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76 #76 245009 771662 2020 JANUAR/FEBRUAR 9

CHF 8.50 EUR 8.50

WARUM HAT DIE NATI EIN IMAGEPROBLEM? EINE REISE MIT DEM TROSS LIEFERT­­ ANTWORTEN.

UNSERE STADIEN NACHWUCHS Vom Sportplatz zur Arena Kampf um Anerkennung Schweizer Auswahlen im Tief Familienzuwachs!

Kleinkriminelle Fussballer, exzentrische Klubpräsidenten, ­peinliche Marketing­ aktionen oder musikalische Missetaten: Eine Auswahl der besten ­Schmonzetten aus der Rubrik «Startaufstellung» der letzten zwölf Jahre präsentieren wir in ­diesem neuen schmucken Büchlein. Mit über 100 kurzen Texten auf 68 Seiten ist es die perfekte WC-Lektüre für Fussball-Aficionados. Das Booklet «Seitenblicke» gibt es als Geschenk zu einem 2-Jahres-Abo, auch unsere ZWÖLFten Mannen erhalten es kostenlos. Alle ­anderen ­können es für 8.50 Franken bestellen über www.zwoelf.ch/seitenblicke EDITORIAL

IMPRESSUM ZWÖLF – Fussball-Geschichten aus der Schweiz wird Am Limit von ZWÖLF – Verein für Fussballkultur herausgegeben. Es erscheint sechs Mal pro Jahr. Verein und ­Magazin sind unabhängig. Meinungen von Autoren müssen sich nicht mit jenen der Redaktion decken. Als die Schweiz vor ein paar Wochen in die Herausgegeber Qualifikation zur EM klarmachte, war der Verfasser ZWÖLF – Verein für Fussballkultur 3000 Bern [email protected] ­dieser Zeilen gerade in einer Turnhalle am Tschutten. Präsident: Sandro Danilo Spadini Ein Fussballjournalist einer grösseren Zeitung kickte Redaktion Chefredaktor: Mämä Sykora (syk) ebenfalls mit. Zahlreiche weitere Fans haben das Spiel stv. Chefredaktor: Silvan Kämpfen (skä) Silvan Lerch (sle), Wolf Röcken (wro), nicht gesehen. Ist sie das nun, diese angeblich fehlende Sandro Danilo Spadini (sds). Identifi­kation? Ist Vladimir Petkovic nicht gmögig genug? Gestaltung und Art Direction Sascha Török – Wirksame Gestaltung Oder haben Partien der Nati in der Flut von Fussball­ www.torok.ch

Autoren dieser Ausgabe übertragungen heute schlicht nicht mehr dieselbe Pierre Benoit, Kevin Brühlmann, Raphael Brunner, Pascal Claude, David Gadze, Renato Kaiser, Bedeutung? Silvan Kämpfen, James Montague, Raphael Rehmann, Mämä Sykora, Pascal Vogel, Claudio Zemp. Bild/Illustration Die Antworten rund um das Phänomen Nationalmann­ Claudio Bader, Brindusa Burrows, David Gadze, Sedrik Nemeth, Ivano Talamo, Sascha Török, Andreas von Gunten. schaft sind noch komplexer als die Fragen, und sie lassen

Anzeigen sich mit Gedankenarbeit am Schreibtisch nicht finden. Nico Pfäffli, [email protected], Tel. +41 79 420 15 96 Deshalb haben wir unseren Reporter nach Gibraltar Druck geschickt. Mit einem klaren Auftrag: Er soll sich an die FO-Fotorotar Gewerbestrasse 18 8132 Egg bei Zürich Fersen der Nati heften – und aus dem innersten Kreis

Gedruckt in der Schweiz. imprimé en SuiSSe. berichten. Der Günter Wallraff des Sportjournalismus Stampa in Svizzera.

Stampato in Svizzera. sozusagen. Ernsthafte Sorgen machten wir uns dann, als Auflage 11 100 Exemplare uns diese SMS unseres Maulwurfs erreichte: «Gibt es ISSN-Nummer 1662-2456 eigentlich eine Versicherung gegen Leberschaden bei der

Abonnemente Arbeit?» www.zwoelf.ch/abo Jahresabo: 51 Franken 2-Jahresabo inkl. Seitenblicke-Booklet: 98 Franken Ebenfalls leiden mussten wir in Genf. Alain Geiger hatte Kontakt www.zwoelf.ch [email protected] derart viel zu berichten, dass über zwei Stunden Ton­

www.facebook.com/zwoelfmagazin material anfiel, was uns vor der Niederschrift grauen

@zwoelf_mag liess. Als Digital Natives, die wir nun mal sind, besorgten @bruehlmania Sämtliche Texte, Bilder und Illustrationen sind urheber­ wir uns ein vielfach preisgekröntes Transkriptions­ rechtlich geschützt. Jegliche Weiter­verbreitung ist nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet. programm – und mussten feststellen, dass selbst die Die nächste Ausgabe erscheint Ende Februar 2020. beste Software am Walliser Französisch scheitert.

Hat die Winterpause bitter nötig,

COVER: Bild KEVIN BRÜHLMANN Euer ZWÖLF INHALTSVERZEICHNIS

#76 6 EINLAUFEN Unsere Antipasti

8 STARTAUFSTELLUNG Fallen für Frühreife

10 LEGENDENSPIEL Claudio Zemp deutet Fussballbilder

12 KAISERS LAUTE Hand am Pfand

43 SCHWARZES BRETT Erlesenes und Empfehlenswertes

65 AUSWÄRTSFAHRT Bei Núñez’ Ursprüngen

65 DAS GROSSE ZWÖLF-QUIZ Wo der Modefan scheitert

66 KNAPP DANEBEN Volksvertreter

66 SMALLTALK Damit gibt man am Wurststand an 14 Teil vom Tross Unser Autor reiste mit der Nati, um mehr über sie zu erfahren. Kennen gelernt hat er stattdessen stolze Journalisten, grantige Drogendealer und einen gesangsfreudigen Landarzt.

24 Evolution der Arenen Der Weg von den Sportplätzen der Frühzeit bis zu den modernen Spielstätten war ein weiter. Wir zeichnen die Entwicklung unserer grössten Stadien nach.

30 Der Rekordmeister Paul Sahli jonglierte wie kein Zweiter: im Fernsehen, auf Feuerwehrleitern und vor der Prominenz des Weltfussballs. Im «Guinness-Buch der Rekorde» war er Stammgast.

34 Kämpfer und Künstler Alain Geiger kämpfte stets um Anerkennung – um seine eigene und die des Fussballs. Ins Herz geschlossen hat ihn die Schweiz dennoch nie.

44 Weihrauch-Tournee Die Heiligen Drei Könige sind irgend­ wo falsch abgebogen: Auf der Suche nach dem Messias landen sie bei den Super-League-Klubs in unserer Zeit.

46 Zweite Heimat Sie kamen als Legionäre und fanden in der Schweiz ein neues Zuhause: Goran Obradovic, Paul Schönwetter, Alex Tachie-Mensah und Bert Theunissen.

54 K. o. in Kairo Wenig ist geblieben von einem der wildesten Derbys der Welt: Wenn Al-Ahly und Zamalek heute aufeinander­ treffen, dann vor fast leeren Rängen weit von der Hauptstadt entfernt.­

58 Verblasster Ruhm Europameister und Weltmeister: Die Erfolge der Nachwuchsauswahlen haben der Schweiz den Ruf als hervorragendes Ausbildungsland eingebracht. Heute erfüllen die U-Natis nicht einmal mehr die Mindestziele.

62 Goalie in der Résistance Der Arzt Yvan Dreyfus war ­Meister mit Servette und Nati-Torwart. Während des Kriegs ­verschrieb er sich dem französischen Widerstand und landete dafür im KZ. WIE GESAGT, ÄH …

Fehlende Offenheit für Kritik wegen des FC Sitten Alessio altes FCL-Spruchband wieder So erstaunt es nicht, dass man­ kann man dem FC heisst.» Ja, auch wir suchten hervorzukramen. Dort hiess es che Spieler sich weiter nicht im wahrlich nicht vorwerfen. Als zuerst nach Grössen dieses damals: «Spielt so, wie wir Griff haben. ZWÖLF im Vorfeld der Europa- Namens aus der Vereins­ saufen – leidenschaftlich, über etwa flog gegen Servette kurz League-Partie in St. Gallen geschichte, bis uns bewusst dem Limit, ohne Rücksicht auf vor Schluss wegen Beleidigung gegen Malmö twitternd fragte, wurde, was die Fans im Tour­ Verluste.» des Referees vom Platz. Aber ob das Stadion bei Tribünen­ billon singen … natürlich gab es auch dafür plätzen für 92 Franken wohl Im Tief steckte anfänglich auch eine Erklärung, sie kam von ausverkauft sein werde, liess Einen schweren Stand hatte FCZ-Stürmer Blaž Kramer. Als FCB-Goalie . «In die Antwort der Tessiner nicht auch Thomas Häberli. Auf der Slowene im Herbst eine der Pause ging das Gerücht lange auf sich warten: «Guten Teleclub erzählte der FCL-Trai­ längere Torflaute erdulden herum, er sei ein arroganter Tag, vielen Dank für die Be- ner, dass er sich durchaus Feed­ musste, konnte er immerhin auf Schiedsrichter.» Was da wohl obachtung. Wir suchen je- back hole zu seinen Auftritten die Unterstützung seines Präsi­ sonst noch für wilde Gerüchte manden für unsere Ticketing- in der Öffentlichkeit, etwa bei denten zählen. Ancello Canepa kursierten? Jenes, dass Servette Abteilung. Wir sind sicher, seiner Frau. Was sie denn so auf Teleclub: «Ich weiss ja, wie an diesem Abend einfach bes­ dass Sie einfache Lösungen meine, wollte Moderator Sven das ist. Ich war früher ja auch ser war? bereithaben, wie man das Furrer wissen. Häberli: «Häsch Stürmer.» Wer den FC Rüti Stadion füllen könnte. Wir guet uusgseh.» kennt, kennt die Fussballwelt. Den harten Gang über die stehen Montag und Dienstag Gleise – wenn auch mit Um­ für ein Gespräch zur Ver­ Der FCL hat wenig Punkte und In zuverlässiger Regelmässig­ wegen – nahm Oliver Buff auf fügung.» Lugano 1 – ZWÖLF 0. viel Streitigkeiten in der keit erscheinen Artikel mit dem sich. Natürlich wurde der Ex- Führungs­riege. Aber immerhin Titel «Was der Fussball vom FCZler bei seinem GC-Debüt Der FC Lugano war Ende Okto­ hat er einen offiziellen Wein­ [hier eine Randsportart Ihrer gnadenlos ausgepfiffen. Doch ber der erste Super-League- partner! Der kreierte einen Wahl einsetzen] lernen könnte». Captain Vero Salatic stellte sich Klub, der den Trainer wechselte. in der NZZ schützend vor Gemäss Angelo Renzettis Wor­ ­seinen neuen Teamkollegen: ten im «Blick» gibt es für einen «Dass Buff Fussball spielen Präsidenten ja aber auch gar kann, wissen vor allem die nichts anderes zu tun: «Ich Fachleute.» Es ist eben wie bei kann die Spieler nicht ändern, der Zwölftonmusik oder bei nicht das Stadion, nicht die abstrakter Kunst: Dem Pöbel Fans. Aber den Trainer. Und bleibt der wahre Wert ver­ nur den Trainer.» borgen.

Kurz darauf zog Christian Topfit müssen Fussballer sein. Constantin nach und feuerte Nicht restlos alle erfüllen diese Stéphane Henchoz. Über­ Voraussetzung. Xamax-Ersatz­ raschend kam dies nur für den goalie Matthias Minder etwa FC Sion selbst, der im Commu­ wurde im Spiel beim FC Basel niqué dazu schrieb: «Dieser spät eingewechselt und gab Entscheid war so nicht ge- FCL-Wein, einen La Raiz Mal­ Im Oktober wählte der «Tages- gleich einen Anschauungskurs plant, der FC Sion braucht bec Reserva 2017, und liess in Anzeiger» Rugby und führte im Zeitspiel. Statt den Abschlag nun etwas Zeit zur Re­flexion.» seinem Web-TV Pascal Schürpf aus, dass dort nie jemand rekla­ auszuführen, setzte er erst mal davon kosten. Sein Urteil: «Wer miere. Dazu äusserte sich aus­ die Trinkflasche an und sah Die Unterstützung der Fans ist mich kennt, weiss, dass ich gerechnet FCZ-Trainer Ludovic dafür Gelb. Seine Aktion er­ den Wallisern aber weiterhin nicht so ein Weintrinker bin.» Magnin, den wenig über­ klärte er auf Blick.ch: «Nach gewiss. Was mitunter seltsame Eine hervorragende Besetzung raschend weder das Ausrufen acht Minuten spielen be- Blüten treibt. So schrieb einer auf der Degustier-Position! Die noch die Sprüche stören: «Mein komme ich immer Durst, im Sittener Forum: «Mein Sohn Hälfte des Erlöses fliesst übri­ Gott, wir sind im Fussball, meine Kondition ist nicht die wird wohl eines Tages nicht gens in die Nachwuchsabtei­ nicht in der Schule.» beste.» ganz verstehen, wieso er lung, was also Anlass bietet, ein

6 GEZÜCKTES Text PASCAL CLAUDE ZÄHLBARES

STADE DU 20-AOÛT-1955, ALGIER DER TABELLENSTAND DER SUPER LEAGUE. DIESMAL: FOTO: COMPANIE DES ARTS PHOTOMÉCANIQUES, PARIS ANZAHL PRÄSIDENTEN SEIT DER SAISON 2003/04

Seit in Algerien die Menschen gegen das Regime Bouteflika und seine Erfolg ist am ehesten möglich, wenn im Gefolgsleute auf die Strasse gehen, sind die Ultras der grossen Vereine Verein Stabilität herrscht, heisst es. Und es Teil der Proteste. In den Stadien und an den Kundgebungen seien die­ ist natürlich falsch. Denn Stabilität erzeugt selben Lieder zu hören, heisst es. Einer dieser grossen Klubs ist Chabab nicht automatisch Ruhe. Sonst hätte der Riadhi de Belouizdad, bei Redaktionsschluss Spitzenreiter der algeri­ FC Sion in den letzten Jahren die Meister­ schen , dessen Heimstätte diese Postkarte zeigt. Das Stadion im schaft dominiert. Die Walliser sind nämlich Schatten eines Wohnblocks wurde 1930 erbaut und trägt als eine von die Einzigen, die seit Beginn der Super- mehreren Spielstätten des Landes seit der Unabhängigkeit Algeriens League-Ära vom gleichen Präsidenten ge­ 1962 den Namen des 20. August 1955. An jenem Tag, zu Beginn des Be­ führt werden. Die Ostschweizer und Genfer freiungskrieges, griffen algerische Einheiten Städte und Siedlungen der wiederum dürften trotzdem froh sein, herr­ Kolonialmacht Frankreich an, was zu schweren Gegenschlägen führte. schen in ihren Klubs nun klare Verhältnisse. Schliesst der FC ­Luzern bald auf?

RANG KLUB PRÄSIDENTEN

1 FC ST. GALLEN 6

SERVETTE FC 6

3 FC LUZERN 5

NEUCHÂTEL XAMAX FCS 5

BSC YOUNG BOYS 5

6 FC BASEL 4

FC LUGANO 4

8 FC THUN 3

9 FC ZÜRICH 2

10 FC SION 1

ZUFALLSTREFFER GEFÜHLTE WAHRHEIT Das Rätsel trieb uns tagelang um. Was hatte Xamax da HANDSHAKES ZWISCHEN ­FUSSBALLERN UND REPORTERN beim Heimspiel gegen Thun auf das schmucke Podest gestellt? Einen Spucknapf, weil Snus sich auch bei Der Fussballern durchgesetzt hat? Eine Mardertränke, falls Ich-habe-selber-im-Fall-auch- die Thuner ihr Haustier dabeihaben? Oder eine Spen­ mal-Fussball-gespielt-bevor-ich- beim-Fernsehen-gelandet-bin- denbüchse, weil schliesslich jeder Rappen zählt, will Reporter man Lebensversicherung Nuzzolo zu einer weiteren Saison bewegen? Beim nächsten Stadionbesuch wurden wir dann von der Einfachheit der Dinge verblüfft. Der Irgend­wie muss ja der Ball auf diesem Sockel halten. Mein-Chef-sagt-ich-müsse-­ professionelle-Distanz-wahren- aber-wäre-gerne-von-den-Profis- akzeptiert-Reporter

Der Junger-Mann-jetzt-lass-uns-hier- mal-eine-zivilisierte-Sendung-­ machen-schliesslich-habe-ich- den-Job-schon-gemacht-als-du- noch-gar-nicht-auf-der-Welt-­ warst-Reporter

7 STARTAUFSTELLUNG Jungspunde Mit seinen jungen Wilden begeistert der ENDE MIT SCHRECKEN FC St. Gallen derzeit die Fussballschweiz. Dass nicht allen Frühreifen die erhoffte Karriere beschieden ist, zeigt unsere Auswahl.

KLEBENDE LEGENDE ZUNGENBRECHER

TRAINERSOHN

Edmond Kramer war eine ­grosse Nummer. Und sein ­Talent ist früh augenfällig: Als Nati-Trainer Teddy Duckworth vor den Olympischen Spie­ Medien landauf, landab ver­ len 1924 nach seiner Forma­ Eigentlich ist Stadionspeaker künden 2017 das Gleiche, als die tion sucht, wirft er den Stür­ im Vaduzer Rheinpark ein an­ Post ihre neue Briefmarkenserie­ mer von Cantonal Neuchâtel genehmer Job. Ausser damals Für junge Bürschchen ist es präsentiert: Roger Federer­ – wer einfach mal ins kalte Wasser. im Oktober 2010: Da wech­ ohne­hin schwierig, sich in denn sonst? – sei damit die Beim Testspiel gegen Frank­ selten die Gäste aus Yverdon ­einer Mannschaft durchzu­ erste lebende Person, mit der reich steht er knapp 17-jährig in der 73. Minute, rein kam setzen. Noch härter ist es für man frankieren könne. Bloss: in der Startelf – und trifft be­ ein 16-jähriger Hoffnungsträ­ jene, ­deren Papa eine Fussball­ Es stimmt nicht. Denn ­bereits reits nach acht Minuten. Beim ger. Den Vornamen kriegte der legende ist. Aber was sollen 2004, zum 50-jährigen Beste­ Turnier selber kommt ihm nur Mann am Mikrofon noch hin, erst jene sagen, welche diesen hen der UEFA, gab es eine eine Nebenrolle zu, aber im­ beim Nachnamen gab er nach berühmten Vater auch gleich Sonder­serie, und auf der Marke merhin: ­Kramer gewinnt mit drei Versuchen auf. Chitcha­ noch als Trainer haben? So für 1.30 Franken prangte Willy der Schweiz eine Olympia- nok Xaysensourinthone hiess ­einer ist nämlich Loïc Favre, ­Kernen im Schweizer Nati­ Silber­medaille. Später wird er der Flügel, der seine Ambiti­ der im zarten Alter von knapp dress. Man muss den Journalis­ mit Montpellier französischer onen nach dem Debüt unter­ 17 Jahren im März 2000 in der ten zugute­halten, dass ­Kernens Cupsieger, spielt für Lausanne strich: In die Primera División Finalrunde für Yverdon debü­ Karriere damals schon eine und Servette und lässt seine wolle er, zuerst aber nach Ita­ tiert. Zwar übernimmt ­Lucien Weile zurücklag. 15 Jahre und Karriere in Frankreich ausklin­ lien. «Ich will berühmt werden, bald darauf Servette, doch Loïc 8 Monate alt war er, als er 1945 gen. Notiz von Kramer nimmt dafür muss ich hart arbeiten.» bringt seinem Klub irgend­ für La Chaux-de-Fonds debü­ man erst wieder im April 1945: Ziel erfüllt, kann man sagen: wie kein Glück. Erst bei seinem tierte, an der Seite des drei Weil die Miete seines möblier­ 60 000 Instagram-Follower hat 23. Einsatz gibt es den ersten ­Monate jüngeren Kiki ­Antenen. ten Zimmers in Genf ausgeblie­ der 25-Jährige heute, allerdings Sieg, Yverdon fällt in die NLB. Beide Youngsters skorten, der ben ist, lässt die Polizei die Tür nicht als in Europas Top­ Legenden als Trainer hat er Grundstein für die goldene Zeit aufbrechen. In der Küche wird ligen, sonders als Wanderdüne mit Philippe Perret und Gabet des FCC war gelegt. 17 Jahre seine Leiche neben einer Waffe im Heimat­land seiner ­Mutter. ­Chapuisat weiterhin. Bei Bellin­ blieb Kernen dem Klub treu, gefunden, in einem zugesperr­ Nakhon Ratchasima FC ist be­ zona erlebt er dann endlich ­gewann zwei Meistertitel, sechs ten Schrank jene seiner Verlob­ reits sein sechster Verein in die ganz profane Fussballwelt. Mal den Cup und reiste an drei ten, die er bereits zwei ­Wochen der Thai League 1. Die hiesigen Sie behagt ihm nicht: Nach WM-Endrunden, ehe er mit zuvor erdrosselt hat. Dass der Stadion­sprecher hoffen instän­ vier Jahren und einer Gehirn­ dem Fussball abschloss und erweiterte Suizid aus Eifer­sucht dig, dass es ihm bald zu mehr erschütterung hängt er mit Lehrer wurde. Nie war er in geschah, darüber liess Kramers reicht als zum Rotationsspieler. 21 Jahren die Schuhe an den ­seiner Karriere verwarnt wor­ Abschiedsbrief keinen Zweifel. Es droht sonst die Rückkehr in Nagel. Später wird er Spieler­ den, weshalb der Name nicht Ein tragisches Ende des eins­ die Schweiz. berater. Als Servette-Sportchef überraschte, den er seinem tigen Senkrechtstarters und überdauert er 2013 nur ein Jahr. ­Lokal in La Chaux-de-Fonds zehnfachen Nationalspielers. gab: Es hiess Café Fair-Play.

8 Jungspunde KONTER MIT SCHNUPF JUNG UND FRAGIL LAUFBAHN AUF LAUFSTEG

KALLON ME Noch nicht einmal Bier trin­ GC musste eine Spezialerlaub­ ken wäre Reto Burri erlaubt nis einholen, um sein junges gewesen, als er als 15-Jähri­ ­Juwel im Erwachsenenfussball ger für den SC Kriens in der einzusetzen. Und dann das: Im NLB debütierte. Wild war er Spiel, das 2010 Aaraus Abstieg da schon: Aus der U16-Nati 15 Jahre, 6 Monate und 18 Tage nach 29 Jahren besiegelt, nimmt wurde er rausgeschmissen, alt ist Sascha Studer, als Aarau- Endogan Adili in der 85. ­Minute ­nachdem er beim Torjubel Trainer Ryszard ­Komornicki einen Ball mit der Brust an Funktionären­ den Mittelfinger­ ihn beim Spiel in Sion im und haut ihn zum 4:1 in die gezeigt hatte. Kaum aber war ­April 2007 zwischen die Pfos­ ­Maschen. Daraufhin sprintet er Er war gerade erst 16 ­geworden, er weg von ­Kriens – bei Aarau, ten stellt. Jünger war keiner quer übers Feld und greift sich der Junge, der bei Lugano im bei ­Luzern –, hatte er Lade­ bei seinem Debüt in der Super dabei ungläubig an den Kopf. Dezember 1996 eingewech­ hemmungen. Dennoch wollte League. 75 Minuten lang läuft Mit 15 Jahren und 286 ­Tagen selt wurde. Aber was hatte der ihn 1997 der FC Sion haben. alles perfekt für den Youngs­ ist er der jüngste euro­päische schon alles erlebt! Mohamed «Für diesen Lohn laufe ich so­ ter, dann gleitet ihm ein harm­ Profifussballtorschütze in Kallon war da bereits National­ gar ins Wallis!», soll Burri ge­ loser Flankenball durch die der Nachkriegszeit. Die Mess­ spieler von Sierra ­Leone, hatte sagt haben. Als achter (!) Stür­ Hände, die Walliser gleichen latte ist nun hoch: Hier reife 15 Ligatore in der Heimat er­ mer im Kader sah er kein Land, aus. Stammkeeper wird er erst der neue Shaqiri, Vergleiche zielt, hatte im Libanon und in landete stattdessen bei YB, das vier Jahre später, doch dann mit Rooney und Messi folgen. Schweden gespielt und war ums finanzielle Über­leben ­degradiert ihn René Weiler zur «Passt auf, dass er jetzt nicht ab­ von Inter Mailand unter Ver­ und in der NLB gegen den Nummer 3. Studer flüchtet zum hebt», warnt immerhin Cap­ trag ­genommen worden. Das Abstieg kämpfte. Mit seinen FC Winterthur, dann zu Babels­ tain Smiljanic. Vergeblich: Erst Tessin war nur eine Zwischen­ 18 000 Franken im Monat war berg und schliesslich in die trifft er nicht mehr, dann reisst station, wie aber auch alle er Zielscheibe der Fans. «Burri vierte englische Liga zu Mans­ das Kreuzband, schliesslich er­ seine anderen Klubs. Lediglich raus!», skandierten sie öfters, field Town. Nirgends bleibt er liegt er dem Ruf des FC Basel, bei Inter und Monaco blieb er und anlässlich des zur Klub­ lange erste Wahl. «Fussball ist wo er nur in der U21 ran darf. ­länger, bis zum Karriereende rettung angesetzten YB-Fests kein soziales Business», erklärt Doch Adili will höher hinaus, hatte er 17 verschiedene Ver­ war zu ­lesen: «Mit dem Rein­ er, als er 2015 seine Profikarri­ wechselt zu Galatasaray. Wieder eine. 2002 bereits hatte er einen erlös lässt sich vermutlich ein ere beendet. Die zweite hat er reisst das Kreuzband, wieder Klub in ­Sierra Leone gekauft ­Zehntel des Monats­lohns von eben erst lanciert: Beim Swiss kennt er die erste Mannschaft und ihn ganz unbescheiden in Reto Burri berappen.» Die Kri­ Men’s Award – das Casting- nur vom Training. Nach drei ­Kallon FC umbenannt. Es ge­ tik verstummte erst, als er drei Format gilt als Nachfolger der Teileinsätzen für den kurz­zeitig lang ihm 2009 gar, einen Welt­ ­Harasse Bier und Schnupf­tabak Mister-Schweiz-Wahl – will er türkischen FC Wil ist seine star zu verpflichten: sich selber. in die Stadionbeiz­ brachte. Es «Mister Right» werden. Denn: Profi­karriere vorbei. Heute ist Nach weiteren Engagements war ihm zudem vorbehalten, «Ich habe ein sehr grosses Herz, er Reservist bei YF Juventus in in China und Indien kehrte das letzte Tor im alten Wank­ bin ein Familienmensch und der Promotion League. Aber er wiederum zum ­Kallon FC dorf zu erzielen. Einen Rekord schenke viel Liebe. Ich wün­ wie sagte er bei seinem Abgang ­zurück, ohne jedoch zum Ein­ hätte Burri vermutlich inne, sche jedem nur das Beste.» Der aus Basel? «Qualität setzt sich satz zu kommen. Dies lag nicht wäre damals schon Statistik Hobby-Keeper, der seit Kurzem immer durch – egal, ob mit 18 ­daran, dass Präsident Kallon geführt worden: nämlich die für den 1.-Ligisten FC Langen­ oder 35.» Und Adili ist schliess­ nicht zufrieden mit ihm war, meisten Offside-Positionen in thal aufläuft, landete beim ers­ lich erst 25. sondern weil die Liga in Sierra der YB-Geschichte. ten Voting natürlich auf Platz 2. Leone wegen des Ebola-Aus­ Wenigstens hier will er nun die bruchs so lange pausierte, bis Nummer 1 erobern. der Spieler Kallon seinen Rück­ tritt verkündete.

9 LEGENDENSPIEL mit CLAUDIO ZEMP Der Autor mag alte Fotos und macht sich seinen eigenen Reim drauf. @postkartenfranz

10 FCZ-Präsident Nägeli und Köbi Kuhn 1963 / RDB by DUKAS Kuhn FCZ-Präsident Nägeli und Köbi

Beide kannten das Spiel und ihre Rolle. Die Masche mit dem Mäscheli hatte Köbi na­türlich durchschaut. Trotzdem nahm er das Päckli wie jeden Dezember entgegen, ­dankend und überrascht. Und der Präsident wiederum ahnte, dass es nicht die Stumpen waren, die ihm die Klubtreue seines Kapitäns sicherten.

11 RENATO KAISER KAISERS ist wahlweise Satiriker, Komiker oder Slam-Poet. LAUTE @Renato_Kaiser

Lutsch am Depot!

Liebe Leser*innen, haltet Euch fest und die Taschen­ Echte Emotionen? Wenn man den Plastikbecher in den tücher bereit. Und falls Ihr keine zur Hand habt, hört auf schwitzigen Fingern hält? Und deswegen nicht mal klat­ die Worte, die mir mein Trainer auf den Weg gegeben schen kann? Oder doch klatschen will und in den sau­ hat: «Zu! Wenig! Tempo!» Und dabei war ich Torhüter. ren Apfel bzw. in den Becher beisst? Und dann so da­ steht, mit Patschehändchen wie ein Kleinkind, in der Was ich eigentlich sagen wollte: Dies ist meine letzte ständigen Angst, dass der Becher jeden Moment aus ­Kolumne fürs ZWÖLF. Ja, ich weiss: Die Emotionen dem sabbern­den Mund rutscht? Während man nicht ­kochen hoch! Und gerade deswegen möchte ich noch mal mehr «Scholololooo» singen kann, weil man so mal über Gefühle sprechen. Denn die sind in Gefahr. ­einen 2-Franken-Maulkorb trägt? Und irgendwann ganz Und zwar wegen des VAR. Und das ist wahr. Denn es leise kollabiert, weil man minutenlang via Becher den reimt sich. Der Video Assistant Referee mache uns den ­eigenen CO₂-Ausstoss eingeatmet hat? Was für ein trau­ Fussball kaputt, sagen sie, und da bin ich doch ein wenig riger Rückschritt in der Evolution! Die Fotosynthese hält verwundert. Die Emotionen? Ganz ehrlich: Wie viel Ge­ ­unseren Planeten am Leben, und wir ersticken am Depot. fühl steckt denn heutzutage noch im Fussball? Die FIFA ist korrupt bis in die Katar-Spitzen, die neuen Stadien Sag mir noch einmal, dass der VAR die Emotionen zer­ haben den Charme einer Open-Air-Zahnarztpraxis, das stört, während Du durch den Plastikbecher inhalierst Bier schmeckt schal, und den Becher muss man wegen wie der armseligste Darth Vader der Welt! des Depots auch noch ständig in den Fingern behalten. Beim Videobeweis gehen nicht Emotionen verloren. Es kommen neue dazu. Ein Tor fällt, alle jubeln. Der Schiri liebkost sein Ohrläppli, alle bangen. Der Schiri rennt zum Monitor, alle sind genervt. Der Schiri gibt das Tor, boom, Bonusjubel! Und die Gegner regen sich auf, weil der Schiri gegen sie entschieden hat – und das auch noch zu Recht! «Diese blöde Sau!» – «Ja wer jetzt?» – «Die Wahrheit!» Ein Drama griechischen Ausmasses.

Und wenn der einzige Ertrag des VAR ist, dass ein paar schnöselige Multimillionäre in ihren abgelutschten Fortnite-Jubeltänzen unterbrochen werden und dann desillusioniert zur Mittellinie zurücktrotten, hat sich das doch bereits gelohnt. Da klatsch ich in die Hände, ­lutsche genüsslich am Plastikbecher und falle glück­selig in Ohnmacht.

Und dann wird man mal von den Gefühlen übermannt, Und damit möchte ich mich ganz herzlich bei Euch be­ schmeisst beim Torjubel den Becher samt Inhalt in die danken. Es war mir eine Freude und Ehre, für Euch zu jubelnde Fankurve, nur um sogleich entsetzt «Fuck! Mis schreiben. Aber emotional werde ich deswegen nicht. Depot!» zu denken, auf allen vieren durch die Ränge Denn ja, das ZWÖLF hat gesagt, das sei meine letzte zu kriechen, den Becher wieder aufzuheben, in den ­Kolumne. Ich jedoch warte noch auf den Videobeweis. ­Himmel zu recken wie den Heiligen Gral des Kapitalis­ mus und laut zu rufen «Hahaaa!» – ohne so recht zu ­wissen, ob man denen da oben jetzt ein Schnippchen ge­ schlagen hat oder ein weiteres Mal von ihnen geknech­ Wir freuen uns mit Renato Kaiser über seinen Gewinn des Salzburger tet wurde (Tipp: Letzteres). Stiers und danken für ein Jahr echter Emotionen in seinen Kolumnen. zVg

zwölf INTERVIEW MIT

Das Interview mit Lucas van der Bolten, dem Pro- duzenten und Regisseur des Theaterstückes, führte Chefredakteur Mämä Sykora. Lieber Lucas, darf ich Du sagen? van der Bolten: Ja klar. Feel free! Danke. Lieber Lucas, was hat dich als mittlerweile Kannst du uns noch etwas über das Stück und doch recht renommierten* Theatermacher dazu deine beiden Akteure verraten? bewogen, einen so trivialen Gegenstand wie den Ich bin bis jetzt total happy mit Sämi und Max. Die zwei Fussball für dein neustes Stück und Debüt in der sind ein Feuerwerk und echt inspirierend. Deswegen ist es Schweiz zu wählen? auch schwierig zu sagen, wie sich die Form des Stückes Willst du deine Leserschaft vergraulen, Mämä? Trivial?! Der noch gestalten wird. Momentan würde ich am liebsten auf Fussball ist die Kugel, die die Welt bedeutet! Da ist alles jeder Probe wieder alles Erarbeitete über den Haufen drin: Leidenschaft, Frust, Angst, Mut, Gier, Freundschaft schmeissen und die tagesaktuellen Spielvorschläge weiter und Liebe. Ernsthaft: Für mich war Fussball schon immer verfolgen. Fest steht: Wir prämieren am 15. Februar im hoch spannend, auch wenn ich selber ne absolute Null Zirkusquartier Zürich mit einer fetten Premierenparty im bin auf dem Platz. Die Deutschen spalten sich da vielleicht Anschluss, am Sonntag nach der Zweitvorstellung dann ein bisschen weniger in zwei Lager; Einmal Sport- und gemütlich mit Bier und «Töggeliturnier» (Ich liebe dieses Wort! einmal Kulturliebhaber. Ich zumindest bin für Sportkultur! lacht). Aber richtigerweise muss man auch sagen, dass der Komm zum Punkt, Lucas. Gegenstand des Stücks nicht primär der Fussball ist. Fuss- Das Stück wird episodenhaft aus Kaisers Leben erzählen. ball ist der Kosmos, das Millieu, die glamouröse Wahl- Kaiser wird in einem Talkshow-Setting «selbst» aus heimat des Protagonisten. Gegenstand ist ein Hochstapler, dem Nähkästchen plaudern und erzählen, wie er Clubma- der sich in diesem Kosmos wohlfühlte. nager, Trainer, Physiotherapeuten, Journalisten und Genau! Carlos Kaiser. Wir hatten in unserer Ausga- Liebhaberinnen um den Finger gewickelt hat. Kaisers Wahr- be 47 über ihn berichtet. Warum also Kaiser? Und heit und die Wahrheit von Zeitzeugen driften oft krass warum jetzt, 2019? auseinander. Unser Ziel ist es, diese Dissonanzen zu eru ie- Die Premiere ist ja im Februar 2020. Also genau 10 Jahre ren, untersuchen und vor allem herauszufi nden, wie nachdem Kaiser das erste Mal nach Beendigung sei ner Hochstapelei funktioniert. Karriere als Fussball-Hochstapler, der gar nicht spielen Das klingt verlockend. Ich freu mich drauf! konnte, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit trat. Danke fürs Interview. Dies übrigens einmal mehr aus eigennützigen Motiven: Er v.d.B.: SameSame. Danke für die Fragerei. ist nicht nur ein begnadeter Fantast und Geschichten- * van der Bolten ist Träger des Loyld Fresco Awards und nominiert erzähler, sondern auch ein guter Geschäftsmann. Er hat für den Vallander Premio das wirtschaftliche Potenzial seiner Geschichte gerochen. Wir wollen sehen, wo er 10 Jahre später damit steht. 2018 kam ein britischer Dokumentarfi lm über Kaisers Geschichte in die Kinos … Ja aber fast ausschliesslich im englischen Sprachraum. In der Schweiz und in Deutschland hat er es nicht über ein paar wenige Vorstellungen in Programmkinos hinausge- schafft. Das mag daran liegen, dass es Männergeschichten momentan, mit einer erstarkenden Gender- und einer sich hysterisch zuspitzenden Klimadebatte, eher schwierig haben auf dem Markt, was ich schade fi nde, weil Kaisers Lebensdilemma nicht unbedingt ein geschlechts - spezifi sches ist. Bei dem Themen-Einheitsbrei unserer Kul tur- landschaft könnt ich sowieso kotzen. Hoyhoyhoy Lucas, keine Kraftausdrücke bitte. F*ck dich (lacht)

KAISER! – KÖNIG AUF DER RESERVEBANK – A FOOTBALL FAIRYTALE – PREMIERE 15. FEBRUAR 2020 – ZIRKUSQUARTIER, ZÜRICH Text und Bilder KEVIN BRÜHLMANN @bruehlmania

Wenn die Nati reist, hat sie stets ­Scharen von Journalisten und Fans im ­Schlepptau. Berührungspunkte gibt es allerdings so gut wie keine. Wer mit dem Tross mitfliegt, erlebt nicht die Stars hautnah, dafür skurrile Szenen zuhauf. Abgehoben 14 Abgehoben 15 ie Erlebnisse haben wenig mit Fussball zu tun, dafür war ich zu selten nüchtern. Die Erlebnisse handeln vom Be­ D dürfnis des Menschen nach Ordnung, und dafür war ich zu ­wenig betrunken. Käru hängt wie ein Pinguin über ein Balkongeländer und raucht. Von meinem Hotelzimmer blicken wir auf den Hafen von Gibraltar. Der neue Tag grüsst schon, es ist morgens um halb fünf, ein Montag. Auf dem Boden des Zimmers liegen ein paar Bierflaschen. In eini­ gen Stunden wird die Schweizer Nationalmannschaft gegen Gibral­ tar spielen, und Käru ist ein bisschen verzweifelt. «Ich weiss nicht, wohin mit all meinem Geld», sagt er. «Wie viel ich auf meinem Konto habe, kann ich nicht genau sagen. Es sind ver­ mutlich zwischen 17 und 20 Millionen. Weisst du, ich bin der beste Marketingmensch der Welt. Dabei mache ich nichts! Ich schaue ein­ fach, dass es den Leuten gut geht.» Käru versucht, sich gerade hin­ zustellen, und erzählt weiter: «Ich habe keine Ahnung, was ich mit dem Geld anstellen soll. Darum bin ich ja hier. Seit 1994 keine WM und keine EM verpasst. An jedem Auswärtsspiel der Schweizer Nati. Meine Frau will immer die Suiten. Haben wir eben eine Corner-Suite gebucht.» Käru ist ein kleiner, dünner Mann Anfang sechzig aus dem Ber­ ner Hinterland; Sternzeichen Funktionsjacke. Kennen gelernt haben­ wir uns ein paar Stunden zuvor im Casino des Hotels. Wie mein Auge Hotelzimmers und redet von der Ordnung, die abhandengekommen immer mehr flimmerte, erzählte mir Käru, dass sein Bruder zur sei. Terror­gruppe Rote Armee Fraktion überlief und im Gefängnis lan­ Ich stelle ein Lied ein, «The End» von den Doors. Käru eiert dete. Von da an waren wir beste Freunde. durchs Zimmer, praktisch Ausdruckstanz, und ich eiere mit. Wie «Weisst du», fährt Käru fort, wie er übers Geländer hängt, «das das Lied zu Ende geht, packe ich ihn bei den Schultern und führe Wichtigste ist die Ordnung.» Die Ordnung? «Dass wir Ordnung in ihn zur Tür. Beim Loslassen knallt er mit aller Wucht, die sein klei­ der Schweiz haben. Ruhe und Ordnung. Auch bei der Schweizer Nati ner Körper hergibt, gegen die Wand des Korridors. Er versucht, sich brauchen wir Ordnung, verstehst du?» auf­zurappeln, und ich frage, ob ich ihn zu seinem Zimmer begleiten Käru nimmt sich zwei Zigaretten und zündet eine halbe an. Ich soll. Käru wehrt ab, er müsse nur den Gang hinunter. Ich gebe ihm verstehe ihn nicht. Wo man auch hinschaut, überall ist viel zu viel einen Schubser, und er wankt Richtung Corner-Suite. Ordnung. «Du bist in Ordnung», ruft Käru noch. Ich falle in einen unruhi­ Eigentlich bin ich nach Gibraltar geflogen, um zu dokumentie­ gen, kurzen Schlaf. Als ich gegen Mittag aufwache, entdecke ich ein ren, was die Schweizer Nationalmannschaft im Ausland macht. Aber Mobiltelefon zwischen den Bierflaschen. In der Hülle stecken meh­ die Spieler sind wie ein Phantom, man bekommt sie nicht zu fassen. rere Kreditkarten. Der Verband regelt alles bis in die letzte Minute. Wie überall im mo­ dernen Fussball hängt man dem Irrtum nach, man könne den Zufall durch Ordnung ersetzen. SAMSTAG: Die Anreise Wäre das alles ein Theaterstück, überlege ich, so stünden die Nati und die Schweiz zusammen auf einer Bühne, gar nicht so weit aus­ Zwei Tage früher. Im Flugzeug von Zürich nach Gibraltar herrscht einander, zwei Kreuze aus Klebstreifen markieren ihren Standort. Ordnung. Vorne sitzen die Schweizer Nationalmannschaft und ein Wie sie dastehen, würden sie sich nicht anschauen, nicht berühren,­ Dutzend Funktionäre mit Anzügen, dahinter einige Geschäftsleute, nicht miteinander reden. die unter unbekannten Umständen zu ihren Tickets gelangt sind. In Nur einmal schien mir die Ordnung ein wenig schief. Nachdem der Mitte nehmen die Journalistinnen und Journalisten Platz, viel­ ich vor Jahren in Basel zu viel Craftbier getrunken hatte, sah ich Yann leicht zwölf an der Zahl. Hinten sind die Fans einquartiert, es müs­ Sommer vor einer Bar stehen. Er wirkte klein und sehr dünn, beinahe sen um die sechzig sein. wie ein Skispringer. Man hätte ihn vermutlich anfassen können, aber Die Tour mit dem Team lässt sich über ein Reisebüro buchen. da war die Angst, ihn zu zerbrechen, quasi sieben Jahre Pech. Die Reise nach Gibraltar – Hinflug ist am Samstag, Rückflug am «Hast du noch eine Zigarette?» – Kärus Frage reisst mich aus mei­ Dienstag – kostet rund 1500 Franken, inklusive Unterkunft und Ein­ ner Unordnung. Er hängt noch immer über dem Balkongeländer des tritt ins Stadion.

16 es die Männer des «Blicks» einige Mühe gekostet, die Frau zu über­ Die Spieler sind wie ein zeugen, das Foto zur Verfügung zu stellen; und jetzt sitzen sie nicht ohne Stolz im Flugzeug, lesen ihre eigene Zeitung und sind zufrie­ Phantom, man bekommt den. Ja, das kommt geil. Rechts neben mir sitzt die einzige Journalistin im Umzug, eine sie nicht zu fassen. Der sehr erfahrene Frau. Der Fussball sei halt schon ein Machogeschäft, erzählt sie, während sie einen glänzenden Prospekt über Uhren aus Verband regelt alles bis der NZZ grübelt. Den Rest der Zeitung legt sie weg. Wenn sie, erklärt sie, Fussballern nach einem Spiel schlechte Noten erteilt habe, seien in die letzte Minute. Gerüchte über sie verbreitet worden, sie habe mit diesem oder ­jenem was. Auch zweideutige Anspielungen habe es oft gegeben. Aber im Allgemeinen habe sich das etwas gelegt, die jungen Spieler seien heute anständiger. «Am schlimmsten», sagt die Journalistin, «sind die Kollegen.» Ricardo Rodriguez beisst sich beinahe die Zunge ab, als er ver­ Links neben mir tippt ein gehetzter Mann Zitate wie «Wollen sucht, seinen Rucksack ins Gepäckfach zu drücken. , die drei Punkte holen» in seinen Laptop. Er trägt einen grossen Ring ­, und spielen ein Brett­ und eine schneidige Uhr. Blick durchs Flugzeug, alle tragen Ringe spiel, das aussieht wie Eile mit Weile. Yann Sommers Haare sind hin­ und Uhren. Ich betrachte mein leeres Handgelenk. Schnell schiebe ter einer­ Kopfstütze zu erkennen, mehr nicht. Zwischen dem Fuss­ ich den Ärmel meines Pullovers darüber. volk und den Spielern ist jeglicher Kontakt untersagt, wie man mir Nachdem wir in Gibraltar gelandet sind, es ist gegen acht Uhr erklärt. abends, sind die Fussballer auch schon wieder verschwunden. Ihre Die Flugbegleiterinnen verteilen Zeitungen, zur Auswahl stehen Koffer werden ihnen hinterhergetragen. die NZZ und der «Blick». Die Fussballer lehnen dankend ab. Kurz Beim Gepäckband steht ein Mann, ungefähr 45 Jahre alt, mit nach 17 Uhr hebt die Maschine ab. recht rotem Kopf und einem Trikot der Nati. Er stellt sich als Doktor Direkt vor mir im Flugzeug sitzen drei Männer vom «Blick». Habakuk vor. Seine Freunde behaupten, er sei der grösste Fan, den es Ihre Story des Tages ist zwar keine Story, aber zumindest ein gei­ gebe; sie nennen ihn auch den «Landarzt», weil er eine Arztpraxis im les Bild: Die Freundin des neuen Nationalspielers Cédric Itten po­ Thurgau leitet. Mir gefällt Doktor Habakuk besser, und ich frage ihn, siert halb nackt in einem Fussballtrikot. «Diese Arzt-Gehilfin machte was er von der Nationalmannschaft halte und ob er auch der Mei­ Nati-Held Itten wieder stark» heisst die Schlagzeile. Womöglich hat nung sei, dass alles bachab gehe. «Das ist genau die richtige Frage»,

17 Wir gehen in die erste Bar, die wir finden, ein Irish Pub, und bestellen grosse Biere. Doktor Habakuk raucht Kette und redet von der Nationalhymne. Er zeigt die Kopie eines Briefs, den er vor ein paar Tagen an den Schweizer Fussballverband geschickt hat. Betreff: «­Angebot Gesangsstunde». «Im Hinblick auf das letzte Spiel der Qua­ lifikationsrunde habe ich mir überlegt», liest Doktor Habakuk vor, «ob es nicht ein äusserst kräftiges Bild wäre, wenn die Nationalmann­ schaft bei der Hymne gemeinsam kräftig singen und damit auch ihre Solidarität zur Nation bekunden würde, unabhängig ihrer Länder­ herkunft. Da ich mit zwei Kollegen unterwegs bin in Gibraltar, wel­ che beide ebenfalls musikalisch sehr versiert sind», Doktor Habakuk zeigt auf zwei Kollegen, der Steff spiele super Gitarre, und der Edi sei ein super Sänger, «würde ich mich anerbieten, auf dem Schiff ‹Sun­ born› im Ballsaal am Sonntag (vor dem Spiel), wenn dies gewünscht wäre, für die Nationalmannschaft eine Gesangsstunde anzubieten, um die Nationalhymne zu lernen und diese dann am Montag kräf­ tig zum Ausdruck zu bringen.» Wie Habakuk die Antwort des Verbands zitiert, seufzt er, als hätte er gerade erfahren, dass er für den Umbau seines Schopfs eine Be­ willigung des Gemeinderats braucht: «Ob ein Spieler die National­ hymne – ob kräftig oder nicht – mitsingt, erachten wir für die Iden­ tifikation mit dem Team nicht als prioritär. Deshalb lehnen wir Ihr sagt er. Sein Atem riecht nach Alkohol. Nach einem kurvenreichen Angebot freundlich ab.» Gespräch mit Doktor Habakuk und seinen Freunden steht der Plan «Weisst du», holt Habakuk aus, «ich habe vierzig Patienten pro fest: zum Hotel fahren, die Minibar leeren, dann Treffen im nächst­ Tag, ich chrampfe für dieses Land. Und dann erkennt der Verband gelegenen Pub, um die Frage zu klären. nicht, was die Leute bewegt.» Er packt mich bei der Schulter und sagt: Gibraltar, das Tor zum Mittelmeer, ist schon in der Dunkelheit «Es ist ein Thema, ein Identifikationsfaktor, dass sie singen. Schreib versunken. Die Halbinsel, auf der 35 000 Menschen und einige Hun­ das.» dert Affen leben, besteht streng genommen aus einem 400 Meter Angeführt von Habakuk, erhebt sich die Gruppe und singt die ­hohen Felsen. Er heisst «The Rock»; für Fantasie blieb keine Zeit, statt­ Schweizer Nationalhymne, Hand aufs Herz, und ich denke gerührt: dessen wurde der Felsen in eine riesige Festung verwandelt, überall Noch nie wurde Vaterlandstreue so senkrecht aufrechterhalten wie Mauern, Wehrgänge, Kanonen und noch mehr Kanonen. In den ver­ in diesem Irish Pub im Reich der Kanonen und Casinos. gangenen Jahren brachte man einige Tausend Briefkästen an, für die Als die Aschenbecher voll sind, kehren wir zum Hotel zurück. wertvolle Arbeit internationaler Konzerne, die keine Steuern zu be­ An der Bar lerne ich Monika kennen, ihr farbiges Halstuch erzählt zahlen brauchen, höchstens mal eine kleine Stempelgebühr, damit eine 60-jährige Lebensgeschichte voller Gutmütigkeit und Härte. Seit sich die Beamten dann und wann einen Cocktail leisten können. Ne­ Jahren besucht sie Auswärtsspiele der Nati, «nicht mehr wegen der ben den Briefkästen gingen Dutzende Casinos und Wettbüros auf. Mannschaft, sondern wegen der Destination». «Wenn diese Mann­ Unser Hotel heisst «Sunborn». Fünf Sterne, ein riesiges Schiff. schaft spielt», sagt Monika, «ist es einfach eine Mannschaft und nicht Auf einem Stockwerk gibt es ein Casino. Fans und alle Schweizer eine Nationalmannschaft. Früher, als das Team nur zur Hälfte aus ­Medien sind hier einquartiert. Das Nationalteam übernachtet in ei­ Ausländern bestand, war das anders, auch wenn das Team schlechter nem kleineren Hotel. «Das ist zwar schlechter als das ‹Sunborn›», sagt war. Da fühlte ich viel mehr. Die spielten für unser Land. Aber als sie ein Reiseorganisator, «aber das ist zu gefährlich, wegen des Casinos.» letztes Jahr den Doppeladler gezeigt haben, haben sie sich verraten.» Die Korridore sind lang. Die Teppiche tragen seltsame Muster, Wie verraten?, frage ich. als hätte sich jemand darüber übergeben, und ein anderer hätte ­alles «In dieser Ausnahmesituation ist ihre wahre Seele zum Vor­ sorgfältig arrangiert. Aus den Wänden ragen silberne Schüsseln. Der schein gekommen: Sie sind keine richtigen Schweizer. Sie spielen Boden im Badezimmer ist aus braunem Marmor. nicht für unser Land. Meinetwegen sollen sie verreisen. Die brau­ Doktor Habakuk und seine Begleiter warten schon in der Lobby chen wir nicht.» des Hotels, die Gruppe ist auf ungefähr zwanzig Leute angewach­ Gegen Mitternacht schliesst die Hotelbar, und weil Durst schlim­ sen, zwei Frauen sind auch dabei. Die meisten sind zwischen vier­ mer als Heimweh ist, gehen wir eine Etage tiefer, wo sich das Ca­ zig und sechzig, Banker, Arzt, Anwältin, Malermeister, Gemeinde­ sino befindet. Es ist gut gefüllt, praktisch nur mit Schweizern. Die Ca­ rat, Gastrounternehmer. sino-Angestellten stammen fast alle aus Rumänien, und wenn eine

18 Es ist ein bisschen ausgeartet, weil im Flugzeug immer alle was von Noch nie wurde Vater- den Spielern wollten.» Bruno gibt einem Buben eine 1000-Franken-Note und sagt, er landstreue so senkrecht solle die wechseln gehen. Als der Bub wieder kommt und sagt, der Wechselkurs sei so und so, wird Bruno ungemütlich, Abzocke sei das, aufrechterhalten wie ruft er, Abzocke! Und dann fuchtelt er mit seinen massigen Armen, in diesem Irish Pub im weil um drei Uhr auch noch die Bar schliesst. Reich der Kanonen und SONNTAG: Schlechte Nachrichten Casinos. Augenringe durch die Gänge schleppen, den Teller mit dem Früh­ stücksbuffet beschichten. Am Nebentisch ein sehr beleibter Schwei­ zer, der zu einer Engländerin sagt: «You learn to save money from the rich people», worauf sie erwidert: «Rich people don’t spend their Bestellung ein wenig dauert, «dann weil wir hier im Süden sind, gell ­money. They’re borrowing it.» Beide lachen so unanständig, wie es Hanspeter». ein Fünfsternehotel erlaubt. Ein Double von Gérard Depardieu spielt Roulette, er nennt sich Auf dem Felsen von Gibraltar fallen ein paar Affen über einen Bruno und kommt aus Luzern. Seine engen Jeans sind mit Pailletten Buben her, Familiendrama. Im Restaurant auf dem Gipfel des Affen­ und Löchern verziert, seine langen Haare hat er mit Gel nach hin­ bergs schiessen sich fünf junge Schweizer mit Sangria ab. Unten im ten gekämmt. Er ist einer dieser Männer, die im Flugzeug direkt hin­ Städtchen, vor einem Wettbüro, steht ein Rollator. Ich setze 20 Pfund ter der Mannschaft gesessen sind. Bruno erzählt, er fliege seit fünf­ auf einen Sieg Gibraltars, es gäbe das 34-Fache zurück. zehn Jahren mit der Nati mit, er kenne da jemanden. Ursprünglich Auf 16 Uhr ist eine Pressekonferenz angesetzt, danach findet sei er Landwirt, habe aber «mit Immobilien begonnen», jetzt besitze das Abschlusstraining der Schweizer statt. Ich gehe schon ein biss­ er 200 Stück. Mehr will er nicht über sich verraten, aber er spendiert chen früher zum Stadion. Es liegt verlassen da, verwittert, mit Ris­ ein paar Drinks. sen versehen, aber zufrieden, wie jemand, der seinem Ende gelas­ «Die Mannschaft wird immer mehr vom Rest abgeschirmt», er­ sen entgegensieht. Aus dem Stadionbauch dringen Schreie und das zählt Bruno, «aber weisst du was? Dafür können die gar nichts. Das Quietschen von Schuhen. Am Ende eines farblosen Gangs befin­ sind alles ganz liebe Buben. Das wurde vom Verband beschlossen. det sich eine alte Turnhalle, wo gerade ein Spiel der zweithöchsten

19 Futsal-Liga läuft. Der Präsident des Heimteams, des Lions Football Club, ist auch gekommen; er trägt einen schwarzen Trainingsanzug Petkovic mag wenig mit Flecken auf der Jacke. Wie ihn ein Hauch von Alkohol umgibt, erzählt El Presidente, dass die ersten Mannschaften der heimischen reden und noch Liga das Niveau der dritten spanischen Liga hätten. Und dass Gib­ raltars Nationalteam­ ein einziges Spiel gewonnen habe, gegen wen, ­weniger sagen, aber die wisse er aber nicht mehr. Nur wenige Spieler seien Profis, sagt er, die meisten hätten einen normalen Job. ­Journalisten hätten wohl Irgendwann wird sein Sohn eingewechselt. Als er gefoult wird, mischt sich El Presidente ein, quasi Leibwächter, und wünscht dem lieber einen, der viel Gegner alles Wüste. Die Predigt endet mit der Erkenntnis, dass der andere keine Eier habe. redet und nichts sagt. Apropos Predigt. Zur Pressekonferenz erscheint Nati-Trainer Vladimir Petkovic mit und . Wie für einen Gottesdienst üblich, dreht sich alles im Kreis, es wird dasselbe wie Nachteile einer Vasektomie. Habakuk meint, es sei kein Problem, er letzte Woche erzählt, und zum Schluss hofft man auf ein Abendmahl. könne allen hier die Pfeife lahmlegen, wenn dies gewünscht sei, zwei Also frage ich Yann Sommer, ob er nach dem Spiel morgen ein Bier kleine Schnitte, kurz und schmerzlos. Wir bestellen weitere Runden trinken wird. Er bejaht. Bier, worauf wir uns irgendwann in einem Steakhouse ein paar Häu­ Die Predigt ist nach neunzehn Minuten vorbei. Die Heiligen ser weiter wiederfinden. werden schnell aus dem Raum geschleust, wohl um Zufälle zu ver­ Habakuks Freund, der Gastrounternehmer, hat das Lokal ge­ hindern. Die Journalistin, die im Flugzeug neben mir gesessen ist, prüft. «Den ersten Eindruck hole ich mir immer beim WC», sagt er, kommt auf mich zu. «Deine Frage war zwar witzig», sagt sie, «aber «ist es sauber, heisst das schon mal viel. Gut ist auch, wenn eine Frau 90 Prozent trinken eh keinen Alkohol, das sind absolute Profis, und unterwegs ist, weil Frauen eher auf Sauberkeit achten.» Sein T-­Bone- wenn doch, dann trinken sie kein Bier.» Mit gesenktem Kopf schlei­ Steak, fügt er anerkennend an, sei mindestens 700 Gramm schwer. che ich aus dem Stadion und sehe ein, dass aus mir nie ein anstän­ Auf dem Tisch türmen sich die Fleischberge, der Rauch des Grills diger Sportjournalist werden wird. Schon gar nicht mit derart un­ sammelt sich unter der Decke, die Köpfe werden rot. Doktor Habakuk ordentlichen Fragen. stimmt die Nationalhymne an, die Männer am Tisch unterbrechen Zum Trost rufe ich Doktor Habakuk an. Kurz darauf sitze ich ihren Fleischerguss und singen mit. Als eine Kellnerin vorsichtig da­ im Irish Pub und trinke Bier. Die Männer diskutieren die Vor- und rum bittet, nicht so laut zu sein, wegen der anderen Gäste, kommt

20 das nicht gut an. «Hallo, wir konsumieren hier, das ist Wirtschafts­ förderung», sagt einer. «Die Nationalhymne ist ein Identitätsfaktor», sagt Habakuk spä­ ter beim Rauchen; seine Stimme klingt rau, wie nach einer Erkäl­ tung. «Der Verband unterschätzt das völlig. Die leben in einer Blase. Ja, schreib das: in einer Blase!» Nach dem Essen kehren wir zum Hotel zurück. Es ist Sonntag­ abend, nicht viele Bars haben geöffnet, das Casino im Hotel schon. , seit Neustem Experte beim Westschweizer Fern­ sehen, freut sich über gute Karten beim Blackjack, als wir eintreten. Wie schon als Fussballer hält er sich gut, praktisch bis zur letzten Runde bleibt er am Tisch kleben, dennoch schenkt ihm kaum jemand Beachtung. Wie das Casino zu einer Schweizer Exklave wird, finden sich auch einige Journalisten ein. Bald sind alle grossen Tageszeitungen vertreten, und mit ein paar Schlucken Apérol Spritz werden sie noch grös­ser. Die Journalisten sind ein bisschen beleidigt, weil sich die National­mannschaft zunehmend isoliert. Der Scharfrichter dieser Gruppe ist zweifellos Andreas Böni, der Fussballchef des «Blicks». Böni hat eine Vorliebe für rollende Köpfe. Vladimir Petkovic steht schon seit Monaten zuoberst auf seiner Liste. Nicht weil er ein schlechter Coach wäre, niemand in der Geschichte der Nati hat eine bessere Bilanz als Petkovic. Nein, Scharfrichter Böni vor der Tür einer Suite stehe, öffnet eine Frau, die vermutlich viel stört sich am Auftreten des Trainers, «dilettantisch und stillos» sei es, Sport macht. Sie muss einiges jünger als ihr Mann sein. Das Zimmer schrieb er, und die Kommunikation katastrophal. So wetzt Böni sein ist abgedunkelt, Käru liegt wie eine tote Fliege nackt im Bett. Bei der Beil, wetzt und wetzt, und man fragt sich, ob er schon beim Griff an­ Übergabe des Handys hebt er seinen Kopf und lässt ihn gleich wieder gelangt ist. fallen. «Und», sagt seine Frau streng, «was ist mit dem Finderlohn?» Der Apérol Spritz hat die Zungen gelöst. Ich frage Böni – so nen­ Sie boxt ihn leicht in die Schulter. Er stöhnt. Ich lehne dankend ab. nen ihn alle, und er ist so nett, wie der Name klingt –, ich frage ihn, Stattdessen machen wir zu einem Kaffee am Nachmittag ab. warum alles bachab gehe mit der Nationalmannschaft. «Eine Ent­ Die Sonne scheint auf den Casemates Square im Städtchen, es fremdung hat stattgefunden, die Mannschaft kapselt sich von der ist vier Uhr. Käru sieht wieder einigermassen lebendig aus. Seine Aussen­welt ab», sagt er. Den Rest habe ich leider vergessen, der Spritz Frau schnippt mit den Fingern, um einen Cappuccino zu bestellen. hat zugeschlagen. Mir bleibt nur noch sein glückliches Gesicht in Er­ Sie erzählt, dass sie sich Sorgen gemacht habe, weil Käru erst gegen innerung, der Bericht über Ittens halb nackte Freundin gehörte näm­ fünf Uhr morgens wiederaufgetaucht sei. Ausserdem habe er sich lich zu den am meisten angeklickten des Wochenendes. nicht mehr an mich erinnert, es komme manchmal vor, dass er einen­ Als sich Böni verabschiedet, verfestigt sich ein Verdacht: Petkovic­ Filmriss habe. mag wenig reden und noch weniger sagen, aber die Journalisten Wir reden über Fussball, beziehungsweise Kärus Frau redet. «Die ­hätten wohl lieber einen, der viel redet und nichts sagt. Nationalspieler sind reservierte Arschlöcher», sagt sie. «England ist Mitten im schwarzen Nebel der schlechten Nachrichten sehe da ganz anders. Der Trainer Gareth Southgate – ein wirklich hüb­ ich ein Licht aufgehen. Da sitzt er, Käru. Etwas windschief hockt er scher Mann – hat einmal ein Foto von uns gemacht. Du kannst später auf einem­ Sofa und schüttet Bier in seinen kleinen Körper. Mit einer auch eines machen, wir sind», sie zeigt einige Bilder auf ihrem Smart­ Geste bedeutet er mir, sich neben ihn zu setzen. phone, worauf sie und Käru in roten Ganzkörperkostümen stecken, Einige Stunden später hängen wir über den Balkon meines das Gesicht rot-weiss bemalt, «wir sind oft im Fernsehen und in der Hotel­zimmers, rauchen und beobachten, wie sich die Sonne lang­ Zeitung. Wir brauchen eine Stunde zum Schminken.» sam erhebt und die Ordnung abhandenkommt. Beim Abschied besteht sie darauf, mir Geld dafür zu geben, «dass dir mein Mann die Minibar leergesoffen hat». Ich wehre ab, aber Widerstand ist zwecklos. Schliesslich steckt sie mir 20 Pfund in die MONTAG: Spieltag Tasche. Die Rechnung wird viel höher ausfallen. Das Spiel gegen Gibraltar beginnt erst um neun, ich bin viel zu Zwischen den Bierflaschen klingelt ein fremdes Handy. Eine be­ früh im Stadion. Als ich auf dem Gelände herumstrolche, spricht sorgte Stimme ist dran, sie gehört Kärus Frau. Als ich wenig später mich ein Sicherheitsangestellter an, ein ungefähr fünfzigjähriger

21 Mann mit Pferdeschwanz und gelber Leuchtweste. Er stellt sich als Shan vor. «Du hast Glück, dass dich nicht mein Kollege erwischt hat, Weil ihnen das Stadion dieser Wichser ist ein Cop», sagt er. «Das Problem bei Länderspielen hier ist: Alle wollen sich viel wichtiger machen, als sie sind.» zu alt und schimmlig Ob er auch ein Cop sei, frage ich. Shan lacht mich aus: «Sehe ich so aus, kleiner Motherfucker?» Er ist, fahren die National- sei früher Dealer gewesen, er habe die Jungs gross gemacht, die jetzt das Sagen haben, deshalb bekomme er immer den besten Stoff. «Vor spieler zum Duschen zwei Wochen habe ich 100 Gramm Blueberry Kush gekauft, strong shit. Habe schon alles geraucht, kann ich nur weiterempfehlen. Der ins Hotel. Stoff kommt von Marokko nach Gibraltar. 90 Prozent der Leute hier rauchen Pot. Aber», Shan verdreht die Augen, «heute ziehen sie viel mehr Kokain. Die Kids spinnen. Vor ein paar Wochen haben mich fünf kleine Hurensöhne überfallen. Sechs Stiche im Rücken. Seither laufe ich nur noch bewaffnet herum.» Er greift in die Innen­tasche Kein anderes Land habe bisher so viele Presseleute mitgebracht seiner Jacke und zieht ein Klappmesser hervor; beim Öffnen rauscht wie die Schweiz, sagt Paul erstaunt. Dabei werde die Schweiz sowieso die Klinge viel zu nah an meinem Bauch vorbei. Shan flucht. «Wenn gewinnen. «Das Problem ist eher, dass ich morgen früh schon nach das Spiel vorbei ist, gehe ich nach Hause, löse meinen Pferdeschwanz Bulgarien fliegen muss.» und rauche ein bisschen Gras. Dieses Fussballzeug ist was für Mother­ Zu einem Fussballspiel? fuckers.» Mit wichtiger, leicht angepisster Miene führt mich Shan an «Zum Zahnarzt. Meine Spange ist kaputt, und jetzt habe ich seinen Wichserkollegen vorbei zum Stadion. «Mit diesem Gesicht Mühe mit dem Sprechen.» kommst du überallhin», sagt er zum Abschied. Wenig später laufen die Teams aufs Feld. Das Stadion ist aus­ Im Stadion treffe ich auf Paul. Eigentlich ist er schon halb in verkauft, 2000 Leute sind gekommen, darunter rund 700 Schweizer. Rente und wohnt auf einem Segelboot. Aber von Zeit zu Zeit kom­ Gibral­tars Nationalhymne klingt wie eine Mischung aus Weihnachts­ mentiert er Fussballspiele für den lokalen TV-Sender. Der massige chor und Schlachtgesang. Im Vergleich dazu wirkt der Schweizer­ Mann sitzt auf einem Klappstuhl im Presseraum und notiert sich die psalm recht harmlos. SRF-Kommentator Sascha Ruefer singt an­ Aufstellungen beider Teams. Nach zwei oder drei Anläufen klappt es; dächtig mit. ­Granit Xhaka hat er irrtümlicherweise im Sturm eingeplant. Zufrie­ Auf dem Feld hat die Schweiz zunächst Mühe, nach 45 Minu­ den begutachtet er seine Zeichnungen. ten steht es erst 0:1. Sehr zum Ärger von Ancillo Canepa, dem

22 Präsidenten des FC Zürich. In der ersten Halbzeit schüttelt er so oft den Kopf, dass es schon beim Zuschauen schmerzt. Ruhiger wird er erst, als er sich eine Pfeife anzündet; gleich hinter ihm an der Wand prangt ein Rauchverbotsschild, aber das kümmert niemanden. Wie Canepa mächtig dampft, geht Gibraltar langsam der Schnauf aus. Beim Schlusspfiff steht es 6:1 für die Schweiz, die sich als Gruppen­ siegerin für die Europameisterschaft qualifiziert. Die Spieler hüpfen herum und umarmen sich. Weil ihnen das Stadion zu alt und schimmlig ist, fahren die Nationalspieler­ zum Duschen ins Hotel. Beim Ausgang hinter dem Stadion müssen sie durch eine abgesperrte Gasse gehen, wie Raub­ tiere, die in die Manege geschleust werden. Ein knappes Dutzend Journalisten wartet bereits hinter der Abschrankung. Es ist ihre ein­ zige Chance während der Reise, mit den Fussballern direkt zu reden, entsprechend gierig sind sie. Aber gierig wonach? Es kommt zu einer Art Mitternachts­predigt, die Fragen sind dieselben wie immer, die Antworten ebenfalls. Yann Sommer, bist du zufrieden? Granit Xhaka, wie hast du das Spiel erlebt? Ricardo Rodriguez, wie fühlst du dich? Manuel Akanji, bist du zufrieden? Ein bisschen Farbe bringt immerhin mit, in der Hand hält er eine grüne Bierflasche, er gibt Interviews auf Franzö­ sisch, Deutsch und Italienisch, aber auch er will nicht verraten, ob Sport. Die Spiele gegen Teams wie Deutschland, Belgien oder die und allenfalls wo das Team noch anstossen geht. «Vielleicht gibt es Schweiz machen zwar Spass, aber Trikots tausche ich nicht mehr. noch ein Bier im Hotel», sagt er. (Wie mir später gesagt wird, be­ Was interessiert mich so ein verwöhntes Muttersöhnchen, ich ver­ sucht die Mannschaft ein Casino und legt die grossen Scheine auf schenke mein Shirt lieber an die Kids von hier.» Er zückt sein Smart­ den Tisch.) phone aus der Tasche und zeigt eine Liste mit Namen von Kindern, Ich beschliesse, die Predigt sein zu lassen. Mittelschwere Kopf­ denen er ein Trikot versprochen hat. schmerzen machen sich bemerkbar, vermutlich Entzugserscheinun­ Wie sich Lees Krug wie von Zauberhand immer wieder füllt, be­ gen. Wie ich sehe, haben sie im Bauch des Stadions einen VIP-Be­ ginnt die Umgebung zu flimmern. Irgendwann ver­abschiedet er sich, reich eingerichtet. Ein paar Funktionäre und Spieler von Gibraltar­ er müsse nach Hause zu seiner Familie. Er wankt ein wenig. Ich gehe sind zu erkennen. Mit wichtiger Miene schreite ich an den Sicher­ zum Hotel. In meinen Schuhen quietscht das Bedauern, dass Lees heitsmännern vorbei, direkt zur Bar, wo sie grosszügig Weisswein Zeit im Fussball schon lange vorbei ist. ausschenken. Gegen Mitternacht wird im Hotel ein Abschlussessen für die Neben mir steht Lee Casciaro, der Rekordtorschütze der Natio­ Journalisten serviert, und von den grossen Zeitungen lässt sich das nalmannschaft Gibraltars (33 Spiele, 3 Tore). Er hält dem Barkeeper fast niemand entgehen. Lautlos schweben freundliche Kellner um­ einen Krug hin, worauf dieser ihn mit Bier füllt. Lees Blick ist fins­ her, als hätten sie Angst, einen schlafenden Bären zu wecken. Die ter, doch sein Gemüt sehr hell. Er greift sich an den Oberschenkel, es Gesichter der Journalisten sehen sehr ernst und wichtig aus, wie zwickt ein wenig. «I’m old, my friend», klönt er theatralisch, denn er sie ­Essen in sich hineinschaufeln und Bier trinken und diskutieren. ist 38. Seit dreissig Jahren spielt er beim selben Verein in Gibraltar, er Eben haben sie ihre Kommentare an die Redaktionen in der Schweiz gilt noch immer als schnellster Spieler des Landes, und einmal ge­ übermittelt. Petkovic muss weg, lautet der Tenor. Die Berichte wer­ wann er mit seinem Klub sogar einen Match gegen Celtic Glasgow den auf den Titelseiten der morgigen Zeitungen prangen. Da gehört in der Champions-League-Qualifikation. Er schoss das einzige Tor. es dazu, zu sagen, wie bedeutend der Artikel ist und wie man es Morgen müsse er erst abends zur Arbeit erscheinen, erzählt er, ­genau geschafft hat, so etwas Bedeutendes zu schreiben. als er sich den Krug auffüllen lässt. Er ist bei der Militärpolizei an­ Ich habe Kopfschmerzen und gehe zu Bett. Im Halbschlaf stelle gestellt und leistet Schichtarbeit. Meistens ist er mit einem Boot auf ich mir vor, wie Vladimir Petkovic ein Käsefondue isst, das auf ­Kärus Patrouille vor der Küste. nacktem Körper serviert wird. Ein Reporter schiesst geile ­Fotos «Die heutigen Fussballer sind Roboter», sagt Lee und nimmt ­davon. Und die Ordnung ist wiederhergestellt.• ­einen grossen Schluck Bier. «Mich langweilt das. Schau dich um: Fast kein Spieler ist mehr hier. Die sind alle nach Hause gegangen, trinken Fruchtsaft und spielen Playstation. Das ist nicht mehr mein Diese Reise wurde ermöglicht durch Travelclub.

23 Kapazität

70 000

60 000

50 000

40 000 1922 30 000 Schützenmatte, Basel 1909 20 900 20 000 1908 Landhof, Basel In den 1920er-Jahren setzt in der Schweiz ein wahrer Stadionboom 10 000 Parc des Sports, Genf ~8000 ein. Fussball gewinnt laufend ~4000 Die Tribüne errichteten Mit­ an Popularität, das Publikum 1901 bezieht Servette den Parc des glieder des FC Basel bereits 1908 verlangt nach besserer Sicht und Sports an der Rue de Lyon. Bereits für das Gastspiel der deutschen mehr Komfort. Die Old Boys ein Jahr später wird eine Tribüne Nationalmannschaft. Ein Jahr be­gehen ihre Premiere auf der errichtet, reserviert für Frauen darauf ist der Andrang noch Schützenmatte gegen die Stutt­ und das Präsidium. Finanziert grösser: 8000 Zuschauer bezahlen garter Kickers. 20 000 Steh- und wird das Schmuckstück auch horrende 5 Franken für ein Ticket, 900 Sitzplätze bietet das Prunk­ durch die Spieler, die Anteile à um England und seinen Superstar stück. 1923 sehen 17 000 Zuschauer 5 Franken kaufen. Publikums­ Vivian Woodward zu sehen, der das Länder­spiel gegen Deutsch­ andrang erlebt der Sportplatz aber vier Tore zum 9:0 beisteuert. land – so viele wie noch nie. erst beim ersten Heimspiel der Schweizer Nati gegen Frankreich, als 4000 Leute kommen. 1900 1910 1920

Von den Sportplätzen der Pionierzeit über den Gigantismus 1920 Mit dem Ausbau des Parc des der 50er-Jahre bis zu den kompakten Arenen der Neuzeit: Sports kann Servette nun deutlich Die grössten Stadien unseres Landes erlebten in ihrer mehr Matcheinnahmen generie­ ren. Das Zugpferd bleibt aber die Geschichte unzählige Umbauten und viele Rekorde. Ein Nati. 1920 kommen 15 000 für die Rückblick auf die einschneidendsten Veränderungen. Partie gegen Frankreich. Die Stadien

der Stadien ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv 24 1923 1929 Rankhof, Basel 1924 , Zürich 23 000 Förrlibuck, Zürich 27 500 In Fronarbeit entsteht der Rank­ 20 000 Die Stehplätze waren zwar nur hof, das neue Heimstadion des Auch in Zürich wird die Moderne Erdwälle, und ein Teil der Zu­ Spitzenklubs FC Nordstern. eingeläutet. Die erste grosse Spiel­ schauer musste auf Rasen sitzen, Mit 23 000 Plätzen ist es neu der stätte der Stadt ist das Stadion aber bei seiner Eröffnung war der ­Gigant im Land, auch wenn es nie Förrlibuck, das zur Heimat der Hardturm das grösste Stadion ausverkauft sein wird. Immerhin Young Fellows wird. 80 000 Fran­ des Landes mit 27 500 Plätzen. 20 000 kommen, als die Schweiz ken kostet der Bau im Kreis 5 Bei Schweiz – Deutschland im 1930 Ungarn empfängt. und bietet stolze 4000 Sitzplätze Mai 1930 waren zwar 1000 Per­ und viel Platz zum Stehen. Vier sonen weniger anwesend, den­ Länderspiele finden hier statt, noch wurde die Partie als ausver­ sowohl jenes gegen Ungarn 1924 kauft gemeldet – und ein neuer (18 000 Zuschauer) wie auch jenes Zuschauerrekord aufgestellt. 1933 gegen Holland ein Jahr später werden im Berner Neufeld gegen (20 000) sorgen für einen neuen England 27 000 Fans gezählt, doch Rekord. Bereits 1937 verkauft YF zwei Spiele gegen Deutschland das Stadion der Stadt und zieht (1933: 30 000, 1937: 33 000) holen in den , Anfang der den Rekord zurück nach Zürich. 1970er-Jahre wird es abgerissen. 1930

1925 1925 1929 Im Oktober ziehen die Young Auch beim FC Zürich bauen die Seit 1905 spielt der FC Lausanne- Boys vom Spitalacker ins neue Vereinsmitglieder das Stadion Sports auf der Pontaise und er­ Wankdorf­ um – Fassungs­ gleich selber. Mit dem Stadtderby weitert sein Stadion laufend. 1929 ver­mögen 22 000. Mit seinen wird der Letzigrund – damals sind es gemäss Zeitungsberichten ­markanten Holztürmen, der lag er noch ausserhalb der «mindestens 20 000 Zuschauer», eleganten Eingangspforte und ­Stadtgrenzen auf einer Wiese – welche die Schweizer Niederlage teilweise überdachten Stehplätzen am 25. November 1925 eröffnet. gegen die Tschechoslowakei sowie der Holztribüne wird es 20 000 kommen zum ersten sehen. Der Heimklub zieht zum Wahrzeichen. Länderspiel gegen Italien. 1930 nie solche Massen an. Selbst brennt die Holztribüne nieder beim Cupfinal zu Hause gegen und wird durch eine aus Beton Nordstern (10:0) sind es nur ersetzt. Finanzielle Nöte zwingen 10 000 Gäste. den Verein 1935 zum Verkauf des ­Stadions an die Stadt.

25 Kapazität 1948 bekommt die 1954 70 000 St.-Jakob-Stadion, Basel 60 000 Schweiz den Zuschlag als 58 000 Bereits 1937 wurde mit dem 50 000 ­Ausrichterin der WM 1954. Stadionbau begonnen. Im Zwei­ ten Weltkrieg aber müssen die 40 000 Arbeiten erst reduziert, wegen der Sechs ­Austragungsorte Zementrationierung dann ganz 30 000 gestoppt werden. Doch auch in Friedenszeiten geht es nicht vor­ 20 000 sollen es sein, also wärts. Der Grosse Rat spricht zwar Mittel zu, gegen diesen Beschluss 10 000 braucht es mehr und wird jedoch das Referendum ergriffen. An der Urne erleidet das Projekt 1952 eine Niederlage. Erst ­grössere Stadien. ein Kredit der Sport-Toto-Gesell­ schaft sichert die Finanzierung. Im April 1954 wird die neue Hei­ mat des FC Concordia Basel einge­ weiht, sie fasst 56 000 Plätze, davon 8200 Sitzplätze. Ausverkauft ist das Stadion bereits beim WM-Vor­ rundenspiel zwischen Deutsch­ land und ­Ungarn (3:8), im Halb­ final Deutschland – ­Österreich (6:1) finden sich gar 58 000 Zuschauer ein. 1940 1950

1934 1937 1947 1951 Wenige Stunden nach einer 1937 wird in Bern die Stehrampe Irgendwie finden in der Lau­ Bereits 1948 bekommt die Schweiz ­Partie gegen West Ham brennt ausgebaut, nun finden gar sanner Pontaise 36 000 Zuschauer den Zuschlag als Ausrichterin die Haupttribüne des Hardturms 40 000 ­Zuschauer hier Platz. Platz beim Länderspiel gegen der WM 1954. Sechs Austragungs­ ab. Den Flammen fällt auch das Der Cupfinal gehört ab 1938 ins Frankreich. orte sollen es sein, also braucht ­GC-Archiv zum Opfer. 1968 brennt Wankdorf.­ Bald hat die National­ es mehr und grössere Stadien. das Stadion erneut, auch dieser liga mit schwindenden Zuschauer­ In ­Lugano entsteht 1951 das Brand bleibt ungeklärt. zahlen zu kämpfen, viele Klubs Cornaredo­ mit 35 800 Plätzen, haben finanzielleProbleme. ­ die Pontaise wird neu gebaut, Die Nati ist aber weiterhin ein und die Genfer Charmilles, 1930 Publikumsmagnet. 1942 wollen an der Stelle des Parc des Sports im Wankdorf 35 000 den Auftritt errichtet, wird im gleichen Jahr gegen Nazideutschland sehen. auf 36 000 Plätze aufgestockt. Der Hardturm ist das kleinste der WM-Stadien (34 800), erlebt dafür zwei Jahre später eine Premiere: das erste Spiel unter Flutlicht auf Schweizer Boden. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

26 STADIEN DER SCHWEIZ

1954 Wankdorf, Bern 64 600 Das alte Wankdorf muss auf die WM einem Neubau weichen. Die Architekten Walter Haemmig und 1958 Virgilio Muzzulini entwerfen ein Letzigrund, Zürich Stadion für 64 600 Zuschauer, 8000 können sitzen. Mit einem Spiel 30 500 gegen die ungarische Wunder­ Der Letzigrund bekommt endlich elf wird die Stätte am Pfingst­ eine grosse Haupttribüne, gerade montag 1954 eingeweiht. Seine rechtzeitig vor den Erfol­gen des denkwürdigste Partie erlebt der FC Zürich. 1964 beim Meistercup- Neubau mit dem «Wunder von Halbfinal gegen Real Madrid wird Bern», als sich Deutschland zum die Kapazität mit 29 000 Zuschau­ Weltmeister macht. ern deutlich überschritten. 1977 gegen ­Liverpool wird sogar erst bei 30 500 aus­verkauft gemeldet. Gemäss der fürs Ticketing ver­ antwortlichen Person waren aber noch mehr Menschen anwesend.

1960 1970

1959 1967 1972 Am 13. April empfängt YB im Das Joggeli droht zum Weissen Durch die Umbauten in Bern wird Halbfinal des Meistercups Stade Elefanten zu werden. Concordia das St. Jakob wieder zum grössten de Reims. 63 000 Zuschauer zwän­ fällt erst in die Nationalliga B Stadion des Landes. 1972, beim gen sich in den Wankdorf, es ist und dann gar noch tiefer, der Showdown um die Meisterschaft, der bis heute gültige Schweizer FC Basel bleibt im erst kurz vor wird der Rekord für ein Schweizer Rekord für ein Fussballspiel. Das der WM umgebauten Landhof. Ligaspiel aufgestellt: 56 000 Fans frühe Tor von Geni Meier reicht Um zumindest einige Einnahmen sehen den deutlichen Triumph nach der Niederlage im Rückspiel zu generieren, finden im Stadion von Karli Odermatt und Co. gegen nicht zum Weiterkommen. In der Turnfeste, Feldhandball-Spiele den FCZ. Folge werden mehr Sitzplätze oder Windhundrennen statt. Erst ­geschaffen, die Kapazität sinkt. 1967 nach dem Aufschwung unter Zum WM-Qualispiel gegen Trainer zieht ­Schweden kommen aber immer auch der FC Basel hierher. noch 57 447 Zuschauer. YB-Museum

27 Kapazität

70 000 60 000 Durch Umbauten und 50 000

40 000 Sicherheitsmassnahmen 1986 30 000 Hardturm, Zürich finden immer weniger 20 000 17 666 Als erste der grösseren Spielstätten Leute Platz. 10 000 wird der Hardturm umgebaut: Er erhält eine Gegentribüne und eine neue Ostribüne, 1998 schliesslich folgt die neue Westtribüne. Die Kapazität sinkt dadurch auf 17 666. Weitere geplante Ausbauten wer­ den nie realisiert.

1980 1990

1983 1995 1997 Zum letzten Mal spielt die Nati Die steigenden Sicherheits­ Durch Umbauten und Sicher­ vor einer so grossen Kulisse: 1983 auflagen spürt man in Genf heitsmassnahmen finden immer unterliegt die Schweiz im Basler ­besonders deutlich. Bereits 1985 weniger Leute Platz im Wankdorf. St.-Jakob-Stadion Brasilien wird die Kapa­zität auf 20 000 1991 ist es beim sechsten Cupsieg trotz Eglis Führungstor mit 1:2. ­reduziert, Mitte der 1990er-Jahre des FC Sion mit 50 000 Zuschauern Die 60 000 Zuschauer bedeuten wird die Tribüne renoviert, und noch nicht mal ausverkauft – Stadionrekord. Es ist das erste ab 1998 gibt es nach europäischer mehr waren es nie bei einem Cup­ Nati-Spiel, für das bereits im Vor­ Norm nur noch Sitzplätze. Bis final –, 1997 beim nächsten Sitte­ verkauf alle Tickets weggehen. zum Abriss 2011 sind in der ner Triumph schliessen bereits Charmilles­ bloss noch 9250 Zu­ nach 28 400 Einlässen die Tore. schauer zugelassen.­ Der obere Tribünenrang war da schon geschlossen, die Stehrampe mit Sitzplätzen ausgestattet. Beim letzten Länderspiel im Wankdorf gegen England 1998 (1:1) dürfen gar nur noch 17 000 rein. Da ist der Neubau längst beschlossen. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

28 STADIEN DER SCHWEIZ

2001 St.-Jakob-Park, Basel 38 500 Der Bau von Herzog & de Meuron leitet die Ära der neuen Arenen ein. Mit 38 500 Plätzen ist er ab März das grösste Stadion der Schweiz. Mit der Aufstockung der Tribüne am Bahndamm von zwei auf drei Etagen und einer Sitzplatzverdichtung wächst die Kapazität für die EM 2008 gar auf 42 500 an. Heute sind es bei Liga­ spielen 37 994.

2000 2010 2020

1998 2001 2006 2020 Seit 1990 plant man auch in Basel Auch bei der Abschiedsvorstel­ Nach dem Hickhack um den Im Sommer wird der FC Lau­ ein neues Stadion. Doch bis alle lung des Wankdorfs im Juli 2001 Hardturm als Austragungsstätte sanne-Sport ins neue Stade de Bewilligungen vorliegen, dauert ist der FC Lugano zu Gast (0:0). der EM 2008 schwenkt man statt­ la Tuilière umziehen. 2022 soll es noch Jahre. 35 000 erweisen im Ganze vier Jahre muss YB im dessen auf den Letzigrund um. dann auch in Lugano gebaut Dezember 1998 dem Joggeli die Neufeld im Exil spielen, ehe der Vor dessen Abriss besiegt der FCZ werden. Damit werden sämtliche letzte Ehre beim 1:3 gegen Lugano, 125-Millionen-Bau für 32 000 Zu­ noch Yverdon (4:1) und kürt sich WM-1954-Stadien Geschichte und danach fahren die Bagger auf. schauer fertig ist. Erst beim sechs­ eine Woche später in extremis ihr jahrzehntelang prägender ten Ligaspiel wird festgestellt, zum Schweizer Meister. 2007 ist Stil demjenigen der neuen, kom­ dass der Penaltypunkt bei 10 statt der Neubau schon bereit für die pakten und geschlossenen Arenen bei 11 Metern auf den Kunstrasen EM. Der Hardturm hingegen wird gewichen sein. gemalt worden ist. im Sommer 2008 besetzt und im Dezember abgerissen. mlzd & Sollberger Bögli Architekten

Mitarbeit: Charles Beuret, Res Mezger

29 Oben halten

r balanciert den weissen Ball auf den roten Schuhen, streckt den Daumen E in die Höhe und lächelt in die Ka­ mera. So, wie er es Mal für Mal gemacht hat, wenn er wieder einen neuen Weltrekord im Balljonglieren aufstellte. Von seiner Präsenz hat Paul Sahli nichts verloren, wohl aber von seiner Beweglichkeit. Es ist ein Freitagabend im November. Paul Sahli hat sich in Schale geworfen: ­rotes Shirt, rote Hose, rote Schuhe. Auf jedem­ Kleidungsstück prangt das weis­se Schwei­ zer Kreuz. Später werden Xhaka und Co. mit einem­ 1:0 gegen Georgien die Tür zur EM weit aufstossen – und Paul Sahli wird im Untergeschoss seines Ein­familienhauses im solothurnischen Lostorf mitleiden. In ei­ nem Raum, der gleichzeitig ­Museum, Bar und Therapieraum ist. An den Wänden hängen Wimpel, Schals, Trikots und Fo­ tos, auf dem Tresen stehen Bierkübel, im Raum Laufband, Rudergerät und Power­ plate. Paul Sahli, mittlerweile 71, trainiert noch immer täglich. Nicht mehr wie frü­ her, um möglichst lange jonglieren zu kön­ Sportfoto Rudel nen, sondern um überhaupt noch einiger­ /

massen normal die Treppe hochzukommen. imago Keiner jonglierte länger, weiter und spektakulärer als er: Der Solothurner Paul Sahli stellte 64 Weltrekorde auf und traf die Allergrössten des Weltfussballs. Diese Erinnerungen halfen ihm über schwere Schicksalsschläge hinweg.

Text Oben haltenPASCAL VOGEL

Seit einem Autounfall im Jahr 2009 ist er darauf schraubte er den Weltrekord im Non­ Ich schaffte 600 Meter.» Als Paul Sahli die IV-Rentner. Sahli erlitt schwere Rücken- stop-Jonglieren auf 14 Stunden, 17 Minuten ­Woche darauf vom Arbeiten nach Hause und Schulter­verletzungen, ein Schleuder­ und 40 Sekunden hoch. Sein spektakulärster kam, lag ein herausgerissenes Inserat auf trauma, eine Netzhautablösung und einen Weltrekord? «Der mit der Feuerwehr­leiter», dem Küchentisch: «Schweizer Meisterschaft Tinnitus mit Hörverlust. «Der Rücken berei­ sagt er und präsentiert auf dem Handy im Fussballjonglieren – Vorausscheidung». tet mir heute noch Probleme.» Er hinkt, hat ­Fotos seines früheren Ichs. Mit Locken und «Meine Frau meinte, ich solle mein Glück Gleichgewichts­störungen und geht gebückt. einem Schnauzer, durchtrainiert und drah­ versuchen, doch ich wollte erst nicht so Zehn Jahre nach dem Unfall spürt er dessen tig, stieg er rückwärts eine Feuerwehrleiter recht.» Schliesslich gab sich Sahli doch einen Folgen aber nicht nur am Körper, sondern hoch. 111 Sprossen schaffte er, 30 Meter. «Lei­ Ruck. «Ich erinnere mich noch genau», sagt auch auf dem Bankkonto. Die SUVA zahlt der war die Leiter nicht länger», lacht er. Der er wild gestikulierend, «ich war der Erste in nicht, sagt, Sahli wäre aufgrund von Rücken­ Stolz ist ihm ins Gesicht geschrieben. Vor al­ diesem Einkaufscenter, der sich der Qualifi­ problemen auch ohne Unfall arbeitsunfähig lem, wenn er von seinen drei Auftritten bei kation stellte. Es war morgens vor 10 Uhr, ich geworden. Nach zehn Jahren ist der Bieler Thomas Gottschalk in «Wetten, dass …?» er­ holte mir ein Gipfeli und einen Kaffee.» Die müde geworden, will nicht mehr gegen die zählt. Sahli, der Wettkönig. Aus dem 1,55 m Tasse habe er hingestellt in der Annahme, sie Justiz kämpfen. Viel lieber erinnert er sich an kleinen Mann wurde ein TV-Star. bald wieder in den Händen zu halten. Doch seine Karriere als Balljongleur zurück. Und Als Junior kickte Paul Sahli für verschie­ falsch gedacht. Nach 30 Minuten war der an seine 64 Weltrekorde. dene Klubs im Seeland, beim FC Biel klopfte Kaffee kalt, und Sahli hatte den Schweizer er an die Tür zur ersten Mannschaft. Schnell Rekord geknackt, erst nach 58 Minuten be­ Über 14 Stunden den Ball hochgehalten sei er gewesen, technisch herausragend, aber rührte der Ball den Boden. Einige Wochen Einst hielt er gar den Rekord für Rekorde: einige Zentimeter zu klein. Für die Natio­ später an der Endrunde hörte er nach ein­ Niemand war öfter im «Guinnessbuch der nalliga reichte es Sahli nicht, im Amateur­ einhalb Stunden freiwillig auf, schliesslich Rekorde» vertreten als Paul Sahli. Keiner bereich hingegen hinterliess er seine Spuren, waren seine Konkurrenten da längst aus konnte so schnell, so weit, so hoch und so wurde unter anderem Torschützenkönig in dem Rennen. «Zudem haben mich die Leute lange jonglieren wie er. 1985 lief er jonglie­ der 2. Liga. Später, bei der Trainerausbil­ vom Schweizer Fernsehen gestresst, weil ich rend 25 Kilometer weit. Ein Jahr später legte dung, war dann sein wahres Talent nicht doch ins ‹Sportpanorama› musste», schmun­ er den Ball mit dem Fuss hochhaltend die mehr zu übersehen. «60 Meter sollten wir zelt Sahli. Auch andere Medien wurden auf 100 Meter in 18,55 Sekunden zurück. Kurz jonglieren, ohne dass der Ball herunterfällt. den Ballkünstler aufmerksam. Plötzlich war

31 Sahli ein gefragter Mann, wurde für Events gebucht. Mangels Zeit legte er sein Amt als Spielertrainer bald nieder, sein neues Leben hatte aber erst begonnen.

Weltrekord bei Seeler und Beckenbauer Der 71-Jährige nimmt wieder sein Handy hervor und scrollt durch die Fotos. Sahli mit Pelé, Sahli mit Maradona, Sahli mit Hitz­ feld oder Federer. Seine Frau sage immer, er solle ein Buch schreiben, meint Sahli und fügt ­lachend an: «Reden und schreiben kann ich ja.» Ausführlich und detailreich er­ zählt er einige Episoden von damals. Etwa von seinem ersten Weltrekord im Dauer­ jonglieren, aufgestellt im deutschen Esslin­ gen. Der lokale Fussballverein feierte sein 90-jähriges Bestehen, und die Uwe-Seeler- Traditionsmannschaft war zu Gast. Sahli hielt den Ball 13 Stunden und 13 Minuten in der Luft. «Ich hätte noch länger können, aber es war eine schöne Schnapszahl.» Auf den Schultern der Einheimischen sei er ins Festzelt getragen worden, aus 3000 Kehlen ertönte «Hoch soll er leben». «Das war etwas vom Schönsten, was ich je erlebt habe!» An­ schliessend durfte Sahli neben Weltmeister Franz Beckenbauer­ das Abendessen einneh­ men. Geredet habe der Kaiser mit ihm, als hätte er ihn schon 20 Jahre gekannt. «Du bist doch verrückt: Du kannst 13 Stunden jonglie­ ren, aber arbeitest noch? Hol dir einen Mana­ ger, du musst dich besser verkaufen!» Sahli aber wollte das nicht. Für ihn blieb das Jon­ glieren trotz des enormen Trainingsaufwan­ des bloss ein Hobby. Weiterhin schuftete er Vollzeit als Mechaniker. Reich sei er durch das Jonglieren nicht geworden, «aber reich an Erinnerungen». Sahli erweitert bald sein Repertoire und bricht Rekorde mit Tennisbällen (2 Stunden und 40 Sekunden), Medizinbällen (1 Stunde und 6 Minuten) und Billardkugeln (51 Minu­ ten und 55 Sekunden), aber auch gekochte

Von oben nach unten: 1986 verblüfft Sahli Maradona, indem er mit einem Rugbyball jongliert. Pelé bricht ein Interview ab, um Sahli zuzuschauen.

Ob im Stadion, bei «Wetten, dass ..?» oder an zVg ­Messen: Stets war die Leiter Sahlis Begleiter.

32 Sahli bricht Rekorde mit Tennisbällen, Medizinbällen, fragte sich Sahli immer wieder. Tagelang sei Waren­haus gastiert. Der Brasilianer ist ge­ Billardkugeln er in seinem Sessel gesessen und habe ein­ rade in einem Interview, als Sahli ankommt fach an die Decke gestarrt. «Ich konnte es und gleich zu jonglieren beginnt und bald und gekochten lange nicht akzeptieren, dass es mich er­ rückwärts eine Leiter hochsteigt. «Ich be­ wischt hatte. Doch es war mein Schicksal, merkte im Augenwinkel, wie er mich be­ Eiern. ich musste es tragen.» Die Zeit nach der OP obachtete. Dann lief er dem Reporter ein­ und den Bestrahlungen geht nicht spurlos fach davon, um mir zuzusehen. Pelé! Das an ihm vorbei. Er verkriecht sich zu Hause, muss man sich mal vorstellen! Er kenne kapselt sich ab. Der Krebs ist aggressiv, der mich, habe mich schon oft am Fernsehen Arzt stuft ihn auf dem Level 9 von 10 ein und ge­sehen, meinte er später.» An der WM 2006 gibt seinem Patienten wenig Chancen. Doch hat Sahli seinen letzten grossen Auftritt, als schliesslich erringt Sahli seinen wichtigsten er vor der Partie der Nati gegen Togo jong­ Eier oder winzige Kügelchen kommen zum Sieg: Heute ist er vollständig geheilt. lierend über einen drei Kilometer langen Einsatz. Nicht wilde Tricks oder Breakdance- Die Begeisterung kehrt in seine Stimme ­Teppich zum Westfalenstadion läuft. Und artige Einlagen wie bei den Freestylern sind zurück, als er wieder von seinen liebsten Er­ sich danach beim Abendessen bestens mit sein Markenzeichen, sondern die fast schon innerungen erzählt. Wie damals in Luzern, Karl-Heinz Riedle unterhält. Weltstars am kontemplative Kunst des Dauerjonglierens. als er spontan hinzugerufen wird, während Ball unter sich sozusagen. Der kleine grosse Damit tritt er bei Jubiläen, an Messen oder Pelé für eine Autogrammstunde in einem Paul Sahli.• Festivals auf, besonders gerne erzählt er aber von seinen Treffen mit den Allergrössten. Etwa das Kapitel «Maradona»: GC empfängt 1986 im Hardturm den späteren Weltmeister Argentinien, Sahli ist als Pausenattraktion gebucht. «Ich machte mich in meiner Kabine warm, als plötzlich Diego vor mir stand. Er wollte wissen, was ich hier mache, da habe ich es ihm erklärt.» Es sei nicht lange gegan­ gen, bis sich die ganze Albiceleste um ihn gruppiert habe. Gemeinsam mit Maradona habe er jongliert, ehe dieser gefragt habe, ob er das auch mit dem Rugbyball könne. «Si, si, posible», so Sahlis Antwort. Maradona, ­einer der begnadetsten Techniker des Plane­ ten, schafft 8 Berührungen, Sahli hört nach 50 auf. «Danach hat mich Maradona um­ armt und zu sich in die Kabine eingeladen.» Natürlich hat Sahli auch davon ein Beweis­ foto, auf dem die beiden Ballartisten glatt als ­Brüder durchgehen würden.

Auch den Krebs besiegt Wenn Paul Sahli von den Höhepunkten sei­ ner Karriere erzählt, sprüht er vor ­Energie und Lebensfreude. So war er nicht immer. Zwei Jahre nach dem Autounfall, der ihn zum Invaliden gemacht hatte, erhielt Sahli die Diagnose Prostatakrebs. «Es war ein Schock für mich. Ich hatte nie geraucht, nie gesoffen.» Die Fröhlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen, als er von den schlimms­ ten Jahren seines Lebens erzählt. Wieso ich?,

«Improvi­sieren ist die Essenz des Lebens»

Ob während seiner grandiosen Spieler­ laufbahn oder als junger Trainer: Alain Geiger galt als Eigenbrötler und stand sich häufig ­selber im Weg. Unterdessen hat sich der Walliser neu erfunden – und überrascht mit Servette alle.

Interview SILVAN KÄMPFEN Bilder BRINDUSA BURROWS www.bb.photography igentlich gebührt ihm ja Legenden­ würde man mich vielleicht gar nicht mehr Arzt oder Anwalt, gewiss nicht Sportler. Als status, Franz Beckenbauer oder bringen. Dann heisst es: Der Nächste, bitte! Sportler tendiert man zum Unschweizeri­ E Franco Baresi der Schweiz müsste Damals in Sion hatten wir Jungen zwei, schen. Irgendwann muss man ein Risiko er eigentlich heissen. 112 Länderspiele für drei Jahre die Möglichkeit, uns zu zeigen. eingehen. Damals hatten wir auch nicht die Schweiz hat Alain Geiger bestritten, nur Heute sind es zwei, drei Spiele. Dabei muss das Geld im Kopf. Es ging einfach um den hat mehr. Fünf Meister­ man ja gerade verlieren, um vorwärts­ Stolz, es einmal in die erste Mannschaft zu titel und drei Cupsiege mit vier Schweizer zukommen. In der Niederlage denkt man schaffen und in der Nati zu spielen. Vereinen holte der Abwehrspieler, und die nach, wie man wieder in Schwung kommt. bis heute populäre 94er-Nati führte er als Das macht das Leben aus, auch meines. Captain­ an. ­Ansonsten wäre es doch nicht interessant. Aber fragt man die Leute nach ihrem Liebling der WM 94, dann kommen Chappi, Wie talentiert waren Sie tatsächlich? «Ein Fussballer ist Knup, Sutter, vielleicht Hottiger und Herr Ich denke, schon ziemlich talentiert. Ich oder gar Sforza. Warm geworden ist die spielte für die Walliser und Westschweizer ein Künstler. Wenn Fussballschweiz nie mit Alain Geiger. Und er Auswahl und dann auch für die National­ du Künstler werden offenbar­ auch nicht mit ihr. Vielleicht, weil mannschaften. Meine grosse Stärke war sich der Verteidiger auch neben dem Platz die Antizipation. Genau genommen war willst, dann darfst und später als Trainer stets in eine Abwehr­ es eigent­lich nur das. Ich war kein Kopf­ du nicht so sein wie haltung begab. ballspieler und auch nicht besonders zwei­ Nach Jahren ausserhalb Europas und kampfstark. Aber ich bin immer richtig alle Schweizer.» des Rampenlichts wurde Geiger 2018 zur gestanden und habe dann schön hinten Überraschung aller wieder Trainer eines rausgespielt. grossen Schweizer Klubs. Bald 60-jährig, hat der Walliser viel nachgedacht über sein bis­ Woher hatten Sie das? heriges Fussballer- und Trainerleben. In den Das ist eine Gabe. Manche können halt Nati-Spieler wurden Sie früh. Was bedeu- Katakomben des Stade de Genève nimmt er ­einfach das Spiel lesen. Schon bevor sie den tet Ihnen das Wembley? sich reichlich Zeit für ZWÖLF und erzählt, Ball bekommen, sehen sie drei Anspiel­ Sehr viel. Im Wembley machte ich 1980 was er über sich selber gelernt hat. stationen. Manche sehen sie nur auf mein erstes und an der EM 1996 mein letz­ ­10 ­Meter, manche eben auf 50. Ich habe tes Länderspiel. Ich erinnere mich noch Alain Geiger, was sagen Ihnen diese mal an einem dieser Sepp-Blatter-Turniere ­genau an mein Debüt. Ich war gerade 20 ge­ ­Resultate? 1:2, 1:4, 0:8, 0:3, 0:2 … ­gegen Platini gespielt. Das war schon be­ worden und sehr aufgeregt, weil ich diese (schaut fragend) eindruckend. Es war, als hätte der Augen Bilder im Kopf hatte von Kuhn, ­Odermatt, am Hinterkopf. Blättler, die in diesem Stadion aufgelaufen Es ginge noch so weiter. Die Ergebnisse waren. Es war fantastisch. Beinahe hätte bei Ihren ersten Einsätzen als Profi 1978 Sie wuchsen im Wallis der 70er-Jahre auf ich ein Tor geschossen. Kurz vor Schluss mit Sion. 13 Spiele ohne Sieg. und setzten voll auf die Karte Fussball. preschte ich nach vorne und zog ab, aus Stimmt! Ich kann mich noch an das 0:8 er­ Wie kam das an? seitlicher ­Position. Ich sehe noch Peter innern, das war in Neuchâtel. Das war das Die Leute dachten, ich sei verrückt. Aber ­Shilton vor mir, der Ball ging knapp am Tor Ergebnis davon, dass drei Spieler in unse­ ich hatte meinen Eltern gesagt, ich wolle vorbei. Wir bekamen damals eine kleine rer Mannschaft überhaupt nicht miteinan­ das machen, und sie sagten: «Okay, wir ste­ ­Tasche mit der Aufschrift «Wembley», einen der auskamen. Da lief der eine dahin, der hen hinter dir.» Wisst ihr, ein Fussballer ist kleinen Keramik­bären mit dem ­Schweizer andere dorthin, und der Dritte hatte noch­ für mich ein Künstler, ein Tänzer auf dem Kreuz, Nummer und Namen drauf, den mals anderes im Sinn. Ich war 17, folgte Feld. Einer, der herumwirbelt, der Kombi­ habe ich immer noch. brav den Anweisungen des Trainers und nationen kreiert, der den Zuschauern Spass fragte mich: Was zum Geier mache ich hier? bereitet. Und wenn du Künstler werden Wie haben Sie den Röstigraben wahr­ willst, dann darfst du nicht so sein wie alle genommen in der Nati der 80er-Jahre? Hatte man Sie da nicht verheizt? Schweizer. Man spürte ihn nicht so, er wurde eher von Damals durfte man eben noch ver­lieren. aussen hereingetragen. Von den Medien, Wir wurden nicht so streng beurteilt wie Was meinen Sie damit? von den Leuten im Verband. Die sorgten die Jungen heute. Wenn ich als Junger Wenn Sie einen Schweizer fragen, was sein für Polemik. Wir Spieler hatten immer eine heute bei einem 0:8 auf dem Platz stehe, Sohn werden solle, dann wird der sagen: gute Kameradschaft. Damals bot man halt

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nicht die besten Spieler auf, sondern einen einem so hohen Niveau gespielt hatten. ­Constantin sagte zu seiner Zeit als ZWÖLF- Block, zum Beispiel einen GC-Block für die Und wir haben angegriffen, angegriffen, Kolumnist einmal, Geiger sei unter ihm nie Verteidigung. Da war es logisch, dass die angegriffen!­ (haut auf den Tisch) Sion-Trainer geworden, weil dieser als Spie­ Romands eher am einen Tisch sassen und ler einst keine Lohnkürzung habe akzeptie­ die Deutschschweizer am anderen. Noch etwas zu Artur Jorge? ren wollen. (seufzt) Ach, Artur Jorge … (schüttelt den Und was war eigentlich Ihr Problem mit Kopf ) Es heisst, Sie seien ein ganz hart­ Nati-Trainer ? näckiger Verhandler gewesen – etwa als Er liess mich als rechten Aussenvertei­diger Müsste man sich einen Menschen ausmalen,­ Nati-Captain. spielen, das wollte ich nicht. Aber die Ge­ der dem Stereotyp des Unterwallisers am Den Arsch habe ich mir aufgerissen! Der schichte mit ihm geht weiter zurück, als ehesten entspricht, Alain Geiger käme ihm Verband hatte über 6 Millionen kassiert für er noch Spieler war. Ich war damals bei sehr nahe. Weltoffen im Geist, energisch die WM-Qualifikation und wollte nichts ab­ Servette, als mich Xamax anrief. Stielikes bis knorrig im Umgang. Nicht wenige im geben. Also stieg ich an einem Samstag im Knie sei kaputt, ich solle ihn ersetzen. Also Schweizer Fussball sind sich mit dem ei­ Januar in mein Auto und fuhr nach Bern. ­wechselte ich nach Neuenburg, und Xamax genwilligen Libero irgendwann in die Haare Aber der Präsident war nicht da, sie schick­ wurde erneut Meister. Das hat er nie richtig geraten. Diese habe er sich übrigens je­ ten seinen Vize, dem der Fussball völlig verkraftet. Ich weiss noch, wie ich ihm dann weils selber geschnitten, heisst es. Christian egal war. Das war deprimierend. gegen Lausanne mal einen super ­Assist gab. Aber ich warte heute noch darauf, dass er sich dafür bedankt (lacht). Als Nati-­ Trainer hat er mich dann später einmal zusammengestaucht, weil ich nicht ver­ sucht hatte, Gheorghe Hagi auszudribbeln. Das müsse ich mit meinem Talent doch können! Wir hatten wegen zweier, dreier Dinge Krach. Er bot mich zwei Jahre nicht mehr auf, ­ansonsten wäre ich heute wohl Rekordinternationaler.­ Vielleicht waren aber meine Leistungen tatsächlich nicht mehr gut ­genug. Wobei ich mich schon ­etwas fragte: Statt mir spielte dann Marcel Heldmann­ von Wettingen …

Dann kam ja . Er hat mich tief berührt. Er hat mich im Wallis besucht, wir gingen essen, und er machte mich zum Abwehrchef. Obwohl er mich kaum kannte und ich zwei Jahre ohne Länderspiele war. Da konnte ich natürlich nichts gegen ihn haben. Ich war jedenfalls netter zu ihm als zu Stielike (lacht).

An der WM 94 durften Sie dann noch ein- mal gegen Hagi spielen. Andy Egli trommelte uns letztes Jahr alle zusammen, und wir schauten diesen Match gegen Rumänien noch einmal. Was haben wir da für ein Spiel gemacht! Wir haben vier Tore geschossen, wir haben Pressing gemacht, wir kamen über die Seiten. Selbst wir waren uns nicht bewusst, dass wir auf ALAIN GEIGER

Und haben Sie etwas bekommen? Gesundheit. Aber wir bekommen hier munterten uns unsere Frauen wieder auf. Ja, 50 000 Franken pro Spieler. Dann fuhr keine neuen Einrichtungen für die Jungen Wir spielten also bei einem Klub, der uns ich wieder zurück und kam deswegen (Anm.: In Genf wurde kürzlich ein Campus- sozusagen in die Ferien einlud. Und die zu spät zu einem Freundschaftsspiel mit Projekt an der Urne verworfen). Ja, ja, der medizinische Abteilung von GC war auf dem FC Sion und stritt mich mit ­Trainer Schweizer Fussball … (seufzt) ­einem anderen Level. Wahrscheinlich ­. Er sagte: «Ihr geht mir ­besser als bei Barça oder Real Madrid. auf den Sack mit eurer Nationalmann­ Sie waren einmal im Ausland, in Saint- schaft!» Man streitet – wegen nichts und Étienne. Warum blieben Sie – wie Favre, Nach seiner Aktivkarriere 1997 übernahm wieder nichts. In der Schweiz ist es sehr Egli oder Ponte auch – nur kurz und Alain Geiger direkt die U21 von GC. Nur schwierig, etwas an bestehenden Struktu­ ­kamen nach zwei Jahren wieder zurück? ein Jahr danach holte ihn Xamax als Chef­ ren zu ändern. Alles ist genau festgelegt. Es war damals nicht einfach, weil es nur trainer. Der Übergang vom Spieler zum Bei uns zählt nur der Breitensport als ­etwas drei Plätze für Ausländer gab im Team. Ich Trainer verlief damals fast fliessend. Aber Gutes, etwas Wertvolles. Wenn Sie hier auf weiss noch, wie wir den Cup-Halbfinal ver­ ­Geiger war kein erfolgreicher Trainer. Bei ein Amt gehen und als Beruf Fussballer loren gegen Montpellier. Cantona schoss allen Stationen in der Schweiz, selbst bei oder Fussballtrainer angeben, dann hören das Tor, Valderrama zauberte bei denen im den Grass­hoppers, holte er kaum mehr als Sie, so was gebe es nicht, das seien keine Mittelfeld, und Laurent Blanc sicherte ab. einen Punkt pro Spiel. Mit GC verlor er 2004 ­Berufe. Wir können hier Profisport betrei­ Nach dem Spiel bewarf uns der Präsident zudem den Cupfinal ­gegen Wil. Zudem litt ben, aber nicht weil die Strukturen dafür in der Garderobe mit Trinkflaschen. Es war Geigers Glaubwürdigkeit vieler­orts darun­ bestehen, sondern wegen der Mäzene, die Zeit zu gehen. ter, dass sein Bruder Nicolas,­ damals Spieler­ finanziell dafür aufkommen. Wir Künstler agent, gleichzeitig mit den von ihm trainier­ stehen immer im Konflikt. Wir hätten gerne ten Klubs geschäftete – obwohl Alain Geiger einen gewissen Status, um unseren Sport daran nie beteiligt war, wie er heute betont. selber weiterzubringen. Aber letztlich hän­ gen wir immer von einem Mäzen ab, das ist Was lief schief in Ihrer Trainerkarriere? schwer. «In der Schweiz geht In der Schweiz geht es schnell. Dann hast du den Stempel des Loser-Trainers und Aber Sie nagten wohl kaum am es schnell. Dann kriegst keinen Job mehr. Paff! Fini! Aber Hungertuch? hast du den Stempel man muss sehen: Ich hatte bei Xamax kein Ich habe für meinen Status gekämpft. Ich Geld, bei Aarau auch nicht. Abgestiegen war Nationalspieler, hatte Opfer gebracht. des Loser-Trainers bin ich trotzdem nie. Ich habe viele junge Ich stand für die Unabhängigkeit und An­ und kriegst keinen ­Spieler weitergebracht, auch ausländische. erkennung des Sports im Allgemeinen ein Aber für solche Überlegungen interessiert in der Schweiz. Natürlich sind wir Privi­ Job mehr. Paff! Fini!» sich niemand. legierte, das weiss ich. Dennoch fehlt teil­ weise die Wertschätzung. Es können heute Dennoch: Sie können Ihren Miss­ fünf Jahre vergehen, ohne dass der SFV erfolg nicht nur auf äussere Umstände mal einen Brief oder ein Ticket für einen schieben. Match schicken würde. Mitarbeiter von Natürlich nicht. Ich war schlicht nicht vor­ irgend­welchen Grosskonzernen sind ein­ Sie holten in Ihrer Aktivkarriere acht bereitet auf das Trainersein. Als Spieler geladen, aber jene, die was für den Schwei­ ­Titel. Welcher war der wichtigste? liess ich mich zwar auch etwas treiben in zer Fussball gemacht haben, nicht. Gleich Das war schon die Meisterschaft von 1992 meiner Karriere, aber ich hatte eine ­Vision, war es in Sion, als ich aus Afrika zurück­ mit Sion. Ich bin in dieser kleinen Stadt was ich wollte: Sion, andere Schweizer Ver­ kam. Ich stand vor dem Stadion, alle kann­ aufgewachsen und fühlte mich zurück­ eine, Nati, Ausland. Als Trainer hatte ich ten mich, aber keiner sagte irgendwas. versetzt in meine Kindheit, als wir auf der das nicht. Ich weiss nicht, warum. Aber ­Keiner kam und sagte: «Hey Alain, ich offe­ Stras­se gespielt hatten. Das Quartier vom das war der Fehler. Eigentlich müsste man riere dir ein Glas Weisswein.» Ich habe stän­ Bahnhof gegen das von der ­Brasserie und sich nach der Karriere vier, fünf Jahre lang dig gekämpft, das war meine Persönlich­ so weiter. Und dann vertrittst du diese weiterbilden, Praktika machen, Sprachen keit damals. Menschen gegen den Rest der Schweiz und ­lernen – für einen allfälligen Trainerjob in holst für sie den ersten Meistertitel. Deutschland zum Beispiel. Das habe ich Der Stellenwert des Fussballs hat sich ­alles nicht gemacht. Ich habe alles on the doch verbessert. Da war das grosse GC drei Jahre später job gelernt. Und es fehlte mir das Netzwerk. Ein bisschen. Klar, die Nati ist stets an den wohl ein enormer Unterschied? grossen Turnieren. Aber ich sage noch im­ Es war ein Klub, wie er überall sein sollte. Sie sind einer der erfolgreichsten mer: Ob Spieler oder Trainer – macht euch Eine einzige Familie. Erich Vogel küm­ Schweizer Fussballer und haben kein bekannt, und dann ab ins Ausland. Denn merte sich um jedes Detail. Manchmal Netzwerk? in der Schweiz geht es nicht vorwärts. Das durften wir Frauen und Kinder mit ins Ich habe meine ganze Karriere ohne Netz­ Problem ist unsere Kultur, und die ist noch Trainingslager mitnehmen. Das war gross­ werk bestritten – ohne Berater, auch ohne immer die gleiche wie vor 40 Jahren. Es artig. Wenn wir dann nämlich mal ein meinen Bruder. Ich habe keine Beziehun­ heisst, man müsse Sport machen für die Spiel verloren und schlechte Laune hatten, gen gepflegt. Stellt euch vor, ich hätte das

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Alain Geiger * 5. November 1960 in Sion

Als Spieler Spiele Tore 1977–1981 FC Sion 93 8 1981–1987 Servette FC 195 24 1987–1988 Neuchâtel Xamax 40 3 getan. Ich hätte ein international aner­ habe ich zuvor nicht verstanden. Ich war 1988–1990 AS Saint-Étienne 76 2 kannter Trainer werden können, vielleicht ein sehr verschlossener Trainer, ich sah 1990–1995 FC Sion 191 4 auch mal Nati-Trainer. Von einem wie Roy nur den Fussball und war vor allem darauf 1995–1997 Grasshoppers 41 1 ­Hodgson habe ich nicht mal die Telefon­ ­bedacht, nicht gestört zu werden. Jetzt ver­ nummer. Das wärs mal gewesen, ein Prakti­ suche ich alle zu begeistern. Länderspiele kum bei ihm in England. 1980–1996 Schweiz 112 5 Warum mussten Sie nach Afrika, um das Sie können Crystal Palace anrufen, die zu merken? Als Trainer verbinden Sie sicher. Sie sagten mir dort immer: Ihr Schweizer 1997–1998 Grasshoppers U21 Genau. Wenn mich Servette mal rauswirft, habt die Uhren, wir haben die Zeit. Und es 1998–2002 Neuchâtel Xamax rufe ich vielleicht an. Er ist 72, ich bald 60. stimmt. Der 14-Uhr-Tee mit dem Präsiden­ 2002–2003 FC Aarau Dann frage ich: «Opa, kann ich ein Prakti­ ten dauerte fünf Stunden. Jeden Tag. Wir 2003–2004 Grasshoppers kum machen?» sprachen über die Mannschaft, über dies 2005 Neuchâtel Xamax und das. Und man lernt – gerade weil es 2005–2006 FC Aarau Sébastien Wüthrich war vor zehn Jahren ­einen Mangel gibt an so vielem. Keine Bälle, 2006 Lausanne-Sport Ihr Spieler und jetzt auch wieder. Wie keine freien Trainingsplätze und so weiter. 2006–2007 Olympique de Safi (Marokko) würde er die beiden Trainer vergleichen? Dann beginnen Sie zu improvisieren. Und 2009 Neuchâtel Xamax Der grosse Unterschied zu meinen Anfän­ letztlich ist das Improvisieren die Essenz 2010 JS Kabylie (Algerien) gen ist das Zwischenmenschliche mit den des Lebens. 2010–2011 Al-Masry (Ägypten) Spielern und den Klubverantwort­lichen. 2011–2012 ES Sétif (Algerien) Wenn die Aktivkarriere noch nicht lange 2012 Al-Ettifaq (Saudi-Arabien) zurückliegt, ist man manchmal noch zu 2013 MC Alger (Algerien) sehr Spielertrainer. Es heisst immer, man 2015 MO Béjaïa (Algerien) sei ab 50 ein reiferer, besserer Trainer. Ich 2015–2016 ES Sétif werde auch in der Gesellschaft besser «In Afrika habe 2018– Servette FC akzep­tiert als mit 40. ich gemerkt, dass Inwiefern? das Trainersein Ich war ja ständig im Konflikt in meinem Land. Heute ist das anders, jetzt wählen sie zu 90 Prozent aus mich zum besten Walliser Fussballer und dem Umgang mit solche Sachen. Ich hatte immer das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Auch gegen­ Menschen­ besteht.» über den Medien. Aber dank dem Erlebten ­Kinder und Enkelkinder hat, dann begreift in Afrika wurde ich zu einem neuen Men­ man das mit den Jahren und dem Erlebten. schen und einem neuen Trainer. Es ist ein Und deshalb kann auch ein Training heute bisschen wie damals, als ich noch Spieler nicht mehr wie im Militär sein. war, mit Hodgson und Stielike. Wie meinen Sie das? Gab es auch heikle Momente in Afrika? Was suchten Sie in Afrika? Als Kind ist man ja ständig am Improvisie­ Ich trainierte in Port Said, als der Arabische In erster Linie Arbeit. Weil es hier nichts ren, beim Spielen etwa. Doch irgendwann Frühling ausbrach, sechs Monate vor den mehr gab für mich. Ich hatte einen Stem­ heisst es: Du musst dies und das und jenes – verheerenden Stadionausschreitungen mit pel, und wenn ich in der Schweiz ge­blieben bis zum Tod. Das muss nicht sein! Man 72 Toten (siehe Artikel S. 54). Ich machte wäre, hätte ich den noch heute. Ge­funden muss auch etwas wagen, offen sein für Ver­ zwei Spiele, dann fuhren wir zu ­einem Aus­ habe ich in Afrika dann das Abenteuer. änderungen. Die Jungen wollen heute zum wärtsspiel nach Kairo gegen ­Al-Ahly, muss­ Und ich habe dort gemerkt, dass das Trai­ Beispiel anders leben als wir damals. Sie ten aber wieder umkehren, weil unser nersein zu 90 Prozent aus dem Umgang wollen ihre Arbeitszeit flexibler gestalten, ­Hotel angegriffen worden war. In Port Said mit Menschen besteht. Ein Trainer muss um Raum zu haben für anderes. Sie ­haben fuhren dann eines Tages die Panzer auf, ein Verführer sein. Du musst ständig im recht! Wir Älteren konnten das früher die Leute zündeten Polizeiposten an, hol­ ­Kontakt sein mit den Leuten – mit den nicht, aber wir sollten Toleranz aufbringen ten sich Waffen. Ich wollte nur noch weg. Spielern, Zuschauern, dem Vorstand. Das ­dafür. Wenn man gereist ist und wenn man Ich rief die Schweizer Botschaft an und

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erklärte ihnen meine Situation. «Ich bin in Offen gestanden hatten auch wir gewisse kennt, muss man das Spiel selber ­machen Port Said, hier ist die Hölle los.» Fazit: Wenn Zweifel, dass Sie zu Zeiten des Laptop- wollen. Es geht nicht anders. Es war ­immer ihr irgend­wann mal ein Problem habt im Trainers der richtige Mann sind für so ei- schöner Fussball zu sehen hier, darauf Ausland, ruft auf keinen Fall die Botschaft nen Posten. muss man beharren. an. Denn ihr könnt euch ­sicher sein, dass Es braucht einen Mix. Ich glaube, die Er­ der Typ bei 25 Grad in ­seinem Büro hockt fahrung wird in der Schweiz zu wenig wert­ Zu Ihrer Zeit als Spieler war Servette und es ihm so ziemlich egal ist, was gerade geschätzt. Überall in unserem Arbeits­ der Glamourklub mit Starallüren, Erz- abgeht­ (lacht). markt gibt es dieses Mantra: jung, jung, rivale Sion bot ihm mit Identität und jung. Und der 55-Jährige fliegt raus. Dabei Kampfgeist die Stirn. Ist es heute genau Zu sagen, Alain Geiger sei heute völlig mit ist das Gleichgewicht wichtig. Wir haben umgekehrt? sich im Reinen, wäre übertrieben. Noch sie ja auch bei uns im Team, jene mit den Die ursprünglichen Werte haben sich ­immer findet er zum Teil harsche Worte für Laptops. Ich muss nun ihre Arbeitsweise nicht verändert. Sion ist die Kleinstadt manche Vertreter der Schweizer Fussball­ akzep­tieren und meine Erfahrung einbrin­ mit all ­ihren Einschränkungen, Genf die familie. Dennoch scheint es so, als sei der gen. Wenn der Chef auch ein Junger wäre, internatio­nale, anonyme Stadt mit ­ihren Walliser gelassener geworden gegenüber würde hier etwas fehlen. Das grösste Prob­ Herausforderungen. Bei Servette ist es seinem Umfeld und sich selbst. Das mag tat­ lem für Trainer heutzutage ist ja, dass es in sehr wichtig, die Geschichte des Klubs zu sächlich mit seinen vielen Jahren ausserhalb den Kadern zu viele Wechsel gibt. Die Auto­ ­pflegen. Deswegen ist dieser Klub so gross – des bekannten Kosmos zu tun haben. Und wegen seines Spielstils, wegen der Klub­ auch mit der Tatsache, dass er seine letzte farbe, ­wegen der internationalen Offenheit. Chance – Servette – nicht nur bekommen, Manchmal treffe ich noch Spieler von frü­ sondern auch genutzt hat. Mit den Grenats her, Walti Heuri zum Beispiel, Meister von ist er nicht nur aufgestiegen, sondern zur 1960 und 1961. Und dann frage ich ihn: «Er­ Saisonhälfte auch ziemlich weit weg von zähl mir von deinem Trainer, . Abstiegssorgen. «Als ich zu ­Servette Was hat er getan? Was hat er gesagt?» Das kam, merkte ich ist das Tolle hier: Jacques Barlie, Joko ­Pfister Stimmt das, dass Sie den Job bei ­Servette und wie sie heissen, die Leute aus den bekommen haben, indem Sie selber sofort: Hier ­brodelt 60ern, 70ern, sind noch hier, man sieht sie anriefen? ein Vulkan. In noch. Und sie haben Freude an diesen Jun­ Ja, das ist so. Und zwar habe ich mich ­direkt gen, die hier spielen. Ein Fussballklub ist an oberster Stelle gemeldet, bei ­Präsi­dent Sion ist der Vulkan ein wunderbares Kommunikationsinstru­ Fischer. Das habe ich gelernt: Wenn es Constantin­ allein.» ment. Er kann so viel weitergeben. Als ich irgend­wie geht, egal bei welcher Firma, hierherkam, merkte ich sofort: Hier brodelt ­immer oben rein, direkt zum Chef. Beim ein kleiner Vulkan. In Sion ist der Vulkan Sekretariat kommen Sie nicht weiter. Constantin allein.

Zuvor waren Sie jahrelang von der Bild- Ist das Ihre letzte Stelle als Trainer? fläche verschwunden. Wie haben Sie die Ich denke nicht. Aber das mit dem Verantwortlichen überzeugt? matismen bekommt der Computer nicht ­Praktikum bei Roy wird wohl schwierig. Ich versuchte ihnen klarzumachen, dass hin, das schafft nur die Zeit, und ­davon (lacht)• ich das Grenat-Fieber in mir trage. Ich haben wir – hier in der Schweiz – immer war fünf Jahre hier als Spieler. In Sion, wo weniger. ich anfing, verdiente ich fast nichts. Ser­ vette hatte mir dann die Chance ge­geben, Ihren offensiven Fussball haben Sie auch ­einen Teil meines Traums zu verwirk­ nach dem Aufstieg beibehalten. ­Hätten lichen, ­richtig Profi zu sein. Ich stand also Sie auch gedacht, Sie würden in der immer in der Schuld dieses Klubs hier. Ich ­Super League häufiger ins offene Messer habe ­ihnen dann aufgezeigt, wie ich die laufen? Situa­tion der Mannschaft sah und wie ich Aber das tun wir doch ständig! Ich weiss sie weiterentwickeln wollte. Und ich habe jetzt: Ein Trainer muss immer darauf ­hören, ­Ihnen gesagt: Ich brauche jemanden, der was das Publikum will. Ich habe Servette mir eine Chance gibt. am Anfang gesagt: Wenn man diesen Klub

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SCHWARZES BRETT

ENTDECKUNG DIE EINER ENGLISCHE SENSATION SICHT

Von der Weltmeis­ Sachen gibts: ein terschaft 1942 dürf­ Fanmagazin aus ten auch die meis­ Norwich, das eine ten ZWÖLF-Leser ganze Ausgabe der noch nichts gehört haben. Sie wurde in der Schweiz widmet. Als «the true home of argentinischen Provinz Patagonien von ­football» wird unser Land darin bezeichnet. einem geflohenen deutschen Grafen orga­ Die Macher schauen sich in der edel gestalte­ nisiert. Zwölf Nationen nahmen teil. Von ten Ausgabe beim FCB und bei YB um, reisen den offiziellen Verbänden wurde das Tur­ mit zum FCZ («We don’t really nier nie anerkannt, und vieles – selbst die like these guys») und er­klären ihren Lesern, Ergebnisse – blieben jahrzehntelang ver­ warum die Klubs hier komische Namen wie borgen. Ein argentinischer Journalist ging Young Boys oder Xamax­ tragen. Daneben der Legende nun auf den Grund. Er stieg in finden auch die FIFA, Herzog & de Meuron, die Archive, sprach mit noch lebenden die Bergdorf-EM sowie Uhren, IPA-Bier und Protagonisten und fand Videoaufnahmen, Lifestyle-Hotels ihren Platz. (syk) welche die fantastischsten Ereignisse zu­ tage bringen: Chilenische Zirkusartisten GLORY MAGAZINE, ISSUE 5: . vollführten die kühnsten Dribblings, bei ­ZU ­BEZIEHEN ÜBER WWW.GLORYMAG.CO.UK Deutschland – Italien konnte der Schieds­ richter die aufgebrachten Spieler nur mit einem Pistolenschuss zur Vernunft brin­ gen, die Tochter des Grafen führte eine Dreiecksbeziehung mit dem Kameramann FÄLSCHUNGEN und dem Torhüter der Mapuche-Indianer. IN Wie entsteht ein Mythos? Was ist über­ EDEL haupt der Unterschied zwischen Realität und Fiktion? Besteht der Fussball nicht Jedes Jahr das ak­ ohnehin einfach nur aus Träumen? Von tuelle Trikot seines diesen, zu Zeiten des VAR hochaktuellen Klubs kaufen ist Fragen handelt diese unglaublich echte und total uncool. Diese vor allem grossartig erzählte Geschichte. In billigen Retrodinger will sich aber auch der denkwürdigen Verfilmung lassen es niemand antun. In diese Bresche springt sich selbst Gary Lineker, Roberto Baggio, nun Football Town. Deren schmucke Jorge Valdano und João Havelange nicht ­Trikots mit gestickten Wappen versprühen nehmen, die neuen fussballhistorischen Eleganz und vermitteln den Eindruck, man Erkenntnisse einordnend zu kommentie­ sei schon bei vergangenen Triumphen ren. Die italienisch-argentinische Co-Pro­ dabei gewesen. Aus der Schweiz führt der duktion wurde zuletzt an den St. Galler Hersteller FCB, YB, GC, FCZ – und aus Fussball-Lichtspielen gezeigt, die Produ­ unerfindlichen Gründen auch Aarau. Die zenten haben sie gratis auf die Plattform Lizenz hat Football Town nicht, weshalb bei Vimeo gestellt. Es stimmt. (skä) den Logos etwas geschummelt werden musste. (syk) IL MUNDIAL DIMENTICATO, 2012. 99 MINUTEN, SPANISCH MIT ENGLISCHEN UNTERTITELN. ­ FOOTBALL TOWN. RETRO-TRIKOTS AUS BAUMWOLLE. HTTPS://­VIMEO.COM/63181553 WWW.FOOTBALLTOWN.COM BERN-BETHLEHEM, Caspar: Jedenfalls mehr als zwei Wochen. HOTEL PORTE D’OCTODURE, ANFANG JANUAR Balthasar: Und die Jungfrau Maria ist MARTIGNY auch nicht zu sehen. Barthélémy und sitzen Caspar: Hier ist es! YB-Marketingchef: Ah, die Jung­ beim Kaffee in der Lounge. Balthasar: Bist du sicher, dass wir ­richtig frau sucht ihr! Dann seid ihr hier sind? Hab mir das irgendwie anders ganz falsch. (zeigt aus dem Fens- Caspar: Guten Tag! Wir kommen aus dem vorgestellt. ter in Richtung Südosten) Alles da Morgenland und suchen den Messias. Melchior: Wir fragen besser mal lang. ­Unterwegs werdet ihr auch eure CC: Nicht umsonst heisse ich Christian. Wie ­jemanden nach dem Weg. (schaut verächtlich auf die Mitbringsel) seid ihr denn hierhergekommen? «Geschenke»­ los. Melchior (schaut fragend die anderen an): Die Könige erspähen einen Mann mit ­Gitarre Ähm, zu Fuss natürlich. an einer Bushaltestelle. Barthélémy: Wow! So laufstark. Papa, STOCKHORN-ARENA, THUN Melchior: Guten Tag! Wir sind die darf ich einen von ihnen verpflichten? ­Heiligen Drei Könige. Bitte, bitte! Wir nennen ihn dann den Die Drei Könige wollen gerade die Geschäfts- Mann: Und ich noch etwas müde. Kuno. Judäa-Messi. stelle des FC Thun betreten, doch sie werden Was gibts? CC (überlegt): Du darfst, Sohn. Aber nur unsanft zurückgehalten. Balthasar: Wir suchen ein Neugeborenes. wenn ich dafür den da (zeigt auf Kuno: Es git no mängi, wos würd näh. Was Pacific Media Group: Moment! Was soll ­Balthasar) als Trainer einstellen darf. für ein Neugeborenes denn? denn das werden? Balthasar: Bitte? Ich bin ein König! Caspar: Den Heilsbringer, ein Kleinkind. Caspar: Wir haben Geschenke. Gold. CC: Widerspruch wird nicht geduldet! Du A young boy eben. Melchior: Weihrauch. bist entlassen! Kuno: Ach so! Ja, das ist nicht weit. Immer Balthasar: Und Myrrhe! Die Drei Könige befürchten Schlimmes und den verglühten Champions-League- Pacific Media Group: Ha! Zu spät, meine flüchten so weit wie nur möglich aus diesem Sternen nach. Herren! Hier gibts bereits Wohl­täter skurrilen Königreich. Sie pausieren erst, als aus dem Osten, und das sind wir. ihre Füsse sie nicht mehr tragen wollen. ­Hinfort mit euch! WANKDORF, BERN Markus Lüthi kommt hinzu. ST. GALLEN, Die Könige betreten ­erwartungsfroh die Lüthi: Was seid denn ihr für Vögel? Geschäftsstelle. Caspar: Die Drei Könige. Balthasar: Auf den Spuren des heiligen YB-Marketingchef: Zu wem wollt ihr? Lüthi: Könige? Wir haben schon genug Gallus! Hier ist mir schon deutlich Drei Könige (gleichzeitig): Zum Messias! ­Ärger mit unserem Schweizer Sonnen­ wohler. Melchior: … und wir haben Geschenke könig! (tritt kopfschüttelnd ab) Ein Trio erscheint, es trägt religiöse Züge. dabei! Balthasar: Ich bin einigermassen verwirrt. YB-Marketingchef: Wir haben aber schon Wir sollten wohl mal bei diesem König Melchior (zeigt auf den Mittleren der drei): alles. Und überhaupt: Man wird nicht vorstellig werden. So habe ich mir Jesus vorgestellt! einfach so zu Messias vorgelass …

Die Tür geht auf, und tritt herein.

YB-Marketingchef (schmachtend): Aaaaah. Da ist er ja! Unser Messias! Die Könige schauen sich skeptisch an. Königs­ Melchior (flüsternd zu den andern): Wie alt ist der? transfer Die Heiligen Drei Könige haben sich verlaufen. Mit 2020 Jahren Verspätung sind sie immer noch auf der Suche nach dem Messi(as), dem sie mit Gold, Weihrauch und Myrrhe die Ehre erweisen möchten. Ob sie hier richtig sind?

44 Caspar: Seid gegrüsst Brüder, wir suchen Aus dem Restaurant Heugümper stürmt ein LUZERN, unseren jungen Heilsbringer. Mann und rennt den Königen hinterher: Der Älteste des Trios (lachend): Davon Caspar: All die Touristen in dieser Stadt Fredy Bickel: So wartet doch! Hab ich das haben wir etwa zwanzig, nicht wahr, können nicht falschliegen. Hier muss richtig gehört? Sie ist hier? Peter? es sein! Der Dritte: Pressen sollen sie! Die Könige sehen sich fragend an. Kassenfrau: Zu wem wollt ihr? Balthasar: Pressant haben wir es auch. Melchior: Wir haben Geschenke dabei für Balthasar: Wer? Kommen wir ins Geschäft? Gottes Sohn – und möchten wegen der Fredy Bickel: Na Myhre! Ihr habt es doch Der Mittlere: Günstig ist keiner. Was habt Verteilung mit der verantwortlichen gesagt! ihr denn anzubieten? Person sprechen. Melchior: Ja natürlich, wir haben sie Balthasar: Gold. dabei. Die Kassenfrau pfeift einen anscheinend Das Trio hüpft freudig umher. Fredy Bickel: Dass ich das noch erleben ­geheimen Code. darf! Wo tritt sie denn auf? Melchior: Weihrauch. Marco Sieber: Hier bin ich! Caspar: Wovon reden Sie, guter Mann? Caspar: Und M … Samih Sawiris: Ich auch! Fredy Bickel: Von Myhre. Wencke Myhre. Hans Schmid: Und ich erst! Die Tür fliegt auf, ein Steward stürmt herein. Ihr wisst schon! (singend) «Er steht im Balthasar: Wir haben Gold, Weihrauch Tor, im Tor, im Tor, und ich dahinter.» STEWARD: Rauch? Da sind Pyros sicher und Myrrhe. Für jeden etwas. auch nicht weit. Die Könige nutzen die Gelegenheit und Bernhard Alpstaeg: Ehr Torebuebe, ­entwischen, derweil stimmt Bickel gerade mech gets emfall au no. Er führt die Könige ­umgehend dem Schnell- «Er hat ein knallrotes Gummiboot» an. Philipp Studhalter: Sind das Russen? richter vor. Sie werden in die Hooligan- David Zibung: Ich bin der Chef, fragt die Daten­bank ­aufgenommen, mit einem vier- Lokalzeitung! jährigen Rayonverbot belegt und ausserhalb BASEL, BARFÜSSERPLATZ Remo Meyer: Eine Trainerentlassung? der Kantonsgrenzen geschafft. ­Absolut, kein Problem. Balthasar: Vielleicht hilft uns der heilige Jakob weiter. Ganze Scharen versammeln sich um die drei ZÜRICH, PARADEPLATZ Könige, die sich befugt fühlen, die Geschenke Ein Mann, der sich Präsident nennt, tritt zu verteilen. Es gibt ein grosses Gerangel. Balthasar: Vielleicht sind wir ja hier heran. Fans versammeln sich und skandieren den erwünscht. Präsident: Was pitcht ihr? Namen von Mike Hauser. Eine grosse Tür fliegt auf. Hinaus stürmt ein Balthasar: Guten Tag, wir sind die Weisen Bernhard Heusler: Sie wollten nicht Mann in Anzug und einem Arsenal-Trikot aus dem Morgenland und … hören. drunter – der Bankdirektor. Präsident: Ah, ein neuer Absatzmarkt! DJ Bobo: Pray! Ich wittere Morgenlandluft. «Eis am Direktor: Bonjour!­ (schielt gierig auf das Stiel» ist ohnehin besser als alles aus Im Tumult verschwindet das Gold, der Gold) Die Herren wollen doch sicher ­Bollywood. Wenn sich im dortigen ­Weihrauch löst sich in Luft auf, die Myrrhe ihre ­Wertsachen richtig anlegen? Response-­Verhalten zeigt, dass nur bleibt unauffindbar. Melchior (verwirrt): Anlegen? Eigentlich schon jeder vierte Morgenländer mit­ wollten wir … Caspar: Kommt, wir gehen nach Hause. kommt auf unsere Customer Journey Direktor: Nicht so schüchtern! ­Kommen Melchior: In unser sicheres, stabiles Land. und ein Noah-Okafor-Trikot kauft … Sie, kommen Sie! (führt die drei Könige Balthasar: Vielleicht begegnen wir ihm sagen wir, wir haben einen Markt­anteil in den Tresorraum, wo sich das Gold bis ja da.• von 1893 Prozent, dann können wir unter die Decke stapelt) nicht nur unsere globale Brand Aware­ Königs­ Balthasar (staunend): Oh. Freunde, ich ness, sondern auch unseren ROI merk­ fürchte, unsere Geschenke haben hier lich steigern. Vielleicht kann sich die­ nicht den Wert, der einem Messias ser Messias ja dann als Influencer die … würdig wäre. Die Könige sind bereits abgezogen. Die Könige verabschieden sich schnell und transfer ziehen irritiert weiter. Präsident: Hallo? Caspar: Das muss ein Sündenpfuhl sein! Melchior: Wenn die schon so viel Gold ­haben, brauchen wir mit Weihrauch und Myrrhe gar nicht erst zu kommen.

45 Texte SILVAN KÄMPFEN, DAVID GADZE und PIERRE BENOIT Gekommen,

Die meisten ausländischen Fussballer sitzen in der Schweiz auf gepackten Koffern. Andere haben hier um zu ihre Zelte aufgeschlagen – bleiben und nie mehr abgebrochen.

in Grossteil der zugezogenen Fuss­ die Leser den «Le Matin» rausziehen konn­ baller führt ein rastloses Leben. ten und trotzdem Geld reinwarfen. Die Ehe­ Schaffen sie bei einem­ Klub den Goran Obradovic frau und das erste Kind kommen nach sechs E * 1. März 1976 in Arandelovac (Serbien) Durchbruch, meldet sich schon der nächste. Monaten nach. Nach seiner Zeit in Genf heu­ Die Schweiz sehen­ sie als Zwischenstation. Das Wallis kürte unlängst seinen besten Fuss­ ert Obradovic­ kurz in St. Gallen an, kann sich Doch Un­zählige haben in einem Engage­ baller der letzten hundert Jahre. Die Liste der dort aber nicht auf einen längeren Vertrag ment hier nicht nur ihr berufliches, son­ Nominierten führte vor Augen, welch illus­ ­einigen. Via Vaduz landet er im Wallis. dern auch ihr privates Glück gefunden – und tre Spieler dieser spärlich bevölkerte Berg­ Mit Obradovic steigen die Walliser in die eine neue Heimat. , YB-Meister­ kanton hervorgebracht hat. Es gewann Alain Super League auf und gewinnen drei Cup­ schütze in den 80ern, arbeitet heute als Geiger vor Raphael Wicky, Jean-Paul Brigger, finals. Unvergessen, wie er im Endspiel 2006 Krankenpfleger­ in einem Berner Spital. Petar Umberto Barberis, Gelson­ Fernandes und als bereits 30-jähriger NLB-Zehner Marco Aleksandrow ist der Schweiz ebenso treu ge­ . Sie alle können aber froh sein, ­Wölfli mit einem Freistossstrich bezwingt. blieben wie Admir­ Smajic, Juan Pablo Garat­ stand Goran Obradovic nicht zur Wahl. Er Symbolisch, wie er drei Jahre später, erneut oder Jean-Michel Tchouga. hätte wohl gewonnen. Keiner hat die eupho­ gegen ein hochfavorisiertes YB, nach seinem ZWÖLF hat vier weitere Ex-Fussballer rischen Nullerjahre des FC Sion so sehr ge­ 1:2-Anschlusstreffer den Ball zur Mittellinie­ getroffen, die sich hier für immer nieder­ prägt, in denen der Klub seinen alten Glanz zurückträgt und damit den Weg zur wun­ gelassen haben. Sie stehen für verschiedene zurückerlangte. dersamen Wende aufzeigt. Der Serbe bleibt Generationen und Herkunftsregionen. Mit Seit fast 20 Jahren lebt der Serbe mit sei­ aber der ganzen Fussballschweiz in Erin­ unterschiedlichen Vorstellungen sind sie ner Familie nun in der Schweiz, gut 15 davon nerung: als graziler Techniker im zentralen in die Schweiz gekommen – und aus unter­ in Sion. Das Wallis hatte in seinem ­Leben Mittelfeld, der – stets sich mit erhabener Ele­ schiedlichen Motiven sind sie geblieben. schon früh seinen Platz. «Meine erste Asso­ ganz um die eigene Achse drehend – den ziation war Crans-Montana», verrät er. «Ski­ Ball so abschirmte, dass sich Gegner nur mit rennen waren in Ex-Jugoslawien sehr po­ Fouls zu behelfen wussten. Während Jah­ pulär. Pirmin Zurbriggen war mein Idol.» ren holt kein Spieler in der Schweiz so viele Natürlich wusste er zu diesem Zeitpunkt Freistösse­ heraus wie er. Neben dem Platz noch nicht, dass er einmal in der Schweiz gibt sich ­Obradovic geradezu scheu, au­ Fussball spielen würde. Mit 24 Jahren lan­ sser wenn er sich im ZWÖLF als Kettenrau­ det er bei Servette. Als erster Eindruck ge­ cher outet. Dass er im Wallis regelmässig an blieben sind ihm die Zeitungsboxen, wo seine grossen Verdienste erinnert wird, ist

46 Gekommen, um zu bleiben Sedrik Nemeth Paul Schönwetter * 15. November 1958 in München

Der erste Eindruck täuscht selten. Als Paul Schönwetter in München eines frühen November­morgens losfährt, schneit es. Auf den Strassen herrscht Glatteis. Wenige Stun­ ihm stets etwas unangenehm. «Ich war Fuss­ den später trägt der 26-Jährige nur noch baller, nicht Wissenschaftler»,­ sagt der heute Pullover. Er sitzt auf der Piazza Grande und 43-Jährige. Für ihn sei immer klar gewesen: schlendert durch Ascona – «mein Sohn Am Ende der Karriere ist richtig Schluss. Man glaubt es mir nicht, aber damals war dies könne nicht von der Vergangenheit leben. ein Paradies für junge Leute». 36 Jahre ist Den Schweizer Pass besitzt Goran Obra­ das nun her. Locarnos Ungar László Nagy – dovic nicht, er lebt mit dem Ausländeraus­ damals war nur ein Ausländer pro Team er­ weis C hier. Ist er aber «schweizerischer» ge­ laubt – hatte sich verletzt. Der B-Ligist wurde worden in all den Jahren? Er mag die Frage bei 1860 München fündig, das in der dritt­ nicht. «Ich bin, wie ich bin, und so war ich klassigen Bayernliga vegetierte. schon immer.» Höflich, ruhig, bescheiden. Im Tessin gilt Schönwetter als ­bunter Angebote aus anderen Ländern erhält Obra­ Vogel. «Una Kultfigur», sagt ein Tessiner dovic während der Karriere sehr wohl. Aber Journalist, «eine Ikone». Mit dem Deutschen Priorität habe für ihn stets die Familie ge­ im Mittelfeld­ steigt Locarno 1986 in die NLA habt, und für sie sei die Schweiz nun mal auf, der junge wird so etwas perfekt. Sein zweites und drittes Kind kamen wie sein Ziehsohn. Nach der Aktivzeit trai­ in Genf zur Welt. «Sie sprechen besser Fran­ niert Schönwetter jeden bedeutenden Klub zösisch als Serbisch und haben hier alle ihre im Kanton und ist am Fernsehen als «opinio­ Freunde.» Deshalb wurden auch zwischen­ nista» zu ­sehen. Die Integration ist ihm zeitliche Pläne für eine Rückkehr nach Ser­ von Anfang an leichtgefallen. Sein Rezept: bien wieder verworfen. Sohn Luka spielt «­Immer zu grüssen, ist das kostengünstigste heute in der U18 des FC Sion. «Er ist Vertei­ Geschenk, das man machen kann. Wenn ich diger, ich weiss gar nicht, worüber ich mit ‹Buon­giorno!› sage und ‹Come stai?›, dann ist ihm reden soll», witzelt der ja nicht gerade die Sache schon erledigt», verrät er im brei­ als robust bekannte Vater. testen Bayrisch. Bei seiner Ankunft im Win­ Was genau Obradovic heute treibt, er­ ter 1983 sind die deutschsprachigen Touristen schliesst sich im Gespräch nicht ganz. Als und Saisonniers schon ausgeflogen, er lernt ZWÖLF ihn am Telefon erreicht, war er ge­ rasch Italie­nisch – ­etwas, was viele Deutsch­ rade mit dem Hund spazieren. Sonst hält schweizer Pensionäre im Tessin auch nach er überall auf der Welt nach Talenten Aus­ Jahrzehnten noch nicht hinbekommen. schau – für Bekannte aus dem Balkan, die Der begnadete Mittelfeldspieler spielt Spieler vermitteln, nach China oder Saudi- sich in die Notizblöcke anderer Schweizer Arabien etwa. «Ich bin viel unterwegs und Klubs. Doch Schönwetter sagt sich instinktiv schaue viel Fussball», sagt Obradovic. immer, er wolle in Locarno bleiben. Auf die Die meiste Zeit verbringt er aber zu Frage, ob er es sich anfangs vorstellen konnte, Hause. Und das Skifahren? «Ich schaue mir den Rest seines Lebens in der Südschweiz noch immer jedes Rennen an.» Selber pro­ zu verbringen, antwortet er heute geradezu biert habe er es noch nie. Seine ganz persön­ philosophisch:­ «Ich wusste es – ohne es zu liche Sternstunde durfte er dennoch erleben. wissen.» Tatsächlich kehrt er dem Tessin nur 2016 trafen sich in Zermatt zwei Grosse und noch einmal so richtig den Rücken. In der machten ein Foto: Pirmin Zurbriggen und Hinrunde 2000/01 verschlägt es ihn als Trai­ Goran Obradovic. (skä) ner nach Baden. Doch der Aargau – so nah und doch so fern – behagt ihm ­wenig. Er ver­ Spiele Tore misst seine Tessiner Frau, den kleinen Sohn 1996–2000 Partizan Belgrad 86 32 und seine neue Heimat. «In Baden fühlte ich 2001–2004 Servette 105 23 mich als Tschinggeli.» 2004 FC St. Gallen 11 1 Zu Hause fühlt sich Schönwetter – 2005 FC Vaduz 18 7 Namens­kalauer überflüssig – im Süden. Im 2005–2012 FC Sion 229 35 Sommer fährt er seit je nach St-Tropez, auf 2013 FC Monthey 10 2 dem Weg sieht er sich die Spiele seines Lieb­

lingsklubs OGC Nice an. Schönwetter – der Claudio Bader

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Bonvivant und Geniesser, aber auch der Offen­herzige und Soziale. In seiner Freizeit engagiert sich der 61-Jährige ehrenamtlich für Senioren. Er fährt sie zum Arzt oder hilft ihnen beim Einkaufen. Dies gebe ihm viel zu­ rück. Hauptberuflich – im Teilzeitpensum – kümmert sich Schönwetter für den Tessi­ ner Verband um den jungen Nachwuchs in der Region Locarno. Er betreut die Amateur­ vereine, bildet Trainer aus, organisiert Spe­ zialtrainings. Auf die Bank selbst will er sich vorerst nicht mehr setzen. «Im Trainer­ leben ist nicht alles eitel Sonnenschein», sagt Schönwetter aus Erfahrung. «Bei Arbeits­ beginn unterschreibst du jeweils doppelt: deinen Vertrag und deine Entlassung.» Nach München zieht es ihn nur noch zu speziellen Anlässen zurück. Die Amateure

Zu Hause fühlt sich ­Schönwetter – Namens­kalauer überflüssig – im Süden.

49 Alex Tachie-Mensah * 15. Februar 1977 in Accra (Ghana)

Eigentlich wollte Alexander Tachie-­Mensah nicht in der Schweiz bleiben. Oder besser gesagt: Er wollte gar nicht hierhinkommen. Und als er doch hier war, sollte die Schweiz der AC Maggia wollten mit ihrem bayri­ nur eine Zwischenstation sein auf dem Weg schen Trainer selbstverständlich aufs Okto­ in eine grosse europäische Liga. Und spä­ berfest. Schönwetter organisierte eine Par­ ter, nach der Karriere, wollte er in seine Hei­ tie gegen seinen Heimatverein. Diese konnte mat Ghana zurückkehren. Beides ist ihm aber nur dank Leihgaben des Gegners statt­ nicht geglückt. Trotzdem sagt er: «Ich bin finden. Sieben, acht Tessiner Spieler waren glücklich.» dem Festzeltzauber erlegen und nicht mehr Alex, wie der Stürmer überall gerufen einsatzfähig. «Einen fanden wir nicht mehr, wurde, kommt mit 23 Jahren in die Schweiz. einer konnte nicht mehr aufstehen und so Und macht sich schon bald einen Namen als weiter … aber es war ein Riesenspass.» Torschütze vom Dienst. Zwar lässt er immer Auch seinem Sohn Fabian zeigte er wieder Grosschancen aus, gleichzeitig er­ die alte Heimat. Der 22-Jährige ist Torhüter, zielt er dank seiner Explosivität immer wie­ «also kein Fussballspieler», urteilt der Vater der Tore aus dem Nichts – insgesamt 89. Sein ­lachend. «Gut so, dann wird er nie mit mir Torjubel, der Rückwärtssalto, ist bis heute verglichen.» Was den Junior nicht davon legendär.­ Und vermutlich hätte er ihn noch abhält, die grosse Verbundenheit mit dem oft gezeigt und die 100er-Grenze geknackt, Fussball­tessin weiterzuleben. Zwischen den hätte er sich nicht am ersten Spieltag der Pfosten steht er … beim FC Locarno. (skä) Saison 2007/08, die für den FC St. Gallen mit dem Abstieg in die Challenge League endete, schwer am rechten Sprunggelenk verletzt. Als Spieler Spiele Tore Zwei Jahre und sieben Operationen spä­ 1982–1983 MTV Ingolstadt k.A. ter muss der damals 32-Jährige schliesslich 1983–1984 1860 München 55 15 seinen Rücktritt bekannt geben. «Schon vor 1984–1992 FC Locarno 229 65 der WM 2006 habe ich mich mit der Frage be­ schäftigt, was die Zukunft bringt. Ich spürte Als Trainer schon damals, dass meine Explosivität lang­ 1992–1995 Maggia sam abnimmt. Deswegen war es ohnehin 1995–1997 FC Locarno mein Plan, mit 31 Jahren aufzuhören.» Nur: 2000 FC Baden Den Abschied hat er sich anders vorgestellt. 2001 AC Die Schweiz war nicht Alex’ erste Aus­ 2002–2005 FC Chiasso landstation. Als er 18 Jahre alt ist, holt ihn 2005 FC Lugano Borussia Mönchengladbach. Doch in der 2005–2008 Arbedo Fremde fühlt sich der Teenager einsam, ver­ 2008–2009 FC Locarno misst die Lockerheit und die Nestwärme. 2014 FC Locarno «Wegen des Heimwehs waren auch meine Leistungen nicht gut.» So kehrt er nach ­einem halben Jahr und ein paar Trainings

Dass Alex die Schweiz nie verlassen hat, ist letztlich Amors Pfeil zu

verdanken. Gadze David

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mit der ersten Mannschaft in die Heimat zu­ rück. Dort muss er sich anhören, er habe es nicht gepackt. Das stachelt seinen Ehrgeiz an. Ein paar Jahre später weckt er das Inte­ resse von Xamax. Eine erste Anfrage lehnt Alex ab. «Ich kannte die Schweiz nicht und wusste nicht einmal, wo genau sie liegt.» Doch die Neuenburger lassen nicht locker. «Weil mein Vater inzwischen den Job ver­ loren hatte und ich als Alleinverdiener für die ganze Familie sorgen musste, sagte ich schliesslich zu.» Der zweite Anlauf im Aus­ land gelingt Alex wesentlich besser. Insbe­ sondere dank seiner afrikanischen Mitspie­ ler, die ihm die Integration­ erleichtern, aber auch dank des familiären­ Umfelds im Klub des damaligen Patrons­ Gilbert Facchinetti. Auch Trainer Alain Geiger hilft ihm, kauft ihm sein erstes Paar Fussballschuhe in der Schweiz. Auch Alex selbst leistet einen Bei­ trag dazu, sich in der Schweiz einzuleben. Heute spricht er fliessend Schweizerdeutsch. «Es war mir immer wichtig, mich schnell an­ zupassen. Ich wusste, dass mein Schicksal in meinen Händen liegt.» Dass Alex die Schweiz nie verlassen hat, ist letztlich Amors Pfeil zu verdanken. Als der FC St. Gallen 2002 zu einem UI-Cup-Spiel auf die Färöer-Inseln fliegt, lernt er seine heutige Frau Andrea kennen, die als Flight- Attendant arbeitet. Die beiden tauschen Nummern aus, doch richtig funkt es erst ein Jahr später, als Andrea Kurzstrecke fliegt und mehr Zeit hat. Auch wegen der gemein­ samen Tochter entschliesst sich Alex nach der WM 2006, seinen Vertrag beim FCSG zu verlängern. Heute hat das Paar drei Kin­ der, die Familie wohnt in Erlen im Kanton Thurgau. Alex arbeitet in der Logistik beim Schuhhersteller Kybun, dem Namensgeber des St. Galler Stadions, und trainiert die U13 des Thurgauer Fussballverbands. Und seine Passion hat er an seine Kinder weitergege­ ben: Die älteste Tochter Vanessa (14) spielt für die Juniorinnen des FC Weinfelden-Bürglen, und der siebenjährige Colin ist ebenfalls im Fussballklub. «Er sagt, er sei besser als ich», sagt Alex mit einem Lachen. «Aber solange ich das Geld nach Hause bringe, bin ich die Nummer eins.» (dga)

Spiele Tore 1999–2000 Ebusa Dwarfs 39 35 2000–2002 Neuchâtel Xamax 57 25 2002–2009 FC St. Gallen 194 81

Länderspiele 2001–2007 Ghana 11 1

51 Bert Theunissen * Lambertus Ignatius Theunissen, 31. August 1939 in Arnhem (Niederlande)

Was er damals als Pech empfand, bezeich­ net er 54 Jahre später als Glück. Auch für die Young Boys ist es 1965 ein Glück, dass Bert Theunissens Teamkollege beim PSV Eind­ hoven, der ehemalige YB-Meisterspieler Toni Allemann, ihm den Wechsel in die Bundesstadt empfiehlt. Bert Theunissen zieht also nach Bern, hat dort die beinahe un­lösbare Aufgabe, das in die Jahre gekom­ mene Traumduo Geni Meier/Ernst Wechsel­ berger zu ersetzen, und wird in der Schweiz sesshaft. Er gehört auch heute noch, mit über 80 Jahren, zum Inventar der Stadt und wird von den älteren Semestern auf der Strasse freundlich gegrüsst.

Eine ­Rückkehr in die ­Heimat war für ­Theunissen nie ein Thema. «Ich erkannte bald einmal, dass die Berner ein gemütliches

Völklein sind.» Gunten Andreas von

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Eine Rückkehr in die Heimat war für mit dem FC Grenchen in die Nationalliga A Theunissen nie ein Thema. «Ich fühlte mich auf. Noch heute ist Bert Theunissen im Fuss­ in Bern jederzeit zu Hause, hatte und habe ball aktiv. Lange Zeit als Spielerbeobachter einen grossen Freundeskreis und erkannte beim FC Zürich, nun sucht er für YB in der bald einmal, dass die Berner ein gemütliches Region die talentiertesten kleinsten Junioren Völklein sind.» Nur für seine Trainertätigkeit zwischen 8 und 13. «Schon nach fünf Minu­ sei er kurze Zeit weg gewesen, «kam aber im­ ten weiss ich jeweils, wer es weit nach oben mer wieder gerne heim». Auch seine Tochter schaffen könnte.» und sein Sohn leben in Bern, die Nähe zu Dank seinem hohen Bekanntheitsgrad seiner Familie war Theunissen stets wichtig. war Bert Theunissen auch als Beizer erfolg­ Versucht Bert Theunissen Bärndütsch reich – wie vor ihm auch Geni Meier. Jahre­ zu sprechen, muss der Zuhörer sehr auf­ lang betreibt er an der Neuengasse das merksam sein, um das Wesentliche aus sei­ «Take-off» und danach in der Altstadt die nem Mix aus Holländisch und dem ein­ «Tübeli-Bar», beides Lokale, in denen sich heimischen Dialekt sortieren und korrekt querbeet «tout Berne» traf, vom Stadtprä­ platzieren zu können. Dies hat den Mann sidenten über «pretty women» bis zu Wirt­ aus Arnheim aber nie am Erfolg gehin­ schaftskapitänen und Vertretern der Cer­ dert – weder während noch nach seiner velat-Prominenz. Bert Theunissen ist und Karriere. Mit 1500 Franken monatlich lässt war immer bei allen beliebt, woher sie auch es sich schon im Jahr 1965 nicht leben, und ­kamen und wohin sie auch gingen. Der so muss der Torhüterschreck, der auch aus Übername des «Take-off» lautete nicht ohne 40 ­Metern mit seinem berüchtigten Aussen­ Grund «Witzwiler Wartsaal», genoss dort rist ins Lattendreieck­ traf, nebenbei arbeiten. doch mancher Ganove vor dem Gang in die Obwohl er aus einem Land stammt, in Justizvollzugsanstalt Witzwil sein vorläufig dem die höchste Erhebung, der Vaalserberg, letztes Bier. mit 322 Metern ü. M. nicht einmal halb so Bert Theunissen ist auch mit 80 beinahe hoch wie Berns Hausberg Gurten ist, avan­ so fit wie vor 50 Jahren und sagt: «Ich denke, ciert Bert Theunissen im Berner Traditions­ so etwa 100 werde ich schon, die Gene stim­ geschäft Christen Sport zum besten Ski­ men, meine Schwester feierte kürzlich ihren verkäufer. Bei der Firma RFA bringt er später 95. Geburtstag.» (pbe)• zusammen mit der Schwingerlegende Fritz Uhlmann Fernsehapparate an die Frau und den Mann. Die Geschichte, dass das Duo Theunissen/Uhlmann jeweils an Nach­ Als Spieler Spiele Tore mittagen ins Emmental fuhr und TV-Appa­ 1956–1960 Vitesse 102 27 rate bis in den hintersten «Chrachen» ver­ 1960–1962 DOS Utrecht 57 29 kaufte, obwohl dort kaum ein Bild zu sehen 1962–1963 Heracles Almelo 28 12 war, wird noch heute an manchem Stamm­ 1963–1964 PSV Eindhoven 45 33 tisch erzählt. Begleitet wurden sie von einem 1965–1967 BSC Young Boys 59 43 Bestatter, da in dessen Leichenwagen viele 1967–1968 Fortuna Sittard 30 8 Fernseher Platz fanden. 1968–1970 Telstar 53 12 Nach der Aktivkarriere schlägt das YB- 1970–1974 BSC Young Boys 75 6 Ehrenmitglied die Trainerlaufbahn ein. Mit dem FC Bern 1894 gelingt ihm 1978 die auf Als Trainer dem Neufeld lang ersehnte Rückkehr in die 1974–1978 FC Bern Nationalliga B. Der FC Winterthur mit Stars 1978–1980 FC Winterthur wie Fritz Künzli, Ernst Meyer und Goalie 1980–1983 BSC Young Boys René Deck ist die nächste Station, ehe er als 1984–1985 FC Grenchen Chef des Fanionteams zu YB zurückkehrt. 1986–1987 Martigny Sports Nach einem Abenteuer in Griechenland fei­ 1987–1988 FC Baden ert er nochmals einen Grosserfolg und steigt

53 ie im falschen Film muss sich Bei Gross’ Ankunft im Sommer 2018 wa­ von 100 000 Zuschauern in das Cairo Inter­ vorgekommen ren Fans noch von fast allen Meisterschafts­ national Stadium schaffen wollte, musste W sein. Das soll es jetzt also sein, spielen ausgeschlossen. Noch heute gibt es schon um 9 Uhr in der Früh Schlange ste­ eines der grössten Derbys der Welt? Nicht auf den Rängen praktisch kein Leben. Nur hen, zwölf Stunden vor Anpfiff, und hatte einmal 10 000 Fans verloren sich letzten 5000 Zuschauer werden zu den Partien ak­ den Platz selbst dann nicht auf sicher. Den März im riesigen Leichtathletikstadion au­ tuell zugelassen. René Weiler erlebte seine Weg auf die Tribüne musste man sich je­ sserhalb von Alexandria, wohin Al-Ahly ge­ Derby-Feuertaufe ebenfalls in Alexandria. weils freikämpfen. Ausschreitungen waren gen Zamalek­ verlegt worden war – 200 Kilo­ Das von ihm seit diesem Sommer gecoachte die ­Regel, sogar Todesopfer gab es. meter von Kairo entfernt. Die spärlichen Al-Ahly gewann den Supercup mit 3:2 – wie­ Schlachtrufe hallten von den leeren Tribü­ derum vor wenig Publikum. Weilers erstes Klassenkampf auf dem Platz nen wider. «Es war kein schöner Tag», erin­ Liga-Derby, es hätte im Oktober unter Aus­ Seinen Ursprung hat das Derby im Klassen­ nert sich Gross an seine trostlose Derby-Pre­ schluss der Öffentlichkeit stattfinden sollen, kampf und im Nationalismus. Al-Ahly be­ miere. «Die Verhältnisse waren sehr schlecht. wurde gar auf Februar verschoben – erneut deutet auf Arabisch «Das Nationale», es war Es regnete stark, der Rasen war sehr tief.» Es aus «Sicherheitsgründen». Al-Ahly beklagte Anfang 20. Jahrhundert zur Zeit der briti­ gebe sehr viel Anspannung rund um die­ Wettbewerbsverzerrung und drohte mit dem schen und osmanischen Vorherrschaft der ses Spiel. Jeder wolle es gewinnen, es sei das Rückzug. erste von Ägyptern geführte Klub. Zamalek wichtigste der Saison. Mit dem 0:0 konnte Welch Gegensatz zur Vergangenheit! dagegen wurde von einem belgischen Juris­ Gross, damaliger Coach von Zamalek, des­ Während Jahrzehnten brachte das Aufei­ ten gegründet und zunächst nach dem ver­ halb leben. «Es war schade, dass aus Sicher­ nan­dertreffen der beiden grössten Teams hassten, England-treuen König Faruk be­ heitsgründen nicht mehr Zuschauer kom­ die ohnehin schon nervös-chaotische nannt. Seit dessen Abdankung von 1952 trägt

men durften.» Metro­pole zum Stillstand. Wer es als einer der Klub den Namen der Nil-Insel Zamalek, zVg

54 Das Kairo-Derby galt einst als eines der grössten der Welt. Nach Ausschreitungen und unter der repressiven Politik des Dikators Sisi sind heute aber kaum mehr Zuschauer zugelassen, wenn Zamalek und Al-Ahly aufeinandertreffen. Christian Gross und René Weiler erlebten die schwierige Situation auf der Trainerbank. Mittendrin

Text JAMES MONTAGUE statt @JamesPiotr nur Derby

die im Zentrum Kairos liegt. Die Roten vorfand – zerkratzt mit dem Schriftzug Nur die Nationalmannschaft erfüllte die Be­ von Al-Ahly gelten seit je als Klub des Vol­ «Ahly Fans». Und als er sich einmal erdreis­ völkerung mit so etwas wie Stolz. Die Pharao­ kes, wogegen sich die Mittelschicht und das tete, in einem Derby zwei Tore zu erzielen, nen dominierten in den Nullerjahren den Bildungsbürgertum eher den Weissen von wartete ein Mob vor seinem Haus. Die Begeg­ afrikanischen­ Fussball, gewannen drei Mal ­Zamalek zugeneigt fühlen. Aber die Grenzen nung hielt stets die ganze Stadt in Atem. Es den Afrika-Cup – mit einer goldenen Gene­ verlaufen nicht mehr so deutlich wie auch war ein überbordendes Spektakel, das alles ration um Mohamed Aboutrika, den viel­ schon. Klar ist einzig: Für beide Seiten gibt hatte: Aufregung,­ Begeisterung, Gefahr. Be­ leicht besten Afrikaner, der nie in Europa es nur einen Klub. sucher aus dem Ausland vergassen ihr ers­ gespielt hat, und den späteren Sion-Goalie Schon früh liess die aufgeheizte Stim­ tes Kairoer Derby jedenfalls nie mehr. Das Essam El Hadary. Präsident Mubarak um­ mung das Misstrauen in die heimischen war einmal. Jetzt wurde die Leidenschaft garnte das Nationalteam in der Hoffnung, Unparteiischen wachsen. Um allen Ver­ von der autokratischen Regierung im Keim dass von dessen Popularität etwas für ihn schwörungstheorien vorzubeugen, fliegt erstickt. Sie hat Angst. Angst vor der politi­ abfiele. Doch die Klubfans hatten anderes der Verband seit über zehn Jahren auslän­ schen Macht der Fans. im Sinn. dische Schiedsrichter ein – etwa solche Die Geschichte nahm im Jahr 2011 ih­ aus Schottland mit Erfahrungen aus dem ren Lauf, als die Ultras von Al-Ahly und Tragödie in Port Said religiös aufgeladenen Glasgow-Derby. In ­Zamalek zusammen mit anderen im Land Die Stehrampen der ägyptischen Premier Kairo wurden die Spieler vor grossen Par­ eine Schlüsselrolle in der Revolution um den League waren einer der wenigen Orte, wo tien regel­mässig Opfer von Einschüchte­ Tahrir-Platz einnahmen. In Hosni Mubaraks­ sich das Volk Freiraum verschaffen wollte, rungsversuchen. Zamalek­ -Legende Ayman Polizeistaat hatten andere Meinungen bis indem es sich der Polizei widersetzte. Als Younes erzählte mir einmal, wie er in den dahin wenig Platz. Ägypten war ein Land die Revolution vor der Tür stand, waren es 80ern seinen brandneuen BMW umgekippt in bitterer Armut und absoluter Unfreiheit. vor allem die Fangruppen, die wussten, wie

55 Das ­Kairoer Derby ist heute ein ­Geisterspiel, sie mit schlagwütigen Polizisten oder Trä­ etwas unternehmen gegen die Ausschrei­ nengaseinsätzen zurechtkommen sollten. nur noch eine tungen. Sie hatten Angst, dass es wieder pas­ Ihre Fahnen und Fackeln wurden zu Sym­ sieren könnte.» Das hätten ihm die Behör­ bolen, ihre Gesänge auf dem Tahrir-Platz Karikatur den als Grund angegeben für die Verlegung zum Soundtrack der Revolution. Zuvor hat­ des Derbys in ein praktisch leeres Stadion in ten sie als Hooligans gegolten, danach wa­ ­seiner selbst. 200 Kilometer Entfernung. «Die Leute sind ren sie Helden – und den Behörden ein Dorn sehr aggressiv und gewaltbereit. Die Ägyp­ im Auge. Ein entscheidender Wendepunkt ter greifen hart durch, sie wollen keine Aus­ war das Massaker von Port Said im Feb­ schreitungen zwischen Fans, Polizei und Ar­ ruar 2012. 72 Al-Ahly-Fans kamen beim Aus­ her, beim Rabaa-Massaker wurden rund mee riskieren. Ich kann das verstehen.» Aber wärtsspiel gegen Al-Masry ums Leben. Nach 1200 Zivilisten getötet. Die Abrechnung hatte natürlich wünsche auch er sich ein volles dem Schlusspfiff stürmten die Heimfans begonnen. Drei Jahre nach Port Said muss­ Stadion. Das wäre es nach einer Aufhebung das Feld und lösten eine Massenpanik aus. ten 22 Zamalek-Ultras ihr Leben lassen, die der Sperre umgehend wieder. Das Flutlicht wurde ausgeschaltet, die Aus­ Polizei hatte Tränengas in einen abgeschlos­ Auf den Strassen dagegen ist das Derby gänge waren­ verriegelt. Einige Fans wurden senen Bereich geworfen und eine Panik aus­ immer noch das dominante Thema. Sowohl zu Tode getrampelt, andere wurden nieder­ gelöst. Danach wurden zu den meisten Spie­ Weiler als auch Gross betonen, wie sie im gestochen oder von den Tribünen gestürzt. len gar keine Fans mehr zugelassen. Vorfeld der grossen Spiele mit Ratschlägen Der Spielbetrieb wurde anschlies­ eingedeckt würden, wer denn jetzt spielen send ausgesetzt. Viele Akteure, die an die­ Stadionverbote und Urinbeutel solle und was sie alles falsch machen wür­ sem Abend auf dem Feld standen, etwa Dazu beigetragen hat auch Zamaleks all­ den. Gross lebte direkt auf der Insel Zama­ ­Al-Ahly-Legende Aboutrika, schworen sich, mächtiger Präsident Mortada Mansour, ein lek, wo der Klub auch sein Trainingsgelände­ nie mehr Fussball zu spielen. Die Fankurve grosser Anhänger Mubaraks und bekennen­ hat, und war deshalb im ständigen Kontakt von Al-Ahly, die Ahlawy, verlangte unnach­ der Gegner der Revolution. Auf sein Drän­ mit den Menschen. «Jeder Zamalek-Fan giebig nach Antworten. Ihre Vermutung: Das gen wurde 2015 ein Gesetz er­lassen, das den weiss über alles Bescheid», so Gross. Ständig Massaker war von den Sicherheitskräften Ultras den Zugang zum Stadion verwehrte. habe man ihm gesagt, er müsse die Startelf orches­triert, weil diese verärgert waren über Diese waren in seinen Augen schon im­ wechseln. «Sogar wenn wir gewonnen ha­ ihren Machtverlust und die Strassenschlach­ mer Terroristen und Banditen ge­wesen. Als ben. ‹Lassen Sie den spielen. Und den. Und ten mit den Ultras. Den Ahlawy gelang es Gegen­reaktion wurde Monsour mit ­einem den.› Die Leute leben den Fussball, das spürt schliesslich, den Beginn der Meisterschaft so Urinbeutel beworfen. Hunderte Unliebsame man.» lange zu verzögern, bis die Justiz Recht ge­ landeten in den folgenden Jahren in Ägyp­ Gross ist «fürs Abenteuer» nach Ägypten sprochen hatte. Und tatsächlich: Ein Gericht tens Gefängnissen. Die Ahlawy zerbrachen gegangen, wie er sagt. Und genau dies fand hielt fest, dass sich die lokalen Sicherheits­ an der Repression. Sie verkündeten 2018 ihre er auch vor. Er hatte mit Zamaleks Präsident behörden mit den Al-Masry-­Ultras zusam­ Auflösung in einem Video – sie verbrannten Mansour zu tun, dem Feindbild der Ultras mengetan und den Angriff geplant hatten. ihr Banner und löschten ihre Facebook-Seite. und Freund des aktuellen Präsidenten Sisi. An den Wänden von Kairos Gassen prangt Die grösste Zamalek-Gruppe, die Ultras «Er bestimmt alles», sagt der Zürcher. «Seine seither überall das Graffito «JFT74» («Justice White Knights, stellte den Support ebenfalls zwei Söhne sind auch im Fussball, aber das for the 74», zwei weitere Fans starben wäh­ ein. Al-Ahly-Legende Aboutrika lebt heute letzte Wort hat immer er. Er ist ein Patriarch, rend der Revolution). René Weiler weiss um im Exil in Katar. Seine Konten in Ägypten der Boss, ein tougher Präsident. Es ist nicht die Bedeutung der Tragödie, er äussert sich wurden eingefroren, weil er sich als Mursi- einfach mit ihm, er hat ­einen sturen Kopf.» auf Anfrage von ZWÖLF schriftlich. Die Ver­ Anhänger bekannt hatte. Gross überstand eine Saison bei ­Zamalek, storbenen seien im Herzen des Klubs und Und so finden Ligaspiele in Ägypten was angesichts Mansours’ Bilanz von 15 Trai­ ­aller Ägypter. «Wir müssen alle unseren Teil heute zum grossen Teil ohne aktive Fans nern in sechs Jahren fast schon einem Wun­ beitragen, um für mehr Friede und Fairness statt. Bei manchen Partien der National­ der gleichkommt. Aber die Fans und Klub­ zu sorgen.» mannschaft sind die Stadien voll, die Be­ verantwortlichen in Kairo wollen jedes Spiel Die Gerechtigkeit währte nicht lange. hörden zeigen sich aber stets sehr wachsam, gewinnen. Es bleibt ein unerbittlicher Zwei­ Nur kurz nach dem Urteilspruch wurde wohl wissend um das schlummernde poli­ kampf – auch wenn er fast ohne Publikum der erste demokratisch gewählte Präsident, tische Potenzial der Fankurven. Das Kairoer stattfindet. ­Mohammed Mursi, in einem Putsch abge­ Derby ist heute ein Geisterspiel, nur noch Und so genügte es auch nicht, dass setzt. Es übernahm der frühere Militärchef eine Karikatur seiner selbst. Christian Gross Christian Gross den CAF Confederations Abdel Fattah el Sisi. Einen Monat später fie­ sagt, er habe mit vielen Leuten über die Er­ Cup gewann, die afrikanische Version der len seine Schergen über zwei Mursi-Camps eignisse von 2011 gesprochen. «Sie mussten Europa League. Denn in der Meisterschaft

56 KAIRO-DERBY

Wenn überhaupt sind heute beim grössten Spiel Ägyptens nur wenige Zuschauer zugelassen – oder es wird weit entfernt von Kairo ausgetragen.

wurde ­Zamalek nur Zweiter – Zamalek blieb glücklich machen. «Siege sind wichtig, aber Christian Gross seinerseits ist nicht auf 12 Titeln sitzen, gegenüber 41 von ­Al-Ahly. Gesundheit, Friede, Ehrlichkeit und eine all­ lange arbeitslos geblieben. Auch er coacht Gross musste gehen. Aktuell steckt er mit gemeine Lebensfreude sind wichtiger.» nun Al-Ahli – Al-Ahli Dschiddah in Saudi- Mansour und der FIFA in einem Rechtsstreit. Der grosse Fanatismus und die riesige Arabien. Es ist eine Rückkehr. Gross holte hier Es geht um ausgebliebene Lohnzahlungen. Popularität des Fussballs in einem Land las­ 2016 den Titel, den ersten seit 31 Jahren. «Ich Dennoch behält der 65-Jährige Kairo in guter sen einen häufig falsche Schlüsse hinsicht­ nehme meinen Job sehr ernst», sagt Gross, Erinnerung. «Es ist eine riesige Stadt mit un­ lich des sportlichen Niveaus ziehen. In der «ich bin nicht nur wegen des Geldes hier.» Er glaublich vielen Leuten, alles ist so intensiv.» «Schweiz am Wochenende» verglich Weiler wolle den saudischen Fussball voranbringen Die Leute hätten sich stets sehr interessiert sein Team unlängst mit einem Mittelfeld­ und habe auch selber viel Energie dafür auf­ gezeigt. «Viel haben sie nicht, aber sie haben klub der Bundesliga. Vielleicht liegt er damit gewendet. Saudi-Arabien investiert beträcht­ den Fussball.» Eine wunderbare Erfahrung richtig, es gibt aber auch Fakten, die andere liche Mittel in seine Klubs, um Talente vor­ sei es gewesen. Auch wenn er nun auf sein Schlüsse zulassen. An der WM hatte Ägypten, anzutreiben. Die Liga ist die wohl beste im Geld warten müsse. zum grossen Teil mit Spielern aus der eige­ arabischsprachigen Raum, zu grossen Spie­ nen Liga angetreten, nicht den Hauch einer len kommen bis zu 50 000 Zuschauer. Wie es Salah ist nicht die Regel Chance. Aus dem 100-Millionen-Land schaf­ dort um die Freiheit der Menschen steht, ist Seit Gross’ Abgang im Juli 2019 hat Zamalek fen es fast keine Spieler nach Europa, der wieder ein anderes Kapitel.• nun schon den dritten Trainer. Eine Rolle da­ brillante Mohamed Salah soll darüber nicht bei spielte gewiss auch, dass seither zwei Par­ hinwegtäuschen. Starspieler unter Christian tien gegen den Erzrivalen verloren gingen. Gross’ Zamalek war letzte Saison Mahmoud René Weiler wiederum hat gut begonnen bei Kahraba, den weder die Luzern- noch die Al-Ahly. Er gewann die ersten vier Spiele der GC-Fans in guter Erinnerung haben dürf­ Foot et Monde Arabe Saison. Aber er muss auch Meister werden – ten. Heute sitzt Kahraba, aktuell immerhin und vielleicht auch die afrikanische Cham­ Stammspieler in der Nationalmannschaft, Noch bis zum 5. Januar 2020 ist im FIFA- pions League gewinnen –, falls er länger blei­ beim portugiesischen Tabellenletzten Aves Museum die in Zusammenarbeit mit dem ben möchte. Den unglaublichen Druck, den auf der Bank. Der grosse öffentliche Druck Institut du Monde Arabe entstandene Sonder- Christian Gross hatte, lässt sich Weiler bis­ und die enorme Begeisterung machen es ausstellung zu sehen. Von seinen Ursprüngen lang noch nicht so anmerken. «Solange du schwierig, im ägyptischen Fussball mittel- in den 1880er-Jahren bis hin zu den heutigen alles gibst, kannst du dir nichts vorwerfen», oder langfristig zu denken und etwa dem Superstars zeigt die Ausstellung, wie sehr der sagt er über die schier unermesslichen Er­ Nachwuchs Perspektiven zu bieten. Dazu Fussball mit der Kultur und der Gesellschaft wartungen. Es müsse um Spass gehen im kommen die leeren Stadien und die wirt­ verwoben ist und die arabische Welt inner- ZUMA Press / Fussball, wie es auch immer ausgehe. Er schaftlichen Schwierigkeiten im Land. Eine und ausserhalb des Stadions prägt.

imago solle die Leute zusammenbringen und sie rosige Zukunft sieht anders aus.

57 Text MÄMÄ SYKORA @maemae_sykora Illustration IVANO TALAMO www.ivanotalamo.com

Die einst so erfolgreichen Schweizer Nachwuchsnatis qualifizierten sich zuletzt kaum mehr für Endrunden. Vergleichbare Nationen schneiden deutlich besser ab. Doch der Verband will an seiner Strategie festhalten. Durchhänger

s begann mit der WM 1994: Die Credit Ausbildung hierzulande nach wie vor her­ gar überholt. Und dies, obwohl die Schwei­ Suisse erkannte, dass der Fussball vorragend sei. Dass es mit regelmässigen zer Auswahlspieler eigentlich eine wichtige E auch in der Schweiz Euphorie ent­ Endrunden-Teilnahmen gleichwohl nicht Voraus­setzung erfüllen. «Auf Stufe U19 und fachen kann, und alimentierte den Verband klappen will, dafür sieht Moser verschie­ U21 ist man nur konkurrenzfähig, wenn die fortan grosszügig. Hansruedi Hasler stiess dene Gründe. Die Top-Nationen mit ihrem Spieler genügend Einsatzzeit im Profifuss­ als Technischer Leiter zum Verband und grossen Reservoir an Talenten hätten in ball gesammelt haben», sagt Heinz Moser. katapultierte die Nachwuchsausbildung den letzten Jahren nochmals enorm zuge­ Die Schweizer Klubs bieten diese Möglich­ auf ein neues Level. Die Früchte konnte man legt und seien an jedem Turnier dabei, wo­ keit endlich wieder. Nach einer längeren bald ernten: 2002 wurde die Schweizer U17 durch einige Plätze jeweils fast schon fix be­ Baisse setzen sie wieder auf Junge – denn nur Europameister, 2009 gar Welt­meister, und legt seien. Das merke man bei der U19 am sie versprechen hohe Ablösesummen­ –, und 2011 stiess man in den EM-Final vor. Die deutlichsten, wo an der EM nur acht Teilneh­ hoffen auf den nächsten Xhaka, ­Rodriguez, Schweiz gewann den Ruf eines der besten mer zugelassen sind. Sow oder Edimilson. Aktuell geben beson­ Ausbildungsländer weltweit. Nun muss sich die Schweiz freilich ders der FC St. Gallen, der FC Luzern oder Heute scheinen solche Erfolge in uner­ nicht mit Spanien, Frankreich oder England der FC Wil vielen U-Nationalspielern Ein­ reichbarer Ferne. Seit Shaqiri und seine Kol­ messen. Doch auch vergleichbare Nationen satzzeit – auch weil die Konkurrenz nicht legen im Endspiel von 2011 die Spanier ge­ schneiden deutlich besser ab. Schweden etwa mehr so gross ist wie auch schon. fordert hatten, qualifizierte sich die U21 für holte in den letzten zehn Jahren einen Titel keine EM mehr. Die U19 fehlte zuletzt zehn mit der U21, die U17 kam bei fünf Teilnah­ Umweg statt Schweizer Weg? Mal in Folge. Die U17 war zwar vier Mal da­ men mit einer Ausnahme immer mindestens Zu verdanken sind die vielen Einsatz­ bei, wurde dabei aber nur einmal nicht in den Viertelfinal. Tschechien qualifizierte minuten für heimische Talente aber vor Gruppenletzter (siehe Grafik S. 61). Hat die sich drei Mal mit der U21, erreichte mit der ­allem einem Konzept, das der Verband fast Schweiz, das einstige Vorzeigeland, den An­ U19 einmal den Halbfinal und einmal das schon gebetsmühlenartig propagiert: dem schluss komplett verloren? Endspiel. Serbien wiederum war an den letz­ Schweizer Weg. Er bedeutet: Die Spieler sol­ «Natürlich sind wir nicht zufrieden mit ten drei U21-Endrunden, die U19 weist neben len sich zuerst in der heimischen Liga bewei­ den jüngsten Resultaten», sagt Heinz ­Moser, zwei Halbfinals einen EM-Titel vor. sen, bevor sie den Schritt ins Ausland wa­ Chef der Schweizer Nachwuchs­auswahlen. Nicht nur die Topnationen sind also gen. Dazu gibt es auf der Verbands-Website «Uns fehlte zuletzt ein Exploit, der für Auf­ weiter entfernt als einst, auch jene mit ähn­ ­Videos, in denen viele Berge und jubelnde sehen sorgt.» Er ist aber überzeugt, dass die lichen Bedingungen haben uns auf- oder Fans zu sehen sind, und wo Weg­begleiter

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Das Interesse an den U-Natis ist ­riesig: 143 Scouts von heutigen Natispielern erklären, warum hartes Brot. Ob Bajrami tatsächlich weiter dies der richtige Weg sei. Zu oft waren in der be­obachteten wäre, hätte er früher schon bei einem­ aus­ Vergangenheit Talente schon mit 16 Jahren ländischen Klub um Einsätze kämpfen müs­ zu ausländischen Grossklubs abgewandert die Partie der sen, ist natürlich reine Spekulation. Endrun­ und in der Folge ausser Rang und Traktan­ denteilnahmen sind aber nicht nur wichtig, den gefallen, wie etwa Nishan Burkart (Man­ ­Schweizer U21 um die Aufmerksamkeit von Scouts auf sich chester United, nun bei Freiburg II). Heute zu ziehen, sondern nicht zuletzt auch für kommt dies deutlich seltener vor: Von der gegen die Spieler selber. «Jedes­ Länderspiel bringt letzten Startformation der U21 stand ledig­ die Spieler weiter, Turniererfahrungen ganz lich Torwart Anthony Racioppi (Lyon) nicht Frankreich. besonders», sagt Heinz Moser. Erfahrungen, in der Heimat unter Vertrag. Er ist bezeich­ die den Schweizer Talenten zu oft versagt nenderweise auch gleich der Einzige, der blieben. noch kein Profispiel bestritten hat in seiner Karriere. Körperlich unterlegen Doch langsam wird erste Kritik an die­ Weshalb man Tschechen, Schweden oder sem Schweizer Weg laut. Denn Spiel­praxis Serben im Gegensatz zur Schweiz so regel­ ist zwar zwingend nötig, aber ein Quali­ mässig an Endrunden sieht, dafür hat auch tätsmerkmal ist sie nicht immer. «Wenn ich Heinz Moser keine Erklärung: «Wir haben sehe, dass Spieler mit 70 Super-League-Par­ die Situation in diesen Länder nicht genau tien in einem U21-Natispiel kein Land sehen angeschaut.» Jede eigene­ Qualifikationskam­ gegen Wales oder Rumänien, dann muss Baykal Bellusci könnte genau dies die Diffe­ pagne werde aber akri­bisch aus­gewertet und ich mich schon fragen: Sind die wirklich so renz ausmachen: «Als junger Leistungs­ die Erkenntnisse daraus an die Leistungs­ gut, wie alle sagen? Oder ist vielleicht eher träger ist man hier auf ­Rosen gebettet. Es be­ zentren und die Klubs weitergeleitet. Was das Niveau­ der Liga einfach nicht mehr so steht die Gefahr, dass man genügsam wird. aber auffalle: «Die Schweizer Nachwuchs­ hoch?», fragt ein Spielerberater, der nicht Geht einer in ein fremdes Land, muss er dort auswahlen haben gegenüber­ ihren Konkur­ genannt werden möchte. Und einer seiner grauenhaft beis­sen und kämpfen. Wer es in renten gewisse physische Defizite.» Dies er­ Berufs­kollegen, der Ex-Profi Baykal ­Bellusci, diesem Umfeld schafft, der geht extrem ge­ gebe sich daraus, dass für die U­ -Natis nicht sagt zum Schweizer Weg: «Grundsätzlich stärkt hervor.» zwingend immer die momentan besten und halte ich es nach wie vor für den richtigen Die bescheidenen Resultate der Schwei­ stärksten Spieler selektioniert würden, son­ Ansatz. Aber es hat auch seine Grenzen: zer U-Natis ärgern nicht zuletzt auch die dern vor allem jene, bei denen man das Irgend­wann gibt es hierzulande nichts mehr Spielerberater. «Mit der Teilnahme an ­einer grösste Potenzial sehe. Langfristig gehe die­ zu lernen für ein Talent.» 20 bis 60 Super-­ Endrunde verdreifacht ein Spieler seinen ser Plan auf. So viele Leistungsträger in Top- League-Partien soll einer gemäss Verband Marktwert», so Bellusci. Wie gross das In­ Ligen wie heute stellte die Schweiz noch nie. mindestens absolviert haben, bevor er den teresse an den Nachwuchsinternationa­ Und schliesslich sei es die Haupt­aufgabe der Sprung ins Ausland wagt. Diese Marke ha­ len ist, konnte man zuletzt in Neuenburg Nachwuchsauswahlen, Spielerpersönlich­ ben etwa Kevin Rüegg, Bastien Toma oder mitverfolgen: Für die U21-EM-Quali-Par­ keiten für die A-Nati zu formen. Das funk­ Eray Cömert längst übertroffen. tie gegen Frankreich (3:1) meldeten sich tioniere sogar fast zu gut: In den letzten Jah­ Die Nachwuchshoffnungen aus anderen sagen­hafte 143 Scouts an, darunter auch ren setzte Vladimir Petkovic oft Akteure ein, Ländern erhalten unterdessen auch mehr solche von euro­päischen Grossklubs. An die noch in der U21 hätten auflaufen dürfen. Einsatzzeit auf Profiniveau. Beim jüngs­ Europameister­schaften steigt das Interesse Das Fehlen solcher Leistungsträger sei auch ten U21-Zusammenzug rückten die Schwei­ nochmals an. Dort können die Umworbenen ein Grund gewesen, warum die U21 in der zer mit durchschnittlich 60 Profi­einsätzen zeigen, dass sie nicht nur in der heimischen letzten Qualifikation nur den enttäuschen­ auf Klublevel ein, bei Tschechien (55) und Liga von diskutabler Qualität bestehen kön­ den fünften und zweitletzten Rang – noch Schweden (48) waren es nur noch unwesent­ nen, sondern auch gegen die Jahrgangs­ hinter Bosnien und Wales – erreichte. lich weniger. Der Unterschied: Andernorts besten des Kontinents. Fehlt diese Plattform, Aktuell stellt die Schweiz mit Elvedi, ist die Hemmschwelle für den Sprung ins bleiben die Angebote trotz allem zugeschrie­ ­Aebischer, Sow, Zakaria, Ajeti, Embolo und Ausland deutlich niedriger. Von der aktu­ benen Talent eher aus. So geschehen beim Vargas gleich sieben Nationalspieler aus ellen U21 Schwedens beispielsweise machte Mittelfeldmann Nedim Bajrami, der sich den Jahrgängen 1996 bis 1998. Doch selbst die Hälfte Erfahrungen in Deutschland, Hol­ zweieinhalb Saisons kein Bein ausreissen mit diesen Supertalenten gelang kein Ex­ land oder Italien. Die meisten von ihnen ver­ musste, um bei GC zum Stamm zu gehö­ ploit mit den U-Natis. Heinz Moser führt liessen die Heimat aber «erst» mit 18. Für ren. Nun isst er bei Empoli­ in der Serie B ­dafür noch einen weiteren Grund ins Feld:

60 NACHWUCHSKRISE

«Wir setzen bisher konsequent auf den du­ Iglesias (zu Lausanne). Einer der weni­ vor Frankreich an. Mit ihm ist der älteste alen Weg: Das heisst, unsere Spieler müssen gen, die ihren Posten räumen mussten, war Junioren­jahrgang auf gutem Weg, erstmals ­neben dem Fussball auch eine Ausbildung Heinz Moser selber: Im Januar 2018 wurde er seit zehn Jahren wieder eine Endrunde zu absolvieren. Für Spieler in diesem Alter ist von der U21 zur U18 zurückgestuft. Der Ver­ erreichen, deren Teilnehmerfeld mittler­ das anspruchsvoll und anstrengend, sie band sieht dies als Zeichen für Kontinuität. weile auf 16 Teams aufgestockt wurde. Dies ­haben neben Schule und Klub auch noch Man reagiere nicht überstürzt auf Resultat­ notabene mit einem Gros jener Spieler, die viele Nati-Termine. Die Gesamtbelastung für krisen, sondern strebe mittel- und langfris­ mit der U19 zwei Mal in Folge das absolute unsere Toptalente ist mittlerweile zu hoch.» tig Ziele an. Nach wie vor hält der SFV an Minimal­ziel, das Erreichen der zweiten Qua­ Die hohe Beanspruchung fordere ihren Tri­ seinem bewährten Konzept fest: Der U15- lifikationsrunde, verpasst hatten. but. Andere Länder setzen konse­quenter auf Trainer begleitet einen Jahrgang bis in die Fussball, mit dem Nachteil, dass jene, die es U17. Auf höherer Stufe bleiben die Ausbild­ Glücksfall junge A-Nati doch nicht schaffen, dann vor dem Nichts ner jeweils zwei Jahre lang bei ihren Teams – Tieferes Niveau in der Liga, fehlende Tur­ stehen. Derzeit sei man beim Verband aber und übernehmen dann wieder ein anderes. niererfahrung – droht der Schweiz also der dran, bessere Lösungen für diesen dualen Nicht alle sind glücklich über die­ Nachschub für die A-Nati zu versiegen? Weg zu finden, um die jungen Talente bes­ sen ewigen Zyklus. «Den Trainern des Ver­ Nicht unbedingt, findet Baykal Bellusci. ser zu entlasten. bands sind die Theoriebücher ihre Heiligtü­ «Auch im aktuellen Nachwuchs gibt es einige, mer. Aber sie schaffen es nicht, die Spieler die durchaus das Niveau von Xhaka oder Trainer sitzen fest im Sattel zu motivieren und zu pushen», moniert der ­Seferovic erreichen können.» Man dürfe Würden die Schweizer U-Natis wie Vereine kritische Spielerberater. Das sei der Haupt­ nicht vergessen, dass von jener goldenen geführt, wäre der Fall klar: Längst hätten grund für die unbefriedigenden Resultate. Generation auch längst nicht alle eine Welt­ sämtliche Trainer ihre Koffer packen müs­ 35 bis 50 Tage stehen die Nachwuchsnatio­ karriere hingelegt hätten. Das ist auch gar sen. Doch es gibt kaum einen sichereren Ar­ nalspieler dem Verband zur Verfügung, in nicht nötig. «Wir müssen nicht zehn Spieler beitsplatz als jenen auf der Bank unserer dieser Zeit wird der Fokus vor allem auf pro Jahr haben, die die A­-Teams verstärken», Nachwuchsteams. Yves Débonnaire etwa Teambildung­ und Taktik gelegt. Die rich­ sagte Laurent Prince, Technischer Leiter des führt seit 20 Jahren abwechselnd Teams von tige Einstellung aus den Spielern herauszu­ Verbands, vor einem Jahr im ZWÖLF. «Aber der U15 bis zur U19, ist seit 2006 kitzeln, werde dabei vernachlässigt. Äus­serst jene, die es schaffen, die müssen wirkliche dabei und Heinz Moser auch schon seit über zufrieden ist der Berater mit der bisheri­ Verstärkungen sein.» Jene, die zuletzt nach­ zehn Jahren. Wechsel gibt es eigentlich nur, gen Arbeit von . Er hat die gerückt sind – Elvedi, Zakaria, Akanji etwa –, wenn ein Trainer freiwillig geht, wie jüngst U21 von Heinz Moser übernommen und erfüllen diese Auflage voll und ganz, trotz Massimo Lombardo (zu Servette) oder Pablo­ führt die Qualigruppe verlustpunktelos bescheidenem Erfolg mit den U-Natis. Mit ihnen sind es momentan 13 Nationalspieler, die 25 Jahre alt oder jünger sind. Mit diesem SCHWEIZER AUSWAHLEN AN EUROPAMEISTERSCHAFTEN tiefen Altersschnitt könnte die Schweiz so­ gar eine Durststrecke von mehreren Jahren ohne frisches Blut überstehen. U21 U19 U17 So weit soll es aber nicht kommen. Die kleine Schweiz verfügt nicht über die Ta­ 2010 8 8 Die Qualifikation für die U21-EM lentreserven grösserer Länder. Und weil verläuft in 6er-Gruppen. Die längst nicht jeder Überflieger in den Nach­ 2011 8 8 8 Gruppen­ersten sind an der End- wuchsauswahlen tatsächlich zum Profi mit 2012 8 8 runde, die besten Zweitklassierten ­A-Nati-Potenzial reift, tut die Schweiz gut da­ spielen eine Barrage. ran, nicht bloss auf die zwei, drei Besten je­ 2013 8 8 8 des Jahrgangs zu hoffen. Erfolgreiche U-Natis 2014 8 8 Bei der U17 und der U19 gibt tragen viel dazu bei, die Auswahl an späteren es zuerst die Qualirunde in Nationalspielern zu vergrössern. Es müssen 2015 8 8 16 4er-Gruppen, jeweils die zwei also wieder Endrunden-Teilnahmen her. Für 2016 8 16 Gruppenbesten kommen in die jede zweite U17-EM soll sich die Schweiz qua­ Eliterunde. Dort sind es wiederum lifizieren, für jede vierte U19-EM und für jede 2017 12 8 16 4er-Gruppen, wo sich jeweils der vierte U21-EM, gibt Moser als Ziel heraus. Die 2018 8 16 Gruppensieger für die Endrunde letzten zehn Jahre war man von diesen Vor­ qualifiziert. gaben weit entfernt. Und einfacher wird es 2019 12 8 16 dadurch wahrlich nicht: Durch die schlech­ ten Resultate ist die Schweiz bis in Topf 3 ab­ gerutscht. Die Quittung dafür gab es Anfang ENDRUNDE K. O.-PHASE ENDRUNDE Dezember in Nyon. Der U17 wurden für die BARRAGE sogenannte Elite-Runde, die letzte Quali­ fikationsrunde, Spanien und Kroatien zu­ 2. QUALI-RUNDE 1. QUALI-RUNDE gelost, die U19 muss sich gegen Holland und 8 ENDRUNDEN-PLÄTZE Tschechien­ durchsetzen.•

61 Text RAPHAEL BRUNNER www.brunnertexte.ch

Der Genfer Dr. Yvan ­Dreyfus gehörte zu den hiesigen ­Fussball-Pionieren. Später wurde er in ein KZ deportiert. Erst diesen Herbst kam seine Arzt, Geschichte ans Licht. Nati-Goalie, Widerstandskämpfer

ufmerksame Fussballnerds kann­ mit schwarzem Schnauz und einem weissen wohlhabenden Familien, kamen in eng­ ten Yvan Dreyfus vielleicht bereits Kittel als Goalie-Dress. In der Bildlegende lischen Schulen zum Fussball und waren A von einer Anekdote: 1908 spielt die steht: «Yvan Dreyfus, jüdisch, Torhüter des Kosmopoliten.» deutsche Fussballnationalmannschaft ihr Servette FC und der Schweizer Fussballnati­ Mit den Grenats gewann ­Dreyfus die erstes Länderspiel gegen die Schweiz in onalmannschaft. Er wurde am 12. März 1943 erste Meisterschaft. In einem Dreier-Final­ ­Basel. Nach dem Spiel (5:3 für die Schweiz) in Frankreich wegen Widerstands verhaftet. turnier gegen die Meister aus der Nordost- treffen sich die beiden Mannschaften im Ho­ Geflüchtet aus dem KZ Alderney.» und der Nordwestschweiz schlug man den tel ­Metropol zum Bankett. «Die Deutschen Die Buchautoren waren erst kurz vor Ab­ FC Basel 5:1 und die Young Fellows Zürich­ benehmen sich tadellos. Nur der Schwei­ gabetermin auf diesen einzigartigen Natio­ 1:0 nach Verlängerung. «Angeblich war mein zer Torwart Dr. Yvan Dreyfus, ein Arzt aus naltorwart gestossen. Um seine Geschichte Vater der erste Torhüter in der Schweiz, der Genf, fällt aus der Rolle», heisst es im Buch genauer zu erforschen, reichte die Zeit nicht in die Beine des Gegners hechtete, um den «90: oder die ganze Geschichte des Fussballs mehr. Nach der Veröffentlichung haben sie Ball zu bekommen», erzählt sein letzter in 90 Spielen» unter Berufung auf die Er­ ZWÖLF an die Familie Dreyfus in Paris ver­ leben­der Sohn, der heute 91-jährige Bernard innerungen des deutschen Stürmers Fritz mittelt, damit­ wir über ihn berichten können. Dreyfus. Zu dieser Unerschrockenheit kam ­Becker. «Unter Alkoholeinfluss stellt ­Dreyfus ein robustes Durchsetzungsvermögen. Um zu später Stunde eine Parade nach und kippt In die Beine hechten den Mut eines Gegenspielers abzukühlen, ­einen Kelch mit Worcester-Sauce um. Sie Dreyfus wurde 1884 in Aarburg im Kanton verpasste Dreyfus bei Eckbällen und Flanken frisst ­Löcher in Beckers Leihfrack. Die Kos­ Aargau geboren. Er war das 18. Kind einer schon mal absichtlich den Ball und faustete ten für Reparatur und Reinigung sind noch jüdischen Familie, die nach der Annexion stattdessen ins Gesicht des Gegners, wie er höher als die 12 Mark Miete.» durch Deutschland aus Elsass-Lothringen später seinen Kindern beichtete. Seit diesem Herbst kennt Yvan Drey­ in die Schweiz geflüchtet war. Den Fussball Dreyfus gehörte zu den ersten Schwei­ fus eine breite Schweizer Öffentlichkeit – lernte er in einem Internat in England ken­ zer Nationalspielern. Beim zweiten offiziel­ als einen von mindestens 391 Schweizer nen. Nach der Rückkehr in die Schweiz be­ len Schweizer Länderspiel gegen Frankreich Staatsbürgern, die während des Zweiten gann er ein Medizinstudium in Genf und stand er im Tor, ebenso beim dritten gegen Weltkriegs von den Nazis in Konzentrati­ schloss sich Servette an. Eine typische Fuss­ das Deutsche Kaiserreich in Basel. Bis 1913 onslagern inhaftiert wurden. Das Buch «Die ballerbiografie für die Schweiz vor dem spielte er sechs Partien für die Schweizer Schweizer KZ-Häftlinge – vergessene ­Opfer Ersten Weltkrieg, sagt Fussballhistoriker Auswahl. Sie bestritt damals erst sporadisch des Dritten Reiches» zeigt ihn auf einem ­Christian Koller. «Die meisten Fussballpio­ Freundschaftsspiele, lockte bei ihren Partien Mannschaftsfoto des Servette FC. Ein Mann niere auf dem Kontinent stammten aus eher aber bereits mehrere Tausend Zuschauer an.

62 Arzt, Nati-Goalie, Widerstandskämpfer Yvan Dreyfus (3. v. l.) mit seinen Teamkollegen von Servette nach einem gewonnenen Meisterschaftsspiel im Februar 1914.

Als Mann Mitte zwanzig gehörte ­Dreyfus Nazi­deutschland Frankreich besetzte, trat er aktiv in der Résistance, wurde er nach ­einem für damalige Verhältnisse eher zu den älte­ in die Résistance ein. Er gründete ein Netz­ Anschlag auf die Universität Strassburg ver­ ren Spielern und war hoch angesehen. Die werk, das geflüchtete Kriegsgefangene in die haftet und nach Auschwitz deportiert. Er Zeitungen führten ihn stets als Doktor. So unbesetzten Zonen des Südens schleuste, entkam den Gaskammern und wurde wei­ schrieb die «Gazette de Lausanne» einmal, und organisierte falsche Visa für jüdische ter nach Buchenwald deportiert, wo er kurz dass «Monsieur le Dr. ­Dreyfus», damals Cap­ Flüchtlinge. vor Kriegsende unter ungeklärten Umstän­ tain der Nationalmannschaft, das Spiel ge­ 1943 wurde Yvan Dreyfus auf ­einer Mis­ den starb. gen Deutschland (1:2) wegen Rheumasch­ sion verhaftet und im Konzentrationslager­ merzen verpasst habe. Zu Beginn seiner Alderney auf der gleichnamigen Kanalinsel Cholerischer Unterlagerführer Laufbahn hatten manche Notablen im calvi­ inhaftiert, «Lager Sylt» genannt. Die Häft­ Yvan Dreyfus habe fast nie über die Zeit im nistischen Genf einen Arzt in kurzen Hosen linge mussten dort den «Atlantikwall» bauen. KZ Alderney gesprochen, sagt sein jüngster allerdings als anstössig empfunden. Angeb­ Als das Lager nach der Invasion durch die Sohn Bernard. Verbürgt ist ein Vorkomm­ lich beriet sogar der Stadtrat den Fall – und Alliierten geräumt wurde, konnten Dreyfus­ nis, über welches das Buch «Spanier im erteilte dem hechtenden Mediziner­ schliess­ und über 120 Gefangene während eines Holo­caust» berichtet. Dreyfus wird zufällig lich die Erlaubnis. Bombardements fliehen. Sie wurden von erwähnt bei der Beschreibung des Unter­ Der Erste Weltkrieg beendete Dreyfus’ Kämpfern der Résistance versteckt und bald lagerführer Heinrich Evers, eines Epilepti­ Fussballerkarriere. Als französisch-schwei­ darauf von der kanadischen Armee befreit. kers, gefürchtet für seine Anfälle und Wut­ zerischer Doppelbürger kämpfte er für Dreyfus, der perfekt Englisch, Französisch ausbrüche. Evers war früher Schiedsrichter Frankreich und liess sich nach dem Krieg und Deutsch sprach und über die deutschen gewesen und nun noch immer passionier­ in Paris nieder. 1920 gab er mit 36 ein kur­ Verteidigungslinien Bescheid wusste, war ter Fussballfan. «Diese Fussballbegeisterung, zes Comeback. Mit dem Altmeister im Tor für die Alliierten eine wichtige Hilfe. Nach zusammen mit einem tiefsitzenden Respekt wurde der Club Cercle Athlétique de Paris Kriegsende wurde er in den Buckingham- für die Profession des Mediziners, führte erster französischer Cupsieger nach dem Palast eingeladen und ausgezeichnet. Auch dazu, dass Evers ein gewisses Vertrauen Krieg. Dreyfus bekam als Erster den Pokal von der polnischen Regierung und der Roten­ gegenüber dem Gefangenen Yvan Dreyfus überreicht, füllte diesen mit Champagner Armee erhielt er Auszeichnungen, weil er zeigte, einem Arzt und früheren Fussballer. und offerierte ihn seiner Frau. sich als Arzt im KZ um kranke Kriegsgefan­ Er machte ihn zum Arzt für die Gefangenen. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war gene gekümmert hatte. Das bewahrte Dreyfus aber nicht vor Evers der ehemalige Schweizer Nationaltorwart Sein ältester Sohn Paul Dreyfus hin­ Raserei: In einem­ Anfall brach er Dreyfus

Suisse Sportive 55 Jahre alt und Leiter einer Klinik. Als gegen überlebte den Krieg nicht. Ebenfalls den Kiefer und schlug ihm mehrere Zähne

63 YVAN DREYFUS

Nur halb­ herzig setzten sich Schweizer Behörden für ihre ver­folgten jüdischen ­Bürger ein. Erst recht, wenn sie Widerstands- kämpfer waren. Beim ersten Sieg der Schweizer Nati überhaupt steht Yvan Dreyfus 1908 gegen Deutschland auf dem ­Basler Landhof im Tor – wie immer stilvoll, diesmal im schwarzen Kittel. aus. Danach zwang er ihn, von 5 Uhr mor­ sein Schweizer Pass dabei spielte, ist unklar. Yaschin. Von der Zeit als Fuss­baller in der gens bis 8 Uhr abends am Ort stillzustehen, Seinen Sohn Paul und zahlreiche andere Schweiz habe er immer wieder erzählt. und verweigerte ihm danach medizinische französisch-schweizerische Juden bewahrte «Er idealisierte den Klub Servette und die Behandlung. Immer noch rasend vor Zorn, die Doppelbürgerschaft nicht vor der Ermor­ ­Nationalmannschaft im Rückblick ge­ schritt er jeden Block des Lagers ab und dung durch Hitler-Deutschland. radezu als Hort der Kameradschaft und schrie herum, wie er den Doktor malträtiert völker­übergreifenden Brüderlichkeit.» Der habe. ‹Ich habe ihn fertiggemacht wie noch Keine Hilfe von Verband und Politik Fussball habe ihm, «der kein praktizieren­ nie irgendeinen Gefangenen!›» Im Schweizer Fussballverband scheint der Jude war, aber durch seinen Namen als Wussten die Schweizer Behörden vom man den früheren Nati-Captain zur Zeit solcher gekennzeichnet war», die Türen zur Schicksal des ehemaligen Nationalgoalies des Zweiten Weltkriegs aus den Augen ver­ Genfer Gesellschaft geöffnet. Und diese, ob­ und seiner Familie? Versuchten sie zu hel­ loren und vergessen zu haben. Jedenfalls ist wohl nicht als judenfreundlich bekannt, fen? Sohn Bernard und Enkel Jean-François heute nichts mehr von Kontakten bekannt, habe ihn als vollwertigen Bürger anerkannt. Dreyfus, Sohn des ermordeten Paul, wis­ und auch Dreyfus’ Nachkommen haben Ob Dreyfus den 4:2-Sieg der Schweiz ge­ sen von keinen Bemühungen in diese Rich­ nie etwas davon gehört. Fussballhistoriker gen Grossdeutschland an der WM 1938 live im tung. Zumindest über die Verhaftung von ­Christian Koller sagt: «Es ist schwer vorstell­ Pariser Prinzenpark­stadion sah, weiss sein Paul Dreyfus war das Schweizer Konsulat in bar, dass sich der SFV zu dieser Zeit für einen­ Enkel nicht. Später verfolgte er mit seinen ­Paris informiert. Die Mutter Emma Dreyfus,­ Juden im Ausland eingesetzt hätte, auch Grosskindern regelmässig die Spiele einer­ gebürtige Baumgartner und ebenfalls wenn es ein ehemaliger Nationalspieler war.» lokalen Amateurmannschaft. Das Spielfeld Doppel­bürgerin, habe persönlich um Hilfe Wie die Politik habe sich der Schweizer Sport war fast direkt unter dem Balkon des Hau­ ersucht. Man habe ihr versichert, er werde davor gehütet, Nazideutschland auf irgend­ ses der Familie. «Wenn es Elfmeter gab, hat als Schweizer nicht in den Osten deportiert. eine Weise zu brüskieren, und sich in der er den Torhütern jeweils von oben herab zu­ Eine Freundin in Genf habe zudem erwirkt, Regel willfährig verhalten. Noch im Herbst geschrien, in welche­ Ecke der Schütze schies­ dass Paul Dreyfus hätte in die Schweiz ein­ 1942 fand in Bern ein Freundschaftsspiel ge­ sen werde. Damit sorgte er aber meist nur für reisen dürfen, wäre ihm die Flucht gelungen. gen Nazideutschland statt, zur gleichen Zeit, Verwirrung.» Dass der temperamentvolle Doch dafür war es längst zu spät. als in Frankreich Zehntausende Juden in die Senior ein ehemaliger Nationalspieler und Das Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» Vernichtungslager deportiert wurden. Cup­sieger war, habe niemand gewusst. zeigt auf: Die Schweizer Behörden setzten Dreyfus besuchte nach dem Krieg die Ende 1974 erlitt Yvan Dreyfus einen sich nur halbherzig und oft widerstrebend Schweiz mehrmals wieder und lud seine Schlaganfall, kurze Zeit später starb er im für ihre verfolgten jüdischen Staatsbürger ­Familie in die Ferien ein. «Auch wenn er mit Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine. Sein Enkel im Ausland ein. Erst recht, wenn sie Wider­ Recht als grosser französischer ­Patriot be­ erzählt: In dem Dämmerzustand, in dem standskämpfer waren. Es gab Ausnahmen. zeichnet wird, sah er sich stets als Doppel­ er sich den letzten Monat seines Lebens be­ Ob die Familie Dreyfus dazugehörte, muss bürger», sagt sein Enkel. Sein ganzes ­Leben fand, hätten ihn jeweils nur noch Fussball­ noch erforscht werden. Auch warum Yvan blieb Yvan Dreyfus fussballaffin.­ Er ­verfolgte spiele im Radio etwas aufwecken können. Ob Dreyfus nicht in ein Vernichtungslager im die Schweizer Meisterschaft, unter­stützte ihm manchmal der kaputte Frack von Fritz

Osten deportiert wurde und welche Rolle Servette und YB und schwärmte von Lew ­Becker in den Sinn gekommen ist?• Photo-Marché

64 AUSWÄRTSFAHRT Text und Bild RAPHAEL REHMANN @r_rehmann In Dubio pro Danubio

Drei Millionen Einwohner und zwei Welt­ gekaufte Ticket an­ meistertitel – das erwähnen Uruguayer im­ standslos einscannt. mer gleich als Erstes, wenn es um Fussball Von südamerikani­ geht. Und es geht oft um Fussball. Omni­ scher Feststimmung präsent in den Strassen Montevideos sind ist während des Spiels nicht etwa die Trikots von Barcelona oder nur wenig zu spüren. PSG, sondern jene der heimischen Giganten Die rund 20 Leute in ­Peñarol und Nacional. 96 von 116 Meister­ der Danubio-Kurve titeln teilen die beiden unter sich auf, das setzen fort, was sie be­ Gefälle in der Liga ist riesig. reits beim Einspielen Das merkt jeder, der sich eine Partie begonnen haben, sie der übrigen zehn Hauptstadt-Klubs aus der beleidigen praktisch obersten Liga anschaut. Zum Beispiel eine ununterbrochen den des Danubio­ FC, von dem einst Richard gegnerischen Torhüter. Auch das Schieds­ Das gute Dutzend Polizisten im Sta­ richter-Quartett muss sich einiges anhören, dion lässt sich nach dem Schlusspfiff noch und zwar von der Haupttribüne aus. Ebenso etwas Zeit, die Tore zu öffnen. Auch sie sind DANUBIO FC – RÁCING CLUB DE MONTEVIDEO 3:2 übrigens die eigenen Spieler. Und der Trai­ während der 90 Minuten zuvor gefordert PRIMERA DIVISIÓN, CLAUSURA, 14. RUNDE, 27. NO- ner. Etwa dann, als dieser es gewagt hat, sei­ gewesen, etwa als sie bei einem umstritte­ VEMBER 2019, ESTADIO JARDINES DEL HIPÓDROMO nen stark rotgefährdeten Mittelfeldspieler nen Eckball den Linienrichter vor Pöbeleien MARÍA MINCHEFF DE LAZAROFF, 500 ZUSCHAUER auszuwechseln, was dessen Freundin zu ei­ schützen und später bei einer Auseinander­ ner soliden Fluch­tirade antreibt. setzung auf der Danubio-Tribüne eingreifen Nur kurz kommen hingegen die drei mussten. Schliesslich aber ist der Weg frei, Núñez zu GC stiess. Das Spiel gegen Stadt­ Trommeln zum Einsatz, welche die Gäste­ die Zuschauer ziehen über die Calle Zúrich rivale Rácing wurde wegen der Wahlen auf fans mitgebracht haben. Nämlich dann, als von dannen, die vom Stadion wegführt. den Mittwoch verschoben und bereits um Rácing zehn Minuten vor Schluss der An­ Die Schweiz war aber nicht nur als 17 Uhr angepfiffen, weil das Stadion über schlusstreffer gelingt. Tatsächlich wird das Stras­se vertreten. Unter den Zuschauern be­ keine Flutlichtanlage verfügt. Der Taxifahrer Duell zwischen den beiden Teams aus dem fand sich auch ein Assistenztrainer der U21 gibt den Rat, in dieser Gegend weit ausser­ unteren Tabellendrittel noch dramatisch: In des FC St. Gallen, der seine Ferien in Süd­ halb des Zentrums besser vorsichtig zu sein. der 90. Minute gleicht Rácing aus, bevor das amerika verbrachte. Sein Team hätte tech­ Angesichts der übrigen Infrastruktur er­ Heimteam in der Nachspielzeit per Penalty nisch und taktisch locker mithalten können. staunt es einigermassen, dass der QR-­Reader noch das Siegtor erzielt. Nur von der Bank Einzig in Sachen Entschlossenheit und Ag­ am Eingang tatsächlich funktioniert und aus erlebt das die bekannteste Figur im Ka­ gressivität haben die Uruguayer die Nase das am Vortag für umgerechnet 4 Franken der, der Ex-Schalker Carlos Grossmüller. vorne – auch auf den Rängen.

DAS GROSSE ZWÖLF-QUIZ

ZWÖLF präsentiert in jeder Ausgabe eine anspruchsvolle Wer die Lösung weiss, Frage, für die einschlägige Internetsuchportale mit einer gewinnt mit etwas Glück das einfachen Abfrage keine brauchbaren ­Resultate ­liefern. Wer «ZWÖLF-Lesebuch». hier reüssiert, darf sich mit Recht zum erlauchten Kreis der Fussballkenner zählen.

FRAGE: Nur einmal trug die Nati goldene Trikots. Aus dem Land des damaligen Gegners kommt ein Fussballer, der 327 Ligaspiele in DIE LÖSUNG DER LETZTEN AUSGABE: der Schweiz absolvierte. Drei Länderspiele Gürkan Sermeter bestritt dieser Mann zudem, jedoch für ein Land eines anderen Kontinents. In ­seiner Gewonnen hat: Karriere lief er auch noch für einen Klub aus Martin Wipf aus Winterthur einem dritten Kontinent auf. Wie heisst der Gesuchte? MITMACHEN GEHT SO: E-Mail mit der Lösung an [email protected]­ Einsendeschluss ist der 31. Januar 2020.

65 KNAPP DANEBEN von PASCAL CLAUDE SMALLTALK Über Fuss- und Völkerball Julian Jenkins, früherer waren auch die Nationalspieler Junioren­chef von Cardiff City Maltas vor dem Anpfiff ihres Diesen Herbst, als sich der Blätterwald um ihn herum­ FC und ab Sommer 2014 ein Testspiels in der Slowakei im auffällig einheitlich in grellen Tönen färbte, war über Jahr lang CEO von Servette, September 2014: Statt ihrer Vladimir Petković zu lesen, er sei kein «Mann des ­Volkes». ist heute als Psychisches Nationalhymne wurden die Nicht näher ausgeführt wurde, welches Volk genau ge­ ­Medium und Heiler tätig. Er ersten Takte des Songs meint ist. Dabei ist das eine interessante Frage. ­Sprechen bietet Kurse an wie «Spirituelles «Numb» der Nu-Metal-Band wir vom Schweizervolk? Wer würde denn da dazu­ Heilen durch das göttliche Linkin Park eingespielt. gehören, und vor allem: wer nicht? Mit der Christlich­ Weibliche und Männliche» oder demokratischen und der Schweizerischen zum Beispiel «Kompletter Leit­faden für 1976 schüttete Bochum-Trainer haben wir hierzulande zwei sogenannte Volksparteien, ­schamanische Mondmagie und Heinz Höher in einer frostigen deren Wählerinnen und Wähler sich aber unterscheiden, psychische Medialität». Winternacht mit zwei Helfern ja regelrecht­ in zwei Völker aufteilen und dies auch bei Wassereimer um Wassereimer jedem Urnengang per Wahlzettel bekräftigen. Um nun Der langjährige Bundesliga- auf dem Rasen des Stadions an bei ­Vladimir Petković als keinem «Mann des Volkes» zu Profi Lothar Skala (Kickers der Castroper Strasse aus. Sie bleiben: Ist möglicherweise eines dieser beiden Völker Offenbach, Eintracht Frankfurt) wollten erreichen, dass das gemeint? Wenn ja, welches? eröffnete 1980 in Darmstadt die Spiel gegen Schalke wegen Oder geht es vielleicht um jenes Volk, das sich jeweils­ erste von einem Franchise­ gefrorenen Platzes abgesagt an Länderspielen im Stadion einfindet, also etwa ein nehmer geführte Burger- wird. Denn dann hätte man Viertelprozent der Gesamtbevölkerung? Wenn ja, was ist King-Filiale Deutschlands. wegen Terminproblemen ins mit den restlichen 99,75 Prozent? Wären die das Nicht- deutlich grössere Westfalen­ Volk, und Vladimir Petković wäre dessen Mann? Oder ist Die grösste Rivalität im süd­ stadion umziehen müssen. Der hier vom TV-Volk die Rede, von jenen, die Länder­spiele amerikanischen Guyana ist Coup gelang, das Nachholspiel am Fernsehen schauen? Wenn ja, wie weiss man, was die jene zwischen Santos FC und in Dortmund besuchten von Vladimir Petković halten? Hat sie jemand gefragt? Pelé FC, beide aus der Haupt­ 41 000 Zuschauer, mehr als Konnte man auf der Serafe-Rechnung ein entsprechen­ stadt Georgetown. Diese Ver­ doppelt so viel, wie das des Feld ankreuzen? Oder ist am Ende ein ganz anderes ehrung des Superstars be- ­Bochumer Stadion Platz ge­ Volk gemeint, das Landvolk vielleicht, das Bergvolk oder rührte den brasilianischen boten hätte. das Bienenvolk? Botschafter derart, dass er 1973 Wir sehen: Das Volk ist ein sonderbares Völkchen. den Brazilian Challenge Cup 2006 verpflichtete der österrei­ Auch auf dem Balkan, übrigens. Denn auch davon war stiftete, in dessen Rahmen die chische Bundesligist FC Super­ in der Zeitung zu lesen. Petković, Xhaka, Shaqiri – alles beiden Klubs jährlich die Tro­ fund Pasching den 19-jährigen ganz schwierig, weil auf dem Balkan ein ganz besonde­ phäe ausspielen sollten. Leider Nigerianer Osa Guobadia. Auf res Denken vorherrsche: jenes in Hierarchien. Streit ist wurde der Botschafter bald dem Rücken seines Trikots da genetisch vorprogrammiert, von Varna bis Maribor. darauf versetzt, es blieb bei hingegen wollte er seinen Erst an der Grenze zu Österreich hört das auf. Dort be­ dieser einen Austragung. Künstlernamen aufgedruckt ginnt dann die Vernunft. haben: Ice Cream. Wenig Überhaupt der Balkan: wie gross der ist! Auf Radio Wintertransfers seien nur etwas geschmeckt haben seine Fähig­ für jene Klubs, die im Sommer keiten seinem Trainer Dietmar SRF reicht er schon bis an den Rhein. Granit Xhaka, so er­ klärt der Sportredaktor, sei eigentlich schon beliebt hier­ nicht gut geplant hätten, sagen Constantini, Ice Cream lief nur zulande, aber gleichzeitig sei da ja auch der Doppeladler viele. Nicht so sieht man das einmal für Pasching auf. Später gewesen, und «das ist kein Symbol der Schweiz, sondern beim CFC Genoa: In den letzten spielte er in Mazedonien und eines von da, wo Xhaka herkommt». Granit Xhaka, ge­ zehn Jahren verzeichnete der Israel, ehe seine Karriere in boren und aufgewachsen in Basel St. Johann, berufstätig Serie-A-Klub sagenhafte Malta gänzlich schmolz. in der Schweiz, in Deutschland und in England, kommt 128 Zuzüge und 136 Abgänge halt – da kann er machen, was er will – vom Balkan. Ob während des Transferfens- er die Captainbinde trage oder nicht, sei ihm nicht so ters im Januar. ­wichtig, hat Xhaka zwar gesagt, aber das kann nicht ­stimmen. Weil schliesslich – das sollte er sich ein für alle Hymnen vor Länderspielen Mal merken – Hierarchien sein Denken bestimmen. werden immer mal wieder zu Auf die Einschätzung irgendeiner Sportredaktion, Stolpersteinen. Die Tschechen dass Roger Federer so harmoniebedürftig sei, weil da, empfingen 2008 Litauen, zu wo er herkommt, jahrzehntelang ein Apartheid-Regime hören war aber die Hymne von herrschte, warten wir noch. Und wahrscheinlich warten Lettland. Im September 2019 wir noch lange. Ob es vielleicht daran liegt, dass Roger gab es einen Aufschrei, als Federer ein Mann des Volkes ist? Frankreich Albanien mit An­ dorra verwechselte. Erstaunt

66 «Ich brauch’ nur ein Wort zu sagen: Herzlichen Dank!» – Horst Hrubesch

Wir schliessen uns dem Kopfballungeheuer an und freuen uns ungeheuerlich, diese ZWÖLFten Männer und Frauen bereits hinter uns zu wissen:

David Ackermann, Geri Aebi, Lukas Alder, Michael Baggenstoss, Simon Bandi, Reto Bär, Landgasthof Bären in Utzenstorf, Simon Berginz, Jürg Bernhardsgrütter, Patrick Bossard, H.-P. Brammann, Reto Breitenmoser, Roman Braun, Hansjörg Brem, Doris Büchel, Ravi Buchli, Matthias Bürki, Silvan Christen, Andy Coray, Daniel Eisner, Jürg Fehr, Guido Felder, Andy Fischer, Gregor Flückiger, Matthias Fluri, Guido Gassmann, Nicolas Gerber, Daniel Gerig, Dimos Georgokitsos, Iwan Grütter, Sebastian Gull, Arthur Hanselmann, Anna Henrichs, Hansueli Hergert, Denis Hofer, Emil Huber, Tobias Hunkeler-Merz, Markus Huser, Gregor Ingold, Wolf Janthur, Danuel Jörger, Marcel Kaiser, Noah Kälin, André Kaspar, Daniel Kessler, Jörg Koch, Mathias Kohler, Ralf Körber, Samuel Kost, Hansruedi Kündig, Marcel Kutter, Markus Mahler, Florian Mathys, Thomas Maurer, Samuel Maurer, Hugo Meier, Josy Meier, Thierry Moosbrugger, Beat Muggli, Christian Müller, Joël Müller, Peter Müller, Markus Näpflin, Erich Oehen, Mirjam Oertig, Fabio Ori, André Perler, Beni Pfister, Thomas Plattner, Martin Rechsteiner, Florian Reichen, Sandro Reinhard, Marco Rentsch, Marc Rinderknecht, Guido Röösli, Manuel Ryffel, Stefan Rytz, Andreas Schamaun, Daniel Schär, Ueli Schenk, Andreas Schlachter, Ruben Schönenberger, Lorenz Schumacher, Remo Schweizer, Stefan Six, Sportantiquariat Germond, Bruno Steinmann Junior, Thomas Straubinger, Stefan Strausak, Rolf Sturzenegger, Christoph Tagliavini, Roland Tanner, Marcel Tappeiner, Giovanni Tedesco, Claudio Tolfo, Renato Tolfo, Kaspar Trachsel, Philippe Vaucher, Vaudeville Studios – Roger Zürcher, Jürg Vogt, Daniel Volkart, H. C. von der Crone, Michael Vonplon, Bruno Waldvogel, James Wehrli, Severin Wendelspiess, Marco Widmer, Martin Wipf, Loïc Wohlfahrt, WOZ – Die Wochenzeitung, Andreas Wyder, Beat Zaugg, Sandro Zehnder, Reto Zgraggen, Martin Zoller, Markus Zürni und weitere, die an dieser Stelle ungenannt bleiben wollen.

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