IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? Man konnte also sagen, daß die Ereignisse der letzten Zeit an sich nichts Neues darstellten, denn ähnliches war auch früher schon vorgekommen. Aber daß es jetzt mit Billigung der Obrigkeit geschah, war neu und unbegreiflich. Ignazio Silone, Fontamara Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia? Augustinus von Hippo, De Civitate Dei In diesem Kapitel geht es um die Verfolgung der Verbrechen, die an politischen Gegnern, an Geistlichen und an Frauen wegen „verbotenen Umgangs“ verübt wurden, ebenso um die Tötungen, die von den Nationalsozialisten gegen Kriegs- ende begangen wurden. Im Gegensatz zu der rassisch motivierten Verfolgung – Juden oder „Zigeuner“ waren ja von vornherein aus der „Volksgemeinschaft“ aus- geschlossen – , war das Ziel hier die „Gleichschaltung“ und Ausschaltung von Personen, die sich in den Augen der Nationalsozialisten an den Idealen der „Volks- gemeinschaft“ vergingen. Im weitesten Sinne ging es vielfach um die Kontrolle des Privaten – seien es (sexuelle) Beziehungen, Wahlverhalten oder religiöse und politische Einstellungen und Gesinnungen. Wer nicht dem Ideal der nationalen Solidarität zu huldigen schien, bekam die punitive Seite des Konzepts der „Volks- gemeinschaft“ zu spüren. Die große Mobilisierungskraft der „Volksgemeinschaft“ führte zu wüsten Ausschreitungen gegen tatsächliche oder vermeintliche Außen- seiter. Dies griff dabei der ordentlichen Justiz stets vor oder ersetzte sie vollstän- dig. Die „Volksgemeinschaft“ war, wie Ian Kershaw jüngst überzeugend analysiert hat, ein Konstrukt der NS-Propaganda1, Martin Broszat hat schon früher auf den quasi teleologischen Charakter des Begriffs („Volksgemeinschaft“ als „Zielprojek- tion“)2 hingewiesen. In diesem Sinne musste immer wieder neu an die „Volksge- meinschaft“ appelliert werden, ihre Dynamik bedingte, dass stets neue „Feinde“ identifiziert wurden, zu ihrer Realisierung mussten im NS-Sinn irrende „Volks- genossinnen und -genossen“ ausgegrenzt, stigmatisiert und wenn nötig „aus- gemerzt“ werden. Andererseits könnte dagegen argumentiert werden, daß das Modell der „Volksgemeinschaft“ 1933 noch nicht ausgeprägt genug war, um die Kujonierung der politischen Gegner effektiv durchzusetzen, da innerhalb der NS- Bewegung noch unterschiedliche Strömungen vorherrschten – die Gewalt gegen die Regimegegner wäre dann eher als Fortsetzung der Auseinandersetzungen der späten Weimarer Republik zu sehen. Ähnliche Betrachtungen wären zu den ande- ren Themenkomplexen möglich: Religiöse „Dissenter“ wurden nicht nur im Drit- ten Reich ausgegrenzt, „mit dem Feind fraternisierende“ Frauen nicht nur bei den Nationalsozialisten an den Pranger gestellt, ebenso Defätisten nicht nur im Zwei- 1 Vgl. Kershaw, „Volksgemeinschaft“. Potenzial und Grenzen eines neuen Forschungskonzepts. 2 Broszat, Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus, S. 403. 730 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? ten Weltkrieg hingerichtet. Die vorliegenden Überlegungen hinsichtlich der Fra- ge, ob es sich um Verbrechen der „Volksgemeinschaft“ – also um eine spezifisch nationalsozialistische Kriminalität – oder um sicher radikale, aber keineswegs außer gewöhnliche Taten, die analog auch in anderen gewalttätigen Gesellschaften hätten begangen werden können, sind daher keinesfalls abschließend, sondern müßten durch weitere Forschungen überprüft werden. Vielleicht bilden einige der Fälle, die im folgenden erwähnt werden, dazu eine Grundlage. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern 1933 Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch Gegner anderer politischer Cou- leur wurden nur wenige Tage und Wochen nach der „Machtergreifung“ bereits verhaftet, verschleppt und misshandelt, in einigen Fällen kam es sogar zu Tötun- gen. Einrichtungen und Organe der Arbeiterbewegung wie Konsumgenossen- schaften oder Tageszeitungen wurden unter Anwendung von Schusswaffen durch- sucht und verwüstet, linke Parteien und Gewerkschaften verboten und zerstört. Schätzungen gehen davon aus, dass allein 1933 bis zu 100 000 Menschen verhaftet und zeitweise in den frühen Konzentrations- und Schutzhaftlagern festgehalten wurden. Nachdem durch den Terror der Jahre 1933/1934 die politischen Gegner entweder zur politischen Tatenlosigkeit eingeschüchtert, in den Untergrund ge- trieben, zu langjährigen Haftstrafen verurteilt oder bereits ermordet waren, wand- te sich das NS-Regime anderen Abweichlern des nazistischen Ideals der „Volks- gemeinschaft“ zu, seien es Angehörige der bündischen Jugend, Geistliche oder Frauen, die Verhältnisse mit „fremdrassigen“ Männern hatten. Die Ermittlungen zu diesen Straftaten, die meist den Straftatbestand der Frei- heitsberaubung, Körperverletzung, Beleidigung, Nötigung, Sachbeschädigung oder des Landfriedensbruchs erfüllten, und ihre Strafverfolgung wurden im Drit- ten Reich unterdrückt. Anfänglich wurden vielfach noch unmittelbar nach den Ausschreitungen Anzeigen eingereicht. In Wolfstein, wo es am 22. 6. 1933 zu bru- talen Ausschreitungen der SA und Angehörigen eines RAD-Lagers gegen ehema- lige Angehörige des Stahlhelms und einen katholischen Pfarrer kam, in deren Fol- ge ein Stahlhelmführer nach schweren Körperverletzungen am 4. 7. 1933 an einer Blutvergiftung starb, hatte die Gendarmerie schon tags darauf Anzeige beim Bezirksamt erstattet, auch eines der Opfer zeigte am 27. 6. 1933 die Tat an. Zwar wurde gegen einen Beschuldigten noch die Voruntersuchung eröffnet, das Verfah- ren dann aber im September 1933 vom LG Kaiserslautern eingestellt. Im Dezem- ber 1946 nahm die Staatsanwaltschaft die Ermittlung gegenüber 40 Beschuldigten wieder auf.3 In Rosenheim wurde am Abend des 29. 5. 1936 ein Kaplan Opfer 3 Vgl. Kaiserslautern 7 Js 84/47 = KLs 41/48, Ks 8/50, Ks 9/50, AOFAA, AJ 3676, p. 38; siehe auch „Wolfstein“, in: Rheinisch-Pfälzische Rundschau, 16. 8. 1948; „Die Ausschreitungen am 22. Juni 1933 in Wolfstein. Zwei Angeklagte vor dem Schwurgericht – Die Mißhandlung der Stahlhelmführer und der Tod Franz Klingers“, in: Pfälzische Volkszeitung, 20. 4. 1950. 1. Verbrechen an den politischen Gegnern bis 1933 731 einer „Demonstration“, in deren Verlauf zunächst Steine auf sein Wohnhaus ge- worfen wurden, bis die von SA und SS geführte Menge in sein Haus eindrang, Demolierungen vornahm und die Polizei den Geistlichen in „Schutzhaft“ nahm. Noch auf dem Weg zur Polizeistation wurde er bespuckt, beschimpft und geschla- gen. Der Pfarrer hatte den „Volkszorn“ verursacht, indem er einen HJ-Angehöri- gen geschlagen hatte, der die Sonntagsmesse nicht besucht hatte. Das nachfol- gende Ermittlungsverfahren4 wurde durch „Führererlaß“ vom 10. 3. 1937 nieder- ge schlagen.5 Wenn die Verfahren im Dritten Reich nicht „durch Niederschlagung“ beendet wurden, griffen die reichsweiten Amnestien. Ein noch in der NS-Zeit an- hängig gewordenes Verfahren6 wegen der Ausschreitungen gegen einen politisch missliebigen Apotheker am 13. 4. 1938 in Regen hatte mit dem Straffreiheitsgesetz vom 30. 4. 1938 sein Bewenden, erst 1947 konnte es wiederaufgenommen wer- den.7 Die Amnestien erstreckten sich auch auf Fememorde vor 1933. Ein Angehö- riger der Stabswache des SS-Abschnitts IV Braunschweig, Walter Kampe, war am 12. 10. 1932 im Sickter Forst bei Braunschweig als angeblicher Verräter auf Befehl des SS-Oberführers Friedrich Jeckeln von einem anderen Mitglied der Stabs- wache, Walter Kau., getötet worden. Der Führer des SS-Abschnitts IV, Friedrich Jeckeln, stattete Kau. dazu mit Pistole und Munition aus, erinnerte Kau. ange- sichts von dessen Einwendungen an den Diensteid und äußerte sinngemäß: „Er- statten Sie mir Vollzugsmeldung! Das weitere erledige ich! Kommen Sie mir nicht mit der Ausrede, Sie hätten es nicht geschafft, dann müssen Sie selbst dran glau- ben.“ Walter Kau. spiegelte seinem Opfer vor, er wolle sich von der SS abwenden und bereite seine Flucht vor. So wiegte er Walter Kampe in Sicherheit. Gemein- sam ließen sie sich mit einem Auto in den Wald fahren, wo Walter Kau. sein Op- fer mit sieben Schüssen in Kopf, Brust und Bauch niederstreckte. Der Fahrer des Autos erstattete am 14. 10. 1932 Anzeige. Walter Kau. floh mit Jeckelns Hilfe mit dem Zug nach München, von dort wurde Kau. zur österreichischen Grenze ge- bracht und gelangte über einen Verbindungsmann in Innsbruck nach Malcesine am Gardasee, wo in einer von der NSDAP gemieteten Villa zahlreiche in Deutsch- land gesuchte Straftäter lebten, die unter Leitung von SS-Oberführer Theodor Ei- cke militärische und politische Schulungen erhielten. Nach der „Machtergreifung“ kehrte Eicke mit dem Gros der Männer aus Malcesine zurück, Walter Kau. reiste erst im April 1933 nach Deutschland und wurde unter Jeckeln bei der SS-Stabs- wache der SS-Gruppe Süd in München eingesetzt. Das gegen Walter Kau. anhän- gige Verfahren8 wurde aufgrund der Verordnung des Reichspräsidenten über die Gewährung von Straffreiheit vom 21. 3. 1933 eingestellt, Kau. am 29. 11. 1933 in ein festes Beamtenverhältnis bei der bayerischen Politischen Polizei übernommen, 1934/1935 war er beim Gestapa in Berlin als Kriminalpolizeihauptwachtmeister 4 Vgl. Traunstein 1 Js 96a–k/36. 5 Vgl. Traunstein 2 Js 2375–2384/47, StA München, StAnw 16046. 6 Vgl. Deggendorf 2 Js 181/38. 7 Vgl. Deggendorf 1 Js 909/47 = KMs 5–13/47. 8 Braunschweig 1 F 699/32. 732 IV. Ahndung von Verbrechen im Rahmen der Formierung der „Volksgemeinschaft“? beschäftigt. Als er aber durch Betrug, Untreue und Unterschlagung straffällig wur- de, ließ ihn die Partei fallen, er wurde 1937 aus NSDAP und SS
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