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TEXTILE VIELFALT

Industrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg

Weitere Stationen der Ausstellung Webereimuseum Sindelfingen Corbeil-Essonnes-Platz 4 71063 Sindelfingen Industrielle Erfolgsgeschichten (Mai–Jul 2015)

Miedermuseum Schlossstr. 9 73540 Heubach (Sept–Nov 2015) aus Württemberg Kulturscheune Mössingen Brunnenstr. 3/1 72116 Mössingen (Nov 2015–Feb 2016) Industriemagazin Stadtmuseum Hafenmarkt 7 73728 Esslingen a. N. (Feb–Mai 2016) Eberhardstr. 14, 72764 Reutlingen Maschenmuseum Albstadt Wasenstr. 10 72461 Albstadt (Jun–Aug 2016) www.reutlingen.de/industriemagazin

Industrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg Stationen der Ausstellung

Industriemagazin Reutlingen Kulturscheune Mössingen Eberhardstraße 14 Brunnenstr. 3/1 72764 Reutlingen 72116 Mössingen (März–April 2015) (Nov 2015–Feb 2016)

Webereimuseum Sindelfingen Stadtmuseum Esslingen Corbeil-Essonnes-Platz 4 Hafenmarkt 7 71063 Sindelfingen 73728 Esslingen a. N. (Mai–Jul 2015) (Feb–Mai 2016)

Miedermuseum Heubach Maschenmuseum Albstadt Schlossstr. 9 Wasenstr. 10 73540 Heubach 72461 Albstadt (Sept–Nov 2015) (Jun–Sept 2016) TEXTILE

VIELFALTIndustrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg 5 Inhaltsverzeichnis

Textile Vielfalt. 6 Industrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg

Die Sindelfinger Jacquardweberei 12 Illja Widmann

Heubach 22 ein Zentrum der deutschen Korsettfabrikation Kerstin Hopfensitz

Albstadt und die Maschenindustrie 32 »Sport und Trikot« – im Spiegel früher Reklame Susanne Goebel

Garn, Tuch, Wolle 42 Die Esslinger Textilindustrie Martin Beutelspacher

Von Reutlingen in die Welt 52 Marisse Hartmut

Die Textilindustrie in Mössingen 62 und die Textildruckfirma Pausa Hermann Berner

Glossar 72

Impressum 76 6 Textile Vielfalt. Industrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg

Textile Fasern werden schon seit mindestens delszentren auch Produkte aus Asien vertrieben. 30.000 Jahren von Menschen als Schutz vor Käl- Bis ins späte Mittelalter spielte die berühmte te und anderen Unbilden der Natur als Kleidung, 7.000 km lange Seidenstraße als Hauptverkehrs­ Decken und Zelte genutzt. Bald schon wurden achse zwischen Ostasien und dem Mittelmeer- Textilien auch zu modischen und dekorativen raum eine wichtige Rolle. Seide aus China war Zwecken gefertigt. In Württemberg zum Beispiel ein weltweit begehrtes Gut. finden sich in erster Linie Textilien, die aus tie- rischer Wolle oder pflanzlichem Flachs herge- Vorindustrielle Textilgeschichte stellt wurden. Das Verspinnen von Pflanzenfa- in Südwestdeutschland sern oder Wolle bildet den Ausgangspunkt der Die Entwicklung von Textilstandorten war frü- Textilherstellung. Das entstandene Garn wird her abhängig von einer ortsnahen Rohstoffver- anschließend in unterschiedlichen Verfahren sorgung. Im Bereich des heutigen Württemberg (Weben, Wirken, Stricken, Flechten, Klöppeln) zu waren die traditionellen Materialien Leinen Stoff verarbeitet. (Flachs) und Wolle je nach Region in unterschied- lichem Maße vorhanden. Die Verarbeitung von Aus der Herstellung für den Eigenbedarf entwi- Flachs und das Spinnen des Garns waren sehr ckelte sich ein eigenständiges Gewerbe, das seit aufwändig. Es gab immer wieder Phasen des so dem späten Mittelalter von Zünften, Handels- genannten »Garnhungers«, in denen zu wenig kompanien und weit reichenden Handelsbezie- Material zum Weben vorhanden war. Nicht sel- hungen geprägt war. Textilien waren ein ideales ten genügte auch die Qualität des handgespon- Handelsgut, da sie leicht zu transportieren wa- nenen Fadens nicht den Anfordernissen. ren und mit großem Gewinn gehandelt werden konnten. Seit dem späten Mittelalter wurde vermehrt Baumwolle und Seide importiert. Die Verarbei- Wichtige Textilnationen waren in Westeuropa tung der Baumwolle war zunächst schwierig, da unter anderem England, Niederlande, Belgien, sich aus den kurzen Fasern der Pflanze keine Frankreich und Italien. Hier wurden über Han- reißfesten Garne spinnen ließen. So entwickelte 7 Einleitung

man ein Mischgewebe aus Leinen und Baum- Dampfkraft betrieben. Mit der Mechanisierung wolle, das Barchent. Dieser Stoff war v. a. im des Handwerks ergaben sich neue Tätigkeiten Raum und Oberschwaben in den Städten in der Textilherstellung und eine Umstrukturie- Blau­beuren, Biberach, und Urach rung der Arbeitsprozesse. sehr bedeutend. In der Tuchherstellung tat sich besonders die Calwer Zeughandelskompanie Die württembergische Textilindustrie hervor. Der Textilbereich war neben dem Agrarsektor der wichtigste Wirtschaftszweig des Landes. Die Entwicklung der Textilindustrie Aufgrund schwieriger politischer Umstände um Das 18. Jahrhundert brachte große wegweisende 1800 geriet Württemberg in der Folgezeit zuneh- Erfindungen vor allem in England mit sich und mend ins Hintertreffen gegenüber anderen Nati- damit einhergehend den Beginn der Industriali- onen. Vor allem mit den in England industriell sierung in der Textilherstellung. produzierten Stoffen und Tuchen konnte man nicht mithalten. Auch waren die württember- Dabei war die Entwicklung in der Weberei von gischen Leinenstoffe immer weniger gefragt, der Garnproduktion der Spinnereien abhängig, nachdem die feineren Baumwollstoffe in Mode sowohl was die Quantität als auch die Qualität gekommen waren. »Als gefährlicher Gegner der betraf. 1786 wurde der mechanische Webstuhl einheimischen Flachsfaser drängte sich die ero- erfunden, 1790 das erste mit Dampfkraft betrie- tische Flocke in den Konsum ein, dem sie sich bene Spinnrad entwickelt. Der Franzose Joseph durch den Vorzug größerer Geschmeidigkeit, Marie Jacquard stellte 1805 den nach ihm be- Weichheit und Leichtigkeit der Bekleidungsstof- nannten Jacquardwebstuhl zur Herstellung auf- fe empfahl.« (Das Königreich Württemberg 1884, wändiger Muster vor. S. 703)

Die Textilindustrie in England war ab den 1830er Eine weitere Neuerung machte im ausgehenden Jahren durch weitgehend mechanisierte Fab- 19. Jahrhundert den traditionellen Webstoffen riken geprägt. Die Maschinen wurden hier mit Konkurrenz: Maschenwaren, auch Trikotagen 8

genannt. Mit Rundwirkstühlen konnten nun Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Württem- im großen Stil dehnbare Wirkwaren hergestellt berg bereits 52 Textilfabriken. Weitere bedeuten- werden, die sich dem Körper optimal anschmieg- de Orte der Frühphase waren Kirchheim, Ess- ten. Die Einführung von Trikotunterwäsche lingen und . beim Militär beförderte einen Massenbedarf an diesen neuen Artikeln, der einen regelrechten Unter König Wilhelm I. wurde 1848 die Zentral- Boom um die Jahrhundertwende zur Folge hatte stelle für Gewerbe und Handel gegründet mit und einer zunehmenden Verbreitung dieser neu- dem Ziel den technologischen Rückstand Würt- en Textilien den Weg ebnete. tembergs aufzuholen. Man wollte von den erfolg- reichen Ländern lernen, vor allem auch im Tex- Württemberg war und ist ein an Rohstoffen ar- tilsektor. So schickte man Fachleute ins Ausland, mes Land und verfügt über keine eigenen Stein- um dort die modernen Maschinen der Konkur- kohlevorkommen. So gründete man Textilfab- renz zu studieren. Im Fokus stand ebenso die riken zunächst vorwiegend entlang der Flüsse, Ausbildung der Handwerker in neu gegründeten um die Antriebskraft des Wassers zu nutzen. Gewerbeschulen oder durch Wanderlehrer. Mit dem Ausbau der Eisenbahnlinien ab 1850 verbesserten sich die Verkehrsanbindungen und Württembergische Firmen waren in einzelnen ermöglichten den Transport von Kohle zum An- Bereichen, auf die sie sich spezialisierten, sehr trieb von Dampfmaschinen. erfolgreich. Korsetts, Trikotagen, Seidenstoffe und Jacquardtextilien standen bald für hoch- Wichtige Standorte der frühen Industrialisie- wertige Produkte, die zum Teil führend auf dem rung waren Berg bei Stuttgart (1810), Heiden- Weltmarkt waren. Hier spielen die Regionen um heim (1812/1813) und Herbrechtingen (1829/30) Reutlingen und Göppingen sowie auf der Alb mit mechanischen Baumwollspinnereien. In (Tailfingen, Ebingen) und am (Balingen, Heidenheim wurde 1822 eine mechanische Kat- Heubach) eine wichtige Rolle. tunweberei und 1834 eine Kattundruckerei ge- gründet. 9 Einleitung

Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war Sinn und Zweck dieser Ausstellung ist es, den die Textilindustrie ein wichtiger Wirtschafts- Blick für eine Branche zu schärfen, mit deren zweig in Württemberg. Doch die beiden Welt- Produkten wir uns täglich umgeben und die viel- kriege hinterließen auch in dieser Branche deut- fältiger ist als man es sich oft bewusst macht. liche Spuren. Nach einem kurzen Boom in den 1950er Jahren kam ein Jahrzehnt später für Die Ausstellung ist als Wanderausstellung kon- viele Firmen und Fabriken in Deutschland und zipiert und ist vom 1. März 2015 bis Septem- auch in Württemberg das Aus. Veränderte Pro- ber 2016 an folgenden Orten zu sehen: Indust- duktionsbedingungen mit deutlich geringeren riemagazin Reutlingen, Webereimuseum Sindel- Kosten im Ausland, vor allem in Asien, minder- fingen, Miedermuseum Heubach, Kulturscheune ten die Konkurrenzfähigkeit der einheimischen Mössingen, Stadtmuseum Esslingen, Maschen- Produkte. Aktuell werden noch 5% aller weltweit museum Albstadt. verkauften Textilien in Deutschland hergestellt, vorwiegend in den Bereichen technischer Texti- Arbeitskreis Textil lien, Ökotextilien und hochqualitativer Produkte. im Museumsverband Baden-Württemberg. Die Ausstellung »Textile Vielfalt. Industrielle Erfolgsgeschichten aus Württemberg« ist ein Sprecherin: Illja Widmann Gemeinschaftsprojekt des Arbeitskreises Textil im Museumsverband Baden-Württemberg. Hier haben sich sechs Museen aus Württemberg zusammengefunden, die schlaglichtartig einen Einblick in die Vielfalt der textilen Vergangen- heit und der Gegenwart der jeweilig vertretenen Region bieten. Die Entwicklung im textilen Be- reich erfolgte örtlich jeweils sehr unterschied- lich. 10

Esslingen a. N. Heubach Sindelfingen

Reutlingen Mössingen

Albstadt 11 Einleitung

Literatur Peter Borscheid: Textilarbeiterschaft in der Industrialisierung: Soziale Lage und Mobilität in Württemberg (19. Jh.). Stuttgart 1978. Königlich statistisch-topographisches Bureau (Hrsg.): Das Königreich Württemberg. Eine Beschreibung von Land, Volk und Staat. Zweiter Band. Stuttgart 1884. Marc Spohr: Auf Tuchfühlung. 1000 Jahre Textil­geschichte in Ravensburg und am Bodensee. Historische Stadt Ravensburg, Band 6. 2013. Wolfgang Wüst: Die süddeutsche Textil­ landschaft 1500–1800, in: Karl Borromäus Murr u. a. (Hrsg.), Die süddeutsche Textil­ landschaft. 2010, 9–38. 12 Die Sindelfinger Jacquardweberei

Die heutige Automobilstadt Sindelfingen war im her Qualität gegen maschinell produzierte Ware 19. Jahrhundert eine wichtige Weberstadt und behaupten. weit für ihre spezialisierten Weber bekannt. Wie an vielen Standorten war hier die Leinenwebe- Bereits 100 Jahre zuvor begannen sich die Rah- rei Basis des Handwerks. Ähnlich der heutigen menbedingungen in der Weberei zu verändern. Autoindustrie existierten rund um die Webe- Zur traditionellen Herstellung von Leinen, das rei »Zulieferbetriebe« im Bereich Färberei und den zünftig organisierten Leinenwebern vor- Zwirnerei. Es gab Blattmacher, Dreher, die Spu- behalten war, ergab sich in Württemberg 1825 len und Webschiffchen herstellten und weitere mit der Neuordnung der Zünfte auch für die Gewerke in direktem Zusammenhang mit der nicht organisierten Weber die Möglichkeit mit Weberei. In den 1820er Jahren sind in Sindelfin- Baumwolle und Seide zu weben. Der weichere gen, im Verhältnis zur Bevölkerung, mehr Meis- Baumwollstoff machte dem klassischen Leinen ter und Gesellen nachgewiesen als anderswo in Konkurrenz. So gab es schon um 1835 in Sin- Württemberg und das bei ca. 3400 Einwohnern. delfingen 27 Webmeister, die Baumwolle verar- beiteten. Sindelfinger Webereivielfalt »Kaum in einer anderen württembergischen Ein wichtiger Bereich in Sindelfingen war die Stadt ist die Weberei im Verhältnis zur Grö- Korsettweberei. Im Jahr 1860 wurden 35.000 ße bodenständiger und altüberlieferter als in Korsetts von 50 Webern gefertigt. Das Produkt Sindel­fingen, das sich im Laufe der Jahre un- zählte damals zu den begehrtesten Exportarti- bestritten eine erste Stelle in Württemberg für keln Württembergs und war vor allem in Nord- gehobene Weberei erobert hat.« Diese Einschät- amerika gefragt. Ab 1880 konnte sich Sindelfin- zung aus der Zeitschrift Textilwoche von 1914 gen auf dem Weltmarkt nicht mehr behaupten zeigt das Besondere des Standorts. In einer Zeit, und die Korsettwebereien mussten schließen. in der die Industrialisierung an anderen Orten Dennoch wurden 1890 im Gewerbekataster bei und vor allem im Ausland weit fortgeschritten ca. 4.000 Einwohnern noch 340 Webmeister auf- war, konnten sich spezialisierte Weber mit ho- geführt. 13 Webereimuseum Sindelfingen

→ Die große Zahl an Webern in Sindelfingen be- Jacquardwebstuhl ruht auf mehreren Faktoren: Das Ausgangsma- im Webereimuseum Sindelfingen. terial für Leinen, Flachs und Hanf wurde z.T. vor Das Motiv des Stoffes Ort angebaut und verarbeitet. Die Weber waren stammt aus einem Musterbuch des neben ihrem Handwerk als Bauern tätig. Durch Webers Heinrich die Realteilung wurde der Besitz (u. a. Webstüh- Burger von 1886/87. le) mitsamt den Grundstücken unter den Erben aufgeteilt und sicherte eine bescheidene Exis- tenz. Die Umstellung auf Baumwolle ermög- lichte es den Leinenwebern sowie nicht zünftig gebundenen Webern auf Marktveränderungen zu reagieren. Viele waren Hausweber (= Kauf- weber), die für die Herstellung der Ware selbst verantwortlich waren, sich um Garn und Ver- kauf kümmern mussten. Seit den 1850er Jahren Spezialisierung auf Seide arbeiteten Weber für Stuttgarter Firmen und die Eine besondere Bedeutung spielte in Sindelfin- Deckenfabrik in . Es gab auch Sin- gen die Verarbeitung von Seide. Die erste Fabrik delfinger Fabriken oder Verleger, die Aufträge am Ort war 1835 die Seidenmanufaktur Haid & an Heimweber vergaben. Die Kontrolle erfolgte Spring, die ca. 50 Weber beschäftigte. Das König­ über »Agenten«, teils ebenfalls Weber. Weitere reich Württemberg förderte damals Firmen, Aufträge ergingen über Textilkaufleute. die dazu beitrugen, das Außenhandelsdefizit zu senken. Die begehrten Seidenwaren aus dem Dieses System funktionierte im Bereich der Hand- Ausland mussten mit teuren Devisen bezahlt weberei für beide Seiten recht gut. Auftraggeber werden, so suchte man neue Wege, diese Stof- und Weber konnten sehr flexibel auf den Markt fe selbst zu produzieren. Haid & Spring war bis reagieren und waren weithin in der Region tätig. 1858 in Sindelfingen ansässig, viele weitere Fir- 1860 wurden 1 Million Ellen Textil hergestellt. men im Bereich der Seidenweberei folgten nach. 14

Sindelfingen belegte mit der hochwertigen Sei- Die Weber stellten damals gemusterte Stoffe mit denweberei eine Nische. Man arbeitete auf den einem Zugwebstuhl, an dem ein Harnisch befes- damals modernen Jacquardwebstühlen. Zeitwei- tigt war, her. Dazu benötigte man Gehilfen, den se standen in Sindelfingen 20 % aller Seidenweb- Zampeljungen und Einleserinnen, die die Muster stühle in Württemberg. Es wurden vor allem über Knoten an den Zampelschnüren umsetz- schwarze Seidenstoffe für Schirmbespannungen ten. Die Zugfäden wurden durch eine gelochte oder Kleidertaft hergestellt. Seidenweber waren Holzplatte in Spalten und Zeilen geführt. Die Me- einerseits von Schwankungen am Absatzmarkt thode war zeitintensiv und anfällig für Fehler. stärker betroffen, andererseits verdienten sie deutlich mehr als Leinenweber. Die letzte Sei- Bereits 1725 entwickelte Jean Baptiste Falcon denweberei musste Anfang der 1920er Jahre aus Lyon eine Lochkartensteuerung für Muster­ den Standort Sindelfingen aufgeben. webstühle, die jedoch in Vergessenheit geriet. Um 1750 löste der Automatenbauer Jacques Der moderne Jacquardwebstuhl Vaucanson das Problem der Musterweberei mit- Der Schlüssel zum Erfolg der Seidenwarenfa- tels einer Lochwalze, um die, ähnlich den Musik­ brikanten war der Einsatz von Jacquardweb- automaten, die in Pappe gestanzten Muster ge- stühlen. Die Technik wurde 1835 in Sindelfingen wickelt wurden. Die Walze wurde an einen Ab- bereits früh eingeführt. Entwickelt wurde der tastmechanismus gedrückt und so die Kettfäden Webstuhl 1805 von Joseph Marie Jacquard aus gesteuert. Der Durchbruch gelang jedoch erst Lyon. Joseph Marie Jacquard (1752–1834). Er stammte aus Lyon, sein Vater war Seidenwebmeister und In Frankreich war die Textilindustrie ein wichti- stellte hochwertige Seidenstoffe her. Jacquard ger Wirtschaftsfaktor. Der Bedarf an hochwerti- erlernte das Druckerhandwerk und beschäftigte gen Stoffen war vor und nach der Französischen sich seit 1799 mit Erfindungen von Spezialweb- Revolution immens. stühlen. Im Mittelpunkt stand ein Grundpro- blem der Musterweberei: Wie konnte man den Aufwand für die Einrichtung des Webstuhls mit 15 Webereimuseum Sindelfingen

Gewebtes Seidenbild einem komplexen Muster deutlich minimieren, mit dem Porträt von das Muster mehrfach verwenden und dadurch Joseph Marie Jacquard, entstanden Kosten einsparen? Bislang dauerte die Vorberei- in der Sindelfinger tung des Webstuhls bis zu drei Monate bei nur Webschule um 1910. einmaliger Verwendung des Musters. Es bezieht sich auf ein Original um 1835. Das Sindelfinger Bild Die Leistung von Jacquard ist darin zu sehen, ist eine Schenkung aus dem Besitz dass er die vergessenen alten Mechanismen des ehemaligen studierte und zu einer genialen Lösung kam. Weblehrers­ Er konstruierte eine »… Metamaschine, die als Wilhelm Reuff. Steuerungsmodul eines traditionellen Webstuhls diente.« (Schneider, Textiles Prozessieren, 276). Die Musterung erfolgte über Lochkarten, die durch die Metamaschine geführt wurden. Sie bestand aus drei Teilen, es gab einen Abtast- und Transportmechanismus für die Karten und ein Hebelsystem. Mittels eines Tritts wurde das System, das sich außerhalb des Webstuhls be- fand, in Bewegung gebracht.

Für den Erfolg der neuen Erfindung war eine günstige Herstellung der Lochkarten, die aus dem damals teuren Karton bestanden, wichtig. So entwickelte Jacquard als gelernter Drucker ein Verfahren mit vorgedruckten Karten, die er selbst produzierte. Hierauf war ein Raster mit insgesamt 408 möglichen Lochpositionen vorge- 16

Kartenschlag­ maschine zur Herstellung von Lochkarten 17 Webereimuseum Sindelfingen

Musterbuch geben, mit denen man mehrere Bindungen und von Heinrich Burger, Musterelemente nebeneinander darstellen konn- erstellt in der Fachschule te und sich jeder Faden einzeln ansteuern ließ. Reutlingen 1886/87 Bis heute funktioniert der Webstuhl nach die- sem Prinzip. Auf einer Karte befindet sich die Information für einen Schuss im Gewebe über Längs- und Querreihen. Dies wird abgetastet und durch den Harnisch an die Kette weiter- gegeben. Entsprechend erfolgt ein Anheben des Fadens oder das Verharren in der Position (Zu- stand 0–1). Der Schussfaden kreuzt ober- oder unterhalb und bildet das Muster. Für einen ge- samten Musterrapport werden die Karten anein- fingen produzierte die Firma Kabisch seit 1897 ander genäht, ein Muster besteht aus mehreren Webmaschinen, später Lochkartenmaschinen hundert oder tausend Karten und ist wiederver- und wurde 1918 in die Optima-Maschinenfabrik, wendbar. den Vorläufer von IBM, umgewandelt.

Mit der Erfindung wurde Jacquard berühmt. Ab Die Notation der Jacquardmuster erfolgt auf Ka- 1818 funktionierte der Musteraufsatz zuverlässig ropapier, daraus werden die Informationen für und trat seinen Siegeszug an. In England entwi- die Lochung der Karten und damit für das Heben ckelte Charles Babbage 1838 die erste Rechen- der Harnischschnüre abgelesen. Die Musterung maschine auf Basis von Lochkarten, nachdem er ist ein sehr komplexer Vorgang, eine Korrektur den Webstuhl von Jacquard studiert hatte. Das während des Webvorgangs ist nicht möglich. Die binäre System, das in der Weberei seinen An- Entwicklung der Muster und deren Umsetzung fang nahm, bildet damit die Grundlage für die in Patronen für die Herstellung der Lochkarten Entwicklung des Computerzeitalters. In Sindel- war früher Aufgabe der Dessinateure. 18

Ausbildung Die Weber mussten die neue Jacquardtechnik zusätzlich erlernen. Die 1848 in Stuttgart gegrün- dete Zentralstelle für Gewerbe und Handel be- schäftigte Wanderlehrer, die auch in Sindelfin- → gen Kurse für Weber abhielten. Die Stadt war Modell eines bestrebt den Handwerkern, die bislang nach Jacquardwebstuhls, Stuttgart oder Reutlingen gingen, vor Ort eine das beim Unterricht in der Sindelfinger adäquate Ausbildung zu bieten. Es dauerte bis Webschule eingesetzt 1869, als Johann Kneusel, Werkführer der Sei- wurde. Tischlerei denwarenfabrik Sax, mit dem ersten regulären Schramm, Wien, um 1900. Unterricht begann. 1878 wurde für die Webschü- ler ein eigener Zeichenlehrer angestellt. Die Be- deutung der Weberausbildung am Standort Sin- materialien, an denen sich auch die angesehene delfingen zeigt sich 1900 im Bau der Webschule, Textilfachschule in Reutlingen orientierte. Sein hier befindet sich heute das Webereimuseum in Lehrbuch war grundlegend für die Weberausbil- gemeinsamer Nutzung mit dem Verein Interes- dung der damaligen Zeit. sengemeinschaft Handweberei, der regelmäßig Webkurse anbietet. Industrialisierung Der Sprung ins Industriezeitalter gelang in Sin- Unter der Schulleitung von Wilhelm Reuff delfingen aufgrund der schlechten Infrastruktur (1878–1943) wurde 1911 ein Maschinensaal für erst spät. Der Ort lag abseits wichtiger Straßen die Ausbildung an mechanischen Webstühlen und der Eisenbahn. Die Wasserkraft war nicht an die Schule angebaut. Wilhelm Reuff war von ausreichend für den Betrieb mechanischer An- 1903 bis 1923 Leiter der Webschule und unter- lagen. Der Bau der Bahnhofstraße 1884 zum richtete Weben und Zeichnen. Er erarbeitete Bahnhof der Nachbarstadt Böblingen veränderte eine Warenkunde und entwickelte Unterrichts- die Situation. 1885 stellte die Firma Wizemann 19 Webereimuseum Sindelfingen

Blick in den Maschinensaal der Webschule um 1920. Im Hintergrund ist ein Jacquardweb- stuhl zu sehen.

als erste mechanisch fabrizierte Stoffe her. In dung 1877 war die Firma auf »Decken & Stoffe der ersten Phase vollzog sich ein rascher Wech- für Stickereizwecke« spezialisiert. Dies ist bis sel der industriell produzierenden Firmen. Es heute das zentrale Produkt. Ab 1887 wurde auf gab Fabriken, die Teppiche, Strickwaren, Triko- mechanischen Betrieb umgestellt. Auch heute tagen, Crêpewaren, Strümpfe und vieles mehr noch wird auf Jacquardmaschinen gewebt, seit herstellten. Kurz nach der Firma Wizemann folg- 1991 mit vollelektronischen Maschinen, seit 1994 ten die Webereien Dinkelaker und Leibfried und mit selbststeuernden und selbstüberwachenden die aus Stuttgart stammende Weberei Zweigart Jacquardmaschinen. Neben Handarbeitsstoffen & Sawitzki. Diese drei Firmen prägten lange Zeit entstehen hier technische Gewebe und Tischwä- das Wirtschaftsleben am Ort. Das einzige Un- sche. Ein Schwerpunkt ist die Herstellung von ternehmen, das bis heute existiert, ist die seit Straminen, hierfür produziert die letzte verblie- 1879 in Sindelfingen ansässige Weberei Zweigart bene Zwirnerei in Sindelfingen, die Firma Ahr, & Sawitzki. Die Firma beschäftigt aktuell ca. 115 die Garne. Mitarbeiter in Sindelfingen. Bereits bei der Grün- 20

Historische Rechnung der Firma Zweigart & Sawitzki von 1893 mit Ansicht der Fabrik und des Wohn- und Büro­ gebäudes in der Wettbachstraße 18 21 Webereimuseum Sindelfingen

Musterbuch der Mit der Ansiedlung der Daimler Motorenwerke Firma Zweigart & 1915 wendet sich der Schwerpunkt der Sindel- Sawitzki. Damast- ware 1971–1982. finger Industrie. Dennoch produzieren bis in die Leihgabe Zweigart & 1930er Jahre weiterhin Webereien in kleinen Sawitzki Werkstätten. Die veränderten Bedingungen auf Alle Fotos: Weberei- dem Weltmarkt sorgten in der Folge dafür, dass museum Sindelfingen. der ehemalige Weberstandort Sindelfingen weit- Tarek Musleh. gehend in Vergessenheit geraten ist.

Illja Widmann

Literatur Gotthard Bayer, Klaus Philippscheck: »Die Weberey ist hier sehr zu Hause«. Zur Geschichte der Handweberei in Sindelfingen. Sindelfingen 1990. Birgit Schneider: Textiles Prozessieren. Eine Mediengeschichte der Lochkarten­ weberei. /Zürich 2007. Franz Werkmeister: Wilhelm Reuff (1878–1943) aus Sindelfingen: Webschuldirektor – Reichskommissar zur Förderung der Woll­erzeugung – Gründer der genossen- schaftlichen Wollvermarktung in Süddeutschland. Sindelfingen 2014 (ungedrucktes Manuskript). 22 Heubach ein Zentrum der deutschen Korsettfabrikation

Krisenzeiten und neue Perspektiven: Die Korsettweberei als Wirtschaftsförderung In den 1840er Jahren steckte die Woll- und Lein- wandweberei im Königreich Württemberg in einer ernsthaften Krise. Es gelang immer weni- ger, sich auf einem international ausgerichteten Markt zu behaupten. Mithilfe einer technischen Innovation aus Frankreich, einem Korsettweb- → stuhl, wollte man den württembergischen We- Webstuhl bern neue Perspektiven eröffnen. Der Schweizer zur Herstellung nahtloser Korsetts Jean Werly hatte in Bar-le-Duc in Lothringen einen Webstuhl konstruiert, auf dem Korsetts in einem Stück gewoben werden konnten. Diese Württemberg vorantreiben wollten. 1848 holte nahtlosen Korsetts mussten also nicht mehr von er den Franzosen Charles d’ Ambly, von Beruf Hand aus mehreren Stoffbahnen zusammenge- zwar Offizier, aber auch Experte auf dem Ge- näht werden und versprachen einen höheren biet der Korsettweberei, nach Stuttgart, wo die- Tragekomfort. Das Korsetttragen war schon län- ser 1848 mit staatlicher Unterstützung die ers- ger wieder in Mode. Nachdem sich die Frauen te Korsettweberei eröffnete. Doch musste die zur Zeit Napoleons ihrer Mieder entledigt hatten, Stuttgarter Fabrik binnen Jahresfrist wieder forderte die Mode nun wieder einen modellier- schließen, weil der Absatz der fabrikmäßig her- ten Körper mit sehr schmaler Taille. gestellten Korsetts äußerst schleppend verlief. In Württemberg und den anderen deutschen Län- Mit der Herstellung gewobener Korsetts sollten dern kauften Frauen, die es sich leisten konnten die arbeitslosen Weber wieder ihr Auskommen weiterhin maßgeschneiderte Korsetts bei einer finden. Ferdinand Steinbeiß, der Leiter der Zent- Korsettschneiderin. Und auf dem Land trugen ralstelle für Gewerbe und Handel, war einer der Frauen immer noch ihre selbstgenähten Mieder Motoren, die die Industrialisierung des Landes und Leibchen. 23 Miedermuseum Heubach

Vorder- und Rückansicht eines in Form gewebten Sanduhr-Korsetts, um 1860 Miedermuseum Heubach 24

→ In Göppingen versuchte sich die Weber-Associa- Korsetts werden tion in der Herstellung gewobener Korsetts, zu- über Dampfbüsten in From gebracht. erst ebenfalls erfolglos. Erst das Exportgeschäft nach Amerika mit seinem großen Absatzmarkt brachte den ersehnten Erfolg für die mittlerwei- le bestehenden Göppinger Korsettfabriken. Denn nach Amerika bestanden durch die württem- bergischen Auswanderer gute Geschäftsbezie- hungen. Weitere Exportländer kamen in Skan- Anbringen des Metallhakenverschlusses auf der dinavien hinzu, weshalb bald sogar ein Arbeits- Vorderseite – vieles davon geschah in Heimar- kräftemangel in Göppingen herrschte und neue beit. Weber aus dem Umland, auch aus Heubach, an- geworben und in die komplizierte Technik des In Heubach wagte Gottfried Schneider 1859 als Korsettwebens eingeführt wurden. erster den Schritt zur Gründung einer Korsettfa- brik mit 30 Webstühlen, die er im Lamm-Keller Jedes Korsett wurde am Webstuhl in Form ge- (dem heutigen Restaurant Jägerhof) aufstellte. woben, also mit einer breiten Hüftpartie, einer Zuvor hatte er wie sein Vater, der Webermeis- schmalen Taille und einer ausgeformten Brust. ter Leonhard Schneider, als Faktor für Göppin- Zwickel und Hohlräume für die Fischbeinstäbe ger Firmen gearbeitet. Er holte das Garn im 30 zur Versteifung des Korsetts mussten eingewo- Kilometer entfernten Göppingen ab, verteilte es ben werden. Das Korsettweben war Männerar- an die Heimweber und brachte anschließend die beit und geschah in der Fabrik. Das »Fertigma- fertigen Korsetts nach Göppingen zurück. Die chen« hingegen, wozu das Waschen, Appretieren Materialien wurden im Heubacher Schloss, wo und Bügeln gehörte, übernahmen anschließend heute das Miedermuseum untergebracht ist, an Frauen. Auch das Verzieren der Korsetts mit Sti- die Heimweber ausgegeben, deren Korsetts bald ckereien und Spitzen war Frauenarbeit, ebenso immer weniger mit den industriell hergestellten das Einschieben der Fischbeinstäbe und das Korsetts konkurrieren konnten. 25 Miedermuseum Heubach

Schon vier Jahre nach der Firmengründung wa- Weitem nicht ausgleichen. Gewobene Korsetts ren die Räumlichkeiten im Lammkeller zu klein waren für die meisten Frauen nach wie vor zu und Schneiders Manufaktur bezog neue Räume teuer, weshalb sie ihre Mieder nach Nähanlei- in der ehemaligen Zehntscheuer der Stadt. Mit tungen selbst nähten. Und die besser gestellten der maschinellen Herstellung von Federn und Frauen, ließen sich die Korsetts weiterhin von Korsettschließen kamen weitere Produktions- Korsettschneiderinnen auf den Leib schneidern. zweige hinzu. In Schneiders Korsettfabrik stan- den mittlerweile 35 Weber und 20 Arbeiterin- Die Heubacher Firmen auf Expansionskurs nen auf der Lohnliste, darunter auch die Hand- Erst eine technische Innovation hat dafür ge- webermeister Johann Gottfried Spiesshofer und sorgt, dass sich das Blatt wendet: Als Isaac dessen gleichnamiger Sohn Johann Gottfried so- Merrit Singer seine Nähmaschine auf der Welt­ wie Hans Jacob Braun. Die Söhne der beiden, Jo- ausstellung in London 1863 vorstellte, wurde hann Gottfried Spiesshofer und Michael Braun, schnell klar, dass dieser Apparat das Nähen gründeten 1886 in einer kleinen Scheune ihre endlich revolutionieren wird. Mit der Einfüh- eigene Korsettmanufaktur Spiesshofer & Braun, rung der Nähmaschine in den Korsettfabriken die heutige Firma Triumph International. und der Umstellung von gewobenen auf genäh- te Korsetts verloren die nahezu 200 Heubacher Die auf den Export ausgerichtete württember- Korsettweber ihre Arbeitsstellen. Die genähten gische Korsettindustrie büßte durch den ameri- Korsetts waren schneller, in größeren Stückzah- kanischen Sezessionskrieg ihren Absatzmarkt len und viel günstiger zu produzieren, denn das fast vollständig ein und verlor Amerika auch als Korsettnähen übernahmen schlechter bezahlte Rohstofflieferant für Baumwolle. Nach Kriegsen- Frauen und Mädchen, die jetzt das Familienein- de besserte sich die Lage für die Württemberger kommen in Heimarbeit sicherten. nur vorübergehend. Die Inlandsnachfrage konn- te die schlechte Exportlage – man hatte mit ho- Auch Gottfried Schneider musste seine Pro- hen Einfuhrzöllen und der stärker gewordenen duktion umstellen, um sich auf dem Markt zu amerikanischen Konkurrenz zu kämpfen – bei behaupten. 1892 hatte Schneiders Sohn Julius 26

die Firma als Schneider & Sohn o.H.G übernom- ben worden, so sorgte nun eine Dampfmaschine men und den Betrieb modernisiert. Von nun an mit Transmission für die notwendige Energie. wurden nur noch Korsetts mit maschinell an- Mit dem Bau des Kesselhauses für Dampfkes- getriebenen Nähmaschinen gefertigt. Waren die sel und Dampfmaschine war der erste Fabrik- Nähmaschinen zuvor durch die Muskelkraft von schornstein in Heubach zu sehen. Überschüssi- Männern mithilfe eines Schwungrads angetrie- ge elektrische Energie beleuchtete nicht nur die Arbeitsplätze der Näherinnen, sondern versorg- te auch die Gastwirtschaft »Zum Ochsen« mit elektrischem Licht. Die Stadt Heubach schloss 1896 mit der Firma Schneider & Sohn einen Stromliefervertrag ab. Die Haushalte bekamen elektrisches Licht und Heubach gehörte zu den ersten Städten im Königreich Württemberg mit elektrischer Straßenbeleuchtung.

Als 1886 der Korsettmacher Johann Gottfried Spiesshofer und der Kaufmann Michael Braun ihre Korsettmanufaktur Schiesshofer & Braun gründeten, hatten die genähten Korsetts die gewobenen bereits verdrängt. Die Geschäfte der anfänglich sehr kleinen Firma Spiesshofer & Braun gingen so gut, dass schon drei Jahre nach der Gründung das erste Fabrikgebäude für Genähtes Korsett mit Stickerei und 200 bis 300 Arbeiter und Arbeiterinnen gebaut Klöppelspitze, werden konnte. Bauliche Erweiterungen für die um 1900 Dampfkraftanlage und Werkstätten folgten in Miedermuseum Heubach den kommenden Jahren. 27 Miedermuseum Heubach

→ Ein Grund für die guten Geschäfte war die stark Genähte Korsetts gestiegene Inlandsnachfrage im letzten Vier- ermöglichen verschiedene tel des 19. Jahrhunderts, der Gründerzeit. Jetzt Korsettformen. gehörte für fast alle Frauen das Korsett zwin- Miedermuseum Heubach gend zur Garderobe. Die schnell wechselnden Modelinien erforderten geradezu, dass der weib- liche Körper mithilfe eines passenden Korsetts (Küraß-Korsett, Frack-Korsett oder Sans-Vent- Heubach entwickelte sich in dieser Zeit neben re-Korsett) in die jeweils richtige Form gebracht Sachsen und Berlin zu einem der Zentren der wurde. Auch Arbeiterinnen konnten sich nun deutschen Korsettindustrie und damit vom bäu- ein günstiges Korsett von einem Tagesverdienst erlich geprägten Kleinstädtchen am Fuße der leisten, während sie 1865 noch einen Wochen- Ostalb zu einer Industriestadt, in der die meis- Nähmaschinen und Schwungrad lohn dafür bezahlen mussten. ten Einwohner ihr Auskommen in der Korset- tindustrie und deren Zulieferbetrieben fanden. Erfolg war jedoch nicht allen Heubacher Textil- unternehmern beschieden: Die Seidenwarenfa- brik Thomas Schroth stellte bereits 1864 ihren Betrieb ein und die Weberei Johann David Rom- mel 1876. Eine Cannstatter Firma übernahm um 1880 die Weberei Burkhardt. Auch die Zu- lieferfirmen der Textilbetriebe, darunter Buch- binder Julius Alberth sowie die Kartonagenfab- riken Gebrüder Pfister und Hans Fuchs waren nicht erfolgreich. Geblieben sind nur die beiden Firmen Schneider & Sohn sowie Spiesshofer & Braun. 28

→ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossen Nähsaal der Firma die beiden Heubacher Miederwarenhersteller Schneider & Sohn in Schwäbisch Gmünd, neue Absatzmärkte mit Großbritannien, Hol- 1920er Jahre land, Belgien und der Schweiz und bauten ein Netz von Nähbetrieben in den umliegenden Oberämtern auf, weil in Heubach Arbeitskräf- te fehlten. Schneider & Sohn errichtete 1910 die In der Stahl­- waren­fabrik von erste Zweigfabrik in Gmünd und beschäftigte des Ersten Weltkriegs mehr als 2 300 vor allem Spiesshofer & Braun 300 überwiegend weibliche Arbeiter und An- weibliche Arbeitskräfte in Heubach und in den werden Federn, gestellte und 800 Heimarbeiterinnen. Für die Zweigwerken in Mögglingen und . Be- Stäbe, Haken und Schließen produziert. Firma Spiesshofer & Braun arbeiteten zu Beginn reits seit 1902 verkaufte Spiesshofer & Braun sei- ne Produkte unter dem einprägsamen Marken­ namen »Triumph«.

Neue Herausforderungen im 20. Jahrhundert Der Erste Weltkrieg beendete die Expansion und statt Miederwaren verließen Brotbeutel, Helm­überzüge und Militärröcke die Heubacher Fabriken. In den 1920er Jahren ging es wieder bergauf. Spiesshofer & Braun konnte mit der 1924 eingerichteten Frottierweberei die Umsatz­ einbußen bei den Korsetts, die auf den Wandel der Damenmode zurückzuführen waren, auffan- gen. Die Firma produzierte nun in 22 Nähbetrie- ben, seit 1921 auch in und Böhmen- kirch. Mit der ersten Auslandsniederlassung im schweizerischen Zurzach 1933 nahm die inter- 29 Miedermuseum Heubach

aus der Jubiläumsschrift 1936

nationale Ausrichtung der Firma ihren Anfang, Triumph zuerst Oberbekleidung her und nahm und in der Jubiläumsschrift von 1936 konnte die Produktion der Miederwaren nach der Wäh- sich Triumph stolz als größte europäische Mie- rungsreform wieder auf. Der Nachholbedarf der derwarenfabrik bezeichnen. Auch Schneider & Nachkriegszeit und die Mode der Wirtschafts- Sohn investierte in den 1920er Jahren in mo- wunderjahre verhalfen den Heubacher Firmen derne Fabrikgebäude. Dort wurden Büstenhal- zu vollen Auftragsbüchern. Die Firma Schneider ter, Hüfthalter und Hemdhosen statt der steifen und Sohn firmierte seit 1948 als Susa (abgeleitet Korsetts hergestellt. von Schneider und Sohn AG) und produzierte mit 1 200 Arbeitskräften im Hauptwerk und in Im Zweiten Weltkrieg führten die Heubacher die den sieben Zweigwerken in Schwäbisch Gmünd, Fertigung von Miederwaren neben den Konfekti- Bartholomä, Hohenstadt, Bettringen, , onsaufträgen für die Wehrmacht eingeschränkt und Wäschenbeuren. weiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte 30

Triumph erhöhte seine Fertigungskapazität mit neuen Filialbetrieben in , Nördlingen und . Neue Auslandsniederlassungen wur- den in Belgien und Großbritannien und anderen europäischen Ländern gegründet. 1953 wurde der Markenname von Spiesshofer & Braun in Triumph International geändert, um damit auch der zunehmenden internationalen Ausrichtung des Unternehmens Rechnung zu tragen. Seit den 1960er Jahren ist Triumph auch auf dem asia- tischen Markt mit Produktions- oder Vertriebs- gesellschaften präsent und erweiterte seine Modellpalette um Freizeit- und Bademode sowie Nachtwäsche. Auch Susa nahm Bademode ins Programm. Die späten 1960er und 1970er Jah- re waren nicht nur wegen der zunehmenden Konkurrenz aus Fernost schwierige Zeiten für die Miederwarenbranche, sondern führten auch aufgrund gesellschaftlicher Veränderungspro- zesse zu Umsatzrückgängen und wesentlichen Strukturveränderungen. In den 1980er Jahren löste die Popsängerin Madonna mit ihren Cor- sagen einen neuen Trend aus. Dessous in allen Variationen waren wieder zu sehen und erfreu- ten sich steigender Nachfrage. Heute gehören Dessous wieder zum alltäglichen Outfit. Werbung Susa, 1955 31 Miedermuseum Heubach

Die Susa-Vertriebs-GmbH + Co ist die älteste International befinden sich in europäischen und noch bestehende Miederwarenfirma Deutsch- außereuropäischen Ländern. In den einzelnen lands. Sie hat ihren Firmensitz in Heubach und Standorten arbeiten mehr als 32.000 Mitarbeiter Produktionsstandorte in Heubach, Slowenien, und Mitarbeiterinnen, davon 700 in Heubach. der Ukraine sowie Lettland. Die Produktions- Werbung Triumph, 1958 und Vertriebsgesellschaften der Firma Triumph Kerstin Hopfensitz

Literatur Paul M. : Die Deutsche Korsett­ industrie. Eine volkswirtschaftliche Studie. Stuttgart 1909. Gerhard M. Kolb: Das Weberhandwerk vor der Industrialisierung, in: Heubach und die Burg Rosenstein. Schwäbisch Gmünd 1984. Friedrich Schenk: Heubach von der Industriali- sierung bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Heu- bach und die Burg Rosenstein. Schwäbisch Gmünd 1984. Curt Braun, Doris Binger, Annette Gilles (Hg.): Vom Mieder zum Dessous. Eine Kultur- und Produktgeschichte der Miederwaren in Deutschland. 2007. 32 Albstadt und die Maschenindustrie »Sport und Trikot« – im Spiegel früher Reklame

Die vorzüglichste Eigenschaft von Maschen- eine geübte Handstrickerin zu stricken. Seine oder Trikotware ist ihre Dehnbarkeit. In diesem Verbreitung brachte die neue Technik auch auf Sinne ist sie äußerst »anschmiegsam«, passt sie die Schwäbische Alb, wo sie seit 1733 in Ebingen sich optimal den individuellen Körperformen an, und Tailfingen aufgenommen wurde. Bereits im macht jede Körperbewegung mit. »Unentbehr- darauffolgenden 19. Jahrhundert wurde hier lich für Körperkultur und Sport!« wurden dann auf Rundwirk-Maschinen gearbeitet, mit deren auch bald die neuen aus Trikot gefertigten Klei- Hilfe nicht nur endlos, sondern auch industri- dungsstücke etikettiert und angepriesen. Denn, ell im großen Stil produziert werden konnte. Die hohe Flexibilität gewährleistete mehr Komfort zahlreichen Hauswirkereien und mechanischen und vor allem Bewegungsfreiheit, Qualitäten, Fabriken konnten um 1900 den enormen Bedarf die der im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts kaum decken. aufkommenden Sportbewegung sehr entgegen- kamen. Doch werfen wir einen Blick zurück in Doch die Abkehr von traditioneller Webtechnik die Geschichte der Maschenindustrie. fand nicht ohne Widerstand statt. Es schien na- hezu unvorstellbar, dass die bisher in mühevol- Eine neue Technik erobert den Markt – ler, zeitraubender Handarbeit gewebten Leinen- Wirken contra Weben hemden nun problemlos durch die industriell Gestrickte Strümpfe waren zwar schon den gefertigte Baumwoll-Wäsche zu ersetzen sei. Kri- Ägyptern bekannt, gerieten jedoch lange Zeit tische Stimmen vermuteten gar einen erhöhten wieder völlig in Vergessenheit. Spätestens seit Verschleiß zum halben Preis. dem Ende des 16. Jahrhunderts strickte man in der Albstädter Region Strümpfe für den Famili- Wahrscheinlich musste sich die aufstrebende enbedarf und einen bescheidenen Hausierhan- Trikotindustrie auch auf der bäuerlich gepräg- del. Mit der Erfindung des so genannten Hand- ten Schwäbischen Alb mit derartigen Vorwür- culier- oder Strumpfwebstuhls im Jahr 1589 fen auseinander setzen. War man doch auch durch den englischen Pfarrer William Lee war hier gewohnt, dass die Haltbarkeit eines Leinen- es möglich geworden 5–6-mal so schnell wie hemdes sich nicht wesentlich von der eigenen 33 Maschenmuseum Albstadt

Spezial-Marke »Germanen-Hemd«, Reklame-Einleger der Firma Conzelmann & Bitzer, Mechanische Trikotweberei (heute: Firma Roller), Tailfingen, um 1900

»Beste Touren- und Reise-Unterkleidung«, Reklame-Einleger der Firma Conzelmann & Bitzer, Mechanische Trikotweberei (heute: Firma Roller), Tailfingen, um 1905

→ »Felsen-Hemd«, Reklame-Einleger der Fa. Conzelmann & Bitzer, Mechanische Trikotweberei (heute: Firma Roller), Tailfingen, um 1900 34

»Bärenpelz«, buchs Dr. Hermann Bizer, die guten alten Zeiten Reklame-Einleger der beschwörend. Nicht umsonst setzte die frühe Württembergisch-­ Hohenzollerischen Werbung der Mechanischen Trikotweberei Con- Trikotfabriken, zelmann & Bitzer um 1900 auf quasi unverwüst- WüHoTri, Ebingen, liche Qualität, wenn sie ihre »Spezial-Marke Ger- um 1925 manen-Hemd« anpreist mit Slogans wie: »Geht in der Wäsche nicht ein!« oder »Bewährt sich im Tragen als unzerreißbar!«

Tatsächlich setzten sich Trikotagen schneller durch als vermutet. Insgesamt war die Konjunk- tur nach dem gewonnenen Krieg und nach der Reichsgründung von 1871 ausgesprochen güns- tig. Die Männerwelt hatte die Vorzüge von ge- wirkter, dehnbarer Unterbekleidung bereits in den 1870er Jahren während des deutsch-fran- zösischen Krieges kennen gelernt. Fortan wollte kaum einer mehr auf die weichen anschmieg- samen Trikotagen verzichten. Aber auch sonst kam Unterwäsche aus gewebten Stoffen gänz- lich aus der Mode. Die Trikotindustrie im Raum Albstadt erlebte in den 1880er Jahren einen wahren »Boom« – unterstützt durch ausgeklü- gelte Werbestrategien, die die Eigenschaften der Lebensdauer unterschied: »So ein paar (Unterho- neuen Ware in ein vorteilhaftes Licht zu rücken sen) hat einen ausgehebt, wenn er auch 70 Jahre wussten. alt wurde«, so der Autor des Tailfinger Heimat- 35 Maschenmuseum Albstadt

Die Werbung als Basis für Vertrieb Das emphatische »Zurück zur Natur!« entsprach und Angebot – Von der Bedarfsdeckung dem Drang dieser Bewegung nach Befreiung zur Bedürfnisweckung von Manschetten und steifen Hemdkrägen. Dies Industrielle Produktion bedeutet die Herstellung wurde von der Maschenindustrie geistesgegen- standardisierter Produkte in großer Stückzahl. wärtig aufgegriffen, zum Beispiel in Form von Im Gegensatz zu individuellen Auftragsarbeiten bequemer Freizeitkleidung. Das Sortiment von ist und bleibt die industrielle Fertigung eine Fer- Herren- und Damenunterhosen, -unterhemden tigung für einen anonymen Markt; eine Produk- sowie Kinderkostümen wurde unter anderem tion also, für die im Voraus keineswegs eine Ab- erweitert um Winterware, also wollgemischte nahme durch Käufer sichergestellt ist. Der Wer- Qualitäten, Damen-Reform-Unterhosen und nicht bung kommt daher eine wichtige vermittelnde zuletzt die sogenannten »Freizeit- oder Touristen- Funktion zu; sie soll helfen, die Ware an Mann hemden«. Um das eigene Produkt von der Masse und Frau zu bringen. vergleichbarer Produkte abzuheben, wurde ei- nerseits mit Markennamen gearbeitet, wie zum Um die Konsumenten erfolgreich anzusprechen, Beispiel die lautmalerische Marke »amata«, kur- müssen Werbemittel den jeweils herrschenden zerhand kreiert aus dem Firmennamen Martin Zeitgeist berücksichtigen. Dieser forderte um Ammann, Tailfingen, oder aber mit so genann- 1900 mehr Mobilität, eine größere Bewegungs- ten »Einlegern«, die durch eigene Gestaltung und freiheit überhaupt. »Beste Touren- und Reise-Un- die Betonung besonderer Qualitätsmerkmale terkleidung« befand sich daher bereits 1905 dem Verbraucher ein schnelles Wiedererkennen im Sortiment der Fa. Conzelmann & Bitzer aus der Ware ermöglichen sollten. Tailfingen. Denn in einer Phase fortschreitender Industrialisierung der Städte und Monotonisie- Unverwechselbar sollten sie sein, die Marken rung der Arbeit entwickelte sich auch hier – pa- »Bärenpelz« oder »Felsen-Hemd«, versehen mit rallel zur um 1900 ins Leben gerufenen »Wan- Slogans wie »Aus bestem Material hergestellt!« dervogelbewegung« – ein Drang zu körperlichem und »Bewährt sich im Tragen als unzerreißbar.« Ausgleich in »Gottes freier Natur.« Teilweise verzichteten diese postkartengroßen 36

Reklamekarten sogar auf die Darstellung des Erfüllung ihrer Versprechungen gemessen, son- eigentlichen Produktes. Sie arbeiteten vielmehr dern im Hinblick auf die Phantasien des Be- mit Schlagwörtern und »naturnahen« Assoziatio- trachters oder Käufers. nen. Die Darstellung eines felsigen Gebirges zum Beispiel ließ an Klettern, Bergbesteigung und na- Auffallend ist dabei die besondere Betonung der türlich »Spitzen«- Qualitäten denken, während Unzerreißbarkeit der Nähte. In der Tat erfor- sich harte Männlichkeit hinter dem Markenna- derten die Strick- und Wirkwaren wegen ihrer men »Bärenpelz Prima Futterware« verbarg. Hier hohen Elastizität auch eine dehnbare Naht; eine stapfte ein mit einer Lanze bewaffneter Mann Eigenschaft, die mit der normalen Doppelstepp- an der Seite eines Eisbären durch eine unwirtli- stichmaschine nicht geleistet werden konnte. che Winter-Landschaft – Kälte und Eis trotzend! Nachdem im Jahr 1853 die ersten amerikani- Als Symbol ungezähmter Natur und der Erobe- schen Nähmaschinen nach Deutschland gekom- rung unerforschter Regionen, als Metapher opti- men waren, bemühte man sich schon bald um maler Umweltangepasstheit ließ der flauschige die Erfindung einer Zickzacknähmaschine, die Partner mit seinem schneeweißen Fell nicht nur auch den Erfordernissen von Wirkwaren ge- an Sauberkeit und Hygiene denken, sondern un- recht werden sollte. In den 1880er Jahren dann terstrich auch noch wirkungsvoll die Botschaft wurden die ersten brauchbaren Maschinen der Winterware, nämlich »Feinste Rauhung – dieser Art hergestellt, zuerst von Kayser aus Angenehm und mollig im Tragen«. Kaiserslautern, ein Jahr später, 1883, von dem Hamburger Neidlinger. Bereits um 1900 wurde Auch wenn uns diese Formen von Werbung ein im Albstädter Raum mit vergleichbaren Näh- wenig befremden, vielleicht schmunzeln lassen, maschinen konfektioniert; Grund genug, dies eines hatte man mit diesen Einlegern bewiesen, als Neuheit und besondere Qualität angemessen nämlich, dass man das Medium der Werbung hervorzuheben. in seinen Grundsätzen begriffen hatte. Denn die Wahrheit der Werbung wird nicht an der realen 37 Maschenmuseum Albstadt

Die Scham in Schutz genommen – Trikot-Werbung, gezeichnet, fotografiert, retuschiert Solange die Werbemaßnahmen sich rationaler Argumente bedienten, solange Erkenntnisse über Körperhygiene und Gesundheitspflege Verkaufs- hilfen waren sowie Material und Verarbeitung in den Vordergrund gestellt wurden, spielten Ge- Modezeichnung der Firma schmacksfragen eine eher untergeordnete Rolle. J. Hakenmüller, Spätestens seit den 1920er Jahren rückten Aus- Tailfingen, um 1920. sehen, Farbe und Form der Maschenwaren, kurz Die gezeichnete Illustration gestattete modische Aspekte, auch bei Unterwäsche und ohne viel Aufwand Sportkleidung mehr und mehr in den Vordergrund. eine idealisierte Darstellung von Unterwäsche, ohne Diese Aspekte erforderten ein verändertes wer- das allgemeine bewirksames Medium: Eine realistische oder Sittlichkeitsempfinden zu strapazieren. idealisierte Wiedergabe der sinnlichen Qualitä- ten, auf die Mode ansprach. Allerdings berühr- te eine bildliche Darstellung das Tabu, Bereiche von Intimität und Geschlechtlichkeit ins Licht Einen Ausweg aus dem Konflikt von werbewirk- der Öffentlichkeit zu rücken. Je enger sich Tri- samer Darstellung und allgemeinem Sittlich- kotagen dem Körper anschmiegten und damit keitsempfinden bot die gezeichnete Illustration. ihre Vorteilhaftigkeit gegenüber früherer Unter- Die Modezeichnung ließ gegenüber realitätsge- wäsche unter Beweis stellten, umso plastischer treuer Darstellung keine sittlich-moralischen ließen sie den Körper erscheinen und umso Bedenken aufkommen. Und so präsentierte die geringer wurde optisch die Grenze zwischen Firma J. Hakenmüller, Tailfingen die Sporthemd- Nacktheit und Bekleidung. hose »Form ›Franz‹, ohne Ärmel, kurze Beine« 38

Frühe in einer einfachen Strichzeichnung. Zur Unter- Modefotografien streichung der Solidität des verwendeten Ma- der Firma Balthas Blickles Wwe. terials wurden dabei die neuen Stoffqualitäten Tailfingen, um »Filena« und »Ajour« ebenfalls zeichnerisch »un- 1920/1930. ter die Lupe genommen«. Damit die »poröse luft- Die Modelle wurden in angemessener durchlässige, gesunde Herrenunterkleidung aus Distanz abgelichtet Knüpftrikot« auch wirklich überzeugte, wurde und durch Retusche ihrer individuellen sie zudem demonstrativ bis ins kleinste Detail Körperformen – quasi wissenschaftlich – auf den Prüfstand entledigt. gestellt.

Doch je mehr sich Körper in der Öffentlichkeit ent- kleiden konnten, etwa wie beim Schwimmsport, desto problemloser konnte die Textilindustrie auch fotografische Ansichten von halbbekleide- ten Menschen zu Werbezwecken einsetzen. In aller Regel – bis auf wenige Ausnahmen – wer- den in den 1920er und 1930er Jahren gängige Rollenklischees reproduziert: Der Mann wird als Vertreter des »starken«, die Frau als Vertre- terin des »schwachen« Geschlechts dargestellt. Während »Er« in sportlich-athletischer Pose als Balthas Blickles Wwe. demonstrativ Stärke zur Speerwerfer eine »gute Figur« machte, präsen- Schau stellte, übte »Sie« sich in Anmut und Gra- tierte »Sie« sittsam, mit hinter dem Kopf gefal- zie. Zum Schutz vor dem Stigma der Schamlo- teten Händen und geschlossenen Beinen, die sigkeit wurden individuelle Rundungen der Mo- neue Turnkleidung für Mädchen und Damen. delle mittels Retusche »geglättet«, sie kurzerhand Während »Er« in den Modefotografien der Firma ihrer individuellen Körperformen beraubt. 39 Maschenmuseum Albstadt 40

Auch die ment« präsentiert. Dass dabei das männliche Fa- Präsentation­ der milien-Oberhaupt mit entschlossenem Blick und »Sport-Artikel« der Firma Rehfuss & stolz geschwellter Brust im oberen Bilddrittel Stocker«, Ebingen steht, während die Frau mit streng gescheitel- 1934, spiegelt ter Frisur, das Mädchen, die Arme schamhaft anschaulich gängige Rollenklischees auf den Rücken gelegt, den Betrachter aus dem wider. unteren Bilddrittel anlächeln – dies alles scheint nicht zufällig zu sein. Es entspricht dem Ideal der damaligen Zeit.

Geradezu modern und partnerschaftlich mutet hier die Modefotografie der Firma Johannes Gon- ser K.G., Onstmettingen, aus den frühen 1960er Jahren an. Während »Er« breitbeinig, die Hände in die Taille gestemmt guten Stand beweist, ba- Vorübergehende Liberalisierungstendenzen der lanciert »Sie« – locker das Springseil haltend – Frauen in den 1920er Jahren waren vor allem anmutig zwischen Standbein und Spielbein. im großstädtischen Raum spürbar. Kaum dass die neu gewonnenen Freiheiten ihren Weg auch Sport und Trikot – ein Begriffspaar, das in seiner in ländliche Regionen angetreten hatten, wurden Entwicklungsgeschichte hinsichtlich einer stetig sie dort im Zuge des Nationalsozialismus schon zunehmenden Mobilität im 20. Jahrhundert gut wieder zurückgenommen. Im Katalog für Trikot-, und gerne als »eins« gedacht werden kann. Die Unter- und Oberbekleidung der Firma Rehfuss & frühe Werbung vorwiegend aus der 1. Hälfte des Stocker GmbH, Ebingen, aus dem Jahr 1934 wer- 20. Jahrhunderts belegt dieses fast symbiotische den »Sport-Artikel« wie zum Beispiel Polohem- Verhältnis anschaulich. den – 1933 von dem französischen Tennisspieler René Lacoste entwickelt – als »Familien-Arrange­ Susanne Goebel 41 Maschenmuseum Albstadt

Die Firma Johannes Gonser K.G., Onstmettingen (heute: GONSO), bringt in der Saison 1961/62 Schwung in die Präsentation ihrer Trainingsanzüge, auch wenn die geschlechtsspezifische Körperhaltung nach wie vor nicht untypisch für diese Zeit erscheint. 42 Garn, Tuch, Wolle Die Esslinger Textilindustrie

Aufbruch um 1800 ersten der vielen Esslinger Handschuhfabriken Die Esslinger Textilindustrie entsteht in der ers- ebenfalls 1810 beginnt, kommt aus der Schweiz. ten Hälfte des 19. Jahrhunderts und verarbeitet 1812 bittet zusätzlich der Kaufmann Christian über 150 Jahre lang Wolle und Baumwolle. Schoellkopf die Stadt erfolgreich darum, eine mechanische Baumwollfabrik einrichten zu dür- Bis um 1800 existiert die Textilverarbeitung in fen. Esslingen nur auf handwerklichem Niveau. Die Versuche zur Gründung von Textilmanufaktu- 1810 hat bereits Heinrich Rudy eine Metallwa- ren Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhun- renfabrik etabliert, die unter dem Namen und derts sind alle gescheitert. der Leitung seines Kompagnons Carl Deffner ab 1815 bis zur Mitte des Jahrhunderts alle an- Mit dem Verlust der Reichsunmittelbarkeit erge- deren Fabriken der Stadt an Ruhm und inter- ben sich neue Freiheiten. Am 6. September 1802 nationalem Erfolg in den Schatten stellt. Dann wird Esslingen militärisch, am 23. November übernimmt die Maschinenfabrik Esslingen, die 1802 juristisch von Württemberg in Besitz ge- 1846 mit königlicher Gunst als Großunterneh- nommen. Was viele in Esslingen als Ende einer men mit einem Kapital von 500.000 Gulden und annähernd 500-jährigen Freiheit empfinden, be- von Anfang an 500 Arbeitern gegründet wird, deutet für andere den Beginn einer neuen Zeit. die Rolle des Flaggschiffes der Esslinger Indust- rie. Sie entwickelt sich dank des rastlosen Grün- Die Industrialisierung Esslingens dungsdirektors Emil Keßler und einer stets en- 1810 gründet Christian Gottlieb Steudel nach gen Verbindung zum Königshaus rasant zu »der« Lehrjahren in der Schweiz eine Tuchfabrik, Maschinenfabrik des Landes. die schon 1811 an die obere Maille, also an den Rand der Stadt zieht. Dort produzieren er und 1856 wird, ebenfalls mit Unterstützung Emil nach ihm ab 1823 der spätere Sektfabrikant Ge- Keßlers, die Württembergische Baumwollspinne- org Christian Kessler gefärbte wollene Tücher rei und -weberei auf dem Brühl gegründet, einer und Teppiche. Auch Caspar Bodmer, der mit der vom bei umflossenen Halb- 43 Stadtmuseum Esslingen

einen Kinderhort, Wasch- und Backhaus (1872), eine Sparkasse und (1904) sogar eine Badean- stalt. Bis 1863 wird die Zahl der Spindeln auf 45.000 mehr als verdoppelt. 1899 ist die Firma das größte Unternehmen ihrer Branche im gan- zen Königreich Württemberg. Der Brühl bleibt eine eigene kleine Welt, bis die Fabrik 1961 die Produktion einstellt und vom großen Nachbarn Auf dem Kirch­ insel. Sie kann durch den Durchstich des Neck- Daimler-Benz übernommen wird. heimer Wollmarkt ars 400 PS Wasserkraft nutzen. Diese Kraft, kauften Merkel&Wolf die benötigten Wollen genügend Arbeitskräfte und eine gute Ver- Die Anfänge von Merkel & Wolf bis etwa 1850 kehrsverbindung sind die ausschlaggebenden 1830 wird die Esslinger Tuchfabrik »Merkel & (Lithographie von 1860, freundliche Argumente Keßlers für die Investoren. Angeb- Wolf« von Conrad Wolf (als technischem Leiter) Leihgabe des lich soll er die Gunst der Lage bemerkt haben, und den gebürtigen Ravensburgern Johannes Stadt­archivs als er 1852 zwei Neckardampfer begleitet, die in Merkel (als kaufmännischem Leiter) und Ludwig Kirchheim). der Maschinenfabrik Esslingen gebaut worden Kienlin (als stillem Teilhaber) in der Heugasse sind und nun neckarabwärts an ihren Bestim- 19 gegründet, mitten in der Esslinger Altstadt. mungshafen geschleppt werden. Sa- Merkel ist zuvor Kaufmannslehrling in Esslin- genhafte 1,2 Mio. Gulden werden von allen in- gen (im heutigen Stadtmuseum, Hafenmarkt 7) vestiert, die in Württemberg Rang, Namen und bei seinem Onkel Christian Schoellkopf gewe- Geld haben. 1857 nimmt die Fabrik mit 450 Be- sen, danach hat er in Stuttgart und Ravensburg schäftigten, 20.000 Spindeln und 300 Webstüh- gearbeitet. Kienlin hat ebenfalls in Esslingen len die Arbeit auf. Da sie buchstäblich auf der gelernt, dann aber in Stuttgart und Frankreich grünen Wiese errichtet worden ist, kommt man Arbeit gefunden. Er ist mit etwa 15.000 Gulden nicht umhin, die gesamte Infrastruktur darum Hauptgeldgeber; Merkel steckt gut 9.000 Gulden herum anzulegen: Für die 47 % zugezogenen Ar- in die Fabrik; Wolf bringt neben seiner Erfah- beiter eine Siedlung (1858), eine Schule (1869), rung als Werkführer bei G. C. Kessler Waren im 44

Wert von etwa 20.000 Gulden ins Geschäft ein, Stile für die neuen französischen und englischen aber auch Verbindlichkeiten in Höhe von 17.000 Maschinen nutzen können. Ab 1841/42 betreiben Gulden. Die geringe Kapitalausstattung bleibt in sie zusätzlich bereits eine erste Dampfmaschine den ersten Jahren ein ständiger Hemmschuh mit sage und schreibe 12 PS. für die Entwicklung der Fabrik. Damit sind sie jedoch noch lange nicht die be- Wolf hat jedoch bereits Erfahrung bei der Her- deutendste Wollfabrik in Esslingen. Die Tuchfa- stellung von Tuchen, Filzen und Decken in brik der Gebrüder Hardtmann, 1826 von Chris- Frankreich und Deutschland. Die neue Fabrik tian Gottlieb Steudel übernommen, läuft Merkel stellt Wolldecken und Tuche her. Vor allem die & Wolf noch in den Jahren 1841/42 locker den Wolldecken werden viel gekauft, da ihnen nach- Rang ab. Gegen ihre 350 Arbeiter sind die 150 gesagt wird, ihr Gebrauch beuge der Cholera vor von Merkel & Wolf fast bescheiden. Aber es sind – damals eine lebensgefährliche Volkskrankheit. über doppelt so viel wie die 70 bei der Hand- Aber schon nach fünf Jahren konzentriert man schuhfabrik Bodmer. Carl Deffner beschäftigt sich auf die Kamm- und Strickgarnspinnerei als mit Abstand größter Metallwarenfabrikant und beginnt damit das herzustellen, was über nicht mehr als 172 Arbeiter. Der Textilbereich vier Generationen das Profil der Firma prägt: dominiert damals die Esslinger Industrie. Webgarne und Strickwolle, genauer: die »Esslin- ger Wolle«. Die Spinnerei findet von Anfang an Als 1841 ganz Württemberg König Wilhelm I. auf der Maille statt, wo Wasserkraft von etwa 1 mit einem Festzug in Stuttgart zum 25-jährigen PS die Spinnmaschinen betreibt. 1833 baut man Regierungsjubiläum gratuliert, sind Merkel & dort das erste eigene Fabrikgebäude, in dem man Wolf mit einem eigenen Wagen dabei. sich ab 1835 ganz auf die Spinnerei konzentriert. Auf der ersten Esslinger Gewerbeausstellung 1840 ziehen Merkel & Wolf aus der Enge der 1843 wird folgerichtig die Position der Firma Altstadt ganz auf die Neckarwiesen um, wo sie im süddeutschen Raum als »hervorragend« be- auch das Wasser und seine Kraft im großen schrieben. Die Oberamtsbeschreibung Esslingens 45 Stadtmuseum Esslingen

Die württember­ gische Baumwoll­ spinnerei und -weberei auf dem Brühl lag auf der Höhe von Mettingen (links) zwischen dem Neckar und der heutigen B 10 (Freundliche Leihgabe Mercedes-Benz Classic, Archive).

zwei Jahre später stellt hingegen vor allem die Bedeutung bis in die 1890er Jahre fast ganz. Von Probleme mit der englischen Konkurrenz her- da an dominieren die australischen und die süd- aus, die aus der Freihandelspolitik des Zollver- amerikanischen Wollen. eins erwachsen. Die größeren Transaktionen im internationalen Die von Merkel & Wolf betriebene Spinnerei und Bereich belasten die Liquidität der stetig wach- Färberei wächst dennoch fast kontinuierlich. senden Firma. Da helfen auch günstige Darlehen Hat man noch in den 1830er Jahren die benötig- unter anderem 1834 von 10.000 Gulden durch te Wolle von adeligen Großgrundbesitzern (wie das Württembergische Königreich immer nur den Freiherren von Tessin oder von Gemmin- eine Zeit lang. gen) oder auf den süddeutschen Märkten — vor allem in Kirchheim und Heilbronn — eingekauft, In diesen Jahren beläuft sich das in die Firma ist man um 1850 bereits Dauerkunde in Wien investierte Geld bereits auf rund 200.000 Gul- und Budapest, wo man Wollen vom Balkan er- den. Rechts und links der Fabrikstraße kommen wirbt. Nach den 1860er Jahren kauft man welt- zu Färberei, Kontorgebäude und Spinnerei in ra- weit ein. Die süddeutschen Märkte verlieren ihre scher Folge neue Bauten hinzu: 1841 die Woll- 46

Nach dem Tod von Johannes Merkel 1869 wird dessen Sohn Oskar Teilhaber und 1870 Ge- schäftsführer. Unter seiner Leitung verdoppeln sich Belegschaft und Umsatz innerhalb der nächsten 20 Jahre. Das geht nur mit Arbeits- kräften von außerhalb des Oberamts Esslingen, die schon in den 1860er Jahren knapp die Hälfte der Beschäftigten ausgemacht haben. Die Beleg- schaft besteht aus etwa doppelt so vielen Frauen wie männlichen Arbeitern.

Schon 1894 zeigte wäscherei und Kämmerei, 1844 ein vierstöcki- Aus Merkel & Wolf wird Merkel & Kienlin Max Laeuger das ges Fabrikgebäude, 1855 eine neue Spinnerei mit Schon 1852 ist zusätzlich zur Fabrikkrankenkas- Firmengelände von Merkel & Kienlin eigenem Maschinenhaus, 1864 und 1866 werden se eine Ersparniskasse eingerichtet worden, in als Zentrum der Spinnerei und Kesselhaus vergrößert, 1868 die der das gesamte Personal für Notfälle spart. Mit Esslinger dritte Färberei errichtet. Nach 1900 ist das ge- Oskar Merkels Namen verbinden sich ab 1869 Woll­industrie (Badisches Landes- samte Gelände zwischen Bahnlinie und Neckar eine Pensionskasse, der Bau von Arbeiterwoh- museum , überbaut. In gleichem Maße wie die Bauten nungen, soziale Stiftungen sowie 1907 der Bau Foto: Thomas Goldschmidt) wächst auch der Maschinenpark. Haben vor des bis heute bestehenden öffentlichen Mer- allem französische Fabrikate aus Mülhausen, kel’schen Schwimmbades im schönsten Jugend- Reims oder Paris die frühen Jahre geprägt, stil. kommen ab den 1850er Jahren auch deutsche Maschinen zum Einsatz. Parallel dazu entwi- 1886 hat man von der in Konkurs geratenen ckelt sich die Nutzung der Dampfkraft, die in Hardtmannschen Tuchfabrik das Spinnereige­ der zweiten Jahrhunderthälfte die Fabrik von bäu­de samt der dazugehörigen Wasserkraft den Ungewissheiten der Wasserführung des Ne­ über­nommen. Seit 1891 firmiert die Firma als ckars befreit. Merkel & Kienlin, zehn Jahre später wird sie in 47 Stadtmuseum Esslingen

eine GmbH umgewandelt. Fast 1.000 Beschäftig- 1920er Jahren die so genannte »Trockenwolle« te und über 20.000 Spindeln markieren damals ein, die als wasserabstoßende Wolle viele Jahre ihre nationale Bedeutung. verkauft wird, nicht nur für Skipullover, sondern vor allem, um als Arbeits- oder Freizeitoberbe- Der Erste Weltkrieg trifft die Fabrik stärker als kleidung im Freien getragen zu werden. Auch die deutschen Einigungskriege von 1866 und die »MUK-Dekatur«, ein Verfahren, um die Wolle 1870/71, die man fast ohne Gewinneinbußen vor dem Verfilzen zu schützen, wird entwickelt. überstanden hat. Eugen Merkel ist 1912 auf sei- nen Vater Oskar Merkel gefolgt und Emil Kien- Die »Esslinger Wolle« lin auf seinen Bruder Albert von Kienlin. Von Die »Esslinger Wolle« gehört zu den frühen Mar- 1914 bis 1918 sackt die Produktion auf weniger kenartikeln in Deutschland; der Name und das als 20 % des Vorkriegsniveaus rasant ab, ist man Signet der beiden »Wollweibchen« im markanten doch von den Beständen der überseeischen Wol- Gelb-Rot stehen seit etwa 1930 für ein breites le vollständig abgeschnitten. Die allgemeine Tex- Programm an Wollqualitäten. Im August 1932 tilnot führt unter anderem dazu, dass man Pa- wird die Marke angemeldet und im November piergarne verspinnt, aus denen Säcke, aber auch 1933 eingetragen. 1929 bis 1932 ist der später Unterwäsche produziert werden. In den 1920er Jahren erholt sich das Geschäft mühselig. Am Ende des Jahrzehnts, als 1929 Eugen Merkel stirbt, betreibt die Firma mit 1.100 Beschäftigten 25.000 Spindeln, das sind gerade mal 20% mehr als beim Tod Oskar Merkels 1912, allerdings mit 8-Stunden-Tag (statt 11 Stunden) und einer deut- → lich gewachsenen Verwaltung. In Wollheft 4 werden 1929 bereits Immer wieder werden neue Wollsorten kreiert; farbig Weihnachts­ arbeiten vorgestellt. einen besonderen Stellenwert nimmt ab den 48

vor allem als Buch- und Schriftgestalter hervor- getretene Walter Brudi (1907–1987) Leiter des Werbeateliers der Firma Merkel und Kienlin. Seine moderne Handschrift erkennt man an einigen der Publikationen zum 100-jährigen Be- stehen der Firma aus dem Jahr 1930. Ob er die Im September 1937 Silhouette der beiden Frauen entworfen hat, ist bereitet das nicht dokumentiert. Diese wird vor allem mit der Esslinger Wollheft 88 bereits auf langen Reihe der »Esslinger Wollhefte« publizis- den mondänen tisch vermarktet, die ab 1929 bis in die 1960er Skiurlaub vor. Jahre in über 200 Ausgaben ein- bis dreimal im Vierteljahr herauskommen. Davor hat die Firma ihre Wolle mit realistischen farbigen Plakaten angepriesen, die von renommierten Künstlern gestaltet worden sind. So hat etwa Max Laeuger 1894 das aufwändige Plakat einer jugendlichen Schäferin mit ihrer Herde vor einer Esslinger Stadtansicht gestaltet. Ludwig Hohlwein verwen- det bereits 1925 das Motiv einer älteren stricken- den Frau vor der Esslinger Burg. Nun aber wird dieses Motiv extrem vereinfacht. Nur zwei Far- ben: Tomatenrot und Rapsgelb. Vor dem gleich- mäßig gelben Hintergrund sieht man im Profil in Rot zwei Frauen (zeitgemäß mit Dutt und weitem 1932 ist der Pullover Rock), die etwas machen, was heute erklärungs- aus Trockenwolle bedürftig ist. Die linke hat einen Strang Wolle ideal für den Montagehandwerker. zwischen ihre beiden Handgelenke eingespannt. 49 Stadtmuseum Esslingen

Von diesem Strang nimmt die rechte den Fa- den und rollt ihn zu einem Knäuel auf. Dies ist bis in die 1960er Jahre die normale Vorarbeit zum Stricken, da die Wolle nur gehaspelt und in Strängen, aber noch nicht in Knäueln verhan- delt wird. In den ganz frühen Darstellungen der Zwei Spinnerinnen 1930er Jahre erkennt man zwischen den beiden an der Spinn­ Frauen noch den Esslinger Dicken Turm, der auf maschine 1956. die Herkunft der Wolle verweist. Dieser Turm ziert unübersehbar die Befestigungsanlage der so genannten Esslinger »Burg«. → 1942 verlangt die Textilnot, dass man Die beiden »Wollweibchen« prägen als Signet bis für die Socken der zum Erlöschen der Firma den werblichen Auf- Soldaten alte tritt von Merkel & Kienlin. Ab 1933 wird diese Strümpfe wieder aufzieht. Silhouette kombiniert mit dem einer Schreib- 50

Atelier ins Freie, womit sie dann in den späten 1950er Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Karrie- re in Paris Furore macht.

1971: Das Ende der Produktion Zum 31. März 1971 wird die Produktion bei der »Esslinger Wolle« stufenweise eingestellt. Für etwa 600 Betriebsangehörige wird ein Sozial- plan aufgestellt; die Renten-Leistungen der Un- terstützungskasse, einer Stiftung, laufen jedoch schon im Oktober 1970 aus. 1971 einigt sich die Inhaberfamilie mit der Stadt Esslingen auf den Verkauf des gesamten Fabrikareals an die Kom- mune. 1973 stellt die Firma in der vierten Unter- nehmergeneration ihren Betrieb vollständig ein. Über die Art und die Gründe dieses Endes wird viel diskutiert, da es überraschend kommt und Die Fotografin schrift nachempfundenen Schriftzug »Esslinger die Firma ökonomisch keine Schwierigkeiten zu Walde Huth ging mit Wolle«. Diese gleichmäßig breite Schrift Walter haben scheint. ihren Modellen 1956 aus dem Atelier Brudi zuzuschreiben erscheint plausibel. hinaus ins Freie. Die Markenrechte am Namen »Esslinger Wolle« Nach dem Gestalter Brudi prägt die lange Reihe sowie am Signet der »Wollweibchen« werden ins der Esslinger Wollhefte in ihrem markanten Er- Rheinland an Schoeller/Eitorf verkauft und bis scheinungsbild die Fotografin Walde Huth (1923- heute weiterverwendet. Die Fabrikationsanlagen 2011). Sie geht mit ihren Modellen – oft Ange- in Esslingen werden 1972 bis 1979 abgebrochen. hörige der Firma oder deren Familienmitglieder An ihrer Stelle steht heute, umgeben von ei- – schon in den frühen 1950er Jahren aus dem nem Park, das Esslinger Landratsamt. Nur das 51 Stadtmuseum Esslingen

Socken und Strümpfe Literatur stricken war um Kleine Geschichte der Kammgarnspinnerei 1960 völlig alltäglich. Merkel & Kienlin Esslingen-Neckar und den Markenartikel Esslinger Wolle. o.O., o. J. Merkel & Kienlin G. m. b. H. (Hg.): 100 Jahre Esslinger Wolle. Stuttgart 1930. Erwin Haffner: Ein Jahrhundert Arbeit und Erfolg. Zum hundertjährigen Jubiläum der Firma Merkel & Kienlin Esslingen G. m. b. H. Stuttgart o. J. (1930). Gert von Klass: Die Wollspindel. Ein schwäbi- sches Familienportrait. Tübingen 1955. Heinrich Tiessen: Industrielle Entwicklung, gesellschaftlicher Wandel und politische Bewegung in einer württembergischen Fabrikstadt des 19. Jahrhunderts: Esslingen 1848–1914. Esslingen 1982 (Esslinger Studien, Schriftenreihe, Band 6). Gert Kollmer-von Oheimb-Loup: Grundzüge der wirtschaftlichen Entwicklung Esslingens Gärtner­haus und die unter Oskar Merkel 1873 vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten im Neorenaissancestil erbaute heutige städti- Weltkrieg. In: Birgit Hahn-Woernle (Hg.): sche Galerie »Villa Merkel«, die unter Denkmal- . Aspekte der schutz stehen, verweisen dort noch auf den eins- Geschichte. Esslingen 2007. tigen Standort der »Esslinger Wolle«.

Martin Beutelspacher 52 Von Reutlingen in die Welt

Reutlingen wird Industriestadt Die Firma Ulrich Gminder ging 1814 aus einer Die Herstellung textiler Erzeugnisse hat in Reut- Färberei hervor. Nach einem Handel mit Baum- lingen eine lange Tradition. Als »Reutlinger Ar- wollwaren wurde die Produktion 1864 durch tikel« waren schon vor der Epoche der Industri- eine Weberei erweitert, eine Spinnerei und die alisierung gestrickte und gehäkelte Baby- und Ausrüstung folgten. Um 1914 wurde in zwei Kinderbekleidung, Geldbeutel, Handschuhe und Spinnereien mit annähernd 86.000 Spindeln Spitzenwaren bekannt, die lange Zeit in Heimar- und drei Webereien mit rund 2.500 Webstühlen beit und als Nebenerwerb hergestellt wurden. produziert. Beschäftigt waren zu der Zeit mehr als 2.700 Mitarbeiter. Bekanntestes Produkt war Erste Anfänge der Mechanisierung gab es 1828, das »Gminder Halblinnen«, ein Baumwoll-Lei- als die Gebrüder Neuner eine Spinnerei mit 45 nen-Mischgewebe. Das Unternehmen war einer Mitarbeitern errichteten, deren Maschinen mit der führenden Textilbetriebe Deutschlands und Wasserkraft aus der betrieben wurden. existierte bis 1964, als die Textilkrise auch Reut- 1842 stellten die Brüder Finckh in ihrer Fabrik lingen erfasste und die Firma verkauft wurde. den ersten mechanischen Webstuhl in Reutlin- gen – und den ersten Wollwebstuhl Deutsch- Neben diesen Textilfirmen verarbeiteten zahl- lands – auf. Durch den Eisenbahnanschluss reiche Firmen die Garne und Stoffe, wie bei- 1859 kam der endgültige Durchbruch für den spielsweise Krimmel & Cie und Gustav Bild, die Industriestandort Reutlingen. Zahlreiche Firmen Kinderkleidung herstellten. Das Unternehmen wurden gegründet, die Reutlingen unter ande- von Gustav Lamparter produzierte vorwiegend rem als Ort der Textilindustrie bekannt mach- Berufsbekleidung. ten. Oft entwickelten sich aus kleinen familiären Handwerksbetrieben große Unternehmen. Zu Begünstigt durch das Textilgewerbe entwickel- erwähnen sind hier unter anderem die Baum- te sich eine rege Zuliefererindustrie. Die 1877 wollweberei Hecht & Groß, die Webereien und gegründete Emil Adolff AG spezialisierte sich Spinnereien G. M. Eisenlohr und G. & A. Leuze. auf die Herstellung von Spulen und Hülsen aus Papier und später aus Kunststoff, die als Garn­ 53 Industriemagazin Reutlingen

träger fungierten. Die Firma entwickelte sich im nikum entwickelte sich zu einer der führenden 20. Jahrhundert zum führenden Spulenherstel- Institutionen für das Erlernen theoretischer und ler Europas mit knapp 2.000 Beschäftigten. Ein praktischer Kenntnisse auf dem Gebiet der Tex- weiterer Zuliefererbetrieb war die Firma C. C. tiltechnik mit Schülern aus der ganzen Welt. Das Egelhaaf KG, die Webereiutensilien wie Web- Technikum ging in der Hochschule Reutlingen schäfte herstellte. Diesen beiden Firmen wur- auf, in der die textile Ausbildung bis heute eine de ihre Abhängigkeit von dieser Industrie zum große Rolle spielt. Verhängnis, wie auch vielen anderen, die sich durch das Textilgewerbe entwickelten. Die ab den 1960er Jahren einsetzende Krise der Textil­ branche betraf auch die Zuliefererfirmen und bedeutete für viele das Ende.

Reutlingen war ab der Mitte des 19. Jahrhun- derts eine der wichtigsten Ausbildungsstätten in Süddeutschland für Fachkräfte der Textilpro- duktion.

Auf Betreiben mehrerer Industrieller, die im Reutlinger Gewerbeverein organisiert waren, wurde 1855 mit Hilfe der Königlichen Zentral- stelle für Handel und Gewerbe und der Stadt die Webschule gegründet. 1891 erfolgte aus Platzgründen der Umzug vom Spendhaus in ei- nen prachtvollen Neubau in der Kaiserstraße. 1908 wurde die Schule in »Staatliches Techni- kum für Textilindustrie« umbenannt. Das Tech- 54

Sport- und Bademoden Trainingsanzug Ein verändertes Freizeitverhalten mit sportlicher »Modell Rom« der Betätigung in Turn- und Sportvereinen förder- Firma Büsing, 1960. te nach 1900 die Entwicklung und Produktion geeigneter Kleidung. Die drei im Folgenden be- schriebenen Unternehmen passten sich diesem Trend an. Sie haben auf unterschiedliche Weise dazu beigetragen, die Industriestadt Reutlingen für qualitativ hochwertige Sportmode bekannt zu machen.

Büsing Das Unternehmen Büsing wurde 1865 als Strick- und Wirkwarenfabrik Büsing & Keßler gegrün- det. Die Produktion begann mit der Herstellung von gestrickter Baby- und Kinderkleidung. 1878 erfolgte die Trennung der beiden Gründer und die Firma wurde unter dem Namen Büsing & Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Trikotab- Co. weitergeführt. 1888 besaß sie drei Wirkma- teilung mit der Herstellung gestrickter Damen- schinen, einen Kettenstuhl und verschiedene wäsche ausgebaut. Die Marke »POROLASTIC« Handstrickmaschinen. Rund zehn Jahre später wurde geschaffen und unter diesem Namen ka- kam die erste Motorflachstrickmaschine von men die ersten Bade- und Trainingsanzüge auf der Reutlinger Maschinenfabrik Stoll zum Ein- den Markt. satz. Um die Jahrhundertwende beschäftigte der Betrieb rund 400 Mitarbeiter. 1910 vergrößerte 1936 begann mit der Ausrüstung der deutschen sich das Unternehmen mit einem Neubau in der Mannschaft bei der Olympiade in Berlin eine Er- Bismarckstraße. folgsgeschichte. Bei mehreren Olympiaden trug 55 Industriemagazin Reutlingen

→ jede deutsche Mannschaft POROLASTIC-Klei- Trainingsanzug dung. 1960 waren der Iran und Südafrika die ers- der Firma Büsing, 1936. ten ausländischen Mannschaften, die mit Sport- Bei der Olympiade kleidung aus Reutlingen ausgestattet waren. Bei 1936 wurde der Anzug bei der Olympiade 1964 in Tokio trugen selbst die zwei Aufmärschen und Sportler der Elfenbeinküste POROLASTIC-An- Siegerehrungen züge. Beim Zwischenstopp in Paris entdeckten getragen. sie die Zweiteiler und bestellten sie sofort – in einem eigens gewünschten Grünton. Die Sport- ler bekamen die Anzüge direkt in die japanische Hauptstadt nachgeschickt. Für die Olympiade in Japan entwickelte Büsing eine hochelastische, nur 37 Gramm schwere Badehose. Den Erfolg mit der neuen Badehose beim Test im Wasser erhielt das Reutlinger Unternehmen per Tele- gramm: »Hose prima – Weltrekord geschwom- men.«

Anfang der 1960er Jahre arbeiteten in der Fir- ma rund 800 Mitarbeiter an fünf Standorten. 1980 begann es in dem Unternehmen zu kriseln. Die allgemeine Textilkrise, Mängel in der Be- → triebsstruktur und nicht kostendeckende Groß- Werbebroschüre der aufträge führten 1981 zur Aufgabe der einst be- Firma Büsing, 1960er Jahre. deutenden Firma. 56

Heinzelmann Badeanzug und Neben Unterwäsche und Damenoberbekleidung Badehose, war die Firma Heinzelmann vor allem mit Frei- Firma Heinzelmann 1930er- und zeitsport- und Bademode erfolgreich. 1960er Jahre. Unter der Marke »Heinzelmann- Hermann Heinzelmann übernahm 1886 die Stri- Orchidee« eroberte ckerei Wizemann und führte sie unter seinem die Firma den Namen weiter. In der Anfangszeit wurde sie mit des Firmengründers 1896 übernahmen die Söh- internationalen Markt der Bademoden. dem Alleinvertriebsrecht und der Herstellung ne Max und Oskar die Firmenleitung. Sie hatten von baumwollener Unterwäsche für den Lebens- zuvor eine fundierte Ausbildung im Technikum reformer Dr. Lahmann bekannt. Nach dem Tod erhalten. Um die Jahrhundertwende begann das Unternehmen zu expandieren. An der Planie wurde ein Fabrikneubau und die Familienvilla errichtet. In Dettingen (Rottenburg) kam ein Au- ßenwerk hinzu.

In den 1920er Jahren brachte Hans Heinzel- mann, der Enkel des Firmengründers, die Idee von gestrickter Badebekleidung in modischer Ausführung aus den USA mit nach Deutschland. Die Freiluftbewegung und der Drang nach dem Aufenthalt an frischer Luft begünstigten diese neue Produktlinie. Zu der Zeit wurde erstmals mit synthetisch erzeugten Fasern experimen- tiert, die flexibel und belastbar waren. Schon bald waren sie in vielen Kleidungsstücken zu finden. 57 Industriemagazin Reutlingen

1937 übernahm die Firma ein englisches Patent für die Herstellung von modischen Baumwoll- badeanzügen, die durch Gummifäden gerüscht wurden.

In den 1950er Jahren bekam das Unternehmen die Lizenz für die amerikanische Marke »Cata- lina«. Bei den Mustern wurde experimentiert und die Bademoden ganz im Stil ihrer Zeit pro- duziert. Anfang der 1960er Jahre waren 70 % der produzierten Waren Bademoden. Die Na- men der Modelle »Adria«, »Cypern« und »Mona- co« spiegelten das Fernweh der Deutschen der Wirtschaftswunderjahre wider. Zu der Zeit be- schäftigte das Unternehmen 800 Mitarbeiter. Die Auftrags­bücher waren voll und die Produktion war enorm. → Strandkleid und Badeanzug der In den 1970er und 1980er Jahren wurde im Ge- Firma Heinzelmann, werbegebiet noch einmal erweitert, die Anzahl der 1960- und 1980er Mitarbeiter an allen Standorten lag bei rund 1200. Jahre. Ab Mitte der 1960er Jahre wurde immer mehr Dennoch machte der allgemeine Niedergang der Freizeit­kleidung hergestellt. Mit Mary Textilindustrie auch vor dem Traditionsunter- Quant, der Erfinderin nehmen nicht Halt. Obwohl sie sich noch lange des Minirocks, wurde am Markt halten konnte, erfolgte 1990 die Liqui- ein Lizenzvertrag abgeschlossen. dation der Firma Heinzelmann. 58

Badeanzüge, Firma Heinzelmann 1970er Jahre. In den 1970er Jahren wurden die Modelle immer ausgefallener und gewagter. 59 Industriemagazin Reutlingen

Wehrstein/Erima → Von den drei großen Firmen, die in Reutlingen Katalog der Firma Sportbekleidung herstellten, existiert als einzige Wehrstein & Co., 1930er Jahre. die Firma Wehrstein bzw. Erima noch. Remigius Wehrstein wohnte seit 1909 in Reutlingen und machte sich 1912 mit einer Trikot­näherei selbst- ständig. 1913 besaß er ein »Spezialgeschäft für Turnkleider« in der Deckerstraße mit Geschäfts- räumen in der Lederstraße.

Die Geschäfte liefen gut, so dass die Firma in den 1920er Jahren mit einem Neubau in der Bismarckstraße ihre Produktion erweiterte. In den 1920er Jahren lautete der Name der Firma »Wehrstein & Co«, ab 1936 war der neue Inhaber Erich Mak, der Name Wehrstein blieb vorerst bestehen.

1953 wurde der Name »Erima« beim Patentamt als Marke eingetragen, obwohl er schon seit Wimpel der TSG 1948 Verwendung fand. Der Marken- und heu- Reutlingen. tige Firmenname setzt sich aus dem Namen des Firma Wehrstein, 1930er Jahre. Inhabers Erich Mak zusammen. 60

→ Erich Mak verlegte die Fabrik in den 1970er Jah- Trikotaufnäher des ren an den Stadtrand und wandelte die Firma in SSV Reutlingen, Firma Wehrstein, eine GmbH um. Anfang der 1990er Jahre zog das 1930er Jahre. Unternehmen nach an den heutigen Firmensitz. Erima entwickelte sich zu einem be- deutenden Hersteller von Sporttextilien und war neben weiteren Firmen, unter anderem Büsing, in den 1960er und 1970er Jahren Ausrüster der deutschen Olympiamannschaften. 1974 wurde die deutsche Fußballnationalmannschaft in Eri- ma-Trikots Weltmeister. Zwei Jahre später kauf- te Adidas das Unternehmen. Anfang der 1990er Jahren geriet die Adidas-Tochter in eine Krise und verlagerte aus Kostengründen die Produkti- on nach Asien. 1993 wurde die gesamte Produk- Literatur tion eingestellt. Durch Sanierungsmaßnahmen Heimatmuseum Reutlingen (Hrsg.): Mühlen und Umstrukturierungen ging es mit der Firma und Maschinen. Der Beginn der Industriali- wieder bergauf und seit 2005 ist Wolfram Mann- sierung an der Echaz. Reutlingen 1999. herz durch ein Management-Buy-Out alleiniger Artur Georg Richter, Hans Metzler: Das Eigentümer. Heinzelmann-Lesebuch. Reutlingen 1978. → Willi A. Boelcke: Reutlingens Aufstieg zur Sporthose mit patentiertem Die einst von Remigius Wehrstein gegründete Industriestadt bis 1914, in: Reutlinger Seitenschlitz, Firma existiert erfolgreich bis heute, auch wenn Geschichtsblätter NF 39 (2000), S. 195–212. Firma Wehrstein / schon lange nicht mehr am Standort Deutsch- Wilhelm Borth, Bernd Breyvogel, Wolfgang Jung: Erima, Reutlingen 1950er Jahre. land produziert wird. Reutlingen. Von der Reichsstadtherrlichkeit zur selbstbewussten Großstadt. Reutlingen Marisse Hartmut 2013. 61 Industriemagazin Reutlingen 62 Die Textilindustrie in Mössingen und die Textildruckfirma Pausa

Nicht unüblich für die Region am Albrand fin- 20. Jahr­hunderts. 1938 kamen die Firma Mehl den sich auch im Mössinger Gewerbekataster von Tübingen über Nehren und 1947 die Wäsche­ im frühen 18. Jahrhundert 38 Handweber, de- fabrik Merk aus Öschingen dazu. Öschingen und ren Zahl in den nächsten 100 Jahren auf annä- Talheim brachten bei den Eingemeindungen in hernd 100 anwächst. In diesem Zusammenhang den frühen 1970er Jahren zwei weitere größe- ist auch die Errichtung einer Webereiwerkstätte re Textilfirmen mit nach Mössingen: die Trikot- in Mössingen im Jahre 1856 durch die Firma warenfabrik Christian Schöller und die Dölker Baruch und Söhne aus Hechingen zu sehen, die Textil GmbH. Von diesen einstigen großen Tex- zum Ziele hatte, Weber auszubilden, die dann als tilfirmen auf der Mössinger Markung existiert Verlagsarbeiter für die genannte Firma Webwa- keine mehr und auch von den zahlreichen hier ren herstellen sollten. nicht genannten kleineren Betrieben im Textil- bereich produzieren lediglich noch die Firmen Die Industrialisierung Mössingens begann 1866 Textilveredelung Keller GmbH in Öschingen und mit der Korsettweberei Anstätt, die jedoch nur die Bandweberei Schanz in Mössingen. kurze Zeit bestand. Wesentlich erfolgreicher war das 1871 in Mössingen gegründete Zweigwerk Die Pausa der Löwensteins und der Seidenspinnerei Ammann und Söhne, das Richard Burkhardt – Aufschwung, 1925 die Baumwollspinnerei und Trikotwarenfa- Arisierung und Kriegsproduktion brik Merz erwarb. 1875 gründete sich die Mecha- Große Bedeutung gewann in Mössingen der nische Buntweberei Hummel, die nach verschie- Textil­druck. Nach dem Ersten Weltkrieg began- denen Besitzerwechseln von den Gebrüdern nen die Gebrüder Löwenstein in ihrer neu er- Löwenstein übernommen wurde. Diese gaben worbenen Firma mit dem Holzmodeldruck. Sie der Firma den Namen Pausa. Im Jahre 1900 kam bedruckten in erster Linie Tischdecken von ho- es zur dritten größeren Gründung einer Textilf- her Qualität. irma vor Ort mit der Mechanischen Buntwebe- rei Burkhardt. Diese drei Betriebe beherrschten Artur und Felix Löwenstein ergänzten sich na- den Textilstandort in Mössingen bis Mitte des hezu ideal. Während Artur sich mehr um das 63 Kulturscheune Mössingen

Stoffmuster aus Technische kümmerte, beschäftigte sich Felix Während die Dessins der ersten bedruckten den frühen 1920er verstärkt mit der künstlerischen Seite des Ge- Stoffe der Pausa noch stark an die Ästhetik der Jahren im Stile der Produkte der Wiener schäfts. Von Beginn an bestand in der Pausa Wiener Werkstätten erinnerten, kamen im Laufe Werkstätten der Anspruch, möglichst alle für das Endpro- der 1920er Jahre mehr und mehr Einflüsse des dukt Stoff notwendigen Komponenten, von der Werkbundes und des Bauhauses zum Tragen. Rohware über die Farben bis zum Design, in der Allgemein stand die Pausa für die damals bahn-

Das 1925 erbaute und eigenen Fabrik zu fertigen. brechenden Vorstellungen, die Kunst und die In- 1927 aufgestockte dustrie miteinander zu versöhnen, das Schöne in Druckereigebäude den Alltag zu integrieren und Gebrauchsgegen- der »Alten Pausa« in der Falltorstraße stände sowohl funktional als auch unter ästheti- schen Gesichtspunkten zu produzieren. Schon in den 1920er Jahren waren die Löwensteins mit ihren Produkten auf verschiedenen wichtigen Messen vertreten, z. B. seit 1923 auf der Leipziger Messe. 1929 gewann die Pausa auf der Weltaus- stellung in Barcelona zwei große Preise, den ei- nen für gewebte Dekorationsstoffe, den anderen für bedruckte Vorhangstoffe. Die Erfolge setzten sich im folgenden Jahr fort. So waren 1930 Pau- sa-Stoffe in Paris und im Metropolitan Museum of Art in New York zu sehen.

Die Weltwirtschaftskrise traf die Pausa hart und der Umsatz ging um drei Viertel zurück. Die Löwensteins hatten noch 1928 eine neue Hal- le an der damaligen Reutlinger Straße gebaut und trotz der damit verbundenen Schuldenlast 64

wagten sie 1931 einen innovativen Schritt in Der neue Firmenchef Richard Burkhardt ver- der Drucktechnik. Als eine der ersten im Tex- suchte, so gut es ging, an die Tradition der Löwen- tilbereich begannen sie mit dem damals so ge- steins anzuknüpfen, was bei den ästhetischen nannten Filmhanddruck – heute würde man Vorstellungen der Nationalsozialisten nicht so von Siebdruck sprechen. Mit der neuen Technik einfach war. Nach wie vor beteiligte man sich konnten nicht nur bessere Qualitäten, sondern an wichtigen Ausstellungen und man hatte auch auch höhere Quantitäten gedruckt werden, was entsprechende Erfolge vorzuweisen. Noch 1940 die Pausa dem Anspruch der Versöhnung von bekam die Pausa eine Auszeichnung auf der Tri- Kunst und Industrie ein Stück näherbrachte. ennale in Mailand. Doch der Krieg ging auch an Willy Häussler der Pausa nicht spurlos vorüber. Nach und nach bei der Warenprobe Nachdem die finanziell schwierigen Zeiten weit- wurde auf Kriegsproduktion umgestellt und die gehend überwunden waren, begann die Firma ganze Entwicklung kulminierte schließlich in Mitte der 1930er Jahre wieder Gewinn abzu- der Herstellung von Verdunklungsstoffen, Mat- werfen, und dies trotz der Einschränkungen, die ratzendrellen und Bakelitschalen für die Wehr- sie als Betrieb mit jüdischen Besitzern erdulden macht. musste. 1936 sahen sich die Gebrüder Löwen- stein dann schließlich gezwungen, ihre Firma in Zunehmend wichtiger für die Pausa wurde der Mössingen zu verkaufen. Als Käufer trat die Fir- 1900 in Hechingen geborene Willy Häussler, der mengruppe Burkhardt-Greiner auf, die aus dem schon 1935 bei den Gebrüdern Löwenstein als Raum Reutlingen kam. Die Arisierung der Pau- künstlerischer Berater eingestellt wurde. Auch sa, genauer gesagt, der erzwungene Verkauf der nach der Arisierung der Firma blieb er dem Firma, brachte den ehemaligen Besitzern unge- Mössinger Betrieb erhalten. Er stieg zum künst- fähr ein Viertel des damaligen Verkehrswertes lerischen Leiter auf und als er nach dem Krieg ein. die verwitwete Tochter von Richard Burkhardt heiratete schließlich zum Firmenchef. 65 Kulturscheune Mössingen

→ Entwurfszeichnung von Leo Wollner

Die goldene Zeit der Pausa unter Willy Häussler Es ist Willy Häusslers großem Geschick und ästhetischem Geschmack zu verdanken, dass schon bald nach der Währungsreform die Pausa erneut aufblühte. Die ersten Muster erinnerten noch stark an die Vorkriegszeit. Das änderte sich aber schon bald, denn Willy Häussler gelang es, bedeutende Künstler und Designer an die Pausa zu binden. Vor Ort arbeitete mit Walter Matysiak Stoff nach einem Entwurf von HAP Grieshaber

Willy Häussler erwarb von Willy Baumeister mehrere Gemälde mit der Genehmigung, diese als Vorlage für Stoffe zu benutzen. 66

→ ein äußerst produktiver Entwerfer, dessen Name Dessin »Bawo«, mit der Mode der Nierentischzeit eng verknüpft Entwurf von Wolf Bauer ist. Häusslers Talent, Künstler an sich zu bin- den, zeigt sich unter anderem darin, dass es ihm gelang, HAP Grieshaber für den Stoffdruck zu begeistern und Motive von Willy Baumeister zu drucken.

Um neue Talente für die Firma zu gewinnen, schrieb die Pausa in regelmäßigen Abständen Wettbewerbe für junge Designer aus. So kam auch der Wiener Leo Wollner zur Pausa, der dann von 1957 bis 1991 den Lehrstuhl für Textildesign an der Kunstakademie in Stuttgart innehatte – eine Zeit intensivster Zusammenarbeit zwischen Pausa und Kunstakademie. Die Liste der Künst- ler und Designer, die für die Pausa arbeiteten, Dessin »Kugel«, um dem Werbeslogan »Stoffe nach Künstlerent- Entwurf von würfen« gerecht zu werden, ist lang. Hier seien Verner Panton neben den schon angeführten nur wenige der vielen Namen genannt: Alfred Eichhorn und Verner Panton, Victor Vasarely, Piero Dorazio, Klaus Heider, Siegfried Doege und Dieter Noss. → Nicht zu vergessen sind die originären Stoffdesi- Stoff aus der gner, die als freie Mitarbeiter für die Pausa tätig Kollektion »Mexiko«, waren, wie Elsbeth Kupferoth, Ilsebill Matthis, entworfen von A. Felger Wolf Bauer, Walter Lein oder Renate Schulz. 67 Kulturscheune Mössingen

→ Doch Willy Häussler verstand es nicht nur Die von Anton Künstler, die schon einen Namen hatten, an die Stankowski gestalte- ten Werbematerialien Pausa zu binden, auch im eigenen Hause erkann- verwendeten gern te er Talente und förderte sie. Es sei nur an den das P als Kennzei- chen der Pausa, wie Belsener Andreas bzw. Adolf Felger und an den bei der hier gezeigten Mössinger Eckart Aheimer erinnert, die beide Papiertragetasche. als Musterzeichner in der Pausa begonnen hat- ten.

Aber mit der Anstrengung um die Qualität und Ästhetik der Stoffe war Willy Häusslers Ehrgeiz noch lange nicht befriedigt. Er setzte alles daran, um aus der Pausa eine Art Gesamtkunstwerk zu machen. Es gelang ihm schon in den frühen 1950er Jahren den Stuttgarter Graphiker, Maler und Designer Anton Stankowski zu gewinnen. Anfänglich entwarf Stankowski Messestände und Werbematerialien für die in halbjährigem Rhythmus vorgestellten neuen Pausa-Kollekti- onen. Schon bald wurde aber ein Gesamtkon- Design« reden, damals sprach man vom Pau- zept für die Pausa entwickelt, das sich unter sa-Stil. Dabei darf neben Stankowski und Häuss- den Werbeslogans »Modernität und Variation« ler eine dritte Person nicht vergessen werden, oder »Beständigkeit in gutem Geschmack« zu- die sich ideal in das Konzept des »Gesamtkunst- sammenfassen lässt. Auch das Pausa-Logo – ein werks Pausa« einfügte – der Architekt Manfred Schriftzug, der an die Schablonenschrift aus Lehmbruck, der in den 1950er Jahren die heute der Bauhauszeit angelehnt ist – stammt von denkmalgeschützten Gebäude der »Neuen Pau- Stankowski. Heute würde man von »Corporate sa« entwarf. 68

Zwei der Lehmbruck-Bauten: Das Verwaltungs­ gebäude und die daran angebaute Ausrüstungshalle

Die personelle Dreiheit Häussler, Stankowski Beispielhaft sei hier nur die Weltausstellung und Lehmbruck steht für die 1950er und 1960er in Brüssel im Jahre 1958 angeführt, wo Pau- Jahre der Pausa, die auch gern als ihre »Golde- sa-Stoffe gezeigt wurden. Die Pausa war nicht ne Zeit« bezeichnet werden. Damals bildete sich nur ästhetisch auf dem Höhepunkt der Zeit der Pausa-Stil heraus und die Mössinger Textil- und darüber hinaus für viele Änderungen im druckfirma erlangte Weltruf. Erscheinungsbild der Dekorationsstoffe gerade- 69 Kulturscheune Mössingen

Werner Greiner und Der Flachdruck war zu Trendsetter, auch bei der Technik des Textil- der Niedergang der Pausa lange Zeit noch reine drucks war man innovativ und immer auf dem Willy Häussler zog sich im Laufe der 1970er Handarbeit, bei der die Farbe von zwei neuesten Stand. In den 1960er Jahren ging gut Jahre aus der Pausa zurück und übergab die Personen mit der ein Viertel der Pausa-Produktion in den Export, Führung des Betriebs nach und nach an sei- Rakel auf der und zwar in 36 verschiedene Länder. Zu dieser nen Stiefsohn Werner Greiner. Dieser legte, Schablone verteilt werden musste. Zeit hatte der Mössinger Betrieb mit über 600 wie schon Willy Häussler, großen Wert auf die Beschäftigten auch seinen personellen Höchst- künstlerische Ausrichtung des Betriebs. Die Zei- stand erreicht. Nebenbei erledigte die Pausa ten hatten sich jedoch geändert. Nachdem der → Spezialaufträge von hoher künstlerischer und Textilindustriestandort Deutschland zunehmend Bei größeren technischer Qualität. So druckte man u. a. zahl- in die Krise geraten war, versuchte die Pausa Mengen kam der reiche Bühnenvorhänge für bedeutende Opern- durch technische Innovationen und Ausweitung Rotationsdruck zur Anwendung. und Festspielhäuser. der Produktpalette (u. a. durch Stoffe mit Metall­ 70

effekten und die Herstellung von bedruckten Der weitere Verlauf der 1990er Jahre brachte vor Kleiderstoffen) ihre führende Marktstellung zu dem Hintergrund von unterlassenen Neuinvesti- halten. Durch diese Anstrengungen schaffte tionen und Fehlern im operativen Geschäft der man trotz schwieriger Marktsituation und viel- Pausa immer größer werdende wirtschaftliche leicht nicht mehr ganz zeitgemäßen Ansprüchen Probleme. Die Umsatzzahlen sanken rapide und 1991 mit über 90 Millionen DM noch einen Um- die Anzahl der Beschäftigten wurde reduziert. satzrekord. Verzweifelt versuchte man durch neue Produkte

Druck eines Hungertuchs. Zwischen 1982 und 2004 druckte die Pausa für Misereor diese Tücher, die in den katholischen Kirchen während der Fastenzeit zur Verhüllung des Altars dienen. 71 Kulturscheune Mössingen

und neue Techniken noch einmal Fuß zu fassen. den neuen Gegebenheiten die Gebäude zu ver- Es kamen nun »Ausbrenner«, »Schrumpfstoffe«, werten, erwarb 2006 die Stadt Mössingen das »Foliendrucke« und »Schaumdrucke« in den Ver- Areal der Neuen Pausa mit sämtlichen Gebäu- kauf, »Unis« und »Lackdrucke«, selbst mit Laser- deteilen und den Sammlungen. technik wurde experimentiert. Hermann Berner Bis zum Schluss war die Grundqualität der Pro- dukte der Pausa hoch und innovativ. Werner Greiner war der Motor all dieser Neuerungen, aber den wirtschaftlichen Aspekt übersah er häufig. So kam es schließlich 2001 zur Insolvenz. Die Textildruckfirma Beck aus Mittelstadt bei Reutlingen erwarb den Betrieb, aber es bestand Literatur wenig Interesse, diesen weiterzuführen. Man Hermann Berner, Werner Fifka (Hg.): fuhr die Produktion nach und nach herunter, Das Bauhaus kam nach Mössingen. reduzierte die Anzahl der Mitarbeiter und ver- Mössingen-Talheim 2006. kaufte die Maschinen. Als man schließlich Ge- Hermann Berner, Dagmar Weinberg: bäude abbrechen wollte, um Teile des Betriebs- Mössinger Geschichte(n). Tübingen 1999, geländes zu verkaufen, meldete sich der Denk- S. 115–133. malschutz. Die Lehmbruck-Gebäude wurden Dieter Büchner, Michael Ruhland: mitsamt verschiedenen Einrichtungsteilen, der Kompromisslose Beständigkeit in gutem Stoffsammlung, den Entwürfen, den Musterbü- Geschmack. Die Textilfirma Pausa in chern, den Werbematerialien und der Firmen- Mössingen (Kreis Tübingen), in: Denkmal- bibliothek unter Denkmalschutz gestellt und als pflege in Baden-Württemberg. Nachrichten- Grundgesamtheit Pausa ins Denkmalbuch des blatt der Landesdenkmalpflege. Heft 3, 2005. Landes Baden-Württemberg eingetragen. Nach Pausa: Zeit-Stoff, Firmenschrift der Pausa AG. vergeblichen Versuchen der Firma Beck, unter Stuttgart o. J. (1986). 72 Glossar

Beilaufgarn Besonders beanspruchte Stellen Dessinateur Textilzeichner, der Muster entwirft wie Ellbogen oder Sockenferse und -spitze und diese dann auf Patronenpapier in eine können mit Beilaufgarn verstärkt werden. technische Zeichnung umwandelt. Damit erhöhen sich Reißfestigkeit und Lebensdauer der Strickwaren. Doppelsteppstichmaschine Die Doppelsteppstich- maschine ist eine Nähmaschine, deren Näh- Bindung Bildung eines Gewebes durch Ver­ te in der Regel von einem Oberfaden (Nadel- kreuzung von rechtwinkligen Faden­ faden) und einem Unterfaden (Spulenfaden) systemen (Kette und Schuss). Es gibt drei gebildet wird. Sie stellt eine Geradstichnaht Grundbindungen: Leinwand-, Köper- und her, die fest und haltbar, jedoch wenig dehn- Atlasbindung. bar ist. Daher kommen Doppelsteppstich- maschinen hauptsächlich bei Gewebe und Blattmacher Die Kettfäden eines Webstuhls seltener bei Maschenwaren zum Einsatz. werden durch ein Webblatt geführt, das sie sauber voneinander trennt. Früher bestand Handculier- oder »Strumpfwebstuhl« Frühes dieses aus Schilfrohr, später aus Metall. Der Arbeitsgerät zur Mechanisierung des (Hand-) Blattmacher gehört zu den Zulieferbetrieben Strickens. Die Erfindung wird dem engli- der Weberei. schen Pfarrer William Lee aus Calverton bei Nottingham zugeschrieben. Er hatte die Dekatur Bei der Dekatur wird die Wolle mit Idee, die Nadelspitzen zu einem Haken um- feuchter Wärme unter Druck stabilisiert zubiegen. Bereits 1589 konnte er den ersten und der Glanz abgeschwächt. Bei Geweben funktionierenden Handkulierstuhl für die aus Kammgarnen werden Griff und Optik Strumpfwirkerei, die lange – aus technischer verbessert. Sicht fälschlicherweise – auch Strumpf­ weberei genannt wurde, vorführen. 73 Glossar

Harnisch Webstuhlaufsatz, der es ermöglicht, Maschenwaren Sammelbegriff aller aus die Kettfäden einzeln zu bewegen und Maschen hergestellten Erzeugnisse. damit aufwändige Muster zu weben. Die Maschenwaren werden auf Rundwirk- oder Ver­bindung erfolgt über ein kompliziertes Strickmaschinen aus einem fortlaufenden System von Schnüren und Litzen. Gleich­ Faden, d.h. im Einfadensystem, hergestellt bedeutend mit Zampel. und sind daher – ähnlich wie handgestrick- te Textil­flächen – äußerst elastisch. Harnischschnüre Verbindungsschnüre zu den Kettfäden. Motorflachstrickmaschine Die Flachstrick­ maschine wurde 1863 von dem Amerikaner Kette Parallel zueinander liegende fixierte Isaac William Lamb erfunden. Die Verwen- Fäden. dung von zwei Reihen einzeln beweglicher Zungennadeln ermöglichten die Maschen- Kettenstuhl, auch Kettenwirkstuhl Auf dieser bildung wie bei dem Vorgang des Handstri- Maschine werden aus einer oder mehreren ckens. Die Erfindung brachte eine Umwäl- Fadenketten Wirkwaren hergestellt. zung in der Maschenwarenindustrie.

Knüpftrikot Knüpftrikot ist eine »durchbroche- Patrone Schematische Darstellung eines Ge- ne« Rundwirkware. Durch diese »poröse« webes auf Patronen- oder Millimeterpapier. Wirkart kann die Haut gut atmen. Daher Ein ausgefülltes Quadrat bedeutet, dass der war bzw. ist Knüpftrikot ideal bei der Kettfaden über dem Schussfaden liegt. Es Verwendung von Sommer-Wäsche. handelt sich um eine technische Zeichnung, die nicht das spätere Muster wiedergibt. Litzen Dienen zur Ordnung der Kettfäden und verfügen über ein Litzenauge, durch das der Faden hindurch geführt wird. 74

Rundstrickmaschinen Die technische Weiterent- Strickwaren – siehe Maschenwaren wicklung des Rundwirkstuhls brachte die noch leistungsfähigere, da schnellere, Rund- Trikotagen Unterbekleidung aus Maschenwaren strickmaschine, bei welcher statt Haken- und Spitzennadeln nunmehr Zungennadeln Tritt Der Tritt ist über Schnüre mit dem Schaft zum Einsatz kamen. verbunden. Der Schaft steuert die Muste- rung über das Heben der Kettfäden. Beim Rundwirkstuhl Mit dem Rundwirkstuhl konnte Jacquardwebstuhl ist der Tritt mit dem durch einen ringförmig geschlossenen Steuerungsmodul der Lochkarten verbunden Nadelkranz ein fortlaufender Produktions- und sorgt so für den Weitertransport der Prozess ermöglicht werden. Mit dieser Karten. Endlos-Produktion ließ sich die Fertigungs- Geschwindigkeit für Maschenwaren Tuch Mittelschweres bis schweres Wollgewebe beträchtlich erhöhen. mit fülligem und weichem Griff und ver- schleierter Oberfläche, in manchen Fällen Schussfaden Der Schussfaden wird rechtwinklig mit einem dezenten Glanz. Das Gewebe zu den Kettfäden von rechts nach links und wird zu Damenkostümen, Herrenanzügen, zurück geführt und bildet so das Gewebe. Mänteln und Uniformen verarbeitet.

Spindel Durch das Drehen der Spindel werden Webschaft dient zur Fachbildung der Kettfäden beim Spinnen die textilen Fasern mitein­ auf einem Webstuhl. ander verdreht und das so entstehende Garn aufgewickelt. 75 Glossar

Webstuhl Auf dem Webstuhl werden Kettfäden Zickzacknähmaschine bzw. Doppelketten- und Schussfäden dadurch fest miteinander stich-Nähmaschine Die Naht der Zickzack- verbunden, dass immer abwechselnd ver- nähmaschine unterscheidet sich von der schiedene Kettfadengruppen gehoben und Naht der Geradstichmaschine dadurch, dass gesenkt werden. Zwischen diesen Vorgängen sie wesentlich dehnbarer ist. Verfahren wird der Schussfaden von der Seite durch wie Zickzacknähen erhöhen die Menge des das entstandene Fach durchgeschossen. Da- eingearbeiteten Nähfadens und somit die durch entsteht die sogenannte Bindung des Elastizität. Diese Stichart ist daher bei textilen Gewebes. Maschenwaren besser geeignet als der Doppelsteppstich. Bei Maschenwaren Wirkwaren – siehe Maschenwaren kommen meist Doppelkettenstich-Näh­ maschinen zum Einsatz. Zampel – siehe Harnisch

Zampeljunge Der Gehilfe des Webers musste auf Zuruf die entsprechenden Kettfäden, die zur Musterung erforderlich waren, anheben. 76 Impressum

Herausgeber Bildnachweise AK Textil im Museumsverband Baden-Württemberg Tarek Musleh: S. 13, 16, 17, 20, 21. Jubiläums- und Werbeschriften der Firmen Susa und Triumph Ausstellung und Katalog International, Miedermuseum Heubach, Stefan Dr. Hermann Berner, Martin Beutelspacher M.A., Knöpfle: S. 23, 26 und 27. Maschenmuseum Albstadt: Susanne Goebel M.A., Marisse Hartmut M.A., S. 32–41. Stadtarchiv Kirchheim/Teck: S. 43. Kerstin Hopfensitz M.A., Illja Widmann M.A. Mercedes Benz Classic, Archive: S. 45. Badisches Landesmuseum, Thomas Goldschmidt S. 46. Begleitband zur Wanderausstellung Stadtmuseum Esslingen, Daniela Wolf: S. 42, S. 44, Textile Vielfalt. Industrielle Erfolgsgeschichten S. 47–51. Karl Scheuring: S. 54, S. 55 (o.), S. 56–58, aus Württemberg. S. 59 (l.), S. 60–61. Heimatmuseum Reutlingen: S. 55 (u.), S. 59 (r.). Pausasammlungen und Fotosammlung © 2015/2016 Museum Mössingen: S. 63–69. Klaus Franke: S. 70. Industriemagazin Reutlingen, Webereimuseum Sindel­fingen, Miedermuseum Heubach, Kultur­scheune Mössingen, Stadtmuseum Esslingen, Maschenmuseum Albstadt

Redaktionelle Bearbeitung Für die finanzielle Unterstützung Bettina Wöhrmann M.A., Stuttgart von Ausstellung und Katalog danken wir herzlich der Firma Grafische Gestaltung Zweigart & Sawitzki, Sindelfingen. Katrin Schlüsener, Stuttgart

Druck und Herstellung Mauser + Tröster GbR, Mössingen ISBN 978-3-941500-20-4