800. 736 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? fahren stieß auch in der Nachkriegszeit auf einiges Interesse.22 Die meisten Opfer der Prangermärsche konnten erst nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs auf eine Ahndung hoffen. In Bergisch-Gladbach wurde Peter Walterscheidt, der Leiter des örtlichen Ar- beitsamtes und SPD-Vorsitzender, unter Schlägen und Beschimpfungen verhaftet und am 13. 3. 1933 mit einem Schild mit der Aufschrift „Ich bin ein Parteibuch- bonze“ an der Spitze der örtlichen SA unter Musikbegleitung durch die Stadt ge- führt und fotografiert, dann für vier Wochen im Gefängnis Köln-Klingelpütz ein- gesperrt. Wegen Freiheitsberaubung, Nötigung und gefährlicher Körperverletzung wurden die Täter Anfang 1948 zu Strafen zwischen drei und sechs Monaten Ge- fängnis verurteilt.23 In der sozialdemokratischen Zeitung „Freie Presse“ in Osnabrück waren unter dem Pseudonym „Ilex“ (dem lateinischen Namen der Stechpalme) scharfe Angrif- fe gegen die NSDAP und deren lokale Parteigrößen veröffentlicht worden, selbst Interna der SA wurden darin kommentiert, was die lokalen NS-Funktionäre außer­ordentlich ärgerte. Am Tag des Boykotts jüdischer Geschäfte wurden Juden gewaltsam durch die Straßen gezerrt. Auch der Journalist und Hauptschriftleiter der „Freien Presse“, Josef Burgdorf, wurde von elf SA-Männern in Uniform fest­ genommen, im Braunen Haus im Keller eingesperrt und bezüglich seiner Infor- manten über die SA vernommen und mit der Waffe bedroht, wobei Burgdorf sich auf das Redaktionsgeheimnis berief. Daraufhin wurde Josef Burgdorf von dem ­NSDAP-Ortsgruppenleiter von Osnabrück-Altstadt, dem Leiter des SS-Sturm- banns Osnabrück und etwa 50 bis 100 SA- und NSDAP-Angehörigen unter Miss- handlungen durch die Straßen von Osnabrück geführt, wobei Burgdorf ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin Ilex“ tragen musste und mehrfach fotografiert wurde. Danach wurde er sechs Tage im Polizeigefängnis inhaftiert. 1949 wurden die Täter, die teils durch die Fotografien identifiziert werden konnten, zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen verurteilt, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt galten bzw. aufgrund des Amnestiegesetzes nicht angetreten werden mussten.24 Ende Juli 1933 wurden in Wedel zwei Kommunisten verhaftet, weil sie illegal eine KPD-Zeitung hergestellt hatten. Sie wurde durch Wedel und Schulau geführt, wobei sie Transparente mit der Aufschrift „Wir Lumpen haben den Roten Roland gedruckt“ und „Wir Schmutzfinken haben ehrsame Bürger mit Dreck beworfen“ tragen mussten.25 In Hamburg-Bramfeld wurden NS-Gegner gezwungen, an einem - marsch der NS-Bewegung im August 1933 teilzunehmen. Ein Kommunist musste

22 Vgl. „Der Prangermarsch von Leck“, in: Südschleswigsche Heimatzeitung, 27. 4. 1950; „Der Prangermarsch von Leck vor dem Schwurgericht“, in: Flensburger Tageblatt, 27. 4. 1950; „Re- vision im ‚Prangermarsch‘-Prozeß“, in: Flensburger Tageblatt, 4. 5. 1950; „Der ‚Prangermarsch‘ von Leck vor dem Schwurgericht“, in: Südtondern-Tageblatt, 27. 4. 1950. 23 Vgl. Köln 24 Js 205/46 = 24 KLs 1/47; 24 KLs 49/47, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 231/44–46. 24 Vgl. Osnabrück 4 Js 281/49 = 4 Ks 12/49, StA Osnabrück, Rep. 945 Akz. 6/1983, Nr. 395–401. 25 Vgl. Itzehoe 3 Js 4347/47 = 3 Ks 1/48, LA Schleswig-Holstein, Abt. 352 Itzehoe, Nr. 547. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 737 ein Flugblatt vorlesen, in dem die Kommunisten als Schweine beschimpft wur- den, die alles, was hoch und heilig sei, in den Schmutz getreten hätten, Deutsche in Deutschland getötet, Aufbauarbeit sabotiert hätten und überhaupt ein Blutbad anrichten wollten. Bei dem etwa zwei- bis dreistündigen Marsch durch den Ort mussten sie Schilder tragen mit Texten wie „Wir Kommunisten sind Schweine“ oder „Wir lernen Ordnung“, das oben erwähnte Flugblatt verteilen, den Hitler- gruß erbringen und NS-Lieder mitsingen, wobei sie mit Gummiknüppeln und Stahlruten teils erheblich misshandelt wurden.26 In Arsten bei Bremen wurde Anfang Oktober 1933 der Gewerkschaftssekretär des Eisenbahner-Einheitsverbandes, Reichsbannerangehöriger und SPD-Abge- ordneter des Preußischen , Bernhard Poelder, vom Führer des SA-Sturms Kirchweyhe und dem Gauhauptstellenleiter der NSDAP-Gauleitung Oldenburg in einen Wagen geschleppt, nach Kirchweyhe geschafft, wo ihm eine Pauke (ver- mutlich aus Jungvolk-Beständen) umgehängt wurde. Poelder, der nach Stendal ­versetzt worden war und lediglich zu Besuch bei seiner Tochter weilte, wurde ge- zwungen, unter Paukenschlägen in einem ein- bis eineinhalbstündigen Fackelzug in einer großen Menschenmenge, darunter SA, SS und HJ-Angehörige, durch den Ort zu marschieren. Ihm wurde das Schild vorangetragen: „Ich großer Lump habe deutsche Volksgenossen belogen und SA-Leute mit ‚Arbeitermörder‘ beschimpft“. Poelder musste außerdem das Lied singen „Flieg, Du roter Adler“, er wurde ­beschimpft, angespuckt und misshandelt. Im NSDAP-Stammlokal in Sudweyhe wurde Poelder anschließend bedroht, durchsucht und vernommen. Poelder war der NS-Bewegung verhasst, weil er bei Wahlversammlungen 1932 die NSDAP als „Arbeitermörder“ bezeichnet und 1932 in einem Artikel in der „Bremer Volks­ zeitung“ von „SA-Schweinen im Stall“ gesprochen hatte. Die „Bremer National­ sozialistische Zeitung“ veröffentlichte einen verhöhnenden Artikel.27 Die Tat des SA-Sturmführers und des NSDAP-Gauhauptstellenleiters wurde 1949 sowohl als „Freiheitsberaubung und Landfriedensbruch als Rädelsführer“ wie auch als „Ver- brechen gegen die Menschlichkeit“ gewertet. Es handelte sich nach Meinung des Gerichts um ein Angriffsverhalten, der wehrlose Poelder war entehrt und öffent- lich zur Schau gestellt worden. Diese grausame Form politischer Verfolgung greife die Menschenwürde des politischen Gegners an ebenso wie eine überindividuelle Menschenwürde.28 Neben den politischen Gegnern mussten aber auch Personen Verfolgung ge- wärtigen, die der örtlichen NSDAP wegen geringfügiger Delikte oder ihrer Darle- hensvergabe als „Zinswucherer“ ein Dorn im Auge waren. Zwei Männer, Ludwig D. und sein Sohn Peter D., wurden 1933 wegen Jagdvergehens auf einem Wagen durch Osthofen gefahren und mussten ein Schild tragen: „Die D.s – die bekann-

26 Vgl. Hamburg 14 Js 131/46 = 14 Ks 12/49, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 12029/52 (BdE. 1–3). 27 Vgl. „Auch ein ‚Eiserner Pauker‘ in Kirchweyhe“, in: Bremer Nationalsozialistische Zeitung, 7. 10. 1933. 28 Vgl. Verden 6 Js 901/48 = 6 Ks 2/49, StA Stade, Rep. 171a Verden, Nr. 602. 738 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ten Wilderer“.29 Am Sonntag, 11. 6. 1933, wurde der 70-jährige Geldverleiher Christian W. in Barmstedt vom NSDAP-Ortsgruppenleiter zu einem Pranger- marsch genötigt, bei dem er ein Schild mit der Aufschrift „Ich bin ein Zinswuche- rer“ tragen musste, dabei wurde er auch fotografiert. W. hatte den Ruf, hohe Zin- sen für seine Darlehen zu verlangen. In der Nachkriegszeit lehnte das LG Itzehoe die Anordnung der Hauptverhandlung zunächst ab, weil W. einen schlechten Ruf genoss, die Tat nur lokalen und zeitlich begrenzten Charakter hatte, und die Menschheit als solche keinen Schaden genommen habe. Das OLG Schleswig ord- nete die Hauptverhandlung an, in der zwei der Beteiligten – der frühere Führer des SS-Sturms Barmstedt und ein ehemaliger Angehöriger der SA-Hilfspolizei – wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu Geldstrafen verurteilt wurden.30 Ähnlich ging es dem Kaufmann Adolf S., der ebenfalls wegen angeblichen Zins- wuchers am 26. 6. 1933 von der SS mit einem Schild mit der Aufschrift „Ich bin der größte Halsabschneider und Wucherer von Pinneberg“ durch den Ort para- diert wurde. Vier Täter wurden wegen VgM, teils in Tateinheit mit Landfriedens- bruch und Freiheitsberaubung 1949 zu Strafen zwischen acht und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.31 Am 26. 1. 1934 wurde Jakob H., ein ehemaliges Mitglied des Aufsichtsrates des Bankvereins Kevelaer, dem der Konkurs drohte, mit einem Schild mit der Auf- schrift „Ich bin ein Lump und Wirtschaftssaboteur“ durch die Straßen von Keve- laer getrieben und bis zum 30. 1. 1934 in Schutzhaft genommen. In der Nachkriegs- zeit endete das Verfahren mit einer Einstellung, weil die Motivation für die Tat nicht politisch war. Jakob H. wurden finanzielle Unregelmäßigkeiten vorgeworfen, die Schutzhaft dauerte überdies weniger als eine Woche und war nicht menschen- unwürdig, der Haupttäter – der NSDAP- von Kleve – war bereits ander- weitig wegen nationalsozialistischer Gewaltverbrechen verurteilt, bei den anderen Beteiligten war keine höhere Strafe als sechs Monate Haft zu erwarten.32

1.2 Tötungen politischer Gegner 1933 Die Tötungen politischer Gegner bildeten einen wichtigen Ermittlungsgegenstand für die Strafjustiz nach 1945. In Duisburg wurde am späten Abend des 9. 3. 1933 der 21-jährige KPD-Angehörige Wilhelm Reiss unter dem Vorwand, er solle als Zeuge für einen Autounfall vernommen werden aus der Wohnung seiner Verlob- ten in der Felsenstraße 133 gelockt. In Gegenwart seiner Verlobten wurde er an der Hausecke Zieglerstraße/Nürenweg von drei SS-Leuten des SS-Sturms I/25 hinterrücks erschossen. Einer der drei Täter wurde 1948 wegen Mordes in Tatein- heit mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt, im Mai 1948 wegen Bei- hilfe zum Mord in TE mit VgM zu sechs Jahren, auf Revision der Staatsanwalt-

29 Vgl. Mainz 3 Js 758/47, AOFAA, AJ 1616, p. 802. 30 Vgl. Itzehoe 3 Js 3691/47 = 3 Ks 4/48, LA Schleswig-Holstein, Abt. 352 Itzehoe, Nr. 550. 31 Vgl. Itzehoe 3 Js 663/48 = 3 Ks 3/49, LA Schleswig-Holstein, Abt. 352 Itzehoe, Nr. 611–612. 32 Vgl. Kleve 8 Js 1313/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 7/922. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 739 schaft 1949 zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Er hatte eingeräumt, dabei gewe- sen zu sein, den Mord hätten aber der SS-Führer Jakob Baltes (von den Briten hingerichtet) sowie der durch Selbstmord geendete SS-Truppführer Karl Rusch begangen, nachdem schon kurz nach der „Machtergreifung“ im SS-Sturmlokal bei einer Dienstbesprechung über die Liquidierung von KPD-Funktionären ge- sprochen wurde. Noch 1933 hatte Johann K. in den damaligen Ermittlungen ge- genüber der Polizei behauptet: „Über die Tat selbst kann ich überhaupt keine An- gaben machen.“33 Rusch und Baltes hatten Johann K. gegen 22 Uhr in seiner Wohnung aufgesucht. Er habe ihnen wegen eines angeblichen Autounfalls nur zeigen sollen, wo Reiss wohne. Um Einlass in das Haus zu erhalten, sollte der An- geklagte, dessen Mutter im selben Haus wohnte, bei ihr klingeln. Erst auf dem Weg, der nicht zur Polizeistation führte, sei ihm klar geworden, dass Rusch und Baltes Wilhelm Reiss töten wollten. Dass er an der eigentlichen Tötungshandlung teilgenommen hatte, war nicht nachweisbar. Die Tat war Mord, weil sie aus nied- rigen Beweggründen begangen worden war – Reiss wurde lediglich wegen seiner politischen Gegnerschaft getötet – und weil sie heimtückisch verübt worden war – Reiss war völlig nichtsahnend gewesen. Dass Johann K. die Tat gebilligt hätte, war nicht erkennbar, so dass auf Beihilfe erkannt wurde.34 Der Mord an Wilhelm Reiss war kein Einzelfall: Erich Sch. erschoss am 30. 5. 1933 in der Duisburger Dickelsbach-Siedlung den Kommunisten Peter Vel- den in seinem Bett, obwohl er ihn eigentlich lediglich festnehmen und zu einer Vernehmung beim SS-Sturm 5 vorführen hätte sollen.35 In Düsseldorf wurde der 28-jährige KPD-Angehörige Hans Klatt am 18. 7. 1933 in einem SS-Keller auf der Königsallee so schwer misshandelt, dass er am 23. 7. 1933 starb, die Täter blieben unbekannt.36 In der Nacht zum 26. 7. 1933 wurde der Steinbrucharbeiter und KPD-Funktio- när Max Cramer aus Gruiten in einer Straße von Wuppertal-Elberfeld nach Aprath von Angehörigen der SA-Standarte 258 durch fünf Schüsse getroffen, das Opfer verblutete. Schon 1933/1934 waren bei Ermittlungen37 die Täter festgestellt worden, nämlich der NSDAP-Kreisleiter von Mettmann, Ernst Schwarz, und der SA-Sturmbannführer Fritz Quack (die beide im Krieg fielen) sowie der SA-Sturm­ bannführer Paul Hufeisen und der SA-Sturmführer Josef Buchbinder, die Max Cramer in seinem Haus festgenommen und zum SA-Heim Aue in Wuppertal-­ Elberfeld gebracht hatten. Die Täter hatten sich in der Gastwirtschaft „Neander- höhle“ bei der sogenannten Koburg, dem Sitz der SA-Standarte 258, getroffen, wo sie bis Mitternacht tranken, dann fuhren sie mit dem Auto nach Gruiten und verschafften sich durch Klopfen und Rufe wie „Polizei“ Einlass in das Haus.

33 Duisburg 6b J 363/33 (eingestellt 1933 wegen Nichtermittlung der Täter). 34 Vgl. Duisburg 7 Js 1561/47= 14 KLs 32/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 319/40–43. 35 Vgl. Duisburg 21 Js 1323/49 = 14 Ks 11/50, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 319/68–70. 36 Vgl. Düsseldorf 8 Js 11/46, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 372/3. 37 Vgl. Wuppertal 4 J 1636/34. 740 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

­Cramer hatte sich in Vorahnung im Keller versteckt und wurde schon beim Ab- führen malträtiert. Nach der Erschießung Cramers kehrten die Täter zur Gast- wirtschaft „Neanderhöhle“ zurück. Das Ermittlungsverfahren gegen Buchbinder und Hufeisen sowie den NSDAP-Kreisleiter und SA-Sturmbannführer Quack wurde durch Erlass des Preußischen Ministerpräsidenten Göring vom 29. 11. 1934 niedergeschlagen, die Akten vernichtet. Buchbinder und Hufeisen wurden im ­November 1950 wegen Mordes in TE mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Beide bekannten sich zur Tat als ihrer eigenen und waren daher Täter, sie handelten angetrunken, aber nicht betrunken, die Tötung erfolgte aus niedrigen Beweggründen (wegen der politischen Gegner- schaft Cramers) und grausam, da er nachts aus dem Bett geholt und schon bei der Verhaftung misshandelt worden war. Dass Cramer sein Schicksal ahnte, geht aus den Worten hervor, die er an die Täter richtete, als er sie bat, doch an seine Kinder zu denken.38 Dem NSDAP-Ortsgruppenleiter von Gruiten wurde vor­ geworfen, an der Tötung von Max Cramer beteiligt gewesen zu sein. Cramer galt als verdächtig, weiterhin für die KPD zu arbeiten, kommunistische Propaganda zu treiben und mit Parteifreunden in Düsseldorf zu kommunizieren, obwohl er sich nach seiner Entlassung aus der „Schutzhaft“ verpflichten musste, sich politi- scher Tätigkeiten zu enthalten. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter warnte Cramer – beide kannten sich von früheren gemeinsamen Schmuggelgeschäften (!) – mit den Worten: „Max, wenn Du Dich weiter politisch betätigst, dann wird es Dir schlecht gehen.“ So machte er dem NSDAP-Kreisleiter von Mettmann, Schwarz, und der SA-Standarte 258 Mitteilung, dass Cramer auch nach seiner Entlassung aus der „Schutzhaft“ weiterhin politisch tätig sei. Ein SA-Angehöriger, der die Identität der Täter kannte, wurde von dem NSDAP-Ortsgruppenleiter von Grui- ten dazu angehalten, die Namen nicht bekanntzugeben, woraufhin dieser in den ­Ermittlungen39 bestritt, die Täter erkannt zu haben. Der frühere NSDAP-Orts­ gruppenleiter von Gruiten wurde von der Anklage eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit freigesprochen, weil nicht nachweisbar war, dass er mit den Fol- gen rechnete. Zwischen der Denunziation und den Folgen müsse laut Gericht ein ursächlicher Zusammenhang bestehen, ein Kausalzusammenhang zwischen der Meldung des NSDAP-Ortsgruppenleiters und der Festnahme und Erschießung Cramers lag aber nicht eindeutig vor. Zwar bestand ein diesbezüglicher Verdacht gegen den NSDAP-Ortsgruppenleiter, der am Abend vor der Tat ebenfalls in der Gaststätte „Neanderhöhle“ gewesen war, es fehlte aber ein Nachweis, dass seine Anzeige ursächlich für das Verhalten der Täter war.40 Zu einem geringen Teil handelte es sich auch um Racheaktionen gegen „ab- trünnige“ ehemalige NS-Angehörige. Robert Bässler, ein ausgetretenes NSDAP- Mitglied und früherer SA-Sturmführer, wurde am 4. 4. 1933 in Düsseldorf er-

38 Vgl. Wuppertal 5 Js 1637/46 = 5 Ks 2/50, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 240/18– 25. 39 Vgl. Wuppertal 4 J 1636/33. 40 Vgl. Wuppertal 5 Js 478/49 = 5 Ks 1/50, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 191/148. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 741 schossen.41 Der frühere NSDAP-Kreisleiter von Offenbach und Hessische NSDAP- Landtagsabgeordnete Karl Wilhelm Schäfer überwarf sich mit der NSDAP und erstattete 1931 Strafanzeige wegen der sogenannten „Boxheimer Dokumente“ – einer Art Blaupause für eine gewaltsame Machtübernahme der NSDAP – , sein ­Exemplar der „Boxheimer Dokumente“ übergab er dem Frankfurter Polizeiprä­ sidenten, sein Wissen vertraute er auch dem Hessischen Innenminister Leuschner an, der die Dokumente veröffentlichen ließ. Nach der „Machtergreifung“ war Schäfer am 10. 6. 1933 von der Polizei in Frankfurt verhaftet worden, nachdem der Verfasser der „Boxheimer Dokumente“, Werner Best, hessischer Polizeipräsi- dent geworden war. Am 30. 6. 1933 wurde Schäfer entlassen, dabei bereits hinter ihm hergeschossen. Am 10. 7. 1933 wurde er erneut auf Befehl Bests verhaftet, am 15. 7. 1933 verfügte Best die Entlassung aus dem Gefängnis Darmstadt, Schäfer sollte zur hessisch-preußischen Landesgrenze zwischen Neu-Isenburg und Frank- furt gebracht werden. Am 17. 7. 1933 wurde der damals 36-jährige Diplomhan- delslehrer Schäfer gegen 2.45 Uhr zwischen Neu-Isenburg und Frankfurt am Main auf einer Brücke mit fünf Schüssen getötet, die Leiche über die Bahngleise geworfen, wo sie um 7.20 Uhr in einem Entwässerungsgraben am Bahngleis Isen- burg-Luisa im Frankfurter Stadtwald entdeckt wurde. Best (und anderen) war trotz Tatverdachts eine Beteiligung an der Tat nicht nachzuweisen.42 Die Exzesse in Braunschweig und Umgebung erreichten ein furchterregendes Ausmaß, weil dort eine ausgeprägte Terrorherrschaft schon früh hatte Fuß fassen können. In Braunschweig hatte seit Oktober 1930 ein NSDAP-Innenminister der Regierung angehört, ab Mitte September 1931 war NSDAP-In- nenminister unter dem DNVP-Ministerpräsidenten Dr. Werner Küchenthal, der im April 1933 von seinem Posten zurücktrat. Der Reichsstatthalter in ­Braunschweig, Wilhelm Friedrich Loeper ernannte ­Klagges daraufhin zum Ministerpräsidenten und Minister für Inneres und Volksbildung,­ das Amt des Ministerpräsidenten übte Klagges bis zum 12. 4. 1945 aus. SS-Standartenführer wurde Justiz- und Finanzminister. Regierungsrat im Landespolizeiamt (Referat III) des Braunschweigischen Innenministeriums wurde der spätere SS-Gruppenführer Friedrich Jeckeln. Am 1. 3. 1933 gab Klagges als Innenminister in seiner Zuständig- keit für das Polizeiwesen einen Erlass heraus, mit dem die SA- und SS-Hilfspolizei geschaffen wurde. Er bestellte auch ihm direkt unterstellte politische Beauftragte, die er mit NSDAP-Kreisleitern und bewährten Parteigenossen besetzte. Sie leiteten die Neubesetzung von Bürgermeisterposten und waren verantwortlich für die Ver- bindung zwischen NSDAP und Verwaltungsbehörden, dienststellenmäßig waren sie bei den Kreisdirektionen angesiedelt. Diese politischen Beauftragten bearbeite- ten u. a. Schutzhaftangelegenheiten und hatten weitreichende Machtbefugnisse, die sie in Zusammenarbeit mit der Hilfspolizei zu zahlreichen Terroraktionen gegen politische Gegner nutzten. Die Durchführungsverordnungen zur „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. 2. 1933, mit denen die

41 Vgl. Düsseldorf 8 Js 155/47, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 268/15. 42 Vgl. Frankfurt 18/3 Js 769/47, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 32060/1–9. 742 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? kommunistischen Jugend­organisationen und zahlreiche sozialistische Turn-, Sport-, Gesangs- und andere Vereine verboten wurden, wurden in Braunschweig durch Klagges schon im März 1933 rechtswidrig auch gegen die SPD angewandt. Am 9. 3. 1933 wurde das sogenannte Volksfreundgebäude (SPD-Parteigebäude) in Braunschweig von der SS besetzt, wobei es zu schweren Misshandlungen von Sozialdemokraten und Kommunisten kam, ein 25-jähriger namens Hans Saile wurde dabei getötet. Die Besetzung war von SS-Sturmbannführer Alpers vorge- schlagen und von Klagges gebilligt worden. Die SS richtete sich daraufhin im Volksfreundgebäude häuslich ein und nutzte das Gebäude auch als Haftlokal für die NS-Gegner. Am 11. 3. 1933 – drei Wochen vor der nationalen Boykottaktion – wurden jüdische Geschäfte verwüstet. Im März und April 1933 wurden Sozial- demokraten durch Gewaltanwendung gezwungen, ihre Abgeordnetenmandate im und der Stadtverordnetenversammlung in Braunschweig aufzugeben, so dass Ende April 1933 der Landtag vollständig in den Händen der NSDAP war. Auch der SPD-Oberbürgermeister von Braunschweig wurde seines Amtes entho- ben. In Seesen, Blankenburg, Hasselfelde und Zorge hatte die NSDAP am 5. 3. 1933 schlechte Wahlergebnisse gehabt, im Rahmen der „Gleichschaltungsaktionen“ wurden daraufhin Häuser politischer Gegner nach Waffen und Propagandaschrif- ten durchsucht, Angehörige der Linksparteien verhaftet und schwer misshandelt, um sie vor weiterer politischer Betätigung abzuschrecken. Am 15. 3. 1933 kam es zu Ausschreitungen in Seesen, am 19. 3. 1933 in Blankenburg, am 23. 3. 1933 in Zorge, am 27. 3. 1933 in Lutter am Barenberge und in Langelsheim, wobei ein so schwere Verletzungen erlitt, dass er daran verstarb.43 Am 27. 3. 1933 wur- de das AOK-Gebäude von der SA in Braunschweig besetzt, dabei Mitglieder des Stahlhelms und des Reichsbanners von Polizei und SS verhaftet und oft erheblich misshandelt. Reichsbannerangehörige hatten angesichts der Verfolgungsaktionen versucht, dem Stahlhelm beizutreten. Sowohl aus dem von der SA beschlagnahm- ten Gebäude der Allgemeinen Ortskrankenkasse als auch dem von der SS be- schlagnahmten Volksfreundhaus wurden Haftstätten, in denen politische Gegner festgehalten und misshandelt wurden. Die versehentliche Erschießung des SS-Mannes Gerhard Landmann in der Nacht vom 29./30. 6. 1933 im Eichtal bei Braunschweig diente als Vorwand für Massenverhaftungen politischer Gegner. Wegen einer von KPD-Seite geplanten Flugblattverteilung setzte die SS Streifen ein, im Eichtal wurde eine Großfahn- dung ausgelöst, als ein kommunistisches Flugblatt aufgefunden wurde. Ein SS- Mann gab einen Schuss ab, bei der nachfolgenden Schießerei wurde der SS-Mann Landmann tödlich getroffen – er war vermutlich durch eine nicht uniformierte SS-Streife erschossen worden und erhielt am 4. 7. 1933 ein Staatsbegräbnis. Je- ckeln verlieh noch am Tatort seiner Ansicht Ausdruck, dies sei das Werk der Kom- munisten, es kam zu Hausdurchsuchungen in der Gegend und einer Pressekam- pagne, in der marxistischen Flugblattverteilern die Benutzung von Schusswaffen angelastet wurde. In der Nacht vom 29./30. 6. 1933 wurden etwa 30 Anwohner im

43 Vgl. Braunschweig 1 Js 22/46 = 1 KLs 2/47, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 501. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 743

Eichtal verhaftet, in Braunschweig und Umgebung insgesamt um die 400 Men- schen. Von einem verhafteten Opfer wurde ein angebliches Geständnis abgepresst, das der SS-Führer Kurt Kleist Jeckeln übergab, der daraufhin die Erhängung des Opfers befahl. Gegenüber dem Führer der SA-Hilfspolizei, Otto Gattermann, sag- te Jeckeln, er wolle zwölf Personen im AOK-Gebäude erschießen lassen. Jeckeln, zwei SS-Leute sowie der Führer der SA-Hilfspolizei ließen die politischen Gefan- genen an sich vorbeiparadieren und Namen und Parteimitgliedschaft angeben. Jeckeln suchte dabei 30 Personen aus, die Gruppe wurde dann auf 13 reduziert, drei Personen wegen ihrer Weltkriegsauszeichnungen bzw. Kriegsverletzungen zurückgestellt. Die zehn Übrigen waren bereits schwer misshandelt worden, ein Angehöriger der SS-Hilfspolizei und der Führer eines Sturmbanns erhielten den Befehl – entweder von Jeckeln oder dem SS-Hilfspolizeiführer Kleist – , die zehn ausgesuchten Personen nach Rieseberg zu bringen. Ein SA-Sturmbannführer übernahm die Lkw-Fahrt auf Befehl Jeckelns. Jeckeln hatte behauptet, auf dem Pappelhof bei Rieseberg ein Lager errichten zu wollen. Die Häftlinge wurden im Haftraum misshandelt, dann gegen 23 Uhr am 4. 7. 1933 von einem von Jeckeln entsandten SS-Erschießungskommando getötet. Fünf Leichen befanden sich in dem Haftraum, ein Mann war vermutlich erhängt worden. Fünf weitere Männer waren in einem zweiten Raum getötet worden. Zeugen, die den Tatort sahen, ­äußerten, die Räume hätten wie ein Schlachthaus ausgesehen, weil alles mit Blut bespitzt gewesen sei. Jeckeln begab sich an den Tatort und erklärte dort, der Fall werde durch das Staatsministerium des Innern (dem er angehörte) aufgeklärt werden. In einer Pressemitteilung hieß er die Tat als Vergeltung gut und deklarier- te sie zur Warnung an die KPD. Das Braunschweigische Innenministerium rief die Meldung daraufhin wieder zurück und übergab eine Meldung des Landes­ polizeiamts zur Veröffentlichung.44 Ab Anfang Juli 1933 wurden im ganzen Land Braunschweig, insbesondere in Braunschweig, und Wolfenbüttel, politische Gegner festgenommen und misshandelt, mehr als ein Dutzend starb bis September 1933 meist als Opfer von Misshandlungen. In Blankenburg kam es noch im September 1933 zu einer Aktion gegen die politischen Gegner, weil das Gerücht entstanden war, es gebe dort eine kommunistische Untergrundbewegung. Etwa 140 politische Gegner wurden daraufhin von SA und SS festgenommen, in Blankenburg in einer Gast- stätte vorgeführt und durch Misshandlungen zu Aussagen genötigt. Geleitet wur- de die Aktion von dem SS-Führer Jeckeln, der für seine Skrupellosigkeit bekannt war. Die Ausschreitungen und die Gesetzlosigkeit hatten solche Ausmaße ange- nommen, dass Braunschweig im Preußischen Innenministerium den Spitznamen „Neu-Mexiko“ erhielt.45 Die Täter, die nach 1945 zur Rechenschaft gezogen wurden, mussten mit teils geharnischten Strafen rechnen. Wegen der Misshandlungen politischer Gegner im Juni/Juli 1933 in Braunschweig wurde ein früherer SA-Hilfspolizist zu sechs Jah-

44 Vgl. Braunschweig 1 Js 491/48 = 1 Ks 29/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 1416–1468. 45 Vgl. Wassermann, Zur Geschichte des Oberlandesgerichts Braunschweig, S. 41. 744 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ren Zuchthaus wegen Aussageerpressung in TE mit Körperverletzung im Amt und schwerer Körperverletzung im Amt verurteilt.46 Die Beteiligung an der Akti- on in Rieseberg bei Königslutter brachten dem ehemaligen SS-Truppführer Peter Behrens (früherer Referent des Ministerpräsidenten Klagges), SS-Scharführer Al- bert Adler, dem SA-Sturmbannführer Reinhard Krügel und dem SS-Truppführer Paul Szustak Strafen zwischen vier und zehn Jahren Gefängnis wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Körperverletzung im Amt, Aussageepressung und Frei- heitsberaubung ein, weil sie als Hilfspolizisten politische Gegner mit Gummi- knüppeln, Ochsenziemern und sonstigen Schlagwerkzeugen misshandelten (erste Strafmaße 1950 ­hatten sogar mehr als 25 Jahre Haft betragen). Die Beteiligung an der Tötung der zehn Kommunisten war nicht nachweisbar.47 Der frühere Chef der SA-Hilfspolizei in Braunschweig Otto Gattermann wurde wegen Straftaten an 132 Personen im AOK-Gebäude in Braunschweig und Blankenburg 1950 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in TE mit gefährlicher Körperverletzung im Amt, Aussage­erpressung im Amt, Freiheitsberaubung im Amt, Freiheitsberau- bung im Amt mit Todesfolge zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.48 Als der ­ehemalige Leiter der Hilfspolizei und Führer der SA-Standarte Wolfenbüttel frei- gesprochen wurde49, tobte ein Sturm der Entrüstung durch Braunschweig: Anti- faschistische Organisationen versammelten sich im Juli 1947 zu einer Demons­ tration gegen das Urteil. In der Presse wurde ironisch Heinrich Zille mit dem ­Diktum zitiert: „Gerechtigkeit ist eine schöne Sache, es gibt aber auch Justiz.“50 Der Justizminister Ellinghaus ­äußerte, das Urteil sei zu milde, der OLG-Präsident beabsichtige deswegen, die Strafkammer „personell umzugestalten“.51 Mit dem früheren Ministerpräsidenten des Landes Braunschweig, Dietrich Klagges, stand ein hochrangiger Repräsentant des NS-Regimes vor einem deut- schen Gericht.52 Angeklagt wurde Klagges im Mai 1949 wegen VgM, Freiheitsbe- raubung, Körperverletzung, teils mit Todesfolge im Amt, Aufforderung bzw. Dul- dung von Freiheitsberaubungen, Körperverletzungen, Aussageerpressungen und Mord. Die Beteiligung an der Terrorherrschaft war offensichtlich: Nicht nur hatte Klagges von 1933 bis 1945 als Ministerpräsident gedient, er hatte schließlich den SS-Sturmbannführer und Leiter der SS-Hilfspolizei im Land Braunschweig, ­Alpers, zum Reichsstatthalter und im April 1933 zum Justizminister ernannt, im Juni 1933 den SS-Führer Jeckeln zum Braunschweigischen Regierungsrat und

46 Vgl. Braunschweig 1 Js 233/46 = 1 Ks 11/50, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 641–646; Nr. 1415; 62 Nds Fb. 2, Nr. 501; 62 Nds Fb. 2, Nr. 1352–1414. 47 Vgl. Braunschweig, 1 Js 491/48 = 1 Ks 29/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 1416–1468; 62 Nds Fb. 2, Nr. 1914–1918. 48 Vgl. Braunschweig 1 Js 647/49 = 1 Ks 43/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 1077–1088. 49 Vgl. Braunschweig 1 Js 611/46 = 1 KLs 18/47, 1 Ks 31/48, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 759–776. Der Angeklagte wurde 1947 freigesprochen, 1949 zu drei Jahren Haft verurteilt, der BGH hob das Urteil 1952 auf und stellte das Verfahren endgültig ein. 50 „Deutsche Justiz 1947“, in: Jüdisches Gemeindeblatt für die Britische Zone, 11. 7. 1947. 51 Ebd. 52 Vgl. Braunschweig 1 Js 656/45 = 1 Ks 17/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 780–879. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 745

Leiter des neugeschaffenen Landespolizeiamtes. Die Strafverfolgung von NS-Tä- tern behinderte er durch die Anwendung der NS-Amnestien vom 12. 6. und 22. 9. 1933, an sogenannten Schutzhaftmaßnahmen politischer Gegner, die in ­Gefängnisse und KZ kamen, war er beteiligt. Auch die Kenntnis diverser Strafta- ten stand fest, da Klagges sich billigend gegenüber einem Landgerichtsrat (und SA-Sturmführer) namens Dr. Schmidt geäußert hatte, als dieser sich über die Ausschreitungen der Hilfspolizei beschwert hatte. Zu den Ausschreitungen, von denen Klagges nachweislich wusste bzw. die er selber angeordnet hatte, gehörten die sogenannten Überholungs- bzw. Gleichschaltungsaktionen in Braunschweig, Seesen, Blankenburg, Hasselfelde, Zorge, Lutter, Langelsheim und Helmstedt. Die Aktionen in Seesen, Blankenburg, Hasselfelde und Zorge hatte Klagges nachge- wiesenermaßen selbst angeordnet. Von den Aktionen in Lutter am Barenberge und Langelsheim erfuhr Klagges und billigte sie, hatte sie aber nicht selbst befoh- len. Er begünstigte danach die Täter, die er der Strafverfolgung entzog. Klagges hatte den Befehl zur Besetzung des AOK-Gebäudes gegeben, um ein Anwachsen des Stahlhelms zu verhindern. Klagges wusste auch von den Zuständen, die in den Haftlokalen der Hilfspolizei wie dem Volksfreundhaus und dem AOK-­ Gebäude herrschten, wo zahllose Personen willkürlich festgehalten und oft ­unmenschlich gequält wurden, unternahm aber nichts dagegen und missbrauchte damit seine Amtsgewalt. Die Körperverletzungen, Aussageerpressungen und ­Nötigungen im Rahmen der Aktion im September 1933 in Blankenburg billigte Klagges. Er war außerdem an diversen rechtswidrigen Schutzhaftangelegenheiten in Einzelfällen beteiligt, die nicht Bestandteil der sogenannten Aktionen waren. Nach der Erschießung des SS-Mannes Landmann verhinderte Klagges polizeiliche Er- mittlungen und schloss sich stattdessen der Meinung des SS-Führers Jeckeln an, Landmann sei von Kommunisten erschossen worden. Die Tötung der zehn Kom- munisten aus Braunschweig Anfang Juli 1933 in Rieseberg begünstigte Klagges, indem er die der Tat verdächtigen SS-Leute der Strafverfolgung entzog. Dass er an der Tötung beteiligt war, war nicht erwiesen. Klagges wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in TE mit Beihilfe zum Landfriedensbruch, Missbrauch der Amtsgewalt, Begünstigung im Amt, Nötigung im Amt, Freiheitsberaubung im Amt und Körperverletzung im Amt zu lebenslänglicher Haft verurteilt, nach der Revision wurde nur der Strafausspruch geändert, es entfiel der Schuldausspruch bezüglich KRG 10. Er wurde wegen derselben Delikte zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, das Spruchgerichtsurteil von (6 Jahre Gefängnis) wurde in die Strafe einbezogen. Das Verfahren53 war für die Besatzungszeit – wo meist eine oder zwei Hauptver- handlungen zur Urteilsfindung ausreichten – äußerst umfangreich: Es gab fast 100 Bände Ermittlungsakten, etwa 250 Zeugen (darunter Rudolf Diels, Dr. Werner ­Küchenthal und der frühere Oberbürgermeister von Braunschweig, Ernst Böhme)

53 Beschreibung des Prozesses auch bei Rex, Zeitgeschichte im Spiegel braunschweiger Strafpro- zesse, S. 229–248. 746 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? wurden vernommen, die Hauptverhandlung erstreckte sich über mehr als drei Monate, das Urteil wurde auf 176 Seiten begründet.54 Klagges hatte umfangreiche Möglichkeiten, sich zu verteidigen, das Schlussplädoyer wurde sogar als Buch ver- öffentlicht.55 Über den Fall Klagges und verwandte Fälle äußerten die Briten, sie seien der Grund von viel Unfrieden gewesen, weswegen eine frühe Bearbeitung besonders willkommen sei. „The Klagges and connected cases have been the cause of much unpleasantness in Brunswick, therefore their early disposal is welcome news and will help to clear the air.“ Im Übrigen hoffe man, dass angesichts der großen Fortschritte bei der Abarbeitung der NSG im Bereich des LG-Bezirks Braunschweig die Beendigung dieser Verfahren für Ende 1949 angekündigt werden könne.56 Die Prozesse hatten ein lebhaftes Presseecho hervorgerufen: Die Verhaf- tung der Täter57, die angeblich schleppende Bearbeitung der Verfahren58 wie die Anklageschrift im Rieseberg-Prozess59, die Hauptverhandlung60 oder die Urteile

54 Zu dem Verfahren auch: Wassermann, Zur Geschichte des Oberlandesgerichts Braunschweig, S. 97. 55 Vgl. Klagges, Angeklagter oder Ankläger? 56 Inspektion LG-Bezirk Braunschweig, 21. 6. 1949, TNA, FO 1060/1237. 57 Vgl. „Rieseberg-Mörder verhaftet“, in: Braunschweiger Zeitung, 29. 5. 1948. 58 Vgl. „Schläft Braunschweigs Justiz?“ in: Niedersächsische Volksstimme, 19. 3. 1949. 59 Vgl. „Monstreprozeß auf Monstreprozeß“, in: Hannoversche Allgemeine, 20. 9. 1949. 60 Vgl. „Ein grauenvoller Anblick“, in: Braunschweiger Zeitung, 28. 6. 50; „Hesse: Ich glaube, mir wurde elend“, in: Braunschweiger Presse, 28. 6. 1950; „Den Leichen wurden die Schuhe ausge- zogen“, in: Die Wahrheit, 28. 6. 1950; „Häftlinge wie Vieh vom Wagen gestoßen“, in: Braun- schweiger Zeitung, 23. 6. 1950; „Akte ‚Rieseberg‘ verschwand damals. Die Negative vom Tatort mußten vernichtet werden“, in: Braunschweiger Zeitung, 24./25. 6. 1950; „Trinkgelage nach Beerdingung der Opfer“, in: Die Wahrheit, 24. 6. 1950; „Auch Klagges wußte über ­Rieseberg Bescheid. Gattermann: Erschießungsbefehl kam von Jeckeln“, in: Braunschweiger Presse, 21. 6. 1950; „Jeckeln suchte die Rieseberger Opfer aus“, in: Die Wahrheit, 28. 6. 1950; „Der feige Mord in Rieseberg vor Gericht“, in: Die Wahrheit, 15. 6. 1950; „Vier SS-Führer unter schwerer Anklage. Rieseberg-Morde sollen gesühnt werden“, in: Braunschweiger Zeitung, 14. 6. 1950; „Erst Motorengeräusch, dann knallten die Schüsse“, in: Braunschweiger Presse, 23. 6. 1950; „Angehörige der Rieseberger Opfer sagen aus“, in: Die Wahrheit, 21. 6. 1950; „Die Hintergrün- de der Bluttat von Rieseberg“, in: Braunschweiger Zeitung, 21. 6. 1950; „Die Rieseberg-Akte im Stahlschrank“, in: Braunschweiger Zeitung, 30. 6. 1950; „Was wissen Sie von Rieseberg? Rabauken-Meyer war zu offenherzig“, in: Braunschweiger Presse, 30. 6. 1950; „Behrens als Tä- ter beschuldigt“, in: Die Wahrheit, 3. 7. 1950; „Ein ehemaliger SS-Mann wundert sich. Empörende(r) Zwischenfall im Rieseberg-Prozeß“, in: Braunschweiger Presse, 1. 7. 1950; „Auch Frauen wurden nicht geschont. Dramatische Zeugenaussagen im Rieseberg-Prozeß“, in: Braunschweiger Presse, 5. 7. 1950; „Aussage eingeschränkt“, in: Braunschweiger Zeitung, 1./2. 7. 1950; „Du kommst mit nach Walhalla“, in: Braunschweiger Zeitung, 5. 7. 1950; „Schwarzhemdengruppe in der SS“, in: Braunschweiger Zeitung, 4. 7. 1950; „Wer war der Mann mit der Narbe“, in: Braunschweiger Presse, 8. 7. 1950; „Szustak hat feste mitgeschlagen. Auch Behrens und Adler schwer belastet“, in: Braunschweiger Presse, 4. 7. 1950; „So vernahm Szustak seine Opfer ‚Wir wollen noch länger unseren Spaß haben‘“, in: Braunschweiger Pres- se, 7. 7. 1950; „Krügel und Adler belastet“, in: Braunschweiger Zeitung, 8./9. 7. 1950; „Mittelal- terliche Vernehmungsmethoden“, in: Die Wahrheit, 8. 7. 1950; „Hier begann die Hölle“, in: Die Wahrheit, 12. 7. 1950; „In der AOK war die Hölle los. Szustak half mit einer Peitsche dem Gedächtnis nach“, in: Braunschweiger Zeitung, 7. 7. 1950. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 747 im Rieseberg-Prozess61, mehr natürlich noch der Prozess gegen Klagges und sogar dessen Stafvollzug waren von der Presse kritisch begleitet worden.62

61 Vgl. „Ein Mörder wittert Morgenluft. Unverständliche Urteile im Adler-Szustak-Prozeß/15 Jahre werden Adler geschenkt“, in: Braunschweiger Presse, 4. 10. 1952; „25 Jahre Zuchthaus für Adler“, in: Braunschweiger Zeitung, 24. 7. 1950; „Schlußwort der Angeklagten“, in: Braun- schweiger Presse, 19. 7. 1950; „Die Urteile im Rieseberg-Prozeß. Fünfundzwanzig Jahre Zucht- haus für Adler“, in: Braunschweiger Presse, 24. 7. 1950; „Die Plädoyers im Rieseberg-Prozeß. Kampf gegen Unmenschlichkeit durch menschliche Urteile“, in: Braunschweiger Zeitung, 18. 7. 1950; „Maßvolle Strafen im Riesebergprozeß“, in: Die Wahrheit, 17. 7. 1950; „Rieseberg und Massenpsychologie. Verteidiger fordern milde Urteile“, in: Braunschweiger Presse, 18. 7. 1950; „Die Strafanträge im Rieseberg-Prozeß“, in: Braunschweiger Zeitung, 15./16. 7. 1950; „Entlastungsversuch vor dem Urteil“, in: Braunschweiger Zeitung, 19. 7. 1950; „Dieser Zug von Menschlichkeit wäre mir aufgefallen“, in: Die Wahrheit, 1. 7. 1950; „Lebenslänglich für Adler – Strafanträge im Rieseberg-Prozeß“, in: Braunschweiger Presse, 15. 7. 1950. 62 Vgl. „Klagges-Prozeß in 2 Monaten“, in: Braunschweiger Zeitung, 24. 4. 1948; „Klagges-Prozeß erst im kommenden Jahr“, in: Braunschweiger Zeitung, 7. 4. 1949; „250 Zeugen im Klagges- Prozeß“, in: Braunschweiger Zeitung, 28. 7. 1949; „Der erste Gestapochef als Zeuge geladen“, in: Braunschweiger Zeitung, 4. 1. 1950; „Klagges besaß Hitlers Vertrauen“, in: Braunschweiger Zeitung, 12. 1. 1950; „Klagges unterdrückte die Wahrheit. Wenn man Menschen seelisch zer- brechen will, müssen sie körperlich gebrochen werden.“, in: Braunschweiger Zeitung, 14./15. 1. 1950; „Klagges zwang Böhme zum Verzicht“, in: Braunschweiger Zeitung, 20. 1. 1950; „Die Fälle Dr. Jasper und Mathias Theisen“, in: Braunschweiger Zeitung, 21. 1. 1950; „Klagges be- schönigt Hilfspolizeiterror“, in: Braunschweiger Zeitung, 25. 1. 1950; „Klagges befahl Überho- lungsaktionen“, in: Braunschweiger Zeitung, 28./29. 1. 1950; „Langelsheimer Naziterror 1933“, in: Braunschweiger Zeitung, 31. 1. 1950; „Klagges und Alpers sind Psychopathen. Darüber war sich 1933 die ganze Landtagsfraktion der NSDAP einig.“, in: Braunschweiger Zeitung, 5. 2. 1950; „Klagges und die Bluttat von Rieseberg“, in: Braunschweiger Zeitung, 11./12. 2. 1950; „Wir handeln im Auftrage von Klagges rief SS-Sturmführer Karl Meyer bei der Besetzung des Volksfreund-Hauses“, in: Braunschweiger Zeitung, 15. 2. 1950; „Klagges wußte von dem Ter- ror in der AOK“, in: Braunschweiger Zeitung, 21. 2. 1950; „Tarnung der Bluttat von Rieseberg“, in: Braunschweiger Zeitung, 25./26. 2. 1950; „Politische Gegner im ganzen Lande verfolgt“, in: Braunschweiger Zeitung, 3. 3. 1950; „Klagges besichtigte das KZ in Dachau.“, in: Braunschwei- ger Zeitung, 8. 3. 1950; „Klagges in allen Anklagepunkten schuldig“, in: Braunschweiger Zei- tung, 18./19. 3. 1950; „Lebenslänglich Zuchthaus für Klagges“, in: Braunschweiger Zeitung, 6. 4. 1950; „Klagges“, in: Braunschweiger Presse, 28. 12. 1955; „Mörder Klagges“, in: Braun- schweiger Presse, 28. 12. 1955; „Keine Gnade für Faschist Klagges! Schreiben der Landesleitung Niedersachsen der KPD an die Hellwege-Regierung“, in: Die Wahrheit, 2. 1. 1956; „Denn er ist nicht guten Willens“, in: Braunschweiger Presse, 27. 12. 1955; „Klagges soll entlassen werden. Oberstaatsanwalt legte jedoch Beschwerde ein“, in: Braunschweiger Presse, 27. 12. 1955; „VVN Braunschweig: Nazi-Klagges nicht entlassen“, in: Die Wahrheit, 21. 12. 1955; „Klagges sollte entlassen werden“, in: Braunschweiger Nachrichten, 27. 12. 1955; „Das Recht allein kann hier entscheiden. In der Strafsache Dietrich Klagges: Jenseits von Rachegelüst und Sentimentali- tät“, in: Braunschweiger Zeitung, 28. 12. 1955; „Proteste gegen Entlassung Klagges“, in: Die Wahrheit, 17. 12. 1955; „Keine Freiheit für Kriegsverbrecher Klagges!“, in: Die Wahrheit, 15. 12. 1955; „Protest gegen Entlassung von Klagges“, in: Braunschweiger Presse, 13. 12. 1955; „Kein Weg zur Gnade“, in: Braunschweiger Zeitung, 9. 12. 1955; „Klagges beantragt Entlas- sung“, in: Braunschweiger Presse, 26. 11. 1955; „Haftentlassung für Klagges beantragt“, in: Braunschweiger Zeitung, 26./27. 11. 1955; „Klagges soll entlassen werden“, in: Die Wahrheit, 29. 12. 1955; „Klagges darf nicht freigelassen werden“, in: Die Wahrheit, 22. 12. 1955; „Landge- richt will Klagges freilassen“, in: Braunschweiger Zeitung, 27. 12. 1955; „Wieder Protest gegen Klagges-Entlassung“, in: Braunschweiger Presse, 12. 1. 1956; „Nazi-Klagges bleibt im Zucht- haus“, in: Neue niedersächsische Volksstimme, 22. 2. 1956; „Klagges bleibt weiterhin in Haft“, in: Braunschweigische Nachrichten, 22. 2. 1956; „Klagges bleibt weiterhin in Haft“, in: Braun- schweigische Zeitung, 22. 2. 1956; „Ein Verbrecher sieht die Freiheit wieder. Braunschweigs 748 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Die wegen der Straftaten an politischen Gegnern verhängten Strafmaße waren, wie schon aus den Braunschweiger Verfahren deutlich wurde, im Vergleich zur Ahndung manch anderer NS-Straftaten teils massiv. Dingfest gemachte Täter der „Köpenicker Blutwoche“ wurden 1948 zu vier Jahren Zuchthaus63 bzw. 15 Jahren Zuchthaus wegen VgM64 verurteilt. Die schwere Misshandlung von KPD-, SPD- Angehörigen und Juden in der Zentrale der SA-Feldpolizei Mitte März 1933 in Berlin brachte einem ehemaligen SA-Truppführer eine Verurteilung zu neun Jah- ren Zuchthaus wegen VgM ein.65 Die Beteiligung an Schießereien (in zwei Fällen mit Todesfolge) und Schlägereien (in einem Fall mit Todesfolge) 1932/1933 in Landsberg an der Warthe und Dühringshof/Vietz sowie an der Verhaftung und Misshandlung politischer Gegner (in einem Fall mit Todesfolge) führte zur Ver- urteilung eines früheren SA-Angehörigen zu zehn Jahren Zuchthaus wegen fort- gesetzten Verbrechens gegen die Menschlichkeit, bezüglich Teilkomplexen erfolgte Freispruch mangels Beweises.66 Drei frühere SA-Angehörige, die bei Vernehmun- gen von KPD- und SPD-Angehörigen sowie Juden in -Gerthe an Miss- handlungen beteiligt waren, so dass ein Kommunist und ein jüdischer Kaufmann im April und Juli 1933 starben, wurden im Juli 1948 zu Zuchthausstrafen zwi- schen neun und sieben Jahren verurteilt.67 Terrormaßnahmen gegen politische Gegner in Nürnberg führten 1948 zur Verurteilung des früheren SA-Brigadefüh- rers und Mitglieds des Reichstags, Philipp Wurzbacher, zu acht Jahren Zuchthaus wegen schweren Haus- und Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung, versuchter Nötigung und Bedrohung.68 Die Misshandlung von Kommunisten im August 1933 auf der Samariter-Wache in Nürnberg trug einem ehemaligen SA- Obertruppführer im Februar 1948 gleichfalls acht Jahre Zuchthaus ein.69 Besonders die ehemaligen Angehörigen der Staatspolizei mussten mit harten Strafen rechnen. Der frühere Leiter der Staatspolizei-Außenstelle Recklinghausen, Wilhelm Ten- holt, wurde wegen Straftaten an politischen Gegnern – Aussageerpressung, Kör- perverletzung im Amt, teils mit Todesfolge, Verbrechen gegen die Menschlichkeit – im Oktober 1949 zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt.70 Der Ex-Kriminalober- sekretär der Staatspolizei Bielefeld, der verhafteten Kommunisten in Bielefeld und Herford Aussagen und Geständnisse durch Misshandlungen abpressen wollte,

früherer Ministerpräsident wird am 2. Oktober aus der Strafhaft entlassen.“, in: Braunschwei- gische Presse, 2./3. 2. 1957; „Einem Verbrecher winkt die Freiheit“, in: Braunschweigische ­Presse, 11. 10. 1956; „Staatsanwalt legt Beschwerde ein“, in: Braunschweigische Zeitung, 21. 10. 1956. 63 Vgl. Berlin 1 P Js 282/47 = P KLs 197/47. 64 Vgl. Berlin 12 Js 123/46 = 1 P Ks 6/48. 65 Vgl. Berlin 1 P Js 1365/47 = 1 P KLs 64/48. 66 Vgl. Berlin P Js 283/48 = P Ks 9/49. 67 Vgl. Bochum 2 Js 752/47 = 2 KLs 18/48. 68 Vgl. Nürnberg-Fürth 2c Js 148/48 = KLs 250/48, StA Nürnberg, StAnw Nürnberg 2264/I, II. 69 Vgl. Nürnberg-Fürth 1c Js 924/47 a–i = KLs 287/47, StA Nürnberg, StAnw Nürnberg 2046/I– VII. 70 Vgl. Bochum 2 Js 176/49 = 2 Ks 22/49. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 749 wurde im Dezember 1949 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt.71 Ein ehemali- ger Kriminalobersekretär bei der Politischen Polizei bzw. Staatspolizei Dortmund, der Häftlingen – meist KPD-Angehörigen – bei Verhören seit 1933 Geständnisse genötigt hatte, wobei eines seiner Opfer später aufgrund des Geständnisses vom Volksgerichtshof zum Tod verurteilt wurde, erhielt 1949 als Strafe 15 Jahre Zucht- haus wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Aussageerpressung zu­ diktiert.72 In Hamburg wurde eine ganze Serie von Prozessen gegen ehemalige Gestapo- beamte eröffnet, die mit teils langjährigen Freiheitsstrafen endeten. Dem Dezer- nat zur Bekämpfung des Kommunismus in Hamburg hatte Kriminalkommissar Kraus vorgestanden. Kraus selbst war bereits verstorben, aber im Mai 1950 wurde immerhin sein Untergebener Carl August von Rönn, der zuletzt selbst Kriminal- kommissar und SS-Hauptsturmführer war, zu zwei Jahren drei Monaten Zucht- haus wegen VgM in TE mit Aussageerpressung, Körperverletzung im Amt, ­gefährlicher Körperverletzung und Pflichtverletzung verurteilt, weil er sich 1933/1934 schwere Misshandlungen politischer Gegner bei Vernehmungen zu- schulden kommen ließ. Er hatte in einer polizeilichen Vernehmung am 27. 8. 1948 die Vorwürfe bestritten: „Ich habe während meiner gesamten Dienstzeit bei der Gestapo im Hamburger Stadthaus vom März 1933 bis zum 14. 3. 1937 nicht eine einzige Mißhandlung an Festgenommenen gesehen. Gesprächsweise und durch angeordnete Besprechungen beim Leiter der Gestapo, Streckenbach, ist mir be- kanntgeworden, daß Mißhandlungen an Gefangenen vorgekommen sind. Diese Mißhandlungen hat Streckenbach aufs Schärfste verboten. Ich selbst habe mich während meiner Dienstzeit bei der Gestapo nicht an Mißhandlungen beteiligt und persönlich auch keine Mißhandlungen vorgenommen.“73 Ein anderer Ange- höriger des Referats zur Bekämpfung des Marxismus und Kommunismus, der ehemalige Kriminalassistent Hans Marien, der die oft noch minderjährigen Ange- hörigen des KJVD (Kommunistischer Jugendverband Deutschlands) von 1934 bis 1936 bei Vernehmungen und an Haftorten wie dem KZ Fuhlsbüttel und dem Hamburger Stadthaus misshandelte, wurde Ende 1950 wegen VgM in TE mit Körperverletzung im Amt und Aussageerpressung zu fünf Jahren Zuchthaus ver- urteilt.74 Der im selben Referat tätige Kriminaloberassistent Ernst Vollstedt war bereits Anfang 1950 zu 15 Jahren Zuchthaus wegen identischer Delikte (VgM in TE mit fortgesetzter Körperverletzung im Amt, Aussageerpressung, gefährlicher Körperverletzung) verurteilt worden, ihm waren Gefangenenmisshandlungen in 80, Aussageerpressung in 70 Fällen in den Jahren 1933 bis 1939 nachgewiesen worden.75 Schon 1948 waren zahlreiche frühere Angehörige der Stapo-Abteilung II a (Hochverrat, Kommunismus und Marxismus), außerdem auch V-Leute, ins-

71 Vgl. Bielefeld 5 Js 180/48 = 5 Ks 4/49. 72 Vgl. Dortmund 10 Js 92/46 = 10 Ks 1/49. 73 Vgl. Hamburg 14 Js 382/48 = 14 Ks 21/50, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 23795/50. 74 Vgl. Hamburg 14 Js 203/48 = 14 Ks 63/50, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 5452/51 (Bde. 1–2). 75 Vgl. Hamburg 14 Js 211/48 = 14 Ks 1/50, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 22511/50 (Bde. 1–2). 750 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? gesamt 16 Personen, wegen der Bekämpfung der Widerstandsbewegung insbe- sondere während des Krieges angeklagt worden, ihre Opfer kamen teils in Kon- zentrationslagern um oder wurden durch die NS-Justiz zu hohen Freiheitsstrafen oder zum Tod verurteilt und hingerichtet. Die höchste Strafe im Juni 1949 wurde nicht gegen einen Angehörigen der Gestapo verhängt – zwar wurde der ehemalige Kriminalsekretär und SS-Sturmscharführer Henry Helms wegen Freiheitsberau- bung, Körperverletzung und Aussageerpressung in TE mit VgM am 2. 6. 1949 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt –, sondern gegen einen früheren Angehörigen der Internationalen Brigaden, Alfons P., der ab 1939 als Spitzel für die Gestapo gearbeitet hatte. Er wurde zunächst zu zwölf Jahren Zuchthaus wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt, nach Revision des Angeklagten und der Auf- hebung der Anwendung des KRG 10 aufgrund der VO Nr. 234 der Hohen Kom- mission vom 31. 8. 1951 wurde das Verfahren Ende 1951 ganz eingestellt.76 Ob- wohl, wie gezeigt, die verhängten Strafen durchaus beeindruckend waren, erreg- ten sie das Missfallen der Presse, so etwa beim Urteil gegen den nicht immer zurechnungsfähigen früheren Gestapoangehörigen und Kriminalsekretär Hel- muth Deutschmann (ihm war 1928 der § 51 StGB zugebilligt worden), der 1949 wegen VgM in TE mit Körperverletzung im Amt und Aussagerpressung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, weil er von Frühjahr 1933 bis 1935 poli- tische Gegner bei Vernehmungen im KZ Fuhlsbüttel und im Hamburger Stadt- haus brutal malträtiert ­hatte.77 Das Hamburger Abendblatt verglich das vorlie- gende Urteil mit dem Totschlag einer Frau an ihrem Ehemann, die Frau war dafür zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt worden.78 Auch andere Zeitungen befanden, dass Deutschmann zu gut davongekommen sei.79 Andererseits ergingen natürlich auch milde Strafen, die selbst bei den Juristen zu Kopfschütteln führten. Der Leiter der SS-Hilfspolizei in Regensburg war ob der früheren Misshandlung verhafteter politischer Gegner am 15. 11. 1948 zu zwei Jahren Gefängnis wegen gefährlicher Körperverletzung, Amtsanmaßung, Frei- heitsberaubung verurteilt worden.80 Der Generalstaatsanwalt von Nürnberg, Ernst Durchholz, kritisierte das Urteil bei der Militärregierung, weil das Strafmaß angesichts von fünf einzelnen Straftaten zu niedrig schien, eine Nachprüfung habe allerdings keine Irrtümer ergeben. Da das Urteil bereits rechtskräftig war, hielt er nur noch einen Ausweg für möglich: „Um diesen Fehler in dem rechts- kräftigen Urteil zu heilen, halte ich die Aufhebung des Urteils durch die Militär­ regierung für er­wägenswert.“ Der OLG-Präsident von Nürnberg, Dr. Hans Hein-

76 Vgl. Hamburg 14 Js 259/47 = 14 Ks 25/49, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 2694/56; Vgl. auch „Das Urteil im Hamburger Gestapo-Prozeß“, in: Jüdisches Gemeindeblatt, 17. 6. 1949. 77 Vgl. Hamburg 14 Js 377/47 = 14 Ks 64/48, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 22159/49. 78 Vgl. „Zwei Urteile“, in: Hamburger Abendblatt, 15. 1. 1949. 79 Vgl. „Deutschmann kam zu glimpflich davon“, in: Hamburger Echo, 15. 1. 1949; „Deutsch- mann-Urteil weit unter Strafantrag“, in: Hamburger Volkszeitung, 15./16. 1. 1949; „‚Eine Bes- tie und kein Mensch‘. Acht Jahre Zuchthaus für Hamburger Gestapo-Folterer“, in: Hamburger Allgemeine, 14. 1. 1949; „Acht Jahre Zuchthaus für Deutschmann. Gestapo-Schinder mimt Märtyrer vor dem Schwurgericht“, in: Hamburger Freie Presse, 15. 1. 1949. 80 Vgl. Regensburg Js 126/48 = KMs 2/48. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 751 rich, stimmte zu, dass das verhängte Strafmaß sehr mild sei, allerdings sei bereits der Strafantrag der Staatsanwaltschaft sehr gering gewesen und das Gericht nicht habe über den Antrag hinausgehen wollen. „Da die Aufhebung eines Urteils im- mer das Gericht und nicht die Staatsanwaltschaft trifft, kann ich mich nicht ent- schließen, die Aufhebung des Urteils zu empfehlen; es scheint mir das kleinere Übel zu sein, wenn der Angeklagte aus dem sehr weichen Antrag der Staatsan- waltschaft Nutzen zieht, als daß das Vertrauen der Bevölkerung zum Gericht er- schüttert wird.“81 Lediglich ein Jahr und neun Monate Gefängnis wegen Tot- schlags und verbotenen Waffentragens lautete Anfang 1948 das Urteil gegen den Porzellandreher und SA-Angehörigen Johann L., der in Selb am 6. 3. 1933 die kommunistische Stadträtin Margarete Messing erschossen hatte. Johann L. war für rabiate Reden gegen Kommunisten bekannt, hatte bereits Vorstrafen wegen Waffenmissbrauchs und anderer Delikte und war wegen der geplanten Teilnahme an einem SA-Aufmarsch zur Tatzeit mit einem Trommelrevolver bewaffnet, für den er keinen Waffenschein hatte. Er begegnete Frau Messing, die ihm zurief: „Euer Hitler lebt nimmer lang, das weiß ich, bis morgen abend lebt er nimmer.“ Später soll sie ihn beschimpft und mehrfach ins Gesicht geschlagen haben. Trotz- dem setzten sie ihren Weg gemeinsam fort, bis er sie auf der Höhe einer Stadtein- fahrt erschoss. Nach der Teilnahme an dem NSDAP-Treffen stellte sich Johann L. der Polizei. Warum das Strafmaß so niedrig ausfiel und warum er sich trotz an- geblicher Provokationen und Tätlichkeiten des Opfers nicht entfernte, lässt sich aus der Akte nicht mehr klären, da nur noch Bruchstücke überliefert sind.82 Die Prozesse waren durchaus logistische Herausforderungen für Staatsanwalt- schaften und Gerichte. Für manche Straftaten waren Dutzende Beschuldigte be- kannt geworden, die ermittelt, vernommen, gegebenenfalls angeklagt und vor Ge- richt gestellt werden mussten. So waren für die Körperverletzungen, Freiheitsbe- raubung und Aussageepressungen, die sich an zwei Tagen im August des Jahres 1933 in Sehnde und Ahlten abgespielt hatten, nicht weniger als 72 Beschuldigte und schließlich 30 Angeklagte zur Verantwortung zu ziehen.83 Wie schwierig die Richter die Wahrheitsfindung erachteten, geht aus Erich Le- winskis Aufzeichnungen hervor, der als Vorsitzender Richter (und jüdischer Re- migrant) vor dem LG Kassel 1948 mit folgendem Fall konfrontiert war: In der Nacht vor der Reichstagswahl am 4./5. 3. 1933 hatte ein SA-Funktionär in Ochs- hausen bei Kassel eine Kontrollfahrt durchgeführt und aus Zorn auf SPD und KPD, die im Ort immer noch eine Mehrheit hatten, mit der falschen Behauptung, er werde bedroht, die Misshandlung und Verhaftung politischer Gegner durch SA und Hilfspolizei herbeigeführt. Die Verhafteten wurden noch im März 1933 in

81 Brief GStA Nürnberg, Ernst Durchholz, an Legal Division, German Courts Branch, 7. 2. 1949; Brief OLG-Präsident Nürnberg, Dr. Hans Heinrich, 9. 2. 1949 an Legal Division, German Courts Branch, 9. 2. 1949, NARA, OMGBY 17/181 – 2/3. 82 Vgl. Hof Js 1103/47 = KLs 30/47, StA Bamberg, Rep. K 107, Abg. 1985, Nr. 382 (rekonstruier- ter Restakt mit Urteilen, aber ohne Anklageschrift oder Verhandlungsprotokoll oder Ermitt- lungen). 83 Vgl. Hildesheim 4 Js 813/47 = 4 Ks 2/49. 752 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Kassel in einem Schauprozess vor Gericht gestellt, sieben Personen wegen Auf- ruhrs zu je acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Dezember 1948 standen die da- maligen Zeugen selbst als Angeklagte vor Gericht, die damaligen Angeklagten wa- ren die Zeugen.84 LG-Direktor Dr. Erich Lewinski notierte: „Die erste Schwierig- keit ist, bei einer solchen Situation die Wahrheit festzustellen oder wenigstens etwas, das sich ihr annähert. Es ist klar, daß die Angeklagten, die sich ja heute zu verteidigen haben, was ihr gutes Recht ist, nicht die Wahrheit sagen. Es ist ebenso klar, daß die Zeugen in zahlreichen Punkten objektiv die Unwahrheit sagen, ob- gleich ich bisher bei keinem den Eindruck habe, daß auch nur einer etwas ande- res sagt als das, wovon er ehrlich überzeugt ist. Aber das Leiden von acht Jahren Zuchthaus, die Erbitterung wegen eines – wie sie von der ersten Minute an und wahrscheinlich mit Recht meinten – ungerechten, präjudizierten Urteils, machen es fast menschlich unmöglich, subjektiv gerecht zu sein. […]“85 Dazu komme, dass die Verteidiger der Angeklagten die politisch links orientierten Belastungs- zeugen als unglaubwürdig darzustellen suchten. „Obgleich ein Verteidiger nicht wagen würde (und sicher nicht, mir ins Gesicht hinein), den Terror der Nazis, ihre fortlaufenden Überfälle auf ihre politischen Gegner zu bestreiten, wird dieser Anwalt (und es ist nicht etwa ein Ausnahmeanwalt) immer versuchen, den linken Belastungszeugen jeder Art von Lügen zu bezichtigen und dessen Aussagen durch die der Nazi-Angeklagten als widerlegt ansehen.“86 Er befürchtete, dass die Justiz sich in die gleiche Richtung entwickelte wie in der Weimarer Republik: auf dem rechten Auge blind. Ganz allgemein ­empfand er die politische Atmosphäre bei den NSG-Prozessen als ungut. Seiner Ansicht nach gaben sich viele Alt-Nazis in den Verfahren „recht dreist“. „Sie gebärden sich, als sei es ein Unrecht, sie für Ver- brechen zu bestrafen, die sie in der Nazi-Zeit ganz offen verüben konnten. Da müssen wir oft kühles Blut bewahren und diese Dinge mühsam herausarbeiten. In der Regel komme ich damit ganz gut zurecht; aber es gibt, wie ich gestehen muß, Augenblicke, in denen man sich ziemlich niedergedrückt fühlt. Aber wie könnte es anders sein? Die zwölfjährige verbrecherische Hölle hat notwendiger- weise eine Menge Spuren in den Menschen hinterlassen.“87 Über den Prozess schrieb er weiter, die Atmosphäre ziehe hinunter und depri- miere angesichts des Wiedererstehens der alten Nazis und der sich zu stark mit den NS-Tätern solidarisierenden Verteidiger, die alles als „harmlos“ hinzustellen versuchten. „Ich glaube an einige Menschen, und ich glaube an die Möglichkeiten in den Menschen zum Guten. Deshalb gebe ich mich gern aus, verbrauche und verpulvere mich ohne Bedenken. Aber dann kommen doch gelegentlich solche Zeiten, […] wo alles, was man tut, so völlig sinnlos und fast völlig hoffnungslos erscheint. In dem Prozeß ist […] die Atmosphäre herunterziehend und deprimie-

84 Vgl. Kassel 3 KLs 26/48. 85 Private Aufzeichnungen von Erich Lewinski, 3. 12. 1948, zit. nach Dertinger, Die drei Exile des Erich Lewinski, S. 239. 86 Ebd., S. 237. 87 Brief Erich Lewinski an amerikanische Freunde, Kassel, 5. 12. 1948, zit. ebd., S. 235 f. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 753 rend, diese Atmosphäre des Sich-Wieder-Aufreckens der alten Nazis, des weit über das Maß des Verteidigens hinausgehenden Sich-Identifizierens der Vertei­ diger mit den – ich will nicht sagen – Ideen der Nazi-Angeklagten, aber deren Versuch, alles, was damals geschah, als verhältnismäßig harmlos hinzustellen, ja belanglos. Gewiß werden mitunter die großen Worte laut, wie sehr man die furchtbaren Greuel von damals verurteile, wie schrecklich das alles gewesen sei, was – anderswo geschah. […] Nur wenige [Verteidiger] haben den Mut und die Verantwortung, ihren Mandanten eindeutig zu sagen, was für eine Schande die Feigheit sei, mit der sie um ihre Taten herumgingen, sie abstritten. Und noch ­weniger Anwälte haben die Courage, dann auf so ein Mandat zu verzichten.“ Die Macht von SA und SS werde nun bestritten, was bedeute „[…] daß diese Leute heute noch nicht begriffen haben (oder sie haben es schon wieder vergessen), was historische Tatsache ist und was eine der Grundlagen für das Nazi-Terrorsystem gebildet hat.“88 Die Ahndung der Straftaten an politischen Gegnern geriet immer wieder in die Mühlen des Kalten Krieges, so dass sich die Opfer vorwerfen lassen mussten, an- deren Interessen als denen der Aufklärung zu dienen. Zeugen, die einen Kriminal- sekretär bei der Kriminalpolizei Goslar wegen Körperverletzung und Aussageer- pressung belasteten, wurde unterstellt, sie seien an der Verurteilung interessiert, weil ihre Entschädigungen und Rentenansprüche von der Aufrechterhaltung der Beschuldigungen gegen den Angeklagten abhingen, möglicherweise hätten sich die Zeugen diesbezüglich sogar abgesprochen. Der damalige Vorgesetzte des An- geklagten sowie der frühere Oberamtsrichter am AG Goslar behaupteten, sie hät- ten von Misshandlungen von Kommunisten durch den angeklagten früheren Kri- minalsekretär nie etwas gehört – eine verständliche Angabe, wenn man bedenkt, dass sie sich unter Umständen sonst selbst in ihrer Aufsichtsfunktion inkriminiert hätten. Das Gericht kam zu der Ansicht, dass die Belastungszeugen derartig über- treiben würden, dass anhand ihrer Aussagen keine sicheren Feststellungen getrof- fen werden könnten, und sprach den ehemaligen Kriminalsekretär frei, obwohl das Gericht weiterhin mutmaßte, der Angeklagte habe Misshandlungen began- gen: „Denn ein derartiges Verhalten lag immerhin ganz im Zuge der damaligen Zeit und könnte selbst bei einem sonst durchaus zuverlässigen und korrekten Be- amten ausnahmsweise doch einmal vorgekommen sein, zumal in der damaligen Zeit alle Menschen mehr oder weniger unter dem Einfluß des Nationalsozialis- mus gestanden hatten und unter dessen Propaganda die Einstellung, daß Kom- munisten Untermenschen seien, die keinen Anspruch auf eine gesetzliche und gerechte Behandlung hätten, sehr verbreitet war.“ Darauf ließ sich, so das Gericht, jedoch keine Verurteilung stützen.89 Zudem beeinträchtigten Vorurteile gegen sozial Unangepasste die Ahndung: Angehörigen des zur Swing-Jugend gehörenden „Harlem Clubs“, die während des Krieges von einem mit Jugendsachen befassten Kriminalassistenten und SS-Ober-

88 Private Aufzeichnungen Erich Lewinski, 3. 12. 1948, zit. ebd. S. 236. 89 Braunschweig 1 Js 165/49 = Ks 25/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 525–526. 754 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? scharführer der Staatspolizei Frankfurt festgenommen, verhört und misshandelt, teils auch in Jugenderziehungslager eingewiesen worden waren und nach dem Zusammenbruch gegen diesen Aussagen machten, wurde vorgeworfen, sie seien von Rachegefühlen erfüllt. Pauschal wurden sie in einem Spruchkammerurteil als „zumeist pervers-sexuell behaftete Menschen, wahrscheinlich Prostituierte bei- derlei Geschlechts, jetzt nebenbei berufsmäßige Schwarzmarkt-Kadetten“, be- schrieben, deren Aussagen als wenig zuverlässig und zweifellos übertrieben zu gelten hätten. Bei einem 16-jährigen Opfer hatte das Delikt lediglich darin be- standen, dass er einem amerikanischem Kriegsgefangenen, der zu einem Verwun- detentransport gehörte, aufmunternd und freundlich zugelächelt hatte. Männli- chen Minderjährigen wurde vorgeworfen, zu lange Haare zu tragen, wieder ande- ren wurden Verfehlungen wie Schulversäumnisse, das Abhören amerikanischer Schallplatten und der Besitz von Empfängnisverhütungsmitteln zur Last gelegt.90 Bei den Prozessen zur Ahndung der Verbrechen an den politischen Gegnern ging es manchmal hoch her, weil bei diesen auch gegenwärtige Missstände ange- prangert wurden oder die Diskriminierung von KPD-Angehörigen in der Nach- kriegszeit zur Sprache kam. Der Prozess gegen den wegen Aussageerpressung und Körperverletzung im Amt angeklagten Frankfurter Gestapoangehörigen Wilhelm W., der sich angeblich an KPD- und SPD-Angehörigen tätlich vergangen hatte, die nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 in Frankfurt verhaftet worden waren, endete mit einem Freispruch, weil W. vermutlich mit dem Kriminalins- pektor Datz91 verwechselt worden war. Um gegen die Unmutsäußerungen des Publikums gewappnet zu sein, hatte der Richter zu unorthodoxen Methoden ge- griffen. Vor der Verkündung des Urteils ließ der Vorsitzende der Strafkammer die Ausweise der Zuhörer einsammeln, er begründete dies später damit, er habe einer Störung der Sitzung vorbeugen wollen.92 Bei einem anderen Prozess habe näm- lich ein Zuhörer bei der Bekanntgabe des Strafmaßes gerufen: „Viel zu wenig“. Außer­dem sei es bei der Schwurgerichtsverhandlung gegen den Gestapo-Ange­ hörigen Baab zu Störungen gekommen. So verlief die Sitzung wohl ruhig, aber Zufriedenheit angesichts des Urteils kam sicherlich nicht auf, wie aus den Presse- mitteilungen zu ersehen war.93 Einige Täter blieben über die Systemwechsel hinweg uneinsichtig: Der KPD- Vorsitzende von Neumünster, Rudolf Timm, und der KPD-Parteisekretär von Heide und KPD-Reichstagsabgeordnete, Christian Heuck, wurden in der Nacht zum 24. 1. 1934 bzw. zum 24. 2. 1934 im Gefängnis Neumünster ermordet, nach-

90 Frankfurt 5 Js 3457/47 = 5 KLs 1/49, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31970/1–3. 91 Vgl. Frankfurt 5 Js 198/45 = 52 KLs 23/49, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31976/1–4. Datz war 1949 zu zwei Jahren vier Monaten Zuchthaus wegen Aussageerpressung in vier Fällen, darunter in einem Fall in TE mit Körperverletzung im Amt verurteilt worden. 92 Vgl. Frankfurt 8 Js 2125/49 = 20/57 KLs 5/50, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 30069. 93 Vgl. „Freispruch für Gestapobeamten. Schwere Mißhandlungen blieben ungesühnt“, in: Frankfurter Rundschau, 8. 3. 1950; „Früherer Gestapo-Beamter wurde freigesprochen. Staats- anwalt hatte vier Jahre Zuchthaus beantragt“, in: Abendpost, 8. 3. 1950; „Irrtum der Zeugen?“, in: FAZ, 8. 3. 1950; „Das Zeugenproblem in politischen Prozessen. Ein interessantes Strafkam- merurteil“, in: Frankfurter Neue Presse, 8. 3. 1950. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 755 dem der SS-Sturmbannführer Hinrich Möller, kommissarischer Leiter der Kom- munalen Polizei und Schutzpolizei Neumünster, im Januar 1934 laut eigenen ­Angaben von einem ihm nicht mehr erinnerlichen SS-Führer den von Himmler unterschriebenen Befehl zur Tötung von Timm und Heuck erhalten hatte. Möller suchte sich daraufhin eine Handvoll Personen aus seinem SS-Sturmbann Neu- münster aus, die ihm bei der Durchführung des Befehls helfen sollten. In den Nachkriegsermittlungen seit 1947 wollte Möller ihre Namen nicht nennen und behauptete, sie seien alle gefallen. Rudolf Timm war seit Januar 1934 in Schutz- haft im Polizeigefängnis Neumünster gewesen, am 24. 1. 1934 sollte er in ein Ems- land-KZ überstellt werden. In der Nacht vor der Überführung begab sich Möller ins Polizeigefängnis und ließ sich die Schlüssel zu Timms Zelle geben, SS-Leute erhängten Timm daraufhin in seiner Zelle, die Tat wurde dann als Selbstmord getarnt, ein Arzt (der später selbst Selbstmord beging) trug als Todesursache „Selbstmord durch Erhängen“ auf den Totenschein ein. Christian Heuck war vom Reichsgericht am 27. 6. 1933 wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einem Jahr und neun Monaten Haft verurteilt worden und saß im Zentralgefängnis Neu- münster ein. Am 23. 2. 1934 kam Möller ins Gefängnis und forderte den Oberre- gierungsrat und Leiter des Strafgefängnisses Neumünster, B., auf, ihn in der Nacht zum 24. 2. 1934 ins Gefängnis zu lassen, weil dort angeblich eine Einsatzübung von Polizei und SS stattfinden solle. B. ließ die Nachtwache umbesetzen und teilte daraufhin nur solche Beamte als Nachtwachen ein, die auch SS-Angehörige ­waren. Gegen 23 Uhr erschien Möller mit SS-Leuten und ließ sich den Schlüssel zur Zelle von Heuck aushändigen. Die Tatausführung durch die SS beobachtete er durch das Zellenfenster, Heuck wurde trotz Gegenwehr erhängt, die Tat wieder als Selbstmord getarnt. Der Leiter des Gefängnisses, B., meldete den „Selbstmord“ am 24. 2. 1934 an den Generalstaatsanwalt in Kiel. Die Taten wurden nach 1945 klar als Morde eingestuft, denn die Opfer waren arg- und wehrlos, die Tatausfüh- rung grausam, weil die Opfer aus nächtlichem Schlaf gerissen, überwältigt und getötet wurden. Hinrich Möller wurde Ende 1947 wegen zweifachen Mordes in TE mit VgM zum Tod verurteilt, die Strafe wurde am 7. 8. 1948 durch den Minis- terpräsidenten von Schleswig-Holstein in lebenslängliches Zuchthaus umgewan- delt; am 30. 12. 1954 wurde die Strafe auf 15 Jahre Zuchthaus ermäßigt. Der frü- here Leiter des Gefängisses Neumünster behauptete unwiderlegbar, von der ge- planten Tat im Fall Heuck nichts gewusst zu haben. Beihilfe zum Mord galt damit als nicht erwiesen, wohl aber ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit in TE mit Körperverletzung im Amt, für das er zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde.94 Möller schrieb aus der Haft zahlreiche Briefe an seine Frau, in denen er das Urteil kommentierte: „Es hat keinen Zweck, sich über das Urteil aufzuregen. Darüber muß man erhaben sein. Vielleicht bin ich ja auch für die Postkarten be- straft. Das ist ja auch letzten Endes einerlei. Die Bolschewicken [sic] und ihre Zuhälter wollen ihrem [sic] Triumph. Und den haben sie jetzt! Stalin hat vor gut einem Jahr gesagt, ‚je mehr Nationalsozialisten vernichtet werden, umso besser sei

94 Vgl. Kiel 2 Js 1287/46 = 2 KLs 9/47, LA Schleswig-Holstein, Abt. 352 Kiel, Nr. 2650–2653. 756 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? es.‘ Und das muß doch befolgt werden!“95 „Ich habe im guten Glauben meine Pflicht getan. Da konnte ich nicht drum herum. […] Ich kann deshalb nicht ein- sehen, daß ich schuldig sein soll. Endlich müssen wir mal sagen: Was gehen uns vergangene Zeiten an? Laß die Toten ruhen!“96 „Es ist nun mal ein pol. Machtan- spruch. Sicher läßt sich das Urteil durch die vorhandenen zum Teil extra angefer- tigten Paragraphen begründen. Aber ebenso sicher läßt sich ein entgegengesetztes Urteil begründen. Dies mögen die verantworten, die dafür zuständig sind. […] Schuld kann ich nicht haben, weil ich nach Gottes Willen meine Pflicht getan habe. Und das steht alles schwarz auf weiß in meiner Akte. […] Soll ich aber trotzdem sterben, was ich nicht glaube, dann tu ich es mit dem reinsten Gewis- sen. Und darauf bin ich dann sogar noch ungeheuer stolz. Dann waren die beiden Kom. [die beiden Opfer, E. R.] ja auch noch die größten Strolche. […] Die Kom- munisten sind die kompromißlosesten Kämpfer für ihre Weltanschauung. Die kann man nur mit gleichen Waffen bekämpfen, wenn man Erfolg haben will. Dazu gehören Idealismus und der größte Fanatismus und größter Opfermut. Und ob diese Tugenden ausreichend vorhanden sind? Wollen wir es hoffen! Ich möch- te nicht erleben, wenn die wahren Bolschewiken kommen und ihren vornehmen Gönnern die Gurgel durchschneiden! […] Dein Molli.“97

2. Ausschreitungen gegen Nichtwähler und Geistliche

Obwohl natürlich die Verbrechen an den linken politischen Gegnern dominier- ten, wurden vereinzelt bürgerliche Opponenten seit der „Machtergreifung“ in Mitleidenschaft gezogen. Der BVP-Abgeordnete Dr. Alois Schlögl wurde am 13. 6. 1933 beim Besuch seiner Schwiegereltern in Tittling von SA-Leuten überfallen und verletzt.98 Selbst gänzlich unpolitische Personen wurden diffamiert und bloßgestellt, ausreichend war dafür oft schon die Nichtteilnahme an Wahlen. An den Reichstagswahlen vom 10. 4. 1938 anlässlich des „Anschlusses“ von Ös- terreich beteiligten sich die Ehefrau des 78-jährigen Admirals Gerdes und ihre etwa 44-jährige Tochter Elisabeth in Reinfeld in Holstein nicht, weil sie den Tag in Hamburg verbracht und erst nach Schließung der Wahllokale nach Hause zu- rückgekehrt waren. Schon tagsüber hatten zahlreiche sog. Wahlschlepper versucht, die Frauen zur Wahl zu bewegen. Nach 19 Uhr fuhren Autos mit angetrunkenen NSDAP-, SA- und SS-Angehörigen vor dem Haus des Admirals vor, etwa 20 Per- sonen brachen die Gartentür auf, drangen in Garten und Haus ein und stellten die Frauen unter Beschimpfungen und Tätlichkeiten gegen den Admiral und sei- ne Tochter zur Rede. Familie Gerdes wurde zum Rathaus gefahren, wo sie zu ei-

95 Postkarte vom 10. 1. 1948 , enthalten ebd.. 96 Brief vom 14. 3. 1948, ebd. 97 Brief vom 4. 4. 1948, ebd. 98 Vgl. Landshut 4 Js 540/45 a–i = 4 KLs 6/46, vgl. auch „Überfall auf Dr. Schlögl vor Gericht“, in: Isar-Post, 11. 10. 1946, Abschrift enthalten im IfZ-Archiv, ED 120, Bd. 136. 2. Ausschreitungen gegen Nichtwähler und Geistliche 757 nem Zug durch die Straßen Reinfelds zum Wahllokal gezwungen wurden, an dem etwa 100 Menschen teilnahmen, Elisabeth Gerdes musste eine Texttafel mit der Aufschrift „Dies sind die Volksverräter“ tragen. Wegen seines Alters konnte Admi- ral Gerdes bald nicht mehr gehen, er musste sich daher in einen offenen Wagen stellen und wurde in dem Zug mitgefahren. Während das Verfahren gegen 14 Be- schuldigte 1950 eingestellt wurde – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit galt als nicht gegeben, bezüglich Landfriedensbruchs griff § 3 Straffreiheitsgesetz – wurde gegen den ehemaligen NSDAP-Kreisschulungsredner und Richter am AG Reinfeld der Prozess durchgeführt. Er behauptete schon 1938 gegenüber einem Untergebenen am AG Reinfeld, die Ausschreitungen wären weitaus schlimmer ge- wesen, wenn er nicht eingegriffen und die Eindringlinge zu beschwichtigen ver- sucht hätte. Schon 1938 war gegen ihn deswegen – u. a. von der Gestapo – ermit- telt worden, am 13. 5. 1938 wurden die Akten der Staatsanwaltschaft Lübeck über- geben, das Verfahren am 13. 12. 1938 gemäß Amnestie vom 30. 4. 1938 eingestellt. 1950 kam das Gericht zu dem Urteil, dass der Richter damit am Landfriedens- bruch beteiligt war, dem Täter musste aber bewusst sein, dass er durch seine An- wesenheit die Gefahr der Zusammenrottung steigerte, der AG-Rat tatsächlich aber die Familie Gerdes vor Misshandlungen schützen wollte. Ihm habe damit das Bewusstsein gefehlt, „durch seine Anwesenheit die Gefahr für die Familie ­Gerdes zu erhöhen.“99 Der Fall erregte – nicht zuletzt aufgrund der Richterver- gangenheit des Angeklagten – einiges Aufsehen in der Presse.100 Die Beschwerde eines örtlichen Lehrers über die Kontrolle beim Ausfüllen der Wahlzettel während der Volksabstimmung vom 10. 4. 1938 führte auf Anordnung der NSDAP-Kreis- leitung am 23. 4. 1938 zu einer Demonstration vor der Schule in Rotenbach, die Menge drang auch gewaltsam in das Haus ein, der Lehrer war aber nicht anwe- send.101 Geistliche beider christlichen Konfessionen, die sich in Predigten oder in ihren Taten als NS-Gegner entpuppt hatten, wurden Zielscheibe organisierter Aktionen der Partei. In Winkel wurde von der SA auf das Haus des Pfarrers geschossen, der Pfarrer in „Schutzhaft“ genommen. Allerdings war der Vorfall schon im Spruch- kammerverfahren von 1950 nicht mehr exakt datierbar gewesen, Zeugen und Be- schuldigte benannten entweder das Jahr 1933, 1934, 1935, 1936 oder 1938 als Tat- zeit.102 In Lauf an der Pegnitz hatte der katholische Stadtpfarrer Johannes Stahl das Missfallen der örtlichen NS-Bewegung erregt, weil er sich 1932 für die Bayeri- sche Volkspartei (BVP) verwendete. Als diese bei den Reichstagswahlen in dem

99 Lübeck 14 Js 383/49 = 2 KMs 2/50, LA Schleswig-Holstein, Abt. 352 Lübeck, Nr. 578 (Bde. 1–3). 100 „‚Fall Gerdes‘ wird aufgerollt“, in: Lübecker Nachrichten, 16. 11. 1949; „Anklage: Landfrie- densbruch“, in: Lübecker Nachrichten, 4. 10. 1950; „Der Prangermarsch von Reinfeld“, in: Lübecker Freie Presse, 4. 10. 1950; „Amtsgerichtsrat Dreyer rehabilitiert“, in: Lübecker Freie Presse, 6. 10. 1950; „Richter Dreyer freigesprochen“, in: Lübecker Nachrichten, 6. 10. 1950; „Das Schlimmste verhütet“, in: Kieler Nachrichten, 6. 10. 1950. 101 Vgl. Ellwangen 1 Js 10885/46 = KLs 24/48. 102 Vgl. Wiesbaden 4 Js 2640/50; HStA Wiesbaden, Abt. 468, Nr. 422/2. 758 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? betreffenden Stimmkreis am 5. 3. 1933 sogar Stimmen gewinnen konnte, beschloss der NSDAP-Ortsgruppenleiter nach einem Gespräch mit dem Kreisleiter von Lauf eine „Aktion“ (im Verfahren irrig und verharmlosend als „Haberfeldtreiben“ bezeichnet). SA-Leute aus Röthenbach sammelten sich am 30. 6. 1933 vor dem Haus, gröhlten „Raus mit dem schwarzen Lumpen, Verräter, schwarzer Hund, fort muß er von Lauf, alle zieht er an sich, der Volksverderber, der Volksaufwiegler“, und zertrümmerten 16 Fensterscheiben im Pfarrhaus. Der Pfarrer wurde aus dem Haus gezerrt, je fast 40 SA- und SS-Leute waren anwesend. Interessanterweise wurde nicht, wie in solchen Fällen üblich, der Pfarrer festgenommen, sondern ein führend beteiligter SS-Unterscharführer. Daraufhin forderten der NSDAP-Orts- gruppenführer, der Führer des SS-Trupps von Lauf und etwa 32 SS-Männer laut- stark bei der Gendarmerie dessen Entlassung aus der Haft. 1950 wurde der frü­ here Führer des SS-Trupps Lauf wegen seiner Beteiligung zu sieben Monaten ­Gefängnis wegen schweren Landfriedensbruchs in TE mit Beihilfe zur Freiheits- beraubung verurteilt. Gegen den NSDAP-Ortsgruppenleiter von Lauf wurde das Verfahren durch Urteil 1951 eingestellt, weil in den Augen des Gerichts seine Tat durch die Teilnahme am Russlandfeldzug und die nachfolgende, zwei Jahre wäh- rende russische Kriegsgefangenschaft gesühnt sei.103 In Bauerbach kam es am 2. 5. 1933 und im Sommer 1933 zu Ausschreitungen gegen den katholischen Pfarrer, der einen HJ-Angehörigen gemaßregelt hatte, da dieser sein Parteiabzeichen in der Kirche nicht ablegen wollte bzw. einem HJ- Angehörigen die Schulterriemen heruntergerissen und ihn geohrfeigt hatte. Die Aktionen wurden von NSDAP-Kreisleitung und SA-Führung geleitet.104 In Göll- heim drang eine mehrere hundert Personen umfassende Menschenmenge am 23. 6. 1933 gewaltsam in das Pfarrhaus und die Wohnungen von Katholiken ein, es kam auch zu Verhaftungen.105 Ausschreitungen gegen katholische Geistliche und katholische Ortseinwohner fanden am 25. 6. 1933 in Weitersweiler statt, wo- bei der Pfarrer und vier weitere Personen misshandelt und inhaftiert wurden.106 In Hornbach randalierte am 8. 1. 1934 eine Menschenmenge von mehreren hun- dert Personen vor dem katholischen Pfarrhaus, der Pfarrer wurde aufs heftigste bedroht, von der Gendarmerie in Schutzhaft genommen und auf dem Weg in die Haft mehrfach von der Menschenmenge misshandelt. Das Verfahren in der Nach- kriegszeit richtete sich gegen nicht weniger als 129 Menschen.107 In Gruiten fand am 1. 10. 1933 in einer Gaststätte eine Art Erntefest der ­NSDAP-Ortsgruppe Gruiten statt. Dabei behauptete der Leiter des Winterhilfs- werks, der ortsansässige katholische Pfarrer Paul Meyer habe keine Spende für die Eintopfsammlung gegeben, was mit Unmutsäußerungen der Versammelten kom-

103 Vgl. Nürnberg-Fürth 1d Js 2643/48 = 1152 KLs 303/49, StA Nürnberg, StAnw Nürnberg 3035. 104 Vgl. Karlsruhe 1 Js 60/48 = 4a KLs 3/49; Karlsruhe 2 Js 437/46 = 2 KLs 10/46; Karlsruhe 4a Js 1064/49 = 4a KLs 11/49. 105 Vgl. Kaiserslautern 7 Js 194/49 = KLs 30/50, AOFAA, AJ 3676, p. 36. 106 Vgl. Kaiserslautern 7 Js 77/49 = KLs 22/50. 107 Vgl. Zweibrücken 5 Js 452/48. 2. Ausschreitungen gegen Nichtwähler und Geistliche 759 mentiert wurde. Einige äußerten: „Dem schlagen wir heute abend noch die Bude kaputt.“ Zwei SS-Angehörige luden einen SS-Scharführer ein, mitzukommen, um bei dem Geistlichen Meyer „Krach“ zu veranstalten. Gegen 23.30 Uhr erschienen sie zu dritt beim Pfarrhaus, wo der Pfarrer ihnen den Einlass verweigerte. Darauf- hin traten sie die Tür ein und zertrümmerten das Oberlicht und einige Fenster mit Steinen, der Geistliche verrammelte die Tür von innen mit Möbeln, rief die Polizei und den Bürgermeister zu Hilfe und gab auch einen Schreckschuss aus einer Pistole ab. Der Fußboden des Pfarrhauses war mit Holztrümmern, Glas- scherben und Steinen bedeckt. Vor dem Pfarrhaus war nun über ein Dutzend SA- und SS-Angehörige versammelt. Drei Polizisten begaben sich in die Pfarrei, um Pfarrer Meyer auf Befehl des Landrats in „Schutzhaft“ zu nehmen. Ein SA- Scharführer in Gruiten, gleichzeitig auch NSDAP-Funktionär, folgte den Polizis- ten und schrie den Pfarrer an: „Sie haben einen SA-Mann angeschossen. Wir wer- den Euch Pfaffen schon heimleuchten, ganz anders noch wie [sic] diese Nacht.“ (Nach anderen Angaben rief er: „Du hast auf einen SS-Mann geschossen, das wird Dir teuer zu stehen kommen, wir werden mit Euch Burschen noch Schlitten fah- ren.“) Als der Geistliche herausgeführt wurde, wurde er von einem anderen SA- Scharführer durch einen Faustschlag und Tritt misshandelt, die SS belagerte selbst das Polizeiauto, in dem er weggebracht wurde, so dass ein Gendarm bei dem Handgemenge verletzt wurde. Das Gericht vermochte nicht auf Landfriedens- bruch zu erkennen, da im Wesentlichen nur die SS von Gruiten beteiligt war. Für die Anwendung des KRG 10 waren zwar die Voraussetzungen gegeben – die Ver- folgung aus politischen bzw. religiösen Gründen – , es fehlte aber an der Feststel- lung unmenschlicher Folgen für das Opfer, da der Pfarrer vergleichsweise glimpf- lich davonkam. So blieb nur noch die Körperverletzung für eine Verur­teilung übrig, die 1948 ausgesprochende Strafe von acht Monaten wurde 1949 auf sechs Monate reduziert, die wegen des Amnestiegesetzes nicht verbüßt wurden.108 In Opladen drang eine Gruppe von NS-Parteigängern in das erzbischöfliche Knabenkonvikt Aloysianum ein, nachdem am 8. 7. 1935 ein NS-Anhänger namens Münchmeyer (selbst ehemaliger Pfarrer) zu einer „scharfen Abrechnung mit den Dunkelmännern“ aufgerufen hatte. Vorher sollte der HJ-Bannmusikzug ein Mili- tärkonzert geben, die Hälfte dieses Blasmusikzugs bestand aber aus Zöglingen des Knabenkonvikts. Der Leiter des Aloysianums, Dr. Peter Neuenhäuser, wandte sich im Vorfeld an das Generalvikariat in Köln, weil ihm der schlechte Ruf des Red- ners bekannt und das Thema des Vortrags („Dunkelmänner unserer Zeit“) un- passend für die Schüler erschien. Das Erzbischöfliche Generalvikariat Köln verbot daraufhin den Zöglingen des Erzbischöflichen Knabenkonvikts Aloysianum die Teilnahme an der Veranstaltung und ließ dies von Dr. Neuenhäuser am 6. 7. 1935 dem Bannführer des HJ-Banns 231 Opladen mitteilen. Daraufhin übernahm die Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr die musikalische Umrahmung. Der NSDAP- Ortsgruppenleiter von Opladen-West ging in seiner Rede auf das Verbot der Teil- nahme für die Internatsschüler ein, wobei er den Direktor Neuenhäuser scharf

108 Wuppertal 5 Js 42/48 = 5 KLs 67/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 191/73. 760 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? kritisierte und ihn der Sabotage der Versammlung zieh. Die echauffierten Teil- nehmer der Versammlung eilten zu Dr. Neuenhäuser, dem Direktor des Aloysia- nums, um ihm – auf Aufforderung des NSDAP-Ortsgruppenleiters – „ein Ständ- chen“ zu bringen, d. h. Ausschreitungen zu begehen. Der Hof des Aloysianum wurde besetzt, Fensterscheiben wurden eingeworfen und Blumenkästen herunter- gerissen. In einer Schmährede beschimpfte Münchmeyer Neuenhäuser, SA-Leute drangen in das Gebäude ein und suchten nach Neuenhäuser, bis die Polizei ein- griff. Neuenhäuser musste von der Polizei in „Schutzhaft“ genommen werden, ihm wurde anschließend der Aufenthalt in Opladen verboten.109 Der Pfarrer Hermann Nohr war seit 1923 katholischer Geistlicher in Obermohr und als NS-Gegner bekannt, da er in seinen Predigten die katholische Weltan- schauung verteidigte. An Wahlen nahm er seit 1933 nicht mehr teil und erregte so den Zorn der örtlichen NSDAP. Auch der Wahl am Sonntag, 29. 3. 1936, blieb er fern und verließ nach dem Frühgottesdienst den Ort, um erst am 2. 4. 1936 zu- rückzukehren, was der NSDAP-Kreisleitung von Landstuhl mitgeteilt wurde. Der NSDAP-Kreisleiter Knissel beschloss, an Nohr ein Exempel zu statuieren. Er ließ u. a. die Hitlerjugend aus Steinwenden zum Einsatz befehlen, die nach Obermohr zum Pfarrhaus marschierte, außerdem wurde die NSDAP-Ortsgruppe Schroll- bach-Niedermohr mobilisiert, ebenso die SA von Weltersbach sowie SA- und NSDAP-Mitglieder aus Steinwenden. Gegen Abend wurde Nohr durch die Rufe „Landesverräter“, „Schuft“, „Pfaff“ und „Lump“ aufgeschreckt und eilte in den Garten, wo er von einer größeren Menge von Leuten – die sich durch hochgestell- te Krägen und Kopfbedeckungen teils unkenntlich gemacht hatten – angefallen und durch Schläge und Tritte misshandelt wurde, so dass er aus mehreren Wun- den blutete. Anschließend wurde er in einem Tross zahlreicher Menschen von Obermohr nach Steinwenden geschleppt, dabei fortlaufend misshandelt und be- schimpft. Seine Schwester verständigte die Gendarmerie Steinwenden, die Pfarrer Nohr ins Pfarrhaus zurückbrachte, wo er vom NSDAP-Ortsgruppenleiter von Schrollbach-Niedermohr wegen der Nichtbeteiligung an der Wahl getadelt wurde. Im Pfarrhof und seiner Umgebung befanden sich immer noch 200–300 Men- schen, die Sprechchöre riefen wie „Vaterlandsverräter, holt ihn raus“. Auf Inter- vention der NSDAP-Kreisleitung Landstuhl wurde Nohr von der Gendarmerie ins Gerichtsgefängnis Landstuhl gebracht und blieb die nächsten Monate Ober- mohr fern. Nohrs Martyrium war aber mit diesen Ausschreitungen nicht beendet. Als er Ende Oktober 1936 an seinen Amtssitz zurückkehrte, wurde er am 31. 10. 1936 vom Polizeidirektor von Kaiserslautern festgenommen und nach Landstuhl ­geschafft, um seiner sofortigen Pensionierung zuzustimmen, was er ablehnte. Ihm wurde dann eine Erklärung abgenötigt, nie mehr nach Obermohr zurück- zukehren. Ein Angehöriger der Bezirksamtsaußenstelle Landstuhl, der spätere

109 Vgl. Düsseldorf 8 Js 216/49 = 8 KLs 3/51, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 372/234. 2. Ausschreitungen gegen Nichtwähler und Geistliche 761 erste Nachkriegslandrat von Ludwigshafen, Franz Theato, hatte ihn in einem an die Regierung gerichteten Bericht wegen seiner NS-Gegnerschaft getadelt.110 Von den Tätern der Ausschreitungen vom 2. 4. 1936 konnten im April 1948 im- merhin 33 Personen aufgefunden und angeklagt werden.111 Zur Aburteilung kehrte das Gericht an den Ort des Geschehens zurück: Die Hauptverhandlung (nach Revision) fand Ende 1949 in einer Gastwirtschaft in Obermohr unter gro- ßer öffentlicher Aufmerksamkeit statt.112 Möglicherweise ebenfalls mit den Wahlen in Verbindung zu bringen waren Vorfälle in Schwäbisch Gmünd und Waldstetten in der Nacht vom 11./12. 4. 1938, wo Pfarrer sich für die Konfessionsschule und die kirchlichen Jugendorganisatio- nen eingesetzt hatten. NSDAP-, SA- und SS-Angehörige demolierten die Fenster- scheiben, traten die Haustüren ein und beschimpften die Pfarrer, die von der ­Polizei in „Schutzhaft“ genommen wurden.113 In Burg an der Wupper wurde der evangelische Pfarrer Hans Martin Grah 1938 überfallen, weil es mit dem Leiter der evangelischen Volksschule (und gleichzeitig stellvertretenden NSDAP-Ortsgruppenleiter von Burg) zu Konflikten über den Religionsunterricht gekommen war, Grah hatte angeblich im Konfirmandenun- terricht die Moral der NSDAP-Führer in Frage gestellt und ihnen einen unsitt­ lichen Lebenswandel, insbesondere Ehebruch, vorgeworfen. Neben Robert Ley erwähnte Grah auch den Bürgermeister von Burg, der sein Dienstmädchen ge­ heiratet habe. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter beschloss daraufhin, Grah von der SA bestrafen zu lassen, drei SA-Leute überfielen Grah eines Abends Anfang De- zember 1938 und verprügelten ihn. Schon 1938 wurden erste Ermittlungen114 ge- tätigt, der NSDAP-Ortsgruppenleiter suchte den örtlichen Gendarmen einzu- schüchtern, indem er bei einer Vernehmung der SA-Leute hinzukam und sagte: „Wenn Ihnen Ihr Kragen lieb ist, versuchen Sie nicht immer gegen den Strom zu schwimmen. Sie stehen schon auf der schwarzen Liste. Lassen Sie die Finger von dieser Angelegenheit, sonst wird Ihnen doch noch der Rock ausgezogen.“ Der Gendarm teilte daraufhin dem Landrat von Opladen mit, dass seine Ermittlungen behindert würden, die weiteren Recherchen übernahm dann ein Staatsanwalt. Das Verfahren wurde durch den Gnadenerlass zum Kriegsbeginn 1939 eingestellt. Im August 1948 wurden die vier Täter – der ehemalige NSDAP-Ortsgruppenleiter und die drei SA-Leute – wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu mehr- monatigen Haftstrafen verurteilt, doch das OLG Düsseldorf entschied im Januar 1949, dass es sich um kein VgM handelte, weil die Tat zwar im Zusammenhang mit der NS-Willkürherrschaft geschehen war, das Opfer aber keine bleibenden Schäden erlitten hatte (da Grah während des Krieges gefallen war, gab es keinen

110 Vgl. Zweibrücken 6 Js 167/48 = KLs 32/48, AOFAA, AJ 3676, p. 36. 111 Vgl. Zweibrücken 6 Js 43/46 = KLs 57/48, AOFAA, AJ 3676, p. 38. 112 Vgl. „Selbst der Ortsgruppenleiter war heute Anti-Nazi“, in: Die Rheinpfalz, 23. 11. 1948; „Das Urteil im Landstuhler Prozeß“, in: Die Rheinpfalz, 25. 11. 1948; „Ein Landfriedensbruch aus der Nazizeit“, in: Der Westen, 20. 11. 1948. 113 Vgl. Ellwangen 4 Js 10125/47 = KLs 99/47. 114 Vgl. Wuppertal 4 Js 1028/38. 762 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Zeugen, der das Gegenteil hätte bestätigen können). Daraufhin wurde nach deutschrechtlichen Gesichtspunkten (gemeinschaftliche gefährliche Körperverlet- zung bzw. Anstiftung dazu) erkannt, 1950 endete das Verfahren nach einer weite- ren Revision mit einer Einstellung nach dem Straffreiheitsgesetz.115 Am 27. 5. 1938 wurde das katholische Pfarrhaus in Ailingen bei Friedrichshafen von 80–100 Angehörigen des SA-Sturms 11/124 Friedrichshafen und des SA- Sturms 12/124 Friedrichshafen umstellt, weil der Pfarrer sich in Predigten abfällig über die SA geäußert hatte. Etwa zwei Stunden lang wurde vor dem Pfarrhaus gegen Pfarrer Gessler randaliert, auf Fensterläden, Haustüren und Kellerluken ge- schlagen und es wurden Sprechchöre gerufen, in denen Gessler beschimpft und wahlweise zu seiner Verhaftung, Erhängung, Erschießung und der Verbrennung des Pfarrhauses aufgerufen wurde. Pfarrer Gessler floh in den Keller, wo er am späten Abend von Staatspolizeiangehörigen festgenommen und nach Friedrichs- hafen geschafft wurde.116 Im Zusammenhang mit der Abstimmung über den sogenannten Anschluss Öster­reichs und den gleichzeitigen Reichstagswahlen vom 10. 4. 1938 kam es zu zahlreichen Ausschreitungen. Der Text für die Abstimmung lautete: „Bist Du mit der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deut- schen Reich einverstanden und stimmst Du für die Liste unseres Führers Adolf Hitler? – Ja/Nein.“ Der katholische Stadtpfarrer von Fellbach wurde verdächtigt, dabei mit „Nein“ gestimmt zu haben, daraufhin wurde sein Pfarrhaus demoliert, der Pfarrer unter Beschimpfungen und Misshandlungen durch die Straßen ge- zerrt.117 In Aurich wurde der 66-jährige Konsistorialrat und Pastor Friedrich als Angehöriger der Bekennenden Kirche wegen Nichtbeteiligung an der Reichstags- wahl von einer 100–200-köpfigen Menschenmenge als „Volksverräter, ­Schuschnigg- Knecht und Judenfreund“ geschmäht und von der Staatspolizeistelle Wilhelms­ haven in Schutzhaft genommen; er blieb bis zum 22. April 1938 inhaftiert. Der Landrat von Aurich, Gotwin Krieger, setzte sich für die Inhaftierung ein, indem er der Staatspolizeistelle Wilhelmshaven schrieb: „Nach allem halte ich eine Rück- kehr des Pastor Friedrich in sein Amt als Erster Geistlicher der hiesigen lutheri- schen Gemeinde für untragbar, da sein öffentliches Auftreten die Erregung in ver- stärktem Maße aufleben lassen würde. Angesichts der drohenden Haltung der Volksmenge gegen ihn, die an Umfang durch weiteres Bekanntwerden des Vorfalls noch wachsen wird, muß ich auch seine private Rückkehr hierher für die nächste Zeit als im höchsten Maße bedenklich bezeichnen. Ich bitte daher, ihn zur Unter- bringung in Schutzhaft nach auswärts zu übernehmen.“118 Noch ärger ging es dem ebenfalls wahlabstinenten Bischof von Rottenburg, Dr. Johann Baptista Sproll, der die Reichstagskandidaten wegen ihrer Feindschaft ge-

115 Vgl. Wuppertal 5 Js 155/48 = 5 KLs 64/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 191/116. 116 Vgl. Ravensburg Js 514–16/47, gerichtliches Az. unbekannt, AOFAA, AJ 804, p. 600. 117 Vgl. Stuttgart E/Fa. Js 4401/46 = 4 KMs 28/46; zum Prozess auch Bericht, 25. 10. 1947, NARA, OMGWB 12/135 – 3/8. 118 Aurich 2 Js 718/45 = 2 Ks 4/48, StA Aurich, Rep. 109 E, Nr. 113/1–2. 2. Ausschreitungen gegen Nichtwähler und Geistliche 763 genüber Christentum und Kirche ablehnte. Der Bürgermeister von Rottenburg machte über die Tatsache der Wahlenthaltung Mitteilung beim Landrat von Rot- tenburg und dem NSDAP-Kreisleiter von Tübingen, auch der NSDAP-Ortsgrup- penleiter von Rottenburg erfuhr davon. Alle fanden, dass etwas „geschehen“ müs- se. Am 11. 4. 1938 fand eine Veranstaltung der NSDAP in der mit einer Karikatur des ­Bischofs ausgestatteten Turnhalle statt, zu der SA, NSKK und HJ uniformiert erschienen. Der Bürgermeister von Rottenburg attackierte in einer Schmährede die Wahlenthaltung des Bischofs, der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Rottenburg befahl einem SA-Obertruppführer, Sprechchöre zu inszenieren. Anschließend zo- gen mehrere hundert Personen von der Feier vor das bischöfliche Palais und for- derten in Sprechchören „Raus mit dem Volksverräter“ oder „Hängt ihn an den Galgen“. Die Fenster des Hauses wurden eingeschlagen, die Tür eingerammt, die ­Fahne auf dem Gebäude eingeholt. Die Menge rief „Hängt die Juden, stellt die Schwarzen an die Wand.“ Am 12. 4. 1938 schrieb das bischöfliche Ordinariat an den Bürgermeister von Rottenburg und zeigte den Landfriedensbruch an, dieser antwortete, das Eindrücken der Haustüre wäre unterblieben, wenn die am Palais angebrachte Hakenkreuzfahne eingezogen worden wäre. Der sog. Ausbruch des Volkszornes sei darauf zurückzuführen, dass der Bischof seiner staatsbürgerlichen Pflicht nicht genügt habe. Der Landrat von Rottenburg empfahl dem Bischof brieflich, sich nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen und berichtete dem Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart am 19. 4. 1938 von den Ausschreitungen gegen den Bischof, die dieser begrüßte. Der Bischof, der bei den Ausschreitungen nicht ­anwesend gewesen war, kehrte am 21. 4. 1938 nach Rottenburg zurück. Sobald dies bekannt wurde, zogen über 100 Personen zum Bischofspalais und skandier- ten Schmähparolen wie „Volksverräter heraus“, „Auf nach Moskau“, „Der Bischof gehört erschossen“. Das Lied „Hängt die Juden…“ wurde mit dem veränderten Text „…stellt den Bischof an die Wand“ gesungen. Am 23. 4. 1938 hielt der ­NSDAP-Ortsgruppenleiter eine Versammlung in der Turnhalle ab, in der er gegen zwei bischöfliche Beamte und einen Realschullehrer hetzte. Daraufhin versam- melten sich etwa 200 Personen vor dem Wohnhaus zweier Mitarbeiter des Bi- schofs, Fenster wurden zertrümmert und die Haustür eingerammt, beide Mit­ arbeiter von der Menge zur Polizeiwache eskortiert. Auch ein katholischer Real- schullehrer wurde unter Beschimpfungen zur Polizeiwache geschafft, wo alle drei ohne Haftbefehl für eine Woche inhaftiert waren. Während die vorangegangenen Aktionen auf Rottenburg beschränkt waren, wurde ab Ende April auch regional gegen den Bischof gehetzt. Gegen den Bischof, der am 22. 4. 1938 erneut aus seiner Residenz geflohen war, hetzte die NS-Presse massiv mit Artikeln wie „Nichtwähler Bischof Sproll“ (der in der Rottenburger Zeitung vom 3. 5. 1938 erschien und dessen Verfasser der - leiter und Reichsstatthalter von Württemberg, Wilhelm Murr, war) oder „Wir wollen einen deutschen Bischof“, „Schickt den Bischof in die Wüste“, „Die Katho- liken Württembergs fordern seine Absetzung“, „Wir verlangen, daß er geht“ oder „Der Bischof muß gehen“. Bei NSDAP-Ortsgruppenleitern und Blockleitern wur- den Unterschriften gegen den Bischof gesammelt. Dieser kehrte am 15. 7. 1938 764 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? nach fast dreimonatiger Abwesenheit auf Weisung des Vatikans nach Rottenburg zurück, wo es am 16. 7. 1938 zu weiteren Ausschreitungen vor dem bischöflichen Palais kam. Eine in weiten Teilen nicht aus Rottenburg zusammengetrommelte, aus etwa 400 Personen bestehende Menge intonierte Sprechchöre mit Texten wie „Fort mit dem Volksverräter“ oder „Wir wollen einen deutschen Bischof“. Etwa 100 Menschen drangen in das Palais ein, schlugen Türen und Fenster kaputt, öff- neten Schränke und Kästen und warfen Betten durcheinander. Der Bischof wurde in seiner Hauskapelle überfallen, zu diesem Zweck die Tür eingerammt. Es hieß, die Menge werde so lange wiederkommen, bis der Bischof Rottenburg verlassen habe. Am 18. 7. 1938 kamen 40–50 NSDAP-Mitglieder zu einer vom Gau­ geschäftsführer in Stuttgart befohlenen Kundgebung vor dem Bischofspalais, der NSDAP-Kreisamtsleiter hielt eine Rede. Wieder wurden Fenster eingeworfen, er- neut erschollen Sprechchöre mit Worten wie „schwarzer Zigeuner“, „Volksverrä- ter“ oder „Hurenbub“. Ein Redner äußerte, der Bischof habe sein Aufenthaltsrecht verloren, weil er sich der Abstimmung enthalten habe. Die Menge schrie „Er soll gehängt werden.“ Am 23. 7. 1938 tauchten zwischen 2000 und 3000 Demonstran- ten in Rottenburg auf, die mit Omnibussen, Autos und per Bahn angekarrt wor- den waren. Vor dem bischöflichen Palais intonierten sie Kampflieder wie „Viel- leicht ist er schon morgen eine Leiche“ und „Hängt die Juden, stellt die Schwarzen an die Wand.“ Feuerwerkskörper – sog. Kanonenschläge – wurden abgefeuert, Beschimpfungen („Schwarzer Zigeuner“, „Lump“, „Volksverräter“) gerufen, das Hauptportal des Bischofspalais aufgebrochen und Fenster zertrümmert. Im Haus selbst wurde von der 50–100-köpfigen Menge ein Bett in Brand gesetzt, andere Beteiligte warfen Akten aus dem Fenster. Die Demonstranten drangen in die Hauskapelle ein, wo der Bischof, der Generalvikar, einige Domherren und der Erzbischof von Freiburg beteten. Die Demonstranten verwechselten den Erzbi- schof von Freiburg mit dem Bischof von Rottenburg und beschimpften diesen als „Volksverräter“, um nach eineinhalb Stunden abzuziehen. Am 25. 7. 1938 berief der Bürgermeister von Rottenburg eine Ratsherrentagung ein, bei der er erklärte, der Friede der Stadt sei durch die Anwesenheit des Bischofs bedroht, die Wahlent- haltung des Bischofs sei „Volksverrat“ gewesen. Er legte dann eine Resolution an den Reichsstatthalter und Murr vor. In Rottenburg waren damit die Ausschreitungen beendet, eine einschlägige Kundgebung am 31. 7. 1938, die der NSDAP-Kreisleiter von Tübingen einberufen hatte, verlief ohne Gewalttätigkei- ten. Der Bischof wurde aber außerhalb Rottenburgs weiterverfolgt, als er Anfang August 1938 im Kloster Heiligenbronn an Exerzitien teilnahm. Dort wurden Fenster eingeworfen, eine Menge von 150–200 Personen rief „Volksverräter“ und „Bischof, zeige Dich“ im Klosterhof. Der Bischof verließ daraufhin das Kloster und kehrte am 10. 8. 1938 nach Rottenburg zurück. Am 24. 8. 1938 kamen An­ gehörige der Gestapo Stuttgart ins bischöfliche Palais und eröffneten Sproll seine Ausweisung aufgrund des Gesetzes zum Schutz von Volk und Staat aus dem Gau Württemberg-Hohenzollern. Dem Bischof wurde eine halbe Stunde Zeit gegeben, seine Abreise zu arrangieren. Er wurde nach Freiburg gebracht, wo am 28. 8. 1938 eine große Demonstration gegen ihn stattfand und er erneut zum Verlassen der 2. Ausschreitungen gegen Nichtwähler und Geistliche 765

Stadt aufgefordert wurde. Von Freiburg begab sich der Bischof schließlich nach Bayern unter den Schutz von Kardinal Faulhaber in München. Für die einzelnen Tatabschnitte waren verschiedene Personen zuständig, die In- szenierung der Ausschreitungen wurde vor allem dem NSDAP-Ortsgruppenleiter von Rottenburg zur Last gelegt, beteiligt waren aber auch NSDAP-Gauleitung, ­NSDAP-Kreis- und Ortsgruppenleiter der Umgebung, Parteiredner und SA-Ange- hörige. Ein Parteiredner hielt am 18. 7. 1938 die Rede, am 23. 7. 1938 sprach der NSDAP-Kreisleiter von Reutlingen, Otto Sponer. Von 55 Beschuldigten wurden zwölf angeklagt. Die höchste Strafe – zwei Jahre Zuchthaus wegen Beihilfe zu Ver- brechen gegen die Menschlichkeit in TE mit Landfriedensbruch – erhielt der Schriftleiter der NS-Wochenschrift „Flammenzeichen“, der von April bis August 1938 zahlreiche Artikel gegen Sproll veröffentlicht hatte.119 Der Prozess erfuhr zu- nächst keine große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit. Erst als die Zeitungen darüber berichteten und die Zeugen erwähnten, die aufgetreten waren, wurde die Bevölkerung hellhörig. Am 5. 9. 1947 kam erstmals ein großes Prozesspublikum zusammen. Der Saal mit seinen 300 Sitzplätzen war vollständig belegt, die letzte Hauptverhandlung fand im „überfüllten Hörsaal 8 der Universität Tübingen“ statt.120 Dabei hatte deren Organisation dem Tübinger Landgerichtsdirektor Bie- dermann die größten Probleme gemacht: „Vor einigen Wochen schon hat mir Herr Ministerialrat Müller mitgeteilt, daß in größeren politischen Prozessen – er nannte den Bischofsprozeß und die Beleidigungssache zum Nachteil des Oberbürgermeis- ter Kalbfell – kein PG als Richter mitwirken solle. Da die Anklage im Bischofspro- zeß wohl im Juni bei Gericht eingehen wird, möchte ich vor meinem Urlaub noch auf die Schwierigkeiten hinweisen, im Bischofsprozeß dieser Forderung zu genü- gen. Die Herren Dorner und Hofmann waren PG, Dorner auch Scharführer in SA, Hofmann ohne Dienstgrad im NSKK, Herr Gekeler, den ich mir, da er nicht PG war, zunächst als Berichterstatter gedacht hatte, macht – wie mir scheint mit Recht – gegen seine Mitwirkung geltend, daß einige Angeklagte Führerposten in der Reutlinger SA gehabt hätten, der er immerhin bis 1935 als Rottenführer angehört habe. Wer soll nun, falls ich den Vorsitz haben soll, Berichterstatter und Beisitzer sein? […] Landgerichtsrat Klumpp, mit dem ich vor ca. 6 Wochen die Frage be- sprach, wies darauf hin, daß seine Verwendung wegen seiner früheren kriegsrich- terlichen Tätigkeit von der Besatzungsmacht noch immer nicht ganz unangefoch- ten sei, auch sei er im Säuberungsbescheid als PG behandelt worden, obwohl er nur einen Aufnahmeantrag gestellt habe. Amtsgerichtsrat Wenger (nicht PG, nur SA-Reitersturm) sagte mir, als er noch der Strafkammer angehörte, daß seine Mit- wirkung wohl deshalb untunlich sei, da er und seine Familie in Rottenburg lebe. […] Am Freitag, 23. Mai 1947 hatte ich die Hauptverhandlung gegen zwei SA- Leute wegen eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit sowie auch wegen Kör- perverletzung, Freiheitsberaubung und versuchter Nötigung angesetzt. Diese sol- len 1933 einen angeblichen politischen Gegner mit dem Strick um den Hals an

119 Vgl. Tübingen 1 Js 5912/46 = KLs 47/47, StA Sigmaringen, Wü 29/3 T 1, Nr. 1597. 120 Vgl. „Das Urteil gegen die Bischofsdemonstranten“, in: Schwäbisches Tagblatt, 12. 9. 1947. 766 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? einem Baum 3 m hochgezogen haben. Zum Berichterstatter hatte ich Herrn Ge- keler ernannt. Er bekam aber am Anfang dieser Woche starke Bedenken gegen seine Mitwirkung, da er nun einmal SA-Rottenführer gewesen ist und die abzuur- teilende Tat nun gerade ein ziemlich typisches SA-Delikt ist. […] Ich bitte deshalb um Zuweisung eines geeigneten Berichterstatters.“121 Sproll selbst hatte kein Inte- resse an dem Prozess gehabt, sondern vielmehr darum gebeten, die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen.122 Die Presse argumentierte aber, die Staatsräson ver- lange Urteil, Strafe und Sühne. Die Verteidigung der Angeklagten stieß in der Presse auf kein Verständnis, es hieß, sie seien keine Freunde der Wahrheit und würden ihre Unschuld „genau so stereotyp wie die Angeklagten der bekannten Nürnberger oder KZ-Prozesse“ bekunden – wer aber den Nationalsozialismus er- lebt habe, wisse von der Macht der NSDAP-Kreisleiter, die Unschuldsbeteuerun- gen seien also unglaubwürdig.123 Ein Zeuge, der der Polizei Rottenburgs angehörte, meinte, die Bevölkerung sei mehrheitlich, ja zu 95%, gegen die „Demonstration“ gewesen. Die Sûreté kriti- sierte dies in einem Bericht als unsinnig, denn die Demonstranten seien ja in wei- ten Teilen Ortsansässige gewesen.124 In einem weiteren Bericht stellten die Franzosen fest, dass die Angeklagten sich fast identisch verhalten hätten. Jeder versuche seine eigene Rolle zu marginalisie- ren und zu zeigen, dass er nichts getan habe. Der Vorsitzende Richter Biedermann gehe sehr gut mit dem Verfahren um, sein Verhalten zeige Intelligenz, ja selbst Humor. Er rücke die Darstellungen der Angeklagten, die alle Schuld abstreiten würden, gerade und ziehe die Aussagen ins Lächerliche. Auf den Gängen des Ge- bäudes aber kritisierten einige Studenten, dass der Richter Biedermann, der sich nun so für antinazistische Ideen starkmache, nicht den kleinen Finger gerührt habe, als die Nazis an der Macht gewesen seien, obwohl er selbst einen Posten in der Justizbeamtenschaft innegehabt habe.125 Das Publikum wirkte auf die französischen Beobachter nicht wie das eines gro- ßen Prozesses: Es gebe kein großes Gedränge, keine leidenschaftlichen Reaktionen in den Gängen und keine eleganten Roben, mit denen das (weibliche) Publikum bei interessanten Prozessen erscheine. Durchschnittlich seien ca. 50 bis 150 Men- schen aller Altersstufen im Hörsaal, stets viele Frauen und viele ständige Gerichts- besucher, aber auch Angehörige und Zeugen. Als interessantestes Element wurden die Studentinnen und Studenten, vor allem der Jurisprudenz, hervorgehoben die zwar nicht regelmäßig die Verhandlung verfolgten, aber häufig und des Längeren zum Prozess auftauchten. Eine andere Sache empfand der Beobachter auch als besonders hervorhebenswert: Die Verhandlungen erweckten nicht den Eindruck, als handele es sich um ein Verfahren während der Besatzung. Es gab keinen einzi-

121 Brief Landgerichtsdirektor Biedermann an Landgerichtspräsident Tübingen, Bendel, 22. 5. 1947, Tübingen 1 Js 5912/46 = KLs 47/47, StA Sigmaringen, Wü 29/3 T 1, Nr. 1597. 122 Vgl. „Die Bischofsdemonstranten vor Gericht“, in: Schwäbisches Tagblatt, 2. 9. 1947. 123 „Mehr Mut, meine Herren!“, in: Schwäbisches Tagblatt, 5. 9. 1947. 124 Vgl. Bericht der Sûreté, 11. 9. 1947, AOFAA, AJ 804, p. 599, Dossier 23. 125 Vgl. Bericht der Sûreté [undatiert; September 1947], AOFAA, AJ 804, p. 599, Dossier 23. 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 767 gen uniformierten Franzosen im Saal, und falls ein Franzose in Zivil da gewesen wäre, wäre er nicht aufgefallen. Außerdem wirke die öffentliche Meinung eher uninteressiert. Aus den Debatten im Gerichtssaal entstehe der Eindruck, als ob es sich um eine NS-Affäre ohne Bezug zur Gegenwart handele: „[…] que c’est une affaire de nazisme et une affaire de nazisme est une affaire du passé […]“.126 Die Öffentlichkeit, die sich an aktuellen politischen Fragen reibe, lasse sich durch den vorliegenden Prozess nicht stören. Dieser Eindruck (des Desinteresses) bezüglich der NS-Prozesse dränge sich laufend auf. Die Angeklagten würden nicht als Misse­ täter oder Gewaltverbrecher betrachtet, sondern als Vertreter eines virulenten ­Nazismus. Deswegen stelle sich der Präsident des LG laufend als Vorreiter des An- tinazismus dar. Die Öffentlichkeit sei in der Mehrheit antinazistisch und lehnte die Angeklagten vehement ab. Schon im Monatsbericht wurde der Prozess als kleingeredete Sache bezeichnet. Das Verfahren hätte das Potential gehabt, ein „Ereignis“ in Württemberg zu sein, aber weder das Publikum noch die Atmosphäre dort seien die eines großen ­Prozesses gewesen: „Ce procès aurait pu être un évènement dans le Wurtemberg, mais ni le public, ni l’atmosphère n’étaient ceux d’un grand procès.“127 Der Staatsanwalt Krauss habe ein besonders beeindruckendes Plädoyer gehalten, in dem er die These der Kollektivschuld des deutschen Volkes befürwortet (!) habe. Wenn das Kollektiv verantwortlich sei für die Taten, die in Rottenburg geschehen seien, dann wolle es auch die Ehre des Landes, dass derartige Verbrechen hart bestraft würden, denn „Le monde entier nous jugera d’après les sanctions que vous prononcerez.“128 Dagegen hätten die Verteidiger, die oft bereits eine gewisse Erfahrung mitbrächten, sich der Argumente bedient, die etwa in Nürnberg oder Rastatt bei alliierten Tribunalen zu Freisprüchen geführt hätten. Die Bevölkerung schließlich, gemäß einer von der Sûreté durchgeführten Um- frage, empfand die verhängten Strafen als lächerlich. Die Zeitungen in Württem- berg, die den Prozess kommentierten, seien vor allem erpicht darauf, den Mangel an Mut bei den Angeklagten darzustellen, ohne daran weitere Überlegungen zu knüpfen.

3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“

Zum Totalitätsanspruch des NS-Staates gehörte es nicht nur, die politischen Überzeugungen, Äußerungen und das Wahlverhalten, sondern eben auch die Auswahl der Geschlechtspartner zu kontrollieren. Neben den Straftaten an politi- schen Gegnern und Geistlichen, die gehäuft vor allem in der Vorkriegszeit vor­ kamen, sind die öffentlichen Stigmatisierungen von Frauen, die Verhältnisse mit

126 Ebd. 127 Monatsbericht Württemberg, August 1947, AOFAA, AJ 806, p. 617. 128 Ebd. 768 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Fremdarbeitern und Kriegsgefangenen unterhielten, zwangsläufig ein Phänomen der Kriegszeit, als rund zehn Millionen ausländische Arbeiter und Arbeiterinnen zum Zwangsarbeitseinsatz im Reich waren. Frauen, denen der „verbotene Verkehr“ mit Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern vorgeworfen wurde, wurden vielfach von Sondergerichten abgeurteilt, sie verbüßten teils mehrjährige Zuchthausstrafen oder kamen in das KZ Ravensbrück, einige starben in der Haft. In Einzelfällen wurden Frauen öffentlich an den Pranger gestellt und fotografiert, bevor sie für längere Zeit eingesperrt wurden.129 Mit der „Verordnung zum Schutz der Wehr- kraft des deutschen Volkes“ vom 25. 11. 1939 (RGBl. I, S. 2319) wurden alle Hand- lungen, die das „gesunde Volksempfinden“ verletzten, unter Strafe gestellt, mit der Ausführungsverordnung über den Umgang mit Kriegsgefangenen vom 11. 5. 1940 (RGBl. I, S. 769) weitere Richtlinien verkündet. Gesellschaftliche Vergnügungen mit Kriegsgefangenen, Spaziergänge, Weiterleitung von Postsachen oder Mitteilun- gen von oder an Kriegsgefangene, Ver- oder Ankauf von Gegenständen, Geldwech- sel oder Schenkungen sämtlicher Art von und an Kriegsgefangene, Gespräche oder das Gestatten der Benutzung eines Rundfunkgerätes durch einen Kriegsgefange- nen waren von Strafen bedroht. Neben dem Umgang mit Kriegsgefangenen war auch der mit Fremdarbeitern zu regeln: Der sogenannte Polenerlass vom 8. 3. 1940 untersagte ­Polen jeden Kontakt außerhalb der Arbeit mit Deutschen. Sexueller Verkehr zwischen polnischen Männern und deutschen Frauen wurde in diesen Richtlinien für die Männer mit der Hinrichtung bedroht. Deutschen Frauen, die sich mit Kriegsgefangenen einließen, war schon seit September 1939 die öffentli- che Diffamierung (Anprangerung und das Kahlscheren) angekündigt worden. Eine Grundlage in Form eines Gesetzes – also nicht nur einer Verordnung oder eines Erlasses – zur Verfolgung der wegen Verstoßes gegen diese Bestimmungen beschuldigten deutschen Frauen existierte nicht, hinzu kamen mangelnde Trenn- schärfe betreffs Fremdarbeitern bzw. Kriegsgefangenen und den verschiedenen betroffenen Nationalitäten. Obwohl die auf Polen abgestimmten Erlasse nie offi- ziell auf Angehörige anderer Nationen ausgeweitet wurden, wurden die beteilig- ten deutschen Frauen ähnlich behandelt – unabhängig davon, welche Nationalität der männliche Part hatte. Nach welchen Kriterien die Auswahl der Opfer vor Ort erfolgte, derzufolge einige Frauen öffentlich gedemütigt wurden, ist unklar, deut- lich ist jedoch, dass die Initiative und Ausführung von den lokalen NS-Macht­ habern, insbesondere NSDAP-Kreis- und Ortsgruppenleitern ausging, die sich der Unterstützung der Parteigliederungen versicherten. Die bekannten Beispiele stammen aus den Jahren 1940 und 1941. Vereinzelt kam es zu Übergriffen­ bis Kriegsende130, obwohl im Oktober 1941 die Parteikanzlei der NSDAP dazu aufge- fordert hatte, auf die öffentliche Diffamierung deutscher Frauen zu verzichten.

129 Eine Sammlung der Fotos zu diesen Vorfällen in Südwestdeutschland, Thüringen und Sach- sen bietet Hesse/Springer, Vor aller Augen, S. 117–134, zu anderen Regionen fehlen Beispiele. Kundrus, „Verbotener Umgang“, gibt eine Einführung in die Thematik. Vgl. auch: Schneider, Verbotener Umgang, S. 212–215, zu der Strafpraxis der Anprangerung. 130 Vgl. Hagen 11 Js 47/49 = 11 Ks 9/49 (Misshandlung einer deutschen Frau Februar/März 1945, die wegen Geschlechtsverkehr mit einem Tschechen angezeigt worden war). 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 769

Die Taten waren gravierende Eingriffe in die körperliche und seelische Integrität der Opfer, die gesellschaftliche Ächtung bedeutete eine schwere Stigmatisierung auch für die Zukunft der meist jungen Frauen. So unternahm eines der unten erwähnten Leutkircher Opfer, Ottilie U., unmittelbar nach ihrer Kahlscherung ei- nen Selbstmordversuch. Anders als die Verbrechen an den politischen Gegnern, die in großer Zahl ver- übt und nach 1945 auch in großer Zahl verfolgt wurden, wurde die öffentliche Anprangerung der Frauen nur in einigen wenigen Fällen geahndet. Welcher Pro- zentsatz der diesbezüglichen NS-Taten in der Nachkriegszeit strafrechtlich sicht- bar wurde, lässt sich nicht feststellen, weil schon das Ausmaß dieser Verfolgung zahlenmäßig nicht belegt ist. Die Opfer hatten verständlicherweise oft kein Inter- esse daran, ein zweites Mal in der Öffentlichkeit private Beziehungen – und seien sie noch so harmlos gewesen – darzulegen. In Luck bei Karlsbad im Sudetenland hatten Gertrud Z. und Paula F. Beziehungen zu polnischen Fremdarbeitern un- terhalten. Ihnen wurden nach dem Bekanntwerden dieser Tatsache die Haare ge- schoren und sie wurden auf einem Wagen durch verschiedene Dörfer gefahren, wobei an dem Wagen ein ­vulgäres Plakat mit diffamierender Aufschrift hinsicht- lich des Geschlechtsverkehrs mit Polen angebracht war. Paula F. sagte bei den Er- mittlungen aus: „Die ganze Angelegenheit liegt bereits 10 Jahre zurück. Ich mache in dieser Sache heute keinerlei Angaben mehr. Ich bin Mutter von zwei Kindern und will, wenn wir wieder in unsere Heimat zurückkehren sollten, dort meine Ruhe haben. Anzugeben habe ich nur, daß ich im Mai 1941 von Franz B., damali- ger SD-Dienststellenleiter in Luck bei Karlsbad, von meinem Arbeitsplatz weg­ geholt wurde. Er lieferte mich in das Gefängnis in Karlsbad ein. Dort mußte ich ca. 8 Monate verbringen.“131 Wer sich ein Herz fasste und die Verfolgung anzeigte, musste sich auf Besser- wisserei, Gehässigkeiten und Schnöseligkeiten gefasst machen: Die Hausgehilfin Frieda B. war von einem französischen Kriegsgefangenen geschwängert worden und wurde vom NSDAP- von Locherhof, Kreis Rottweil, einem Volk- schullehrer, im August 1942 denunziert. Sie wurde umgehend in U-Haft genom- men und in einer Hauptverhandlung des LG Rottweil am 28. 9. 1942 wegen ver- botenen Umgangs zu einem Jahr zwei Monaten Gefängnis verurteilt, bis zur Ent- bindung auf freien Fuß gesetzt, am 25. 12. 1942 brachte sie ein Kind zur Welt, das kurz darauf starb. Im März 1943 trat sie die Gefängisstrafe in Gotteszell an und verbüßte zehn Monate der Strafe, vier Monate wurden auf Bewährung erlassen. Als Frieda B. in der Nachkriegszeit Anzeige wegen der Denunziation erstattete, äußerte der Justiz­oberinspektor Z., der NSDAP-Zellenleiter sei im Recht gewesen, Frieda B. der NS-Justiz auszuliefern, weil der Verkehr mit Kriegsgefangenen eben 1942 verboten gewesen sei. Die Militärregierung von Württemberg-Hohenzollern beanstandete die Äußerung als ungehörig, in einer Stellungnahme gegenüber dem Oberstaatsanwalt von Rottweil räumte Z. ein, dass die Bemerkung deplat-

131 Wiesbaden 4 Js 143/50, HStA Wiesbaden, Abt. 468, Nr. 420. 770 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ziert und sachlich falsch gewesen sei und nahm sie mit Bedauern zurück, insbe- sondere um einer Sachrüge kurz vor seinem Ruhestand zu entgehen.132 Die hier untersuchten Taten, die meist von NSDAP-Funktionären verübt wur- den, richteten sich im Regelfall gegen Frauen, die mit polnischen Fremdarbeitern „verbotenen Umgang“ gepflogen hatten, die männlichen Partner waren aber auch französischer, belgischer, tschechischer oder serbischer Nationalität und waren teils Fremdarbeiter, teils Kriegsgefangene. Die Definition des Delikts war dabei sehr weit: Während einige Frauen nachweislich Geschlechtsverkehr gehabt hatten, manche auch geschwängert worden waren, reichte bei anderen eine harmlose Lie- belei oder bloße Bekanntschaft zu schärfsten Verfolgungsmaßnahmen. Der NSDAP-Kreisleiter von Würzburg gab 1940 Befehl, drei 14- bis 16-jährigen Mädchen die Köpfe zu scheren, weil sie mit Polen, die auf einem nahegelegenen Gut arbeiteten, Bekanntschaften pflegten, und sie anschließend mit einem Schild um den Hals durch das Dorf Kleinrinderfeld zu paradieren. Der NSDAP-Orts- gruppenleiter beschloss, sie nicht kahlzuscheren, sondern ihnen lediglich ­einen „Herrenschnitt“ zu verpassen. Allerdings stellte ein Arzt später fest, dass sie noch unberührt waren, ein Gendarmeriemeister hatte von den minderjährigen Mäd- chen Geständnisse erpresst, deren Inhalt und Auswirkung sie vermutlich über- haupt nicht verstanden hatten.133 Bei anderen reichte ein Brief. Barbara Sch., die am 27. 11. 1945 Anzeige gegen ihre Peiniger erstattete, gab an, dass sie als 17-jähri- ge von einem Polen, den sie auf einem Nachbarhof in Bornheim kennengelernt hatte, einen Brief erhielt, den sie beantwortete. Der Brief begann mit den Worten: „Mein lieber Marian“ und schloss mit „Mit vielen Grüßen und Küssen, Deine Bärbel“. Weitere Zärtlichkeiten oder Intimitäten waren nicht enthalten, Barbara Sch. verwendete die Gruß- und Abschiedformeln, weil der Pole ihr in gleicher Weise geschrieben hatte, und adressierte ihr Schreiben in aller Naivität an das Lager, in dem der Pole lebte. Natürlich geriet der Brief über die Zensur in die Hände der Staatspolizei Bonn, die von der NSDAP-Kreisleitung Bonn zur Ab- schreckung eine drakonische Strafe verlangte. In einer Schule in Bornheim fand am Sonntag, 20. 10. 1940, gerade eine BDM-Feier statt, als Barbara Sch. aus der Veranstaltung herausgeholt und zum Bürgermeisteramt gebracht wurde. Dort wurde ihr ein großes Schild umgehängt mit dem Text: „Ich habe mit einem polni- schen Kriegsgefangenen ein Liebesverhältnis.“ Sie wurde anschließend zur Schule zurückgeführt, ein Mann trug dem Zug ein Schild voraus, auf dem stand: „Barbara Sch. hat ein Liebesverhältnis mit einem polnischen Kriegsgefangenen. Sie ist ehrlos und von jedem Deutschen geächtet.“ Der Umzug wurde auch fotografiert. Vor der Schule wurde ihr Brief an den Polen vom NSDAP-Kreispropagandaleiter verlesen, umringt von 50–60 NSDAP-Angehörigen wurde Barbara Sch. in den Klassenraum

132 Vgl. Rottweil 4 Js 5242/48, StA Sigmaringen, Wü 29/2 T 4, Nr. 894; AOFAA, AJ 804, p. 598. 133 Würzburg 1 Js 181/49 (Akten vernichtet). Über das Verfahren geben Zeitungsartikel Aus- kunft: „Die abgeschnittenen Zöpfe. Gerichtliches Nachspiel zu erpreßtem Geständnis“, in: Main-Post, 30. 1. 1950; „Noch einmal die abgeschnittenen Zöpfe“, in: Main-Post, 2. 2. 1950, sowie „Görtler erhielt 15 Monate Gefängnis“, in: Main-Post, 11. 2. 1950 . 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 771 zurückgeführt, wo die BDM-Gruppe noch versammelt war. Der NSDAP-Kreispro- pagandaleiter zwang Barbara Sch., das Abfassen des Briefes einzuräumen und for- derte die BDM-Angehörigen auf, sie in Zukunft mit Verachtung zu behandeln. Barbara Sch. musste sich auf einen Stuhl setzen, zwei Männer hielten sie fest, dann schnitt ihr ein Mann die Haare ab, was ebenfalls fotografiert wurde. Anschließend wurde ihr mit einer Haarschneidemaschine der Kopf völlig kahl geschoren. Unter Schmährufen und Misshandlungen wurde die Schülerin durch die Straßen von Bornheim geführt, an mehreren Orten wurde der Brief verlesen und das Mädchen fotografiert, am Bahnhof musste sie sich an einen Pfeiler stellen, während der Brief erneut verlesen wurde, dann wurde sie nach Bonn gebracht und erneut in einem Umzug durch die Straßen gezerrt. NSDAP-Angehörige beschimpften sie als „Po- lenhure“ und „Polensau“. Am Bonner Marktplatz wurde sie der Staatspolizei über- geben, anschließend war sie drei Wochen inhaftiert, zu einem Verfahren wegen „verbotenen Umgangs“ mit Kriegsgefangenen kam es nicht.134 1948 wurden fünf der beteiligten ehemaligen NSDAP-Funktionäre (darunter der NSDAP-Kreispropagandaleiter, der Fotograf und der Mann, der Barbara Sch. die Haare abgeschnitten hatte) wegen Landfriedensbruchs (teils auch Freiheitsbe- raubung) zu Strafen zwischen einem Jahr und vier Monaten Gefängnis verurteilt. Der Fotograf gab an, die Bilder aus „rein fotografischen Interessen“ gemacht zu haben. Der NSDAP-Zellenleiter, der ihr die Haare schnitt, äußerte, die Aktion habe er nicht für rechtswidrig gehalten, die „Selbsthilfe“ gegen „pflichtvergessene deutsche Mädchen“ sei in seinen Augen rechtmäßig gewesen, weil sich viele sei- ner Frontkameraden Sorgen um die eheliche Treue ihrer Frauen gemacht hätten. (Dass die Schülerin Barbara Sch. überhaupt nicht verheiratet war, blieb in der Argumentation unberücksichtigt.) In einer Anzahl von Fällen blieben die Täter straflos. In Regen war es eine Fünfzehnjährige, der am 18. 4. 1940 wegen eines angeblichen Liebesverhältnisses mit einem Polen die Haare geschoren wurden, sie wurde mit einem Schild be- hängt durch die Straßen geschleppt, beschimpft, angespuckt und schließlich in- haftiert. Das Verfahren wurde per Urteil 1949 eingestellt, weil bei einigen Ange- klagten (meist frühere NSDAP-Funktionäre der Ortsgruppen Bischofsmais und Regen sowie der NSDAP-Kreisleitung, aber auch die Leiterin der Mädchenschule in Regen) nur eine geringe Schuld festgestellt wurde, bei anderen war die Verjäh- rung eingetreten, weil eine Anwendung des Gesetzes Nr. 22 zur Ahndung natio- nalsozialistischer Straftaten nicht für nötig gehalten wurde.135 Die in einer Möbelfabrik beschäftigte Emma K. war in Speyer Anfang Mai 1941 in ihrer Wohnung überfallen worden, ihr wurden gewaltsam die Haare abge- schnitten und sie wurde zur Teilnahme an einem Umzug durch die Stadt genö- tigt, bis sie am 12. 6. 1941 vom AG Speyer wegen des „verbotenen Umgangs“ mit einem französischen Kriegsgefangenen zu vier Monaten Gefängnis verurteilt wur- de. Auch hier wurde aufgrund des Straffreiheitsgesetzes keiner der Angeklagten

134 Bonn 4 Js 1734/45 = 4 KLs 15/48, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 2/405. 135 Vgl. Deggendorf C Js 2579/48. 772 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? wegen Hausfriedensbruchs, Landfriedensbruchs und VgM zur Rechenschaft ge- zogen.136 Ebenso blieb die Tat an der geistesschwachen Helene Sch., die am 10. 4. 1941 in Erpolzheim wegen „verbotenen Umgangs“ mit einem Polen ein identisches Schicksal erlitt, ungesühnt, da gegen die sechs Angeklagten das Straf- freiheitsgesetz zur Anwendung kam.137 Zwei Schwestern, Margarethe und Ilse K., waren seit 1943 mit einem französi- schen Fremdarbeiter befreundet. Davon erfuhr die NSDAP-Kreisleitung Worms und verwarnte die Schwestern mehrfach, im April 1944 wurden sie zur NSDAP- Kreisleitung einbestellt, beschimpft, geschlagen und kahlgeschoren. Nach 1945 war der frühere NSDAP-Kreisleiter von Worms unauffindbar. Die Staatsanwaltschaft Mainz sah in den Taten dreier weiterer Beteiligter keine politische Verfolgung im Sinne des KRG 10, die Folgen für die Verletzten seien überdies „nicht allzu schwer“ gewesen. Ein Strafantrag hinsichtlich Beleidigung und Körperverletzung war un- terblieben, da aber keine höhere Strafe als drei Monate Gefängnis oder 1500,- DM Geldstrafe in Betracht kommen würde, schlug die Staatsanwaltschaft Mainz am 23. 10. 1948 die Einstellung des Verfahrens vor, der Service du Contrôle de la Justice Allemande genehmigte am 27. 6. 1949 die Einstellung nach dem Straffreiheitsgesetz vom 18. 6. 1948.138 Auch die Besatzungsmacht tat also wenig, um diese Art der NS- Verbrechen zu ahnden – vielleicht nicht zuletzt deswegen, weil in Frankreich nicht lange vorher Kollaborateurinnen ähnlich malträtiert worden waren. Bezüglich ei- ner identischen Straftat in Mittelbexbach – dort waren am 5./6. Juni 1941 Frauen, die mit französischen Kriegsgefangenen Beziehungen unterhielten, Schilder mit schmähenden Inschriften umgehängt, die Haare abgeschnitten und der Kopf mit Farbe beschmiert worden – wurden fünf frühere NSDAP-Angehörige erst in zwei- ter Instanz vom OLG Saarbrücken zu Strafen zwischen drei und fünf Monaten Gefängnis verurteilt, die allerdings sämtlich zur Bewährung ausgesetzt wurden. Das OLG Saarbrücken sah in der öffentlichen Demütigung einen Angriff auf die Menschenrechte und damit ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegeben, während die Vorinstanz noch die Meinung vertreten hatte, das Fraternisieren mit dem Feind werde in allen Kulturnationen bestraft, die Tat sei also kein spezifisch nationalsozialistisches Verbrechen und keine Verfolgung aus politischen, religiösen oder rassischen Gründen im Sinne des KRG 10.139 Aber auch in der Amerikanischen Zone blieben einige der diesbezüglich fest­ gestellten Täter straflos. Gegen Täter, die Frauen im Frühjahr und Sommer 1944 wegen Beziehungen zu französischen Fremdarbeitern die Haare abrasiert hatten, wurde das Verfahren eingestellt (mangels strafbarer Handlung, mangels Beweises bzw. wegen Verjährung).140 In Gildehaus wurde im Sommer 1942 einem Dienstmädchen namens Hedwig K. ein Verhältnis mit einem serbischen Kriegsgefangenen vorgehalten, sie war ver-

136 Vgl. Frankenthal 5 Js 988/46 = 9 KLs 4/47, AOFAA, AJ 3676, p. 36. 137 Vgl. Frankenthal 9 Js 22–26/49 = 9 KLs 22/49, AOFAA, AJ 3676, p. 36. 138 Vgl. Mainz 3 Js 679/48, AOFAA, AJ 1616, p. 803. 139 Vgl. Saarbrücken 11 Js 131/48 = 11 KLs 18/49. 140 Vgl. Mannheim 1a Js 2405/47. 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 773 mutlich von einem Bauernknecht denunziert worden und wurde vom Grenzpoli- zeikommissariat Bentheim verhaftet, nach zwei oder drei Tagen Haft wurde sie nach Gildehaus gebracht. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Gildehaus verstän- digte daraufhin die NS-Frauenschaftsleiterin, die einige Frauen zum Wohnhaus des in Gildehaus ansässigen NSDAP- von Bentheim befahl, wo mehre- re Frauen dem Mädchen die Haare abschnitten, anschließend führten zwei Män- ner sie mit einem Schild um den Hals im Dorf herum. In Osnabrück wurde sie schließlich zu einem Jahr Gefängnis wegen „verbotenen Umgangs“ mit Kriegsge- fangenen verurteilt. In den Nachkriegsermittlungen ließ sich nicht mehr sicher feststellen, welche Frauen an dem Haareschneiden teilnahmen, eine nachweislich beteiligte Frau war nicht mehr verhandlungsfähig, der frühere NSDAP-Ortsgruppenleiter in der SBZ wohnhaft. Für die anderen schien keine höhere Strafe als sechs Monate Gefängnis zu erwarten, so dass das Verfahren aufgrund des Straffreiheitsgesetzes eingestellt wurde.141 Die fünf Angeklagten, die in Wiedelah an der Aktion gegen eine Frau im März 1941 beteiligt waren, die wegen Verkehrs mit Polen beschimpft, bespuckt und ge- waltsam geschoren wurde, wurden 1948 sämtlich freigesprochen – die Gründe müssen unklar bleiben, weil die Akten vernichtet wurden.142 Selten wurden die Täter mit Gefängnis bestraft und meist waren die Strafen außerordentlich milde. Nachdem eine Frau wegen einer geschlechtlichen Bezie- hung zu einem Polen mit geschorenem Kopf und dem Schild mit der Aufschrift „Das ist eine Polendirne“ am 19. 8. 1941 durch Stetten geführt worden war, wurde der dafür verantwortliche ehemalige NSDAP-Kreisleiter von Überlingen 1949 we- gen Körperverletzung und Nötigung zu zwei Monaten Gefängnis verurteilt, zwei frühere Ortsgruppenleiter zu sechs bzw. vier Wochen Gefängnis, ein weiterer Be- teiligter zu 200,- RM Geldstrafe.143 Vier frühere NSKK-Angehörige aus Germersheim erhielten im April 1949 Stra- fen zwischen vier Monaten und einem halben Jahr wegen VgM in TE mit Frei- heitsberaubung und Körperverletzung für ihre Beteiligung an der Anprangerung von Mathilde V. Ihr wurden auf Befehl der NSDAP-Kreisleitung Speyer am 7. 6. 1941 im Bürgermeisteramt in Hördt von NSKK-Angehörigen aus Germersheim die Haare abgeschnitten, weil sie Beziehungen zu einem französischen Kriegsge- fangenen hatte. Anschließend wurde sie in einem Zug durch den Ort geführt, der Feuerwehrtrompeter ging voran, wobei er an Straßenecken in die Trompete blies, einige trugen brennende Laternen bei sich, der Feuerwehrkommandant und der Bürgermeister begleiteten den Prangermarsch, ein Angehöriger der NSKK Ger- mersheim wandte sich zweimal in einer Rede an die Menge und beschimpfte Frau V. als „Vaterlandsverräterin“ und „ehrvergessenes Weib“. Erst am späteren Abend wurde Frau V. von der Gendarmerie in Gewahrsam genommen, ins AG-Gefäng-

141 Vgl. Osnabrück 4 Js 535/49, StA Osnabrück, Rep. 945 Akz. 6/1983, Nr. 449. 142 Vgl. Braunschweig 1 Js 152/48 = 1 Ks 12/48 (Akten vernichtet). 143 Vgl. Konstanz 2 Js 490/46 = AG Meßkirch Cs 3/47. 774 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? nis nach Kandel geschafft und am 18. 6. 1941 wegen der verbotenen Beziehungen zu 14 Monaten Zuchthaus verurteilt.144 Drei frühere SA-Angehörige wurden wegen Landfriedensbruchs im August 1947 zu Strafen zwischen acht und sechs Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie an den Ausschreitungen der NSDAP-Ortsgruppe gegen eine 46-jährige Frau be- teiligt gewesen waren, der ein Verhältnis mit einem Polen nachgesagt wurde, wes- wegen ihr am 5. 1. 1941 in Fellbach öffentlich die Haare geschoren wurden und sie unter Schmähungen und Misshandlungen mit einem Schild mit der Aufschrift „Polenhure“ durch die Straßen gejagt wurde.145 Selbst besonders brutal und mit mittelalterlichen Methoden durchgeführte An- prangerungen fanden in der Nachkriegszeit milde Richter. Am 15. 11. 1940 wurde die verheiratete Hedwig Sch. zusammen mit Eduard Pendratzki auf dem Adolf- Hitler-Platz in Eisenach auf einem Podest an einen Pfahl gebunden, sie trug ein Schild mit der Aufschrift „Ich habe mich mit einem Polen eingelassen“, er eines mit dem Text „Ich bin ein Rasseschänder“. Sie waren aus dem Polizeigefängnis vorgeführt worden, die SS bahnte eine Gasse durch die vor dem Rathaus versam- melte Menschenmenge. Der NSDAP-Kreisleiter hatte Hedwig Sch. im Keller des Eisenacher Schlosses (dem Sitz der NSDAP-Kreisleitung) den Kopf kahlscheren lassen und hielt nun eine Ansprache, in der er Schmähungen gegen das Paar aus- sprach, insbesondere gegen Hedwig Sch., deren Mann nach einer Kriegsverlet- zung im Lazarett lag. SS-Angehörige hatten das Podest umstellt, schon auf dem ca. 20–30 Meter langen Weg wurden die Opfer mit Unrat beworfen, versehentlich aber auch ein SS-Mann getroffen. Auf dem Weg zurück wurden Hedwig Sch. und Pendratzki von der aufgebrachten Menge beschimpft, geschlagen und mit faulen Eiern und Obst beworfen. Pendratzki starb mutmaßlich im KZ Buchenwald, Sch. kam für eineinhalb Jahre in das KZ Ravensbrück. Im Februar 1948 sah sich der nun in Westdeutschland ansässige ehemalige SS-Hauptscharführer Hans Richard W., der vom NSDAP-Kreisleiter von Eisenach, Köster, zum Erscheinen am Markt- platz aufgefordert, vom Oberbürgermeister von Eisenach dafür dienstfrei gestellt worden war und Hedwig Sch. zweimal durch die Straßen Eisenachs geführt hatte, mit einer Anklage wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in TE mit Frei- heitsberaubung und Körperverletzung konfrontiert. Er behauptete, er habe Frau Sch. vor weiteren Misshandlungen geschützt, sie belastete ihn, er habe sich beson- ders hervorgetan und die Menge zu weiteren Misshandlungen und Beschimpfun- gen angestachelt. Das Gericht mochte sich nicht auf die in Eisenach kommissa- risch vernommene Zeugin Sch. verlassen, die ausgesagt hatte, Hans Richard W. habe an dem Haarescheren ebenso teilgenommen wie an der Fesselung auf dem Stuhl (beim Haareschneiden) und an dem Festschnüren an dem Pfahl auf dem Marktplatz. Es verließ sich vielmehr auf die Angaben des Angeklagten Hans Ri-

144 Vgl. Landau 7 Js 9/48, AOFAA, AJ 3676, p. 36. Von dem Verfahren sind nur noch Bruchstü- cke überliefert, das gerichtliche Aktenzeichen ist daher unbekannt. 145 Vgl. Stuttgart I E Js 1696/46 = 3 KLs 77/46; siehe auch Bericht, 16. 8. 1947, NARA, OMGWB 12/135 – 3/4 und Bericht, 28. 8. 1947, NARA, OMGWB 12/137 – 2/7. 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 775 chard W. Hierzu trug nicht nur bei, dass Frau Sch. in der SBZ wohnhaft war, sondern auch, dass sie wegen Betruges mehrere Vorstrafen hatte und wegen ge- werbsmäßiger Abtreibung mit Zuchthaus vorbestraft war. Der frühere SS-Haupt- scharführer kam daher 1949 mit drei Monaten Gefängnis wegen Verbrechen ge- gen die Menschlichkeit in TE mit Freiheitsberaubung davon, die Strafe war durch die U-Haft verbüßt.146 Der NSDAP-Kreisleiter von Wangen gab im Juni 1941 dem NSDAP-Ortsgrup- penleiter von Leutkirch den Auftrag, drei Frauen, Ottilie U., Theresia B. und Emma L., die bereits in U-Haft im örtlichen Gefängnis saßen, wegen verbotenen Umgangs mit einem belgischen Kriegsgefangenen die Haare öffentlich scheren zu lassen. Die Frauen hatten den Belgier in ihrer Firma kennengelernt, sich mit ihm unterhalten, ihm Tabak und Lebensmittel zugesteckt, mit ihm Silvester gefeiert, mit ihm getanzt und sich von ihm küssen lassen. Theresia B. und Emma L. hatten auch Geschlechtsverkehr mit ihm, B. ließ sich außerdem auf nicht näher erläuter- te „widernatürliche geschlechtliche Handlungen“ ein. Der NSDAP-Ortsgruppen- leiter gab den Auftrag an den SA-Sturmführer in Leutkirch weiter, der die Frauen aus dem Gerichtsgefängnis holen und zum Marktplatz schaffen ließ, wo der ­SA-Sturm Leutkirch angetreten war. Dort mussten sich die Frauen auf einen Brü- ckenwagen stellen. Der NSDAP-Kreisleiter von Wangen hielt eine Rede, in der er den Frauen vorwarf, sie hätten gegen ihre „Frauenehre“ verstoßen. Dann wurden ihnen die Haare geschnitten, Ottilie U. wurde dabei ohnmächtig und fiel vom Wagen. Anschließend wurden alle drei ins Gefängnis zurückgeschafft. Im Oktober 1941 wurde Josefine M. auf Befehl des NSDAP-Kreisleiters vom SA-Sturmführer Leutkirch aus dem örtlichen Gefängnis geholt und ebenfalls wegen verbotenen Umgangs mit einem französischen Kriegsgefangenen öffentlich kahlgeschoren. Der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Leutkirch hielt eine Rede. Alle vier Frauen wurden vors Sondergericht Stuttgart gestellt, Ottilie U. zu einem Jahr, acht Mona- ten und zwei Wochen Gefängnis verurteilt, Theresia B. zu zwei Jahren Zuchthaus, Emma L. zu einem Jahr zwei Monaten Gefängnis und Josefine M. zu einem Jahr und einem Monat Zuchthaus. Nach dem Zusammenbruch sagte Josef S. aus Leutkirch in einer Vernehmung aus: „Ich und noch ein SA-Mann […] haben auftragsgemäß der M. schonendst [!] die Haare vom Kopf geschnitten. […] Ich bin der Meinung, daß man mich als 68-jährigen Mann nach so langer Zeit endlich einmal mit diesen vergangenen Dingen in Ruhe lassen und die ganze Geschichte überhaupt vergessen soll.“ Das Landgericht Ravensburg sah die Sache ähnlich und tat ihm und sechs weiteren wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und Landfriedensbruch Angeklag- ten den Gefallen und stellte das Verfahren 1950 gemäß Straffreiheitsgesetz ein. Landfriedensbruch galt als Straftatbestand nicht als erfüllt – es habe sich um SA-Leute und NSDAP-Angehörige gehandelt, der Anschluss einer unbestimmten Anzahl von Leuten in der immerhin laut anderen Feststellungen 250 Köpfe um- fassenden Menge sei nicht gewünscht [!] gewesen. Dies war eine groteske Verken-

146 Vgl. Stade 2a VJs 52/47 = 2a KLs 15/48, StA Stade, Rep. 171a Stade, Nr. 926. 776 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? nung dieses spezifischen Verbrechens, bei dem die Öffentlichkeit geradezu zwin- gend erforderlich war. Das Haarescheren wurde zwar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet, eine höhere Strafe als sechs Monate Gefängnis sei aber nicht zu erwarten. Zwar sei die Tat ein schwerer Eingriff in die körperliche Integ- rität und Ehre der Frauen, andererseits hätten sich diese gegen die gültige Kriegs- verordnung durch ihren Umgang mit Kriegsgefangenen vergangen. Einige Ange- klagte hätten schon durch die Internierungshaft genug gebüßt. Für den ehemali- gen NSDAP-Kreis­leiter von Wangen setzten sich mehrere Geistliche und der frühere Landrat mit der Begründung ein, er sei nicht der „gewöhnliche Typ des gewalttätigen Kreisleiters“ gewesen. Den Beschluss des Landgerichts Ravensburg, auch den ehemaligen NSDAP-Kreisleiter in den Genuss der Amnestie kommen zu lassen, hob das OLG Tübingen auf, weil der Unrechtsgehalt seiner Tat (als alleini- ger Urheber und Initiator) so schwer wog, dass eine höhere Strafe als ein halbes Jahr Haft wahrscheinlich schien. Wegen des Unrechtsgehalts der Tat und des Ein- griffs in die Rechtspflege wurde der ehemalige NSDAP-Kreisleiter 1950 zu sieben Monaten Gefängnis wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (KRG 10) ver- urteilt, die Tat im Übrigen (Nötigung, Körperverletzung) als verjährt angesehen. Im Dezember 1951 wurde auch ihm die Einstellung wegen Verjährung zuteil, da nach seiner Revision die Ermächtigung zur Anwendung des KRG 10 am 31. 8. 1951 aufgehoben worden war.147 Selten wurden Strafen von einem Jahr Gefängnis und mehr ausgeworfen, wobei diese frühen Strafen vor allem in den Jahren 1946 und 1947 verhängt wurden. Am 10. 9. 1944 wurde eine Frau wegen intimen Verkehrs mit einem französi- schen Kriegsgefangenen mit geschorenem Kopf auf Befehl des NSDAP-Ortsgrup- penleiters auf einen Umzug durch Mudersbach getrieben. Sie war aufgrund einer Anzeige ihres Ex-Geliebten in flagranti mit dem Franzosen ertappt worden. Vom Sondergericht Frankfurt wurde sie zu einem Jahr vier Monaten Zuchthaus verur- teilt, sie verbüßte die Strafe bis Kriegsende. Der frühere NSDAP-Ortsgruppenlei- ter wurde im September 1947 wegen schweren Landfriedensbruchs zu einem Jahr Haft verurteilt, zivilrechtliche Ansprüche waren bereits durch eine Zahlung an die geschädigte Frau abgegolten worden, ein in einem anderen Verfahren wegen des- selben Delikts Angeklagter wurde wegen Körperverletzung und Landfriedens- bruch verurteilt.148 Luise B., geb. H., wurden intime Beziehungen zu einem französischen Kriegs- gefangenen vorgeworfen, die Staatspolizei Frankfurt vernahm sie diesbezüglich am 25. 8. 1941. Am Nachmittag zwangen sie der NSDAP-Ortsgruppenleiter, sein Stellvertreter sowie einige andere NSDAP-Funktionäre (darunter ein NSDAP-Zel- lenleiter und ein ), aus ihrer Wohnung in Bad Homburg vor der Höhe mitzukommen. Dem Ehemann B. wurde mitgeteilt, er werde seine Ehefrau nicht mehr wiedersehen. Vor dem Haus warteten bereits Menschen, sie wurde trotz

147 Ravensburg Js 4323/49 = Ks 8/50, StA Sigmaringen, Wü 29/1, Nr. 6034; AOFAA, AJ 804, p. 600. 148 Vgl. Limburg 2 Js 4351/46 = 2 KLs 14/47, HStA Wiesbaden, Abt. 463, Nr. 1216; Limburg 2 Js 3735/46 = AG Wetzlar [ub Az.] = Limburg 2 Ns 40/47 (Akten nicht mehr auffindbar). 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 777

­ihrer Gegenwehr auf einen zweirädrigen Karren gestellt und mit einem Schild um den Hals („Ich bin eine ehrlose deutsche Frau“) durch den Ort gezogen. Der ­NSDAP-Ortsgruppenleiter, ein Lehrer, rief die Schulkinder herbei, ein örtlicher Rüstungsbetrieb wurde dazu aufgefordert, die Arbeit eine Stunde früher zu been- den, damit die Belegschaft an dem Zug teilnehmen konnte, Schaulustige schlos- sen sich ebenfalls an. Der Zug hielt an drei öffentlichen Plätzen an, NSDAP-Funk- tionäre hielten Schmähreden gegen Frau B. und forderten zu Gewalttaten gegen sie auf. Sie wurde von der Menge beschimpft, bespuckt und mit Unrat, Eistüten und faulen Tomaten beworfen. Der NSDAP-Zellenleiter holte aus einer Drogerie eine Schere und schnitt Frau B. gemeinsam mit dem stellvertretenden NSDAP- Ortsgruppenleiter die Haare teils ab, dabei wurde die Kopfhaut verletzt, Frau B. begann zu bluten, den Rest der Haare schnitt ihr am Alten Bahnhof ein SA- Truppführer ab und äußerte „Was die Drecksau für einen dreckigen Kopf hat.“ Frau B., die aus einer Kopfwunde blutete, war körperlich und seelisch gebrochen und wurde erst jetzt der Polizei übergeben, später von einem Sondergericht we- gen der sexuellen Beziehungen zu dem Kriegsgefangenen zu eineinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Der frühere NSDAP-Zellenleiter räumte die Tat ein, er habe sich aber lediglich unter der „unwiderstehlichen hypnotischen Einwirkung“ (!) des NSDAP-Ortsgruppenleiters beteiligt. Er wurde im September 1946 zu einem Jahr und sechs Monaten Zuchthaus wegen Landfriedensbruchs als Rädelsführer verurteilt, ein mitbeteiligter früherer NSDAP-Blockleiter zu sechs Monaten Ge- fängnis wegen Landfriedensbruchs.149 Der ehemalige SA-Truppführer, der vom ­NSDAP-Ortsgruppenleiter kurz vor Dienstschluss bei der AOK angerufen und nach Schilderung des Sachverhalts mit einer Schere zum verabredeten Treffpunkt erschienen war, wurde in einem separaten Verfahren im Februar 1947 wegen Landfriedensbruchs als Rädelsführer in TE mit Körperverletzung mit einem Jahr Zuchthaus bestraft. „Soweit der Angeklagte sich aber damit entschuldigen will, er habe der Zeugin B. die restlichen Haare gewissermaßen nur aus Mitleid abge- schnitten, weil Sch. [stv. Ortsgruppenleiter] und Sche. [NSDAP-Zellenleiter] das so unordentlich gemacht gehabt hätten, hat die Kammer ihm diese naive Ausrede nicht glauben können.“150 Am 9. 7. 1941 wurde Elise H. von NSDAP-Funktionären, SA- und SS-Angehöri- gen sowie Gendarmerie- und Staatspolizeiangehörigen aus ihrer Wohnung in Wachendorf geholt und nach Heiligenfelde gebracht, wo ihre Tochter Anneliese H. abgeholt wurde. Beide wurden bei der Festnahme durch Schläge und Stöße misshandelt, beiden die Haare abgeschnitten und das Gesicht mit Schuhcreme schwarz angemalt, dann führte man sie zusammen mit einem polnischen Fremd- arbeiter durch Wachendorf und Heiligenfelde, fotografierte sie und stellte sie zur Schau. Mutter und Tochter kamen in das KZ Ravensbrück. In Heiligenfelde war 1941 gerüchteweise bekannt geworden, dass die Tochter des Friseurs Oswald H. in Wachendorf ein Verhältnis mit dem polnischen Fremdarbeiter Stanislav

149 Frankfurt 3 Js 1210/46 = 3 KLs 27/46, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31867. 150 Frankfurt 3 Js 4020/46 = 3 KLs 5/47, HStA Wiesbaden, Abt. 461, Nr. 31888. 778 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

­Guminski habe, das von der Mutter toleriert und gefördert werde. Anneliese H. hatte den Fremdarbeiter im Friseurladen ihres Vaters kennengelernt, wo sich Deutsche und Polen die Haare schneiden ließen. Ihre Mutter stand dem Verhält- nis wohlwollend gegenüber, der Vater wusste nichts von der Freundschaft der Tochter mit dem Polen. Die Öffentlichkeit nahm nicht zuletzt deswegen Anstoß an dem Verhältnis, weil Anneliese H. BDM-Angehörige war, und ihre Mutter Elise H. ein Huldigungsgedicht an Hitler verfasst hatte, das bei einer Wahlveranstal- tung vorgetragen worden war. Wegen des ortsbekannten Verhältnisses wurden Mutter und Tochter sowie der Pole mehrfach von der Gendarmerie verwarnt. An- fang Juli 1941 ertappten Schulkinder Anneliese H. und den Polen bei einem Schä- ferstündchen. An den NSDAP-Ortsgruppenleiter von Heiligenfelde wurden Be- schwerden herangetragen, er erstattete dazu Meldung beim NSDAP-Kreisleiter der Grafschaft Hoya in Syke. Dieser beschloss in Absprache mit dem Leiter der Staatspolizei-Außenstelle Nienburg, Kriminalobersekretär Hermann Reuther, Frau H. und ihre Tochter ins KZ einweisen zu lassen, vorher aber zur Abschre- ckung ein „Exempel“ durch die NSDAP zu statuieren. Der Pole Guminski war bereits in Heiligenfelde verhaftet worden. Bei Familie H. in Wachendorf fuhren vier Autos vor, in denen sich der NSDAP-Ortsgruppenleiter von Syke, der Ge- schäftsführer der NSDAP-Kreisleitung und SA-Angehörige, darunter ein SA- Sturmbannführer, und der örtliche Bürgermeister befanden. Der NSDAP-Orts- gruppenleiter von Syke zwang den Ehemann H. durch Schläge, Bürste und Schuh- creme auszuhändigen, der NSDAP-Kreisgeschäftsführer schnitt Frau H. vor der Tür ihres Hauses die Haare ab, ihr Gesicht wurde mit Schuhcreme beschmiert. In Heiligenfelde wurde Anneliese H. vom NSDAP-Ortsgruppenleiter von Wachen- dorf und Heiligenfelde vom Fahrrad gerissen, ein SA-Führer schnitt ihr mit einer Haarschneidemaschine die Haare ab, auch sie wurde mit Schuhcreme verunrei- nigt. Beiden Frauen wurden Schilder umgehängt, auf dem der Mutter stand: „Ich habe einen Polen auf dem Schoß gehabt“, auf dem der Tochter „Ich habe mit ­einem Polen geschlechtlich verkehrt“. Sie wurden durch den Ort getrieben und gemeinsam mit Guminski fotografiert, in Wachendorf wurden sie am Bahnhof zur Schau gestellt, in Heiligenfelde vor einer Gastwirtschaft. Mittlerweile war eine Menschen­menge zusammengekommen, die sich über die Frauen lustig machte, Misshandlungen fanden aber nicht statt. Der Gendarmeriekreisführer Syke und der Leiter der Außenstelle der Gestapo Nienburg nahmen die Frauen dann in Haft, Elise H. war mehr als drei Jahre im KZ Ravensbrück inhaftiert, Anneliese H. etwa ein Jahr, das Schicksal des Polen blieb ungeklärt. Für die meisten der neun wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit, Landfriedensbruchs, Freiheitsbe- raubung, Nötigung und Körperverletzung Angeklagten endete das Verfahren 1950 mit der Einstellung gemäß Straffreiheitsgesetz, weil sie keine höhere Strafe als ein halbes Jahr Freiheitsentzug zu gewärtigen hätten, der frühere Leiter der Staats­ polizei-Außenstelle Niendorf und der Gendarmeriekreisführer wurden freige- sprochen, weil ­ihnen keine Beteiligung an der Anprangerung nachgewiesen wer- den konnte, der stellvertretende Landrat und NSDAP-Ortsgruppenleiter von Syke verstarb noch vor einem Urteil. Der ehemalige NSDAP-Ortsgruppenleiter von 3. Die Demütigung von Frauen wegen „verbotener ­Beziehung“ 779

Heiligenfelde und Wachendorf wurde 1950 zu sieben Monaten Gefängnis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in TE mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung verurteilt, nach Revision des Angeklagten endete auch dieses Verfahren mit Einstellung nach dem Straffreiheitsgesetz. Nur der ehemalige NSDAP-Kreisleiter wurde 1950 zu einem Jahr Gefängnis wegen VgM in TE mit gefährlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung verurteilt, nach seiner Re- vision wurde 1952 aus Spruchgerichts- und Schwurgerichtsurteil eine Gesamt- strafe von fünf Jahren, drei Monaten Gefängnis und 3000,- RM Reichsmark we- gen gefährlicher Körperverletzung in TE mit Freiheitsberaubung gebildet, wobei schon das Spruchgerichtsurteil Benefeld-Bomlitz vom 4. 6. 1948 fünf Jahre Ge- fängnis und 3000,- RM Geldstrafe wegen Zugehörigkeit zum Korps der Politi- schen Leiter betragen hatte. Ihm wurden bezüglich der Tat mildernde Umstände zugestanden, weil das Treiben von Frau H. Empörung bei der Bevölkerung verur- sacht hatte. Der ehemalige NSDAP-Kreisleiter hatte als Motiv seines Verhaltens den „Wunsch nach Sühne für die Verletzung des deutschen Anstandsgefühles“ angeführt. Die folgende Bestrafung der Frauen, so das Gericht, ging über das „Maß einer gerechten Sühne“ hinaus, der frühere NSDAP-Kreisleiter hätte die ge- plante Verhaftung der Frauen als ausreichende Bestrafung ansehen und von der gewaltsamen Anprangerung Abstand nehmen müssen. Die Tat wurde nicht als Landfriedensbruch eingestuft, weil keine öffentliche Zusammenrottung einer Menschenmenge stattgefunden habe, vor dem Haus H. hätten sich nur neun Per- sonen versammelt, am Bahnhof Heiligenfelde sei zwar eine Menschenmenge ge- wesen, aber es seien keine Gewalttätigkeiten begangen worden.151 Die Ahndung der Anprangerungen kann nicht zufriedenstellen. In den zwei westlichen Zonen, die das KRG 10 vor deutschen Gerichten anwenden konnten, wurde die Tat nicht immer als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet, weil die Richter in ihr keine politischen oder rassischen Motive zu erkennen vermoch- ten. Dort, wo (auch oder nur) nach deutschem Recht geurteilt wurde, wurde das Tatbestandsmerkmal des Landfriedensbruchs ignoriert mit dem Argument, es habe sich um eine Parteiangelegenheit gehandelt und keine „zusammengerottete Menschenmenge“ oder es sei nicht zu Gewalttaten gekommen. Ein Blick auf die überlieferten Fotos, auf denen mehrere Dutzend Gaffer und Passanten den Insze- nierungen beiwohnten, kann einen eines Besseren belehren. Das Delikt wurde häufig auf Körperverletzung und Freiheitsberaubung reduziert. Die verhängten Strafen waren niedrig, viele Täter kamen in den Genuss des Straffreiheits­gesetzes. Ob die Juristen die Vorkommnisse als Begleiterscheinung des Krieges einstuften – das Fraternisieren mit dem Feind sei schließlich auch in anderen Kultur­nationen bestraft worden – oder ob sie angesichts der lediglich vereinzelt auftauchenden Fälle sich wenig Gedanken über einheitliche Aburteilung machten – in den Juris- tenzeitschriften des relevanten Zeitraums ist dazu nichts erwähnt – , sei hier da- hingestellt. Irrig ist die Vorstellung, im östlichen Teil Deutschlands sei diesbezüg-

151 Verden 6 Js 282/49 = 6 Ks 1/50, StA Stade, Rep. 171a Verden, Nr. 615 (I–VIII). Zwei Fotos der Straftat blieben in einer Spruchkammerakte erhalten. 780 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? lich gründlicher vorgegangen worden: Die Landarbeiterin Marie F. wurde auf- grund ihrer Beziehungen zu einem polnischen Fremdarbeiter Ende März 1940 in Weissagk im Kreis Forst geteert und gefedert und mit einem diffamierenden Schild um den Hals durch den Ort geführt. Von den sieben Angeklagten – darun- ter Bürgermeister, Ortsbauernführer und NSDAP-Zellenleiter – konnte kein ein- ziger des Verbrechens gegen die Menschlichkeit überführt werden, sie wurden sämtlich 1947 in Cottbus freigesprochen, das Opfer war noch vor Kriegsende 35-jährig verstorben.152 Dass Laienrichter mehr Mitleid mit den Frauen hatten und deswegen zu härteren Urteilen gegen die Täter neigten, kann ebenfalls ver- neint werden: So teilte die Staatsanwaltschaft Chemnitz dem Generalstaatsanwalt in Dresden hinsichtlich eines geringen Strafmaßes für die Denunzianten einer wegen „verbotenen Umgangs“ verurteilten Frau mit, die Geschworenen würden den Tatbestand in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Ehebruchs betrach- ten und zu keiner sachgemäßen Würdigung kommen. „Insbesondere mußte im Verlaufe der hier geführten einschlägigen Prozesse immer wieder beobachtet wer- den, daß namentlich die Laienrichter auch heute noch zu einer außerordentlich strengen Beurteilung eines anstößigen Verhaltens bei dem Umgang mit Kriegsge- fangenen seitens deutscher Frauen neigen.“153 Ob es die so offensichtlich milden Strafen der Nachkriegszeit für die vorver- gangenen Missetaten waren oder die „Macht der Gewohnheit“, das „eingeübte“ Verhalten der Vergangenheit fortzusetzen oder aber traditionelle Misogynie: Frau- en, die sich mit Besatzungssoldaten einließen, riskierten Spottverse, Schmähun- gen und das bekannte gewaltsame Entfernen der Haare, wie in der amerikani- schen Besatzungszone etwa für Augsburg, Bayreuth, Fritzlar, Heidelberg oder bei Linz nachgewiesen ist.154

4. Verbrechen der Endphase

Es erscheint gewagt, die „Endphaseverbrechen“ mit den vorne erwähnten Strafta- ten gegen politische Gegner, Geistliche oder Frauen wegen „verbotenen Verkehrs“ in einem Kapitel zu bearbeiten. Die Straftaten, ihre Tatumstände und Opfergrup- pen waren völlig andere. Und doch besteht zwischen den frühen Verbrechen des Nationalsozialismus und diesen ganz späten Delikten eine gewisse Verbindung. In nicht wenigen Verfahren wird erwähnt, dass gegen Kriegsende „vorbeugend“ po- litische Gegner verhaftet wurden, die dann Erschießungen oder Kriegswirren in den Gefängnissen und Konzentrationslagern zum Opfer fielen. Lokale NS-Grö- ßen stellten Listen von Personen zusammen, die bei Feindannäherung zu verhaf-

152 Vgl. Cottbus Js 445/46 = 3 KLs 3/47, BStU, Cbs ASt 1152/54. 153 Brief StA Chemnitz an GStA Dresden, 23. 3. 1948, Chemnitz 4 Js 535/46 = 4 Ks 30/46 (108/47), BStU, Chem ASt KStKs 138/48 [neu: ASt 199/48] (enthalten im Handakt). 154 Vgl. Joseph R. Starr, Fraternization with the Germans in World War II, Frankfurt am Main 1967, S. 74 f., IfZ-Archiv, Fg 38/5; vgl. auch Henke, Die amerikanische Besetzung Deutsch- lands, S. 199. 4. Verbrechen der Endphase 781 ten oder gleich zu liquidieren seien. Dabei handelte es sich teils um diejenigen, die 1933 als politische Gegner hervorgetreten waren und die unter Beobachtung von NSDAP-Organen und Gestapo standen. So war dies etwa bei Ludwig Danisch aus Wilhelmshaven-Voslapp, der vor der „Machtergreifung“ Kommunist gewesen war und vor seiner Erschießung auch explizit nach seiner früheren Parteizugehö- rigkeit gefragt wurde. Die Werwolf-Führung Weser-Ems hatte schwarze Listen politisch unzuverlässiger Personen erstellt, die der Feindbegünstigung verdächtig sein könnten und bei Verrat oder auch nur beim Anmarsch des Feindes beseitigt werden sollten. Danisch wurde am 2./3. 5. 1945 wie der Kriminaldirektor Konrad Nußbaum und der Friseur Bernhard Göken von dem Werwolf-Leiter für den Raum Weser-Ems, SA-Sturmbannführer Friedrich Lotto, in Wilhelmshaven und Aldenburg erschossen. Der kommissarische Polizeipräsident von Wilhelmshaven hatte Nußbaum als „politisch unzuverlässige Persönlichkeit“ bezeichnet, der ­NSDAP-Kreisleiter Bernhard Horstmann benannte Bernhard Göken und Ludwig Danisch als unsichere Kantonisten. Nußbaum hatte lediglich geäußert, es sei nun an der Zeit, Abzeichen und Uniformen abzulegen und „zur anderen Seite hinü- berzuwechseln“, Göken hatte unflätig auf den Hitler-Gruß reagiert und Befriedi- gung über den Tod Hitlers geäußert. Der NSDAP-Kreisleiter von Wilhelmshaven, Horstmann, empfahl, „am besten gleich totmachen“.155 Geht man vom Modell der „NS-Volksgemeinschaft“ aus, so handelte es sich bei allen oben erwähnten verfolgten Individuen und Gruppen um solche, die sich in den Augen der Nationalsozialisten außerhalb der „Volksgemeinschaft“ stellten, sei es aufgrund ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen, sei es wegen priva- ter Beziehungen, sei es wegen einer realistischen Einschätzung der Kriegslage und einer darauf abzielenden Handlungsweise. Etwas überspitzt formuliert ging es da- bei ebenfalls um die Durchsetzung der Einheitlichkeit der „Volksgemeinschaft“, bei der schon das Bezweifeln des „Endsieges“ ein todeswürdiges Verbrechen dar- stellte. Andererseits folgte der Krieg seinen eigenen Regeln: Hinrichtungen deser- tierter Soldaten oder kapitulationswilliger Zivilisten waren auch in anderen Ge- sellschaften und anderen kriegerischen Auseinandersetzungen Usus. Ian Kershaw nennt als Gründe für den unbedingten Durchhaltewillen eher die Struktur des NS-Staates als das Konzept der „Volksgemeinschaft“.156 Im Dorf Ahlden wurde am 15. April 1945 ein Zettel angeschlagen, der bruch- stückhaft überliefert ist: „[Bevölker]ung von Ahlden. [B]ürgermeister Rathge und der Arzt Dr. Ohn[esorge] [si]nd heute niedergemacht worden, weil sie deutsche So[ldaten, die sich] durch die feindlichen Linien durchgeschlagen haben, [um] Eure Heimat mit der Waffe in der Hand zu [verteidigen] [keine] Unterstützung und keine Unterkunft gewährt, sondern [mit] dem Feind verhandelt haben. [Das glei]che Schicksal trifft den Förster Jahnke, […] Und alle, die dem verhaßten [Feind] [Vor]schub leisten und unseren sich durchschla[genden] [Soldaten] [kei-

155 Oldenburg 5 Js 1108/47 = 10 Ks 3/48, StA Oldenburg, Best. 140-5 Acc. 7/88, Nr. 54 I–III [alte Signatur], vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. III, Nr. 91; Bd. X, Nr. 331; Bd. X, Nr. 196. 156 Kershaw, Das Ende, S. 541. 782 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ne] Unterstützung geben, die benötigen, […] gegen den Feind zu kämpfen. [Ver- breitet?] diesen Aufruf und […] lästige Elemente […] reihen aus. [unleserlich] April 1945 […] .“ Der Sanitätsrat Dr. Ohnesorge war von Angehörigen eines Stoßtrupps der 2. Kompanie des Marine-Füsilier-Bataillons 2 in seinem Bett in der Nacht vom 14. 4. 1945 auf den 15. 4. 1945 mit einem Beil erschlagen, der Ahldener Bürger- meister Heinrich Rathge durch einen Axthieb am Kopf schwer verletzt worden, ein Forstwart namens Wilhelm Jahnke entkam der Verhaftung durch Flucht. An- geblich hatten lokale Machthaber und NSDAP-Funktionäre ihre Liquidierung veranlasst, weil Bürgermeister Rathge versprengten deutschen Soldaten, die sich durch britische Linien gekämpft hatten, abgeraten hatte, sich erneut bei deut- schen Einheiten zu melden.157 Die „Niedersächsische Volksstimme“ vermutete Otto E. als einen der vermummten „Urheber der Bluttat“, auf jeden Fall mitschul- dig und immer noch auf freiem Fuß. „Er war als Nazi interniert und verschanzt sich bei allen Vernehmungen hinter angeblichen ‚höheren Befehlen‘, die er seinen Vorgesetzten unterschiebt, die in russischem Gewahrsam sind. Laien und Juristen gehen verschiedene Gedankengänge. Hier aber hört für uns jedes Verständnis auf. Die vorstehend angegebenen Tatsachen sind aktenmäßig festgelegt. Ein Verbre- chen scheußlichster Art gegen die Menschlichkeit hat stattgefunden, das bisher ungesühnt blieb.“158 Verbrechen gegen kapitulationswillige Deutsche wie in dem obigen Ahldener Fall waren in den letzten Kriegstagen an der Tagesordnung. Mit einem letzten Aufbäumen sollte dem Krieg die entscheidende Wende gegeben werden, vor allem wehrunwillige Soldaten, Deserteure und Zivilisten, die die kampflose Übergabe ihrer Heimatorte fordeten, wurden Opfer dieser Gewaltakte, die nur Tage, teils nur Stunden vor dem Einmarsch alliierter Truppen stattfanden. Die Verbrechen in Penzberg159, Brettheim oder die Ermordung des von den Alliierten eingesetz- ten Aachener Oberbürgermeisters haben ihre Chronisten bereits gefunden160, so dass hier lediglich einige ausgewählte Fälle vorgestellt werden. Die Verbrechen ge- gen KZ-Häftlinge im Rahmen von Todesmärschen sind im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu den Konzentrationslagern erwähnt. Welche Dimensionen der Terror gegen Kriegsende angenommen hatte, geht aus den Prozessen und Ermittlungen eindrucksvoll hervor. Wie militarisiert der Alltag nun war und wie verdächtig nun theoretisch jeder „Volksgenosse“ und jede „Volksgenossin“ sein konnte, zeigt ein Beispiel aus Düsseldorf, wo in den Stadt­ teilen Wersten, Oberbilk und Bilk jugendliche HJ-Führer einen bewaffneten Strei-

157 Verden 4 Js 477/45, StA Stade, Rep. 171a Verden, Nr. 600 (Bd. I–IV). 158 „Ungesühnter Mord“, in: Niedersächsische Volksstimme (Ausgabe Lüneburger Heide), 11. 8. 1948. 159 Über die „Werwolfmorde in Penzberg“ und den damit in Zusammenhang stehenden „Mord in Iffeldorf“ ließ sich auch der Bayerische Ministerpräsident Hoegner auf dem Laufenden halten, der Schlußbericht des Untersuchungsrichters ist in seinem Nachlass enthalten, vgl. Schlußberichte Dezember 1947 und Januar 1948, IfZ-Archiv, ED 120, Bd. 156. 160 Einen ausgezeichneten Überblick bietet Arendes/Wolfrum/Zedler, Terror nach Innen. 4. Verbrechen der Endphase 783

Angeklagte im Prozess um die Penzberger Mordnacht (SZ Bildarchiv) fendienst ausübten, Deserteure oder auch nur andere Jugendliche der Jahrgänge 1926 bis 1928 festnahmen, die sie verdächtigten, sich der Dienstpflicht zu entzie- hen, ebenso Personen, die keine Papiere bei sich hatten und Frauen, die Deserteu- ren geholfen hatten. Die Verhafteten wurden in das Wehrertüchtigungslager in der Kruppstraße geschleppt und dort inhaftiert.161 Einigen ging es darum, schnell noch „offene Rechnungen“ zu begleichen. Ein Revieroberleutnant ließ in der Polizeiarrestanstalt in Spandau vier frühere Poli- zeibeamte wegen Homosexualität am 25. April 1945 erschießen, nur eines der Opfer war zum Tod verurteilt gewesen.162 In Bad Windsheim wurde am 13. 4. 1945 eine Frau erschossen, weil sie an einer Demonstration für die kampflose Übergabe des Ortes teilnahm und schon früher der NSDAP und Gestapo „unangenehm“ aufgefallen war. Am Abend des 12. 4. 1945 sammelten sich Menschen vor dem Rathaus. In den Gefechtsstand des Kampf- kommandanten Major Günther Reinbrecht, der mit der Verteidigung Bad Winds- heims betraut war und sich anschickte, die Brücken über die Aisch zu sprengen, drangen einige Frauen ein. Reinbrecht konnte sich des „Weibersturms“ nicht an- ders erwehren, als „Jabo“ (Jagdbomber) zu rufen, um die Menge zu zerstreuen. Auf unbekannte Weise erfuhr die Gestapo Nürnberg-Fürth von der „Frauende- monstration“ und entsandte am nächsten Tag den für das Referat „Wehrkraftzer- setzung“ zuständigen SS-Untersturmführer Karl Schmid nach Bad Windsheim.

161 Vgl. Düsseldorf 8 Js 54/46, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 268/7. 162 Vgl. Berlin 1 P Js 660/47 = P Ks 2/48, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. II, Nr. 56 a und b. 784 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Rekonstruktion Mord in Penzberg (SZ Bildarchiv)

Sein Vorgesetzer hatte ihm befohlen, die Rädelsführer ausfindig zu machen, eini- ge zu erschießen und ihre Wohnungen durch Handgranaten zu zerstören. Schmid fuhr nach Bad Windsheim, wo ihm der Major Günther Reinbrecht die Fabrikan- tenehefrau Christine Schmotzer als Anführerin der Unruhen benannte. Der Volkssturmführer von Bad Windsheim nannte Schmid die Adresse von Frau Schmotzer, der sich dorthin begab und ihr vorhielt, eine der Rädelsführerinnen bei der Frauendemonstration vom Vortag gewesen zu sein. Als sie sich zur Flucht wandte, schoss er sie nieder, da sie noch lebte, gab er aus nächster Nähe einen Schuss in das linke Auge und in die Mundhöhle ab. Auf der Leiche wurde das Schild angebracht: „Eine Verräterin wurde gerichtet.“ Anschließend suchte Schmid noch nach zwei weiteren Frauen, die ebenfalls als Wortführerinnen gal- ten, sie waren aber nicht in ihren Wohnungen aufzufinden. Danach verhaftete er noch eine Schauspielerin, die der Spionage verdächtigt wurde. Den drei Beteilig- ten – dem Kampfkommandanten, dem Gestapo-Angehörigen und dem Volks- sturmführer – war 1948 Mord bzw. Beihilfe zum Mord vorgeworfen worden. Reinbrecht hatte keinerlei Anhaltspunkte für die Anschuldigung, dass Frau Schmotzer eine Rädelsführerin war, er hatte sich lediglich auf Gerüchte berufen, die Anschuldigungen überprüfte er nicht. Die Tat wurde als Totschlag eingestuft, weil niedrige Beweggründe, Heimtücke oder Grausamkeit nicht nachweisbar wa- 4. Verbrechen der Endphase 785 ren. Der frühere Gestapo-Angehörige Schmid wurde zu zehn Jahren Zuchthaus wegen Totschlags verurteilt, Reinbrecht wegen „leichtfertiger falscher Anschuldi- gung“ zu sieben Monaten Gefängnis, der frühere Volkssturmführer wurde frei- gesprochen.163 Angehörige von Staat und Partei waren von dem Verdacht nicht ausgenom- men, den „Führerwillen“ nicht bis zuletzt erfüllen zu wollen. Fünf Volkssturman- gehörige erschossen den Bürgermeister von Brackwede am 3. 4. 1945, weil dieser eine Panzersperre hatte öffnen lassen.164 In Everode wurde der Bürgermeister von einem HJ-Stammführer am 7. 4. 1945 erschossen, weil der Bürgermeister den Ort kampflos übergeben wollte.165 Ebenso wurden Wehrmachtsangehörige getötet wie etwa der Major Hans Rösch, der wegen Befehlsverweigerung am 15. 3. 1945 in Wiesbaden-Erbenheim erschossen wurde, weil er sich weigerte, seine Truppen bei der Verteidigung von einzusetzen und stattdessen seine Einheit ohne ­Befehl bis Limburg an der Lahn zurückzog. Das Feldgericht des Kommandieren- den Generals und Befehlshabers im Luftgau XIV verurteilte Rösch am 14. 3. 1945 zum Tod.166 Ein Hauptmann, der gegen Kriegsende durch Verhandlungen ver- suchte, die Stadt Rinteln vor der Zerstörung durch US-Truppen zu bewahren, wurde kurz darauf in Garbsen tot aufgefunden, auf seiner Leiche befand sich ein Schild: „Wegen Feigheit vor dem Feind erschossen.“167 Selbst der ehemalige ­NSDAP-Ortsgruppenleiter von Heilbronn-Sontheim musste am 3. 4. 1945 sein Leben lassen, Angehörige des Volkssturms erschossen ihn auf Befehl des NSDAP- Kreisleiters wegen Abbaus einer Panzersperre.168 Selbst SS-Leute wurden hingerichtet, wenn sie der Sabotage verdächtig waren, wie in Eichstätt, wo am 24. April 1945 abends der Hilfsarbeiter Valentin Kriegl und der SS-Angehörige Ludwig Lamour öffentlich erhängt wurden. Sie waren von einem Kriegsgericht zum Tod verurteilt worden, weil sie in der Vornacht die von Wehrmachtspionieren vorbereitete Sprengung einer Brücke in Eichstätt durch Zerschneiden einer Kabelleitung sabotiert hatten. Ein schriftliches Urteil lag nicht vor, auf den Leichen wurde eine Tafel angebracht, die die Männer als Saboteure schmähte.169 Die Verbrechen der Kriegsendphase wurden schon früh geahndet, erste Er- mittlungen begannen oft bereits wenige Tage nach Kriegsende. Ein Postober­ inspektor und Funktionär der NSDAP-Ortsgruppe Berlin-Friedenau erschoss am 24. April 1945 in der Ringstraße in Berlin einen Mann, der mit einem ande- ren NSDAP-Funktionär in Streit geraten war. Die Voruntersuchung wurde be-

163 Nürnberg-Fürth 2 Js 1807/46 = KLs 152/48, StA Nürnberg, StAnw Nürnberg 2192/I–VII vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. III, Nr. 83. 164 Bielefeld 5 KLs 1/48, 5 Ks 6/48. 165 Hildesheim 4 Js 2728/46 = 4 Ks 1/48, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. III, Nr. 77. 166 Wiesbaden 2 Js 2314/48, HStA Wiesbaden, Abt. 468, Nr. 257. 167 Hannover 2 Js 20/47. 168 Heilbronn Js 6985, 7965–66/46 = KLs 4–6/47 vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 19; vgl. auch Bericht, 28. 5. 1947, NARA, OMGWB 12/137 – 2/7.. 169 Hamburg 14a Js 2425/51, früher 14 Js 217/49, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 19091/64. 786 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? reits am 4. Juni 1945 eröffnet, am 13. 6. 1945 erhob die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht Friedenau Anklage, am 27. 6. 1945 verurteilte das Schöffengericht Friedenau den Postoberinspektor wegen Mordes zum Tod, das Stadtgericht Ber- lin verwarf am 23. 7. 1945 die Berufung. Die US-Militärregierung ordnete im ­August 1945 die Wiederaufnahme an, im Oktober 1945 lautete das Urteil des LG Berlin II auf acht Jahre Zuchthaus wegen Totschlags. Auf Revision der Staats- anwaltschaft wurde das Urteil vom Kammergericht Berlin aufgehoben, am 20. 2. 1946 wurde der Postoberinspektor vom LG Berlin wegen Mordes zum Tod verurteilt, die Revision am 12. 6. 1946 verworfen, das Urteil am 21. 8. 1946 voll- streckt.170 Dabei stellte die Verfolgung von „Endphaseverbrechen“ die britische Legal ­Division vor rechtliche und moralische Probleme. Zwei desertierte - soldaten (18 bzw. 16 Jahre alt) hatten am 13. 4. 1945 einen Kripo-Beamten ge­ tötet, um ihre Fahnenflucht zu verschleiern. Zum Zeitpunkt der Tat trieben die Briten massive Propaganda für Desertion und Sabotage. Die Frage sei nun, ob diese zwei Jugendlichen vor Gericht gestellt werden sollten für das, wozu die ­Briten aufgerufen hatten: „[…] and the question arises whether we should not allow these two youths to be prosecuted for doing though in an extreme degree what we were then encouraging.“.171 Die Legal Division äußerte, zunächst einmal solle der Staatsanwalt Mordanklage erheben, die Rechtsabteilung wolle den Fall anschließend prüfen. Je umkämpfter eine Region war, umso höher war die Wahrscheinlichkeit für NS-Verbrechen gegen Kriegsende. Beispielhaft seien hier die Endphasenverbre- chen in Braunschweig und Umgebung erwähnt. Anfang April 1945 vernichtete Forstamtmann Helling im Reichsjägerhof in Riddagshausen alle Hinweise auf ­seine NSDAP-Zugehörigkeit und entfernte alle Hakenkreuze, angeblich weil seine Frau, die NS-Frauenschaftsblockleiterin war, eine derartige Anordnung ihrer Zellen­leiterin erhalten hatte. Davon erfuhr die NSDAP-Kreisleitung über den SS- Oberabschnitt Mitte. Den Vorschlag eines Gaustandgerichts lehnte der Gerichts- vorsitzende aber ab, woraufhin der NSDAP-Kreisleiter beschloss, sich selbst des Delinquenten zu entledigen. Er teilte dem Kreisorganisationsleiter Geffers schrift- lich mit, Helling sei abzuholen und bei Feindannäherung zu erschießen. Der Kreisorganisationsleiter übergab den Auftrag einem Angehörigen seines Rollkom- mandos, der am 9. 4. 1945 Helling in dessen Wohnung abholte und zum Kreisbe- fehlsstand im Nußbergbunker brachte, wo dieser im Heizraum des Kreisbefehls- standes eingesperrt wurde und sich in Vorahnung seines Schicksals selbst tötete. Gleichfalls Anfang April 1945 erschien ein NS-Führungsoffizier vom Inselwallla- zarett Braunschweig und erstattete Meldung, ein SA-Sturmführer Ogilvie habe versucht, seine SA-Uniform verschwinden zu lassen. Der aus Ostpreußen stam-

170 Vgl. Berlin 3 Js 1/45 = Ls 1/45 (1), 2 Ks 1/45, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XLIX, Nr. 950. 171 Brief Military Government North an Legal Division CCG (BE), 20. 11. 1945, TNA, FO 1060/1031. 4. Verbrechen der Endphase 787 mende 30-jährige SA- und -Sturmführer Wilhelm Ogilvie war mehr- fach wegen Tapferkeit ausgezeichnet worden und lag mit schweren Verwundun- gen an Füßen, Kopf und rechter Hüfte im Lazarett am Inselwall. Weil Ogilvie an- geblich seine SA-Uniform von einem Grenadier in die Oker hatte werfen lassen, wurde er auf Befehl des NSDAP-Kreisleiters und Veranlassung des Polizeipräsi- denten im Lazarett verhaftet, obwohl er für nicht haftfähig erklärt worden war. Die NSDAP-Kreisleitung hatte ein Rollkommando zusammengestellt, das Plün- derer, aufständische Fremdarbeiter und sonstige staatsfeindliche Aktivitäten be- kämpfen sollte. Ein Angehöriger dieses Rollkommandos, SS-Sturmführer August Affeldt, erhielt am 10. 4. 1945 im Kreisbefehlsstand Braunschweig vom Kreisorga- nisationsleiter den Befehl des NSDAP-Kreisleiters Heilig, SA-Sturmführer Ogilvie bei Feindannäherung abzuholen und zu erschießen, nachdem Heilig vorher ver- geblich versucht hatte, ein Gaustandgericht gegen Ogilvie zu veranlassen. Zusam- men mit Ernst Kramer und dem SS-Untersturmführer Willi R. fuhr er zum Kreis- gefängnis in der Rennelbergstraße, wo ihnen Ogilvie vom Leiter des Gefängnisses übergeben wurde, wegen seiner Verletzungen war er nicht gehfähig, ein Transport bis zum Kreisbefehlsstand nicht durchführbar. Kramer setzte Ogilvie daraufhin auf ein Fahrrad, ­Affeldt äußerte, als Kramer über das Fehlen eines Autos zum Transport des Verletzten klagte: „Das ist nicht nötig, das ist ein Verräter, damit wird nicht viel ­Federlesen gemacht, der wird gleich erschossen.“ Auf dem Kreuz- klosterfriedhof schickte Affeldt den SS-Untersturmführer Willi R. weg, weil er ihn in dieser Angelegenheit nicht belasten wollte, Kramer hob Ogilvie vom Rad, Af- feldt und Kramer trugen Ogilvie einige Meter in den Friedhof hinein und lehnten ihn gegen einen Trümmerhaufen oder eine Steinwand, weil dieser aufgrund ­seiner Verletzungen nicht stehen konnte. Affeldt kündigte ihm nun die Erschießung an, indem er ­sagte: „Sturmführer, da Du dem Führer die Treue gebrochen hast und nicht mehr kämpfen willst, mußt Du nach dem Willen der Kreisleitung sterben.“ Er nannte ihn auch einen Verräter, was Ogilvie abstritt. Dann erschoss er ihn mit der Pistole Kramers, nachdem Affeldts eigene Waffe zweimal versagt hatte. Auf der Leiche wurde ein Zettel mit der Aufschrift „Der Werwolf“ deponiert.172 In Schandelah wurden der Bürgermeister Heinrich Jürgens und ein Arzt na- mens Dr. Zschirpe am 10./11. 4. 1945 von HJ-Angehörigen der „Jugendakademie“ Braunschweig erschossen, weil sie den Abbau von Panzersperren veranlasst hatten,173 in Braunschweig-Riddagshausen wurde der Landrat und Kreisamtslei- ter Dr. Bergmann getötet, weil er am 11. April 1945 in einem Luftschutzstollen (dem Kreisbefehlsstand) im Nußberg in seiner Volkssturmuniform einen Selbst- mordversuch durch Öffnen der Pulsadern unternommen hatte, der Fahrer des Landratsamtes entdeckte den noch Lebenden und suchte Hilfe.

172 Braunschweig 1 Js 715/45 = 1 KLs 37/46, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 656–664, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 18. 173 Vgl. Braunschweig 1 Js 657/45 = 1 Ks 11/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 585–595, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. V, Nr. 168; Bd. VIII, Nr. 263. 788 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

Zuvor hatte schon der Braunschweiger Bürgermeister Dr. Hans-Joachim Mer- tens einen Selbstmordversuch unternommen und war ins Krankenhaus gebracht worden. Dr. Bergmann wurde von einem Arzt verbunden und sollte ins Kranken- haus gefahren werden. Der ­NSDAP-Kreisleiter und Volkssturmführer Berthold Heilig erfuhr von dem Selbstmordversuch, den er als feige und verantwortungs­ lose „Fahnenflucht“ ansah und beschloss, ein Exempel zu statuieren, um den Dis- ziplinverlust bei Ortsgruppenleitern, Kreisamtsleitern, Volkssturmmännern und Wehrmachtsoffizieren zu ­stoppen. Er ließ den SA-Truppführer Paul Wollmann zu sich rufen, der ihm als zuverlässiger Mann empfohlen worden war und teilte ihm mit: „Der Führer hat die Standgerichtsbarkeit auf die Reichsverteidigungskom- missare übertragen. Der Reichsverteidigungskommissar hat mich als seinen Stell- vertreter eingesetzt. Der Landrat Dr. Bergmann hat feige versucht, sein Leben von sich zu werfen. Ich verurteile ihn zum Tode. Fahren Sie mit ihm irgendwohin vor die Stadt und erschießen Sie ihn!“ Wollmann reagierte betroffen, Heilig erwider- te: „Sie brauchen sich keine Gewissensbisse zu machen. Der Mann wird erschos- sen!“ Tatsächlich hatte der NSDAP-Kreisleiter keine standrechtlichen Befugnisse, diese lagen beim ­NSDAP-Gauleiter Hartmann Lauterbacher. Alwin G. steuerte den Wagen, Karl Scheil stieg auf Aufforderung Wollmanns zu, nachdem ihm dieser den Zweck der Fahrt mitgeteilt hatte. Sie fuhren Dr. Bergmann nach Riddagshausen, wo der Bewusstlose von Wollmann und Scheil aus dem Wagen herausgehoben wurde. Wollmann tötete Dr. Bergmann durch Schüsse in den Hinterkopf, Karl Scheil schrieb einen Zettel mit der Aufschrift „Der Werwolf“, den er Dr. Bergmann in den Stiefelschaft steckte. Die Leiche wur- de am 13. 4. 1945 gefunden.174 Wegen der Tötung Ogilvies wurde Affeldt zu lebenslänglichem Zuchthaus, Kramer zu zwölf Jahren verurteilt, der NSDAP-Kreisorganisationsleiter Geffers wegen der Befehle zu sechs Jahren Zuchthaus wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in TE mit Beihilfe zum Totschlag (Fall Ogilvie) und Beihilfe zum versuchten Totschlag (Fall Helling). Affeldt und Geffers rechneten mit der Tötung Hellings und Ogilvies und billigten diese auch, beide waren Gehilfen, Affeldt bei Ogilvie auch Täter, der SS-Untersturmführer Willi R. förderte in seiner Uniform als SS-Sturmführer die Herausgabe Ogilvies aus dem Gefängnis, da Affeldt und Kramer beide in Zivil waren, und erhob keinerlei Protest gegen die Erschießung. Er wurde 1949 zu drei Jahren Zuchthaus wegen Verbrechens gegen die Mensch- lichkeit in TE mit Beihilfe zum Mord verurteilt, weil er zur Tötung Ogilvies beige- tragen hatte. Den ehemaligen NSDAP-Kreisleiter Heilig verurteilte das LG Braunschweig am 12. 6. 1947 wegen Mordes an dem Landrat zum Tod, die Mittäter Wollmann und Scheil wegen Beihilfe zu acht bzw. sechs Jahren Zuchthaus. Das OLG Braun- schweig verwies den Fall an den OGHBZ, um eine Rechtsfrage von grundsätz­ licher Bedeutung klären zu lassen, nämlich ob Dr. Bergmanns Tötung grausam

174 Vgl. Braunschweig 1 Js 658/45 = 1 Ks 5-6/48, 1 Ks 27/49, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2 Nr. 617–622, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. III, Nr. 76. 4. Verbrechen der Endphase 789 erfolgt sei. Der OGHBZ teilte die Ansicht des LG Braunschweig bezüglich der mordqualifizierenden Einstufung der Tötung, da diese heimtückisch geschah. Ge- mäß Artikel 102 GG sollte die Todesstrafe in lebenslängliche Zuchthaushaft um- gewandelt werden, doch Heilig war schon am 9. 12. 1948 gegen Morgen aus der Haftanstalt Wolfenbüttel geflohen.175 Warum Heilig, der immerhin zum Tod ver- urteilt worden war, zu Gartenarbeiten eingesetzt wurde und sich sogar allein zu seinem Arbeitsplatz begeben durfte, blieb ein Rätsel. Aufseher gaben an, die An- staltsleitung habe Heilig großes Vertrauen entgegengebracht, er habe mehr Frei- heiten erhalten als andere Gefangene in vergleichbarer Situation. Heilig kletterte über die Gefängnismauer und wurde von einem Unbekannten mit einem Motor- rad im Beiwagen weggefahren. Die von der Oberstaatsanwaltschaft ausgelobten 1500,- RM Belohnung zur Wiederergreifung brauchten nie ausgezahlt zu werden – Heilig blieb verschwunden. Seine Flucht beschäftigte selbst den Landtag.176 An- geblich war er 1954 in Argentinien, ein Auslieferungsabkommen bestand damals zwischen der Bundesrepublik und Argentinien nicht. 1959 wurden Fahndungs- maßnahmen durch Interpol in Argentinien durchgeführt, die erfolglos blieben. Ein Auslieferungsantrag war nur dann möglich, wenn der neue Name und die Anschrift von Heilig in Argentinien ermittelt würden. Das BKA gab 1960 an, Hei- lig habe bei der Einreise am 13. 10. 1951 in Argentinien den Namen Hans Rich- witz, geb. 18. 8. 1918 in Posen, geführt. Für die Fahndung durch das BKA setzte sich auch der Frankfurter Generalstaatsanwalt Dr. ein. Heilig war bis Ende März 1969 zur Fahndung ausgeschrieben. Einige Tötungen waren nach standgerichtlichen Urteilen erfolgt. Hier war zu klären, inwiefern diese Richtersprüche Rechtsgültigkeit erlangen konnten. Mitte April 1945 standen die Alliierten vor Düsseldorf; die westliche Rheinseite und einige Vororte waren bereits in alliierter Hand, Generalmajor Erhard, der Kampfkommandant von Düsseldorf, hielt eine Verteidigung Düsseldorfs für sinn- los und löste bereits seine Dienststelle auf, auch der NSDAP-Gauleiter von ­Düsseldorf, Friedrich Karl Florian, wollte von einem Kampf gegen die Alliierten absehen. Ob der Polizeipräsident und SS-Brigadeführer August Korreng Düssel- dorf verteidigen lassen wollte, ließ sich nicht mehr klären. Angeblich hatte der Kommandeur der Schutzpolizei (KdSch) von Düsseldorf, Oberstleutnant Franz Karl Jürgens, vom Polizeipräsidenten Korreng den Befehl erhalten, Düsseldorf zu verteidigen, zu den Maßnahmen gehörte auch die geplante Sprengung von Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerk, gegen die von Seiten der Bevölkerung protestiert wurde, indem eine Abordnung von Zivilisten den Kommandeur der Schutzpolizei aufsuchte. Jürgens ließ sich überzeugen und gab Befehl an die Polizei, Sprengun- gen zu verhindern und keinen Widerstand gegen die alliierte Übernahme zu leis-

175 Vgl. Braunschweig 1 Js 691/45 = 1 KLs 36/46, StA Wolfenbüttel, 62 Nds Fb. 2, Nr. 428–442, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 21; Bd. V, Nr. 154. 176 Vgl. Rede Wilhelm Ellinghaus im Niedersächsischen Landtag am 10. 11. 1949, Spalte 4216; Rede Justizminister Dr. Werner Hofmeister, ebd., Spalte 4219. In einem Zuruf bot ein CDU- Abgeordneter an, Heiligs Adresse in Rom (!) anzugeben. 790 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ten. Um seinen Bestrebungen Erfolg zu verleihen, ließ Jürgens Zivilisten mit Pis- tolen ausrüsten und nahm den Polizeipräsidenten Korreng in Schutzhaft im Poli- zeigefängnis. Jürgens ließ der Polizei verkünden, Korreng sei verhaftet, jeder, der ihn zu befreien versuche, würde erschossen. Korreng wurde allerdings noch am selben Tag vom Gauleiter Florian befreit. Der Wehrmachtsbefehlshaber Generalfeldmarschall Model befahl dem Kampf- kommandanten von Düsseldorf, Generalmajor Erhard, ein Standgericht gegen Jürgens einzusetzen, die Zusammensetzung legte als Gerichtsherr Generalmajor Erhard fest, wobei sowohl auf einen Anklagevertreter als auch einen Verteidiger verzichtet wurde. Der stellvertretende Kommandeur der Schutzpolizei (und Kom- mandant der Kampfgruppe von Düsseldorf-Mitte), Karl Brumshagen, übernahm den Vorsitz des militärischen Standgerichts gegen Jürgens, das am 16. 4. 1945 im Parkhotel Düsseldorf zusammentrat, ob ein Major und ein Hauptmann die Bei- sitzer waren, ließ sich schon in der frühen Nachkriegszeit nicht mehr klären. An- wesend war der NSDAP-Gauleiter Florian, eine Beeinflussung der Verhandlung und des Urteils war aber nicht nachweisbar. Straftatbestände waren vermutlich Hochverrat, Landesverrat, Wehrkraftzersetzung oder Meuterei. Gegen Jürgens wurde zehn Minuten verhandelt, dieser erklärte, die Verteidigung Düsseldorfs sei sinn- und zwecklos. Der Vorsitzende des Gerichts verkündete das Todesurteil ver- mutlich wegen Meuterei und Landesverrat, Generalmajor Erhard bestätigte das Urteil, zwischen 20 und 21 Uhr am 16. 4. 1945 wurde Jürgens exekutiert. Das Standgericht („Standgericht bei der Kampfgruppe Brumshagen“) gegen die vier beteiligten Zivilisten (Theodor Andresen, Josef Knab, Karl Kleppe und Hermann Weill) wurde vom Gerichtsherrn, dem stv. Kommandeur der Schutzpolizei, Brumshagen, eingesetzt und von Major Walter Peiper geleitet. Anklagevertreter und Ver­teidiger fehlten auch hier, es endete ebenfalls mit Todesurteilen, das von Peiper ­abgefasste Urteil wurde von Brumshagen als Gerichtsherr bestätigt, Brums- hagen befahl auch die Vollstreckung. Dem Revieroberleutnant der Schutzpolizei, der schon die Exekution gegen Jürgens geleitet hatte, wurde kurz vor zwei Uhr nachts befohlen, auch die Zivilisten hinzurichten, die Opfer wurden in einem Ge- fechtsstand in einer Schule einzeln an einen Pfahl gebunden und erschossen, wo- bei der Leiter der Exekution für die Schützen mit einer Taschenlampe die Ge- wehrläufe beleuchten musste, damit diese Kimme und Korn sehen konnten. Die Hinrichtung war um drei Uhr nachts beendet, am selben Tag, dem 17. 4. 1945, eroberten amerikanische Truppen Düsseldorf. Brumshagen hatte als Vorsitzender Richter im Standgericht gegen Jürgens fungiert und war Gerichtsherr bei dem von Peiper geleiteten Standgericht gegen die vier Zivilisten, an der Vollstreckung der fünf Todesurteile war er beteiligt, der Revieroberleutnant der Schutzpolizei, Heinrich G., leitete die Exekutionen.177 Im März 1949 kam die Strafkammer beim Landgericht Düsseldorf zu der An- sicht, dass die Standgerichtsurteile und ihre Vollstreckung nach dem damals gel-

177 Vgl. Düsseldorf 4a Js 114/45 = 8 Ks 1/49, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 17/849–855; 876–879, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. IV, Nr. 125. 4. Verbrechen der Endphase 791 tenden Gesetz rechtmäßig gewesen seien. Jürgens sei des militärischen Aufruhrs (§ 106 MilStGB) schuldig gewesen, nach § 107 MilStGB war die Todesstrafe für dieses Delikt zwingend vorgeschrieben. Weitere mögliche Straftatbestände seien Landesverrat bzw. Kriegsverrat gewesen. Beide Standgerichte seien Wehrmachts- standgerichte gewesen, denen je drei Richter angehört hätten, die Urteile seien mehrheitlich beschlossen und jeweils vom Gerichtsherrn bestätigt worden. § 103 KStVO schreibe die unverzügliche Vollstreckung vor. Der Leiter der Exekution hat- te nicht die Aufgabe, das Todesurteil zu überprüfen. Damit hätten die Angeklagten Brumshagen und Heinrich G. kein deutsches Gesetz verletzt, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit wollte das Gericht ebenfalls nicht erkennen, dem ehemaligen Gauleiter Florian war keine Beteiligung nachzuweisen. Bei der Verhandlung des Falles missfiel der Vorsitzende Richter dem britischen Inspizienten: „He did not make a good president.“178 Einige seiner Fragen seien irrelevant gewesen und man habe den Eindruck gewonnen, dass er „geschwommen“ sei. („One got the impres- sion that he was ‚floundering about‘.“) Der Fall Florian sei ein ernster Fall, der in der Öffentlichkeit stark beachtet werde.179 Unter diesen Umständen sei es beson- ders bedauerlich, dass kein kompetenterer und führungsstärkerer Richter dem Ge- richt vorgestanden habe: „The Inspectorate considered that in the cirumstances it was a pity that a more competent and forceful judge was not pre­siding.“180 Der OGHBZ Köln bezeichnete das Düsseldorfer Urteil zwar als mangelhaft in der Sachaufklärung, war aber mit der Freisprechung des Heinrich G. und des frü- heren Florian einverstanden, lediglich die Freisprechung Brumshagens sei rechtsirrig. Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit könne auch dann vorlie- gen, wenn Unrecht im Rahmen des Gesetzes geschehen, also vom Staat geduldet, gefördert oder veranlasst worden sei. Das LG Wuppertal, an das der Fall nun verwiesen worden war, stellte erhebliche Mängel des Standgerichtsverfahrens gegen Jürgens fest, darunter das Fehlen von Anklagevertreter und Verteidigung. Brumshagen war nicht zu widerlegen, dass er den Kriegsverrat im Falle von Jürgens für gegeben hielt, die Todesstrafe war gemäß § 57 MilStGB damit zwingend erforderlich, ein Unrechtsbewusstsein Brumshagens nicht feststellbar. Die Verfahrensmängel setzten sich in dem Standgerichtsverfah- ren gegen die Zivilisten fort, die aber Brumshagen nicht vorgeworfen werden konnten. Zwar hätte er als Gerichtsherr für die Einvernahme der Zivilisten durch einen Militärjustizbeamten sorgen müssen, für das Todesurteil sei er aber nicht verantwortlich zu machen. Da die Todesurteile in den Augen Brumshagens ord- nungsgemäß zustande gekommen waren, war auch ihre Vollstreckung nicht rechts- widrig. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit erblickte das LG Wuppertal nicht in der Beteiligung am Urteil gegen Jürgens oder der Bestätigung des Standgerichts-

178 Inspektion LG Düsseldorf und Wuppertal, 17.–22. 2. 1949, TNA, FO 1060/1237. 179 Ebd. Vgl. auch den Kommentar „Fehl am Platze“ mit scharfer Kritik an dem Urteil, in: Jüdi- sches Gemeindeblatt. Die Zeitung der Juden in Deutschland, 18. 3. 1949. 180 Ebd.; vgl. auch Brief Zonal Office of the Legal Adviser an Legal Adviser North Rhine-West- phalia, 2. 3. 1949, BAK, Z 21/1359. 792 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? urteils gegen die Zivilisten, sondern in der Vollstreckung. Zwar hatte Generalmjaor Erhard als Gerichtsherr das Todesurteil gegen Jürgens bestätigt, Brumshagen hätte aber nicht zur sofortigen Vollstreckung noch am Abend des 16. 4. 1945 schreiten müssen, da niemand auf eine sofortige Vollstreckung drängte und jeder mit dem unmittelbaren Einrücken amerikanischer Truppen gerechnet hatte. Die Exekution war militärisch nicht erforderlich gewesen, durch den Befehl zur Erschießung hat- te Brumshagen Menschenwert und –würde verletzt. Da die Tat mit der NS-Will- kürherrschaft in Zusammenhang stand, war sie ein Verbrechen gegen die Mensch- lichkeit. 1950 verurteilte das LG Wuppertal Brumshagen zu vier Jahren Gefängnis wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Auf Revision des Angeklagten wurde das Urteil vom BGH 1952 aufgehoben, es erfolgte Freispruch, weil die Ermächti- gung zur Anwendung des KRG Nr. 10 durch deutsche Gerichte durch die Verord- nung Nr. 234 des Britischen Hohen Kommissars vom 31. 8. 1951 zurückgenommen worden war und nach deutschrechtlichen Gesichtspunkten keine Strafbarkeit vor- lag. Standgerichtsverfahren waren nicht unrechtmäßig, Verfahrensverstöße oder Verfahrensfehler auch in Friedenszeiten nicht auszuschließen. Bei Kriegsverrat (§ 57 MilStGB in Verbindung mit § 91b StGB) war die Todesstrafe zwingend vor- geschrieben, Brumshagen war der Meinung, Jürgens habe Kriegsverrat begangen. Ein Unrechtsbewusstsein bei der ­Bestätigung der Todesurteile lag nicht vor, er handelte im Rahmen der damaligen Vorschriften. Auch die schnelle Vollstreckung nach ihrer Bestätigung galt als zu­lässig. Falls die Standgerichte ordnungsgemäß oder zumindest nicht grob ordnungs- widrig besetzt waren, ein Minimum an strafprozessualen Bestimmungen beachtet wurde, die Ermittlungen formal ordnungsgemäß geführt und keine falschen Zeugenaussagen­ im Verfahren verwendet wurden, kurz keine Verletzungen mate- riellen oder formellen Rechts vorlagen, sahen sich die Nachkriegsgerichte außer- stande, zu Verurteilungen zu kommen. Diejenigen, die die Exekutionen durch- führten, wiesen fast durchweg darauf hin, sie hätten an die Ordnungsmäßigkeit des Standgerichtsurteils geglaubt und für den Fall einer Befehlsverweigerung mit schwersten Konsequenzen rechnen müssen. Anders war dies, wenn offensichtlich ein standrechtliches Urteil nur vorgespiegelt wurde. Zwei Tage vor der kampflosen Übergabe Wetzlars befestigte der 65-jährige ­Registrator Wilhelm Sauer am 27. 3. 1945 eine weiße Fahne an seiner Wohnung in Wetzlar und schrieb eine Begrüßung für die Befreier auf ein Pappschild. Das Schild wurde von einer Wehrmachtsstreife entdeckt, die Sauer verhaftete. Sauer wurde zur Stadtkommandantur gebracht, die sich aber nicht mit ihm befassen wollte, ein Unteroffizier einer Heeresflakabteilung auf Genesungsurlaub führte Sauer auf eigene Initiative zur NSDAP-Kreisleitung, weil sich die Wehrmacht für die Aburteilung von Zivilisten wie Sauer nicht zuständig sah. Der NSDAP-Kreis- leiter von Wetzlar und Kreisvolkssturmführer, Wilhelm Haus, sagte zu Sauer: „Wie konnten Sie sowas machen! Sie haben Verrat geübt. Sie werden aufgehängt.“ Außerdem rief er den NSDAP-Gauleiter von Hessen-Nassau und Reichsverteidi- gungskommissar Philipp Sprenger in Romrod in Oberhessen an und teilte mit: „Ich bitte um die Genehmigung, einen Schuft hängen lassen zu dürfen.“ Ferner: 4. Verbrechen der Endphase 793

„Gerade wird ein Schweinehund zu mir gebracht, der hat an seiner Haustüre ein Schild angebracht mit der Aufschrift ‚Schütze mein Heim. Wir sind keine Nazi. Wir begrüßen die Befreier‘.“ Der Gaustabsamtsleiter Wagner nahm das Telefonat entgegen, notierte sich den Text des Schildes und äußerte sofort, dies sei ein Fall fürs Standgericht Hessen-Nassau, das gerade tage, Haus solle am Telefon bleiben. Nach etwa zehn Minuten oder einer Viertelstunde rief Wagner zurück und erklär- te, das Standgericht habe Sauer zum Tod durch Erhängen verurteilt, das Urteil sei sofort vollstreckbar. Dann kam der Gauleiter Sprenger ans Telefon, bestätigte das Urteil und sagte: „Also Haus, der Schweinehund wird sofort aufgehängt und zwar am Marktplatz als abschreckendes Beispiel. Hängen Sie ihm ein Schild um den Hals, daß es jedem Verräter ebenso geht.“ Der NSDAP-Kreisleiter Haus verkünde- te daraufhin das „Standgerichtsurteil“, das er auch am Friedhof nochmals verlas. Ein Meister der Schutzpolizei wurde als Zeuge der Vollstreckung hinzugezogen, Sauer wurde von sechs Volkssturmangehörigen an einem Baum auf dem Friedhof erhängt. Am 29. 3. 1945 stand der NSDAP-Kreisleiter Haus selbst vor einem Standgericht des NSDAP-Gauleiters Lauterbacher in Göttingen, weil er gegen Bormanns Befehl verstoßen und als NSDAP-Kreisleiter seinen Heimatort verlas- sen hatte. Er behauptete, von diesem Befehl erst nachträglich Kenntnis erhalten zu haben. Da der stv. NSDAP-Gauleiter Linder für ihn eintrat, sprach das Stand- gericht in Göttingen ihn frei. Ein fernmündliches Standgerichtsverfahren in ­Abwesenheit des Delinquenten konnte kein rechtskräftiges Urteil begründen, da es materiell unrichtig war und grundlegende Verfahrensbestimmungen verletzte. Die Dauer von 10–15 Minuten zwischen zwei Telefonaten erlaubte kein ordnungs- gemäßes Verfahren, was auch Haus wusste. Sauer konnte sich nicht rechtfertigen, der Einmarsch amerikanischer Truppen stand unmittelbar bevor. Der NSDAP- Kreisleiter setzte sich damit bewusst über das Recht hinweg, er handelte nicht in einer Zwangslage. Mord war allerdings nicht nachweisbar, weil niedrige Beweg- gründe und heimtückisches Handeln nicht vorlagen. Über das Zustandekommen des Urteils wussten die Volkssturmangehörigen und der Polizist nicht Bescheid, der NSDAP-Kreisleiter Haus hatte insinuiert, es handele sich um ein rechtmäßi- ges Urteil. Überdies handelten sie im Nötigungsstand (§ 52 StGB), eine Verweige- rung wäre hart bestraft worden. Nachdem der ehemalige Kreisleiter im Dezember 1947 wegen Totschlags zu ­lebenslangem Zuchthaus verurteilt worden war, wurden nach der Revision des Angeklagten die allgemeinen Verhältnisse zu Kriegsende in Betracht gezogen und ihm zugute gehalten, dass er durch die jahrelange Propaganda verblendet war, so dass er aus geringfügigem Anlass einen harmlosen Menschen tötete. Haus wurde schließlich zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, nicht zuletzt deswegen, weil er als fanatischer Nationalsozialist und Antisemit galt. So war in den Akten die Zeugenaussage von Max Weber enthalten, dessen Frau Paula im Juni 1943 von der Staats­polizei Frankfurt verhaftet worden war, sie sollte im Dezember 1943 in Auschwitz sterben. Als Weber den NSDAP-Kreisleiter Haus um Hilfe bat, äußerte dieser: „Sind Sie froh, dann sind Sie auch Ihre Frau los, denn es ist doch eine Jüdin.“ Weber fragte fassungslos, wie er denn ohne seine Frau die fünf 794 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“?

­Kinder versorgen solle, woraufhin Haus sagte: „Die hängen wir mal gelegentlich auf.“ 181 Zu den zu ahndenden Straftaten gehörten auch Todesurteile, die nach der Ka- pitulation vollstreckt wurden. Der wegen Wehrkraftzersetzung bestrafte Matrose Wolfgang Nowack vom Boot M 253 der 5. Minensuchflotille äußerte sich im Ma- rine-Standortrevier Kristiansand in Norwegen noch im April 1945 abfällig über das NS-Regime und die Kriegsführung, seine Entlassung aus dem Revier feierte er mit Schnaps, bis es zu einer Schlägerei kam, den Arzt, der ihm eine Beruhigungs- spritze gab, beschimpfte er: „Das werde ich Ihnen nie vergessen, daß ich von all den Nazischweinen und auch von Ihnen so gequält worden bin. Die Abrechnung kommt nach dem 24. April 1945, wenn in Deutschland alles erledigt ist. Dann werden Sie auch erledigt, denn Sie sind alle in einer Liste notiert.“ Wegen Randa- lierens kam er in Arrest, am 30. 4. 1945 wurde er wegen Wehrkraftzersetzung an- geklagt. Neben den oben erwähnten Äußerungen wurden ihm auch Worte über den Wahnsinn einer Fortsetzung des Krieges durch den Wehrwolf zur Last gelegt. Am 4. 5. 1945 fand in Kristiansand die Hauptverhandlung des Marine-Feldkriegs- gerichts statt, bei der auch der Arzt die Äußerungen bestätigte.182 Nowack wurde wegen Wehrkraftzersetzung zum Tod verurteilt, das Urteil wurde „zur Festigung der Disziplin“ am gleichen Tag vollstreckt, nachdem das Gericht selbst das Urteil für vollstreckbar erklärt hatte (eine Übermittlung des Urteils an den Gerichts- herrn war wegen der Kriegslage nicht mehr möglich). Auf der Insel Odderoe bei Kristiansand wurde Nowack exkutiert. Dem Marineoberstabsrichter war keine vorsätzliche Rechtsbeugung nachzuweisen, so dass er freigesprochen wurde.183 Vier deutsche Marinesoldaten waren am 5. 5. 1945 von ihrer in Dänemark sta- tionierten Einheit geflohen und zu einer Zuchthaus- bzw. drei Todesstrafen ver- urteilt worden, die Exekutionen erfolgten am 10. Mai 1945. Kapitänleutnant von D. beantragte in der Kriegsgerichtsverhandlung die Todesstrafe, das Kriegsgericht erkannte darauf, der Kapitän und Führer der Schnellboote, Rudolf Petersen, ließ das Todesurteil des Kriegsgerichts bestätigen und vollstrecken. Das 2. Schnell- boot-Bataillon, Bataillon Sander genannt, galt laut Anklage als „militärischer Sau- haufen“. Am 5. 5. 1945 wurde die Kapitulation gegenüber Montgomery verkündet und ein Kameradschaftsabend zum Verbrauch der letzten Bestände an Alkohol und Zigaretten angesetzt. Sander, der Führer des 2. Schnellbootbataillons, hielt eine Ansprache, in der das Weiterleben der nationalsozialistischen Idee postuliert wurde. Fritz Wehrmann äußerte gegenüber einem Kameraden, seine Mutter brau-

181 Limburg 2 Js 1427–1434/45 = 2 Ks 1/47, HStA Wiesbaden, Abt. 463, Nr. 920/1–7, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. II, Nr. 39; Bd. III, Nr. 107; siehe auch „Der Fall Haus kommt erneut vor das Schwurgericht Limburg“, in: Wetzlarer Neue Zeitung, 20. 8. 1948; „Zwischen Mord und Totschlag“, in: Wetzlarer Neue Zeitung, 13. 12. 1948. 182 Der Arzt Dr. Erich L. wurde im Februar 1949 zu acht Jahren wegen VgM in Tateinheit mit Beihilfe zum Mord verurteilt und als Hauptschuldiger eingestuft. Halle 13a Aufs. 96/47 = 13a StKs 166/48, BStU, Hle ASt 7474/48. 183 Vgl. Hamburg 14 Js 585/47 = 14 Ks 4/50, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 5066/55 (Restakte) vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. X, Nr. 354. 4. Verbrechen der Endphase 795 che ihn, er werde sich in Kriegsgefangenschaft begeben. Gemeinsam mit drei ­anderen Marinesoldaten der 3. Kompanie des 2. Schnellbootbataillons packte er seine Habseligkeiten und verließ gegen 23.30 Uhr abends die Unterkunft. Die ­Deserteure wurden von Dänen gestellt und der deutschen Ortskommandantur in Svendborg übergeben, von dort zum Bataillon zurückgebracht. Die Einheit be- fand sich nun in der Geltinger Bucht bei Schleswig, die Deserteure wurden auf dem Schiff „Buea“ inhaftiert, das am 8. 5. 1945 zur Geltinger Bucht stieß. Kurz darauf fand die Kriegsgerichtsverhandlung statt, den Deserteuren war kein Ver- teidiger zugestanden worden. Die Verhandlung in der Messe der „Buea“ dauerte zwischen zweieinhalb und drei Stunden. Die Deserteure Wehrmann, Schilling und Gail behaupteten, sie hät- ten sich dem Werwolf oder den Truppen in Kurland oder in Pommern anschlie- ßen wollen, um weiterzukämpfen, während Schwalenberg als einziger einräumte, er habe nach Hause gewollt. Die anderen wurden wegen Fahnenflucht zum Tod verurteilt, Schwalenberg mit drei Jahren Zuchthaus bestraft. Es lag kein schrift­ liches Urteil vor, die Urteile wurde am Nachmittag des 10. 5. 1945 durch ein ­Erschießungskommando von neun Mann exekutiert, die Leichen anschließend mit einem Torpedogewicht in der Ostsee versenkt. In der Nachkriegszeit wurde das Kriegsgerichtsverfahren zunächst als ord- nungsgemäß eingeschätzt, auch das Fehlen der Verteidigung sei nicht unrechtmä- ßig gewesen. Die Verurteilung wegen Fahnenflucht sei zurecht erfolgt, das Urteil gültig gewesen. Für die Beurteilung war von Bedeutung, an welchem Tag die Kriegsgerichtsverhandlung stattgefunden hatte. Aus Unterlagen der Opfer ging hervor, dass diese nicht – wie anfänglich angenommen – am 8. 5. 1945, sondern erst am 9. 5. 1945 stattfand, nachdem die Flagge bereits eingeholt worden war. Dann aber begingen die an dem Todes­urteil beteiligten Richter und Gerichtsherrn ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, indem sie die Todesurteile erließen bzw. die Vollstreckung veranlassten. Nachdem zuerst der OGHBZ Köln184, dann der BGH die Urteile gegen die Beteiligten aufgehoben hatte, wurde ihnen 1953 Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag bzw. Beihilfe zum Totschlag vorgewor- fen. Der Führer der Schnellboote habe aus Angst um die Disziplin die Vollstre- ckung für notwendig erachtet, dass die Strafzumessungsgründe unrechtmäßig gewesen seien, habe er nicht erkennen können. Die anderen am Todesurteil hät- ten den Tod der Soldaten nicht „bewußt gewollt“ und wurde deswegen vom Vor- wurf der Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag freigesprochen.185 Ein leb- haftes Presseecho hatte den Fall begleitet, das Urteil war fast einhellig als befremd- lich und entrüstend kritisiert worden.186 Ralph Giordano schrieb: „Der Spruch

184 Zusammenfassung der Urteilsgründe unter: MDR, Mai 1949, S. 305–307. 185 Vgl. Hamburg 14 Js 133/46 = 14 Ks 15/48, StA Hamburg, Best. 213-11, Nr. 7566/55, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. V, Nr. 163; Bd. X, Nr. 345. 186 Vgl. „‚Diese Leute müssen ausgelöscht werden‘“, in: Hamburger Echo, 4. 6. 1948; „Eine un- menschliche Tat bleibt ungesühnt“ und „Ein Urteil – doch keine Gerechtigkeit“, in: Ham- burger Echo, 8. 6. 1948; „Empörung gegen das Petersen-Urteil“, in: Hamburger Echo, 25. 6. 1948; „Engstirnigkeit und harte Herzen. Petersen-Prozeß vor dem Schwurgericht“, in: 796 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? im Prozeß gegen Kommodore Petersen war ein reines Konjunktururteil. Die Jus- tiz machte wieder einen ihrer Kniefälle vor den illegalen Nazi-Claqueuren und deren anonymer Untergrund­bewegung.“187 Die KPD verbreitete ein Flugblatt, in dem sie die Aufhebung des Urteils forderte.188 Eine 1948 publizierte Broschüre zu dem Fall sprach von einer nicht zuletzt durch derartige Urteile verursachten „Ver- trauenskrise des deutschen Volkes gegenüber der Justiz“.189 Es sei Pflicht der Rechtspflege, „wieder ein gesundes­ und menschlich tieffundiertes Rechtsempfin- den zum Allgemeingut des deutsche Volkes werden zu lassen, eine der wesentli- chen Voraussetzungen der sittlichen Wiedergesundung einer demokratischen Volksgemeinschaft.“190 Noch Mitte Mai, entweder am 13. oder 14. Mai 1945, wurde ein Obergefreiter wegen Fahnenflucht in Stranach in Österreich durch Wehrmachtsangehörige er- schossen.191 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist auch das Verfahren gegen den Landgerichtsdirektor am OLG Stettin, Dr. Paulick, der Vorsitzender des zivilen Standgerichts Pommern war. Gegenstand des Verfahrens waren die Urteile des Standgerichts, allein 1945 wurden 13 Todesurteile wegen Plünderung, wegen Feigheit vor dem Feind, wegen Mordes, wegen Vergehen gegen das Kriegswirt- schaftsgesetz und wegen Sabotage verhängt. Die Anklage von 1950 gegen Paulick und den Anklagevertreter beim Standgericht, Staatsanwalt Gerhard F., lautete auf VgM und Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Rechtsbeugung. Das zivile Stand- gericht war auf Befehl des NSDAP-Gauleiters von Pommern, Franz Schwede-­ Coburg, ab Mitte Februar 1945 eingerichtet worden, die verhängten Todesurteile wurden meist noch vor der Bestätigung durch den Reichsverteidigungskommis- sar Schwede-Coburg sofort vollstreckt, obwohl die Voraussetzungen gemäß der Standgerichtsverordnung vom 15. 2. 1945 nicht vorlagen. Von Mitte Februar bis April 1945 wurden insgesamt 200–300 Angelegenheiten bearbeitet, die meisten Ver­fahren eingestellt oder an Sondergerichte und ordentliche Gerichte verwiesen. Es ergingen 15–17 Todesurteile, von denen 13 vollstreckt wurden, die vor allem Plünderungen und Mord betrafen. Bei einem Standgericht in Altdamm wurden zwei Italiener wegen Plünderung (der Wohnung Paulicks!) zum Tod verurteilt und vom Volkssturm erhängt, sie hatten keinen Dolmetscher erhalten, obwohl sie des Deutschen nicht mächtig waren. Ein Kolonialwarenhändler wurde in Anklam ­wegen Warenhortung und Verkaufs von Viehsalz zum menschlichen Verzehr zum

Hamburger Abendblatt, 25. 6. 1949; „Sie kannten nur die Todesstrafe“, in: Hamburger Echo, 25. 6. 1949; „Neuer Petersen-Prozeß“, in: Hamburger Freie Presse, 30. 5. 1952; „Zuchthaus- strafen im Prozeß gegen Petersen beantragt“, in: Neue Zeitung, 19. 2. 1953; „Petersen erneut freigesprochen“, in: Hamburger Anzeiger, 27. 2. 1953; „Tabula rasa“, in: SZ, 20. 2. 1953; „Zart- sinnige Justiz“, in: Deutsche Woche, 11. 3. 1953. 187 Ralph Giordano, „Freispruch für Mord“, in: Jüdisches Gemeindeblatt für die Britische Zone, 23. 6. 1948. 188 Vgl. BAK, Z 21/1334. 189 Pardo/Schiffner, Der Prozeß Petersen vor dem Schwurgericht in Hamburg, S. 1. 190 Ebd., S. 46. 191 Freiburg 1 Js 226/48 = 1 Ks 6/49, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. V, Nr. 174. 4. Verbrechen der Endphase 797

Tod verurteilt, das Opfer wurde im März 1945 mit einem Schild und unter Mu- sikbegleitung zum Exekutionsort geführt, um dann an einer Friedenseiche aus dem Jahr 1871 erhängt zu werden. Ein Kinobetreiber, in dessen Kino Flüchtlinge hausten, wurde wegen Sabotage zum Tod verurteilt und in Demmin erhängt, weil er wegen des erhöhten Stromverbrauchs der Flüchtlinge zwei Lichtleitungen ab- geklemmt hatte. Paulick und Gerhard F. wurden 1950 freigesprochen, weil die Standgerichtsurteile den damaligen Gesetzen entsprochen hätten, Plünderung, Mord, Kriegswirtschaftsverbrechen, Sabotage, Wehrkraftzersetzung, Diebstahl, verbotener Waffenbesitz und Fahnenflucht seien sämtlich mit dem Tod bedroht gewesen. Die sofortige Vollstreckung war Paulick und Gerhard F. nicht anzulas- ten, weil sie mit der Bestätigung durch den Gauleiter rechnen konnten, überdies Gerhard F. eine „Ersatzbestätigung“ vornahm. Da die Standgerichtsurteile nicht mehr existierten, war auch Rechtsbeugung nicht nachzuweisen.192 Das Urteil in Itzehoe war Gegenstand diverser journalistischer Kommentare.193 Während den Richtern der Nachkriegszeit bei der Aburteilung der Stand­ gerichtssachen die Hände gebunden schienen, waren die verhängten Strafen in anderen Endphasenverbrechen vielfach substantiell: Für die Erschießung eines Zivilisten und seines Sohnes in Witten am 4. 4. 1945 und 6. 4. 1945, weil der Vater angeblich eine Liste maßgeblicher NSDAP-Angehöriger für die Alliierten vorbe- reitet hatte und der Sohn angeblich desertiert war, erging im August 1946 gegen

192 Vgl. Itzehoe 3 Js 103/48 = 3 Ks 3/50, LA Schleswig-Holstein, Abt. 352 Itzehoe, Nr. 633–654, Abt. 351 GStA Schleswig, Nr. 378. 193 Vgl. „Standrichter von Pommern vor Gericht“, in: Hamburger Echo, 14. 6. 1950; „Augenzeu- gen der Hinrichtungen“, in: Norddeutsche Rundschau, 12. 7. 1950; „Zeugenaussage gegen Anklagten“, in: Norddeutsche Rundschau, 27. 6. 1950; „Juristen auf der Anklagebank“, in: Hamburger Echo – Steinburger Nachrichten, 22. 6. 1950; „Paulik [sic]-Prozeß begann“, in: Norddeutsche Rundschau, 22. 6. 1950; „Paulick-Prozeß eröffnet“, in: Hamburger Freie Pres- se, 23. 6. 1950; „Zeugen sagen: ‚Pommerns Blutrichter‘“, in: Norddeutsche Rundschau, 23. 6. 1950; „NSV-Küche statt Tod“, in: Hamburger Freie Presse, 24./25. 6. 1950; „Angeklagte ohne Verteidigung“, in: Hamburger Echo, 24. 6. 1950; „Kartoffelschälen statt Todesstrafe“, in: Norddeutsche Rundschau, 24. 6. 1950; „Hinrichtung an der „Friedenseiche‘“, in: Hamburger Echo, 27. 6. 1950; „Zum Tode Verurteilte sagt aus“, in: Norddeutsche Rundschau, 29. 6. 1950; „Reisende Henkerkommission“, in: Hamburger Echo, 30. 6. 1950; „Keine Gefühlsentschei- dung“, in: Norddeutsche Rundschau, 30. 6. 1950; „Mit Musik zur Hinrichtung“, in: Hambur- ger Echo, 1. 7. 1950; „Im Hintergrund Heinrich Himmler“, in: Norddeutsche Rundschau, 4. 7. 1950; „Todesurteil im Eiltempo“, in: Hamburger Echo, 11. 7. 1950; „Todesurteile nicht gelesen“, in: Die Welt, 3. 7. 1950; „Ohne ostzonalen Druck“, in: Norddeutsche Rundschau, 11. 7. 1950; „‚Der böse Geist des Gauleiters‘“, in: Hamburger Echo, 12. 7. 1950; „Schwurge- richt erneut nach Berlin“, in: Norddeutsche Rundschau, 14. 7. 1950; „Die fünf Todesurteile von Stettin“, in: Die Welt, 21. 6. 1950; „Neuer Fall im Paulick-Prozeß“, in: Norddeutsche Rundschau, 22. 7. 1950; „Kartoffelschälen statt Strang“, in: Hamburger Echo, 22. 7. 1950; „Hinrichtung nach zwei Stunden“, in: Norddeutsche Rundschau, 26. 7. 1950; „5 Jahre Zucht- haus für Paulick beantragt“, in: Die Welt, 28. 7. 1950; „Fünf Jahre Zuchthaus beantragt“, in: Norddeutsche Rundschau, 28. 7. 1950; „Verteidiger beantragt Freispruch“, in: Norddeutsche Rundschau, 29. 7. 1950; „Nach fünfstündigem ­Plaidoyer“, in: Norddeutsche Rundschau, 2. 8. 1950; „‚Ich wollte ein Chaos verhindern‘“, in: Norddeutsche Rundschau, 3. 8. 1950; „Sie handelten nicht ungesetzlich“, in: Norddeutsche Rundschau, 5. 8. 1950; „Standrichter freige- sprochen“, in: Hamburger Freie Presse, 5./6. 8. 1950. 798 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? einen Täter ein – später nicht vollstrecktes – Todesurteil.194 Friedrich Lotto und sein Adjutant Helmut Führ, die für Straftaten in Wilhelms­haven und Umgebung verantwortlich waren, wurden beide im Oktober 1948 zu lebenslänglichem Zucht- haus wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in TE mit Totschlag in drei Fällen verurteilt.195 Kurt H., der an der Erschießung von drei Personen – wegen defaitistischer Äußerungen und Beherbergens zweier sowjetischer Kriegsgefange- ner – in der Düsseldorferstraße in Berlin beteiligt war, wurde 1947 wegen Verbre- chens gegen die Menschlichkeit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.196 Der NSDAP-Kreisleiter von Marktheidenfeld, der für die widerrecht­liche Erhängung eines deutschen Soldaten wegen Fahnenflucht und Plünderung am 1. 4. 1945 ver- antwortlich war, wurde zu acht Jahren Zuchthaus wegen Totschlags verurteilt.197 Der NSDAP-Kreisamtsleiter von Münchberg, der am 17. 4. 1945 zwei versprengte Soldaten erschoss, die in eine Jagdhütte eingebrochen waren, in die sich die ­NSDAP-Kreisleitung geflüchtet hatte, wurde wegen zweifachen Totschlags 1948 zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt.198 Der ehemalige SS-Untersturmführer Heinrich Perner ließ als Kommandeur des SS-Jagdkommandos Süd zwei fahnen- flüchtige Soldaten und einen Geistlichen wegen abfälliger Worte über die deut- sche Kriegslage am Ostermontag, den 22. 4. 1945, in Münsterhalden erschießen. Im Juni 1948 wurde er selbst wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Tod verurteilt (die Strafe später gnadenweise zu lebenslänglichem Zuchthaus ab- gewandelt), zwei Mittäter zu zehn bzw. sieben Jahren Freiheitsentzug.199 Der Landwachtpostenführer, der zwei Soldaten wegen mutmaßlicher Fahnenflucht in Binswangen am 13. 4. 1945 erschoss, wurde im April 1947 zu 14 Jahren Zucht- haus, nach Revision zu elf Jahren Zuchthaus wegen Totschlags und versuchten Totschlags verurteilt.200 Die vom NSDAP-Kreisleiter befohlene Erschießung von vier Heilbronnern wegen Hissens weißer Fahnen in der Schweinsbergstraße in Heilbronn trug einem früheren SA-Obertruppführer beim Volkssturm 1947 eine 15-jährige Zuchthausstrafe wegen vorsätzlicher Tötung und versuchter vorsätzli- cher Tötung in jeweils vier Fällen ein, seine zwei Mittäter wurden zu fünf ­Jahren Gefängnis verurteilt.201 Auch das OLG Stuttgart argumentierte in einer Würdi- gung eines Urteils202, das die Ahndung der Erschießung dreier Deserteure am

194 Vgl. Bochum 5 Js 342/46 = 5 KLs 24/46 vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. XXII, Nr. 607, 608, 612. 195 Vgl. Oldenburg 5 Js 1108/47 = 10 Ks 3/48, StA Oldenburg, Best. 140-5 Acc. 7/88, Nr. 54 I–III [alte Signatur], vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. III, Nr. 91; Bd. X, Nr. 331 und Nr. 196. 196 Vgl. Berlin 1 P Js 140/47 = 1 PKs 4/47, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. II, Nr. 35a. 197 Vgl. Würzburg Js 1240/47 = KLs 39/48, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. III, Nr. 85. 198 Vgl. Hof Js 440/47 = KLs 17/48, StA Bamberg, Rep. K 107, Abg. 1987, Nr. 723, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. II, Nr. 66. 199 Vgl. Freiburg 1 Js 291/46 = 1 Ks 1/48, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. II, Nr. 62. 200 Vgl. Heilbronn Js 5279/46 = KLs 3/47, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 33. 201 Vgl. Heilbronn Js 6622–24/46 = KLs 49–51/47, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 23. 202 Vgl. Stuttgart E Js 4115/45 = III KLs 84/46; OLG Stuttgart Ss 14/46, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 8 4. Verbrechen der Endphase 799

4. 5. 1945 betraf, dass es zu Kriegsende keinen Erlass gegeben habe, der es ­einem Kommandeur ermöglicht habe, Soldaten ohne Verfahren zu erschießen. Auch der NSDAP-Kreisleiter von Deggendorf wurde wegen der Erschießung der wegen Wehrkraftzersetzung und Abhörens von Feindsendern einsitzenden Lehrerin Amalie Nothaft zu zwölf Jahren Zuchthaus wegen Beihilfe zum Mord verurteilt.203 Trotzdem hatten sich die Richter mit diesem Verfahren sehr schwer getan. Der Deggendorfer Fall war von verschiedenen Abteilungen der amerikani- schen Militärregierung gut beobachtet worden. Schon Ende 1946 wies die Prisons Branch (OMGBY) darauf hin, dass drei Beschuldigte, die verhaftet worden waren, seit über einem Jahr in Untersuchungshaft säßen. Im Juli 1947 kritisierte die Ge- fängnisabteilung erneut, dass die Verdächtigen nun schon das zweite Jahr ohne Urteil im Gefängnis säßen und äußerte: „This is one of the worst cases of exces­ sive imprisonment without sentence known to us.“204 Als sich die German Courts Branch für den Fall interessierte und telefonisch Erkundigungen einzog, meinte sie, verschiedene Verstöße festzustellen. Ein Hauptverdächtiger – der Deggendor- fer Kampfkommandant von Winkler – sei verschwunden, obwohl er angeblich von den amerikanischen Behörden an die deutsche Justizverwaltung übergeben worden sei, drei andere Verdächtige seien nun schon über zwei Jahre inhaftiert, die zuständigen Richter hätten sich befangen erklärt und den Fall nach Regens- burg abschieben wollen. Zu allem Überfluss habe die öffentliche Meinung versagt, da die Bevölkerung auf die zügige Aburteilung hätte dringen müssen: „[…] the speedy prosecution […] should have been urged by public opinion in and around Deggendorf if the population of this district had been aware of the moral obliga- tions of the public to try Nazi crimes.“ Es sei ein typisches Beispiel, so klagte Hans W. Weigert, für die Ineffizienz deutscher Gerichte im Umgang mit NSG. Aber nicht nur die deutsche Justizverwaltung, auch die amerikanischen court in- spectors kritisierte er, dass sie die vorgesetzten amerikanischen Behörden nicht früher auf den Fall aufmerksam gemacht hatten und nicht sorgfältiger dessen Fortschritt verfolgt hätten.205 Der Landgerichtspräsident von Deggendorf teilte dem OLG-Präsidenten von München mit, die deutschen Gerichtsbehörden hätten zunächst von der amerika- nischen Militärregierung nur das Recht erhalten, bis zum Abschluss der Vorun- tersuchung zu ermitteln. Die Militärregierung wollte sich vermutlich das Recht vorbehalten, selbst den Fall zu verhandeln. Im April 1947 äußerte der Oberstaats- anwalt von Deggendorf, mit dem Verfahren sollten nur unvoreingenommene Staatsanwälte und Richter befasst sein dürfen. Dies treffe aber bei der Mehrzahl der Staatsanwälte in Deggendorf nicht zu. Die zwei einzigen unvoreingenomme- nen örtlichen Staatsanwälte dürften der Sache mangels Erfahrung nicht gewach-

203 Vgl. Deggendorf 1 Js 759/46 = KLs 33/47, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 34. 204 Zit. nach Brief Hans W. Weigert an Haven Parker, Legal Division, 17. 7. 1947, NARA, OM- GUS 17/217 – 1/15. 205 Ebd. 800 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? sen sein. Der Landgerichtspräsident Deggendorf teilte diese Meinung und äußer- te, auch die vier Deggendorfer Richter am LG seien befangen. Landgerichtsdirek- tor Meyer und Landgerichtsrat Dr. Becher hätten beide den mitbeschuldigten Oberstaatsanwalt Dros gut gekannt. Wenn Dr. Becher als Untersuchungsrichter eingesetzt würde, müsste er die Voruntersuchung gegen Dros führten. Der Land- gerichtspräsident Dr. Albert Heyn sowie Landgerichtsrat Dr. Eder würden den belasteten Oberstaatsanwalt Dros persönlich außerdienstlich gut kennen. Am LG Deggendorf seien somit keine unbefangenen Richter vorhanden und auf das AG könne nicht zurückgegriffen werden, weil der dortige Amtsgerichtsrat, der 72-jäh- rige Landgerichtsdirektor in Rente, Kreischer, dem Umfang des Strafverfahrens und den zu erwartenden Schwierigkeiten nicht gewachsen sei, die anderen Amts- gerichtsräte zu unerfahren seien. Hinzu komme, dass weitere Mitangeklagte „alt- eingesessene Deggendorfer mit großem Anhang“ seien. Deggendorf sei als Ta- gungsort daher nicht geeignet. „Ich halte deshalb in Deggendorf überhaupt nicht die geeignete Atmosphäre für gegeben zur Durchführung dieses weite Kreise von Deggendorf in Mitleidenschaft ziehenden Verfahrens.“ Es wurde vorgeschlagen, das LG Regensburg, das den „weit günstigere[n] Boden“ für diesen Prozess habe, zum Verhandlungsort zu machen.206 Die amerikanische Legal Division nahm Anstoß daran, dass sich alle Richter für befangen erklärt hatten und den Fall in Regensburg verhandelt sehen wollten: „[…] the startling fact that all judges in Deggendorf had declared themselves prejudiced in this case and that the case has consequently been transferred to the district court in Regensburg. The reason given for this action was that one of the persons ‚involved‘ in this case is a former prosecutor in Deggendorf. This excuse seems to have been accepted both by the German administration of justice and by our field inspector without attempt at further exploring the situation.“207 Doch das Verfahren blieb an den Deggendorfern hängen. Nach der amerikani- schen Kritik vom Juli 1947 wurde vergleichsweise schnell – nämlich im August 1947 – Anklage erhoben. Das Gericht wurde nun folgendermaßen zusammenge- setzt: Vorsitzender Richter wurde der Deggendorfer LG-Präsident Dr. Albert Heyn, der weder der NSDAP noch ihren Gliederungen angehört hatte, Beisitzer waren der Landgerichtsdirektor in Rente, Dr. Paul Kreischer, vom AG Deggen- dorf, ebenfalls ohne NS-Vergangenheit, sowie der Landgerichtsrat Dr. Hugo Eder, NSDAP-Mitglied seit 1937, durch die Spruchkammer als Mitläufer eingestuft. Die Anklage vertrat der Münchner Generalstaatsanwalt Dr. Albert Roll, außerdem war der Erste Staatsanwalt Dr. Reiss an dem Verfahren beteiligt.208 Dass das Ver- fahren wegen seiner Nichteinbeziehung derjenigen, die Amalie Nothaft denun-

206 Brief Dr. Albert Heyn, LG-Präsident von Deggendorf, an OLG-Präsident von München, 23. 4. 1947, NARA, OMGUS 17/217 – 1/15. 207 Brief Hans W. Weigert an Haven Parker, Legal Division, OMGUS, 17. 7. 1947, NARA, OM- GUS 17/217 – 1/15. 208 Vgl. Brief Dr. Albert Heyn, LG-Präsident von Deggendorf, an Legal Division, OMGBY, 1. 11. 1947, NARA, OMGUS 17/217 – 1/15. 4. Verbrechen der Endphase 801 ziert hatten, auf Kritik gestoßen war, ist bereits an anderer Stelle erwähnt wor- den. Die Jagd auf Juden, „Halbjuden“ oder Personen, die „jüdisch aussahen“, dauer- te bis zum Untergang des Dritten Reiches. Der NSDAP-Kreisleiter von Hannover, Heinz Deinert erschoss am 8. 4. 1945 in Gehrden bei Hannover einen „Halbjuden“, weil er diesen für gefährlich hielt.209 Schließlich fielen sogar die „Volksgenossen“ unter diesen Verdacht. Der 16-jährige HJ-Angehörige Wolfgang M. wurde bei Ründeroth im Oberbergischen Kreis am 29./30. 3. 1945 erschossen, weil ihm ebenfalls ein „jüdisches Aussehen“ attestiert wurde. Die DAF-Gauleitung Köln- Aachen zog sich ­gegen Kriegsende nach Atzenhagen bei Wiehl im Oberbergischen Kreis zurück, der HJ-Angehörige Wolfgang M. war als Kurier für die ebenfalls dort befindliche NSDAP-Kreisleitung Bonn tätig. Der DAF-Gauhauptstellenleiter Willi Hessmer räumte bei polizeilichen Ermittlungen sofort ein, M. erschossen zu haben, angeblich weil dieser als Kurier aus der Wohnung des DAF- Dr. Ulrich F. eingemachtes Obst und Lebensmittel in geringen Mengen gestohlen hat- te, im Besitz einer Pistole gewesen sei bzw. weil M. Gespräche von Willi Hessmer und F. angehört hatte, in denen diese über die korrupten Zustände bei der NS- DAP-Gauleitung klagten und eine Anzeige von M. befürchteten. Willi Hessmer gab auch an, der Junge habe „jüdisch“ ausgesehen und sei deshalb „nicht lebens- fähig“ (!) gewesen, er (Hessmer) habe dies beurteilen können, weil er aus der Ju- gendpflege gekommen sei. Wegen der Diebstähle misshandelten Hessmer und Ulrich F. Wolfgang M. und behaupteten anschließend, ihn in ein Wehrertüchti- gungslager der HJ zu überführen. Tatsächlich hatten sie seine Erschießung be- schlossen und befahlen ihm in einem Wald aus dem Auto auszusteigen, Hessmer tötete Wolfgang M. in einem Gehölz mit einem Kopfschuss. Sowohl Willi Hess- mer als auch Dr. Ulrich F. wurden am 23. 1. 1946 wegen Mordes zum Tod verur- teilt: Die Beweggründe waren niedrig, sie wollten die Tötung, um ihr eigenes Le- ben zu retten, da sie fürchteten, M. würde sie bei der NSDAP-Gauleitung an- schwärzen, die Tatausführung war heimtückisch. Vor seiner Hinrichtung am 30. 8. 1946 in Dortmund gestand Willi Hessmer, die Tat allein geplant und ausge- führt zu haben, so dass das Urteil gegen Dr. Ulrich F. aufgehoben wurde und es 1948 zu einer Wiederaufnahme kam. Der Tatbeitrag von Dr. Ulrich F. bestand demzufolge lediglich aus der Fahrt zum Ort der Tötung, die aber ohne Wissen um die von Hessmer geplante Tat erfolgte. Er begünstigte aber die Straftat, indem er in eine nach der Tat von der Kriminalpolizei verlangten schriftlichen Begrün- dung für Ms. Tötung einen aus der Luft gegriffenen Spionageverdacht einführte, um so die polizeilichen Ermittlungen zu beenden und die Bestrafung Hessmers zu vereiteln. Dafür wurde er zu einem Jahr Gefängnis wegen Begünstigung verur- teilt, die Strafe war durch die U-Haft verbüßt.210

209 Vgl. Hannover 2 Js 163/48 = 2 Ks 20/48, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. V, Nr. 175. 210 Vgl. Köln 6 Js 971/45 = 6 KLs 11/45, HStA Düsseldorf – ZA Kalkum, Gerichte Rep. 231/964– 968, vgl. Rüter, Justiz und NS-Verbrechen, Bd. I, Nr. 2; Nr. II, Nr. 65.