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Sendung vom 16.02.1999

Klaus Bölling Journalist im Gespräch mit Dr. Johannes Grotzky

Grotzky: Herzlich willkommen zum heutigen Alpha-Forum, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, heute mit Klaus Bölling. Herr Bölling, Sie sind stets Journalist geblieben, obwohl Sie zwischendurch und lange Zeit Regierungssprecher der Regierung Schmidt und Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin in schwieriger Zeit waren. Heute sind Sie wieder publizistisch tätig. Es hat Sie ziemlich herumgetrieben: Berlin, Potsdam, Köln, Hamburg, Belgrad, Washington, Bonn. Wo sind Sie zu Hause? Bölling: Ich habe ein sehr starkes brandenburgisches Heimatgefühl, weil ich in Potsdam geboren worden bin und weil ich eine sehr preußisch-konservative Mutter hatte und auch in der Garnisonskirche getauft worden bin. Ich habe eine starke Beziehung zu dieser sehr kargen Landschaft, von der Franz Josef Strauß einmal gesagt hat, als bei ihm hier in Bayern schon der Barock blühte, haben sich in Brandenburg noch die Tiere ihren Rücken an den Fichten gescheuert. Ich habe zu Brandenburg eine starke Beziehung, weil ich in meiner Schulzeit und auch in einer kurzen Zeit als Jungvolkführer mit 14 Jahren viele Fahrten in diesem Land Brandenburg gemacht habe. Ich habe die Mark Brandenburg schon vor dem Krieg und dann während des Krieges auf Schulfahrten erwandert. So karg diese Landschaft ist - Sie haben als Münchner eine viel schönere Umgebung -, ich hänge sehr an Brandenburg, und seit man nach der Vereinigung als Berliner Brandenburg erleben kann, bin ich viele Male auf den Spuren des großen Theodor Fontane durch die Mark gewandert oder mit dem Fahrrad gefahren. Grotzky: Für Sie muss die deutsche Vereinigung etwas ganz Besonderes sein, denn Sie waren betroffen von der Teilung Deutschlands und haben sich auch für die Überwindung einer gewissen Form der Sprachlosigkeit zwischen der Bundesrepublik und der DDR eingesetzt. Sie haben in einer schwierigen Zeit als Leiter der Ständigen Vertretung in Berlin gelebt. Mit welchem Gefühl betrachten Sie heute die neuen Bundesländer, obwohl ich mich eigentlich weigere, sie als neu zu bezeichnen, denn sie sind ein Teil Deutschlands? Bölling: Sie haben völlig Recht. Es ist eine modische und eigentlich nur oberflächliche Betrachtung und Bezeichnung. Preußen, Sachsen und Thüringen sind alte deutsche, historische Landschaften. Es ist abwegig, von neuen Bundesländern zu sprechen. Nur in einem bürokratischen, formalistischen Sinn sind sie neu, weil sie beigetreten sind. Ich bin an dem Tag, als die Mauer fiel, so wie viele andere Deutsche sehr glücklich gewesen und konnte es eigentlich nicht fassen. Es war auch merkwürdig, dass ein Mitglied des Politbüros eigentlich aus Versehen die Reisefreiheit verkündete und damit den Menschenstrom aus Ostberlin nach Westberlin eröffnete. Ich habe immer daran geglaubt, dass diese widernatürliche Teilung eines Tages überwunden werden würde, aber ich habe so wenig wie die Leute, die viel klüger sind als ich, daran geglaubt, dass ich es noch erleben würde. Grotzky: Ihr Weg hätte auch ganz anders verlaufen können. Als junger Mann sind Sie in einer Familie groß geworden, von der man sagen kann, dass Sie unter der Naziverfolgung gelitten hat. Sie waren auch in jungen Jahren Mitglied der SED. War damals Sozialismus die Antwort auf das, was der Faschismus zerstört hat? Bölling: Ja, das ist richtig. Ich habe den Nationalsozialismus erst nach dem Krieg kritisch betrachtet. Meine Eltern haben es für richtig gehalten, mit mir über Politik nicht zu sprechen. Ich erwähnte schon, dass ich eine sehr preußisch- konservative Mutter hatte, die aus einer jüdischen Familie kam, die aber ihre jüdische Herkunft wie so viele deutsche Juden verschleierte. Sie hatte auch keinerlei Beziehung zur jüdischen Religion, aber dadurch, dass sie sich irgendwann in einem Kreis, in dem es eine Person zu viel gab - und das war eine Denunziantin -, kritisch über den Hitlerstaat äußerte, wurde sie verhaftet und kam in das Lager Auschwitz, obwohl sie eigentlich eine ganz unpolitische Frau war. Mein Vater wiederum hatte sehr enge Kontakte zu einigen Männern des 20. Juli und wurde, weil man in den Telefon- und Notizbüchlein des Grafen von der Schulenburg seinen Namen und Telefonnummer fand, verhaftet, aber er wurde dann wieder freigelassen. Mein Vater gehörte nicht zum Widerstand, denn er war zu ängstlich. Aber er sympathisierte mit einigen der Männer des 20. Juli, ohne dass er selber aktiv geworden wäre. Meine Familie hatte es schwer in der nationalsozialistischen Zeit. Mein Vater wurde 1934 wegen des so genannten “Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” aus dem Staatsdienst entlassen. Nach dem Krieg - zunächst hielt nur die Rote Armee Berlin besetzt, bis im Sommer 1945 Amerikaner, Engländer und Franzosen kamen - sind wir jungen Leute natürlich ungeheuer wissbegierig gewesen und fragten uns, was der Sozialismus eigentlich ist. Schon weil, wie Kurt Schumacher später gesagt hat, sich in Deutschland niemals der Schrecken der vergangenen zwölf Jahre wiederholen darf, gab es bei vielen jungen Menschen eine Affinität für das so klar gegliederte marxistische Denksystem. Die Mehrwerttheorie leuchtete jedem halbwegs intelligenten Studenten ein und dass der Sozialismus die Menschen frei macht, sie von Repression erlöst und ihnen die Möglichkeiten einer Entwicklung ihrer Person gibt, wenn auch im großen gesellschaftlichen Kollektiv, hatte eine starke Faszination. Deshalb bin ich mit 17 Jahren nicht in die SED gegangen – die gab es noch gar nicht – sondern im Spätsommer 1945 in die KPD eingetreten. Für mich war damals auch ein ganz wesentliches Motiv: Kommunisten sind in dieser Partei, die mit dem Faschismus, mit dem Hitler-Staat und dessen Relikten am ehesten und entschlossensten aufräumen werden. Grotzky: Nun hat aber diese Phase offensichtlich nicht sehr lange gedauert. Es gibt in verschiedenen Artikeln Hinweise, dass Sie mit großem Krach diese Partei wieder verlassen haben. Was war der Anlass dafür? Bölling: Der Anlass war, dass ich mich, obwohl nicht im Besitz des Abiturs, damals schon einer studentischen Gruppe an der Berliner Universität angeschlossen hatte. Dort bemerkte man nach einigen Monaten, wie die Kommunisten versuchten, die anderen studentischen Gruppen zu diskriminieren und mundtot zu machen, nämlich die Sozialdemokraten, die Christdemokraten, die katholischen Studenten in Berlin - die Anfänge der Studentenbewegung wurden in die Ecke gedrängt. Ich habe das damals schon so erlebt mit stalinistischen Repressionsmethoden. Das war nicht meine Vorstellung von einem Sozialismus, wie ihn die große Rosa Luxemburg gedacht hat mit dem berühmten Satz: “Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden”. Obwohl ich die Möglichkeit gehabt habe, in der neu gegründeten FDJ aufzusteigen, habe ich mir gesagt, dass das nicht meine Partei ist, sondern eine Partei, die ganz offenkundig nicht bereit ist, sich von stalinistischen Praktiken abzuwenden. Die FDJ, die ich zunächst wirklich verstanden habe als eine Sammlungsbewegung der antifaschistischen deutschen Jugend, war nach kurzem mühelos zu identifizieren als eine Neuauflage des kommunistischen Jugendverbandes. Ich schrieb dann an den für Kulturfragen zuständigen Sekretär der KPD einen Brief. Der Brief war ein bisschen wichtigtuerisch - allerdings will ich mir zu Gute halten, dass ich dieses eben zitierte Luxemburg-Wort damals schon in meinem etwas altklugen Brief verwendet habe. Grotzky: Machen wir einen kleinen Sprung. Sie haben dann Karriere gemacht als Journalist, waren recht erfolgreich und wurden 1956 Korrespondent in Belgrad. Mit Belgrad verbinde ich bei Ihnen den Namen Wehner. Hat Wehner Ihr politisches Schicksal letztlich mitbeeinflusst? Bölling: Ja, das ist richtig. Als mich die ARD als ihren ersten Korrespondenten auch für den Bayerischen Rundfunk nach Belgrad schickte, hat mich - natürlich, weil ich bis dahin sehr viel Literatur gelesen hatte über diesen Sozialismus und über die vielfältigen Formen des Sozialismus - der so genannte “Dritte Weg”, den Tito wesentlich angeschoben hat, sehr interessiert. Ich dachte vielleicht, nachdem ich selber so enttäuscht wurde durch den stalinistischen, preußischen Kommandosozialismus, dass es hier etwas Neues gibt, dass der Mensch wirklich in seiner Individualität respektiert wird, dass Freiheitsrechte verbürgt sind und dass man versucht, die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - große Erbschaften der Französischen Revolution - in Jugoslawien umzusetzen. Ich war damals noch sehr idealistisch gestimmt und dieses “jugoslawische Abenteuer” hat mich genau wie Wolfgang Leonhard sehr beeindruckt. Ich bewunderte auch den Mut der serbischen Kommunisten, die sich als Zwerge dem großen Stalin und später auch Russland entgegenstellten. Ich habe dann dort 1956 kennen gelernt. Er kam zu Besuch nach Belgrad, um dort eine Art Reunion mit dem Marschall Josip Broz Tito zu feiern. Das war ein Wiedersehen, denn die beiden kannten sich seit der Moskauer Emigration und haben sich dort viele Male im Hotel Lux getroffen. Mit Herbert Wehner habe ich damals viel geredet über den Dritten Weg der Jugoslawen zum Sozialismus, wobei ich selbstkritisch sagen will, dass ich hauptsächlich zuhörte. Wehner kam dann von Jugoslawien auf den Kommunismus in unserem Vaterland im östlichen Teil Deutschlands. Ich war sehr beeindruckt von den Visionen Wehners. Man hat ihm oft unterstellt, er sei ein großartiger politischer Praktiker, aber kein Visionär. Ich aber war beeindruckt von den Horizonten, die er für ein vereinigtes Deutschland damals schon, Mitte der fünfziger Jahre, mir, dem gerade 25-jährigen Journalisten, entwickelt hat. Die Persönlichkeit dieses Mannes hat mich sehr stark beeindruckt und das hatte sicherlich damit zu tun, dass ich wie viele junge Männer unbewusst auf der Suche nach einer Art Vaterfigur war. Grotzky: Wie weit konnten Sie dann Ihr politisches Engagement, Ihre Überzeugung trennen oder in Einklang bringen mit Ihrer journalistischen Aufgabe? Ich habe aus einer sehr konservativen Zeitung, dem “Bayernkurier”, aus der damaligen Zeit ein Zitat herausgesucht. Da steht: “Seit Bölling Genosse wurde, war er als Journalist kaum mehr erträglich.” Ich möchte das noch ergänzen: In Ihrer Zeit als Korrespondent in Washington stand vor allem die konservative Presse in Deutschland Ihrer Berichterstattung sehr kritisch gegenüber, vor allem im Hinblick auf den Vietnamkrieg, mit dem Sie sich ausführlich beschäftigten. Sahen Sie sich ein wenig als Missionar in Ihrer journalistischen Tätigkeit? Bölling: Mir ist das nicht nur von diesem ungeheuer “progressiven” Blatt “Bayernkurier” über die Jahrzehnte vorgehalten worden. Ich habe, um es an einem Namen deutlich zu machen, niemals den Ehrgeiz gehabt, den ein so tüchtiger Journalist wie Gerhard Ruge immer hatte. Ich habe auch vor einigen Jahren mit dem kürzlich verstorbenen, großartigen Fernsehjournalisten Hajo Friedrichs darüber gesprochen, der einmal gesagt hat, der Journalist dürfe in keinem Fall Partei ergreifen. Er dürfe sich nicht mit einer bestimmten politischen Position identifizieren. Auch wenn sie ihm sympathisch sei, dürfe er es nicht erkennen lassen. Ich will den unbekannten Kritiker des “Bayernkurier” auch nach so langer Zeit korrigieren: Ich habe mich, nachdem ich 1959 in die sozialdemokratische Partei eingetreten war, niemals dem begründeten Verdacht ausgesetzt, dass meine politischen Meinungen, die ich im Radio und Fernsehen geäußert habe, beeinflusst seien oder sich ausrichteten an sozialdemokratischen Positionen. Ich war und bin es bis heute geblieben: ein sehr meinungsfreudiger Journalist. Nun, Sie haben vom Vietnamkrieg und der Berichterstattung gesprochen. Es waren überwiegend die konservativen Blätter und natürlich auch rechte Blätter, die mir vorgehalten haben, dass meine Berichterstattung über den Vietnamkrieg aus Washington tendenziös gewesen sei. Ein großer deutscher Politiker, nämlich Franz Josef Strauß, hat nach meiner Berufung zum Regierungssprecher von im Juni 1974 im Deutschen Bundestag - nicht um mich zu kränken, denn mich mochte er sehr gerne, wie sich später herausstellte, aber um Helmut Schmidt eins auszuwischen - gesagt: “Herr Bundeskanzler, es ist bezeichnend für Sie und Ihren Regierungsstil, dass Sie sich einen Regierungssprecher geholt haben, der über Jahre versucht hat, das Amerikabild der Deutschen feindselig zu manipulieren.” Ich habe als Berliner, damals als jüngerer Mann, lange Zeit wirklich geglaubt, dass in Vietnam auch die Freiheit Berlins verteidigt werde. Wir waren dort wie eingemauert, politisch isoliert. In Amerika habe ich dann nach zwei Ausflügen nach Vietnam selber begriffen, dass es tatsächlich ein Kolonialkrieg war und dass es nicht um die Verteidigung unseres westlichen Freiheitsbegriffes ging, sondern dass es ein großes Repressionsmanöver war. Ein Mann wie Robert McNamara hat vor einem Jahr in seinem Buch “Retrospektive” zugegeben, dass es ein unmoralischer Krieg war. Was mich dann ein bisschen erstaunt hat: dass der Mann, der heute über 70 Jahre alt ist, einfach nach 40 Jahren, obwohl er selbst beteiligt war an der Kriegsführung, sagt: “Sorry, tut mir leid, aber für uns war eben Krieg”. Grotzky: Wir erwähnten schon Ihre Berufung in den Stand des Regierungssprechers. Was hat Sie gereizt, den Schritt vom Journalisten in die Politik zu tun? Bölling: Das ist sehr einfach zu erklären und auch sehr banal. Genau wie mein Freund Konrad Ahlers, der Regierungssprecher von und frühere stellvertretende Chefredakteur des Hamburger “Spiegel”, war ich neugierig auf das innere Machtgefüge. Es war mir irgendwann nicht mehr genug, nur als Journalist zu arbeiten, zu schildern, zu interpretieren und zu analysieren. Das war eigentlich und ist bis heute meine Leidenschaft geblieben. Ich hatte den Wunsch irgendwie mitzumachen, Politik nicht nur zu beschreiben, sondern wenn möglich auch selbst als ganz kleines Rad etwas Einfluss zu nehmen. Deshalb habe ich, als mich Helmut Schmidt während einer Intendantentagung in Baden-Baden anrief, zugesagt. Grotzky: Sie hatten Ihre journalistische Karriere bis zum Intendantenamt bei Radio Bremen durchlaufen. Als jetzt ein Regierungswechsel von Bundeskanzler Kohl zur SPD-geführten Regierung der sozial-grünen Regierung unter Bundeskanzler Schröder stattfand, hat die “Süddeutsche Zeitung” ein großes Foto von Ihnen mit Helmut Schmidt veröffentlicht mit der Unterschrift “Der einflussreiche Mann hinter Schmidt”. Waren Sie, der ja oft vom Kleeblatt gesprochen hat, mehr als nur Zuhörer bei ihm? Bölling: Ja, das darf ich, ohne dass ich meine Rolle übertreibe und schöne, wohl sagen. Die SZ war sehr liebenswürdig, denn das suggerierte ja, dass es außer mir keine einflussreichen Männer hinter Schmidt gegeben hat, aber das wäre natürlich eine mächtige Angeberei. Für die vielen Frustrationen, die jeder Regierungssprecher erlebt, ist es eine Kompensation, eine Entschädigung, wenn man von einem Regierungschef als Berater respektiert wird. Diese Rolle müssen Sie sich erst verdienen, denn nicht nur Helmut Schmidt - das wird auch für oder Willy Brandt gegolten haben - akzeptiert nur eine Personen – ob Mann oder Frau – als Ratgeber, wenn der Rat wirklich durchdacht ist und er damit etwas anfangen kann. Der pure Widerspruch reicht nicht, wenn man mit einem Regierungschef diskutiert. Man muss, wenn dessen Position einem nicht einleuchtet, eine Gegenposition entwickeln, dann hat man die Chance, den Regierungschef von seiner Auffassung vielleicht abzubringen oder die Auffassung des Bundeskanzlers in wichtigen Punkten zu modifizieren. Diese Chance hatte auch ich. Da saß noch Manfred Schüler, der Chef des Bundeskanzleramtes, seit eineinhalb Jahrzehnten bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau in Frankfurt, und der überall in Deutschland bekannte und beliebte Hans-Jürgen Wischnewski. Wir drei haben mit dem damaligen Bundeskanzler sehr freimütig geredet, und es ist keine Heldenverehrung, wenn ich sage: Helmut Schmidt hat uns auch zum Widerspruch eingeladen, zwar nicht aus Gründen der Fasson, weil sich das immer gut macht, sondern weil er es schätzte, dass man über schwierige, sensitive Fragen, z. B. damals über den Milliardenkredit an Polen, diskutierte. Er war sich nicht immer sicher, dass eine Position nun auch sofort in die Regierungspolitik umgesetzt werden müsse. Da hat er Widerspruch verlangt, ihn gefordert und auch bekommen. Grotzky: Von Bundeskanzler Brandt zu Bundeskanzler Schmidt ist ein sehr markanter Unterschied zu verzeichnen gewesen. Ich würde es so beschreiben: vom Idealisten zum Realisten, auch wenn das nicht in allen Dingen so stimmt. Wie weit hat sich die Spannung, die dort bestand, die auch in der Partei nach dem Wechsel vorhanden war, im Regierungsapparat niedergeschlagen? Hat Schmidt unangefochten regieren können oder kann man rückblickend sagen, dass die Spannungen, die sich aus dem Verhältnis Brandts zu Schmidt ergeben haben, sich unmittelbar in der Regierung niederschlugen? Bölling: Ja. Es wäre eine Verklärung der Amtszeit von Helmut Schmidt, und an der möchte ich mich nicht beteiligen, wenn man sagte, dass dieses Verhältnis zwischen dem Idealisten Willy Brandt und dem Pragmatiker Helmut Schmidt spannungslos gewesen sei. Nein, es gab deshalb eine Spannung, weil Willy Brandt eine große Vaterfigur für die gesamte Partei und vor allem für die jungen Linken gewesen ist. Er hat beide Arme ausgebreitet und gesagt: Kommt alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und meinte damit nicht nur die Jugend. Die Jusos wiederum, zu denen vor allem auch der gegenwärtige Bundeskanzler Schröder gehörte, waren unter Helmut Schmidt schon ein großes Ärgernis. Natürlich nicht das Hauptärgernis, aber es gab eben doch in der Bundestagsfraktion viele Linke, die reformerische Ideen von Willy Brandt vertraten unter dem Motto “Mehr Demokratie wagen”. Als Helmut Schmidt die Kanzlerschaft übernahm, war man sich darüber klar und hat daraus auch keinen Hehl gemacht gegenüber der eigenen Partei und Fraktion, dass die Möglichkeit zu weiteren Reformen begrenzt sei, d. h. er wusste, dass der finanzielle Handlungsspielraum eng geworden war. Da entstanden natürlich Spannungen. Die beiden Männer waren extrem unterschiedliche Temperamente und Charaktere, schon nach ihren Biographien. Grotzky: Wurden dabei auch Gefühle verletzt? Bölling: Ich denke schon. Historiker, die sich irgendwann im nächsten Jahrtausend mit dieser Phase der deutschen Geschichte beschäftigen, werden schon finden, dass dann und wann auch Gefühle verletzt worden sind. Es gab in der politischen Arbeit ungemein große Unterschiede zwischen Brandt, Wehner und Schmidt. Die drei Männer waren nicht immer in schönster Harmonie, weil ihre Biographien so völlig unterschiedlich waren. Willy Brandt war sehr leicht zu verletzen, Herbert Wehner hatte eine sehr dünne Haut, der Robusteste von allen Dreien war sicherlich Helmut Schmidt. Ich erinnere mich, als ich bei Wehner zu einem Gespräch war, hatte er sich über den Bundeskanzler mächtig geärgert und sagte im Zorn zu mir: “Sagen Sie Ihrem Herrn Oberleutnant mal ...” Grotzky: In der Ära Schmidt hat sich der politische Terrorismus bedrückend zugespitzt. Es passierte der Schleyer-Mord, zuvor starb Holger Meins an einem Hungerstreik, von Drenkmann war erschossen worden, Lorenz entführt. Wie stark hat Schmidt die Sache menschlich erlebt oder wie stark konnte er damit umgehen? Wie eng waren Sie betroffen in der Zeit, als Sie politische Verantwortung trugen? Bölling: Ich muss ein bisschen abwehren gegenüber dem Wort “betroffen”. Ich bin Jahrgang 1928 und war für einen richtigen, authentischen Achtundsechziger schon ein bisschen zu alt. Es liegt sicherlich an meiner Erziehung durch meinen preußisch denkenden Juristenvater, dass ich mich nach dem Krieg mit dem neuen demokratischen Staat sehr identifiziert habe. Diese kritische Reserve der klassischen Achtundsechziger hatte es bei mir so also niemals gegeben. Ich habe gleich nach dem Krieg als Journalist die Chance gehabt - unter dem Motto “Neues Leben blüht aus den Ruinen” - bei dem Aufbau einer neuen, freiheitlichen Gesellschaft im Westen Deutschlands mitzuwirken. Insofern waren mir die Ideen der “Roten Armee Fraktion” sehr fremd. Ich habe in Hamburg zweimal, lange ehe sie sich der militanten RAF zugesellte, in Journalistenzirkeln mit Ulrike Meinhof gesprochen und war damals beeindruckt von ihrer scharfen Intelligenz und ihrer großen und sehr echten Emotionalität. Diese Frau hat bei mir einen starken Eindruck hinterlassen. Insofern will ich auch heute noch, nach mehr als 20 Jahren sagen, dass es ein Fehler von uns, die wir damals für die Regierung gearbeitet haben, war, dass wir die RAF gewissermaßen immunisiert haben. Es ist nicht zu übersehen, dass z. B. Meinhof, Bader und Ensslin von idealistischen Positionen ausgegangen sind, bis dann eines Tages Ulrike Meinhof gesagt hat: “Bullen sind keine Polizisten, sondern Schweine, und es darf auf sie geschossen werden.” Da kam bei mir ein ganz großer Zorn. In dem großen Beratungskreis, zu dem Helmut Kohl und Franz Josef Strauß gehörten, unter Vorsitz des Kanzlers Helmut Schmidt hatte ich die Aufgabe übertragen bekommen, das Geschehen nach Außen darzustellen. Meist war ich ein großer Schweiger, aber die deutschen Medien haben sich an mich gehalten. Ich habe meine Gefühle dabei – das war meine selbstverständliche Pflicht – modifiziert, zurückgehalten und mich um größte Sachlichkeit bemüht - wie auch später in der Diskussion nach den Selbstmorden der RAF-Täter in Stadelheim. Ich habe mich immer um ein differenziertes Bild bemüht und habe niemals die Ursachen der RAF unterschätzt oder verdrängt, aber es blieb doch ein großer Zorn. Ich weiß wohl, dass es damals in der Bundesrepublik nach den verschiedenen Morden bei manchen Menschen eine Art Lynchstimmung gegeben hat. Das hat mich allerdings sehr erschreckt. Der Bundeskanzler hat damals eine Rede gehalten im Deutschen Bundestag, an der ich kräftig mitgewirkt habe. In dieser Rede kam der Satz vor: “Wir werden in der Abwehr des Terrorismus bis an die Grenze der rechtsstaatlichen Möglichkeiten gehen.” Das war damals auch meine Überzeugung, wobei ich heute einräume, dass es natürlich ein etwas heikler Satz war. Es haben viele Liberale und Linke in Deutschland den Argwohn gehabt, in Wahrheit wolle Schmidt und womöglich erst recht Franz Josef Strauß die Grenzen des Rechtsstaates hinter sich lassen und womöglich mit autoritären oder totalitären Methoden dem Terrorismus entgegentreten. Das aber ist nicht passiert. Grotzky: Bei der Entführung von Peter Lorenz, dem Berliner CDU-Vorsitzenden, hat der Staat nachgegeben. Bei der Entführung von Schleyer ist der Staat hartgeblieben und Schleyer wurde ermordet. War das eine falsch, das andere richtig, oder war beides zu seiner Zeit richtig? Bölling: Es war beides wohl unausweichlich, aber Sie haben Recht und vor Ihnen haben viele darauf hingewiesen, dass da ein innerer Widerspruch sei. Nach der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz waren Helmut Schmidt als Bundeskanzler und Hans-Jochen Vogel der Meinung, der Staat dürfe den Forderungen der Terroristen nicht nachgeben, während der Berliner Bürgermeister und Helmut Kohl - damals noch Ministerpräsident von Rheinland Pfalz - gesagt haben: “Nein, wir müssen das Leben von Peter Lorenz retten.” Bundeskanzler Schmidt hat sich nicht durchgesetzt, aber seine Linie war damals schon, dass man den Terroristen nicht nachgeben darf, auch auf das Risiko hin, dass die Geisel, die sie genommen haben, dabei das Leben verliert. Nachher gab es eine Übereinstimmung im großen Beratungskreis - also auch bei den Mitgliedern der Opposition, der CSU und CDU -, dass man nicht nachgeben dürfe. Helmut Kohl hat sich mit der Entscheidung, nämlich Bundeskanzler Schmidt den Rücken zu stärken, schwer getan, weil er ein sehr enges menschliches Verhältnis zu Schleyer hatte. Ich war mir zeitweilig nicht darüber im Klaren, ob wir das Recht haben, das Leben von womöglich zu riskieren. Uns allen, die mit dieser Verantwortung damals beladen waren, war vom ersten Tag an klar, dass die Ziele, die wir uns gesteckt hatten - nämlich die Terroristen zu verfolgen und dingfest zu machen, das Leben von Schleyer aber zu retten und den Bürgern in Deutschland das Gefühl zu geben, dass wir vor den Terroristen nicht in die Knie gehen -, wenn man sie ganz streng analysierte, nicht zu vereinbaren waren. Das hat sich dann auch gezeigt. Ich habe verschiedentlich im Laufe meiner Biographie überlegt, ob ich in die Politik gehen sollte, und habe es dann doch nicht getan, bin ein Grenzgänger zwischen Journalismus und Politik geblieben, weil ich dafür einfach nicht robust genug bin. Grotzky: Aber dennoch haben Sie zwar nicht als Politiker, aber doch in der Politik zu tun, auch als Leiter der Ständigen Vertretung in Ostberlin. Sie sind Grenzgänger im mehrfachen Sinne. Es gibt aus dieser Zeit viele Interviews, Beschreibungen, Artikel, die Sie selbst verfasst haben. All dem entnehme ich, dass Sie mit der Existenz der DDR zu Rande kommen wollten und mussten, zugleich aber auch meinten, dass eines Tages der Sozialismus nicht an unsere Türe, sondern möglicherweise unser System an die Tür der DDR klopfen würde. Hatten Sie damals vor, die DDR zu stabilisieren, oder hatten Sie etwas anderes im Kopf? Bölling: Sie wissen selbst, ich war nicht der Architekt der Politik der Bundesregierung, das war Willy Brandt, unterstützt von manchen anderen politischen Köpfen. Ich habe versucht, in dieser kurzen Zeit als Vertreter der Bonner Regierung in Ost-Berlin klar zu machen, dass wir eine friedliche Koexistenz wollen: Wir hatten nicht die Absicht, hier bei Nacht und Nebel über die Elbe zu schwimmen und die DDR zu unterwandern. Ich habe das schon ehrlich gemeint, aber zugleich war mir immer klar, dass die DDR eine richtige Diktatur war. Das haben nicht alle, die sich mit Deutschlandpolitik beschäftigt haben, so gesehen. Es gibt bis heute Leute in Westdeutschland, die die DDR als den besseren deutschen Staat ansehen. Das halte ich und habe es damals schon für abwegig gehalten. Sie haben eine kesse Bemerkung von mir zitiert: Als ich Diplomatenstatus hatte, hat Honecker einmal zu mir gesagt: “Eines Tages wird der Sozialismus an Ihre Tür klopfen.” Ich erwiderte: “Herr Vorsitzender, das kann auch umgekehrt sein.” Die anderen Politbüromitglieder erstarrten alle, da das eine Majestätsbeleidigung war. Da fiel ihm nichts mehr ein, da er nicht schlagfertig war. Ich habe gerade wegen meines Exkurses in die Politik, der mit 49 Jahren endete, den Kommunismus immer als den permanenten Gegner nicht nur der Sozialdemokratie, sondern der ganzen westlichen Ordnung angesehen. Der damalige Außenminister der DDR, Oskar Fischer, hat einmal gesagt: “Der Bölling benimmt sich hier wie ein Reichsstatthalter.” Das war natürlich eine Karikatur meiner Tätigkeit dort, aber ich habe immer klar gemacht, dass die 17 Millionen Deutschen eines Tages genau wie wir in der alten Bundesrepublik die Französische Revolution erleben sollten, nämlich Freiheit und Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und Gedankenfreiheit. Daraus habe ich nie einen Hehl gemacht. Ich habe mich in der relativ kurzen Zeit auch sehr um Kontakte mit einfachen DDR-Bürgern bemüht. Das hat denen dort überhaupt nicht gefallen. Grotzky: Kommen wir noch einmal zu einer Person der deutschen Geschichte, die ein wenig verloren zu gehen scheint, nämlich Erich Honecker, ein Mann, mit dem Sie häufig Gespräche führten. War Honecker als Gesprächspartner in erster Linie eher ein starker Politiker mit einer Vision oder war er eine Marionette Moskaus? Bölling: Sicherlich war er keine starke politische Figur, aber er war er selber, auch als er Walter Ulbricht mit ganz massivem stalinistischem Handwerkszeug verdrängt hatte, war er die stärkste Figur gemessen an den anderen, deren Bedeutung wir im Westen unterschätzten. Eine große, starke Persönlichkeit war er nicht. Er war immer gehorsam gegenüber Stalin, er war gehorsam gegenüber Breschnew und dessen Nachfolger. Er war kein Löwenherz, aber er hatte doch eine Art von Gefühl für gesamtdeutsche Themen. Seine Herkunft aus dem Saarland hat er nie verleugnet. Er hat auch irgendwann einmal gesagt, als wir innerdeutsche Abrüstung diskutiert haben, dass man das Teufelszeug, nämlich die Mittelstreckenraketen, aus beiden Teilen Deutschlands herausholen müsse, um die Gefahr eines innereuropäischen Konfliktes zu mindern. Da hat er ganz vorsichtig auch schon einmal Widerspruch gegenüber Moskau gewagt, aber wirklich sehr vorsichtig. Er war auf seine Weise ein linientreuer Kommunist, sicherlich keine überdurchschnittliche Intelligenz, aber in einer gewissen Weise war er so etwas wie ein deutscher Patriot. Als die Materialien nach der Wiedervereinigung der Politbürositzungen öffentlich wurden, habe ich mein Urteil auch etwas modifiziert. Ich habe vielleicht meine Erlebnisse und Erfahrungen der DDR mit Honecker ein bisschen schöner dargestellt, als er es verdiente, aber mir hat sich das damals so präsentiert, dass er z. B. bei dem für uns ganz wichtigen Häftlingsaustausch und bei der Familienzusammenführung den Wünschen von Herbert Wehner, Franz Josef Strauß, Kohl oder Weizsäcker nachgekommen ist. Das milderte nicht den totalitären oder zumindest autoritären Charakter seines Regimes, aber immerhin hat er sich bemüht, da und dort die Situation mindestens partiell etwas zu entschärfen, und das habe ich ihm angerechnet. Grotzky: Soweit, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, unser heutiges Alpha- Forum. Das waren die Stationen des politischen Journalisten Klaus Bölling. Auf Wiedersehen.

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