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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Vietnam, Universitäten

a Journalisten, die im Straßengewirr von Saigon rasch herumkommen wollen, sind immer noch am be- sten mit einer Rikscha bedient, und wenn deren Fahrer etwas Englisch spricht, ist es ein Glücks- fall. SPIEGEL-Reporter Cordt Schnibben fand so ei- nen schon 1983, und immer, wenn er hinreist, chauffiert ihn zuverlässig der Vietnamese Cong. Vor zehn Jahren brachte der ihn auch zum Waisen- haus von Terre des Hommes, wo Schnibben auf Vo Suong traf: den Jungen ohne Mund, im Vietnamkrieg schwer verletzt durch eine US-Bombe, zurechtge- flickt und am Leben erhalten von Deutschen. Seit- her sahen sich der SPIEGEL-Mann und Suong jedesmal wieder – wenn Schnibben etwa von Saigon aus aufbrach, um die Spät- folgen des Agent- Orange-Einsatzes zu re- cherchieren oder den Geheimnissen des Ho- Tschi-minh-Pfades auf die Spur zu kommen. Suongs Schicksal, wie Schnibben es nun be- schreibt, spiegelt die bizarre, bittere Ge- schichte dieses Landes Schnibben, Cong in Saigon (Seite 166).

a Als SPIEGEL-Redakteur Joachim Mohr in den achtzi- ger Jahren noch studierte, war für ihn wie für die meisten Kommilitonen der Computer eine bessere Schreibmaschine, gut genug zum Tippen der Hausar- beiten. Inzwischen bewegen sich Studenten wie selbstverständlich in internationalen Datenbanken, kommunizieren Professoren via E-Mail, veröffentli- chen Wissenschaftler ihre Forschungsergebnisse in elektronischen Fachzeitschriften – ohne die Compu- tertechnologie geht an den Universitäten weltweit fast nichts mehr. Mohr machte sich den Umstand zunutze und bestritt einen beträchtlichen Teil der Vorarbeiten für seinen Beitrag (Seite 80) über die Datennetze: Termine und Nachfragen etwa über E- Mail, detaillierte Infos über Hochschulen per In- ternet. Versteht sich, daß er den Computertriumph trotzdem auch vor Ort recherchierte, von der klei- nen Technischen Universität Clausthal im Harz bis zur Carnegie Mellon University im amerikanischen Pittsburgh. .

TITEL INHALT Rudolf Augstein über den nach Radebeul zurückgekehrten Schriftsteller Karl May ...... 130 Wie das Karl-May-Museum Spaltung im Atomlager Seite 18 die DDR überstand ...... 134 Zeitlose Geschäfte mit Winnetous Erbe ...... 140 Nach der Einlagerung von Atommüll in Gorleben ist der Energiekon- sens so gut wie gescheitert. Bonn setzt auf den Bau von neuen DEUTSCHLAND Atommeilern – die von den Stromkonzernen gar nicht geplant sind. Panorama ...... 14 Atomenergie: Die Scharfmacher hinter Ministerin Merkel ...... 18 Außenpolitik: Kohl verhindert Russische Spione? Seiten 21, 23 Versöhnung mit Prag ...... 21 Moskau/Bonn: Russischen Spitzeln Bonn bleibt für droht Ausweisung ...... 23 Tschechen wie Rus- Nazi-Opfer: Entschädigung sen ein schwieriger für Zwangsarbeiter ...... 24 Nachbar. Kanzler Helmut Kohl blok- Plutonium-Affäre: Wer hat kiert mit Rücksicht den Schwarzen Peter? ...... 26 auf die CSU und die Widersprüchliche Aussagen ...... 27 Sudetendeutschen Sozialpolitik: SPIEGEL-Gespräch mit eine Verständigung Norbert Blüm über den Umbau mit dem Prager Prä- des Sozialstaats ...... 29 sidenten Va´clav Ha-

Staatsakte: Ärger über 8.-Mai-Demo vel. Und Kohls gutes P. PIEL / GAMMA / STUDIO X in ...... 33 Verhältnis mit Mos- Jelzin, Kohl Zeitgeschichte: Deutschland kaus Präsidenten Bo- in der Stunde Null 1945 ...... 36 ris Jelzin ist immer neuen Belastungen ausgesetzt: Jetzt droht Kriegsende: SPIEGEL-Gespräch mit ein Eklat, weil 165 Russen als angebliche Spione aus Deutsch- Jan Philipp Reemtsma über die land ausgewiesen werden sollen. deutsche Erinnerung an die NS-Zeit ...... 53 Forum ...... 63 Flüchtlinge: Polizei-Einsatz gegen Roma-Frauen 66 Wahlen: PDS-Offensive in Bremen ...... 70 Studieren mit der Maus Seite 80 Geheimdienste: Pullacher Bürger gegen den BND ...... 77 Die Computertechnologie Hochschulen: Computer erobern die Unis ...... 80 verändert radikal die Hochschulen: Studenten GESELLSCHAFT recherchieren via Inter- net, Professoren streiten Medien ...... 92 in elektronischen Fachga- Kulturgeschichte: 100 Jahre Comic strip ...... 96 zetten. In den USA verge- Ernährung: Glasnost in der Backstube ...... 102 ben einzelne Unis Stu- Manieren: Benimmkurse dienplätze nur an Bewer- für Berliner Stadtbedienstete ...... 105 ber mit PC. Auch in der Bundesrepublik lernen

WIRTSCHAFT H. EDELMAN / BLACK STAR immer mehr Studenten Studenten an der Universität in Berkeley mit der Computermaus. Trends ...... 113 Elektronikindustrie: Die Deutschen verlieren den Anschluß ...... 114 Energie: SPIEGEL-Gespräch mit Erfolgreicher Schund Seite 96 Industrieberater Karl Gustaf Ratjen über das Monopol der Stromerzeuger ...... 118 Sie hat Helden wie Mickey Mouse, Donald Handel: Der Aufstieg des Rewe-Konzerns ...... 120 Duck und den neuroti- Mobilfunk: Ein neues System verspricht schen Charlie Brown her- gewaltige Wachstumsraten ...... 125 vorgebracht und Millio- Bilanzen: Deutsche Unternehmen nen Leser begeistert – verbergen ihr Vermögen ...... 127 und doch wird die Kunst- form des Comics auch AUSLAND 100 Jahre nach ihrer Ge- burt als Massenware ge- Panorama Ausland ...... 146 schmäht. Bis heute tobt Kriegsverbrechen: Serben-Führer der Krieg gegen den er- vor Uno-Gericht? ...... 148

folgreichen Schund in WALT DISNEY BOOK PUBLISHING GROUP USA: Terror der Staatsgegner ...... 151 den Kinderzimmern. Mickey Mouse Frankreich: Gaullisten in Angst ...... 154 Das Elsaß – Festung der extremen Rechten ..... 155

4 DER SPIEGEL 18/1995 .

Kriminalität: Martina Helmerich über den Frauenmörder Dschumagalijew ...... 158 Großbritannien: Die Geschäfte Der „Sexmanjak“ von Zentralasien Seite 158 des Thatcher-Sohnes ...... 164 Indochina: Cordt Schnibben über Um Hilfe westlicher Ärz- den Vietnamkrieg und das Schicksal te bittet Nikolai Dschu- eines Totgesagten ...... 166 magalijew, ein Einsied- Japan: Romanautoren schreiben ler, der in den Republi- den Zweiten Weltkrieg um ...... 181 ken Zentralasiens kan- nibalische Serienmorde verübt hat. Der „Sex- KULTUR manjak“ gibt an, von Film: Roman Polanskis Comeback mit Frauenhaß getrieben „Der Tod und das Mädchen“ ...... 186 worden zu sein. In Mos- „Ich kann nicht schlafen“ von Claire Denis ...... 191 kau glaubt eine Sonder- Theater: SPIEGEL-Gespräch mit dem kommission, daß der Ka- österreichischen Autor Peter Turrini sache 47 Frauen getötet über Fremdenhaß und sein neues Stück

und mit deren Fleisch R. PODERNI „Die Schlacht um Wien“ ...... 192 gehandelt hat. Frauenmörder Dschumagalijew Kunst: Die Figurenwelt des Biennale-Teilnehmers Martin Honert ...... 200 Szene ...... 204 Prozeß gegen Serbiens Folterer Seite 148 Literatur: Hellmuth Karasek über die Romane des Serben Aleksandar Tisˇma ...... 206 Vor dem internationalen Kriegsverbrechertribunal in Den Haag be- Bestseller ...... 210 gann der erste Prozeß gegen einen der Folter beschuldigten Serben. Ankläger Goldstone möchte auch die Führer der bosnischen Serben Fernsehen: Heinrich Breloers wegen Völkermordes zur Rechenschaft ziehen. Dokumentarspiel über „Engholms Fall“ ...... 212 Autoren: Die heimeligen Erinnerungen der Theologin Dorothee Sölle ...... 216 Stars: Die Wiederkehr Private Raumfähren Seite 226 des Popidols Boy George ...... 218 Die US-Raumfahrtbehör- Fernseh-Vorausschau ...... 266 de Nasa will die Erobe- rung des Weltalls priva- WISSENSCHAFT tisieren: Die Raumfäh- Prisma ...... 222 ren der nächsten Gene- Gentherapie: Infarkt-Kur ration sollen allein von der Industrie gebaut und mit Erbmolekülen ...... 232 gestartet werden – eine Hirnforschung: Gehirnzellen Lehre aus der finanziel- in der Retorte gezüchtet ...... 248 len Pleite des bisheri- gen Shuttle-Programms. TECHNIK Nasa-Chef Goldin: „Wir müssen schneller, bes- Raumfahrt: Die Nasa plant eine neue Shuttle-Nachfolgemodell „Delta Clipper“ ser und billiger werden.“ Generation von Raumfähren ...... 226 Umwelt: Müll-Recycling durch Elektroschock .. 235 Flugunfälle: Deutsche Hobby-Flieger als Bruchpiloten gefürchtet ...... 238 Materialforschung: Neue Technik Seite 250 „Auf dem Weg nach oben“ veredelt Glas und Metalle ...... 244 Schwergewichtsbo- Automobile: Hybrid-Lastwagen xer Axel Schulz ist es von Mercedes ...... 247 egal, ob eine unab- hängige Jury das Ur- SPORT teil revidiert, mit dem die drei Punktrichter Boxen: SPIEGEL-Gespräch mit dem George Foreman den Schwergewichtsboxer Axel Schulz über WM-Titel retteten. Schmerzen, Schläge und Intelligenz im Ring .... 250 „Auf dem Weg nach Fußball: Die allmähliche Verwandlung oben“, so Schulz im des Trainers Volker Finke ...... 259 SPIEGEL-Gespräch, könne er jeden Geg- Briefe ...... 7

ner, auch Mike Tyson, BONGARTS Impressum ...... 12 schlagen. Verlierer Schulz, Sieger Foreman Personalien ...... 262 Register ...... 264 Hohlspiegel / Rückspiegel ...... 270

DER SPIEGEL 18/1995 5 Werbeseite

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BRIEFE Osterei des Kolumbus über SRY, DNS und PEA und daß Männer Sexualität wollen, aber Frauen (Nr. 16/1995, Titel: Forschungsobjekt sie gewähren. Das Osterei des Kolum- Liebe – Die Natur der Untreue) bus. Übrigens: Meine Oma und mein Nun stimmt also auch der SPIEGEL in Opa wußten das alles schon. das Hohelied auf die Soziobiologie ein. Berlin JÖRN HEYMANN Endlich können wir beruhigt sein. Alle unsere Charakterschwächen sind auf Menschliches Verhalten und Erleben unsere Gene zurückzuführen. Die Ge- ist innerhalb äußerst weiter Grenzen ne treiben uns jenseits von Bewußtsein variabel. Das genetische Geschlecht ist und Verantwortung zur Untreue. Im nur eine von vielen Determinanten. nächsten Atemzug wird dann von der Zufriedenstellende Geschlechtlichkeit Soziobiologie in der Regel die Unterle- und Reproduktion unter verschieden- genheit der Frau und der geborene sten äußeren und inneren Bedingungen – das ist der evolutionäre Vor- teil des Primaten Mensch. Berlin MATTHIAS STÖSS

Frauen sind bei der Partnersu- che wählerischer als Männer? Entweder ist die Theorie falsch, oder die vererbten Er- kennungsprogramme sind in- suffizient; auch eine verblüf- fend hohe Anzahl Frauen ist mit schafsäugigen Stumpfbol- den liiert, die naturgemäß kaum über wertvolles Erbgut verfügen. Würzburg GREGOR JOHANNING

Ihr Titel zeigt deutlich, wie entgeistert die moderne Wis- senschaft im Rausch der un- endlichen Erkenntnis agiert, denn beim Thema Liebe ver- spricht ein knackiger Po wohl eher einen kräftigen und aus- dauernden Bums als eine gute Trageleistung. Und daß über der ganzen Hormonsuppe

BPK noch eine wenig erforschte gei- Lüstling Casanova stige Gravitation wirkt, offen- Plumper Taschenspielertrick baren die zahlreichen Affären körperlich-sexueller Antitypen Verbrecher bewiesen. Doch bewiesen wie zum Beispiel Albert Einstein, hat die Soziobiologie letztlich noch Woody Allen, Roman Polanski. Das nichts. Es handelt sich um hochgradig gewisse Etwas eben. interessante Spekulationen, deren expe- Berlin MICHEL TOAO rimenteller Bestätigungsgrad genauso groß ist wie der der Freudschen Psycho- Der Artikel ist eine heterosexuelle Na- analyse. belschau und verfälscht das Bild der Bielefeld HOLGER MITTERER menschlichen Sexualität („ohne Testo- steron kein Drang zum weiblichen Ge- Hier erfahren Sie allen Ernstes, daß die schlecht“, wohl wahr, aber nur zum Evolution in der „geschlechtsreifen weiblichen?). Sie erwähnen zwar 1145 Claudia Schiffer“ gipfelt und das Hor- verschiedene Kulturen auf der Welt, mon Testosteron „den Mann konstitu- zwängen jedoch das Triebleben der iert wie der Urknall das Weltall“. Ist es Menschheit in das altbekannte Korsett möglich, daß das Testosteron bei Ihnen der Papa-Mama-Sexualität. noch einen anderen Knall verursacht Tübingen MICHAEL SCHMIDT hat? Krefeld SUSANNE DALHAUS Es ist schon ein erhabenes Gefühl zu wissen, daß die desoxyribonukleinsau- Fasziniert und mit roten Ohren habe ich ren Zungenküsse eines Bonoboweib- mich durch all die neuen Forschungser- chens mehr oder weniger mit dem gebnisse gelesen und weiß nun alles desoxyribonukleinsauer-verklärten Lä- .

BRIEFE

cheln des Nachbartöchterchens beim Wenn man anläßlich des 50. unverhofften Auftauchen ihres Tanz- Jahrestages des Kriegsendes stundenschwarms identisch sind. Die wieder die Bilder der Zerstö- Gene müssen ja um ihrer eigenen Un- rung sieht, wird klar, daß für sterblichkeit willen weitertransportiert den Durchschnittsbürger der werden. jetzigen Rentengeneration Echzell (Hessen) HASSO EITNER erst in späten Jahren Reisen möglich wurden, die viele der heute 30- bis 40jährigen längst Es kann nur jeder Frau, die einen derar- gemacht haben. tigen Penisdenker ihren Partner nennt, geraten werden, diesem eine Fahrkarte Neuenstadt (Bad.-Württ.) für die Zeitmaschine zu kaufen und ihm ELSBETH WEIST nur zwei Worte zu sagen: „Gute Reise!“ Hannover JUTTA TAGHI-KHANI Das Sozialsystem ist ohnehin ULLA K. MEYER auf Selbstzerstörung program- miert. Es schafft genau die Es ist also völlig gleichgültig, wie die na- Probleme, die es lösen soll. türlichen Anlagen von Männern und Verteilt wird nicht von Reich

Frauen dargestellt werden, man(n) ZEFA zu Arm, sondern von Frauen kommt immer zu demselben Schluß: Senioren im Urlaub auf Mallorca zu Männern, von Jung zu Alt, Frauen sollen treu und liebend sein, bei Junge ausgebeutet, Alte beschissen von Familien zu Kinderlosen, Männern muß man es da nicht so genau wobei die Einkommen dort nehmen. Selbst daß Frauen auf Männer Zahl der Kinder berücksichtigen und weggenommen werden, wo sie ge- mit knackigem Po stehen, dient nach dem mehr Beiträge abverlangen, der braucht werden. Meinung der Wissenschaftler nur der Si- sich nicht an den Kosten zur Erziehung Schlüchtern (Hessen) HERBERT JAHNKE cherung einer stabilen Familie. Schließ- der nächsten Generation beteiligt. lich weiß der Psychologe Uwe Hart- Stadthagen SABINE HEITSCH mann, daß Frauen Sex nur um der Liebe willen gewähren. Auf puren Sex stehen Daß die Jungen ausgebeutet und die Al- Wie eine Dampfwalze sie nicht. Was erkennen wir daran? ten beschissen werden, war nach der (Nr. 16/1995, Gedenkstätten: Henryk M. Richtig, daß Hartmann einen Hängehin- Novellierung des Rentengesetzes 1957 Broder über die Entwürfe zum Berliner tern haben muß. abzusehen. Nur Sozialträumer konnten Holocaust-Mahnmal) Augsburg TINA HUTTNER glauben, daß man Jahrzehnte weiter oh- ne angesparte Rücklagen die Renten Broder schreibt zu meinem Modell: Solange Männer und Frauen nicht nach dem Prinzip des Durchlauferhit- „Alles ist erlaubt, wenn es nur dem gu- gleichberechtigt erzogen werden, ge- zers (Einnahmen = Ausgaben) zahlen ten Zweck dient, die Größe des Verbre- schweige denn es im späteren Leben könne. chens symbolisch abzubilden.“ Die Grö- sind, wird man kaum ausmachen kön- Paderborn HERMANN W. JUNKER ße des Verbrechens symbolisch abzubil- nen, welches Verhalten nun anerzogen den war nicht meine Absicht. Meine Ar- und welches naturgemäß ist. beit „Räderwerk“ (Riesenrad) entstand Solange unsere Politiker zu feige sind, aus der Beobachtung der heutigen pri- Berlin CHRISTINE GRABNER dem Bürger zu sagen, daß man nicht vaten und öffentlichen Realität: Trotz „everybody’s darling“ sein und einen Krieg und Holocaust herrscht überall Fälschlicherweise stützt sich Ihr Autor, hohen Lebensstandard finanzieren noch das Recht des Stärkeren. War dies wie viele andere seiner Art, auf lineare, kann, wird auch der Generationenver- monokausale Modelle, die biochemi- trag Makulatur sein. * Von Richard Gruber. sche Veränderungen nicht als Ergebnis, Mittweida (Sachsen) sondern als Ursache für menschliches DR. KARL REISSMANN Verhalten fixieren und glauben, durch diesen plumpen Taschenspielertrick Mir wird übel, wenn gleichzeitig jegliche emanzipatorischen ich daran denke, daß Bestrebungen von Frauen ad absurdum ich mittlerweile auch zu führen, da diese „biologisch widerna- schon im 55. Lebens- türliche“ Veränderungen anstreben. jahr bin, ständig gear- Neuwied CHRISTIANE EHRENBERG beitet habe und bald schon zu der „parasi- tären Elite“ gehö- Mobbing gegen Ältere re. Hier wird bewußt Mobbing gegen die äl- (Nr. 16/1995, Renten: Die Jungen wer- teren Menschen ge- den ausgebeutet) macht. Das greift Wer als kinderloser Mensch heute auch auf die Betriebe durchgängig berufstätig ist, bekommt ei- über, hier werden äl- tere Menschen raus- ne Durchschnittsrente von 2000 bis 2500 gedrängt und in Mark im Monat. Eine Mutter aber, die die Arbeitslosigkeit

vier Kinder erzogen hat, bekommt nur geschickt. H. FLOSS eine Rente von 128,89 Mark. Wir brau- Offenbach Entwurf für Berliner Holocaust-Mahnmal* chen dringend Rentenbeiträge, die die BRIGITTE BATH Ausdruck der Schizophrenie

8 DER SPIEGEL 18/1995 bei den Nazis Terror und Mord, so be- nützt man heute die subtileren Mecha- nismen der strukturellen Gewalt (unge- rechter Welthandel, Konsumterror und so weiter). So entstand die Idee „Volks- fest und Volksvernichtung“, ausgehend von der Grundidee, den sich wiederho- lenden Lauf der Welt als Räderwerk darzustellen. Die Gondeln zur Lustfahrt durch die formal gleichen Güterwag- gons der Todesfahrten zu ersetzen ist Ausdruck der Schizophrenie der NS- Zeit und unserer Zeit. Schrobenhausen (Bayern) RICHARD GRUBER

Wenn ich an die wie eine Dampfwalze arbeitende „Initiative engagierter Bür- ger“ unter Führung von Lea Rosh den- ke, dann fällt mir das alte sarkastische jüdische Sprichwort ein: Gott schütze mich vor meinen Freunden. Vor meinen Feinden kann ich mich selbst schüt- zen. Dreieich (Hessen) ABRAHAM MELZER

Ein Meister des Wortes und der Ironie zerpflückt die Wichtigtuerei der Frau Rosh und die schwülstig-denkfau- len Entwurfserklärungen der Denkmal- Wettbewerber. Bonn WOLFGANG SCHÄFER

Wahrscheinlich sind die Deutschen doch so: Gründlich – zur Finanzierung des Projekts sollen alle Bürger des Landes zu Spenden aufgerufen werden. Gewis- senhaft – ein bundesweiter Wettbewerb wird ausgeschrieben und scheinbar auch größenwahnsinnig, was Kosten und Größe des Mahnmals angeht. Die Grö- ße des Verbrechens, die Schuld der Tä- ter und schon gar nicht das Leid der Op- fer und Überlebenden sind durch ein solches Monumentalwerk auch nur im Ansatz zu „versinnbildlichen“. Köln INGRID RUDOLPH

Nichts ist sinnloser als ein Mahnmal, das kein Bürger freiwillig und aus tiefer Ein- sicht heraus besuchen wird. Nichts ist trostloser als ein Holocaust-Mahnmal, das in Beton, Eisen oder Stahl giganti- schen Ausmaßes als erstarrtes Monu- ment in Herz und Hirn der Menschen „Beklommenheit“ pflanzt. Als mein Mann letztes Jahr in dem Film „Schind- lers Liste“ von Steven Spielberg den jü- dischen Kaufmann Wilhelm Nussbaum spielte, kostete es uns einige Überwin- dung, die Trostlosigkeit des Drehortes im Krakauer Ghetto zu verlassen, um für einen Tag lang Auschwitz zu „besu- chen“. Das Wetter war trostlos, die ver- witterten, roten Ziegelsteinbauten und die alles umzäunenden Stacheldraht- konstruktionen waren trostlos – und dann, der kälteste Ort der Erde – Auschwitz-Birkenau. Baut einfach die

DER SPIEGEL 18/1995 9 .

BRIEFE

Eisenbahnrampe dieses Todeslagers als wand“ klagt, ist nicht so recht verständ- Mahnmal in die Mitte . So einfach lich. In der letzten Wahlperiode mußte und normal sieht der Vorhof zur Hölle sein Vorgänger noch 319 Abgeordnete aus. Alles aussteigen – rechts die Frauen, auf Trab bringen – jetzt sind’s nur noch links die Männer – und die Kinder? . . . 294. Wenn ihm auch das noch zuviel ist, Und laßt diese Rampe des Todes verwit- könnte er ja vorschlagen, daß CDU und tern, so wie sie jetzt schon in Auschwitz- CSU endlich eigenständige Fraktionen Birkenau verwittert ist. Nur so läßt sich bilden. das Erinnern an Massenmord ertragen; March-Buchheim (Bad.-Württ.) nur so ist es richtig. BERND ULRICH REIMANN Bernau (Bayern) ANKE GORDON Der populistische Tenor des Artikels, nach dem eine Verkleinerung des Deut- Anscheinend hat die Jury vor lauter Ge- schen Bundestages die Problemlösung im denken das Denken vergessen und diese Hinblick auf die Handlungsfähigkeit des einmalige Gelegenheit verstreichen las- Parlaments darstelle, ohne jedoch Funk- sen, an den Verlust der Menschen zuerin- tionszusammenhänge zu hinterfragen, nern. Der Mut, den man braucht, um sich erscheint mir beunruhigend. In diesem bisin die letzte Konsequenz mit dem The- Kontext schreiben Sie: „So ziert Renate ma einzulassen, hat den Juroren offen- Rennebach die SPD-Fraktion als sekten- sichtlich gefehlt. politische Sprecherin“ und kommentie- Hünfelden (Hessen) TOBIAS WINTER ren das als „Absurdität“. Der Titel sek- Am Wettbewerb beteiligter Künstler tenpolitische Sprecherin der SPD-Frakti- K. B. KARWASZ Vollbesetzter Bundestag: Eindruck von Selbstbedienung Populistischer Tenor on existiert offiziell nicht. Im Rahmen meiner Arbeit als ordentliches Mitglied (Nr. 16/1995, Abgeordnete: Versteck- desBundestages hat sichdie intensive Be- spiel mit den Diäten) schäftigung mit Sekten, insbesondere Abgesehen von der dringend notwendi- Scientology, über Kooperationen mit gen Verkleinerung des Deutschen Bun- Sektenbeauftragten verschiedener Bun- destages auf ungefähr 500 Abgeordnete, desländer während der letzten Legisla- schlage ich vor, von der nächsten Wahl an turperiode ergeben und ob der Gefähr- zur Regelung von 1949 zurückzukehren lichkeit von Scientology als sehr dringlich und jedem Wähler nur eine Stimme zu ge- erwiesen. ben, die gleichzeitig für die Wahl eines Berlin RENATE RENNEBACH Kandidaten und dessen Partei gilt, weil MdB/SPD die Parteien dann gezwungen wären, Kandidaten aufzustellen, die außer der Durch die Erhöhung aller Abgeordne- Parteizugehörigkeit auch persönlich be- tendiäten, in Höhe der jährlichen Ren- eindrucken. tenanpassung, also diesmal 0,61 Prozent, Berlin DR. ALFRED VOGELBACHER würde eine Steigerung der Diäten er- Freie Universität reicht werden, welche dem Lohnzuwachs entspricht, und so würde auch nicht der Warum der Parlamentarische Geschäfts- Eindruck der Selbstbedienung entste- führer der CDU/CSU-Fraktion, Joachim hen. Hörster, über „erheblichen Zeitauf- Uetersen RALF FEIL Werbeseite

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BRIEFE MNO Barbarische Kunst 20457 , Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 (Nr. 16/1995, Spanien: Stierkampf wird CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de/spiegel Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006. Telefax (040) 30072898, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. zum Massenspektakel) HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 24 22 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glü- sing, Avenida Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro Zu keinem Zeitpunkt galt die Corrida CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska als Hobby reaktionärer Machos und ist von Roques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, auch heute nicht zu einem Massenspek- . REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- 11 223 Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 takel geworden. Stierkampf war und ist Warschau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, . Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 84 74 Washington: Karl- eine Kunst, das können auch deutsche Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Adel S. Elias, Nikolaus von Heinz Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) Aficionados bestätigen. Festenberg, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela Friedrichsen, An- . gela Gatterburg, Henry Glass, Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. 347 5222, Telefax 347 3194 Wien: Dr. Martin Pollack, Schön- Volker Hage, Dr. Hans Halter, Werner Harenberg, Dietmar Hawra- brunner Straße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax Flensburg AXEL URBAN nek, Manfred W. Hentschel, Hans Hielscher, Wolfgang Höbel, 587 4242 Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim Hoelzgen, Dr. Jürgen Hoh- ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- meyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Ulrich Jaeger, me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Sabine Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra Kleinau, Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Christiane me, Bettina Janietz, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd Kühnl, Wulf Küster, Dr. Ro- Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Ju- main Leick, Hans Leyendecker, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, lia Saur, Detlev Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mas- Schumann, Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Wein- colo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Werner Mey- berg, Matthias Welker, Monika Zucht er-Larsen, Michael Mönninger, Joachim Mohr, Mathias Müller SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- von Blumencron, Bettina Musall, Dr. Jürgen Neffe, Dr. Renate bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Claudia Pai, Rainer Paul, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Dietmar Pieper, Norbert F. Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johan- M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, nes Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen Schimmöller, Roland Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters Cordt Schnibben, Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schümann, Matthias Schulz, Birgit VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Schwarz, Ulrich Schwarz, Dr. Stefan Simons, Mareike Spiess- orama, Außenpolitik, Moskau/Bonn, Sozialpolitik, Staatsakte, Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, Olaf Stampf, Hans-Ulrich Stoldt, Pe- Kriegsende: Dr. Thomas Darnstädt; für Atomenergie, Plutonium- ter Stolle, Barbara Supp, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Affäre, Forum, Flüchtlinge, Wahlen, Geheimdienste, Hochschu- Hans-Jörg Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, len, Ernährung, Titelgeschichte (S. 134): Christiane Kohl; für Zeit- Alfred Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos geschichte: Dr. Peter Zolling; für Medien, Kiosk: Gerd Meißner; für Widmann, Erich Wiedemann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Pe- Kulturgeschichte, Manieren, Fernseh-Vorausschau: Wolfgang ter Zolling, Helene Zuber Höbel; für Trends, Elektronikindustrie, Energie, Handel, Mobil- funk, Bilanzen, Titelgeschichte (S. 140): Armin Mahler; für Nazi- RUBIO REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Opfer, Panorama Ausland, Kriegsverbrechen, USA, Frankreich, Stierkampf in Spanien gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Großbritannien, Japan: Dr. Romain Leick; für Film, Theater, Sze- Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, ne, Bestseller: Dr. Martin Doerry; für Prisma, Raumfahrt, Genthe- Keine Kultur Walter Mayr, Harald Schumann, Gabor Steingart, Kurfürstenstra- rapie, Umwelt, Flugunfälle, Materialforschung, Automobile, Hirn- ße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax forschung: Klaus Franke; für Boxen: Heiner Schimmöller; für na- 25 40 91 10 . Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf mentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Persona- Das brutale und tierquälerische Schau- Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Nie- lien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für jahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Titelbild: Thomas Bonnie; für Gestaltung: Manfred Schnieden- spiel „Stierkampf“ kann nicht als Kultur Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, harn; für Hausmitteilung: Hans Joachim Schöps; Chef vom Dienst: bezeichnet werden, sondern stellt eine Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Tele- Horst Beckmann (sämtlich Brandstwiete 19, 20457 Hamburg) . fax 21 51 10 Dresden: Sebastian Borger, Christian Habbe, Kö- DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich barbarische Quälerei dar und hat mit nigsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Te- . Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Heldentum nun wirklich nichts zu tun. lefax 567 0275 Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Ri- der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Cor- chard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) delia Freiwald, Dr. Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg Insul (Rhld.-Pf.) KAROLA WELTERSBACH . Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß- Hauke Janssen, Günter Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krau- bongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 . spe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Walter Leh- Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 Hanno- mann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Knäste sind voll ver: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. . Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Mül- (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 Karlsruhe: Dr. Rolf Lam- ler, Bernd Musa, Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Niel- (Nr. 16/1995, Rauschgift: Eduard Lintner precht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, sen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, über Einwegspritzen für Häftlinge) . Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 Mün- Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Andrea chen: Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Rei- Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- Endlich hat auch der oberste Drogenbe- mann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tänzer, Dr. Wilhelm Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltor- Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Timpke-Hamel, kämpfer der Bundesregierung erkannt, damm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, Dieter Wessen- daß Spritzentausch in den Justizvollzugs- 56 99 19 . Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, dorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Te- anstalten dem Betäubungsmittelgesetz lefax 29 77 65 BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- nicht im Wege steht. Dabei hat der baye- REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, shington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax rische Innenminister recht, wenn er Sprit- . 283 0475 Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG zenautomaten für den „Ausdruck einer 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM verfehlten Drogenpolitik“ hält. Denn zu 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM solchen Maßnahmen sind wir einfach ge- Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 . Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM zwungen, um die gröbsten Auswirkun- 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 gen einer Drogenpolitik zu bekämpfen, Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; die auf Prohibition, Abschreckung und Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Repression setzt. Das Resultat ist be- Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; kannt. Die Knäste sind voll und die Insas- rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Tele- München: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, sen auch. tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 226 30 35, Telefax 29 77 65 Bonn AXEL STEIN 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner AK-Drogenpolitik beim Juso-Bundesvorstand 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck zu veröffentlichen. 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qi- jiayuan 7. 2. 31, Peking, Tel. (008610) 532 3541, Telefax MÄRKTE UND ERLÖSE: Werner E. Klatten 532 5453 . Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) GESCHÄFTSFÜHRUNG: Rudolf Augstein, Karl Dietrich Seikel Eine Teilauflage dieser SPIEGEL-Ausgabe enthält einen Postkartenbeikleber der Firma CompuServe, DER SPIEGEL (USPS No. 0154-520) is published weekly. The subscription price for the USA is $290.00 per annum. Columbus, sowie einen Beikleber der Firma DeTe- Distributed by German Language Publications, Inc., 153 South Dean Street, Englewood, NJ 07631. Second class Mobil, Bonn. postage is paid at Englewood, NJ 07631 and at additional mailing offices. 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12 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

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DEUTSCHLAND PANORAMA

„einem ziemlichen Sauhaufen“. Im unübersichtli- chen Apparat, der rund 15 000 Mitarbeiter beschäf- tigt, werden Hunderte von Millionen Dollar ver- schlampt. Zwar hat die Uno zwölf Unterorganisationen, aber nicht einmal für die New Yorker Zentrale gibt es ei- nen Organisationsplan. Es fehlen Registraturen für die Akten, Checklisten für Uno-Operationen. Jede Friedensmission beginnt organisatorisch bei Null. Paschke will jetzt erstmals eine schlagkräftige Revi- soren-Truppe aufbauen, die jederzeit Zugang zu sämtlichen Akten und Informationen erhalten soll. Kleine Inspektoren-Teams sollen weltweit Fälle

SIPA M. DARCHINGER eklatanter Mißwirtschaft untersuchen können. Uno-Hauptquartier in New York Paschke Bei dem Versuch, Personal abzubauen, stößt der Vize-Generalsekretär auf harten Widerstand. Viele Uno Staaten der Dritten Welt protestierten gegen Paschkes An- regung, die Konferenz für Handel und Entwicklung „ganz grundlegend“ zu überprüfen, die sich vor allem um Ent- „Ziemlicher Sauhaufen“ wicklungsländer kümmert. Der deutsche Vize-Generalsekretär der Uno, Karl Theodor Einen kleinen Erfolg kann der Deutsche immerhin verbu- Paschke, macht sich unbeliebt. Während die Amerikaner chen. Bisher verfügte die Uno nicht über Sanktionsmittel vom Oberrevisor der Vereinten Nationen schnelle Erfolge gegen Disziplinarvergehen, selbst schwerster Amtsmiß- im Kampf gegen Korruption, Mißwirtschaft und Personal- brauch blieb ungesühnt. Schlendrian verlangen, sperren sich viele Staaten der Drit- Doch jetzt steht in New York erstmals eine Uno-Bedienste- ten Welt gegen dessen Reformvorschläge. te vor Gericht: Sie hatte Reiseschecks über 28 000 US-Dol- Der Deutsche, der seit November an der Reorganisation lar gestohlen. Die Diebin wird das Geld zurückzahlen müs- der Uno arbeitet, quält sich, so ein enger Mitarbeiter, mit sen – auch eine Premiere für die Weltorganisation.

Union erreichen. In diesem Falle Wachstum und Beschäfti- Sozialdemokraten stehe er erneut als Spitzen- gung“, mit dem die Kreditan- Kohl baut kandidat zur Verfügung. Er stalt für Wiederaufbau die Harte Strafe sei der einzige, der für die Gründung innovativer Un- auf grüne Wähler Union eine absolute Mehr- ternehmen fördert, werde für Abweichler Helmut Kohl denkt über heit holen könne. nahezu komplett aus dem Ei- Die SPD verschärft ihren neue Mehrheiten ohne die genkapital der ehemaligen Abgrenzungskurs gegenüber FDP nach und will bei den Vereinigung Staatsbank der DDR finan- der PDS. Im Parteiordnungs- Grünen wildern. Vor dem ziert. Doch von 297 im ver- verfahren gegen Michael CDU-Bundesvorstand am Ost-Geld gangenen Jahr geförderten Müller, einen früheren Bun- vorigen Montag sprach der Unternehmen kämen, so destagskandidaten aus Leip- Kanzler ernsthaft von der für den Westen Ringstorff, nur 23 aus den zig, verhängte die Bundes- Möglichkeit, daß die Union Mecklenburg-Vorpommerns neuen Bundesländern. Ring- schiedskommission die unter- bei kommenden Bundestags- Wirtschaftsminister Harald storff kritisiert die Verga- halb des Parteiausschlusses wahlen die absolute Mehr- Ringstorff (SPD) wirft Bun- bepraxis als einen Fall schärfste Strafe: Müllers heit erringen könnte – durch deswirtschaftsminister Gün- von „Ost-West-Transfer“. Im Rechte als Parteimitglied ru- erhebliche Zugewinne aus ter Rexrodt (FDP) vor, ost- übrigen habe Bundesfinanz- hen für drei Jahre. Der Pfar- dem Wählerpotential der deutsche Vermögenswerte minister Theo Waigel (CSU) rer hatte im Wahlkampf 1994 Grünen. Nach neuesten Er- für das Wirtschaftswachstum den „Löwenanteil“ vom Ei- in einem offenen Brief „neun kenntnissen der Demosko- im Westen zu verwenden. genkapital der DDR-Staats- Gründe für das Zusammen- pen wachse im Potential der Das im vergangenen Jahr 680 bank gleich für die Konsoli- gehen“ seiner Partei mit Grünen „ganz enorm“ der Millionen Mark teure „Akti- dierung seines Haushalts ein- den SED-Nachfolgern aufge- Anteil der staatsbejahenden onsprogramm für mehr gestrichen. zählt. Daraufhin war ihm die und wertkonservativen Wäh- Kandidatur entzogen wor- ler, die sich mit dem Partei- den; der sächsische SPD- programm der Grünen im- Vorstand beantragte zudem, mer weniger abfinden könn- Müller aus der Partei zu rele- ten. Im kleinen Kreis hatte gieren. Die Landesschieds- Kohl zuvor über den Fall spe- kommission aber wollte Mül- kuliert, daß die FDP auf- ler nur für ein Jahr von sei- grund von weiteren Niederla- nen Rechten suspendieren. gen bei Landtagswahlen als Das Bundesgremium ging Regierungspartner in Bonn mit der Begründung über das ausfallen könnte. Dann, so Urteil hinaus: Der Leipziger der CDU-Vorsitzende, solle Genosse habe sich mit seinen die Union versuchen, über Thesen „eines groben Ver-

Neuwahlen die absolute ACTION PRESS stoßes gegen die Grundsätze Mehrheit im Bundestag zu Rexrodt (M.) im brandenburgischen Eisenhüttenstadt der Partei schuldig gemacht“.

14 DER SPIEGEL 18/1995 .

Republikaner Fundamentalist Schönhuber Bei den vom Bundesin- nenministerium inzwischen als rechtsextremistisch einge- stuften Republikanern (Rep) verschärfen sich die innerpar- teilichen Konflikte. In einem Rundschreiben an Partei- freunde fordert der frühe- re Bundesvorsitzende Franz Schönhuber, 72, einen radi- kaleren Kurs der Partei. Jetzt sei die „Zeit der Fundamen- T. KLINK Schönhuber, Schlierer

talisten“ gekommen – als „Antwort auf hemmungslose Liberalisierungstendenzen“. Schönhuber möchte mit an- deren Rechtsextremen, „die wie wir ausgegrenzt sind“, Front gegen die „Orgien des Nationalmasochismus“ ma- chen. Der Schönhuber-Nach- folger und Bundesvorsitzen- de Rolf Schlierer, 40, ver- wahrt sich in einem Brief an Schönhuber gegen dessen Vorschläge, die „zu einer weiteren inneren Destabili- sierung der Partei beitragen“ würden. Schlierer will in die auseinanderbrechende Rechtspartei „Ruhe und Zu- versicht hineintragen“ und den „gegen uns geführ- ten Vernichtungsfeldzug kühl und ohne fundamentali- stischen Eifer parieren“. In seinem Schreiben, das im Rep-Bundesvorstand kur- siert, droht Schlierer mit Rücktritt. Für einen „inter- nen Streit“, der „sämtliche Kräfte lähmt“, stehe er „nicht zur Verfügung“. Werbeseite

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DEUTSCHLAND

Atomenergie KONSENS GLEICH NONSENS Von „keinerlei Zweifeln angerührt“ (Gerhard Schröder) walzt Umweltministerin Angela Merkel in der Atompolitik vor- an. Hardliner in ihrem Ministerium haben Oberwasser. Selbst die Nuklearindustrie hätte es gern etwas behutsamer. Nach dem brachial durchgesetzten Castor-Transport schwinden die Chancen für einen Energiekonsens.

dsiehtdieHalleaus und gähnend leer. ÖAuf den polierten Betonboden sind gelbe Kreuze gemalt, Markie- rungen für die Lagerplät- ze von 420 Atommüll- behältern. Bis zum vergangenen Dienstag standen nur ein paar leere Tanks in dem atomaren Zwischenlager Gorleben herum. Dann rollte, Ortszeit 17.11 Uhr, unter blauer Plane ein sechs Meter langer Stahlkoloß heran. Knir- schend setzte ein Lauf- kran den Atomcontainer Castor auf dem Hallen- boden ab –Ende einer 55 Millionen Mark teuren Eisenbahnfahrt. In der Vorstandsetage der Energieversorgung Schwaben im fernen Stuttgart stießen die Ma- nager mit Rotwein auf den gelungenen Castor- Transfer vom Meiler

Philippsburg nach Gor- M. MEYBORG / SIGNUM leben an, in Bonn äußer- Atomgegner bei Gorleben*: „Deutschland im Aufruhr“ te Bundesumweltmini- sterin Angela Merkel (CDU) „Zufrie- kern seit nunmehr drei Jahren ange- cen für einen Kompromiß. Schröder: denheit“: Zwölf Jahre nach der Fertig- strebte breite Übereinkunft zur Lösung „Ich bin skeptisch.“ stellung konnte die Atomgemeinde end- der Energieprobleme, ist seit Dienstag Der Niedersachse, einstmals mit dem lich ihren wohl umstrittensten Lager- ferner denn je. Aufgrund des unge- Merkel-Vorgänger Klaus Töpfer schon schuppen in Betrieb nehmen. schickten Timings der Atomministerin fast d’accord, zeigte sich verblüfft über Die Siegesstimmung könnte freilich hatte sich die Runde zeitgleich mit dem den knallharten Kurs der studierten bald verflogen sein. Brennende Straßen- Atomtransport getroffen, ausgerechnet Physikerin: „Die ist von keinerlei Zwei- blockaden, gesperrte Bahngleise, An- am Vorabend des neunten Jahrestages feln angerührt.“ schläge auf Elektroleitungen, Prügel- der Tschernobyl-Katastrophe. Auch unter Strommanagern wurde und Wasserwerfereinsätze der Polizei – Während draußen an der Bahnstrecke die von Merkel angezettelte Machtpro- die Castor-Fahrt ins symbolbehaftete des Castor-Containers Montag nacht be um den unnötigen Castor-Transport Gorleben, um das seit bald 20 Jahren Demonstranten und Polizisten einander mit gemischten Gefühlen verfolgt. Der gestritten wird, war teuer erkauft. Bei- bedrohlich fixierten, blafften sich die Sprecher des Badenwerk-Vorstandes nahe über Nacht lebte eine längst totge- Gesprächspartner in Bonn nicht minder Gerhard Goll etwa war „gar nicht begei- glaubte Anti-Atom-Bewegung wieder aggressiv an. Selbst der hannoversche stert“ über die erzwungene Atomfracht. auf – die Neue Zürcher Zeitung sah Ministerpräsident Gerhard Schröder Die Vorstände der Elektrizitätsver- „Deutschland im Aufruhr“. (SPD), als Initiator der Gespräche noto- sorgungsunternehmen (EVU) verspre- Schwerwiegender noch: Der Energie- rischer Optimist, sieht kaum noch Chan- chen sich nichts mehr von unnützen konsens, jene von einer Bonner Runde Atomschlachten. Ihnen geht es um die aus CDU/CSU-, FDP- und SPD-Politi- * Am 24. April. langfristige Absicherung ihrer Gewinne

18 DER SPIEGEL 18/1995 . K. HOLZNER / ZEITENSPIEGEL Castor-Abtransport aus Philippsburg*: Brennende Straßenblockaden, gesperrte Bahngleise K. GREISER Kernkraftgegner in Gorleben (1977): „20 Jahre Anti-Atom-Erfahrung“

und um ein günstiges Klima für künftige wissen, „hält die Bundesregierung so Investitionen. Deshalb wollen sie mög- verbissen“ an der Option auf einen neu- lichst lange Laufzeiten für ihre Reakto- en Reaktor fest: „Verbissener als die ren und eine tragfähige Entsorgungsre- Elektrizitätsversorgungsunternehmen?“ gelung für den Strahlenmüll. Triumphierend zitierte Wirtschaftsmi- An neuen Atomkraftwerken sind die nister Rexrodt daraufhin aus einem Stromer angesichts erheblicher Überka- Brief des Bayernwerk-Chefs Otto Ma- pazitäten (siehe Grafik Seite 20) gar jewski an Bundeskanzler Helmut Kohl. nicht interessiert. Doch Atomaufseherin In dem von Merkel eigens bestellten Merkel (Spitzname: „Merkelnix“) bleibt Schreiben befürwortet der Strommana- auf Härtekurs. Schon als DDR-Bürge- ger „uneingeschränkt die Offenhaltung rin war ihr die „Umweltszene fremd“. einer realen und belastbaren Option für Jetzt will sie, zusammen mit Kernener- die künftige Nutzung der Kernenergie“. gie-Fan Günter Rexrodt (FDP), die Besondere Hoffnung setze man auf das Stromproduzenten zum Jagen tragen. deutsch-französische Gemeinschaftspro- „Warum“, wollte Sozialdemokrat jekt eines neuen Druckwasserreaktors, Schröder bei den Konsensgesprächen der sicherer sein soll als herkömmliche

H. SCHWARZBACH / ARGUS Meiler. Atomministerin Merkel* * Oben: am 24. April; unten: im März im Zwi- Eine Stunde später bekam Schröder „Szene fremd“ schenlager Gorleben. auch die zweite Seite des Majewski-

DER SPIEGEL 18/1995 19 DEUTSCHLAND

Zuviel Saft Stromangebot und Stromverbrauch in der westdeutschen Atommüll-Lager öffentlichen Versorgung; Angaben der Leistung in Megawatt in Deutschland Mögliche Ge- 90 000samtleistung 91 000 90 600 inklusive zuge- Gorleben kaufter Leistung 71 000 Nettoleistungs- 69 200 69 500 Asse Morsleben angabe der Be- Ahaus treiber* Salzgitter (Schacht Konrad) Jülich Höchster realer Tages- 58 100 bedarf 61 600 62 300 Mitterteich 1987/88 1990/91 1993/94 Karlsruhe *Die Kraftwerksbetreiber geben ihre Auslastung im Schnitt mit 87 Prozent an. Von ihrer maximalen Leistungsfähigkeit ziehen sie Reserven ab für vorhersehbare Wartungs- Endlager Zwischenlager für leicht- arbeiten, sowie eine noch größere Reserve für unerwartete Stillstände. Ohne diese in Betrieb und mittelradioaktiven Müll großzügig kalkulierte Größe liegt die Überkapazität bei mehr als 30 Prozent. geplant für hochradioaktiven Müll

Briefes zu Gesicht. Da klang die Atom- ne den Grunddissens zu verleugnen, in terkommissionen werden ganz abge- Trompete plötzlich sehr gestopft. praktischen Fragen wie Atommüllent- lehnt – es könne sich ja, fürchten die „Unbeschadet unseres grundsätzli- sorgung oder Energieeinsparung Lösun- Merkel-Scharfmacher, um „ein im chen Realisierungswillens“, schreibt der gen erarbeite. Sich gegenseitig überzeu- Zweifel pluralistisch besetztes Gremi- bayerische Vorstandschef weiter, könne gen zu wollen sei zwecklos. Der Saarlän- um“ handeln, das liebgewordene Ein- „in der derzeitigen Phase“ weder Si- der: „Wenn Frau Merkel das will, soll- richtungen wie die atomfreundliche Re- cherheits-Standard noch Wirtschaftlich- ten wir besser aufhören.“ aktorsicherheitskommission „desavou- keit des geplanten Reaktors „verbind- Genau das aber scheint die Atomauf- ieren und damit letztlich funktionsunfä- lich beurteilt werden“. seherin anzustreben. Die Ostdeutsche, hig machen könnte“. Genüßlich wie vor ihm Rexrodt las glaubt Schröder, „ist der Auffassung, Merkel-Vorgänger Töpfer hatte ei- nun Schröder vor: „Wir sind deshalb der Staat hat immer Recht“. Den Sym- nen vergleichsweise versöhnlichen Kurs der Meinung, daß sich Politik und Wirt- bolgehalt des Atomkampfes um Gorle- verfolgt. So schaltete er nach der Wen- schaft überfordern würden, wenn be- ben könne Merkel gar nicht nachvollzie- de schleunigst den schrottreifen DDR- reits heute eine definitive Bauentschei- hen, meint auch der Grünen-Fraktions- Reaktor Greifswald ab. Nachfolgerin dung für einen bestimmten Zeitpunkt chef Joschka Fischer: „Der fehlen 20 Merkel erklärt noch heute, der Meiler festgelegt werden sollte.“ Jahre Anti-Atom-Erfahrung.“ sei „ordentlich betreut“ worden. Den Eine solche Entscheidung aber hat- Betonköpfen in der Unionsfraktion ten sich die Umweltministerin und ihr hämmerte Töpfer immer wieder ein, es Wirtschaftskollege von den Stromma- „Kernenergie ist gebe keinen „Staatsreaktor“, solch ein nagern erhofft. Und eben dazu verlan- kein Selbstzweck Bau sei allein Sache der Industrie. Mer- gen sie auch ein uneingeschränktes Ja kel betrachtet selbst die EVU-Manager der SPD. unseres Tuns“ als laue Kompromißler. Während der nachtblaue Atomzug Seit einiger Zeit drängt sie Strom- die Republik durchquerte und Demon- Beamte in deutschen Atombehör- Vorständler zu mehr Forschheit. Die stranten im Schein flackernder Feuer den, die Einblick in die Vorlagen von Sicherheitskriterien für einen Neubau, Anti-Atom-Lieder sangen, verhakelten Merkels Mitarbeitern haben, bemerken lockt die Ministerin, „dürften nicht sich Sozialdemokraten und Koalitions- auch fachliche Unsicherheit: „Die überspannt werden“. Die strengen An- politiker in eine absurde Scheindebatte übernimmt immer alles eins zu eins forderungen an die Beherrschung einer über einen Reaktor, der allenfalls im von ihren Referenten.“ Im Merkel- Kernschmelze, auf die Schröder und Jahr 2010 benötigt werden könnte: Haus, beobachten Ministeriale, führen Töpfer sich schon geeinigt hatten, will „Atomkonsens gleich Nonsens“, dichte- plötzlich wieder Hardliner das Wort, sie wieder aufweichen. ten Kernkraftgegner tags darauf. die, sagt ein Beamter, „bei Töpfer Doch die EVU haben lediglich be- Mehrfach hatten die Bonner Ge- schon als Dissidenten in der Ecke stan- schlossen, 50 Millionen Mark in ein sprächspartner Montag abend mit Ab- den“. „technisches Grundkonzept“ (basic de- bruch der Konsensrunde gedroht. Etwa der Unterabteilungsleiter Si- sign) für die deutsch-französische Re- Wenn die SPD nicht zustimme, so die cherheit kerntechnischer Einrichtungen aktor-Planung zu stecken. Weitere 50 gespenstische Volte der Regierungs- Hubert Steinkemper oder der Rechts- Millionen kommen von Siemens, 100 fraktion, werde es auch die beim Kli- referent Horst Schneider. Atomjurist Millionen steuern die Franzosen bei. magipfel versprochenen Maßnahmen Schneider fiel in Kollegenkreisen schon Oberflächlich betrachtet viel Geld zur Energieeinsparung nicht geben. durch „unsinnige Weisungen“ und und mithin ein Beleg für die Entschlos- Saar-Ministerpräsident Oskar Lafon- „ideologisch verbiesterte Briefe“ auf. senheit der Industrie, den Reaktor taine blaffte zurück: „Wenn Stoiber un- Steinkemper ist Mitverfasser eines in- auch zu bauen. Doch die Planungsmil- bedingt einen Reaktor bauen will, soll ternen Strategiepapiers, das sich wie lionen lassen sich auch ohne Reaktor- er doch.“ eine nuklear-politische Kriegserklärung bau verkraften, denn Siemens beschäf- Sinnvoll sei das Beisammensein nur, liest: Ständig ist darin von „der Gegen- tigt damit Ingenieure für Umbau und analysierte Lafontaine, wenn man, oh- seite“ die Rede, unabhängige Gutach- Wartung der laufenden Atommeiler,

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die ohnehin dringend gebraucht wer- Die Stagnation hat Kanzler Helmut den. Außenpolitik Kohl, aus Rücksicht auf die CSU, ver- Ob ein neuer Reaktortyp mit höhe- ordnet. Außenminister Klaus Kinkel rem Sicherheitsniveau jedoch die nu- (FDP) beugt sich dem Diktat. Er unter- kleare Kontroverse entschärfen kann, warf sich bei einer Regierungserklärung wird in der Atomgemeinde bezweifelt. Bittere Mitte März sogar der Zensur des Kanz- Preussen-Elektra-Chef Hans-Dieter Ha- lers und des CSU-Chefs Theo Waigel – rig etwa meint: „Kernenergie ist kein ein Novum in den Binnenbeziehungen Selbstzweck unseres Tuns.“ Der Vorteil Gefühle der Koalition. der Atomkraft gegenüber „anderen Dabei hat Havel eine große Geste der Energieträgern“ sei, bedingt durch End- Kanzler Kohl behindert Versöhnung Versöhnung gewagt. Die Vertreibung lagerprobleme und das „ausstiegsorien- und Ausgleich mit Prag. Aus Rück- der Sudetendeutschen aus ihrer Heimat tierte Genehmigungsverhalten“ einiger in Böhmen und Mähren nach dem Ende Aufsichtsbehörden, „dramatisch ge- sicht auf die CSU nötigt er den des Zweiten Weltkriegs nannte er schrumpft“. Außenminister zu barschen Tönen. „großes Unrecht“. Doch die unverhoff- Doch Merkel möchte, parallel zur ten Worte sorgten für Unzufrieden- technischen Entwicklung des neuen heit. Meiler-Typs, ein „standortunabhängiges oman Herzog hat sich „ganz fest“ Seinen Landsleuten, inklusive Pre- Genehmigungsverfahren“ dafür durch- vorgenommen, daß er sich als mier Va´clav Klaus, ging der Humanist ziehen – viel zu schnell für die Industrie. R Bundespräsident „nicht in die Ge- Havel entschieden zu weit, der Sudeten- Einen Vorteil immerhin sieht ein EVU- schäfte der Exekutive“, also der Regie- deutschen Landsmannschaft und ihrer Manager in dem Verfahren: „Das ist die rung, einmischen wird. Nun hält er die politischen Lobby, der CSU, nicht weit billigste Variante, etwas dynamisch auf Zeit für gekommen, mit seinem Grund- genug. die lange Bank zu schieben.“ satz zu brechen. Prompt blockierte die CSU 1991/92 Das Hauptproblem der Branche, die Herzog will sich „als Privatmann“ an den deutsch-tschechischen Vertrag über Entsorgung, hat die forsche Ministerin der Begrenzung der Schäden versuchen, freundschaftliche Zusammenarbeit. Sie aber auch mit dem Castor-Coup nicht die von der Regierung Kohl/Kinkel im sorgte dafür, daß Fragen einer Entschä- gelöst. Das Zwischenlager Gorleben ist Verhältnis zur Tsche- digung der Sudeten- nur für 40 Jahre ausgelegt, hernach soll- chischen Republik an- deutschen ausgeklam- te der Strahlenmüll nach ursprünglicher gerichtet worden sind. mert wurden – ein Konzeption ins Salz herabgelassen wer- Er wird sich am 1. und 2. Grundstein für die den. Ob das geplante Endlager, eben- Mai zu einem „Privat- Fortsetzung der Quere- falls in Gorleben, je in Betrieb gehen besuch“ in Prag aufhal- len, als sei der Kalte wird, ist fraglich. Noch wird wegen Ei- ten. Der tschechische Krieg nicht vorbei. gentumsrechten und geologischen Pro- Präsident Va´clav Havel Als nächstes weiger- blemen darum gestritten. hat ihn eingeladen. te sich Bonn, die etwa Auch das oberirdische Lager von Wenigstens die bei- 17 000 tschechischen Gorleben ist mit dem ersten Castor- den Staatsoberhäupter KZ-Opfer zu entschä- Tank keineswegs für alle Lieferungen tun sich einträchtig zu- digen. Das CSU-Junk- geöffnet. Zwar kündigte Merkel gleich sammen. Denn ihnen tim ist in kraft: kein fünf weitere Atomsendungen an, doch mißfällt der Stillstand Ausgleich für KZ- die sind teils noch gar nicht genehmigt. im Verhältnis zwischen Häftlinge ohne Genug- Und sobald ein Bescheid ergeht, warnt Bonn und Prag. Daran tuung für die Sudeten- der Hamburger Anwalt Nikolaus Pion- trägt vor allem die Stur- deutschen.

tek, „werden wir sofort dagegen kla- heit der deutschen Re- FOTOS: J. H. DARCHINGER Da wird kaltherzig gen“. gierung Schuld. Tschechien-Präsident Havel gegeneinander aufge- Doch selbst in der Entsorgungsfrage kennt die Umweltministerin Merkel ei- nen Weg. Während die EVU-Manager nach langem Gezerre begonnen haben, sich von der Wiederaufarbeitung abge- brannter Brennelemente (und der damit verbundenen Produktion des Bomben- stoffs Plutonium) zu verabschieden und statt dessen die direkte Endlagerung des Kraftwerkmülls befürworten, tat Mer- kel Montag abend ihre gegensätzliche ganz „persönliche Meinung“ kund. Sie findet das Zersägen der Brennstä- be und die Wiederverwendung des Plu- toniums für neue sogenannte MOX- Brennelemente nach wie vor besser als derlei „Wertstoffe“ (Merkel) im Gor- lebener Salz zu verbuddeln. Ein „Wertstoff“ aber kann Plutonium nur für jemanden sein, der überdies mehrere Schnelle Brüter im Verbund mit zahlreichen Leichtwasserreaktoren bauen will – diesen Traum haben die Strombosse längst ausgeträumt. Y Außenminister Kinkel: „Es ist auch anderen Unrecht geschehen“

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rechnet – und der Mann des Ausgleichs, Unrecht geschehen. Wer heilen will, chen ist aus dieser Warte zweitran- Va´clav Havel, bleibt mit seiner histori- muß die ganze Wunde, nicht nur einen gig. schen Geste allein. Teil von ihr versorgen“. Die CSU schmeichelt den rund drei Der tschechische Staatspräsident Das Junktim war bekräftigt. Millionen nach Kriegsende – meist nach mußte sich vom deutschen Außenmini- Die Geschichte hat eine groteske Bayern – zugewanderten Sudetendeut- ster sogar ungewöhnlich kraß kritisieren Pointe. Der Außenminister und FDP- schen seit jeher, sie seien, neben Alt- lassen, nachdem er in einer Grundsatz- Vorsitzende Kinkel – den Ex-Bundes- bayern, Schwaben und Franken inzwi- rede in der Prager Karls-Universität präsident Richard von Weizsäcker in- schen „der vierte Stamm Bayerns“. Sie Mitte Februar dazu aufgerufen hatte, zwischen in nicht einmal ganz kleinem hegt und pflegt die Empfindlichkeiten die Vergangenheit ruhenzulassen und Kreis eine „Flasche“ nennt – mußte sei- der Vertriebenen und die der Nachkom- wenigstens eine „Zeit des Dialogs“ zu nen Redetext Helmut Kohl und Theo menschaft. Denn die meisten davon sind beginnen. Es gelte, so Havel in seinem Waigel zwecks Korrektur und Genehmi- eine sichere Bank bei den Wahlen in zweiten Anlauf zur Versöhnung, „das gung vorlegen. Bayern und für Bonn. teuflische Rad endloser Abrechnung Im Koalitionsgespräch hatte Kanzler Kinkel kritisierte auftragsgemäß das endlich anzuhalten“. Kohl, der die Beziehungen zu Prag zur Urteil des tschechischen Verfassungsge- Ganz undiplomatisch barsch antwor- „Chefsache“ erklärte, auf Abstimmung richts, wonach die Dekrete des Nach- tete Kinkel in einer Regierungserklä- gedrungen. Maßgabe: Er verbitte sich kriegspräsidenten Eduard Benesˇ über rung Mitte März, zu der sich der deut- jeden Streit der Freidemokraten mit der die Vertreibung und Enteignung der Sudetendeutschen Rech- tens gewesen seien. Dabei hat Havel diese Taten längst als Unrecht bezeich- net („das Böse der Aussied- lungen“) und die Kollektiv- schuld relativiert. Dennoch verlangte Kinkel von Prag eine Distanzierung von der einstigen „kollektiven Schuldzuweisung“ an die Sudetendeutschen. Der Vorsitzende der su- detendeutschen Lands- mannschaft, Franz Neubau- er, freute sich über Kinkels Eilfertigkeit: „Es ist kein alltäglicher Vorgang, daß sich ein deutscher Außen- minister in dieser Weise über Politikerreden und Gerichtsurteile eines Nach- barlandes äußert.“ Der CSU-Vertriebenen- politiker Hartmut Koschyk klopfte in einer Bundestags-

DPA rede Kinkel diskriminie- Sudetendeutsche Trachtengruppe*: „Der vierte Stamm Bayerns“ rend auf die Schulter: Die CDU/CSU-Fraktion habe sche Außenminister erst aufgrund ei- CSU als Fürsprecherin sudetendeut- sich „Wort für Wort“ in Kinkels Rede nes Vorstoßes der grünen Bundestags- scher Ansprüche. wiedergefunden. vizepräsidentin Antje Vollmer be- Die Zensur oblag Kanzleramtschef Das stimmt nicht. Selbst Konservative quemt hatte: „Wir sind über manches Friedrich Bohl. Der überarbeitete Kin- wie etwa der CDU-Rechtsexperte Ru- in seiner kürzlich gehaltenen Rede in kels Fassung, strich darin herum und pert Scholz sehen es als „ausgemachte der Prager Karls-Universität ent- änderte sie inhaltlich – eine ziemlich Dummheit“ der Bonner Politik an, nicht täuscht.“ einmalige Demütigung für den deut- längst die tschechischen NS-Opfer groß- Ausgerechnet Kinkel verwahrte sich schen Außenminister und für den Ko- zügig entschädigt zu haben. Und Gen- dagegen, einen Schlußstrich zu ziehen alitionspartner FDP. scher setzt sich nun für eine Stiftung ein, – unter eine Vergangenheit, die 1938 Amtsvorgänger Hans-Dietrich Gen- die ähnlich wie in den Fällen Luxem- mit der Annexion des Sudetengebietes scher kann sich „nicht erinnern, eine burg, Polen oder der Ukraine NS-Opfer durch Hitler-Deutschland ihren Tief- meiner Regierungserklärungen jemals in der Tschechischen Republik entschä- punkt fand und mit der Vertreibung dem Kanzler vorher gezeigt zu haben“. digt. der Deutschen aus ihrer tschechischen Nach der Geschäftsordnung der Bun- Im übrigen wurde die Rede, wie sie Heimat 1945 endete. Kinkel: „Ge- desregierung ist jeder Minister für sei- der Außenminister hätte halten müssen, schichte kennt keine Endpunk- nen Amtsbereich allein zuständig. aber nicht halten durfte, dennoch gehal- te.“ Inmitten der 50-Jahr-Feierlichkeiten ten. Der FDP-Abgeordnete Ulrich Ir- Sicherlich schulde Deutschland den hat Kohl seinen Sinn für Prioritäten mer bekannte, er habe „das bittere Ge- Nazi-Opfern „Gerechtigkeit und Ge- nicht verloren. Zuerst kommt für ihn fühl“, daß die Regierung im Begriffe nugtuung“, legte der Außenminister die eigene Machtposition; die muß ga- sei, „eine große Chance zu verspielen“. dar, „aber es ist eben auch anderen rantiert sein. Also nahm er auf die Denn Präsident Havels Versöhnungsge- CSU-Wünsche Rücksicht. Die histo- sten sollten wir nicht „mit kleiner Mün- * 1992 beim Sudetendeutschen Tag in München. risch begründete Sensibilität der Tsche- ze beantworten“. Y

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Moskau/Bonn „Sie müssen raus für immer“ Die Freundschaft zwischen Helmut Kohl und Boris Jelzin steht vor einer Belastungsprobe. Der Verfassungsschutz will 165 angebliche russische Agenten aus Deutschland ausweisen lassen. Die ungewöhnlich rabiate Maßnahme könnte im Vorfeld der russischen Wahlen einen Eklat auslösen.

er Besuchsplan sieht große Eile vor. Kranzniederlegungen für Ge- Dfallene, eine kurze Ansprache beim Fest-Diner, ein Staatsbankett, fertig. Gleich danach wird Kanzler Kohl vom Besuch bei Freund Boris Jelzin am 9. Mai nach Hause zurückjetten. Der 50. Jahrestag des Kriegsendes, verriet der Kanzler, sei „nicht der Tag, um Knatsch mit den Russen auszutragen“. Für „Knatsch“, wie Kohl das nennt, gibt es allen Anlaß. Die Männerfreund- schaft zwischen Helmut und Boris ist auf eine harte Probe gestellt. Nicht nur, daß die Deutschen an vor- derster Front die von Moskau gefürch- tete Osterweiterung der Nato betrei- ben. Auch in der Münchner Plutonium- Affäre des Bundesnachrichtendienstes fühlte Moskau sich zu Unrecht provo- ziert und an den Pranger gestellt

(SPIEGEL 17/1995). P. PIEL / GAMMA / STUDIO X Abermals ist es nun Geheimdienst- Männerfreunde Jelzin, Kohl: „Knatsch mit den Russen“ koordinator Bernd Schmidbauer (CDU), der seinem Kanzler die Gefahr London wies 1985 auf einen Schlag In der Regel wählten die Bonner die eines Eklats mit Moskau zumutet. Das 31 sowjetische Agenten von der Insel. geräuschlose Lösung. Ertappte oder lä- Kölner Bundesamt für Verfassungs- Moskau retournierte mit dem Raus- stige Sowjetagenten, jeweils nie mehr schutz hat eine Liste von 165 uner- wurf der gleichen Zahl von Briten. So als zwei oder drei, wurden durch „offe- wünschten Russen vorgelegt. Sie sollen weit kam es in der Bundesrepublik, ne Beschattung“ zum Rückzug ge- wegen Spionage die Bundesrepublik während des Kalten Kriegs Hauptauf- bracht. Notfalls half eine offizielle Be- verlassen. marschplatz Moskauer Kundschafter schwerde an die Sowjetbotschaft. „Die Kölner wollen offenbar den und ihrer Stasi-Vasallen, jedoch Doch der Präsident des Verfassungs- Kalten Krieg gewinnen, nachdem er nie. schutzes Eckart Werthebach, 55, nach vorbei ist“, empört sich ein dem Kabinettsbeschluß vom mit dem Fall vertrauter deut- vergangenen Dienstag künftig scher Geheimdienstmann: Staatssekretär im Bundesin- „Solch ein Massenrausschmiß nenministerium, steuert schon wäre der absolute Ham- länger einen harten Kurs. mer.“ Moskaus Abwehrchef Sergej Zumindest dürfte die Ge- Stepaschin sah sich bei seinem heimdienstaktion den „Rauh- letzten Bonn-Besuch von reif“, den CDU-Außenpoliti- Werthebach ungewöhnlich rü- ker Karl-Heinz Hornhues auf de angegangen. Der Deutsche den Beziehungen zu Moskau habe, so ein Gesprächsteilneh- sieht, augenblicklich zu Eis mer, mit Spionage-Vorwürfen werden lassen. So ruppig „auf den Putz gehauen, daß es pflegten bislang nur Ameri- rauschte“. kaner, Franzosen oder Bri- Den Vorwürfen Werthe- tanniens Eiserne Lady Mar- bachs folgten Taten: In Ab- garet Thatcher mit den Rus- sprache mit Kohls Staatsmini- sen umzuspringen – allerdings ster Schmidbauer ließ der in Zeiten, als die frühere So- G.A.F.F. Chef-Agentenjäger jetzt von wjetunion dem US-Präsiden- seinem Amt eine Liste mit den

ten Ronald Reagan noch als B. GEILERT / Namen all jener Russen auf- „Reich des Bösen“ galt. Agentenjäger Werthebach: Später Sieg im Kalten Krieg? stellen, die auf deutschem

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riger in deutsche KZ oder Zuchthäu- ser geriet, hat Anspruch auf eine „Zu Tränen gerührt“ Pauschalsumme von 400 Mark plus 30 Mark zusätzlich für jeden Haft- Wer bekommt Bonns Milliarden für Zwangsarbeiter? monat. Erwachsenen sind 300 Mark und 25 Mark Monatsentschädigung zugesagt. in halbes Jahrhundert nach ih- werden, die in sowjetische Gefan- Bis Ende dieses Jahres will Knja- rer „unvergessenen Erniedri- genschaft geraten waren. sew das Geld aus Deutschland ver- Egung“ erlebte Marija Braginze- Nach dem Krieg hatte Bonn im teilt haben. „Wir müssen uns beei- wa so etwas wie Wiedergutma- Zuge von Reparationsverhandlun- len“, sagt er, „die sterben schnell.“ chung: Der deutsche Staat schickte gen Wiedergutmachungsverträge Die bürokratischen Hürden sind der Moskauer Rentnerin eine mit elf westeuropäischen Staaten ge- nicht einfach zu überwinden: Erlitte- „einmalige finanzielle Zuwendung“ schlossen und deren Nazi-Opfern nes Leid muß exakt nachgewiesen von 1720 Mark. Umgerechnet sind insgesamt 876 Millionen Mark ge- werden. Ein Kriegsopfer-Zentralre- das mehr als sechs Millionen Ru- zahlt. Die Hauptleidtragenden im gister gibt es in Rußland nicht, Un- bel, das 33fache ihrer monatlichen Osten aber gingen leer aus. terlagen der Repatriierungskommis- Pension. Für den Stalin-Staat waren die sionen sind oft verschwunden. Und Bereits 1992 hatte sich Bonn ver- Zwangsarbeiter ebenso wie die wer beim Feind gefangen war, hat pflichtet, zivilen Nazi-Opfern aus Kriegsgefangenen Kollaborateure. meist schon aus Vorsicht jeden Hin- Rußland, der Ukraine und Belorußland ins- gesamt eine Milliarde Mark Entschädigung zu zahlen. Marija Bragin- zewa erfüllte die Vor- aussetzungen: Deutsche Soldaten hatten die 17jährige im September 1941 unweit ihres ukrainischen Hei- matdorfs festgenom- men, erst ins Konzen- trationslager Buchen- wald und dann ins Ruhr- gebiet deportiert, zur Zwangsarbeit bei Man- nesmann. Knapp drei Millionen sowjetische Zivilisten ließen Wehrmacht und SS zum „Reichseinsatz“

abtransportieren, billige M. JESPERSEN Arbeitskräfte für die Russische Zwangsarbeiter (1942 in Stukenbrock): „Die sterben schnell“ deutsche Kriegswirt- schaft. Greifkommandos fingen die Die Rehabilitierung kam erst 50 Jah- weis auf sein „Kollaboranten“- Opfer häufig brutal von der Straße re später: Laut Jelzin-Erlaß vom Ja- Schicksal getilgt. weg. In Deutschland lebten sie meist nuar sind Deportierte und Kriegs- Die erste aus Deutschland über- hinter Stacheldraht, an der Kleidung gefangene nun den Kriegsteilneh- wiesene Rate (160 Millionen Mark) mit einem blau-weißen Aufnäher als mern gleichgestellt. Häftlingsjahre lag ein halbes Jahr auf einem Sperr- Ostarbeiter gekennzeichnet. in Deutschland zählen bei der Ren- konto der Moskauer Außenhandels- Von den nach Kriegsende in die tenberechnung inzwischen sogar bank fest und brachte dem Staat kräf- Heimat Zurückgekehrten leben heu- doppelt. tig Zinsen ein. Erst massive Proteste te vermutlich noch 500 000 in der Die Bonner Millionen sollen so erzwangen die Freigabe der Mittel. Russischen Föderation. Auf sie ent- gerecht wie möglich an die Bedürf- Danach schickte das Finanzministeri- fallen 400 Millionen Mark der Ent- tigsten verteilt werden. Wiktor um dem Fonds einen Steuerbescheid schädigungssumme. Knjasew, Präsident des eigens ge- über zwei Milliarden Rubel. Präsident Boris Jelzin möchte sei- gründeten „Versöhnungsfonds“, hat Knjasew möchte seine Organisati- nen Gast Helmut Kohl nun am 9. 5500 Betroffenen die „Deutschmar- on nun in Deutschland alsgemeinnüt- Mai, dem Tag der Siegesfeier, dafür ki“ bereits persönlich ausgehändigt. zige Stiftung registrieren und den gewinnen, auch die ehemaligen „Die Leute waren oft zu Tränen ge- Geldtopf um eine weitere Milliarde Kriegsgefangenen zu bedenken. Die rührt“, sagt er. auffüllen lassen – durch Spenden deutsche Botschaft in Moskau ist Seine Mitarbeiter, von denen viele deutscher Unternehmen. Zwei große strikt dagegen: Dann müsse im Ge- selbst frühere Häftlinge sind, haben Konzerne, „Siemens und Mercedes“, genzug auch über eine Entschädi- die Berechtigten in vier Kategorien sagt er, hätten bereits ihre Unterstüt- gung jener Deutschen gesprochen eingeteilt: Wer schon als Minderjäh- zung in Aussicht gestellt.

24 DER SPIEGEL 18/1995 . REUTERS Proben für Moskauer Militärparade zum 9. Mai: Geheimdienstler gefährden die mühsam gefundene Balance

Territorium heute angeblich für einen Dabei hatten die einstigen Gegner listischen Ultras vom Schlage des un- der russischen Dienste herumschnüf- im Ost-West-Konflikt gerade erst zu berechenbaren Wladimir Schirinowski feln. einer Entente gefunden: Im vorigen das Wasser abzugraben. 165 Spione brachten Werthebachs August, unmittelbar nach dem Plutoni- Verteidigungsminister Volker Rühe Fahnder zusammen. Auf der Liste ste- um-Schmuggel nach München, unter- (CDU) versucht derweil, sich mit se- hen erklärte Geheimdienstprofis aus zeichneten Schmidbauer und Stepa- mantischen Verrenkungen in Moskau dem Konsular- und Botschaftsbereich, schin in Moskau ein Memorandum, beliebt zu machen. Er mag nicht mehr aber auch Russen „mit ziviler Legende“: das die Dienste auf engere Information von „Ausweitung“ der Allianz reden, Firmen- und Handelsvertreter etwa, und Kooperation insbesondere bei weil das zu sehr nach offensivem Vor- Wissenschaftler, Künstler, Journalisten. der Bekämpfung des internationalen rücken der Nato nach Osten bis an Werthebachs Liste nennt auch einfa- Atomschmuggels einschwor. Rußlands Grenzen aussehe: „Wir sind che Beamte des Chiffrierdienstes aus Die dubiosen Initiativen der Ge- keine Expansionisten.“ der Russen-Botschaft: Die diplomati- heimdienstler gefährden nun die müh- Vielmehr, so die neue Sprachrege- schen Verschlüsseler gehören offiziell sam gefundene Balance im Verhältnis lung, stehe eine „Öffnung für neue zum Nachrichtendienst. zu dem schwierigen Partner in Mos- Mitglieder“ an. Das drehe die Rich- „Die alle müssen raus aus Deutsch- kau. Helmut Kohl wird es schwerer ge- tung der Bewegung um, loben Kohl- land“, verlangte ein leitender Verfas- macht, Kurs zu halten. Noch will er Gehilfen den Rühe-Einfall, und kom- sungsschützer bei Präsentation der Liste me den notorisch von Isolierungsangst im Auswärtigen Amt vor gut einem Mo- geplagten Russen entgegen. nat, „sie müssen raus für immer.“ Bonner Parole: Die Bonner Parole „Seid nett zu den Seitdem wird zwischen dem Außen- „Seid nett Russen“ galt auch dann noch, als die ministerium des Liberalen Klaus Kinkel Erwartung der Regierung über die und dem Innenministerium des CDU- zu den Russen“ Rückgabe deutscher Kunstwerke bitter Mannes Manfred Kanther „in einem po- enttäuscht wurde. Mit einem Beschluß litischen Grabenkrieg“, so ein Insider, „auf Rußland zugehen“ und Boris Jel- stoppte die Duma vorletzte Woche darum gerungen, wie in dieser Affäre zin „Hilfe anbieten“, damit der bevor- vorläufig die Rückführungspläne für weiter zu verfahren sei. Geheuer ist den zugte Partner im nächsten Jahr die das Beutegut. Der Föderationsrat, Ministerialen beider Häuser nicht, was Präsidentenwahl gewinnt. Oberhaus des Moskauer Parlaments, die Schlapphüte ihnen da eingebrockt Selbst den brutalen Tschetschenien- will verbieten, daß die Kunstschätze haben. Krieg der Russen hatte Kohl mit zurückgegeben werden, die Rotar- Um die Reaktion der Russen zu te- Rücksicht auf Freund Jelzin zunächst misten bei Kriegsende aus Deutschland sten, verweigerte Bonn dem von Mos- nicht kritisieren wollen. Das „Dümm- mitnahmen. kau avisierten neuen Militärattache´ ste“, was westliche Politik tun könne, Jelzin hat sich nun darauf verlegt, schon mal das Visum. Weil er dem russi- warnte der Kanzler, sei, „den Stolz der den Saunafreund Kohl wenigstens zu schen Militärgeheimdienst GRU ange- Russen außer acht zu lassen“. trösten: Die Verhandlungen würden höre und darin recht effektiv gearbeitet Mühsame Gelassenheit zeigten die fortgesetzt; bei größerer finanzieller haben soll, wurde der diplomatische Bonner sogar, als die Kritik der Mos- Opferbereitschaft der Deutschen werde Kundschafter als „unerwünschte Per- kauer Hardliner an der geplanten sich bestimmt ein Kompromiß finden son“ abgewiesen. Osterweiterung der Nato immer massi- lassen. Außerdem habe er, Jelzin, ja „Das wird Folgen haben“, ahnt ein ver wurde. Schon drohte Jelzins Wehr- die Möglichkeit, das Gesetz mit seinem Kinkel-Berater. minister Pawel Gratschow mit dem Veto zu belegen. Die gezielte Unfreundlichkeit halten Bruch von Abrüstungsverträgen. Demnächst, wenn die Mai-Feiern ranghohe Geheimdienstler für „großen „Niedriger hängen“, war die sanfte verrauscht sind, kündigt Jelzin an, wer- Unfug“. Ein erkannter Spion sei doch Antwort des Bonner Außenministers de man alles in Ruhe und in lockerer eher ungefährlich. Im übrigen hätten Kinkel. Schließlich beginne der Wahl- Atmosphäre bereden: Im Frühsommer sämtliche russischen Militärattache´s kampf in Rußland. Rüde Töne dienten wird der Kanzler den Freund Boris pri- Bindungen an irgendeinen ihrer Dien- hauptsächlich dazu, extremen Kräften vat auf dessen Staats- und Jagd-Da- ste. wie den Altkommunisten oder nationa- tscha Sawidowo besuchen. Y

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Plutonium-Affäre „Die haben uns heiß gemacht“ Bonn und München schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter für den Plutonium-Skandal zu. Jetzt soll ein Unter- suchungsausschuß des Bundestages die Schuldigen enttarnen. Fest steht, daß der Bundesnachrichtendienst (BND) und Bayern von der Anlieferung des Atomstoffs per Flugzeug nach München frühzeitig gewußt haben.

ayerns Innenminister Günther Eigentlich sei alles ganz prima gelau- in den nächsten Monaten die Hintergrün- Beckstein (CSU) strahlte vor Stolz. fen, beteuert der Bonner Geheimdienst- de der Plutonium-Affäre ausleuchten. BDie Festnahme von drei Plutonium- koordinator, Staatsminister Bernd Die bayerischen Genossen wollen sich Händlern in München sei „ein Schlag ge- Schmidbauer (CDU), ein ums andere mit vertraulichen Unterweisungen durch gen die internationale Atom-Mafia“. Mal. Allerdings, so der geschmeidige Beckstein und Justizminister Hermann Das CSU-Blatt Bayernkurier triumphier- Kohl-Helfer, liege nicht in seiner Zu- Leeb zufriedengeben – wenn sich die bei- te: „Bayern ist auf der Wacht.“ ständigkeit, was sich in der entscheiden- den auch dem Bonner Ausschuß zur Ver- Das war am 10. August 1994. Von dem den Münchner Phase abgespielt habe: fügung stellen. Nur die Grünen sehen zu- Triumph ist nichts geblieben. Sogar der „Das ist nicht meine Kompetenz.“ sätzlichen Aufklärungsbedarf in Mün- tatkräftige Beckstein hat „ein mulmiges Beckstein kontert trotzig: „Einen chen – doch ohne die SPD bekommen sie Gefühl. Ich weiß ja nicht, was beim Bun- bayerischen Alleingang lasse ich mir den Untersuchungsausschuß nicht durch. desnachrichtendienst gelaufen ist“. Viele nicht anhängen.“ Und: „Wir mußten Im Bundestag wird es vor allem um die Rolle von BND und Kanzleramt gehen. Gesucht wird der Drehbuchautor der Atom-Burleske. In München geraten die lokalen Regenten unter Druck: Obwohl die bayerischen Behörden zuständig wa- ren, gab bei dem Plutonium-Coup offen- bar der BND den Ton an. Justizminister Leeb (CSU) zum Bei- spiel blickte nicht durch. „Ich hätte er- wartet“, erklärte er, „daß ich bei einem Ermittlungsverfahren dieser Bedeutung . . . rechtzeitig informiert worden wäre.“ Er sei, so der sonst so ruhige Bayer, „in hohem Maße verärgert“. Der Bonner Oppositionsführer Rudolf Scharping legte die Meßlatte für perso- nelle Konsequenzen an: Jeder, der vor- her vom Plutonium an Bord der Lufthan- sa-Maschine gewußt habe, müsse gehen. „Ohne Ansehen von Personen und Par- teibuch.“ Bei der Aufarbeitung der Affäre spielt die CSU in München einen ungewohnten Part: Die Christsozialen, dem deutschen Auslandsgeheimdienst traditionell aufs engste verbunden, fühlen sich vom BND aufs Glatteis geführt. „Wenn die neue-

F. HELLER / ARGUM sten SPIEGEL-Veröffentlichungen zu- CSU-Innenminister Beckstein*: „Einen Alleingang lasse ich mir nicht anhängen“ treffen“, so Beckstein, „frage ich mich, ob nicht trickreich damit gespielt wurde, Details der Operationen, beteuert der uns darauf verlassen, daß der BND die wann wir welche Information vom BND Minister, habe er nicht gekannt. Lage von Anfang an richtig beurteilte bekamen.“ Noch ist nicht heraus, wer am Ende und uns zutreffend informierte.“ Zumindest fahrlässig haben es die in der Plutonium-Affäre der dumme Auch der Ton zwischen den beteiligten bayerischen Behörden versäumt, sich August ist, wer den Schwarzen Peter Aufklärern wird gereizter. „Die vom rechtzeitig selbst die notwendigen Infor- kriegt. Die Münchner schoben die Kar- BND haben uns heiß gemacht“, klagt ein mationen zu beschaffen. Die in Madrid te, die ihnen die Bonner unterjubeln Oberer vom Bayerischen Landeskrimi- spielende Vorgeschichte der Plutonium- wollten, vorige Woche wieder zurück. nalamt (LKA). Der BND habe nur Inszenierung ist von der Münchner Die Mitspieler täuschen und trick- „Amtshilfe geleistet“, hält dessen Präsi- Staatsanwaltschaft, die die Anklage ge- sen, und manchmal lügen sie wie ge- dent Konrad Porzner (SPD) dagegen. gen die einsitzenden Schmuggler Justi- druckt. „Mehr gab es nicht.“ niano Torres Benı´tez, Julio Oroz Eguia Klar ist nur: Ein parlamentarischer und Javier Bengoechea Arratibel ver- * Am vergangenen Dienstag vor dem Innenaus- Untersuchungsausschuß des Bundesta- tritt, bei den Ermittlungen über Monate schuß des Bayerischen Landtags. ges soll auf Druck von SPD und Grünen ausgeblendet worden. Mit Vorsatz?

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Beim nun inzwischen eingesetzten Verwirrspiel gelang Dieter Emrich, dem Leitenden Oberstaatsanwalt in Mün- chen, das größte Durcheinander. Zu- nächst erklärte er im Fernsehen den Transport des Plutoniums mit dem Flug- zeug für fast selbstverständlich. Ein Auto, so argumentierte er, wäre mit dem Stoff vielleicht gegen einen Baum gekracht, ein in Panik geratener Schmuggler hätte das Zeug aus einem fahrenden Zug schmeißen können. Die Äußerungen machten den Straf- verfolger bundesweit bekannt. Doch dann dementierte er plötzlich: Den Schmuggel mit der Lufthansa am 10. August hätten die Behörden, stellte er gegenüber Journalisten fest, nicht sicher erwartet. Fest steht, daß Becksteins LKA ge- schlampt hat: Als die Schmuggler Tor- res und Oroz mit einer ersten Plutoni- um-Probe in München auftauchten, brauchte das Amt sechs Tage, bis es ak-

DPA tiv wurde, weil der sachkundige Beamte BND-Präsident Porzner, Staatsminister Schmidbauer: „Nicht meine Kompetenz“ Walter Boeden, der dann den Aufkäu- fer spielte, in Urlaub war. Das hochge- Seit September des vergangenen klearkriminalität den Vorgang für win- fährliche Material blieb tagelang unbe- Jahres liegt bei der Staatsanwaltschaft dig hielten. Sie gaben einem eingesetz- wacht und ungesichert im Hotel Altano München I ein dickes Bündel BKA- ten doppelten V-Mann, der von Ma- mitten in der Münchner Innenstadt – Vermerke über den Verlauf der Akti- drid aus auch für den BND arbeitet, mal im Koffer versteckt, mal im Fuß des on. In Amtsdeutsch, aber dennoch ver- ausdrücklich Anweisung, den Stoff Fernsehtisches. ständlich, steht da, daß die Wiesbade- nicht eigens aus Moskau zu besor- LKA-Chef Hermann Ziegenaus ner Spezialisten aus der Abteilung Nu- gen. räumte in der vergangenen Woche ein,

Befürchtung, daß er bei der Einrei- se aus Moskau am Flughafen Mün- „Alles wie geplant“ chen vom Zoll kontrolliert und festgenommen wird. „Rafa“, so Wie das Plutonium nach München kam gibt Torres bei seiner Vernehmung an, habe ihn beruhigt, man werde dafür sorgen, daß er ohne Proble- er Präsident des Bundesnach- Bayerischen LKA, und den Plutoni- me durch den Zoll kommt. richtendienstes, Konrad Porz- um-Dealern Justiniano Torres Benı´- Am Abend des 7. August telefo- Dner (SPD), der Bonner Staats- tez und Julio Oroz Eguia in München niert Torres mit Moskau. Anschlie- minister Bernd Schmidbauer (CDU) erstmals über den geplanten Trans- ßend teilt er laut Vernehmungspro- und der bayerische Innenminister port des Plutoniums gesprochen. tokoll dem angeblichen Käufer Günther Beckstein (CSU) bestreiten Schmuggler Torres: „Die Ware wird Boeden mit, daß er am nächsten vehement, daß sie oder ihre Behör- per Flugzeug gebracht, dabei müs- Tag nach Moskau fliege und am 10. den von dem geplanten Plutonium- sen wir natürlich auf den Flugplan oder 11. August mit 500 Gramm Transport per Flugzeug gewußt hät- achten.“ Plutonium zurückkommen werde. ten. Schmidbauer: „Bundesbehör- Am 10. August, morgens um den haben das nicht gewußt.“ Porz- BND-„Adrian“: „Bei der Vier-Kilo- 5.29 Uhr, ruft Torres aus Moskau ner: Es war nicht einmal „bekannt, gramm-Lieferung paßt beim Fliegen seinen Kumpanen Oroz in Mün- wo das Material tatsächlich lagerte“. auf. DasMaterial hat wahrscheinlich chen an. Das LKA schneidet mit: Beckstein: „Es gab keine konkreten Einfluß auf das Flugzeug.“ „Die Dinge sind gut gelaufen. Das, Kenntnisse.“ von dem wir dort gesprochen ha- ben, ist angekommen.“ Abgehörte Telefongespräche, mit- BND-„Rafa“: „Es geht mir doch am geschnittene Dialoge zwischen Pluto- Arsch vorbei, was mit dem passiert.“ Um 13.01 Uhr meldet sich Tor- nium-Schmugglern und Fahndern so- res noch einmal, und die Lauscher notieren: „Ich komme um 17.45 wie Vernehmungsprotokolle belegen BND-„Adrian“: „Zu eurer und auch Uhr in München an. Es ist ein Di- das Gegenteil. Bereits am 26. Juli unserer Sicherheit, paßt auf. Das rektflug, Nummer 3369.“ wurde bei einem Treffen der BND- stellt eine Gefahr dar.“ Mitarbeiter „Rafa“ und „Adrian“, In München werden Strahlen- dem angeblichen Käufer Walter Boe- Am 7. August, morgens um neun, meßtrupps zum Flughafen ge- den, in Wahrheit ein Beamter des äußert Torres gegenüber „Rafa“ die schickt.

DER SPIEGEL 18/1995 27 „viele für die Lagebeurteilung wesentli- Zwischen Madrid, Moskau und München che Informationen“ seien von einem Die Chronologie der Münchner Plutonium-Affäre BND-Mann „eingebracht“worden. Dem LKA ist peinlich, daß die Behörde – an- getrieben vom BND – sogar das russische FRÜHJAHR 1993 Dr. Peter Fischer-Hollweg, 25. JULI 1994 In einer Generalkonsulat in München observiert Resident des Bundesnachrichtendienstes Kneipe gegenüber dem Münchner Hotel hat. Die „polizeiliche Lagebeurteilung“, (BND) in Madrid, wirbt „Roberto“ als Quelle an. Excelsior treffen Oroz und Torres auf den BND-V- so Ziegenaus, sei „erschwert“ worden. Der in Spanien lebende Deutsche hat exzellente Mann „Rafa“, den BND-Mitarbeiter „Adrian“ als Vor allem die gesamte Vorgeschichte in Verbindungen im Drogenbereich und arbeitet als Dolmetscher und den Polizeibeamten (LKA Bayern) V-Mann für die spanische Polizei sowie das Bun- Walter Boeden, der als Käufer auftritt. Torres über- Spanien sei dem LKA „zum Zeitpunkt deskriminalamt (BKA). gibt Boeden seine Plutonium-Probe und erklärt, des Zugriffs nicht bekannt gewesen“. daß er weitere knapp 500 Gramm dieser Qualität Bekannt war den Kriminalpolizisten AUGUST 1993 „Roberto“ vermittelt der jedoch, daß das hochgefährliche Plutoni- Madrider BND-Residentur einen ersten beschaffen könne und darüber hinaus noch vier Kontakt zu „Rafa“. „Rafa“ ist Mitglied einer Kilogramm Plutonium. um nach Deutschland geflogen werden spanischen Spezialabteilung zur Rauschgift- 26. JULI 1994 Die Gruppe trifft sich gegen sollte. Die Fahnder waren, entgegen bekämpfung der Guardia Civil. 15 Uhr im Hotel Vier Jahreszeiten und noch Becksteins Erzählungen, detailliert in- einmal, gegen 18 Uhr, in der Kneipe gegenüber formiert (siehe Kasten Seite 27). MÄRZ 1994 „Roberto“ unterrichtet das Daß die bayerischen Behörden bestens Bundeskriminalamt, daß sich angeblich dem Excelsior. Neben den vier Kilogramm Plutoni- zwei Kilogramm Plutonium in Deutschland befin- um könne er, so Torres, auch 2,5 Kilogramm des Bescheid wußten, belegen auch Akten- den sollen. Das BKA ermittelt und schaltet die für den Bau von Wasserstoffbomben benötigten notizen. Schon Stunden vor der Landung Staatsanwaltschaft Frankfurt ein. Ergebnis: Die Metalls Lithium 6 besorgen. Der Scheinkäufer er- der Lufthansa-Maschine aus Moskau in- Informationen sind falsch, die zwei Kilogramm klärt sich bereit, einen Gesamtpreis von 276 Millio- formierte das Münchner Umweltministe- Plutonium gibt es nicht. nen Dollar zu zahlen. rium Kollegen in Bonn und Stuttgart. 27. JULI 1994 Torres fliegt über Berlin nach MAI 1994 Nach einer Zustimmung aus Man habe „Hinweise auf einen unmittel- Pullach wirbt die Madrider BND-Residentur Moskau. bar bevorstehenden Plutonium-Schmug- „Rafa“ mit Bezügen von rund 5000 Mark im Monat 2. AUGUST 1994 Oroz, „Rafa“, BND-Mann gel. Es soll sich um ca. 500 Gramm Pluto- (einschließlich Spesen) als sogenannte Nach- „Adrian“ und Walter Boeden treffen sich nium handeln“. richtendienstliche Verbindung (NDV) an. abermals in der Kneipe beim Excelsior. Boeden Über eins wunderten sich LKA-Beam- zeigt Oroz ein Schreiben der Bayerischen Hypothe- 9. JUNI 1994 „Rafa“, ein „Deutscher“ te schon am 4. Juli 1994. An diesem Tag (vermutlich BKA/BND-V-Mann „Roberto“) ken- und Wechsel-Bank, die dem Scheinkäufer be- und Javier Bengoechea Arratibel treffen sich im stätigt, daß er über die Summe von 276 Millionen Madrider Hotel Novotel. Der Deutsche will Pluto- Dollar verfügen könne. Oroz unterrichtet daraufhin „Die vom nium kaufen. Die Probe soll unbedingt nach Torres telefonisch in Moskau, das Geld liege bereit. BND haben wissend München gebracht werden. Auch „Rafa“ drängt 6. AUGUST 1994 Torres trifft ohne Plutonium München auf. aus Moskau kommend in München ein. dabeigesessen“ Einen Tag später übergibt er seinen Partnern eine JUNI 1994 Das BKA wird von „Roberto“ un- Dose mit 201 Gramm Lithium 6 und drängt, doch erzählte der V-Mann des BND, der Spa- terrichtet, daß sich die zwei Kilogramm zumindest 200 000 Dollar Vorkasse für seine Plutonium nicht in Deutschland sondern in Ruß- Moskauer Hintermänner zu zahlen. Boeden lehnt nier „Rafa“, Rauschgiftspezialisten des land befinden. Das BKA verbietet Verhandlungen ab. Er will erst die Ware. bayerischen LKA in München von Kon- über einen Plutonium-Import nach Deutschland. takten zu Plutonium-Händlern. Zwei 8. AUGUST 1994 Torres fliegt nach Moskau. BND-Beamte aus der Pullacher Zentra- 4. JULI 1994 „Rafa“ trifft in München mit Er will seinen Plutonium-Lieferanten BND-Mann Mathias Hochfeld und Beamten „Konstantin“ bewegen, ihm die 500 Gramm Pluto- le hörten zu – und waren „kein bißchen des Bayerischen Landeskriminalamtes (LKA) zu- nium auch ohne die geforderte Vorauszahlung zu überrascht“, so ein LKA-Mann: „Die sammen. „Rafa“ berichtet über einen Rauschgift- übergeben. haben wissend dabeigesessen.“ Deal und erklärt, er könne Kontakte zu Plutonium- Und ausgerechnet der Bonner Ge- Händlern knüpfen. Das LKA ist nicht interessiert. 10. AUGUST 1994 Torres ruft seinen Partner Oroz zweimal in München an und erklärt, heimdienstkoordinator Bernd Schmid- 9. JULI 1994 Der Kolumbianer Justiniano er werde mit dem Flugzeug anreisen. Das LKA hört bauer soll bei dem Spiel außen vor ge- Torres Benítez und der Spanier Julio Oroz mit. Um 17.45 Uhr trifft Torres mit Flug LH 3369 in blieben sein? Eguia, die mit Kumpanen von „Rafa“ in Verbin- München ein, im Koffer hat er 363 Gramm Pluto- Schmidbauer beteuert seine Unwis- dung stehen, fahren mit einer Plutonium-Probe nium. Oroz, der mit BND-Mitarbeiter „Adrian“ und senheit. Aber der bayerische Justizmini- von drei Gramm im Zug von Moskau via Berlin BND-V-Mann „Rafa“ zum Flughafen gefahren war, nach München. Das Plutonium stammt laut ster Leeb ließ vorige Woche beiläufig wird gemeinsam mit Torres um 17.59 Uhr auf fallen, daß der Bonner Staatsminister in Torres von einem Moskauer Hintermann dem Franz-Josef-Strauß-Flughafen verhaftet. namens „Konstantin“. den heißen Tagen von München mit der Bengoechea wird um 18 Uhr im Hotel Excelsior dortigen Staatsanwaltschaft telefoniert 11. JULI 1994 Oroz und Torres treffen mit der festgenommen. habe. Plutonium-Probe in München ein. SEPTEMBER 1994 Der Madrider BND- Oberstaatsanwalt Helmut Meier- 19. JULI 1994 Nachdem „Rafa“ die Madrider Resident Fischer-Hollweg drängt die Pul- Staude erinnert sich, daß es damals um BND-Residentur von den Aktivitäten der lacher BND-Zentrale, „Rafa“ die zugesagte Erfolgs- einen anderen Plutonium-Fall gegangen Plutonium-Dealer unterrichtet hat, drängen die prämie von bis zu 300 000 Mark zu zahlen. Madrid sei. Der Staatsanwalt bat den redseligen Madrider ihre Zentrale in Pullach, aktiv zu werden. und Pullach streiten über die Höhe der an „Rafa“ Ansonsten würden Oroz und Torres Deutschland zu leistenden Zahlung. Nachdem „Rafa“ sich bereit Schmidbauer, die aktuellen Ermittlun- am 20. Juli wieder verlassen. erklärt, als Zeuge vor dem Landeskriminalamt in gen nicht zu stören. Am selben Tag weiht der BND offiziell das Bayeri- München auszusagen, erhält „Rafa“ für sechs Zweimal hat Schmidbauer die sche Landeskriminalamt in den anstehenden Plu- Monate Arbeit insgesamt 158 000 Mark. Münchner Staatsanwaltschaft noch kon- tonium-Handel ein. taktiert. An den Inhalt dieser Gesprä- OKTOBER 1994 „Rafa“ sagt in München aus. che kann sich, trotz heftigen Nachden- 22. JULI 1994 „Rafa“ reist nach München. Der BND in Pullach teilt dem spanischen In „Rafas“ Zimmer im Hotel Excelsior zeigen Militärgeheimdienst auf Anfrage mit, daß es über kens, leider keiner der Ermittler mehr Oroz und Torres dem V-Mann des BND die aus Herkunft und Hintermänner des Plutoniums aus erinnern. Moskau eingeschleuste Plutonium-Probe. Moskau keine konkreten Erkenntnisse gebe. Nur Schmidbauer ist sich schon si- cher: Natürlich sei es nicht um die Münchner Ermittlungen gegangen. Y

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SPIEGEL-Gespräch „Hol raus, was du kannst“ Arbeitsminister Norbert Blüm (CDU) über den Umbau des Sozialstaats FOTOS: M. DARCHINGER Blüm beim SPIEGEL-Gespräch*: „Wenn wir so weitermachen, sind die 50jährigen demnächst pensionsreif“

SPIEGEL: Herr Blüm, Sie behaupten ich manchmal. Der Sozialstaat ist kein Blüm: Bei manchen steckt sicher eine tagein, tagaus: Die Renten sind sicher. Vergnügungspark mit abendlichem andere Vorstellung von Sozialstaat da- Aber nicht einmal Ihre Parteifreunde Feuerwerk – und jeder, der einen hinter. Wenn ich mir beispielsweise die und Kabinettskollegen glauben Ihnen, Knallfrosch in der Hand hat, schmeißt Beiträge meines verehrten Koalitions- sie prophezeien das Gegenteil. ihn in die Luft. Die einen schlagen vor, freundes Otto Graf Lambsdorff anse- Blüm: Keiner kann mir ein Sicherungs- fünf Feiertage zu streichen, die ande- he, so bleiben seine Sozialstaatsüberle- system nennen, das zuverlässiger wäre ren wollen die Arbeitslosenversiche- gungen in der Zeit vor Bismarck ste- als unsere Rentenversicherung. Sie hat rung privatisieren, und der dritte ver- hen. Da war der Sozialstaat Fürsorge- zwei Weltkriege und Inflationen über- langt die Regionalisierung der Sozial- staat, Sozialpolitik war Verteilung von standen. Können Sie sich irgendeine versicherung nach dem Motto: Jedes öffentlichen Almosen. Der Sozialstaat Privatversicherung vorstellen, die die Bundesland sorgt für sich selber. Was als Armenhaus, das ist nicht mein So- deutsche Einheit bewältigt hätte? soll das? zialstaat. Mein Sozialstaat hat mit Ge- SPIEGEL: Aber wie steht es um die Zu- SPIEGEL: Gute Frage. Was meinen Sie? rechtigkeit zu tun, mit Ansprüchen, kunft? Auch prominente Christdemo- kraten – Ihr Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble, der sozialpolitische Der Sozialstaat und auch Bundesarbeitsminister Nor- Sprecher Julius Louven, Sachsens Mini- bert Blüm verstehen unter Umbau da- sterpräsident Kurt Biedenkopf – be- wird zu teuer. Über seinen Umbau gegen eine Reorganisation der sozia- zweifeln, daß der Sozialstaat die kom- streiten die Bonner Parteien, aber len Etats, damit die Gelder sinnvoller menden Jahrzehnte überstehen kann. auch Arbeitgeber und Gewerkschaften. eingesetzt werden können. Ein Bei- Blüm: Die Probleme wische ich nicht Die verschiedenen gesellschaftlichen spiel: Wenn Arbeitslose nicht mehr auf vom Tisch. Ich singe ja nicht das Eiapo- Gruppen verfolgen unter dem gleichen Kosten der Sozialversicherung umge- peia-Lied, aber ich sage: Unser System Etikett völlig unterschiedliche Strate- schult würden, könnten die Versiche- hat genügend Hebel, auf Veränderun- gien. Die Arbeitgeber sowie Teile der rungsbeiträge für Arbeitnehmer und Ar- gen zu antworten, ohne daß das System CDU/CSU und der FDP planen, soziale beitgeber sinken. Die aktive Arbeits- verlassen werden muß. Leistungen einzuschränken, um so die marktpolitik soll jedoch nicht ersatzlos SPIEGEL: Aber genau das will eine star- öffentlichen Kassen zu entlasten und wegfallen. Wenn als Ausgleich zur bil- ke Gruppe in Ihrer Koalition doch: Sy- die Arbeitsplatzkosten zu senken. Ein liger gewordenen Arbeitslosenversi- stemwechsel. Beispiel dafür ist die Forderung, das cherung etwa der Energieverbrauch Blüm: Umbau ist nicht Abbau. Wir er- Rentenniveau und damit auch die Ar- stärker besteuert würde, könnten da- schaffen die Welt nicht zum zweitenmal. beitgeberbeiträge zur Rentenversiche- mit Umschulung und Arbeitsbeschaf- Ob die, die da so munter drüber reden, rung zu reduzieren oder die gesetzli- fung bezahlt werden. Eine Energie- immer wissen, was sie wollen, bezweifle che Krankenversicherung zu einer kar- steuer wäre zudem nützlich für die Um- gen medizinischen Grundversorgung welt, weil sie zum sparsamen Ver- * Das Gespräch führten die Redakteure Winfried verkümmern zu lassen. SPD, Grüne brauch zwingt. Didzoleit und Hans-Jürgen Schlamp.

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die selbst erworben sind, und mit Ver- ne außergewöhnliche Antwort auf eine jobs fehlen. Das geht nicht. Wenn man läßlichkeit. außergewöhnliche Notlage gesehen. Ich die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit auf SPIEGEL: An den ausufernden Kosten entdecke jetzt – insofern korrigiere ich das eigentliche Invaliditätsrisiko konzen- der Gerechtigkeit kommen Sie auch mich –, daß das, was mal als Ausnahme triert, spart die Rentenversicherung nicht vorbei. Der Gesamtbeitrag für die vorgesehen war, inzwischen zu einer ge- schon wieder zwischen acht und neun Sozialversicherungen beträgt in diesem nerellen Lösung wird. Das geht einher Milliarden Mark. Das istauch wieder fast Jahr in den alten Bundesländern 39,3 mit einer Altersabwertung. Wenn wir so ein Beitragspunkt. Prozent, und er wird im nächsten Jahr weitermachen, sind die 50jährigen dem- SPIEGEL: Dann zahlt statt dessen die Ar- auf über 40 Prozent steigen. Jedes Jahr nächst pensionsreif. Diese Gesellschaft beitslosenversicherung. Für Ihre Kritiker eine neue Rekordbelastung der Bei- leistet sich den Zynismus einer Altersver- ist das nur ein Herumbasteln an Sympto- tragszahler. schrottung. Das kann nicht gutgehen. men. Die sagen, wir können uns diese Blüm: Das nehme ich sehr ernst. Es SPIEGEL: Das heißt: länger arbeiten. Wo Rentenversicherung auf Dauer nicht lei- stimmt ja: Wir können nicht einfach an setzen Sie noch an? sten. der Beitragsschraube weiterdrehen; Blüm: Wir haben auch viel zu lange Aus- Blüm: Da frage ich zurück: Was wollt ihr denn sonst schwindet aus unserem Sozi- bildungszeiten. Das ist nicht nur ein Ren- euch dann leisten? Eine Privatversiche- alstaat auch der Leistungsantrieb. Des- tenversicherungsthema, sondern auch rung vielleicht, die nachweislich ihre Prä- halb haben wir in den letzten Jahren die ein Thema unserer Wettbewerbs- mien erhöhen oder ihre Leistungen kür- Hebel des Sozialsystems immer wieder chancen. Unsere jungen Leute kommen zen muß, was ja die Diskussion der letz- neu justiert und auch – so schmerzlich später auf den Arbeitsmarkt als ihre Al- ten Tage gezeigt hat? Was ist denn eure das manchmal ist – Lei- Alternative? stungen gekürzt. Insge- SPIEGEL: Die Alternative ist zum Bei- samt wurden durch Re- spiel: Eine staatliche Grundrente – und formen seit 1983 in der wer mehr will, sorgt für sich selbst. Renten- und Arbeits- Blüm: Haha! Für eine Grundrente von losenversicherung die 1200 Mark, mit öffentlichen Mitteln fi- Beitrags- und Steuer- nanziert, müßte die Mehrwertsteuer um zahler um jährlich rund 16Prozentpunkte erhöht werden. Gibt es 50 Milliarden Mark hier jemanden, der glaubt, er könnte den entlastet. Mehrwertsteuersatz auf über 30 anhe- SPIEGEL: Trotzdem ben? steigt der Beitragssatz SPIEGEL: Wenn dafür die Rentenversi- allein der Rentenkas- cherung wegfällt. 16 Prozent Mehrwert- sen nach heutigen Be- steuer auf Konsumausgaben sind weni- rechnungen auf 26 Pro- ger als 19 Prozent Rentenversicherungs- zent im Jahre 2030, weil abgaben vom gesamten Einkommen. immer weniger Junge Blüm: Nein. Jeder stünde sich deshalb für immer mehr Alte schlechter, weil er erstens mit dieser er- aufkommen müssen. höhten Mehrwertsteuer die Grundren- Blüm: Erstens: Er wür- ten, zweitens die Rente derjenigen, die de ohne unsere Ren- jetzt im Ruhestand sind, mit einem weiter

tenreform aufs Dop- F. BIERSTEDT / OSTWESTBILD hohen Beitrag und drittens seine eigene pelte steigen. Zwei- Demonstration im thüringischen Hermsdorf ergänzende Altersvorsorge finanzieren tens: Er klettert nur müßte. Eine Umstellung eines umlagefi- dann auf 26 Prozent, „Die Gesellschaft leistet sich den nanzierten lohnbezogenen Systems auf wenn wir die Hebel Zynismus einer Altersverschrottung“ eine Grundrente würde diese Generation nicht bedienen, die wir also gleich zweimal belasten. bedienen können. SPIEGEL: Das ließe sich reduzieren, SPIEGEL: Was wollen Sie machen? terskollegen in Frankreich und Italien. wenn . . . Blüm: Wir müssen den Trend umkeh- Wieso haben wir in Westdeutschland ei- Blüm: . . . wenn entweder die Rentner ren, daß immer mehr Menschen immer ne um ein Jahr längere Schulzeit als in bestohlen würden, nämlich deren Ren- früher Rente beziehen. Das ist ja nicht den neuen Bundesländern? tenanspruch halbiert würde, oder der die Folge unserer Gesetzgebung, son- SPIEGEL: Das reicht doch alles nicht . . . Beitragszahler betrogen würde, nämlich dern einer systematischen Strategie vie- Blüm: Moment, ich bin ja noch nicht um die Gegenleistung für seinen Beitrag. ler Unternehmen, die Lasten ihrer Per- fertig. Die Kriegsfolgeleistungen wach- Die Alternative zwischen Diebstahl und sonalplanung auf die Solidarkassen ab- sen sich aus. Wir werden hoffentlich sol- Betrug kann keine sozialpolitische Alter- zuwälzen. Sozialpläne von Großbetrie- che Leistungen nie mehr zahlen müssen. native sein. ben, die zu zwei Dritteln von der Bun- Die sogenannten Fremdrenten, ein Er- SPIEGEL: Haben Sie das Ihren Kritikern desanstalt für Arbeit oder der Renten- gebnis großer weltpolitischer Erschütte- einmal vorgerechnet? versicherung finanziert werden, verursa- rungen, fallen irgendwann weg. Blüm: Ja. Für 1200 Mark Grundrente chen, vorsichtig geschätzt, Kosten zwi- Dann müssen wir dringend das Problem muß ein Durchschnittsverdiener in West- schen 15 und 18 Milliarden Mark. Das der Berufs- und Erwerbsunfähigkeits- deutschland 27 Jahre, im Osten noch 32 ist mehr als ein Beitragspunkt. renten lösen. Die entwickeln sich zu ei- Jahre arbeiten. Ich frage Sie: Warum soll SPIEGEL: Auch die Bundesregierung ner Sonderleistung der Rentenversiche- der arbeiten und Beiträge bezahlen, verabschiedet die Beschäftigten bei rung, obwohl das Risiko ganz woanders wenn er auch ohne Arbeit 1200 Mark Bahn und Post und bei der Bundeswehr liegt. Aufgrund der Rechtsprechung ist Grundrente bekommt? mit einem goldenen Handschlag. heute jemand schon dann berufs- und SPIEGEL: Was ist mit der anderen Alter- Blüm: Wir brauchen überall eine Kehrt- erwerbsunfähig, wenn er bei seinem Ge- native, heute für die Renten von morgen wendung gegen Frühverrentung. Ich sundheitszustand auf dem Arbeitsmarkt Kapital anzusparen? Und die Zinsen dar- war ja selber mal der Promotor des Vor- keinen Platz mehr findet. Da bezahlt die aus dann zu nutzen, wenn sich das Ver- ruhestandes. Ich habe das immer als ei- Rentenversicherung dafür, daß Teilzeit- hältnis von Beitragszahlern und Rent-

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nern dramatisch verän- SPIEGEL: . . . setzen voraus, daß dafür dert, also in 20, 30 Jah- genügend Jobs angeboten werden. ren? Blüm: Deshalb führen alle Wege nicht Blüm: Die immer wie- nur nach Rom, sondern zu der gleichen der vorgeschlagenen Frage zurück: Wie schaffen wir Arbeit kapitalgedeckten Ren- für alle? Das ist die entscheidende Frage tensysteme funktionie- für alle Sozialsysteme. ren nicht, sie lösen SPIEGEL: Nur weiß Ihre Regierung kei- kein Problem. Wir ne Antwort auf die Frage. Bislang hat brauchten dafür näm- der Einsatz vieler Milliarden Mark, für lich ungefähr neun Bil- Umschulungen etwa, nicht die erhoffte lionen Mark Kapital- Rückkehr zur Vollbeschäftigung ge- deckung. Das ist dop- bracht. Nun sollen Ihre Arbeitsmarkt- pelt soviel wie der politik und der Bürokratie-Koloß Bun- Wert des gesamten desanstalt für Arbeit, der sie praktisch deutschen industriel- umsetzt, auf den Prüfstand. Das hat die len Vermögens. Selbst Koalition jedenfalls angekündigt. wenn, rechnerisch, alle Blüm: Ich habe nie behauptet, daß die

deutsche Fabriken ihr P. GRANSER / ASPECT Arbeitsmarktpolitik die Beschäftigungs- Kapital für die Ren- ABM-Arbeiterinnen im Stahlwerk Riesa frage lösen könnte. Das wäre eine Über- tenversicherung ein- forderung, das Pferd würde von hinten setzten – das wäre eine „Zwei Millionen Arbeitslose mehr – aufgezäumt. Aber daß Arbeitsmarktpo- neue Form der Soziali- die Menschen wären weggelaufen“ litik einen wesentlichen Beitrag gegen sierung –, müßten wir Arbeitslosigkeit geleistet hat, steht au- noch einmal denselben ßer Zweifel. Wenn wir nicht Arbeits- Betrag im Ausland anlegen. Ich weiß SPIEGEL: Ihre pragmatischen Ansät- beschaffungsmaßnahmen, Fortbildung nicht wo, vielleicht in Investitionsfonds ze, die Bildungszeiten zu verkür- und Umschulung, Altersübergangsgeld in Trinidad oder in Hongkong bei der zen, das Renteneintrittsalter zu erhö- und Kurzarbeit in den neuen Ländern Barings-Bank – damit dort die Zinsen hen . . . gehabt hätten, hätte es dort zwei Millio- für unsere Renten erwirtschaftet wer- Blüm: . . . und die Erwerbsbeteiligung nen Arbeitslose mehr gegeben. Können den. Auf so eine Idee können nur welt- der Frauen zu erhöhen, das darf man Sie sich vorstellen, wie die deutsche Ein- fremde Phantasten kommen. nicht vergessen . . . heit ausgesehen hätte? Die Menschen

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wären weggelaufen. Dann hätte die mir auch nicht geben. Die Leistungsge- bewußtsein schwindet. Das Bewußtsein, Wiedervereinigung im Westen stattge- währung etwa des Arbeitslosengeldes daß wir alle in einem Boot sitzen, ver- funden. muß mit der Arbeitsmarktpolitik in Ver- liert gegenüber einer Mentalität: Rette SPIEGEL: Das Ergebnis der Prüfung bindung bleiben. Alles andere löst keine sich, wer kann. Dafür brauche ich keine steht also schon vorher fest: Alles in Probleme, sondern schafft neue. Wenn Statistiken. Das kann ich an der Nut- Butter bei der Arbeitsverwaltung. die Theorie „Besser Arbeit als Arbeitslo- zung von Brückentagen, beispielsweise Blüm: Nein. Da muß vieles reformiert sengeld“ richtig ist, muß die Bundesan- zwischen Christi Himmelfahrt und dem werden. Ich glaube, daß die Bundesan- stalt auch Instrumente haben, um eine folgenden Samstag, erkennen. stalt heute einen zu großen Kopf und zu Brücke zur Arbeit zu bauen. Ansonsten Die Versuchung zum Mißbrauch muß kleine Füße hat. Die Kernfrage ist: Wie hätte sie im übrigen auch keine Möglich- zurückgedrängt werden durch Lei- kann man die Arbeitsverwaltung stärker keit mehr, die Arbeitsbereitschaft zu te- stungsanreize, aber auch durch schärfe- dezentralisieren und ihr vor Ort mehr stenund damitMißbrauchzubekämpfen. re Kontrollen. Es gibt nun die Möglich- Entscheidungsmöglichkeiten und Ver- SPIEGEL: In der Analyse des sozialpoliti- keit, daß der medizinische Dienst schon antwortung geben? schen Sprechers Ihrer Fraktion, Julius am ersten Tag einer Krankmeldung SPIEGEL: Die Kritik an auf Veranlassung der Ihrer Arbeitsmarktpoli- Arbeitgeber eingreifen tik ist doch grundsätzli- kann. Meistens sind die cherer Natur: Die Um- Kollegen ja bekannt, die schulung bringt nichts, gern auf diese Art den sonst wäre inzwischen Urlaub verlängern. der Facharbeitermangel SPIEGEL: Nimmt das ja wohl beseitigt. Mit viel Blaumachen trotz neuer Geld für Arbeitsbeschaf- Kontrollrechte für die fungsmaßnahmen wer- Sozialbehörden zu? den Karrieren finanziert. Blüm: Leider. Alle An- Blüm: Lehrlingsausbil- zeichen sprechen dafür. dung ist nicht Aufgabe Es gibt einen Verlust von der Bundesanstalt, son- – anspruchsvoll formu- dern der Betriebe. Aber liert – Solidaritätsethos Nürnberg ist an vielen in unserer Gesellschaft, Stellen in die Bresche ge- allerdings nicht nur bei sprungen. Wir haben in den Arbeitnehmern. Im- den neuen Bundeslän- mer mehr handeln nach dern beispielsweise hun- dem Motto: Hol raus, derttausend Menschen was du rausholen kannst.

zu Bauarbeitern umge- H. SCHWARZBACH / ARGUS-FOTOARCHIV SPIEGEL: Wer regiert ei- schult. Die gäbe es sonst Bundeswehrrekruten in Hamburger Kaserne gentlich seit 1982 dieses heute nicht. Es hat sich Land, wer steckt den gezeigt, daß zwei Drittel „Auch in der sozialen Verteidigung Rahmen für die Men- der Teilnehmer an Fort- Erfahrungen sammeln“ schen? bildungs- und Umschu- Blüm: Das können Sie lungskursen sechs Mona- nicht einseitig der Regie- te nach Abschluß der Maßnahmen in Be- Louven, sind Sie, Ihre Politik und das rung anlasten. Die beste Regierung ist schäftigung sind. Ich halte das für sehr er- Wirken der Arbeitsverwaltung verant- machtlos, wenn das Bewußtsein schwä- folgreich. wortlich für die hohe Arbeitslosigkeit. cher wird, daß Solidarität nicht nur aus Genauso erfolgreich sind die ABM-Pro- Er meint, Arbeitslosigkeit ließe sich Rechten, sondern auch aus Pflichten gramme. Man muß allerdings immer kri- vor allem auf „unerwünschte Rückwir- besteht. tisch darauf achten, daß ABM Brücke ist kungen der Sozialpolitik zurückführen, SPIEGEL: Dagegen setzen Sie nun ja und nicht zum Parkplatz wird, auch nicht auf negative Anreizwirkungen zu hoher die kreative Idee eines sozialen Pflicht- in Konkurrenz tritt zum ersten Arbeits- Lohnersatzleistungen“. jahres für junge Männer und Frauen. markt. Es wäre janichts gewonnen, wenn Blüm: Meine Analyse ist das nicht; da- Solidaritätsethos per Marschbefehl? wir vom zweiten Arbeitsmarkt einen nach wären am Schluß alle Arbeitslo- Blüm: Ich finde die Idee, daß eine Menschen in den ersten schaffen und da- sen selber daran schuld, daß sie arbeits- nachwachsende Generation in Solidar- für ein anderer vom ersten in den zweiten los sind. Ich sage: Ein Teil der Arbeits- pflichten genommen wird, nicht so fliegt. Das wäre ein reiner Drehtüreffekt. marktprobleme sind Strukturverspätun- schlecht. Mehr als jede Theorie scheint SPIEGEL: Was wird aus der Bundesanstalt gen. Wir haben in der Wirtschaft Inno- mir eine praktische Bewährung in so- für Arbeit? Wird sie, was jetzt vorge- vationen verpennt, sind – zumindest in zialen Diensten eine hilfreiche pädago- schlagen wird, zumindest teilweise priva- Westdeutschland – auf den Lorbeeren gische Sache zu sein. Das Erlebnis, daß tisiert? des Wirtschaftswunders eingeschlafen. anderen zu helfen Freude macht, sollte Blüm: Nein. Eine Privatversicherung Ich will auch dem Problem der hohen man allen jungen Menschen gönnen. wird es nicht geben. Es bleibt bei einer Kosten nicht ausweichen, das müssen SPIEGEL: Die Bundeswehr als „Schule Sozialversicherung mit Solidarausgleich. wir angehen. Und dann, auch das ge- der Nation“ wird nun vom Pflegeheim SPIEGEL: Man könnte die reinen Versi- hört dazu, müssen wir darauf achten, abgelöst? cherungsleistungen – Arbeitslosengeld daß es sich manche nicht zu Lasten der Blüm: Ich finde, nicht nur bei der mili- und -hilfe – der Selbstverwaltung der Bei- Allgemeinheit allzu bequem machen. tärischen, sondern auch in der sozialen tragszahler überlassen und die Arbeits- SPIEGEL: Nimmt der Mißbrauch sozia- Verteidigung Erfahrungen zu sammeln marktpolitik in die öffentlichen Hände ler Leistungen zu? Gibt es dafür Bele- – bis hin zur Entwicklungshilfe –, kann geben, die sie bezahlen. ge? doch nicht falsch sein. Blüm: Eine Stempelbehörde, die nur das Blüm: Dazu stelle ich mit einem Hauch SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Arbeitslosengeld auszahlt, wird es mit von Traurigkeit fest: Das Solidaritäts- Ihnen für dieses Gespräch. Y

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Staatsakte Blechreiz statt Hymne Berlin will eine Feier der Linken zum 8. Mai verbieten – und handelt sich Ärger mit KZ-Opfern ein, die dort reden wollen.

uch seiner eigenen Partei gab der Kanzler etwas zu bedenken. Er ha- Abe grundsätzlich etwas gegen „Erinnerungsverbote“, rief Helmut Kohl auf einer Wahlveranstaltung der CDU in Düsseldorf am vorletzten Wo- chenende in die Menge. Das Gedenken an den 8. Mai, den Tag des Kriegsendes

vor 50 Jahren, müsse „Raum geben für P. LANGROCK / ZENIT viele Empfindungen“. Berliner Mahnmal Neue Wache: „Störhandlungen in Form einer Nestbeschmutzung“ Dem Aufruf ihres Vorsitzenden zur Toleranz mögen die Berliner Partei- Das Verbot hat den Streit, wie denn Umrahmt ist das Ganze von einem freunde nicht folgen. Argwöhnisch be- die Deutschen den 50. Jahrestag des musikalischen Potpourri aus proletari- obachten sie die Bemühungen eines Kriegsendes begehen sollten, in Berlin schen Kampfgesängen, jüdischer Klez- überparteilichen Bündnisses, mit einer neu entfacht. Während viele Linke den mer-Musik und schrägen Tönen von Demonstration am Vorabend des 8. Mai Gedenktag zur breiten Diskussion über „Blechreiz“ sowie der Punkband „Die der „Befreiung vom deutschen Faschis- die Schuld der Deutschen nutzen wol- Fremden“. Als Redner hat die Initiative mus“ zu gedenken. len, möchte die Bundesregierung das öf- ausländische Opfer der Nazis eingela- Die Christdemokraten stoßen sich fentliche Gedenken am liebsten auf ei- den, beispielsweise aus Belgien Maurice daran, daß die Initiative, der neben den nen Staatsakt im Saale begrenzen und Goldstein, den Präsidenten des Inter- Grünen und der PDS auch zahlreiche eine Auseinandersetzung über den Be- nationalen Auschwitz-Komitees, und SPD-Bezirksverbände angehören, ein griff „Befreiung“ vermeiden. aus Frankreich Pierre Durand, den Friedensfest vor der Neuen Wache fei- Minutiös ist der Ablauf des offiziellen Vorsitzenden des Buchenwald-Komi- ern will. Das von dem Berliner Baumei- Festakts im Schauspielhaus am Gendar- tees. ster Karl Friedrich Schinkel entworfene menmarkt geplant. Wenn Bundespräsi- Durand klagt über „den Versuch Mahnmal, das bis 1945 der Soldatenver- dent Roman Herzog gegen 18.15 Uhr, deutscher Politiker, die Bedeutung des ehrung diente und nun mit einer Koll- sobald die letzten Takte von Beethovens Tages der Befreiung zu verkleinern“. witz-Plastik im Innern an die Opfer von Coriolan-Ouvertüre verklungen sind, Das KZ-Opfer empört besonders die Krieg und Gewaltherrschaft erinnert, vor 1400 Gästen seine Rede hält, wa- Unterstellung der Berliner Polizei, die gilt unter Konservativen als Monument chen rund 3000 Polizisten über die inter- Veranstalter wollten Linksextremisten patriotischer Gesinnung. Viele Unions- nationale Festgemeinschaft. eine Plattform für Randale liefern. christen sehen, wie Senatssprecher Mi- Jeweils 15 Minuten beträgt die vorge- Die Sicherheitsbehörden verweisen chael-Andreas Butz, durch linke De- sehene Redezeit der vier Vertreter der auf Flugblätter, in denen Berliner Auto- monstranten das „nationale Mahnmal Siegermächte. Zugesagt haben der ame- nome eine „unmittelbare politische unseres Vaterlandes bedroht“. rikanische Vizepräsident Al Gore, der Konfrontation zu der offiziellen Veran- Das Landeskriminalamt, Abteilung russische Ministerpräsident Wiktor staltung der Herrschenden“ ankündi- Staatsschutz, reagierte prompt. In ei- Tschernomyrdin, der britische Premier gen. Parole: „Kampf den deutschen Zu- nem sechsseitigen Schreiben untersag- John Major und der französische Staats- ständen“. ten die Ordnungshüter, die dem Berli- chef Franc¸ois Mitterrand. 17 Minuten Ernsterer Schaden für das Renommee ner Innensenator Dieter Heckelmann dauert, gemäß Protokoll, anschließend des wiedervereinigten Deutschland (CDU) unterstehen, die Kundgebung. Beethovens Chorphantasie, noch ein- droht allerdings von Rechtsaußen: Der Es sei zu befürchten, so die Begrün- mal 3 Minuten sind für die deutsche Na- gerade wegen Volksverhetzung und dung, daß Teilnehmer die Gelegenheit tionalhymne eingeplant. Aufstachelung zum Rassenhaß zu zwei nutzten, die „Gedenkstätte Neue Wa- Linke und Alternative bieten ein Jahren Haft verurteilte NPD-Vorsitzen- che zu schänden“. Gerade zum 8. Mai Kontrastprogramm. Unter der Über- de Günter Deckert hat bereits im Kame- sei eine „weltweite Medienwirksamkeit schrift „Nie wieder Faschismus – nie radenkreis getönt, er werde „in Berlin für Störhandlungen gegeben, die dem wieder Krieg“ fordert das „Berliner auf jeden Fall dabeisein“. Ansehen der deutschen Hauptstadt in Bündnis 8. Mai“ in einem Flugblatt, in Auch Funktionäre von Deckerts Jun- Form einer Nestbeschmutzung großen dem rund 200 Personen und Gruppen gen Nationaldemokraten sind gerüstet. Schaden zufügen würde“. zur Kundgebung vor der Neuen Wache Sie wollen „im Zentrum des Gesche- Die Organisatoren des Friedensfestes aufrufen, eine liberale Einwanderungs- hens“ ein heimlich mitgeführtes Trans- haben Widerspruch eingelegt und su- politik und den Verzicht der Bundes- parent entrollen. Aufschrift: „Schluß chen Hilfe beim Verwaltungsgericht. wehr auf internationale Einsätze. mit der Befreiungslüge!“ Y

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Werbeseite Obdachlose Deutsche vor Ruinen des Reichspropagandaministeriums in Berlin, Kolonne deutscher Kriegsgefangener

Mai 1945 – Die Stunde Null am Ende des Weltkriegs Deutschland im Frühling

s war ein Mai mit allem, was dieser Monat verspricht, mit Sonne und blühenden Wiesen. Die Deutschen erlebten ihn auf einem Trümmerfeld: Verwüstetes Land, zerbombte Städte – was die Welt durch den Eroberungskrieg des Nazi-Reichs an Elend erlitten hatte, war mit voller E Wucht auf sie zurückgeschlagen. Das „tausendjährige Reich“, das ihr Führer Adolf Hitler ih- nen verheißen hatte, war erloschen. Besiegt war die deutsche Armee, die halb Europa bekämpft und besetzt hatte. Über 55 Millionen Tote forderte der Zweite Weltkrieg insgesamt, darunter etwa 7 Mil- lionen Deutsche. 12 Millionen Wehrmachtsoldaten marschierten, oft für viele Jahre, in die Gefangen- schaft. 9,5 Millionen Menschen waren auf der Flucht vor der Roten Armee von Ost nach West. Und doch konnte kein Zweifel sein: Dieser Mai 1945 brachte Frieden und Befreiung. Vorbei waren, wie der Schriftsteller und Emigrant Alfred Kantorowicz notierte, „zwölf Jahre, die die Verbrechen von tausend Jahren angehäuft haben“.

36 DER SPIEGEL 18/1995 . ULLSTEIN ULLSTEIN auf der Autobahn bei Gießen (u.) Begrüßung westalliierter Truppen in Südholland NATIONAL ARCHIVES . PUSCHKIN FOTOS: B. Sowjetische Siegerparade vor dem Brandenburger Tor in Berlin

Erster Zug mit Sowjetsoldaten auf Heimfahrt Badende Kinder in Berlin, zerstörter Reichstag

m Europa von den Deutschen zu befreien und den oft genug in Todesangst: Gewalt an Zivilisten und Vergewalti- Deutschen die Diktatur auszutreiben, bedurfte es gung von Frauen waren alltäglich, während des Krieges und einer gewaltigen Kriegskoalition aus höchst unglei- auch noch danach. Erst allmählich normalisierte sich der Um- U chen Partnern. Die Russen verloren dabei etwa 14 gang der Bevölkerung mit den sowjetischen Besatzern – die Millionen Soldaten, bei den Westalliierten fielen rund eine sich dann für einige Jahrzehnte an der „Friedensgrenze“ zwi- Million. Kaum war die deutsche Wehrmacht bezwungen, drif- schen den Machtblöcken festsetzten. tete das Bündnis auseinander – wenn auch zunächst nur in Wie die Amerikaner in Farbe, seinerzeit noch ungewöhn- Prestigefragen. Die Russen bestanden darauf, die bereits am lich, hielten die Russen ihr Leben in Deutschland in schwarz- 8. Mai besiegelte Kapitulation in ihrem Berliner Hauptquar- weißen Aufnahmen fest. Bisher unbekannte Bilder schoß der tier noch ein weiteres Mal zu vollziehen – einen Tag später. damalige Tass-Fotograf Boris Puschkin. 400 seiner Fotogra- Aber schon bald war offenkundig, daß die Sowjetarmee das fien erwarb jüngst das Deutsche Historische Museum in Ber- einmal eroberte Territorium so rasch nicht wieder preisgeben lin – von denen der SPIEGEL nun erstmals eine Auswahl ver- würde. Mit deren Soldaten mußten die Deutschen nun leben, öffentlicht.

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Werbeseite . R. STEININGER Überlebende im befreiten Konzentrationslager Dachau Russisch- ULLSTEIN Göring, nach seiner Festsetzung, bei einer Pressekonferenz

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o die Sieger sich trafen, gab es erst einmal Feiern. Doch Siegern wie Besiegten wurde nun auch of- Wfenbar, welches Ausmaß die na- tionalsozialistische Barbarei in den zwölf Jah- ren angenommen hatte. Über sechs Millionen Menschen, in der großen Mehrheit Juden, fie- len dem NS-Rassenwahn zum Opfer. Auf den Suchlisten der Alliierten standen die Namen von rund einer Million Deutschen, die als Kriegsverbrecher in Frage kamen. Doch keiner wollte es gewesen sein – nicht einmal einer der Hauptverantwortlichen für die großdeutschen Weltherrschaftsgelüste, der Hitler-Paladin und Reichsmarschall Her- mann Göring. Auf die Frage, ob er wisse, daß er als Kriegsverbrecher gesucht werde, antwortete Göring: „Nein. Das überrascht mich sehr, denn ich wüßte nicht, warum.“ Allen Ernstes gab der Reichsmarschall noch bekannt, er wolle mit dem US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower „von Mann zu Mann“ über

ULLSTEIN Deutschlands Zukunft verhandeln. amerikanische Verbrüderung an der Elbe, KZ-Opfer in Buchenwald (u.) ULLSTEIN Werbeseite

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Deutsche Kriegsgefangene im Rheinland, zerstörte MAN-Werke bei Nürnberg (u.) R. STEININGER Ausgebombte Deutsche, Wasserzuteilung in Berlin (u.) B. PUSCHKIN .

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iebedingungsloseKapitula- tion am 8. Mai 1945 war das Schlußwort zum größten D Zusammenbruch Deutsch- lands in seiner Geschichte. Was von der Militärmaschinerie noch übrigge- blieben war, kam in die Gewalt der Alliierten. Auf ihre Wirtschaft – die den Krieg in Gang gehalten hatte und schließlich durch ihn ausgezehrt wor- den war – konnten die Deutschen in

R. STEININGER dieser Stunde Null nicht mehr rech- Wehrmachtssoldat bei der Festnahme nen. 400 Millionen Kubikmeter Trüm- mer bedeckten das untergegangene Dritte Reich; Städte wie Köln, Dort- mund oder Kassel waren zu zwei Drit- teln zerbombt. „Staub, Puder der Zerstörung“, notierte der Schriftstel- ler Heinrich Böll, „drang durch alle NATIONAL ARCHIVES Ritzen.“ Versorgungs- und Verkehrs- netze waren kaum noch brauchbar. Wo vor dem Krieg vier Deutsche zusammenlebten, drängten sich nun zehn, und aus dem Osten treckten Millionen Vertriebene heran. Zur Wohnungsnot kam der Hunger. Schwarzmärkte blühten auf, gehan- delt wurde mit allem, was überleben half – doch es reichte bei weitem nicht. Ein russischer Augenzeuge schrieb auf: „Menschen essen Gras

B. PUSCHKIN und Rinde von den Bäumen.“ Befreite Zwangsarbeiter in Berlin, abgestürzter deutscher Jäger (u.) R. STEININGER R. STEININGER

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ls Staat, als Macht und als Doktrin ist das Deut- hatten es da leichter: Aus Volksgenossen mußten nur Ge- sche Reich völlig zerstört“, triumphierte Frank- nossen werden. „Wer immer ein Gebiet besetzt“, so hieß reichs Re´sistance-Führer Charles de Gaulle nach das mit den Worten des Kreml-Herrschers Josef Stalin, A dem 8. Mai. Auf Gnade und Ungnade waren die „erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System Davongekommenen den Siegern ausgeliefert – und die hat- auf.“ ten darüber, was aus den Besiegten nun werden sollte, sehr verschiedene Vorstellungen. Daß die Zukunft der besiegten Nation auf längere Sicht nicht allein in den Händen der Besatzer liegen konnte, „Es muß den Deutschen klargemacht werden, daß machten sich Realisten wie der britische Premier Winston Deutschlands rücksichtslose Kriegführung und der fanati- Churchill allerdings schon damals klar. „Wir werden nie in sche Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört der Lage sein“, belehrte er seinen Außenminister Eden, und Chaos und Leiden unvermeidlich gemacht haben“, so „Deutschland ohne die Deutschen zu regieren.“ begründeten die Amerikaner das schon vor der Kapitulati- on beschlossene Umerziehungsprogramm. Aus den Unter- Bald nach dem Mai regte sich erneut politisches Leben tanen sollten jetzt endlich gute Demokraten geformt wer- zwischen den Ruinen. Und gut vier Jahre später hatten die den. Ein hartes Stück Arbeit: „Schwere geistige Krankheit“ Deutschen wieder ihre Regierung, diesmal gleich zwei. hatte eine Forschungsgruppe um den emigrierten Sozialpsy- Aus dem Patienten Deutschland war schließlich ein chologen Erich Fromm den autoritätsgläubigen Deutschen Bündnispartner geworden – gespalten, auf verschiedenen zugeschrieben und eine radikale Therapie empfohlen. Seiten des Ost-West-Konflikts. Bis die Teilung, bittere Moskaus Statthalter, angeführt von dem schon Ende Spätfolge aus dem großdeutschen Abenteuer, wieder über- April eingeflogenen Exil-Kommunisten Walter Ulbricht, wunden war, vergingen 45 Jahre. Y R. STEININGER Amerikanisches Lager für deutsche Kriegsgefangene auf den Rheinwiesen bei Bonn

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SPIEGEL-Gespräch „Eine gewisse Gemütlichkeit“ Der Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma über die deutsche Erinnerung an die NS-Zeit

SPIEGEL: Herr Reemtsma,jedeStadt, die zu vergleichen. Zwischen beiden Grup- beleuchtet und so weiter. Die Wehr- auf sich hält, beschwört in Ausstellungen pen gibt es einen Generationenabstand macht ist aber nicht nur irgendeine ge- und VorträgendieMai-Tage 1945 herauf, – sie sind einander innerfamiliär nicht sellschaftliche Institution, sondern sie als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. mehr durch Konflikte über Schuld und ist mit dem Leben der Durchschnittsfa- Erstaunt Sie die Bereitschaft, an die Mitwissen verbunden. milie verbunden: mit dem Vater, Groß- schreckliche Vergangenheit zu erinnern? SPIEGEL: Die Verbrechen der Wehr- vater oder Onkel und dem, was der – Reemtsma: Interessant ist die Art und macht sind so ziemlich das letzte Tabu vielleicht – getan hat. Weise der Vergangenheitsbeschwörung, gewesen, das passend zum 50. Jahrestag SPIEGEL: Glauben Sie denn, daß Sie weil sie Aufschluß gibt über den politi- des Kriegsendes gebrochen wird. die Version dieser Väter- und Großvä- schen Zustand der heutigen Gesellschaft. Reemtsma: Die Beteiligung einzelner ter-Generation, wonach SS und SD die Aber eigentlich möchte ich die Frage zu- Gruppen an den Verbrechen der Hitler- Verbrechen begangen haben und nicht rückgeben. Der SPIEGEL feiert ja kräf- Zeit ist über die Jahre segmentweise etwa die Wehrmacht, korrigieren kön- tig mit – mit Titelgeschichten über „50 thematisiert worden. Die Ärzte waren nen? deutsche Jahre“, über Auschwitz und im Nürnberger Ärzteprozeß dran, ir- Reemtsma: Nein. Man kann ohnehin „Hitlers letzte Tage“. gendwann fiel das Stichwort von den Leute nicht bekehren, jedenfalls nicht SPIEGEL: Was ist anstößig an faktenrei- furchtbaren Juristen, davor begannen mit sozialwissenschaftlichen Bemühun- chen Berichten? die Germanisten ihre Geschichte genau- gen. Wer der Überzeugung ist, die Reemtsma: Ich hätte gerne Streit um die er zu betrachten, die Rolle der Wirt- Wehrmacht habe dem Ideal des Solda- zentralen historischen Fragen. Auch der schaftsunternehmen und Banken wurde ten entsprochen, wird sich durch unse- Streit um die Form von re Dokumente, die das historischem Gedenken Gegenteil beweisen, al- ist wichtig – übrigens lenfalls ärgern, aber gerade weil es hier in nicht davon abbringen Deutschland keine an- lassen. Ausstellungen gemessenen Lösungen sind ja auch nicht dazu gibt. Aber im Streit da, dem Publikum die kann genau dies deut- eine Meinung abzu- lich werden, und daß schwatzen und ihnen die Deutschen mit ihrer statt dessen eine andere Geschichte nicht fertig aufzudrängen. Wenn es sind. gutgeht, tragen wir dazu SPIEGEL: Erinnern als bei, die Art des allge- Provokation – Ihr meinen gesellschaftli- Hamburger „Institut chen Redens über sol- für Sozialforschung“ che Themen zu beein- trägt mit einer Ausstel- flussen. Manchmal ge- lung über die Beteili- lingt es sogar, eine Art gung der deutschen Schub in eine bestimmte Wehrmacht am Holo- Richtung zu bewirken. caust im Osten dazu SPIEGEL: Und gibt es bei. Die Ausstellung ist diesmal diesen Schub? N. FEANNY / SABA ein Erfolg – weil sie für Reemtsma (l.) beim SPIEGEL-Gespräch*: „Destruktive Energie“ Reemtsma: Man wird Aufregung sorgt? sehen. Interessant ist, Reemtsma: Vermut- Als Forscher und Mäzen daß wir von ehemaligen lich. Interessant ist, Wehrmachtsangehöri- wer sie besucht: mehr- widmet sich Jan Philipp Reemtsma der Literatur und Wissenschaft. Der gen nicht nur verärgerte heitlich Junge, so 15 bis Sproß einer Hamburger Zigaretten-Dynastie verkaufte 1980 sein Erbe für Briefe, sondern viele 25, und sehr viele Älte- gut 300 Millionen Mark. Reemtsma, 42, unterstützte Arno Schmidt, unterstützende bekom- re mit eigenem biogra- gründete eine „Arno Schmidt Stiftung“ und einen 50 000-Mark-Literatur- men, vonMenschen, die phischen Bezug. Die preis, der dem Heide-Dichter huldigt. 1984 richtete er das „Hamburger bestätigen, was die Aus- Alten kommen wohl, Institut für Sozialforschung“ ein. Das Reemtsma-Institut forscht über die stellung zeigt und sagt – weil sie damals dabei Geschichte der Bundesrepublik und den Nationalsozialismus. Die Aus- daß es Verbrechen, be- waren, die Jungen nüt- stellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis gangen von ihrer Ein- zen die Ausstellung, 1944“ macht Furore: Die deutsche Wehrmacht, so belegen neue Doku- heit an Juden, Partisa- um sie mit dem Gelern- mente, war beteiligt an der systematischen Ermordung von Juden, nen oder Zivilisten ge- ten im Schulunterricht Kriegsgefangenen und Partisanen im Osten, auf dem Balkan, in Italien. geben hat. Der notorisch öffentlichkeitsscheue Mäzen leitet das Institut, steht der SPIEGEL: Was bedeutet * Mit Redakteur Gerhard Schmidt-Stiftung vor und lehrt an der Hamburger Universität Literatur. der 8. Mai 1945 aus Ihrer Spörl. Sicht?

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Reemtsma: Die bedingungslose Kapitu- lation Deutschlands. Es war keine Be- freiung, denn der Krieg ist von den Al- liierten nicht geführt worden, um Deutschland von Hitler zu befreien. Die Deutschen haben auch nicht auf den Straßen getanzt. Befreit wurden alleine die Häftlinge in den Konzentrationsla- gern und Gefängnissen. Dieser Tag ist auch kein Tag der Niederlage, denn da ist nicht einfach eine Armee besiegt worden. Da hat eine Volksgemeinschaft bis zum bitteren Ende gekämpft und mußte bedingungslos kapitulieren. SPIEGEL: Der amerikanische Präsident Roosevelt hatte die Alliierten darauf festgelegt, daß Deutschland bedin- gungslos kapitulieren müsse – was den Deutschen als Ausrede fürs Durchhal- ten diente. Reemtsma: Die destruktive Energie, bis zum Schluß durchzuhalten, ist historisch beispiellos. Tatsächlich ist es den Nazis zum großen Teil gelungen, ihre fixe Idee von der Volksgemeinschaft Wirklichkeit werden zu lassen. SPIEGEL: Warum ist es gelungen? Reemtsma: Man kann auf solche Fragen am besten antworten, indem man in Geschichten Entwicklungen deutlich macht. Nach den Pogromen von 1938 beschwert sich eine Reihe Offiziere, darunter der spätere Admiral Dönitz. Sie werden von Hitler beschieden, Gau- leiter hätten eigenmächtig gehandelt. Sechs Jahre später, 1944, hält Dönitz ei- ne Ansprache im Radio, wobei er Hitler im Namen des deutschen Volkes dafür dankt, daß er das Land von den Juden befreit hat. Genau diese Passage wird Dönitz dann im Nürnberger Prozeß vor- gehalten. Dönitz rechtfertigt sich damit, er sei der Meinung gewesen, daß die „Durchhaltekraft des deutschen Vol- kes“ durch die Beseitigung der „jüdi- schen Volksteile“ gestärkt worden sei. Die Nazis haben aus Deutschland eine Volksgemeinschaft gemacht. Jeder wuß- te, daß es keine Juden mehr gab, selbst wenn er nicht genau wußte, was ihnen angetan wurde. SPIEGEL: Sie wollen sagen, es gab die Integration durch Verfolgung, Vertrei- bung und Ermordung der Juden? Reemtsma: Es gibt den kollektiven Zu- sammenhalt durch Mittäterschaft. Und dann gibt es, wie man heute auch an- derswo feststellen kann, das Gefühl von Einheit für die Mehrheit eines Volkes durch Mord an einer Minderheit. SPIEGEL: Helmut Schmidt führt das Ar- gument ins Feld, seine Generation habe das politische Gegenmodell nicht ge- kannt, nicht gewußt, was Demokratie ist und wie sie funktioniert. Reemtsma: Das muß man auch nicht wissen, um das Verschwinden eines Teils der Bevölkerung für ein Verbre- chen zu halten. Aber natürlich spielt auch das eine Rolle. Es gibt viele Erklä- rungen, aber es gibt nicht den verborge- nen Joker, der alles erklärt. Man kann nur genau beschreiben, möglichst facet- tenreiche Geschichten erzählen. Und man muß zur Kenntnis nehmen, daß viele sich ein Leben außerhalb dieser Volksge- meinschaft nicht vorstellen konnten. SPIEGEL: Die Kriegsgeneration, der etwa Helmut Schmidt angehört, stirbt langsam aus. Die Flakhelfer, wie Hans-Dietrich Genscher, und die Hitler-Jungen, für die Helmut Kohl steht, sind im Pensionsal- ter. Letzte Gelegenheit, um ihre Version vom Leben und von der Kriegszeit da- mals zu meißeln? Reemtsma: Ich sehe nicht, daß diese Ge- nerationen ein kohärentes Bild von sich entwerfen. Eine Ausnahme bildet Alfred Dregger, der jetzt zur Galionsfigur der Neuen Rechten gemacht wird. SPIEGEL: Für die anderen, die eher Libe- ralen auch unter den Konservativen, hat Richard von Weizsäcker 1985 gespro- chen. Seine Rede wird heute auch von „Weizsäcker vergaß, daß Selbstkritik nicht möglich war“

Kanzler Kohl variiert, darin können sich die meisten wiederfinden – bis hin zu den 68ern. Reemtsma: Wobei Weizsäckers Rede eine bezeichnende Lücke aufwies: Er vergaß 1985 zu thematisieren, warum für die Konservativen eine selbstkriti- sche Erinnerung 40 Jahre lang nicht möglich gewesen war. SPIEGEL: Aber hat der Mangel an Streit, der Sie ärgert, nicht mit Weizsäckers Rede vor zehn Jahren zu tun? So etwas wie Bitburg 1985, der Besuch Kohls und Ronald Reagans auf einem Friedhof mit SS-Gräbern, ist heute kaum denkbar. Reemtsma: Die Rede Weizsäckers ver- dient noch eine andere Fußnote. Bei an- derer Gelegenheit, einem Gespräch in der Zeit über den 20. Juli, hat er sinnge- mäß gesagt, es habe wohl hier und da in der Wehrmacht Offiziere gegeben, die ihrer Verantwortung nicht in vollem Maße gerecht geworden sind. SPIEGEL: Sie meinen, der Altbundes- präsident und Weltkriegsveteran hat hier einen blinden Fleck? Reemtsma: Das war Weizsäckers For- mulierung für planmäßig angeordneten und durchgeführten Massenmord – dar- auf war er angesprochen worden. SPIEGEL: Der wohltuende Unterschied zwischen der Debatte 1995 und der von 1985, woraus dann nicht zufällig der Hi- storikerstreit um die Singularität von Auschwitz erwuchs, tröstet Sie nicht? Reemtsma: Natürlich ist das ein gutes Zeichen – aber von einer Art, die mich gleichermaßen beunruhigt. Es hat etwas Unheimliches, daß wir uns, nachdem Werbeseite

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DEUTSCHLAND N. MATOFF Hamburger Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“: „Kollektiver Zusammenhalt durch Mittäterschaft“

vier Armeen nötig waren, um ein Land Beschäftigung mit der nationalsozialisti- gab einen patriotischen Konsens zwi- zu besiegen, das für einen ungekannten schen Vergangenheit aufgezwungen, ein schen Vater und Sohn. Das Leitmotiv zivilisatorischen Zusammenbruch ver- großes Verdienst. Irgendwann aber ver- der 68er ist mir nicht fremd. antwortlich war, nun in einer gewissen brauchen sich solche Energien. Es ist SPIEGEL: Ihr Vater ist 1948 in Ham- Gemütlichkeit über die Gesprächsfor- auch nicht sonderbar, daß Leute wie Fi- burg angeklagt worden, weil er Göring, meln verständigen sollen. scher anderswo landen, als sie selber eigener wirtschaftlicher Vorteile we- SPIEGEL: Was ist Ihr Maßstab? einmal geglaubt haben. Es ist normal, gen, unterstützt haben sollte. Reemtsma: Katastrophen jagen Schrek- wenn Individuen und Generationen äl- Reemtsma: Es ging um Ermittlungen, ken ein. Der Schrecken sollte nachhaltig ter werden. die bereits vor 1933 angestellt worden sein. Sonst stimmt das Sensorium nicht. SPIEGEL: Sie haben erstaunlich viel Di- waren. Sie betrafen Informationen SPIEGEL: Wir sehen nicht, wo sich Ge- stanz zu den 68ern. über die Steuerpolitik der Regierung. mütlichkeit bei der Betrachtung der Hit- Reemtsma: An dieser Linken hat mich Die Ermittlungen wurden eingestellt – ler-Zeit ausbreitet. Der Erfolg Ihrer irgendwann zu stören begonnen, welche durch den Kontakt meines Vaters zu Ausstellung ist doch der Gegenbeweis, seltsame Karriere der Faschismus-Be- Göring. Das führte dann zu reichen die Aufnahme, um ein ganz anderes griff bei ihnen genommen hat. Die Ver- Spendentätigkeiten und privaten Zu- Beispiel zu nennen, eines Filmes wie nichtung der Juden gab für die 68er ei- wendungen, soviel ich weiß. „Schindlers Liste“ ebenfalls. gentlich gar nicht den Ausschlag – sie re- SPIEGEL: Ihr Vater ist gestorben, als Reemtsma: Beides zeigt, daß die Situati- deten genauso selbstverständlich von Sie sieben Jahre alt waren. Fehlt Ihnen on nicht eindeutig ist. Nicht eindeutig Faschismus, wenn es in diesen Jahren die Auseinandersetzung mit ihm? und mal mehr, mal weniger verrückt. um Griechenland oder Chile ging. Sie Reemtsma: Ich finde es schade, daß ich Das kann wohl nicht anders sein. Aber glaubten, sie hätten den Universal- ihm nicht eine ganze Reihe von Fragen ich male nicht alles schwarz. schlüssel für alle Probleme. Eine we- stellen konnte. Ich empfinde es aber SPIEGEL: Sind nicht einfach Konflikte sentlich marxistisch fundierte Theorie nicht als dramatische Lücke in meinem und Spannungen, die zwischen der 68er der Gesellschaft trägt nicht viel zu ei- Leben. Bewegung und deren Vätern ausgetra- nem wirklichen Verständnis der de- SPIEGEL: Sie gehen nicht so weit zu sa- gen wurden, abgeebbt? Als Symbol läßt struktiven Energien bestimmter Gesell- gen: Ich bin nicht gerne ein Reemts- sich geradezu deuten, daß der Straßen- schaften bei. Vielleicht machte sie das in ma? kämpfer Joschka Fischer sich fast zum Deutschland so attraktiv. Reemtsma: Ich fühle mich nicht als Staatsmann gewandelt hat. SPIEGEL: Herr Reemtsma, Sie sind „ein Reemtsma“. Als Bürger denkt Reemtsma: Die 68er Generation hat das Sproß einer Hamburger Unternehmer- man nicht dynastisch. Ich trage diesen politische Klima in gewisser Weise ver- familie. Zwei Ihrer Halbbrüder sind im Namen, und ich mache, was ich für ändert. Sie hat – dazu gehört allerdings Krieg als Soldaten gefallen . . . richtig halte – in eigenem Namen. auch die Vorgeschichte des Eichmann- Reemtsma: Der eine von ihnen hätte SPIEGEL: Herr Reemtsma, wir danken Prozesses in Jerusalem – dem Land die nicht Soldat werden müssen. Aber es Ihnen für dieses Gespräch. Y

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muß noch von der Nürnber- Kriminalitätsstatistik ger Anstaltsspitze genehmigt werden. Dort wird sie von Gewerkschafterin Engelen- Falsches Bild Kefer als „überflüssig und ge- Nordrhein-Westfalens Innenminister Her- fährlich“ bekämpft: „Mit uns bert Schnoor (SPD) wirft Bundesinnenmi- wird es keine Aushöhlung nister Manfred Kanther fahrlässigen Um- der Selbstverwaltung geben.“ gang mit der Kriminalitätsstatistik vor. Kanther hatte Mitte April einen Anstieg Chemieunfall der Organisierten Kriminalität (OK) be- klagt. Danach sind die OK-Ermittlungsver- Hoechst muß fahren mit 789 im Jahr 1994 (1993: 776) nur geringfügig gestiegen, doch der angerichte- Öko-Studie zahlen

te Schaden habe sich von 1,87 Milliarden AP H. SCHWARZBACH / ARGUS Nach langem Streit zwischen Mark auf 3,5 Milliarden im vergangenen Schnoor Kanther Bürgerinitiativen, der Stadt Jahr fast verdoppelt. Für den „entschlosse- Frankfurt und dem Che- nen Kampf gegen das organisierte Verbre- Pleite des westfälischen Sportbodenher- mieunternehmen Hoechst chen“, forderte Kanther, müsse endlich stellers Balsam ein. Die allein schlug mit AG beginnt jetzt die erste auch die Grundlage für die bessere „Über- rund 2,5 Milliarden zu Buche und ist im großangelegte Untersuchung wachung von Gangsterwohnungen“ ge- OK-Lagebericht des nordrhein-westfäli- von möglichen Spätschäden schaffen werden. An der Schadenshöhe schen Landeskriminalamts deshalb als Ein- durch den Giftunfall vom 22. läßt sich laut Schnoor die wiederholte For- zelposten ausgewiesen. Schnoor: „Statistik Februar 1993. Damals waren derung nach dem Großen Lauschangriff al- ist für viele Politiker das, was die Laterne aus einem Sicherheitsventil lerdings nur schwerlich festmachen: In den für den Betrunkenen ist: Er hält sich an ihr OK-Schaden von 3,5 Milliarden Mark fest, ohne sich von ihr erleuchten zu las- rechneten die Kanther-Beamten auch die sen.“

Naturschutz Insgesamt, so hat der Na- Die geschützten Flächen blie- turschutzbund Deutschland ben dann in deren Hand, die Hohe Kosten (Nabu) hochgerechnet, kön- Ausgleichszahlungen würden nen so zwar 160 Millionen entfallen. dank Waigel Mark eingenommen werden. Ein Großteil der unter Na- Doch für Gelände, das zum Arbeitsämter turschutz stehenden Flächen Beispiel in einem National- in Ostdeutschland soll ver- park liegt und deshalb nicht Sachsen kauft werden. Doch statt ei- mehr bewirtschaftet werden nes satten Gewinns kommen darf, müssen die Länder dem unter Kontrolle damit auf die neuen Bundes- Käufer einen Ausgleich zah- Die stellvertretende Vor- länder womöglich Ausgaben len. Innerhalb zehn Jahren standschefin der Bundesan- in Milliardenhöhe zu. Der- summieren sich diese Kosten stalt für Arbeit (BA), Ursula

zeit werden die Grundstücke nach Nabu-Schätzungen auf Engelen-Kefer, wehrt sich ACTION PRESS noch treuhänderisch ver- bis zu 1,4 Milliarden Mark. gegen den Versuch der säch- Chemie-Unfall bei Hoechst (1993) waltet. Laut Entwurf ei- Die Naturschützer verlangen sischen Landesregierung, das ner „Flächenerwerbsverord- deshalb von Waigel, die Flä- dortige Landesarbeitsamt zu des Konzerns im Frankfurter nung“ von Finanzminister chenerwerbsverordnung zu kontrollieren. Der Entwurf Stadtteil Griesheim rund Theo Waigel müssen die Flä- ändern: Nicht die Alteigentü- einer bundesweit einmaligen zehn Tonnen eines giftigen chen zunächst den Alteigen- mer, sondern die Länder soll- Kooperationsvereinbarung Gebräus ausgetreten, das tümern angeboten werden. ten das Vorkaufsrecht haben. sieht vor, daß die Regierung vermutlich Krebs- und Erb- unter Kurt Biedenkopf guterkrankungen verursa- (CDU) und die Chemnitzer chen kann. Um mögliche Ge- Behörde künftig eine „abge- sundheitsschäden zu untersu- stimmte gemeinsame Analy- chen, soll das Bremer Insti- se“ von Arbeitsmarktdaten tut für Präventionsforschung vorlegen. Außerdem „erwar- und Sozialmedizin (BIPS) tet die Staatsregierung“, so nun zunächst 15 000 Frank- ein weiterer Paragraph, furter rund um die Kernzone „frühzeitige Abstimmung“ des Unfalls darüber befra- bei der Besetzung von Füh- gen, ob und wie lange sie rungspositionen der BA in Kontakt mit dem Schadstoff Sachsen. Vor der Landtags- hatten. Die Kosten der Stu- wahl 1994 hatte das Landes- die (875 000 Mark) über- arbeitsamt auf hauseigene nimmt, nach zähen Verhand- Statistiken verwiesen, wo- lungen, die Hoechst AG. nach in Sachsen deutlich Der Konzern hätte den Auf- mehr Arbeitsplätze fehlten, trag lieber an den TÜV ver-

NORDLICHT als von der Regierung be- geben als an das chemiekriti- Naturschutz in der DDR hauptet. Die Vereinbarung sche BIPS.

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konnte ohne Zwischenfälle durchge- Junge „weise eine Pigmentierung auf, Flüchtlinge führt werden“, hieß es später lapidar die man verstärkt bei Sinti und Roma im Polizeibericht. findet“. Doch der Einsatz vom Gründonners- Professor Felix Bläker, Ärztlicher Di- tag trug den Kölner Behörden mehrere rektor der Kinderklinik, bestreitet frei- Völlig Anzeigen wegen Volksverhetzung, Nö- lich, daß sein Haus Hinweise auf eine tigung und Freiheitsberaubung im Amt Abstammung des Findelkindes von Ro- ein. ma-Eltern gegeben habe. Es sei ledig- verängstigt „So wäre niemals gegen deutsche lich, sagt der Arzt, vom „mediterranen Frauen vorgegangen worden“, behaup- oder südeuropäischen Raum“ die Rede Auf der Suche nach der Mutter ei- tet Kurt Holl, Sprecher des Kölner gewesen. nes Findelkindes sollen Kölner Vereins „Rom – für die Verständigung Utermann ließ nach dem Hinweis alle von Rom und Nicht-Rom“. Frauen im Alter zwischen 15 und 40 Jah- Polizisten Roma-Frauen mißhandelt Der nordrhein-westfälische Justizmi- ren aus dem Roma-Lager „zur Feststel- haben. nister Rolf Krumsiek kündigte Konse- lung der Mutterschaft“ abholen: „Die quenzen an, falls sich die „unglaublich Beamten haben geklopft, die Frauen klingenden Vorwürfe bestätigen soll- wurden von Dolmetschern informiert ls die Polizei im Morgengrauen ten“. und stiegen freiwillig in den Bus“, be- anrückte, konnte der Wachmann Einige Tage vor Ostern war in ei- hauptet der Kölner Polizeisprecher Afür seine Schützlinge nichts mehr nem Gebüsch nahe den Flüchtlingsba- Werner Schmidt. tun. Der Angestellte der Kölner Firma racken am Poller Holzweg ein neuge- Gedächtnisprotokolle der Frauen, Adler, zuständig für die Sicherheit von borener Junge ausgesetzt worden. Der aufgezeichnet von Mitgliedern des Ver- rund 100 Roma, durfte die Flüchtlinge Kölner Staatsanwalt Karl Utermann eins „Rom“, geben jedoch ein völlig an- aus dem ehemaligen Jugoslawien nicht vertrat die Ansicht, die Mutter könne deres Bild. einmal wecken: „Das lassen Sie lieber sich unter den Roma befinden. Malena S., 19: „Ich habe geschlafen. bleiben“, warnte ihn einer der Beam- Dafür, so sagt er, habe er Hinweise: Die Polizei hat an die Tür geklopft und ten. Ein Zeuge will eine Frau am Fundort ist reingekommen. Eine Polizistin hat Die 80 Polizisten umstellten die vier des Babys beobachtet haben, die her- mich sofort überall abgetastet, die Män- großen Baracken im Kölner Stadtteil nach im Roma-Lager verschwand. Au- ner haben mich am Kopf festgehalten. Poll, holten die Bewohner aus den ßerdem, behauptet Utermann, hätten Dann haben sie mich fotografiert. Sie Betten und verfrachteten 43 Roma- die Ärzte der Klinik, in der das Findel- haben nicht erklärt, warum sie das ma- Frauen in einen Bus. „Die Maßnahme kind aufgenommen wurde, erklärt, der chen.“ Jasminca S., 25: „Als sie reinge- kommen sind, haben sie mich so- fort gestoßen. Ich bin hingefallen, und meine Naht von der Geburt vor einem Monat ist wieder aufge- platzt.“ Rabia H., 13: „Die Polizei ist ge- kommen, und ich habe gesagt, daß ich 13 Jahre alt bin, aber sie haben mir nicht geglaubt. Ich konnte kein Papier zeigen, weil ich im Ausweis meiner Mutter stehe, und meine Mutter war nicht da.“ Wie Anna Dalmolin von der „Rom“-Initiative später erfuhr, hielten sich die Beamten strikt an ihre Anweisung, alle Frauen „im

J. LEY gebärfähigen Alter“ mitzunehmen: Polizeieinsatz im Roma-Lager*: „Überall abgetastet“ „Darunter waren auch zwei Schwangere und Frauen, die ihre Kinder noch stillten.“ „Wer sich sträubte, wurde im Polizeigriff in den Bus geführt“, sagt „Rom“-Sprecher Holl, dem Bewohner der Baracken die Szene schilderten. Die meisten Frauen seien völlig verängstigt gewesen. Als Bürgerkriegsflüchtlinge im Lande nur geduldet, hätten sie ge- fürchtet, der Zeitpunkt ihrer Ab- schiebung sei gekommen. Der Bus fuhr zum Polizeipräsidi- um. „Mein Kind war bei mir und hat geweint, weil es Hunger hat- te“, sagt Sevala B., 24: „Ich woll-

H. HAGEMEYER / TRANSPARENT * Am Gründonnerstag im Kölner Stadtteil Protest gegen Zwangsuntersuchung: „Niemals gegen deutsche Frauen“ Poll.

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te aussteigen und was zu essen kaufen, aber die haben das nicht er- Wahlen laubt.“ Einzeln, eskortiert von zwei Poli- zeibeamten, wurden die Frauen in den Vortragssaal geführt. Im Beisein von rund 15 weiteren Beamten, erzählen sie, Erst Kuba, sei ihnen Blut abgenommen worden. Erst gegen Mittag hatten die Frauen die Prozedur überstanden und wurden, jetzt Bremen bis dahin ohne Versorgung, wieder nach Hause gefahren. Die PDS will mit aller Macht in die Drei Frauen mußten sich, zwangswei- Bremer Bürgerschaft: Ostdeutsche se, einer gynäkologischen Untersuchung in einem Kölner Krankenhaus unterzie- leisten Wahlkampfhilfe. hen, nur weil die vage Beschreibung des Zeugen auch auf sie zutraf. Keine der ie letzten Werder-Fans sind schon drei Frauen, so der Untersuchungsbe- vor Stunden nach Hause gezogen. fund, hatte jedoch in jüngerer Zeit ein DVerlassen liegt der Parkplatz hin- Kind entbunden. ter dem Bremer Weserstadion. In der Die Auswertung der Blutproben wird kühlen Nachtbrise klappern leere Pla- mehrere Wochen dauern. Das Verfahren stikbecher über den Schotter. ist legal; laut Strafprozeßordnung dürfen Nur in einer Ecke des öden Platzes Behörden Menschen auch ohne Einwilli- regt sich Leben. Einige Gestalten wuch- gung Blut abzapfen, wenn dies „zur Er- ten schwere Zeitungspakete aus einem forschung der Wahrheit“ unerläßlich ist. Lastwagen. Andere ziehen Zelte hoch. Nach Kapitalverbrechen wurden Gunter Schneider und seine Leute rü- schon häufiger Verdächtige gleich in sten für den Empfang ihrer Fans. Hundertschaften zur Ader gelassen. Die Kurz nach Sonnenaufgang rollt ein ro- Behörden fordern die Betroffenen in sol- ter Ford Fiesta an. Der Fahrer und seine chen Fällen schriftlich auf, sich beim Poli- Begleiter sind mitten in der Nacht aus zeiarzt zu melden. Nur wer darauf nicht Genthin bei Brandenburg aufgebro- reagiert, wird zwangsweise vorgeführt. chen. Nach Bremen gelockt hat die Fie- Die Nacht-und-Nebel-Aktion von sta-Besatzung kein Fußballspiel: Die Köln, schimpft die Düsseldorfer Frauen- Ostdeutschen wollen ihren Genossen ministerin Ilse Ridder-Melchers, sei je- von der Bremer PDS beim Wahlkampf doch „völlig überzogen“ gewesen. helfen. Den umstrittenen Großeinsatz gegen Fast 300 Aktivisten, ob aus Dresden, dieRoma hat Staatsanwalt Utermann un- Chemnitz oder Schwerin, brausten ver- gewöhnlich offen mit „den Besonderhei- gangenes Wochenende nächtens zum ten dieser ethnischen Minderheit“ be- Weserstadion. Die vom Bremer PDS- gründet: „Die gehen uns nämlich alle lau- Wahlhelfer Schneider herbeigerufenen fen.“ Y Unterstützer halfen, 220 000 Exemplare FORUM PDS-Funktionär Gysi (M.), Kandidatin Stahmann (r.): Kein Debattierklub Werbeseite

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der PDS-Wahlkampfzeitung in Bremer wäre dies nach Ansicht führender Ge- Dutzende von Parteigenossen aus Briefkästen zu werfen. nossen schlicht „eine Katastrophe“: Die dem Osten besetzen Infostände, kleben Die Verteilaktion, in wenigen Stunden PDS würde auf lange Sicht als Interes- Plakate, verteilen Infomaterial. „Solida- plangemäß erledigt, war Teil der PDS- senvertretung der Ostdeutschen ver- rität haben wir doch gelernt“, sagt eine Kampagne zur Bremer Bürgerschafts- kümmern. Ostgenossin. „Früher war es mit Kuba, wahl am 14. Mai. Mit Eifer, Ideen und ei- „Wir haben die Chance, ein kleines jetzt ist es mit Bremen.“ nem ungewöhnlichen Aufgebot an ost- bißchen am großen Zeiger der Weltge- Bremer PDS-Linke, die argwöhnisch deutschen Helfern versucht die Partei, an schichte zu drehen“, hämmerte der Bre- auf die frischpolierten Mittelklasseka- der Weser Stimmung zu machen: Erst- mer PDS-Kandidat Klaus Rainer Rupp, rossen der Osthelfer schielen („Können mals bewirbt sie sich bei einer Landtags- 40, vergangene Woche seinen Genossen die nicht mit der Bahn kommen, wegen wahl im Westen. ein: „Ihr könnt dazu beitragen, daß die Umwelt und so?“), werden da schnell Ein geschickter Schachzug. Nirgend- politische Situation in der BRD nach zum Schweigen gebracht: „Wir können wo können sich die PDS-Strategen so gu- dem 14. Mai eine andere ist.“ te Chancen ausrechnen wie in Bremen. Für die historische Aufgabe waren die Schon zur Bundestagswahl errang die Bremer PDSler allerdings kaum gerü- Die Wessis kommen Partei dort mit 2,7 Prozent ihr bislang be- stet. Das Häuflein aus ehemaligen nicht früh stes Westergebnis. DKP-Erneuerern und Lebenskünstlern Zur anstehenden Wahl strebt Vor- zählt gerade 67 Mitglieder. Auf der letz- genug aus dem Bett mann Gregor Gysi nicht weniger als eine ten Parteiversammlung vor der Wahl er- „rot-grüne Minderheitsregierung unter schienen 14 Aktive. aus dem Wahlbüro keinen Debattier- Tolerierung der PDS“ an. Nach Umfra- Doch seit einigen Wochen helfen die klub machen“, mahnt Chefkoordinator gen können sich tatsächlich bis zu 11,5 Aufbauhelfer aus dem Osten nach: Winkelmann. Prozent der Bremer vorstellen, die Ost- PDS-Aufschwung West. Für stabsmäßi- Selbst mit Spenden knausern die Ost- partei zu wählen, ein Viertel davon nur, ge Organisation und Disziplin in den ler nicht: Von den 8000 Mark, die bisher „um die anderen Parteien zu ärgern“. Reihen der Bremer Genossen sorgt auf dem Konto der armen Bremer Brü- Bislang wurde Bremen von einer Ko- Wahlkampfleiter Achim Winkelmann, der eingingen, stammt weit über die alition aus SPD, FDP und Grünen re- 55, PDS-Geschäftsstellenleiter aus Hälfte von ostdeutschen Genossen. giert, die jedoch im Februar am Krach Sachsen-Anhalt. Sein Kollege Knut Die im Auftreten eher biederen Ost- über ein Naturschutzgebiet zerbrach. Korschewsky, 34, aus Suhl steht als ler helfen obendrein, der PDS im We- sten das Sektierer-Image zu nehmen. „Die sehen ja ganz normal aus“, wun- derte sich eine Bremer Passantin ver- gangenen Sonntag über die Osthelfer. Argwohn erregen da schon eher die Protest-Insignien einiger Westgenossen. Da schielen Ost-PDSler mit skepti- schem Blick auf Palästinensertücher und strähnige Haare: „Es geht uns ja nicht nur um die klassische altlinke Klientel“, erklärt Sachsen-Anhalts PDS-Chef Ro- land Claus: „Wir wollen eine pragmati- sche linke Politik betreiben, selbst wenn das einigen nicht links genug ist.“ Mit der Kampfmoral ihrer Schützlin- ge sind die Aufbauhelfer West nicht ganz zufrieden: Zähneknirschend muß- ten die zugereisten Agitprop-Profis den täglichen Arbeitsbeginn im Wahlbüro von sieben Uhr früh auf neun Uhr ver- schieben, die Wessis kommen nicht frü- her aus dem Bett.

ACTION PRESS Auch mit der tätigen Solidarität Bürgermeister Wedemeier: Regierungsmacht gefährdet klappt es nicht so recht: Während Ostler massenhaft nach Bremen strömen, las- Selbst wenn die Linkspartei mit dem Os- Coach der Bremer Spitzenkandidatin sen sich PDS-Fans aus dem Westen nur si-Hautgout nicht in die Bürgerschaft ein- Marina Stahmann, 35, zur Seite, die erst spärlich an Infotischen blicken. ziehen sollte, könnten die Prozente nun seit einem halben Jahr zur PDS gehört. Auf die Ostgenossen ist, uneinge- bei SPD und Grünen fehlen. Eine rechte Überdies bringt Wahlhelfer Schneider schränkt, Verlaß: Ein Berliner, der ver- Sozi-Abspaltung „Arbeit für Bremen“ Erfahrungen aus Vorwendezeiten ein: gangenen Sonntag die frühmorgendliche wird Bürgermeister Klaus Wedemeier Im SED-Kreisbüro Hohenmölsen bei Abfahrt seines Teams verschlafen hatte, (SPD) ohnehin Stimmen kosten. Erst- war der gelernte Geschichtsleh- setzte sich kurzerhand ins eigene Auto mals seit Kriegsende läuft die in Filz und rer einstmals Mitarbeiter der Abteilung und fuhr seinen Kollegen die 400 Kilo- Vetternwirtschaft erstarrte Partei Ge- Agitation und Propaganda. meter bis Bremen hinterher. fahr, ihre Regierungsmacht zu verlieren. Regelmäßig karren die PDS-Strategen Sein Eifer war selbst einigen Ost- Für die SED-Nachfolgepartei geht es Verstärkung heran. Vergangene Woche PDSlern nicht ganz geheuer: „Den muß allerdings nicht nur um Bremen: Sollte luden sie zur „Hip Hop Jam mit Gysi“. entweder schlechtes Gewissen, Idealis- die PDS in dem kleinen Stadtstaat mit sei- Hernach war auch der PDS-Prominente mus oder ein Rest Stalinismus getrieben nen ausgeprägten linken Milieus keinen schlauer. Das sei wohl eine neue Jugend- haben“, wunderte sich Sachsen-Anhalts Erfolg haben und gar hinter dem Ergeb- bewegung, sinnierte Gysi: „Ich habe ja PDS-Chef Claus: „Wahrscheinlich von nis der Bundestagswahl zurückbleiben, auch früher die Beatles gehört.“ allem etwas.“ Y

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Geheimdienste Die Mauer muß weg Eine Bürgerinitiative im bayerischen Pullach fordert den Abzug des dort residierenden BND.

chöner als in Pullach läßt sich Woh- nen kaum vorstellen: Die Villen Sund Bungalows der Münchner Landkreisgemeinde thronen förmlich auf dem Hochufer über der Isar, be- schaulich inmitten von prächtigen alten

Baumgruppen. W. JÜRGENS Die Idylle hat nur einen Makel – sie BND-Siedlung in Pullach: „Wieso belegen die so ein traumhaftes Areal?“ wird von einer anderthalb Kilometer langen, bis zu drei Meter hohen und sta- minister Theo Waigel über lern. Und BND-Sprecher cheldrahtbewehrten Stahlspundmauer eine Milliarde Mark, mit Karl Lebert findet es nach zerschnitten. Dahinter residiert, auf 74 der er ein schönes Schul- wie vor unpraktisch, daß Hektar Fläche, Deutschlands geheimste denloch stopfen könnte. sein Chef, Konrad Porz- Beamtentruppe, der Bundesnachrich- Ärgerlich finden viele ner, „ständig hin- und her- tendienst (BND). Pullacher nicht nur das fliegen“ müsse. Den will eine Pullacher Bürgerinitiati- Agentenmief-Image ihrer Doch ein Standortwech- ve nun endlich loswerden, die Gelegen- Kommune und das Mau- sel wurde immer wieder heit scheint günstig, dem Plutonium- ermonstrum. Anstoß, mit- verworfen. In den achtzi- Skandal sei Dank. unter buchstäblich, neh- ger Jahren operierten die „Die sollen abhauen, sich verdünni- men die Einheimischen Oberen des Bundesnach- sieren“, fordert der Gemeinderat Wolf- auch am Autoverkehr der richtendienstes allen Ern-

gang Jürgens, 57, von der Freien Wäh- BND-Mitarbeiter. ARGUM stes mit dem Argument, lergemeinschaft. „Der BND“, schwa- Zur Rush-hour, vor und Jürgens bei einem Sitz der Firma droniert der Lokalpolitiker, sei „gefähr- nach dem Dienst, pre- im Rheinland bestünde licher als die ganze Aum-Sekte da in Ja- schen die Schlapphüte mit aus Sicher- für die Hälfte der Mitarbeiter das Ri- pan“. Die Grünen haben schon mehr- heitsgründen getarnten, häufig schrott- siko, daß sie schon wegen ihrer baye- fach seit dem Untergang der DDR mit reifen Karossen, die irgendwo außer- rischen Mundart enttarnt werden dem Slogan gegen den BND Stimmung orts gegen den Privatwagen umge- könnten. gemacht: „Die Mauer muß weg, in Pul- tauscht werden, durch die Zufahrts- Altgediente Geheimdienstler halten lach auch.“ straßen. Bei Karambolagen mit BND- von allzuviel Nähe zu Bonn nichts, Sogar im Pullacher Gemeinderat Fahrzeugen gebe es, klagen Pullacher weil sie strengere Kontrolle durch das stand der BND vergangenen Dienstag Bürger, „immer Riesenprobleme“. Parlament fürchten. In Pullach haben auf der Tagesordnung: Jürgens hatte, Einwände aus der örtlichen CSU, sie zudem alles, was das Dasein hinter unterstützt von Grünen und SPD, den der BND mit seinen 6500 Beschäftigen den Mauern zu verschönen vermag: Antrag eingebracht, Bürgermeister biete doch gute Arbeitsplätze und La- ein römisches Bad mit Marmorsäulen, Ludwig Weber (CSU) mit Verhandlun- denkundschaft, entbehren nach An- Tennisplätze und Fitneßcenter, eine gen über den Abzug des Geheimdienstes sicht der Bürgerinitiative jeder Grund- Einkaufspassage und ein prächtiges zu beauftragen. lage. Es sei nicht mal eine Handvoll Kasino. Der Antrag scheiterte zwar an einer Pullacher beim Dienst angestellt, und Die Arbeitsplätze der meisten BND- Mehrheit von CSU und FDP. Doch die die Spione kauften ganz woanders. Als Bediensteten liegen in den komforta- Pullacher BND-Gegner wollen weiter- unlängst der Abwasserkanal entlang blen Walmdach-Villen der ehemaligen kämpfen: Der Dienst könnte, argumen- der Heilmannstraße, an dem auch die „Rudolf-Heß-Siedlung“ für Nazi-Bon- tieren sie, mühelos in eine der vielen Maulwürfe vom BND hängen, erneu- zen, in denen der BND-Vorläufer freiwerdenden Bundeswehr-Kasernen ert werden mußte, habe alles die Ge- „Organisation Gehlen“ schon im De- oder Army-Barracks der Amerikaner ir- meinde bezahlt – der Bund dagegen zember 1947 Quartier einzog. gendwo in der Republik umgesiedelt spendierte keine müde Mark. Doch über Lebensqualität reden die werden. Forderungen und Empfehlungen BND-Oberen nicht. Sie verteidigen „Meinetwegen hocken die sich auch in zum Umzug der BND-Zentrale aus der den Standort mit dem Hinweis, ein die alte Stasi-Zentrale in Berlin“, erregt bayerischen Provinz in die Nähe des Umzug irgendwohin käme viel zu teu- sich Jürgens, „wieso belegen die hier ein Bonner Kanzleramts und des Bundes- er. traumhaftes Areal, wo bei uns der Qua- amts für Verfassungsschutz in Köln hat Das wiederum läßt der BND-Gegner dratmeter Baugrund 1400 Mark wert es seit den siebziger Jahren immer mal Jürgens nicht gelten: „Das sind doch ist?“ Der Verkauf auf dem freien Immo- wieder gegeben – nicht nur von Bür- Peanuts, wenn man bedenkt, was der bilienmarkt, rechnet der Kommunalpo- gerprotestlern oder Kommunalpoliti- ganze Umzug der Regierung nach Ber- litiker vor, brächte dem Bundesfinanz- kern, sondern auch von Geheimdienst- lin kostet.“ Y

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Hochschulen Forschung und Lehre online Die Informationstechnologie revolutioniert die Universitäten: Studenten recherchieren in Datenbanken, Professoren publizieren ihre Forschungsergebnisse im Internet, Wissenschaftler kommunizieren via E-Mail von Kontinent zu Kontinent. Ohne Computer läuft in der Wissenschaft nichts mehr. VISUM M. WOLF / Nationalbibliothek in Paris: „Der Computer bietet für alle Fächer neue Ressourcen“

it einer Schlagbohrmaschine, studentin schickt Nachrichten an ihre Hammer und Meißel bahnten Professoren längst nur noch per E-Mail. Msich die Studenten im Wohnheim Ihr Mitbewohner, der Physikstudent 1 der Technischen Universität Clausthal Stefan Prescher, 23, recherchiert für sei- den Weg in die Zukunft. ne Hausaufgaben in internationalen Da- Die Jungakademiker verlegten ein tenbanken. Für Prescher ist die wissen- fingerdickes Kabel in jedes ihrer 29 schaftliche Arbeit „ohne Computer und Zimmer, fein säuberlich durch Kunst- Datennetze nicht mehr denkbar“. stoffabdeckungen geschützt. Sie instal- Über das Internet laufen die Kontak- lierten Anschlüsse und Verbindungen. te zu ausländischen Kommilitonen und Nach zwei Tagen gemeinsamer Anstren- Hochschulen, etwa nach England oder gung begann für die angehenden Physi- in die USA. Der Computer verbindet ker, Maschinenbauer und Chemiker ei- die abgelegene Provinz-Uni direkt mit ne neue Zeitrechnung: Jede der nur we- den großen Wissenschaftszentren rund nige Quadratmeter großen Buden ist um den Globus. jetzt direkt mit dem Rechenzentrum der Die Informationstechnologie revolu- Uni und dem Internet, dem weltweit tioniert die Hochschulen: Studenten tip- größten Computernetz, verbunden. Je- pen ihre Hausarbeiten in den Compu- der Student besitzt ein eigenes elektro- ter, Professoren publizieren ihre For- nisches Tor zur Welt. schungsergebnisse in Datennetzen, Do- Seit etwas mehr als einem Jahr sind zenten setzen Lern- und Simulations- die Clausthaler Hochschüler vernetzt. software ein, Bibliotheken gehen on-

Bei Katja Liehmann, 24, steht der Com- H. EDELMAN / BLACK STAR puter unter dem Hochbett neben einem Videoübertragung von Uni zu Uni* * Zwischen der Carnegie Mellon University in alten Röhrenradio. Die Maschinenbau- Ohne Rechner kein Studienplatz Pittsburgh und der Universität Karlsruhe.

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line, die ersten Fachzeitschriften erschei- Als einer der ersten Hochschullehrer nen ausschließlich elektronisch. in Deutschland arbeitet Grob im gerade Kaum eine Universität ist heute noch begonnenen Sommersemester auch in ohne Anschluß an das Internet mit seinen Vorlesungen mit Multimedia. Computer rund 35 Millionen Nutzern. Im World und Großbildschirm ersetzen Tafel und Wide Web (WWW), einem multimedia- Kreide. In die Anfängervorlesung len Informationssystem des Internet, „Leistungs- und Kostenrechnung“ baut präsentieren sich über 1000 Hochschulen der Wissenschaftler rechnergesteuerte aus knapp 60 Ländern in Text und Bild, Bilder und Grafiken ein. „Gerade bei von der Universität Jyväskylä in Finnland Massenvorlesungen für 500 oder mehr biszur Ateneo de Manila Hochschule auf Studenten kann ich dadurch die Qualität den Philippinen. Auch die deutschen des Unterrichts verbessern“, glaubt Hochschulen sind im WWW vertreten – Grob. von der Freien Universität Berlin bis zur An amerikanischen Hochschulen ist Katholischen Universität Eichstätt. der Computer bereits so selbstverständ- Der amerikanische Vizepräsident Al lich wie Füllfederhalter und Papier. Gore wie der deutsche Bildungs- und Die Musikstudenten der Carnegie Wissenschaftsminister Jürgen Rüttgers Mellon University in Pittsburgh etwa fordern den zügigen Ausbau der soge- komponieren am Bildschirm. „Das ma- nannten Datenautobahn, immer dichter chen heute auch die großen Stars“, sagt umspannt ein Netz aus Info-Leitungen Brian Robick, 20. Sein Architekturkom- die Erde. Bereits heute sind in mehreren militone entwirft am Terminal Häuser

tausend wissenschaftlichen Datenban- M. WITT und Städte der Zukunft. „Ohne 3-D-Si- ken unzählige Informationen gespei- Informatiker Haefner mulation bräuchte ich für viele Planun- chert. „Deutsche Studenten diskriminiert“ gen wesentlich länger“, sagt Marc Tink- „In Zukunft wird der Student am Com- ler, 21. Die Computermaus hat Bleistift puter wie ein Pilot am Flugsimulator oder Psychologie an der Gerhard-Mer- und Lineal verdrängt. durch unendliche Datenmassen steu- cator-Universität Duisburg verbreiten Vor allem aber lernen die Studenten ern“, sagt Norbert Bolz, Professor für ihre Vorlesungsverzeichnisse nicht nur so den neuesten Stand der Technik ken- Kommunikationstheorie an der Univer- als Broschüre, sondern auch über Da- nen, ein großer Vorteil für den späteren sität Essen. Nach Schätzungen von Ex- tenleitung. Die Erziehungswissenschaft- Berufseinstieg. perten besitzen in der Bundesrepublik in ler an der Berliner Humboldt-Universi- Das gilt auch für die Wirtschaftswis- den naturwissenschaftlichen Fächern be- tät bieten für Anfänger sogar Studienbe- senschaftler. Aus einem ihrer Seminar- reits 80 bis 90 Prozent aller Studenten ei- ratung via Internet. Vorteil: Wer sich räume dringt mehrmals in der Woche nen PC, selbst in den Geisteswissenschaf- außerhalb Berlins über die Studienmög- wildes Geschrei. Rund 30 Studenten ru- ten steht bei rund der Hälfte ein Rechner lichkeiten informieren will, braucht dern mit den Armen, brüllen durchein- auf dem Schreibtisch. nicht extra anzureisen. ander, hacken auf ihre Tastaturen – die „Die Computertechnologie wird alle Heinz Lothar Grob, Professor für Studenten spielen Börse. Bereiche der Hochschulen verändern“, Wirtschaftsinformatik an der Universi- Das Faszinierende an dem Tohuwa- prophezeit Klaus Haefner, Informatik- tät Münster, verteilt Skripte zu seinen bohu: Die künftigen Broker sind über Professor in Bremen. EDV-Spezialist Vorlesungen und Seminaren ebenfalls ihre Computer direkt mit der New Yor- Gerhard Schneider von der Karlsruher per Datenleitung. Die Studenten kön- ker Wall Street, dem größten Finanz- Uni betont: „Grundlegende Computer- nen die Texte auf ihren Rechnern we- platz der Welt, verbunden. „Was Sie kenntnisse sind heutzutage zwingend für sentlich bequemer als auf Papier durch hier sehen, das sind die echten Informa- einen Wissenschaftler.“ eigene Anmerkungen oder Grafiken tionen in Echtzeit“, berichtet Wissen- Und für Studenten: Zahlreiche Fächer verändern und sich ein Archiv anlegen, schaftler Gary Williams begeistert, „das wie Physik an der Universität Stuttgart das stets auf dem neuesten Stand ist. ist keine Simulation.“ Tatsächlich arbeiten die Studenten unter vollständig identischen Bedingun- gen wie die Profis in Manhattan. Mit einem klitzekleinen Unterschied: Die Millionen-Dollar-Geschäfte der jungen Börsenmakler bleiben ohne Folgen. Die Geschäftstätigkeit der Studenten endet stets exakt zur gleichen Zeit wie in New York: Das klassische Glockenzei- chen, mit dem die Börse schließt, wird live in den Seminarraum übertragen. Selbst im Fachbereich Ethik schärfen die Studenten in Pittsburgh ihre Urteils- kraft mit Hilfe einer CD-Rom. Die Fra- ge, ob ein Mensch das Recht hat, sich selbst zu töten, diskutieren die Seminar- teilnehmer anhand eines interaktiven Lernprogramms. Erschütternde Film- ausschnitte und Interviews mit einem Schwerstverletzten wechseln mit Fragen an den Betrachter. Je nach den Antwor-

PRINT ten der Studenten reagiert das Pro- Studenten Prescher, Liehmann: Computer neben Röhrenradio gramm unterschiedlich. „Der Computer

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bietet für alle Fächer neue Ressourcen“, überhaupt kein Bibliotheksgebäude. tronische Magazine lassen eingereichte sagt Ethik-Lehrer Robert Cavalier. „Wir brauchen heutzutage keine tradi- Artikel vorab durch einen Beirat aner- Während für die Abiturienten der tionelle Bücherei mehr“, erklärt der kannter Fachkollegen beurteilen, ge- Nintendo-Generation der Computer ein Kanzler der Universität, Barry Munitz. nauso wie es bei traditionellen wissen- selbstverständliches Arbeitsmittel ist, Er wolle das Geld statt in Backsteine lie- schaftlichen Zeitschriften üblich ist. lehnen viele Professoren die grauen Kä- ber in Computer investieren, die Infor- Biologie-Professor David Wake von sten noch immer ab. Gängigstes Argu- mationen liefern. der Berkeley-Universität prophezeit: ment: Der Computer könnte das Buch Immer mehr Forschungsergebnisse „Im Fach Biologie beispielsweise wer- verdrängen. Die Sorge ist so unbegrün- werden heutzutage elektronisch veröf- den in einigen Jahren alle wichtigen det wie die Angst des Philosophen Pla- fentlicht. So verschickt der Physiker Forschungsergebnisse in elektronischen ton, der vor über 2000 Jahren zu Un- Paul Ginsparg vom US-Nationallabora- Magazinen veröffentlicht werden.“ recht befürchtete, durch die Verbrei- torium von Los Alamos täglich die Zu- Ein entscheidender Vorteil des elek- tung des Schreibens werde das Gedächt- sammenfassungen von neu eingetroffe- tronischen Publizierens ist die Schnel- nis der Menschen geschwächt. Und die Gelehrten des Mittelalters täuschten sich, als sie annahmen, der Buchdruck verdränge das Schreiben. Weder Standardwerke noch Lehrbü- cher werden wegen des Computers aus den Regalen der Büchereien verschwin- den. Doch die unangefochtene Macht- position, die das gedruckte Wort seit Jahrhunderten im Wissenschaftsbetrieb hat, wird es einbüßen. An der Universität Bielefeld können Studenten und Dozenten seit April letz- ten Jahres an jedem Uni-Computer und per Datenleitung zu Hause im Katalog der Uni-Bibliothek nachschlagen, in rund 11 000 Zeitschriften recherchieren und Dokumente bestellen. Kürzere Ar- tikel werden den Kunden direkt auf den Bildschirm geliefert. Anfang dieses Jah-

res haben die Hochschulbibliotheken in H. EDELMAN / BLACK STAR Nordrhein-Westfalen das Bestell- und Lernen mit Musikprogrammen*: „Das machen auch die großen Stars“ Liefersystem Jason (Journal Articles Sent On Demand) eingeführt. Die Da- nen wissenschaftlichen Arbeiten aus den ligkeit. Die Pharmazeitschrift Current tenbank bietet Zugriff auf rund 40 000 Bereichen Mathematik und Physik über Clinical Trials bringt Prüfergebnisse Periodika. Computer an rund 20 000 Wissenschaft- neuer Medikamente innerhalb 48 Stun- In den USA sind viele Hochschulen ler in über 60 Ländern. den, traditionelle Wissenschaftsmagazi- noch fortschrittlicher. In der neuen Bi- In den USA existieren schon über 400 ne benötigen dafür mehrere Monate. bliothek der Biowissenschaften an der elektronische Fachzeitschriften und Das digitale Veröffentlichen ist zu- University of California in Berkeley Newsletter. In weit über 1000 elektroni- dem wesentlich billiger. Die Preise für können die Benutzer an jedem Platz in schen Diskussionsforen erörtern Medi- Fachzeitschriften haben sich seit Anfang den Lesesälen ihr Notebook per Steck- ziner, Philosophen und Volkswirte wis- der achtziger Jahre zum Teil verdrei- verbindung an das universitäre Netz- senschaftliche Fragen. Die digitalen facht. Das Chemiker-Blatt Journal of werk anschließen. Noch in diesem Jahr Blätter Physica C und Psycoloquy gehö- Organic Chemistry verteuerte sich allein werden sich die Studenten auch in der ren zum Standardrepertoire von Physi- seit 1992 von 518 auf 992 Dollar im Jahr. Haupt-Bibliothek von ihren Arbeitsti- kern und Psychologen. Die elektronischen Publikationen wer- schen aus direkt in das Internet einklin- Noch sind erst wenige der sogenann- den meist von Wissenschaftlern selbst ken können. ten E-Journale unter Wissenschaftlern unentgeltlich hergestellt, Ausgaben für Die California State University ist voll anerkannt. Aber das wird sich Verlag und Druck entfallen. Die Emp- schon weiter: Auf ihrem neuen Campus schnell ändern: Bereits rund 100 elek- fänger müssen nur die geringen Über- bei Fort Ord südlich von San Francisco, tragungskosten bezahlen. Die Autoren der im Herbst eingeweiht wird, gibt es * An der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. verdienen nichts, gewinnen aber auf

Die Elektronik-Uni UNIVERSITÄT 1 Verbindung über das Internet Vernetzung an den Hochschulen Professoren UNIVERSITÄT 3 Bibliothek (z.B. Arbeitszimmer) UNIVERSITÄT 2 Im Internet können Daten aller Art (Texte, Studenten Verwaltung Grafiken, Bilder, Töne, Computerprogram- (z.B. Wohnheim) me) verschickt oder abgerufen werden. Professoren wie Studenten informieren Vorlesungs- und Rechenzentrum Wissenschaftliche sich über die neuesten Forschungsergeb- Seminarräume der Universität Institute nisse und tauschen in Hunderten von wis- senschaftlichen Foren Nachrichten aus.

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Werbeseite diesem Wege viele wertvolle Kontak- te. Jeder Interessierte kann digitale Fach- zeitschriften überall lesen, jeder Profes- sor oder auch Student bei ausreichender Nachfrage eine Zeitschrift oder einen Newsletter ins Leben rufen. Noch sind einige wichtige Punkte un- geklärt. Auf die Frage, wie die Urheber- schaft von Texten gesichert werden kann, gibt es bisher keine schlüssige Antwort. Beim elektronischen Diskurs im Internet ist es hin und wieder schwierig, den Ursprung einer Aussage zu ermitteln. „Wenn die Dokumentation nicht sicher- gestellt werden kann, müssen wir uns vom Schutz des geistigen Eigentums ver- abschieden“, sagt Arnoud de Kemp, Ent- wicklungsdirektor beim Wissenschafts- verlag Springer. Andere Fachleute warnen vor einer In- formationsflut, die über die Hochschulen hereinbrechen könnte. Sie fordern für den Nutzer die Möglichkeit, Schlüsselin- formationen schneller zu erkennen. Es müsse zwischen originären Texten und Bewertungen oder Analysen besser un- terschieden werden. Trotz dieser Schwierigkeiten zweifelt Wolfgang Effelsberg nicht am Siegeszug des Computers. Der Informatik-Profes- sor der Universität experi- mentiert seit dem vergangenen Semester mit Teleteaching. Dabei werden Vorle- sungen oder Seminare per Datenleitung live von einer Uni zu einer anderen ge- sendet. Anders als bei Fernsehübertragungen können sich die Studenten an beiden Or- ten in die Vorlesung direkt einmischen und sowohl mit dem Professor als auch untereinander diskutieren. Der Dozent ist in der Lage, auf den Großbildschir- men zusätzlich Animationen, Grafiken oder Filme einzublenden. Die Mannheimer Universität will auf diese Weise Informatik-Vorlesungen nach Heidelberg exportieren, die Heidel- berger Hochschule Physik-Stunden nach Mannheim. Der Vorteil: Beide Hoch- schulen können ihren Studenten Kurse anbieten, ohne dafür eigene Dozenten beschäftigen zu müssen. Für eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Universität Karlsruhe und der Carne- gie Mellon University in Pittsburgh bietet die Bildübertragung per Netz noch einen weiteren Vorteil. Professor Alexander Waibel entwickelt mit Studenten beider Hochschulen Computerprogramme, die gesprochene Sprache direkt in eine Fremdsprache übersetzen. Tauchen schwierige Probleme auf, schließen sich die Wissenschaftler zu einer Videokonfe- renz zusammen. „Teleteaching wird nur eine ergänzen- de Form des Lernens sein, aber eine wichtige“, sagt Effelsberg. Entscheidend für ihn: „Die Ressourcen der Hochschu- len werden besser ausgenützt.“

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Einige Experten sagen für Längst nutzen die Studen- die Zukunft einen weltweiten ten die Computernetzwerke Austausch von Lernmitteln auch für ihre persönlichen In- voraus. Bereits heute kann je- teressen, sie verabreden sich der Medizinstudent über das per E-Mail für das Kino oder Internet auf einem Rechner rechnen die Getränkekasse des Lawrence Berkeley Labo- der Wohnheimküche über das ratoriums in den USA einen Netz ab. Zahlreiche Studen- virtuellen Frosch sezieren. ten-Magazine wie Unimut aus Per Mausklickentfernt der an- Heidelberg erscheinen elek- gehende Arzt oder Veterinär tronisch. Am Saint Olaf Col- dieHaut desAmphibiums und lege in den USA stellen sich legt das Skelett oder einzelne die Kandidaten für das Stu- Organe frei – wahlweise vom dentenparlament im Internet Rücken oder Bauch aus. vor. Das studentische „More Anglisten schwören auf das Theater“der Universität Frei- Project Gutenberg, eine öf- burg präsentiert Texte und fentlich zugängliche Daten- Hintergrundinformationen bank am Benedictine College zur aktuellen Inszenierung

in Lisle, US-Bundesstaat Illi- AKG des Stücks „Extremities“ von nois. Dort sind mehr als 200 Traditionelle Chemievorlesung*:Notizen statt 3-D-Simulation William Mastrosimone via In- digitalisierte Bücher, größ- ternet. tenteils Klassiker wie Shakespeares ge- ten Account, eine Zugangsberechtigung. Experten wie Professor Haefner von sammelte Werke, kostenlos abrufbar – Am traditionsreichen Dartmouth Col- der Uni Bremen befürchten, die Bundes- für empirische Textanalyse eine große lege im US-Bundesstaat New Hampshire republik könnte bei der Rasanz der welt- Hilfe. muß jeder Bewerber nachweisen, daß er weiten Entwicklung gegenüber Hoch- Ob die Technologie hilft, Geld zu spa- einen eigenen PC besitzt – ohne Rechner schulen im Ausland zurückfallen – unter ren, wie viele Bildungsplaner hoffen, ist kein Studienplatz. anderem ausfinanziellen Gründen. Bund dagegen mehr als fraglich. Noch müssen Neuartige Institutionen wie die Globe- und Länder sparen kräftig an den Bil- Milliarden in die Infrastruktur (schnelle wide Network Academy oder die Virtual dungsetats. Netze, leistungsfähige Rechner) inve- Online University versuchen gar, sich als Den Universitäten fehlt häufig das stiert werden. Moderne Software wird Akademien und Hochschulen zu etablie- Geld, um gute Hard- und Software anzu- die Hochschulen viel Geld kosten. Daß ren, dieausschließlich im Internet existie- schaffen. Dazu kommt die oft ablehnen- die Computertechnologie für weniger ren. de Haltung vieler Lehrenden. Haefner: Professoren bei gleicher Studentenpro- Dozenten und Studenten der Bildungs- „Die deutschen Studenten werden gera- duktion und besserer Forschung sorgt – einrichtungen, die nur als Computer- dezu diskriminiert.“ diese Gleichung wird nicht aufgehen. standorte vorhanden sind, kommen aus Peter Agha Ebrahim, 27, von der Uni- Denn auch der Computer kann die per- unterschiedlichen Kontinenten. Kurse versität Mannheim hat als einer der er- sönliche Betreuung der Studenten durch gibt es bereits in verschiedenen Fächern sten Studenten in der Bundesrepublik die Professoren nicht ersetzen. wie Wirtschaftswissenschaften, Ge- seine Diplomarbeit als Hypermedia- Doch die Entwicklung ist nicht aufzu- schichte und Geographie. Die wissen- Werk vorgelegt. Unter Hypermedia ver- halten: Während an deutschen Unis Stu- schaftliche Qualität des Angebots ist al- stehen Fachleute eine elektronische denten oft noch enorme Schwierigkeiten lerdings noch sehr unterschiedlich, eine Kombination von Texten, Grafiken, Bil- haben, einen persönlichen Zugang zum Konkurrenz für traditionelle Hochschu- dern und Tönen, die untereinander auf Computernetz ihrer Hochschule zu be- len sind die Neugründungen noch nicht. verschiedene Weise verknüpft sind. Der kommen, erhält an der Universität in Betrachter kann sich seinen eigenen In- Pittsburgh jeder Neuling bei der Ein- * Mit Nobelpreisträger Fritz Haber in den zwanzi- formationsweg durch das digitale Multi- schreibung automatisch einen sogenann- ger Jahren. media-Opus suchen. Diese neue Darstellungsform hat sich Student Ebrahim für seine Arbeit über die computergestützte Erkennung von Filmgenres angeboten. Das Werk liegt im Netz der Universität Mannheim vor, und jeder kann es per Internet lesen. Fürs Examen gestaltete Ebrahim eine multimediale Präsentation, sein Profes- sor erkundete das Werk interaktiv am Bildschirm. Der Wissenschaftler war be- eindruckt und vergab die Note 1,0. Nur für das Prüfungsamt wurde noch ein Not-Ausdruck schwarz auf weiß ge- macht. Denn eines war in der digitalen Version nicht möglich: Ebrahim konnte die bei jeder Diplomarbeit geforderte eh- renwörtliche Erklärung, die Arbeit selb- ständig und nur mit erlaubten Hilfsmit- teln gefertigt zu haben, nicht unterschrei- ben.

E. KASHI Das geht nur auf Papier – auch in Zu- Computerlabor an der Uni in Berkeley: „Echte Informationen in Echtzeit“ kunft. Y

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Werbeseite . MEDIEN

Telekom mehr als eine Verschandelung der Wohnanlagen. Kabelsy- Aufstand stembetreiber wie die Veba- Tochter Concepta, denen im Kabel vor einem Antennen-Chaos Der neue Telekom-Chef Ron graust, wollen nun am liebsten Sommer erlebt mit der Ka- selbst ihren Mietern die ge- belpolitik seiner Vorgänger wünschten TV-Programme ein Fiasko. Großkunden liefern. Die Telekom müsse wie die Wohnungsbaufirmen daher „kurzfristig“ reagieren oder die Betreiber von Ka- und ein „Fremdsprachenpa- belanlagen drohen massiv ket“ als Pay-TV schnüren, mit der Kündigung des heißt es in einem internen Kabelanschlusses, falls der Vermerk. Doch die ursprüng- lich für Ende April vorgesehe- nen ersten Vertragsabschlüs- se mit Auslandssendern muß die Telekom verschieben; und CD-Rom-Programm zum Fall Monroe die für den Empfang nötigen Decoder kann die Industrie sonders dafür, digitalisierte Journalisten erst Ende des Jahres liefern. Originaltöne, Filmmaterial, Trotzdem, so ein Telekom- zeitgenössische Presseaus- Gefahr durch Sprecher, wolle man im Som- schnitte, Untersuchungsbe- mer versuchsweise in 10 bis 20 richte und Computersimula- die Mafia größeren Wohnanlagen eini- tionen für die interaktive Die Medien werden zuneh- ge ausländische TV-Kanäle Spurensuche zu vermischen. mend durch die Macht der einspeisen. Das war bereits das Erfolgs- Mafia bedroht, warnt die rezept einer CD-Rom über internationale Organisation Computer das Attentat auf Präsident „Reporter ohne Grenzen“. John F. Kennedy, die zum Entweder töte die Mafia allzu Multimedia Bestseller wurde. Nun wer- neugierige Journalisten, oder Marilyn den auch die verrätselten sie übernehme selbst Medien- DPA Fakten, vermeintlichen Indi- unternehmen, um die öffentli- Parabolantennen Die CD-Rom, die computer- zien, verheimlichten Beweise che Meinung zu beeinflussen. lesbare Compact Disc für den und nie verstummten Ge- Das zeige sich vor allem in La- Staatsriese nicht bald TV-Pro- PC, erweist sich als Medium rüchte um den Tod von Mari- teinamerika, aber auch in Eu- gramme für Ausländer ein- nach Maß für Verschwö- lyn Monroe im Jahr 1962 als ropa. In Rußland etwa habe speist, vor allem für Türken rungstheoretiker. Jüngstes multimediales Mysterium auf die Ermordung des Reporters und Italiener. Nach einem Ur- Beispiel: Das Multimedia- CD (ab 15 Jahre, Verkaufs- Dmitrij Cholodow von der teil des Bundesverfassungsge- Dokudrama „Hard Evidence preis: rund 100 Mark) prä- Moskowski Komsomolez ein richts aus dem vergangenen – Die Akte Marilyn Mon- sentiert; sie kommt im Mai in heimliches Einvernehmen Jahr dürfen Ausländer prinzi- roe“, das von der Hambur- den Handel. In der Rolle zwischen der Mafia und be- piell eine eigene Parabolan- ger Bertelsmann-Tochter T1 eines Reporters, Gerichts- stimmten Staatsinstitutionen tenne installieren, weil sie New Media gemeinsam mit mediziners, Polizisten oder deutlich gemacht. Insgesamt sonst kaum Programme ihrer dem US-Softwareriesen No- Staatsanwalts soll der CD- zählte die Presseorganisation Sprache empfangen könnten. vell/Wordperfect entwickelt Spurensucher dabei seine ei- 1994 mindestens 103 Morde Die Informationsfreiheit zäh- wurde. Die speicherstarke gene Theorie zum Tod der an Journalisten, drei Viertel le, so die Karlsruher Richter, Computer-CD eignet sich be- Schauspielerin entwickeln. davon in Afrika.

HINTERGRUND Herrscher am Büchermarkt Die fünf größten Publikumsverlage Die fünf größten Fach- und Wissen- Der Stuttgarter Dieter von Holtzbrinck Umsatz 1994 in schaftsverlage (einschl. Fachzeitschriften) ist mit Abstand der einflußreichste Millionen Mark deutsche Buchverleger. Mit seinen Bertelsmann drei Verlagen Rowohlt, S. Fischer und Holtzbrinck 332,2 Fachinformationen 617,0 Stuttgart München Droemer erlöst er beim Verkauf von Romanen und Sachbüchern fast dop- Brockhaus 173,6 Weka 436,0 pelt soviel wie das nächstgrößere Mannheim Kissing Buchunternehmen, die Mannheimer Verlagsgruppe Springer Brockhaus-Gruppe. Durch den Zukauf Bertelsmann 165,0 311,9 Heidelberg des englischen Traditionsverlages München Macmillan (Umsatz: 560 Millionen Heyne 145,0 Süddeutscher Verlag 192,3 Mark) gewinnt Holtzbrinck auch inter- München München national an Gewicht. Im vergangenen Herbst hatte der schwäbische Edel- Langenscheidt 135,0 Haufe 152,0 mann bereits das New Yorker Buch- München Freiburg/Breisgau haus Farrar, Straus & Giroux gekauft. Quelle: Buchreport

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Kulturgeschichte SPRUNGBRETTER INS GLÜCK Der 5. Mai 1895 gilt als Geburtstag der Comic-Kunst: In der Tageszeitung New York World hatte an diesem Tag die Zeichenfigur „Yellow Kid“ ihren ersten Auftritt. 100 Jahre später, schreibt der Münchner Filmkritiker Michael Althen, 32, in der folgenden Bilanz einer Erfolgsgeschichte, wirkt das vielgeschmähte Genre realistischer denn je.

seiner Diskurse zählt; und auch die diversen Franzosen nicht, die dem Comic Geleitschutz gaben. Der Philosoph Michel Serres fragte: „Und wenn die Philosophie gar nicht mehr dort wohnte, wo man sie ge- wöhnlich erwartet? Während sie sich in To- deszuckungen windet in der Nacht der Esoterik, zeigt der Comic-Strip im hellen Licht und ohne Umschweife die Wun- den unseres Diskur- ses . . . Nun wissen wir endlich, wo wir uns in- formieren und worüber wir meditieren können. Schande über die Ge- lehrten, die Tiefgründi- gen, die Theorieverlieb- ten, die Unlesbaren, die Dunklen, die Unzu- gänglichen.“ Hinein al- CARTOON-ART so ins Licht. Am 5. Mai 1895 er-

MUSEUM OF schien in der Sonntags-

INT. beilage der New York Historischer Comic-Held „Yellow Kid“: Der amerikanische Traum für jedermann World eine Zeichnung von Richard Felton enn ein 100. Geburtstag zu fei- Äußert sich heutzutage irgendwer Outcault, die als Geburt des Comics ern ist, dann lesen sich die Gra- über Comics, dann achtet er stets dar- gilt. Man hätte genausogut Wilhelm Wtulationen meist wie Nachrufe. auf, erst mal fein säuberlich die Spreu Buschs „Max und Moritz“ nehmen oder Das Kino ist 100 geworden – und es gab vom Weizen zu trennen. Was Kunst ist sich auf eines der darauffolgenden Jahre viel Gejammer. Der Comic wird 100 – und was Kommerz, ist immer aufs neue einigen können, in denen „Yellow Kid“ und besonders fröhlich scheint den zu klären. Denn vorausgesetzt werden in der New York World oder Rudolph Gratulanten nicht zumute zu sein. Wor- darf beim Leser überhaupt nichts, und Dirks’ „Katzenjammer Kids“ im New an, fragt man sich da, liegt es eigent- zumuten möchte man ihm schon gar York Journal in Serie gingen. lich, daß sich mancher Artikel über nichts. Man stelle sich mal vor, an ande- Die World und das Journal erkannten Ernst Jünger munterer las als die mei- re Künste würde mit derselben Attitüde bald die Zugkraft der Strips, ihre Besit- sten Texte zu den Jubiläen von Kino herangegangen. zer Joseph Pulitzer und William Ran- und Comics? Näher an der Welt, näher Gerade zur Jubiläumszeit also muß dolph Hearst lieferten sich einen erbit- am Leben, näher an uns. Als ginge uns man schier verzweifeln an den Feuille- terten Konkurrenzkampf und warben der alte Mann tatsächlich mehr an als tons, an ihrer Trägheit, Weltferne und sich gegenseitig die Zeichner ab. die junge Kunst. Und als hätten die Arroganz. Von der Postmoderne wird Die Geburt des Comics aus dem Geist Leute allen Ernstes mehr Zeit auf den viel geredet, aber vielerorts plagt man des Kapitalismus ist jedoch nur die hal- Marmorklippen als in Entenhausen ver- sich offenbar noch mit der Moderne. be Wahrheit. Was die Popularität bracht. Und wenn es tatsächlich so wä- Daran hat Umberto Eco nicht viel än- enorm beförderte, war die Tatsache, re – um so schlimmer. dern können, der Batman zum Personal daß vor allem die Einwanderer, die der

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Sprache noch nicht so mächtig waren, Und das ist im Grunde die Bildergeschichten verschlangen. Im auch gut und richtig so. Kauderwelsch des „Yellow Kid“ konn- Denn natürlich handelt ten sie sich leicht wiederfinden. So gese- es sich bei Comics um hen ist der Comic dem amerikanischen Schund und nicht um das Traum entstiegen, an dem die Massen Wahre, Gute, Schöne. im Schmelztiegel teilhaben wollten. Der Comic ist eine Blu- me, die auf der Müllhal- de der anderen Künste blüht, sich von ihren Ab- fällen nährt und sich wie Unkraut dort verbreitet. Ihre Samen sind zwar längst hinausgetragen worden in die Welt, aber ihren Ursprung müssen die Comics deswegen

nicht verleugnen. DELTA VERLAG Wäre ihr Erfolg denn Asterix und Obelix überhaupt vorstellbar, wenn sie sich widerstandslos einverneh- Lehrer und Eltern werden nie be- men ließen, von Eltern und anderen Be- greifen, daß niemand die Ausnahme denkenträgern? Wenn sie sich den Les- genießen kann, wenn er sich nie mit arten der anderen Künste sofort er- der Regel auseinandergesetzt hat. Un- schließen würden? Nein, der Bauch der ermüdlich traktieren sie ihre Kinder

WALT DISNEY Comics liegt wie der des Kinos oder der mit dem „Faust“ – und wundern sich, Donald Duck und Neffen Musik deutlich unter der Gürtellinie des wenn keine rechte Freude aufkommen Kulturbetriebs. Dort wird gearbeitet, will. Tapfer schleppen sie die Kinder Bis in die dreißiger Jahre blieben Co- durch Museen – und fragen mics eine Dreingabe. Die Strips waren sich dann verzweifelt, warum auf die Zeitungsseiten beschränkt, erst die lieber über Comics hok- danach erschienen sie in Heften, die sich ken. nichts anderem widmeten. Die Trennung Wer tausendfach die Ge- bescherte der Kunst zwar neue Formen, schichte vom Superhelden ver- aber brachte auch bald alte Feinde auf schlungen hat, der wird es ir- den Plan. Auf einmal war die geistige Ge- gendwann schon zu schätzen sundheit gefährdet. wissen, wenn ein Held an sich Der US-Psychiater Frederic Wertham und der Welt zweifelt. Und schwang sich zum Wortführer besorgter wer sich immer wieder demsel- Eltern auf und führte einen kalten Krieg ben Muster gegenübersieht, gegen die Comics. In den Wochenschau- der wird ganz anders reagie- en lief ein Aufklärungsfilm, der Jugendli- ren, wenn es irgendwann

che bei der Lektüre zeigte. Darin bekam KAUKA-COMIC durchbrochen wird. Schließlich die amerikanische Nation vorgeführt, Fix und Foxi weiß man längst, daß auch die wie die abgebildete Gewalt in Aggressio- Zwänge der katholischen Kir- nen mündet. Es wurde gezeigt, wie die dort wird verdaut, von dort kommt die che stets ein guter Nährboden für Energie. Und es tut den populären Kün- Künstler waren. sten auch nicht gut, wenn ihnen immer Weil der Comic dem Gesetz der Serie nur auf den Kopf geschaut wird. Dazwi- folgt, standen die Schöpfer lange im schen liegt immer noch das Herz. Schatten ihrer Helden. Erst im Laufe Der Comic braucht wie das Kino nicht der Zeit wurden die Künstler und ihre zu leugnen, daß er zu den billigen Ver- unverwechselbare Handschrift entdeckt gnügungen zählt. So wie man dort noch das Echo der Jahrmärkte und Variete´s hören kann, so muß man hier das Stampfen der Druckmaschinen spüren, die Zei- tungen und Hefte unablässig aus-

LAPPAN VERLAG spucken. Hefte, die dann, zerle- Nick Knatterton sen und zerfleddert, achtlos lie- gengelassen oder weggeworfen Kinder langsam unruhig werden und werden. Das schließt nicht aus, schließlich zum Taschenmesser greifen, daß man sich auf der anderen Sei- um sich abzureagieren. 1954 wurde dann te darüber erhebt – daß man Au- eine Selbstzensur eingeführt, die sogar toren und Zeichner entdeckt, die Abbildung von Schweißperlen unter- kostbare Editionen herausgibt, sagte. Auch auf diese Weise hielten die von Kunst spricht. Aber deshalb Comics ihrer Zeit einen Spiegel vor. muß man sich noch lange nicht

Der Krieg gegen den Schund tobt bis dauernd dafür entschuldigen, daß CARLSEN COMICS heute in Klassen- und Kinderzimmern. die Massenware die Regel ist. Tim und Struppi

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und gefeiert. Daß Carl Barks und nicht Walt Disney in Entenhausen regierte, hat sich erst spät herumgesprochen. Heute werden Leute wie Loustal und Moebius, Enki Bilal und Jacques Tardi, aber auch frühe Genies wie Winsor Mc Cay („Little Nemo“) oder Will Eis- ner („The Spirit“) ganz selbstverständ- lich wie Stars gefeiert. Aber jede neue Generation holt erst einmal wieder die alten Helden ans Licht: Mickey Mouse oder Donald Duck, Asterix oder Obelix, Fix oder Foxi. Natürlich mußten wir nicht Freud le- sen, um bei Donald Duck zu lernen, was Neurosen sind. Und man brauchte auch nicht Camus, um den Mythos von Sisy- phos zu verstehen, wenn man sich Char- lie Brown vor Augen hielt. Und Nietz- sche war sowieso nicht nötig, um Zwei- fel an Gottes Existenz aufkommen zu lassen; da genügten Batman oder Super- man völlig. Und Karl May war eigent- lich auch nicht unser Ding, weil die

Abenteuer von Tim und Struppi span- STILLS / STUDIO X nend genug waren. Batman Die Welt bekam in den Comics eine Form, die anschaulicher und klarer um- ihnen und der Welt. Erst dann kann hern, sagt weniger über den Zustand rissen war als anderswo. Der Comic, man wieder zurückkehren zu ihnen. der Kunstformen als darüber, wie sich könnte man mit Andre´ Bazin sagen, un- Aber die neue Perspektive ist dann unsere Wirklichkeit verändert hat. terlegte unseren Vorstellungen eine überlagert von den Erinnerungen an Denn der Vorwurf der Vereinfachung, Welt, die mit unseren Wünschen über- die Kindheit und dem vagen Gefühl, in der Comics früher häufig gemacht wur- einstimmte. den Comics läge der Schlüssel verbor- de, zieht schon lange nicht mehr. So verbrachten wir unsere Kindheit gen zu einer Welt, in der sich die Din- In einer Welt, die zunehmend von im eigenartig klaren Licht von Enten- ge heller, schärfer und klarer präsen- eingetragenen Warenzeichen regiert hausen, unter den hohen Eichen in Gal- tierten. Verzweifelt verliert man sich und in der alles dem Design oder der lien, im Schatten der Hochhäuser von im Labyrinth der Bilder und sucht Corporate Identity unterworfen wird, Gotham City oder in der Ruinenstadt im nach einem Zipfel jener kindlichen ist den Comics eine neue Welthaltig- Haifischsee. Man bekam eine Vorstel- Unschuld und Neugier, die verlorenge- keit zugewachsen. 100 Jahre wird die lung davon, wie Städte aussehen und gangen ist. neue Kunst nun alt – und wirkt reali- wie das Zusammenleben in ihnen funk- Wer Comics liest, begibt sich immer stischer denn je. Viel unbefangener tioniert. auch auf die Suche nach der verlore- kann sie sich der Wirklichkeit nähern, seit sich die elektronischen und digitalen Bilder ihr im- mer mehr entfremdet ha- ben. Die Lücke zwischen Film- bildern und bildender Kunst, in der sich der Comic eingenistet hat, ist mittler-

UNITED FEATURE SYNDICATE weile so groß, daß man dort

1978 oft mehr von dem finden Peanuts kann, was man Leben nennt, als anderswo. Wenn es dar- Das war vielleicht nicht die Wirklich- nen Zeit. Auch dort, wo man sich neu- um geht, unseren Träumen, Ängsten keit, aber man bekam wenigstens ein en Büchern und Bildern zuwendet, und Gefühlen eine Heimat zu bieten, Muster vorgeführt, mit dem man sie sich sucht man nach jenem Gefühl, wo das sind die Comics heute den anderen erklären konnte. Das hat die Phantasie Zusammenspiel von Farben und For- Künsten zumindest ebenbürtig. nicht etwa eingeengt, sondern diente ihr men, Bewegungen und Rhythmus, Li- Als der Comic geboren wurde, war als Sprungbrett. Die wahren Abenteuer nien und Flächen allein schon genügt, er das uneheliche Kind von Literatur begannen da, wo die Zeichnungen auf- um in eine andere Dimension einzutre- und Malerei. Lange hat er sich zwi- hörten. Die Umrisse und Umrandungen ten. schen Jukeboxes und Reklameschil- wurden so lange mit Leben aufgefüllt, Das Zusammenspiel von Welt und dern herumgetrieben, sich von Seifen- bis sie überliefen oder platzten. So ent- Comic hat sich in der letzten Zeit ver- opern und Groschenromanen ernährt. fernte man sich langsam von den Co- ändert. Nicht nur, weil früher aus er- Mit 100 Jahren ist er mittlerweile zum mics. folgreichen Filmen Comics wurden und Gourmet gereift, der auch intellektuel- Wer sich mit Comics beschäftigen heute aus Comics erfolgreiche Filme. le Kost nicht verschmäht. Aber seine will, muß den Bruch erlebt haben, den Daß sich die Filme dabei der verein- Kinder und Kindeskinder sind immer Riß, der sich plötzlich auftut zwischen fachten Welt der Zeichnungen annä- noch die reinsten Bastarde. Y

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teig. „Die kostet nur Geld“, Ernährung Gefährliche Brötchen backmittel- hat er erkannt. absatz Atemwegserkrankungen, Norddeutsche Bäcker sollen z. B. Bäckerasthma; künftig flächendeckend ihre Kundschaft über die Zutaten Backmittel in tausend Tonnen 180 Bruchfeste im Backwerk detailliert aufklä- 5000 160 ren, so beschloß vergangene Woche der Bäckerinnungsver- Kruste allergien im 140 band Niedersachsen-Bremen. allergien im „Wir sind es leid, als 4000 backgewerbe Deutsche Bäcker, durch Berichte backgewerbe 120 Prügelknaben dazustehen“, über unappetitliche Zusätze im Brot sagt Geschäftsführer Wolfgang 100 Trentzsch, 61. Die Verbände ins Gerede geraten, wollen jetzt 3000 in Schleswig-Holstein, Ham- 80 burg und Mecklenburg-Vor- ihre Backrezepte offenlegen. pommern plädieren gleichfalls 2000 60 für mehr Glasnost in der Back- ühl ist es hier, und es riecht muf- stube. 40 fig. Zwischen riesigen Regalen Der Vorstoß dient jedoch 1000 eher dem angeschlagenen Kkurven Gabelstapler herum. Ei- 20 gentlich nur ein gewöhnliches Lager- Image der Bäcker als dem haus mit Bergen von Säcken. Viele der 0 Wohl der Verbraucher. Eine rund 8000 süddeutschen Bäcker be- 0 Informationsbroschüre („ABC trachten den Schuppen jedoch als 1980 1985 1990 1994 der Zutaten“), mit der die Quell ihrer Kreativität: Das Zentralla- norddeutschen Bäckerläden ger der Bäko-Genossenschaft in Stutt- Hefeteig haben mittlerweile manchem ihre Kundschaft informieren sollen, be- gart-Wangen ist die Heimstatt von al- Kunden den Appetit verdorben. Des- treibt vor allem Schönfärberei. lerlei Pulvern, Körnchen und Mixtu- halb wollen deutsche Bäcker jetzt die In dem 40seitigen Heft, herausgege- ren. Vorwärtsverteidigung antreten, mit Hil- ben vom Zentralverband des Bäcker- Dank der Mittelchen zaubern die fe einer freiwilligen Deklaration der In- handwerks in Zusammenarbeit mit dem Bäcker jedwedes Backwerk im Hand- gredienzien. Bislang schreibt den Bäk- Verband der Backmittelindustrie, mü- umdrehen: Biobrot aus der Pulvermix- kern niemand vor, wie sie den Brotteig hen sich die Autoren, das moderne tur „Dinkelvollkornfix“, Fitneß-Schnit- zu kneten haben. Im Lebensmittelrecht High-Tech-Backwerk als naturnahe ten mit der Mischung „Marathon“ oder ist nicht festgelegt, welche Zusatzstoffe Komposition zu verkaufen. „Calcium- urig-bäuerliche Brötchen mit dem Fer- nicht ins Brot gehören, beim Verkauf carbonat“, heißt es da etwa, „ist in der tigmehl „Rustikal“ von der Chemiefir- müssen die Beigaben auch nicht angege- Natur weit verbreitet, z. B. als Mar- ma Boehringer Ingelheim. ben werden. mor.“ Das von den Bäckern als Anti- Knusprig braun lockt das maschinell Um verunsicherte Verbraucher aufzu- klumpmittel verwendete weiße Pulver hergestellte Backwerk hernach in der klären und den Verdacht auszuräumen, werde nur „aus natürlichem Kalkstein Ladenvitrine. Skeptische Verbraucher ihr täglich Brot käme aus dem Chemie- gewonnen“. Freilich ist das CaCO3 in ei- jedoch lassen die wohlriechenden Wek- labor, geben jetzt einzelne Bäcker auf nem nach alter Sitte gekneteten Teig ken zuweilen liegen: Berichte über der Papiertüte an, was in ihren Plätz- nicht nötig. Gips im Brot, pulverisiertes chinesi- chen und Plundertaschen steckt. Ande- Auch das Cystein sei „ein ganz natür- sches Menschenhaar in den Schrippen re wie der Stuttgarter Jörg Schrempf licher Stoff“, der „in relativ hohen Kon- oder Enzyme aus Schimmelpilzen im verzichten ganz auf die Chemie im Brot- zentrationen im menschlichen Körper“ vorkomme, schwärmen die Bäckerpoe- ten, „zum Beispiel in den Haaren, in den Finger- und Fußnägeln und im Blut“. Doch was hat das Zeug im Brot zu suchen? Die Beigaben dienen vor allem dazu, den automatischen Fließbandbetrieb in der Backstube zu erleichtern. Das Cy- stein etwa bläst die Brötchen auf, soge- nannte Proteinasen aus Schimmelpilzen verbessern die „Porung“ und die Bruch- festigkeit der Kruste. Enzyme wie die Alpha-Amylase machen die Brotkrume elastischer, verbessern Farbe und Aro- ma der Maschinen-Laibe. Immerhin wird Cystein nicht mehr, wie unappetitlich, aus Menschenhaaren hergestellt, sondern mittels chemischer Synthese. Doch im Brötchen ist noch mehr Chemie. GRAFFITI Im letzten Jahrzehnt stieg der Absatz an Backmitteln enorm, von 61 000 Ton- nen 1980 auf 168 000 Tonnen im Jahr

J. E. RÖTTGERS / 1994. Der Anteil an Fertigmehlen, die Bäckerei Schrempf in Stuttgart: „Das kostet nur Geld“ der Bäcker bloß noch in Wasser aufzulö-

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sen braucht, hat sich, allein beim Brot, sogar in den letzten zwei Jahren ver- Manieren dreifacht, auf 4400 Tonnen. Parallel zum Backmittelboom aber häufen sich in den Backstuben auch Asthma- und Bronchitiserkrankungen Pöbeln (siehe Grafik Seite 102). Die Bäcker stellen, mit 41 Prozent aller berufsbe- dingten Fälle von obstruktiven Atem- statt fragen wegserkrankungen, den weitaus größ- ten Anteil von Lungen- und Luftwegs- Berlin trimmt seine Angestellten in erkrankungen unter den Erwerbstäti- Lächelkursen und Videoseminaren gen. Über 100 Millionen Mark zahlt die Berufsgenossenschaft jedes Jahr auf Benimm – die Zöglinge aber für berufsunfähige Bäcker. Den stei- zeigen sich bislang renitent. len Anstieg des Bäckerasthmas, tradi- tionell dem Mehlstaub zugeschrie- ben, führen zahlreiche neuere Studien er Berliner steht außerhalb der vor allem auf die Backmittelmanie Stadtgrenzen seit jeher im Ruf der zurück. DFlegelhaftigkeit. „Die Menschen Besonders Enzyme wie die Alpha- hier sind gutmütig, aber roh“, notierte Amylasen sind offenbar allergieför- der gottesfürchtige Abt Tritheim bereits dernd, und zwar nicht nur in der stau- im Jahre 1505 anläßlich einer Visite. bigen Backstube, sondern möglicher- Härter noch urteilte Dichterfürst Jo- weise auch beim Verzehr des fertigen hann Wolfgang von Goethe, ein be- Gebäcks. Viele allergiegeplagte Bäcker kanntermaßen Weitgereister. „Es lebt hatten bei einem Test plötzlich keine in Berlin aber, wie ich an allem merke, Beschwerden mehr, nachdem sie zehn dort ein so verwegener Menschenschlag Tage lang auf Brotentzug gesetzt wur- beisammen“, klagte der Schriftsteller den. seinem Eckermann, „daß man mit der Mittlerweile arbeitet das Bundesar- Delikatesse nicht weit reicht, sondern beitsministerium an speziellen Schutz- daß man Haare auf den Zähnen haben vorschriften für die Backstuben. Die und mitunter etwas grob sein muß, um ins Auge gefaßten Maßnahmen aber sich über Wasser zu halten.“ zielen nicht etwa auf die allergieauslö- Der Mann hatte vergleichsweise senden Pulver und Mixturen: „Ich Glück: Weder war er gezwungen, die öf- kann doch nicht jedes Enzym messen“, fentlichen Verkehrsmittel zu benutzen, sagt Andre´ Große-Jäger, 35, Referent noch mußte er bei einer Behörde vor- für Gefahrstoffe im Hause Norbert sprechen. Denn in keiner anderen Be- Blüms. rufsgruppe präsentiert sich die sprich- Der Einfachheit halber wollen die wörtliche Ruppigkeit, als „Berliner Ministerialen gleich für den Haupt- Schnauze“ folkloristisch verklärt, so un- grundstoff des Brotes Grenzwerte er- gehemmt wie bei den Stadtbedienste- lassen. „Unzweifelhaft“ sei, behauptet ten. Bäckerschützer Große-Jäger: „Mehl ist Die öffentlichen Angestellten haben ein Gefahrstoff.“ Y das Muffeln und Stieseln geradezu zum D. KONNERTH / LICHTBLICK Berliner U-Bahn-Angestellter: Höflichkeit per Dienstanweisung Werbeseite

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Prinzip erhoben. Motto: Erst pöbeln, „Wir versuchen jetzt in Schnellbleiche verzichten mochte, stellte sie die Kündi- dann fragen. Selbst den Einwohnern Ber- unterzubringen, was in den letzten 50 gung zu. „Wir mußten eine Art Exem- lins schlägt die Kaltschnäuzigkeit des Jahren versäumt wurde“, sagt Seminar- pel statuieren“, sagt U-Bahn-Chef städtischen Personals mittlerweile aufs leiter Gunther Kramer stolz. Allerdings Klaus Lipinsky. Gemüt, die Beschwerden nehmen zu. mußte Kramer, bis zu seinem Wechsel Zwar sind alle BVG-Bediensteten per Doch jetzt soll alles anders kommen: in die Innenverwaltung als Controller Arbeitsvertrag ohnehin zu „höflichem Berlin soll freundlich werden. Mit einem bei der Firma Linde beschäftigt, schon und sachlichem Verhalten“ gegenüber großen Umerziehungsprogramm will die im Pilotseminar Anfang April gleich den Fahrgästen verpflichtet. Aber selbst Stadt allen Beschäftigten, die ihr Gehalt mehrere Gänge runterschalten. die Mitarbeiterschrift Signal listet in ganz oder teilweise aus Steuergeldern be- In seiner Begrüßungsrede forderte Fahrprotokollen immer wieder erstaun- ziehen, gute Manieren beibringen. In so- Kramer „Service statt Schikane“ ein und lich eigenwillige Auslegungen der genannten Lächelkursen wird ab sofort zitierte das Ergebnis einer Zeitungsum- Dienstvorschriften aus. Berliner Bus- Benimm gepaukt. frage, wonach die Berliner vor allem fahrer beispielsweise mögen sich offen- „Oberstes Prinzip des Verwaltungs- Freundlichkeit vermissen – und schon bar nur ungern von der liebgewonnenen handelnsmuß dieOrientierung an den In- regte sich Widerspruch. Praxis verabschieden, heranhastenden teressen der Bürgerinnen und Bürger So gab ein Praktiker aus der Sozial- Fahrgästen die Tür direkt vor der Nase sein“, lautet das amtliche Lernziel der verwaltung zu bedenken, man müsse zuschnappen zu lassen. Und Bahn-Chef „Qualifizierungsoffensive“, die der Ber- „erst mal prüfen“, ob überhaupt ein Lipinsky muß des öfteren seine Fahrkar- liner Innensenat nun gestartethat. Über5 Rechtsanspruch des Bürgers auf Service tenkontrolleure darauf hinweisen, daß sie angesichts eines schlafenden Fahrga- stes „nicht so lange mit einem Dreikant- schlüssel zwischen Eisengestänge und Wand rütteln, bis er endlich aufwacht“. Um ihren Angestellten wenigstens die schlimmsten Unarten auszutreiben, hat sich die BVG-Direktion nun ebenfalls dazu entschlossen, ihre Mitarbeiter ei- Fahrgast: „Wie komme ich in den Zoo?“ Zugschaffner: „Als was?“

nem Verhaltenstraining zu unterziehen. Zum Programm der betriebsinternen „Kundendienstschulung“ gehören ne- ben Rollenspielen unter psychologischer Anleitung und einem wohlklingenden

LICHTBLICK Thesenpapier („Kundendienst ist immer eine menschliche Begegnung“) ein aus-

S. SAUER / führliches Videotraining. „Lächelkurs“-Leiter Droß (vorn l.): „Kundendienst ist menschliche Begegnung“ Auf dem Monitor wird den Kursteil- nehmern dabei ein Band mit Fällen aus Millionen Mark wird die Schulung von existiere. Von „Kunden“ wollte der dem BVG-Alltag vorgespielt. Beispiel: 35 000 öffentlich Beschäftigten kosten. Mann schon gar nicht sprechen: „Diese Geht ein Fahrgast zum Zugschaffner Einen „Kulturwandel in der Verwal- Terminologie“, befand er unter dem Bei- und fragt: „Wie komme ich in den tung“ verspricht Innensenator Dieter fall der Runde, „istdoch ein bißchen sehr Zoo?“ Antwortet der: „Als was?“ Heckelmann, eine „Revolution“ ver- pauschal.“ Gut ein Drittel der Seminaristen finde heißt Bürgermeister Eberhard Diepgen. Wie schwer sich die öffentlich Beschäf- das Verhalten des Kollegen in der Vi- Die Berliner Kulturrevolution be- tigten mit der von oben verordneten Kun- deoszene „zunächst korrekt und ange- ginnt zunächst mit einer Sprachreform. dennähe tun, mußte unlängst auch der messen“, berichtet Kursleiter Christoph Die städtischen Behörden heißen ab so- Vorstand der Berliner Verkehrsbetriebe Droß aus der Schulungspraxis. Als Er- fort „Unternehmen Verwaltung“, aus (BVG) erfahren. Per Dienstanweisung folg wertet es der Diplompsychologe, dem Antragsteller wird ein „Kunde“ – hatte die Direktion das Personal in den „daß wir dann anschließend ’ne halbe und jeder Amtsmitarbeiter bietet künf- U-Bahnhöfen angewiesen, dem zumeist Stunde diskutieren“. tig ein „Produkt“ an, wenn er einen wie einen Befehl gebellten Warnruf Vielleicht aber verkennen Droß und Mietbescheid erstellt oder ein Ord- „Zurückbleiben“ ein höfliches „bitte“ seine Auftraggeber in Wahrheit doch nungsgeld verhängt. anzufügen: „Ein freundlicher Umgangs- das wahre Wesen der Berliner. Der Damit der neue Unternehmensgeist ton“ zeige dem Fahrgast „die Wertschät- Dichter Ludwig Börne jedenfalls mühte auch an keiner Amtsstube vorbeiweht, zung unseres Unternehmens“. sich schon Anfang des 19. Jahrhunderts muß sich jeder Mitarbeiter in den näch- Erste Kontrollen ergaben, daß sich et- um die Ehrenrettung der verkannten sten zwei Jahren in seiner Dienststelle liche Zugabfertiger weigerten, der An- Stadtbewohner: „Man macht sich von zu einem zweitägigen Seminar einfin- ordnung Folge zu leisten. Regelmäßig den Berlinern eine falsche Vorstellung“, den, wo er dann das kleine Einmaleins ließ die BVG-Führung darauf Mitarbei- notierte er, „man hält sie für übelgebil- der „Kundenorientierung“ erlernen soll. ter der Dienstaufsicht patrouillieren und dete, glatte, herzlose, verschrobene Über die Normerfüllung wachen spe- bei unvollständiger Ansage Ermahnun- Menschen. Dieses ist das große Gegen- zielle „Realisierungsbeauftragte“, die gen aussprechen. Einem besonders reni- teil. Sie sind die einfachsten, beschei- der Innensenat in allen Bezirken einge- tenten Bahnhofsvorsteher, der partout densten, herzlichsten Menschen, die mir setzt hat. nicht auf den strengen Kasernenhofton je vorgekommen sind.“ Y

108 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

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WIRTSCHAFT TRENDS

neue, breitere Sitze in der gazins. Burda-Begründung: Business-Klasse. Die Sitze Die „wirtschaftlichen Eckda- wurden bislang von der Rem- ten“ hätten nicht mehr ge- scheider Firma Keiper Reca- stimmt. Doch dabei ging ro geliefert. Doch die Firma mehr zu Bruch als eine konnte die Sessel in den ver- Zeitschrift, wie der bishe- gangenen Monaten nicht in rige Burda-Partner Malcolm ausreichender Zahl und Qua- Forbes Jr. unfreundlich kom- lität liefern. Zur Zeit testet mentiert. Der Chef von der TÜV Rheinland deshalb Forbes USA beklagt „un- für die Lufthansa Sitze von

WERKFOTO LUFTHANSA drei Konkurrenzfirmen. Lufthansa-Express-Flug Verlage Lufthansa den Routen Hamburg–Mün- chen oder Düsseldorf–Ber- Verärgerung Neue lin. Dort zahlen Passagiere seit vergangenem September in den USA Billig-Flüge in der Business-Klasse zu Das Aus kam, als die Aufla- Vom Herbst an wird Fliegen Stoßzeiten für den einfachen ge (133 000 Exemplare) am auf innerdeutschen Strecken Flug 369 Mark, in der Touri- höchsten war und als die An- billiger. Die Lufthansa will stenklasse 259 Mark. In zeigen um 18 Prozent zuge- vom 1. Oktober an sämtliche nachfrageschwachen Zeiten nommen hatten: Fünf Jahre bundesdeutschen Flughäfen sind die Tickets rund 70 nach dem Start stellt der in ihr Express-Konzept ein- Mark billiger zu haben. Wer Münchner Verleger Hubert beziehen. Bislang können von Städten wie Dresden, Burda mit der Mai-Ausga- Privatleute und Geschäftsrei- Leipzig oder Frankfurt aus be seine Monatszeitschrift Mai-Ausgabe von Forbes sende nur auf ausgewählten startet, muß bislang deutlich Forbes ein, die deutsche Strecken besonders günstig mehr bezahlen. Zum Ex- Lizenzausgabe des ameri- überbrückbare Differenzen“ reisen, so zum Beispiel auf press-Konzept gehören auch kanischen Wirtschaftsma- mit Burda über die redaktio- nelle Ausrichtung und die Vermarktung der deutschen Immobilien nanzier ist die Forbes-Ausgabe. Als Part- Commerzbank, Fi- nerverlag, daran ließ der US- liale Aachen, mit Verleger keinen Zweifel, sei Hillebrand in Nöten einem dreistelligen Burda passe´: Forbes werde Der Kerpener Baulöwe Herbert Hille- Millionenbetrag. sich um „einen neuen deut- brand steht unter Zeitdruck: Seine Gläu- Zusätzlich zu sei- schen Partner“ bemühen. biger drängen auf schnelle Zahlung von nen Bankschulden vorerst 90 Millionen Mark. Hillebrand – mehr als 800 Mil- Forschung muß deshalb weiterhin Käufer für eine lionen Mark Ende Reihe seiner Objekte finden. Schon im vergangenen Jah- Knausrige vergangenen Jahr mußte der Immobilien- res – kommen wei- Konzerne Tycoon auf Druck der Banken seinen tere Verbindlich- H. GUTMANN / FORMAT Schuldenberg durch Notverkäufe um 200 keiten. Sein größ- Hillebrand Von den großen Konzernen Millionen Mark abtragen. Hillebrands ter Kreditgeber gab es wenig Unterstützung, Schulden waren seit 1988 von 97 Millio- außer den Banken ist die Asta GmbH mit als die Deutsche Geophysi- nen auf über eine Milliarde Mark ange- mindestens 50 Millionen Mark; in diese kalische Gesellschaft Sponso- schwollen, die Zahl seiner Geldgeber Berliner Gesellschaft wanderte der Groß- ren für ihre diesjährige Ta- stieg von 10 auf 35. Sein wichtigster Fi- teil der Kredite, die Hillebrand bei der gung in Hamburg suchte. Hypothekenbank in Essen AG Der Gastgeber der Tagung, aufgenommen hatte. Im No- das Geophysikalische Institut Teuer gebaut 1000 vember vergangenen Jahres ver- der Universität Hamburg, Die Bankschulden des 900 kaufte der Rechtsanwalt Wolf- bekam Spenden fast nur von Immobilien-Spekulanten 800 gang Schuppli 51 Prozent seiner kleineren Firmen, die Groß- Herbert Hillebrand Hypothekenbank in Essen AG unternehmen hielten sich zu- 700 an die Frankfurter Commerz- rück. Der Mineralölkonzern in Millionen Mark 600 bank, doch die Commerzbank, DEA beispielsweise, der von der das Engagement ihrer Aa- den Forschungsergebnissen 500 chener Filiale schon bedenklich der Hamburger Geophysiker 400 hoch schien, mochte nicht die profitiert, rückte keine Mark 300 Hillebrand-Kredite von der Es- heraus, sondern verwies auf sener Bank übernehmen, Hille- seinen reichen Verband. Der 200 brands Hypotheken wurden in Wirtschaftsverband Erdöl- 100 Schupplis Asta geschoben. Wie und Erdgasgewinnung wie- 0 zuvor zwei Banken, ließ derum gab statt Geld einen 88 1989 1990 1991 1992 1993 1994 Schuppli den klammen Schuld- guten Rat: Die Geophysiker ner pfänden. sollten ihre Mitgliedsbeiträge erhöhen.

DER SPIEGEL 18/1995 113 .

WIRTSCHAFT

Elektronikindustrie DAS HANDY VERSCHLAFEN In der Telekommunikation herrscht Goldgräberstimmung. Doch die Firmen, die für die Boombranche die Geräte bauen, stecken in der Krise – zumindest in Deutschland. Wieder hat eine zukunftsträchtige Industrie den Anschluß verpaßt. Das Geschäft machen die ausländischen Konkurrenten.

er Unternehmer Krone ist in bester Ob bei Bosch oder der Preussag- Klaus Krone hat Gesellschaft: Die füh- Tochter Hagenuk, ob beim Philips-Ab- Dschon einige renden deutschen Her- leger PKI oder beim langjährigen Bran- Tiefs erlebt – aber so steller von Kommuni- chenführer Alcatel SEL – überall kämp- schlimm wie in den kationselektronik stek- fen Firmenchefs und Betriebsräte mit vergangenen Monaten ken tief in der Krise – den gleichen Problemen: Der Umsatz war es noch nie. „Das und das in einer Zeit, schrumpft, die Gewinne verfallen, die war“, sagt der Chef in der die Telekommu- Arbeitsplätze sind bedroht. der Berliner Krone nikation als Wachs- Schon im vergangenen Jahr wurden in AG, „die härteste Zeit tumsbranche Nummer Deutschland bei den Herstellern von meines Lebens.“ eins gilt. Kommunikationstechnik 12 000 Ar- Mit 440 Millionen Doch von der Gold- beitsplätze gestrichen – vor allem in der Mark setzte das altein- gräberstimmung kann Produktion. Die Zahl der Beschäftigten gesessene Familienun- die deutsche Elektro- sank damit auf 113 000. ternehmen im vergan- nikindustrie nicht pro- Ende dieses Jahres, so befürchten genen Jahr nicht nur fitieren, ganz im Ge- Branchenkenner, sind wahrscheinlich gut ein Viertel weniger genteil. Sie hat die nur noch 100 000 Jobs übrig. Allein die

um als im Rekord- H. URBSCHAT jüngsten Trends, etwa Stuttgarter Alcatel-Tochter SEL, die jahr 1992. Zum zwei- Firmenchef Krone das Handy, schlicht 1994 eine halbe Milliarde Mark Verlust tenmal hintereinander verschlafen, und sie machte, will 5000 Stellen streichen. steht in der Bilanz ein hoher Ver- hat zu spät erkannt, daß die goldenen Bereits 1994 mußten die Hersteller lust. Zeiten als Hoflieferant des Staatsmono- beim Inlandsumsatz einen Rückgang Um die Firma liquide zu halten, muß- pols Telekom vorbei sind. von mehr als zehn Prozent auf nur noch te Krone sogar den Stammsitz in Berlin Plötzlich herrscht Wettbewerb, und gut 16 Milliarden Mark hinnehmen. Für verkaufen. Von den einst mehr als 3000 wie. Er traf die Branche völlig unvorbe- 1995 lassen die Auftragseingänge einen Mitarbeitern in Deutschland stehen nur reitet. Nun steckt sie, meint Krone, noch stärkeren Einbruch befürchten. noch weniger als 2000 auf den Gehaltsli- „in einem tiefgreifenden Umstrukturie- Noch immer ist die Deutsche Tele- sten. Und „um mit gutem Beispiel vor- rungsprozeß“. kom, inzwischen AG, bei weitem der anzugehen“, so der Firmenchef, wurde auch der Vorstand von sechs auf drei Manager verkleinert. 15,5 Der Kahlschlag in Berlin traf keine Firma in einer ohnehin schrumpfenden Branche. Als Hersteller von Kabelan- 11,4 schlüssen und Verteilern für Fernmelde- Deutschland abgehängt netze zählt das 1928 gegründete Unter- Milliarden Export von Telekommunikations- Dollar nehmen zu den traditionsreichen Liefe- ausrüstungen; 1993 Quelle: Uno ranten der Post. Wo immer im Telefon- netz Schalt- oder Kabelverbindungen hergestellt werden müssen, ist Krone 6 mit seinen Steckern in LSA-Technik 5 (lötfrei, schraubfrei, abisolierfrei) da- 4 bei. 3 Die starke Stellung im Wachstums- markt der Telekommunikation konnte 2 den Absturz in die Verlustzone nicht verhindern. Zwar ist Krone nach den 1 harten Sanierungsschnitten „überzeugt, 0 daß wir die dicksten Brocken aus dem Weg geräumt haben“. Doch ansonsten USA Japan Italien Israel gibt sich der Mann aus Berlin keinen Il- Kanada Finnland Belgien Spanien SchwedenFrankreich lusionen hin: „Von Entwarnung kann Deutschland Niederlande Dänemark keine Rede sein.“ Großbritannien

114 DER SPIEGEL 18/1995 . K. ANDREWS / DIAGONAL T. EINBERGER / ARGUM G. STOPPEL / K. ANDREWS / DIAGONAL Telefonanlagenbau (bei Siemens), Proteste bei SEL, Handy-Produktion (bei Hagenuk): Tausende von Arbeitsplätzen sind bedroht

wichtigste Kunde der deutschen Her- tionellen Lieferanten. Ausländische An- Neben dem Preisverfall, der sich „in steller. Doch die Telekom muß, das ist bieter kamen nur selten zum Zuge. vielen Segmenten schon jenseits der neu, sparen. In den vergangenen Jahren Die Kommunikationstechnik war des- Schmerzgrenze bewegt“ (Krone), macht hatte der Ausbau des Telefonnetzes in halb für viele Firmen eine wahre Gold- den deutschen Herstellern das Vordrin- Ostdeutschland die Telekom zu Re- grube. Bei Siemens etwa lieferte die gen ausländischer Konkurrenten immer kordinvestitionen von bislang insgesamt Sparte lange Zeit mehr als die Hälfte al- mehr zu schaffen. Der deutsche Markt, rund 35 Milliarden Mark gezwungen. ler Konzerngewinne. meint ein Bosch-Manager, ist „jetzt of- Die Hersteller profitierten mit zweistel- Das hat sich gewaltig geändert. „Wir fen wie ein Scheunentor“. ligen Zuwachsraten. achten nun darauf, Preise zu bekom- Um 20 Prozent stiegen im vergange- Nun ist der dringendste Bedarf ge- men, wie sie am Weltmarkt üblich nen Jahr die Importe von Kommunikati- deckt, und die hochverschuldete Staats- sind“, beschreibt Telekom-Vorstand onstechnik. Immer häufiger bekommen firma fährt ihre Investitionen wieder auf Gerd Tenzer die neue Strategie. Die Firmen wie AT&T, Motorola oder ein normales Niveau zurück. Mit einem Folge: Die ehemaligen Amtsbaufirmen Ericsson den Zuschlag, wenn die Tele- Minus von 15 Prozent sackte der Um- bekommen nicht mehr automatisch je- kom oder ihre aufstrebenden Konkur- satz bei den deutschen Ausrüstern von den Auftrag. „Die Telekom“, klagt ein renten neue Aufträge vergeben. öffentlicher Netztechnik deshalb beson- Siemens-Manager, „dreht ständig an der Zwar konnten die Deutschen ihrer- ders stark ab. Besserung ist nicht in Preisschraube.“ seits die Lieferungen ins Ausland, insbe- Sicht. Bis zum Jahre 2000 will die sondere nach Asien, auf 9,2 Milli- Bonner Staatsfirma ihre Investitionen arden Mark deutlich steigern. sogar um die Hälfte reduzieren. Die Telekom-Riesen Doch das 25-Prozent-Plus im Ex- Der Sparkurs trifft die deutschen Her- Hersteller von Kommunikations- port macht längst nicht die Verlu- steller besonders hart. Denn die neuen ausrüstungen ste auf dem Heimatmarkt wett. Anbieter, die nach dem Wegfall des Te- Umsatz 1994 Der extrem niedrige Dollarkurs lekom-Monopols von 1998 an den in Milliarden Mark könnte die Hoffnung auf weitere Markt aufrollen wollen, sind noch längst Aufträge aus dem Ausland zudem USA 23,4 kein Ersatz, der sich in den Umsätzen Motorola schnell zunichte machen. Wenn der Industrie spürbar niederschlägt. AT& T USA 23,2 der Dollar nicht bald wieder auf So waren bei Bosch die deutschen einen Kurs von mehr als 1,40 Werke schon im vergangenen Jahr nur Alcatel Alsthom Frankreich 21,2 Mark steigt, meint Branchenspre- zwischen 50 und 60 Prozent ausgelastet. cher Franz-Josef Wissing, werde Siemens Deutschland 20,7 „Die Lage ist ernst“, meint der stellver- der deutsche Export deutlich tretende Bosch-Chef Friedrich Schiefer, Northern Telecom Kanada 14,3 sinken, und das werde sich der die Fertigung im Inland nun von auch in der Beschäftigung nieder- * neun auf sieben Standorte konzentrie- NEC Japan 14,1 schlagen. ren will. Langfristig, so rechnet Schie- Ericsson Schweden 14,0 Für unabhängige Experten fer, sollen von den einst fast 30 000 Ar- kommt der schwere Einbruch der beitsplätzen in der Kommunikations- Fujitsu Japan 7,1* europäischen Hersteller auf einem technik noch etwa 17 000 übrigbleiben. der wichtigsten Wachstumsmärkte Für zusätzlichen Druck sorgt das neue Bosch-Gruppe Deutschland 7,1 nicht überraschend. Schon vor Kostenbewußtsein der Telekom-Ein- Nokia Finnland 5,5 zwei Jahren hatte das Wissen- käufer. Früher akzeptierten die Beam- schaftliche Institut für Kommuni- ten in Bonn fast jeden Preis ihrer tradi- *Stand 1993 kationsdienste (WIK) in Bad Hon-

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WIRTSCHAFT LEHTIKUVA OY Nokia-Konzert in Berlin mit den „Leningrad Cowboys“: Vom Gummistiefel-Hersteller zum führenden Handy-Lieferanten

nef in einer Langzeituntersuchung auf de in entwickelt und sich in- Rennen und rangiert bei der Telekom die schleichende Auszehrung der euro- nerhalb kurzer Zeit zum europäischen nur noch unter ferner liefen. päischen Position am Weltmarkt hinge- Marktführer bei den Home-Handys Die schludrige Qualität brachte Hage- wiesen. hochgearbeitet. Zeitweilig kamen mehr nuk an den Rand des Ruins. Weil die Mit einem Anteil am Welthandel von als 80 Prozent der von der Telekom ver- Telekom, die ihren Schaden intern auf gut 16 Prozent war die deutsche Indu- kauften Schnurlos-Telefone aus Kiel. weit über 100 Millionen Mark beziffer- strie noch 1980 vor Japan und den USA Dem steilen Aufstieg folgte der fast te, darauf verzichtete, ihre Ansprüche der größte Exporteur von Telekommu- senkrechte Absturz. Erst versäumten es geltend zu machen, schlitterten die Kie- nikationsgeräten. Im Laufe der Achtzi- die Kieler Manager, die Lieferfristen für ler an der Pleite vorbei. ger konnten die Deutschen ihr Export- ihren Hauptkunden einzuhalten, dann Mit neuem Management und einer ra- volumen zwar verdoppeln, andere aber wiesen die Geräte der Serien Sinus 31 dikal reduzierten Belegschaft will die waren noch schneller gewachsen. und 32 auch noch erhebliche Mängel Preussag-Tochter nun wieder auf Er- 1990 lag der Marktanteil der Deut- auf: Bei fast 90 Prozent der Handys folgskurs gehen. Doch das wird schwer. schen nur noch bei gut 9 Prozent, Japan mußte der Akku ausgetauscht werden, Denn die Kieler haben, wie fast alle (24 Prozent) und die USA (17 Prozent) und bei den meisten Ersatz-Akkus deutschen Hersteller, den Anschluß an waren weit vorbeigezogen. Der Markt- tauchten ähnliche Probleme schon bald den größten Wachstumsmarkt der Bran- anteil der EG-Länder sackte innerhalb wieder auf. che verpaßt: das mobile Telefonieren. eines Jahrzehnts von 53 auf 31 Prozent. Eilig orderte die Telekom, aufge- Zwar wurde die von inzwischen mehr Inzwischen hat sich der Rückstand noch schreckt durch die massiven Kundenbe- als 100 Netzbetreibern in 60 Ländern ge- vergrößert. schwerden, neue Home-Handys bei Sie- nutzte Mobilfunktechnik GSM vor al- Ähnlich verheerend haben sich die mens und der schweizerischen Firma lem von deutschen und französischen Patentanmeldungen entwickelt. Das Ascom. Seither ist Hagenuk aus dem Ingenieuren entwickelt. Das große Ge- WIK kam deshalb schon 1993 zu einem alarmierenden Ergebnis, das in krassem Gegensatz zum öffentlich präsentierten Selbstbewußtsein der Firmen steht. Es bestehe die Gefahr, warnten die Markt- forscher, daß „die europäischen Länder in einen wachsenden technologischen Rückstand geraten.“ In der Netz- und Vermittlungstechnik hat die europäische Industrie, angeführt von Alcatel und Siemens, zweifellos noch immer eine starke Position. Bei den Endgeräten wird die sich seit lan- gem abzeichnende Schwäche indes im- mer klarer. Bei Handys und Telefonen, bei Fax- und Funkgeräten laufen Deut- sche und Franzosen meist der Konkur- renz aus Japan und Amerika hinterher. Nicht selten ist die Krise schlicht hausgemacht, zum Beispiel bei der Preussag-Tochter Hagenuk. Das Kieler

Unternehmen hatte schon vor gut zehn L. SCHMIDT / JOKER Jahren das erste schnurlose Telefon ma- Kabelarbeiten der Telekom: Der neue Sparkurs trifft die Deutschen hart

116 DER SPIEGEL 18/1995 schäft mit dem europäischen Weltstan- dard aber machen der US-Konzern Mo- torola sowie die skandinavischen Fir- men Ericsson und Nokia. Keine deut- sche Firma kann die komplette GSM- Palette, vom Netzausbau bis zum Handy, aus einer Hand anbieten. Welche Chancen dieses Geschäft er- öffnet und was ein Unternehmen daraus machen kann – das zeigt geradezu bei- spielhaft der Aufstieg von Nokia. Der finnische Mischkonzern stellte früher überwiegend Gummistiefel und Papier her, inzwischen gehört er zu den welt- weit größten Anbietern digitaler Kom- munikationstechnik. Die bringt schon zwei Drittel des Konzernumsatzes (zehn Milliarden Mark) ein. Bei der neuesten Mobilfunktechnik PCN, die in Deutsch- land von E-plus eingesetzt wird, ist No- kia sogar weltweit führend. Als einziger Hersteller liefern die Fin- nen Handys für alle vier digitalen Mobil- funk-Normen, die es auf der Welt gibt. Auch der Standort Deutschland profitiert vom Erfolg der Finnen

In vielen Ländern nehmen sie schon ei- ne Spitzenposition ein, weltweit strebt Nokia, werbemäßig unterstützt von der skurrilen finnischen Popgruppe „Lenin- grad Cowboys“, nun einen Marktanteil von 20 Prozent an. Traditionsreiche deutsche Firmen wie Siemens oder Hagenuk sind dagegen im Handy-Geschäft, bei dem im laufenden Jahr etwa 25 Millionen Geräte abgesetzt werden sollen, weit abgeschlagen. Fehl- geleitet von den früher mageren Zu- wachsraten des Mobilfunkmarkts, ha- ben sie die ungeheure Dynamik des neu- en Geschäfts schlicht unterschätzt. Um den lawinenartig wachsenden Be- darf decken zu können, hat Nokia die Kapazität seiner drei Handy-Werke ver- doppelt. Und davon profitiert auch der Standort Deutschland. In Bochum, wo Nokia 1989 mit einer zunächst 200köpfigen Belegschaft die Produktion von D-Netz-Handys aufge- nommen hatte, waren Ende vergange- nen Jahres schon 650 Mitarbeiter be- schäftigt. Durch ein neues Arbeitszeit- Modell, bei dem auf drei Sechs-Tage- Wochen eine ganze Woche Freizeit folgt, konnte die Produktion noch ein- mal um ein Drittel verbessert werden. Doch das reicht jetzt nicht mehr. 500 neue Mitarbeiter wurden schon eingestellt, 300 werden noch gesucht. An Interessenten für den Job mit der Sechs-Tage-Woche, die von den Ge- werkschaften zunächst heftig bekämpft wurde, mangelte es nicht: Auf die erste Anzeige meldeten sich in Bochum 4500 Bewerber. Y

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WIRTSCHAFT

SPIEGEL-Gespräch „Verführung zum Übel“ Industrieberater Karl Gustaf Ratjen über den Strompreis und das Monopol der deutschen Erzeuger

SPIEGEL: Herr Ratjen, Sie vertreten den US-Konzern General Electric. Warum, glauben Sie, kommt der auf dem deut- schen Energiemarkt nicht ins Geschäft? Ratjen: Wir haben hier in Deutschland eine Monopol- oder Oligopol-Struktur, ein Miteinander von Kraftwerksbetrie- ben und deren Lieferanten. Und wenn es einen solchen geschlossenen Verein oder Klub gibt, kann ein Außenseiter machen, was er will, er kommt da nicht rein und an alle Aufträge schon gar nicht heran. SPIEGEL: Was ist das für ein Klub? Ratjen: Als ich Präsident des europäi- schen Industrieverbands Unice war, ha- be ich mich beim Präsidium des Bundes- verbands der Deutschen Industrie mal dafür eingesetzt, die Durchleitungsrech- te für den Strom eines bestimmten Her- stellers durch das Leitungsnetz eines an- deren generell zu ermöglichen, und das über die nationalen Grenzen hinweg. Da sind sie dann alle gekommen, auch Veba, RWE, Bayernwerk, dazu noch

Firmen, die gar nicht angesprochen wa- J. H. DARCHINGER ren. Auch ein Vertreter von Siemens Monopolkritiker Ratjen: „Der Verbraucher ist muffig“ war für die Zulieferer dabei und dann noch einer von der Ruhrkohle. Die sit- SPIEGEL: Kostet diese Politik den Bür- den. Die Stromeinfuhr aus dem wenige zen also alle in einem Boot, und ich ger nicht viel Geld? Kilometer entfernten Frankreich war spürte damals eine recht feindliche At- Ratjen: Tatsache ist, daß wir ungewöhn- überhaupt nicht möglich. mosphäre. Das beantwortet vielleicht lich hohe Strom- und auch Gaspreise so- SPIEGEL: Bleibt die Versorgungssicher- Ihre Frage. wohl für die Industrie als auch für den heit. In Amerika gibt es Blackouts, SPIEGEL: Woran liegt es, daß die Part- Normalverbraucher haben. Für die wenn mal ein richtiger Schneesturm los- ner im Boot so unangreifbar sind? Stromerzeuger findet der Gemeinsame geht. Bei uns gab es das allenfalls bei Ratjen: Es gibt eine gesetzliche Rege- Markt schlicht nicht statt. der Schneekatastrophe von 1979 in lung aus den dreißiger Jahren, die Mo- SPIEGEL: Wollen Sie weniger Versor- Schleswig-Holstein. nopole dieser Art stützt. Überdies ha- gungssicherheit und schlechtere Be- ben die Konzerne einen sehr starken po- schäftigung, vor allem im Bergbau? litischen Einfluß. Denken Sie nur an die Ratjen: Es ist genau andersherum: Der Die Stromkonzerne Ministerpräsidenten Rau und Lafon- Energiepreis ist ein echter Standort- taine, die sich um ihre heimische Kohle nachteil. Das betrifft gerade die vielen verteidigen ihre Monopolstellung mit sorgen. Und es stehen immer wieder Arbeitsplätze der stromverbrauchenden allen Mitteln. Fast alle früher streng re- Wahlen bevor. Wirtschaft. Deutsche Kohle kostet uns gulierten Märkte – etwa Telekommuni- SPIEGEL: Deutschland ist also nicht fä- die Haare auf dem Kopf. Sie ist dreimal kation und Luftverkehr – sind liberali- hig, sich von diesen Monopolstrukturen so teuer wie international gehandelte siert. Nur bei der Energie ist Wettbe- zu befreien? Kohle. Können wir das Geld nicht sinn- werb noch immer nahezu ausgeschlos- Ratjen: Die bestehenden Strukturen voller für neue Technologien ausgeben? sen. Verbraucher und Industrie zahlen werden mit vielen Argumenten vertei- SPIEGEL: Wer will, kann doch Kohle dafür mit erheblich höheren Tarifen als digt, mit dem Hinweis auf Versorgungs- oder Strom importieren. im Ausland (siehe Grafik). Selbst beim sicherheit und Beschäftigung etwa. Die Ratjen: Hier gibt es Beschränkungen, Kraftwerksbau herrscht eine geschlos- beteiligten Klub-Mitglieder kennen sich Importquoten. Und wenn Sie sich mal sene Gesellschaft. Nur die Hoflieferan- gut, sitzen in Aufsichtsgremien zusam- die deutsche Energiesituation mit den ten haben eine Chance. Zum ersten- men. Sie sind geschlossen der Meinung, Augen eines industriellen Verbrauchers mal versucht jetzt ein mächtiger Au- daß sie Wettbewerb nicht brauchen. ansehen: Der Chemiekonzern BASF ßenseiter, das System aufzubrechen. hat zur Senkung der Energiekosten eine Der amerikanische Konzern General komplette Gasleitung von Ludwigsha- Electric (60 Milliarden Dollar Umsatz, Das Gespräch führten die SPIEGEL-Redakteure Werner Meyer-Larsen und Michael Schmidt-Klin- fen zur Nordsee gebaut, um von einem 220 000 Beschäftigte) will vor deut- genberg. Monopolanbieter unabhängig zu wer-

118 DER SPIEGEL 18/1995 Ratjen: Die Versorgungssicherheit ist Transport, also von Kraft- natürlich ein wichtiger Faktor. Aber ich Teures Monopol werken und Leitungsnetz sage dazu: Wenn ich immer ein paar ein Anfang? Pfennige weniger für die Kilowattstunde Industriestrompreise je Megawattstunde Ratjen: Da wäre man schon bezahle, kann ich auch mal einen kurzen in US-Dollar; 1993 auf dem richtigen Weg. Als Blackout durchstehen. 162 ersten Schritt müßten die SPIEGEL: Offenbar wird der Strompreis Konzerne ihre Leitungen nicht nach dem Wettbewerbsprinzip er- Japan für alle freigeben. Wenn es mittelt, sondern nach der Methode Ko- je zu einem Kartellverfah- sten plus Gewinn – „Cost plus“ wird das ren in dieser Branche käme, ja wohl genannt. Italien 92 könnte das Kartellamt zum Ratjen: Cost plus ist, wenn ich das so sa- Beispiel sagen: Wir erwar- gen darf, ein Relikt aus der Nazi-Zeit. Deutschland 89 ten, daß ihr euch von den Insbesondere die Rüstungsbetriebe ha- Leitungsnetzen trennt. ben so gearbeitet und dabei immer ganz Spanien 85 SPIEGEL: Halten Sie denn gut verdient. Aber die Energieversor- ein Kartellverfahren für gungsunternehmen werden von den wahrscheinlich? Kommunen auch ungebührlich zur Kas- Großbritannien 67 Ratjen: Bislang nicht. se gebeten. SPIEGEL: Wie soll es ohne SPIEGEL: Das bedeutet, daß die Gewin- Irland 59 Verfahren weitergehen? ne um so höher werden, je mehr mit den Ratjen: Im Grunde geht das Kosten geschlampt wird. Das wirtschaft- nur noch über Brüssel. liche Prinzip steht bei der Stromwirt- Frankreich* 58 SPIEGEL: Mit den Franzo- schaft also auf dem Kopf? sen? Die sind doch genauso Ratjen: Cost plus ist die Verführung USA 49 monopolistisch. zum Übel. Es gibt kaum etwas Schlim- Ratjen: Nicht mit den Fran- meres. Finnland 48 zosen, eher mit den Englän- SPIEGEL: RWE hat auf diese Art so viel dern. Aber die sind nun Geld verdient, daß sie ganze Branchen wieder nicht so stark euro- aufkaufen könnten. Kanada 39 päisch orientiert. Anderer- Ratjen: Ja, die EVU haben gewaltige seits würden auch sie gern Abschreibungen aus Kernkraftwerken. Schweden 35 Strom zum Beispiel nach Die können sie gar nicht mehr in den Frankreich liefern. Andere Ausmaßen reinvestieren, weil ja neue *1992 Quelle: OECD/iw EU-Mitglieder denken aber Kernkraftwerke nicht entstehen dürfen. marktwirtschaftlicher. SPIEGEL: Dadurch haben die Strom- zern Du Pont und nun auch noch Tele- SPIEGEL: In Brüssel wird offenbar doch erzeuger inzwischen 37 Milliarden Mark kommunikations-Unternehmen. Und schon wieder an einem faulen Kompro- an stillen Reserven, also an Cash gebun- der Verbraucher . . . miß gearbeitet. Die Deutschen verlan- kert . . . Ratjen: . . . der Verbraucher ist muffig, gen jeweils einen Operator, der über die Ratjen: . . . unternehmerisch ganz rich- zumindest unfroh. Er fragt sich, warum Durchleitungsrechte verfügt. Da wäre tig gedacht. Verdiente Abschreibungen er eigentlich mit seinem Strompreis die das Kartell dann wieder am Drücker. als Rückstellungen produzieren in sol- Expansion und Diversifizierung der Ratjen: Natürlich hilft die deutsche cher Lage zwangsläufig Cash. Elektrizitätswerke finanzieren muß. EU-Vertretung nicht, dieses Mono- SPIEGEL: Aber weil sie nun nicht wis- Preissenkungen wären durchaus mög- pol zu lockern. Andererseits guckt sen, wohin mit dem vielen Geld, kaufen lich, wenn das Monopol aufgebrochen die Kommission gerade auf die Deut- sie ständig Unternehmen dazu, etwa das würde. schen, die man langsam dem Wettbe- deutsche Tankstellennetz der Texaco, SPIEGEL: Wie soll das geschehen? Wäre werb im Energiesektor näherbringen eine Kohlenzeche vom US-Chemiekon- die Trennung von Erzeugung und möchte. SPIEGEL: Wie müßte der endgültige Wettbewerb denn aussehen? schen Gerichten den Auftrag für eine mergericht erkannte in einem Eilver- Ratjen: Wir brauchen außer der Freiga- Turbinenanlage einklagen. General fahren kein Rechtsschutzbedürfnis der be der Netze den internationalen Wett- Electric hatte sich 1993 an einer Aus- Amerikaner und lehnte die Klage im bewerb bei der Vergabe von Aufträgen. schreibung des ostdeutschen Strom- April ab. Nun macht General Electric Wenn ein amerikanischer Anbieter nach Verbunds Veag für das Braunkohle- politischen Druck. Jeffrey Garten, Deutschland kommt, um dort ein Kraft- kraftwerk Lippendorf bei Leipzig betei- Staatssekretär im US-Handelsministe- werk zu bauen, muß er eine Chance ha- ligt. Den Auftrag für die Turbinen im rium, protestierte diese Woche in Bonn ben. Und wir brauchen einen echten Wert von 400 Millionen Mark bekam gegen angeblich unfaire Behandlung und freien Handel mit Strom. der schwedisch-schweizerische Kon- von US-Lieferanten. Gegen die Strom- SPIEGEL: Damit wären aber die Mono- zern ABB. Das Angebot der Amerikaner Monopolisten kämpft auch Karl Gustaf polunternehmen weiter beisammen, sie sei wirtschaftlich und technisch Ratjen, 75. Der pensionierte Manager hätten nur etwas weniger Sonderrechte. schlechter gewesen, argumentierte die ist Mitglied im europäischen Beirat von Würde nicht die Entflechtung dieser Fir- Veag, und beteiligte General Electric General Electric und gehörte früher als men mehr bringen? nicht einmal mehr an der Schlußrunde. vielfacher Aufsichtsrat selbst zum in- Ratjen: Das ginge schon ans Eingemach- Der US-Konzern sah dadurch unter an- dustriellen Establishment der Bundes- te. Ob das volkswirtschaftlich so ganz derem eine Richtlinie der Europäi- republik. Ratjen war bis 1984 Vor- vertretbar wäre, müßte noch geprüft schen Union für freien Marktzutritt ver- standsvorsitzender der Metallgesell- werden. Natürlich wäre es vertretbar, letzt und klagte auf Wiedereröffnung schaft und bis 1987 Aufsichtsratschef wenn es statt der Monopolstruktur vier der Ausschreibung. Das Berliner Kam- von Volkswagen. oder fünf unabhängige Stromerzeuger gäbe. Sie müßten allerdings so stark

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seine Devise, „das geben wir nicht mehr Handel her.“ Auf diese Weise hat der Sproß einer bayerischen Bauernfamilie aus dem pro- vinziellen Revisionsverband der West- Ideale kauf-Genossenschaften (Rewe) den größten Lebensmittelhändler Deutsch- lands geformt. Bereits 1977 rückte Spielwiese Reischl in den Zentralvorstand auf, seither hat sich der Außenumsatz des Aus der Einkaufs-Genossenschaft Konzerns, vor allem durch Zukäufe, Rewe ist ein gigantischer Handels- auf rund 46 Milliarden Mark vervier- facht. konzern geworden. Ohne dessen Vor wenigen Wochen kaufte Reischl Lenker Hans Reischl läuft nichts. für rund 100 Millionen Mark dem Kauf- hof dessen defizitäre Reisetochter ITS ab. Die etwa 280 Reisebüros sollen der einahe ehrfürchtig steht er da, eigenen Atlas-Kette zugeschlagen wer- den roten Kopf leicht gesenkt, die den, geplant ist eine enge Zusammenar- BHände bußfertig vor dem Bauch beit mit dem Urlaubsmulti TUI. Dann verschränkt. „Was am besten läuft?“ fehle nur noch eine eigene Fluggesell- echot der erfolgreiche Unternehmer schaft, sagt Reischl über seine Ziele in wie ein verschüchterter Pennäler: „Am der Tourismus-Branche. besten läuft unsere kleine Salami.“ Gleichzeitig mit dem ITS-Coup mach- Sein Gegenüber, Chef des Handels- te der Rewe-Chef durch eine weitere giganten Rewe, nickt beifällig. „Ich er- Aktion von sich reden: Er übernahm

T. MAYER / DAS FOTOARCHIV kläre meinen Leuten auch immer, sie den Kreditversicherer AKV und dessen RWE-Kraftwerk sollen damit direkt an die Kassen“, Tochter Procedo mit ihrem gewaltigen Der Stromklub braucht keinen Wettbewerb sagt Hans Reischl. „Die müßten bloß Verlustvortrag. Procedo war bei der ein paar Süßwaren rausschmeißen.“ Balsam-Affäre in Vergleich gegangen. sein, daß sie technologisch optimal ar- Der Wurstfabrikant hängt am Ha- Die Basis des ständig wachsenden Re- beiten können. ken. „Sehr gut, sehr gut“, strahlt er – we-Reichs sind längst nicht mehr die SPIEGEL: Immer größere Einheiten wä- bis ihm Reischl nach einer kurzen Pau- 3600 selbständigen Händler und Genos- ren doch kaum die Lösung. se den Nachschlag verpaßt: „Leider sa- sen, sondern die Filialläden der Zentra- Ratjen: Nein. VEW ist ja eigentlich gen die mir dann, mit ihrer Salami ver- le. Dazu gehören Discounter wie HL, schon das Beispiel einer gut arbeitenden dienen wir nicht genug.“ Minimal und Penny, die Großmarktket- kleineren Einheit. Die strengen sich an Ob Dauerwurst, Firmenanteile oder ten Toom und Globus, diverse Droge- und entwickeln auch modernere Verfah- Immobilien, wer mit dem Rewe-Chef rie-, Bau- und Elektromärkte. ren für eine bessere Energie-Ausbeute. Geschäfte machen will, muß auf der Die Struktur der Rewe mit ihren über SPIEGEL: Die Großen verhindern aber Hut sein. Reischl, 55, spielt nur mit, 100 Töchtern und Beteiligungen ist auch indirekt Anlagen der Kraft- wenn er sich sicher ist, daß er ge- schwer durchschaubar; nicht nur für Au- Wärme-Kopplung, also Heizkraftwer- winnt. „Was wir einmal haben“, so ßenstehende. „Fährt der Chef morgen ke. Die wollen den Be- treibern überschüssigen Strom nicht abnehmen. Ratjen: In der Tat finden die Betreiber derartiger Anlagen oft einen nicht übermäßig freundlichen Gesprächspartner. Ein derart ungeliebtes Kind hat ein schweres Leben. SPIEGEL: Vor allem die verarbeitende Industrie hat inzwischen den Strom- preis zur Standortfrage er- klärt. Um wieviel könn- te der Strompreis in Deutschland sinken? Ratjen: Ich denke, da sind ein paar Pfennig pro Kilo- wattstunde drin. Vielleicht in mehreren Schritten et- wa vier Pfennig. Das wä- ren dann bis zu 30 Prozent für den industriellen Ver- braucher. SPIEGEL: Herr Ratjen, wir

danken Ihnen für dieses J. SCHWARTZ Gespräch. Y Rewe-Chef Reischl: „Du mußt an den richtigen Strippen ziehen“

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Rewe Großhandelsgesellschaften 31 regionale Genossenschaften, in denen etwa 3600 selbständige Rewe-Kaufleute ohne Geschäftsbetrieb: mit Geschäftsbetrieb: ehemals tätige, im Hauptbeteiligungskreis identisch zusammengeschlossen sind max. Rewe Hungen Rewe eG heute nur ver- 50% Rewe Efferen Doego Dortmund eG mögenshalten- Rewe Koblenz Rewe Herne eG de Genossen- 100 % Rewe Korschenbroich Groka Solingen eG schaften REWE ZENTRALE Rewe-Zentral-Finanz eG, Köln 61 % 26 % 13% Rewe Handelsgruppe, Vorstandsvorsitzender: Hans Reischl Außenumsatz 1994: Verrechnungsumsatz 1994: 30 Mrd. DM Rewe-Zentral-AG, Köln, Vorstandsvorsitzender: Hans Reischl 45,98 Mrd. DM Umsatz 1994: 5,6 Mrd. DM Beschäftigte: 161 000 Rewe Beteiligungs GmbH, Köln 5% 95% 60% Geschäftsführer: Hans Reischl 40% 100 % Rewe-Zentral-Handelsgesellschaft mbH, Rewe Beteiligungs-Verwaltungs GmbH, 80% Köln, Geschäftsführer: Hans Reischl Bremen, Geschäftsführer: Hans Reischl Rewe Einzelhandel Rewe & Co OHG, Bad Homburg Auswahl weiterer 100%iger Beteiligungen: Umsatz 1994: 21,94 Mrd. DM, Beschäftigte: 80 000 20% 50% Geschäftsführer: Hans Reischl Rewe-Niederlassung Hungen Filialbetriebe: HL, Minimal, Penny, Toom, Idea, Rewe-Niederlassung West Rewe-Unterhaltungselektronik OGT-Fruchthandelsgesellschaft, Hürth Fegro/Selgros GmbH 100 % 100 % 50% Rewe-Verlag GmbH Rewe Für Sie Warenvertriebs GmbH Kafu Wasmund Handelsgesellschaft, Bremen Ja-Lebensmittel GmbH 54,5% Today-Warenhandelsgesellschaft AKV Allgemeine Kreditversicherung, Mainz Deutscher Supermarkt AG, Düsseldorf 50% 75% R-Kaufmärkte Rewe-Wibu, Mainz Umsatz 1994: 2,9 Mrd. DM 50% Filialbetriebe: Desuma, Stüssgen, Hill, Mess 10,5% 10,5% Rest von 24,5% hält Rewe über R-Kauf, Köln 75% Auslandsbeteiligungen: Budgens PLC, Großbritannien; Penny Market Italia, RGH Kaiser + Kellermann Rewe Handelsgesellschaft Prag; Penny Spanien und Ungarn 100 % Klee-Gartenfachmarkt, Köln Atlasreisen GmbH, Köln 100 % ITS International Touristic Services 100 %

vor einen Baum“, sagt ein Mitarbeiter, Nur eines durfte sie nicht: den oft große Ziele: Er will die Rewe zum Euro- „dann stehen wir im dunkeln.“ nach Gutsherrenart herrschenden Re- Konzern ausbauen. Rund 100 Millionen Der studierte Kaufmann Reischl hält gionalfürsten ins Geschäft reden. Mark sollen jährlich, so ein interner über eine Reihe von Vorstands- und Ge- Das änderte Reischl schnell: 1974 Zehn-Jahres-Plan, in den Aufbau von schäftsführerposten alle Fäden in der rückte er als Trouble-Shooter in den Laden- und Vertriebsnetzen vornehm- Hand. Im Aufsichtsrat sitzen Genossen, zweiköpfigen Vorstand auf. Die gesam- lich in Italien, Spanien und Tschechien die sich mitunter seit Jahrzehnten ken- te Gruppe steckte nach einer Millionen- fließen. Für seine Expansionspläne kam nen, und lassen dem Chef freie Hand. pleite ihrer Frankfurter Genossen so tief Reischl das Pleiteunternehmen Procedo Genaue Zahlen über den Kapitalfluß im Dreck, daß Lieferanten mit einem gerade recht. Er glaubt, daß damit „eine in der Gruppe gibt es nicht. Formaljuri- Warenstopp drohten; eine geplante Fu- Menge Geld“ zu verdienen sei. stisch kein Konzern, muß der Gigant sion mit Edeka war geplatzt. Fürrund 110Millionen schleust die Re- kaum mehr publizieren als ein mittel- Der Junior-Chef beruhigte die Ban- wedieProcedo indiehauseigeneZentral- ständischer Gemüsehändler. ken und entmachtete mit einem Überra- finanz ein und bekommt soeinen Verlust- Das sorgt für Mißtrauen. Kritiker mo- schungs-Coup gleich noch die Genos- vortrag von wenigstens 1,2 Milliarden nieren Reischls Machtfülle in dem ver- senschaftsfürsten: Er kaufte 50 Prozent Mark. Die kann Reischl mit den Rewe- schachtelten Konglomerat. Einige erin- der expansiven, aber kapitalschwachen Gewinnen verrechnen – und so muß die nern sogar an das kunstvoll aufgetürmte Leibbrand-Gruppe. Mit dem Filialisten Zentrale einige Jahre keine Steuern zah- und später zusammengekrachte Reich hatte die Zentrale plötzlich ein eigenes len. des Co-op-Herrschers Bernd Otto. Geschäft in der Hand. Echte Verluste könnte den Kölnern Den Vergleich hört Reischl natürlich Der Rest lief nach Plan. „Manchmal aber ihr Einstieg bei der englischen Su- nicht gern. Er sieht sich als gewieften, machen Leute bei mir etwas“, kokettiert permarktkette Budgens bringen. Die kühl berechnenden Taktiker, nicht als Reischl mit seinem rhetorischen Talent, Briten haben den gemeinsamen Versuch, Hasardeur. „Du mußt an den richtigen „was sie eigentlich gar nicht wollen.“ auf der Insel ein Penny-Discount-Netz Strippen ziehen“, sagt er nüchtern, Zielstrebig verleibte er dem Konzern aufzuziehen, eigenmächtig abgebro- „statt ein großes Rad zu drehen.“ die Großhandelsbetriebe der lokalen chen. Für Reischl ist der Flop ein schwe- Als der Nachwuchsmanager Reischl Genossen ein; die bekamen dafür An- rer Rückschlag. Doch langfristig könnte Anfang der siebziger Jahre bei der Re- teile an der Kölner Zentrale. dem Strategen vor allem sein Erfolg ge- we einstieg, hatte er die ideale Spielwie- Mit einigen Akquisitionen, darunter fährlich werden: Der weckt Begehrlich- se gefunden. Sein ehrgeiziges Ziel: „Das 400 Läden der gestrandeten Co op, und keiten bei den eigenen Genossen. Unternehmen zumindest unter die er- der Übernahme der restlichen Leib- „Jede Genossenschaft steht in dem Ri- sten drei in Deutschland bringen.“ brand-Anteile in die Rewe & Co. OHG siko“, sagt Reischl, „daß einige das Erbe Tatsächlich diente die Zentrale den war der Konzernumbau Anfang der versilbern wollen.“ Die Umwandlung in Genossen als Selbstbedienungsladen. neunziger Jahre im wesentlichen kom- eine Aktiengesellschaft lehnt er als Sie kümmerte sich um den Einkauf, half plett. Doch Reischl genügt das nicht: „Verrat an der Idee“ strikt ab. Neueinsteigern auf die Beine, mußte ab „Uns fehlt noch einiges.“ Sein Motiv aber ist wohl weniger hehr: und an einer abgewirtschafteten Genos- Der Familienvater (zwei Kinder) und In einer Aktiengesellschaft wäre es mit senschaft mit Krediten aushelfen. passionierte Golfer (Handicap 22) hat Reischls Machtfülle vorbei. Y

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Büro und Betrieb wird den Mobilfunk- Mobilfunk Markt in neue Dimensionen führen. Fünf bis sechs Milliarden Mark Inve- stitionen könnten binnen weniger Jahre angestoßen werden, heißt es in dem An jede Gutachten, 3,5 Millionen Neugeräte bis 1999 verkauft werden – wenn Bötsch nur die richtigen Entscheidungen fälle. Laterne Das drahtlose, mobile Telefonieren war laut Studie in den letzten acht bis Den meisten Privatleuten ist mobi- zehn Jahren ein Wachstumsmarkt wie les Telefonieren viel zu teuer. Das aus dem Bilderbuch, mit Zuwachsraten zwischen 50 und 100 Prozent pro Jahr. könnte sich, dank des sogenannten Der Boom hat, aus Verbrauchersicht, Dect, bald ändern. nur einen Makel: Die Frequenzen sind knapp, der Wettbewerb hält sich in Grenzen, die Preise bleiben hoch. olfgang Bötsch, der letzte Post- Folgerichtig blieb der Anteil der Pri- minister der Republik, will, be- vatkunden mit 15 bis 20 Prozent relativ W vor er abtritt, noch einiges an- gering. Betreiber der aufwendigen D-1-, schieben: Die Telekommunikation soll, D-2-Netze und des E-Plus-Netzes sind von Behördenfesseln befreit, zum die Telekom-Tochter Detemobil, Man- Wachstumsmarkt der Zukunft werden. nesmann und Veba/Thyssen. Zwar ver- Deregulierung ist Bötschens liebstes künden diese Unternehmen alle, ihre Wort, technische Kürzel gehen ihm glatt Zukunft liege im Massengeschäft. Doch über die Lippen. Die Lettern-Kombina- dafür sind sie zu teuer. tion „Dect“ aber taucht in öffentlicher 62 Prozent der Bürger, hat das Empi- Rede des Ministers noch nicht auf. rica-Institut ermittelt, wären bereit, bis Dabei weiß er genau, was sich hinter zu 1200 Mark im Jahr in die ständige Er- dem Code „Digital European Cordless reichbarkeit zu investieren. Frühere Un- Telecommunication“, kurz Dect, ver- tersuchungen ergaben, daß diese Zahl wahrscheinlich zu hoch gegriffen ist, bei vielen möglichen Kunden dürfte die Zahlungsbe- reitschaft bereits bei 500 Mark im Jahr en- den. Auf alle Fälle waren den meisten Verbrau- chern die reichlich 2000 Mark, die bis vor kurzem für mobiles Telefonieren in den bestehenden Netzen gefordert wurden, viel zuviel. Mit Dect aber, so Schulte-Hillens Er- kenntnis, wäre „eine Unterschreitung der preislichen Hemm- schwelle von 500 bis 1000 Mark laufender Kosten im Jahr durch- aus realisierbar“.

LEHTIKUVA OY / ACTION PRESS Am Beispiel Ber- Handy-Benutzer (in Helsinki)* lin demonstrieren die Mobil telefonieren für 333 Mark Fachleute von Scienti- fic Consulting die birgt. Er weiß nur noch nicht, was er da- überlegene Wirtschaftlichkeit der Dect- mit politisch anfangen soll. Technik, die in Helsinki, in Frankreich Seit einigen Monaten liegt auf seinem und auch im Fernen Osten bereits er- Schreibtisch ein Gutachten der Kölner probt wird. Mit dem E-Plus-Netz kön- Unternehmensberatung Scientific Con- nen die Betreiber 90 000 Teilnehmer sulting. Firmenchef Jürgen Schulte-Hil- versorgen, für einen Gesamtpreis von len prophezeit darin das goldene 115 Millionen Mark, also knapp 1300 Handy-Zeitalter. Das neue schnurlose Mark pro Teilnehmer. Telefonsystem für Haus und Garten, Die Dect-Technik erfordert zwar Aufwendungen von 300 Millionen * Vor einem Dect-Sender (an der Säule oben). Mark. Doch diese Summe reicht aus,

DER SPIEGEL 18/1995 125 900 000 Handy-Fans zu bedienen. Das macht pro Teilnehmer nur 333 Mark. Die Tonqualität ist bei Dect so gut wie im Kabelnetz der Telekom. Al- lerdings: Wer auch auf der Autobahn oder im tiefen Wald erreichbar sein will oder muß, dem ist mit dem neuen Sy- stem nicht zu helfen. Dect eignet sich nicht für ein flächen- deckendes Netz: Die jeweiligen Sende- gebiete haben nur einen Durchmesser von 200 bis 300 Metern. Zum Ver- gleich: Im E-Plus-Netz bedarf es nur al- le 20 bis 30 Kilometer eines Senders. Deshalb ist das Dect-System nur für Ballungsgebiete geeignet. Dort lassen sich die Sender, kleine Kästen, 20 mal 30 Zentimeter groß, ohne großen Auf- wand an jedem Laternenpfahl und je- dem Haus aufhängen. Auch das Handgerät ist billig, 200 bis 300 Mark soll es kosten. Die üblichen Mobilfunk-Geräte haben einen Herstel- lerpreis von 1000 Mark, sie werden aber meist von den Anbietern billiger abgegeben, um Kunden anzulocken. Mit Dect kann der mobile Privat- mann natürlich nicht nur in seinem Viertel telefonieren. Er kann in jedes andere Netz gelangen und auch aus an- deren Netzen angerufen werden. Das neue System bricht nicht nur in die Zielgruppe der Mobilfunker ein; auch die Telekom mit ihren in den Wohnungen festinstallierten Telefonen gerät ins Visier der neuen Anbieter. Warum sollte sich jemand in Großstäd- ten noch ein herkömmliches Telefon halten, wenn er für fast den gleichen Preis ein mobiles Dect-Telefon plus Feststation bekommen kann? Die Schulte-Hillen-Studie räumt die- se Konkurrenz-Situation indirekt auch ein. Sie schlägt dem Postminister näm- lich vor, in den 14 geeigneten Ballungs- räumen von Hamburg bis München, vom Ruhrgebiet bis Dresden, jeweils zwei Lizenzen an vornehmlich mittel- ständische Bewerber zu vergeben, die im Wettbewerb um Kunden kämpfen sollen. Die Autoren der Studie befürchten, die bisherigen Netzinhaber einschließ- lich der Telekom würden die Möglich- keiten der Dect-Technik nicht aus- schöpfen, um sich nicht selbst Konkur- renz zu machen. Gegen diesen Vorwurf wehren sich Konzerne wie RWE und Veba natür- lich: Sie wollen sich das lukrative Ge- schäft nicht entgehen lassen. Das gilt für die Telekom genauso. „Pervers und schizophren“ nennt es Jürgen Kindervater, der Sprecher der Telekom, wenn das privatisierte Bun- desunternehmen per Ministerdekret aus dem Geschäft vorläufig verbannt wür- de. Kindervater: „Als ob jemandem das Bein amputiert würde, bevor er ins Olympia-Finale geschickt wird.“ Y

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von mehr als zehn Prozent oder mit ei- Bilanzen nem Börsenwert von mehr als 100Millio- nen Mark offenlegen. Im Februar dieses Jahres obsiegte der streitbare Hochschul- lehrer in einem ähnlichen Verfahren ge- Dicke Polster gen die Münchener Rückversicherung. Auf eine Mauer des Schweigens stößt Verstecken deutsche Unternehmen Wenger immer dann, wenn er das Ge- zuviel Geld vor ihren Aktionären? heimnis um die stillen Reserven eines Unternehmens lüften will. Solche heimli- Das Verfassungsgericht soll Klarheit chen Rücklagen gibt es beispielsweise schaffen. dann, wenn der aktuelle Wert von Immo- bilien weit über den in der Bilanz aufge- führten Kauf- oder Baukosten liegt. er Wissensdurst von Ekkehard Oft betragen die Anschaffungskosten, Wenger, 43, ist schwer zu stillen. die vor Jahrzehnten bezahlt wurden, we- DSchon als Student genügte ihm die niger als ein Zehntel des aktuellen Betriebswirtschaftslehre nicht, darum Grundstückswerts. Beim Versicherungs- machte er nebenher noch ein Diplom in riesen Allianz sind nach Bankenschät- Physik. zungen allein die stillen Reserven aus Heute ist Wenger Professor für Bank- dem Immobilienbesitz höher als das ge- und Kreditwirtschaft an der Universität samte in der Bilanz ausgewiesene Eigen- Würzburg und dazu noch Teilhaber von kapital der Gesellschaft. R. UNKEL Konzernkritiker Wenger: Stille Reserven als Quelle der Mißwirtschaft

30 deutschen Aktiengesellschaften. Auf Bislang dürfen die Aktionäre deut- deren Hauptversammlungen verlangt er scher Gesellschaften nicht wissen, was von den Vorständen auf dem Podium ihnen wirklich gehört. Das Aktiengesetz stets präzise Antworten auf eine Viel- erlaubt es den Vorständen, Auskünfte zahl von Fragen. über den „Unterschied zwischen dem Die Auskünfte, die der Kleinaktionär Wert, mit dem Gegenstände in der Jah- mit der großen Sachkunde bei diesen resbilanz angesetzt worden sind, und ei- Gelegenheiten bekommt, befriedigen nem höheren Wert dieser Gegenstände“ ihn meist nicht. Deutsche Konzernbosse zu verweigern. lassen sich nicht gern in die Karten Für Wenger ist diese Klausel ein zen- schauen. traler Baustein im „Kontrollverhinde- So verweigerte der Siemens-Vorstand rungskalkül der Konzernkader“ – und dem Professor die Antwort auf die Fra- mit der Eigentumsgarantie des Grund- ge, welche Beteiligungen der Elektro- gesetzes nicht vereinbar. Deshalb hat er konzern an anderen Unternehmen hal- das Bundesverfassungsgericht angeru- te. Wenger klagte und gewann. Nach ei- fen. nem Urteil des Berliner Kammergerich- Das Gericht hat Bundestag, Bundes- tes mußte Siemens 1993 Aktienpakete rat und das Justizministerium gebeten,

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bis zum 1. Juni 1995 zu dem Antrag des Würzburger Pro- fessors Stellung zu nehmen. Über dessen Erfolg ist damit zwar noch nichts gesagt, aber er wurde jedenfalls nicht als unbegründet abgewiesen. Wenger hält stille Reser- ven für „eine Quelle der Miß- wirtschaft“. Ein Vorstand, der auf einem dicken Polster solcher Rücklagen sitze, meint der Professor, könne diese heimlich auflösen und damit die Aktionäre über Jahre hinweg über die wahre Situation des Unternehmens täuschen. „Hohe stille Reserven“, argumentiert er, „verführen Vorstände zu Sorglosigkeit und ermöglichen ein unkon- trolliertes Investitionsverhal- ten, das nicht im Interesse der Aktionäre und der Ge- samtwirtschaft liegt.“ Mit seiner Kritik steht Wenger nicht allein. Das deutsche Aktienrecht, meint auch der Frankfurter Wirt- schaftswissenschaftler Wolf-

ram Engels, diene nicht den J. CHRISTENSEN / GAMMA / STUDIO X Interessen der Anleger, son- Daimler-Aktieneinführung in New York* dern stehe unter dem „Prin- „Wahrer und teurer Einblick“ zip des Managerschutzes“. Deren Macht liege „wie ein Mehltau“ der Daimler-Benz-Aktie an der New auf der heimischen Wirtschaft. Yorker Börse 1993. Um dort zugelassen Weil die Unternehmensverwalter zu werden, mußte der Stuttgarter Kon- Gewinne nicht ausschütten, sondern zern ein Rechenwerk nach US-Regeln einbehalten, machen sie sich nach En- vorlegen. Da war das Eigenkapital gels’ Meinung von der Kontrolle des plötzlich um acht Milliarden Mark hö- Kapitalmarkts unabhängig. Der Aktio- her. när könne wegen der Verschleierungs- Die Macht von Aktionären in der US- kunst der Bilanzbuchhalter nicht über- Ökonomie demonstriert derzeit der In- prüfen, ob das Management gut gewirt- vestor Kirk Kerkorian (SPIEGEL schaftet hat. 17/1995). Sein Übernahmeangebot für Ein Vorstand ist aber für Engels nur den Autokonzern Chrysler hat in den dann sein Geld wert, wenn der Börsen- USA zu einer heftigen Diskussion dar- wert des Unternehmens über dem mit über geführt, wieviel Geld ein Unter- Anlegergeld geschaffenen Substanzwert nehmen für sich behalten darf. liegt. Könnte dieser Vergleich künftig Das Barvermögen von 7,3 Milliarden angestellt werden, so vermutet der Pro- Dollar, das Chrysler in der Kasse hat, ist fessor, stieße man „auf eine Vermö- nach Ansicht des Großaktionärs, der gensvernichtung, die etwa der des Krie- zehn Prozent des Konzerns besitzt, zu ges in Kroatien entspricht“. hoch. Vorbildlich erscheinen liberalen Kerkorian will das Management zwin- Ökonomen wie Wenger und Engels da gen, mehr Geld an die Aktionäre auszu- die Verhältnisse in den Vereinigten schütten – in Form von höheren Divi- Staaten. Während in Deutschland allzu denden und durch den Kauf eigener Ak- vorsichtig bilanziert wird, bieten US- tien, der den Börsenkurs in die Höhe Bilanzen den Aktionären einen wahren triebe. Mit seiner Milliardenofferte, de- und fairen Einblick („true and fair ren Erfolg noch ungewiß ist, hat der ge- view“) in die finanzielle Situation einer rissene Investor die Chrysler-Oberen Gesellschaft. nun massiv unter Druck gesetzt. Und Nie wurden die Unterschiede der Sy- das war möglicherweise auch sein einzi- steme deutlicher als bei der Einführung ges Ziel. Der Würzburger Professor verfolgt * Am 5. Oktober 1993 mit Richard Grasso, Direk- den Kampf mit viel Sympathie. „So tor der New Yorker Börse, Daimler-Chef Edzard Reuter, Börsenvorstand William Donaldson und was“, sagt Wenger, „täte den deutschen Daimler-Finanzvorstand Gerhard Liener. Konzernfürsten auch mal gut.“ Y

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Werbeseite . G. KLUSSMEIER Jugend- und Abenteuerschriftsteller May (1896)*: Am liebsten hätte er auch noch den eigenen Tod vorgetäuscht WEITER WEG ZU WINNETOU Rudolf Augstein über den nach Radebeul zurückgekehrten Schriftsteller Karl May

Wahrhaft große Männer pflegen nicht eher zu „Villa Bärenfett“, das Blockhaus im Gar- hinzu. Wer liest das alles? Das weiß sterben, als bis sie wenigstens innerlich das ten Karl Mays, ist auch zu besichti- man nicht, verkauft ist verkauft. erreicht haben, was sie erreichen wollten oder sollten. gen**. In Winnetous Geburtsland, in den Karl May, 1910 Als „großer Sachse“ wurde Karl May USA, ist Karl May so gut wie unbe- (1842 bis 1912) gerade in der Welt gefei- kannt. Man begnügt sich in Angelsa- er Bundespräsident Roman Her- ert, der noch größere hatte wohl keine xien damit, ihn noch heute als „Hit- zog bedachte am Rande der Ber- Zeit, darum bat er den Untersachsen ler’s favorite author“ abzuheften. Dliner Filmfestspiele die ihm ge- Wolfgang Mischnick zur Eröffnungsfeier Wenn er vieles war, das war er nun stellte spontane Frage, welche Rolle er in die May-Villa. wieder nicht. Hitler, dem ebenso wie denn am liebsten gespielt hätte, mit Was die Auflage der Karl-May-Bücher Ernst Jünger eine gewisse Geistesver- der spontanen Antwort: „Winnetou“. angeht, so hält der Jugend- und Abenteu- wandtschaft mit Karl May zugeschrie- Pierre Brice muß sich nicht sorgen, der erschriftsteller jeden deutschen Rekord. ben worden ist, hat aber mehr als nur Bundespräsident kann ja nicht rei- 80 bis 100 Millionen Exemplare wurden dessen Namen gekannt. Der Schrift- ten. in 28 Sprachen verkauft, jedes Jahr kom- steller Oskar Robert Achenbach mach- Der Schöpfer des roten Kriegers ist men, wie man hört, neue Übersetzungen te die „Vorliebe“ Hitlers für Karl May im Geiste und mit Sack und Pack von 1933 nach einem Besuch auf dem Bamberg in seine Heimat Radebeul * Als „Old Shatterhand“ im Phantasiekostüm mit Obersalzberg öffentlich: zurückgekehrt, zu Bärentöter und Sil- Winnetous Silberbüchse. berbüchse; auch den Henrystutzen ** Ich wußte, nachdem ich 1945 mit zugehalte- Auf einem Bücherbord stehen politi- nicht zu vergessen. Die wiederherge- ner Nase durch das zerbombte Dresden gestol- sche oder staatswissenschaftliche pert war, nichts Besseres zu tun, als zu Fuß nach richtete „Villa Shatterhand“ ist jüngst Radebeul zu pilgern – neun Kilometer ganz verge- Werke, einige Broschüren und Bücher als Museum neu eröffnet worden, die bens, das Museum war natürlich geschlossen. über die Pflege und Zucht des Schä-

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TITEL KINOARCHIV ENGELMEIER Karl-May-Film „Winnetou III“ (1965)*: Retter in allen Nöten

ferhundes und dann, deutsche Jungen, Schriftstellers Tod, ganz simpel: „Und Karl May war in Wirklichkeit, als er hört her! Dann kommt eine ganze Reihe ich halte Herrn May für einen Dich- seine berühmten Romane schrieb, dort Bände von – Karl May! Der Winnetou, ter.“ Auch Georg Heym, der Anfang nie gewesen, wo er stets behauptete ge- Old Surehand, der Schut, alles liebe al- 1912 beim Schlittschuhlaufen ertrank, wesen zu sein. Er war bis 1908 nicht in te Bekannte! rühmte den „Dichter Karl May und Amerika, bis 1899 niemals im Vorderen dessen großartige Phantasie“. Berthold Orient. Seinem größten Leserpublikum, Der „Führer“ hatte sich schon im Jah- Viertel ist im gleichen Jahr etwas vor- uns Kindern, war das natürlich egal, so- re 1932 mit Harald Quandt, dem 11jäh- sichtiger: „Auf seine Leser wirkt May lange seine Geschichten sogar in der rigen Stiefsohn von Goebbels, sachver- zweifellos als Dichter, der er irgendwie Schule vorgelesen wurden. Auf briefli- ständig über die Jugend- und Abenteu- auch ist.“ che Anfragen erwiderte er stets, daß er erromane Karl Mays unter- 40 Fremdsprachen beherr- halten. Noch im Jahre 1943 sche, die zahllosen Dialekte ließ er trotz aller Papier- nicht eingerechnet. knappheit auf Anregung Der Tierkunde-Professor ebendieses Harald Quandt Gustav Jäger in Stuttgart er- 300 000 Exemplare der Win- fuhr, May habe alle Länder, netou-Bände neu auflegen. die er beschrieben hat, tat- Wer war Karl May? Ein sächlich selbst besucht, und „Koloß von Würstchen“, so er beherrsche die Sprachen der Goethe-Preisträger Ar- der geschilderten Völker. no Schmidt 1963. Der sagte Hadschi Halef Omar, Win- nie etwas ganz Unrichtiges. netou, Old Firehand und al- Aber stimmt es? Der ve- le anderen seien reale Perso- ritable Landgerichtsdirektor nen. Theodor Ehrecke in Berlin- Am 26. März 1899 bricht Moabit, der einem der zahl- der inzwischen etablierte reichen von Karl May ange- Schriftsteller Karl May aller- strengten Prozesse vorsaß, dings endlich zu einer gigan-

erklärte 1911, kurz vor des K.U.K. tischen Orientreise auf. 50 000 Mark stehen ihm

* Mit Pierre Brice als Winnetou und K. LAUX / zur Verfügung. Er wird Lex Barker als Old Shatterhand. Karl-May-Museum in Radebeul: Exotische Requisiten 16 Monate wegbleiben. Am

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TITEL

9. April betritt er zum erstenmal außer- europäischen Boden, in Port Said. Er schippert durchs Rote Meer und wähnt seinen „früheren Karl“ im Gewande Old Shatterhands „mit großer Ceremo- nie“ in den dortigen Wogen tief einge- senkt. Er ist von sich selbst so ergriffen, daß er weinen muß, vielleicht weinte er auch deshalb, weil seine beiden Lebens- frauen noch nicht bei ihm waren. Auch Stambul und die Hagia Sophia wird er besuchen. Halbherzig hatte er seinem Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld in Freiburg (der die noch heute schönen grünen Einbände mit Goldornamenten ge- druckt hat) vorgelogen, er wolle Ha- dschi Halef Omar besuchen und über China zu seinen Apachen reisen. Aber während dieser Reise wird Karl May wohl klar, daß er so nicht weitermachen kann. Er hegt und läßt sie später druk- ken, die „Himmelsgedanken“ – mit mä- ßigem Erfolg. Bei seinem Besuch in Athen im Juli 1900 bekennt er, der einst das Lehrerse- minar besuchte, angesichts der Kunst-

schätze etwas kleinlaut, künstlerisch sei ULLSTEIN er zuwenig gebildet. „Goethe würde Hitler, Hitlerjungen (1945), May-Werbeplakat der dreißiger Jahre: Dienstanweisung ganz anders sehen, denken und empfin- den als ich. Das ist nun leider hier im In Venedig besucht der Dichter das Am liebsten hätte er seinen eigenen Leben nicht mehr nachzuholen.“ Sterbezimmer Richard Wagners: „Ich Tod („Sieg, großer Sieg – Rosen, Der James-Joyce-Übersetzer Hans stand auf der Stelle, wo er starb. Tiefbe- rosenrot“) wohl auch noch vorge- Wollschläger, Karl Mays bedeutendster wegt. Künstlerwallen.“ täuscht. Minnesänger, schrieb vor 20 Jahren Nun, Goethe ist nie in Athen gewe- Also war Karl May ein gemeiner über diese kleine Begebenheit, hier sei sen, und im Sterbezimmer Richard Hochstapler? Eben nicht. Seine vielen der Reisende „um Grade zu beschei- Wagners hat er natürlich auch nie ge- Leser vertrauten ihm ja: Wenn ihn Ha- den“ gewesen. standen. dschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Mays Dichterkolle- Abbas Ibn Hadschi Dawud al Gossa- ge Goethe entstammte rah nicht in der großen Salzwüste einer wohlsituierten Nordafrikas begleitet hat, dann eben Frankfurter Patrizierfa- irgendwo anders. milie. Ganz anders Winnetou konnte sich die Freiheit Karl May, der aller- nehmen, ihn in Radebeul heimzusu- dings sicherlich höhere chen. Von ihrem geistigen Vater schie- Auflagen als Goethe nen im übrigen beide Figuren dazu be- erzielte und der sicher- stimmt, gute Christen zu werden. Win- lich mehr Silben ge- netou wird es sogar zu einer Art schrieben hat als jener. „Erlöser der Roten“ bringen. Karl May war armer Seine Indianer hat May aber nie Leute Sohn, als fünftes kennengelernt. Zwar teilte er 1907 sei- von 14 Weberkindern nem Verleger mit, er müsse nun in geboren in Ernstthal sein „Land der Indianer“ reisen. Aber am Rande des säch- kam er dort an? Nicht ganz. sischen Erzgebirges, Zusammen mit seiner zweiten Ehe- „schwere Kindheit“ in- frau Klara – von der ersten, Emma begriffen. Er wird zeit Pollmer, kam er trotz Scheidung nie- seines Lebens schwin- mals los – schiffte er sich am 5. Sep- deln, lügen, vortäu- tember 1908 in Bremen ein. Der Pas- schen, insgesamt acht sagierdampfer „Großer Kurfürst“ Jahre wegen recht min- brauchte elf Tage bis New York. derer Delikte im Ge- Er sieht die Niagarafälle – und wird fängnis verbringen und sie in „Winnetou Band IV“ beschrei- sich, schon ein gemach- ben. Laut Klara (1931) soll er allein zu ter Mann, falscher den Apachen gereist sein und den Yel- Doktortitel bedienen. lowstone-Park besucht haben. Dies wä- re einem gesunden Mann sicher mög- * Mit Ehefrau Emma (vorn) KARL-MAY-GESELLSCHAFT lich gewesen. Der schon recht klappri- und späterer Ehefrau Klara, Orientreisender May (1900) in Ägypten* Karl Mays Diener Sejd Has- ge Dichter aber dürfte das in so kurzer Über China zu den Apachen san (r.). Zeit nicht geschafft haben.

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nicht schlafen und kaum Karl May starb am 30. März 1912 an ei- mehr essen: nem Herzschlag. Dafür aber Schmerzen, un- Aber auch eine Frau setzte sich für den aufhörliche, fürchterliche nun so geehrten Dichter ein. Auch sie Nervenschmerzen, die des hörte ihm in Wien zu, die Trägerin des Nachts mich emporzerren Friedensnobelpreises von 1905, Baronin und am Tage mir die Feder Bertha von Suttner, die Tochter desFeld- hundertmal aus der Hand marschall-Leutnants Graf Kinsky, 1843 reißen! Mir ist, als müsse in Prag geboren. Berühmt geworden war ich ohne Unterlaß brüllen, sie mit dem 1889 erschienenen Roman um Hilfe schreien. Ich kann „Die Waffen nieder!“ (Den Ausbruch nicht liegen, nicht sitzen, des Ersten Weltkriegs hat sie nicht nicht gehen und nicht ste- mehr erlebt.) Und siehe da, der Be- hen, und doch muß ich das griff des „Edelmenschen“ findet sich alles. Ich möchte am lieb- schon bei ihr. May dürfte ihn von Frau sten sterben, sterben, ster- von Suttner unmittelbar übernommen ben, und doch will ich das haben. nicht und darf ich das nicht, In dem Wiener Blatt Die Zeit schrieb weil meine Zeit noch nicht sie ihm zum Gedenken nach seinem zu Ende ist. Ich muß meine Tod: „In dieser Seele lodert das Feuer Aufgabe lösen. der Güte.“ Mag ja sein, daß ihr „Her- zensgruß nach dem Jenseits“ den Welche Aufgabe mußte der alternde Dichter lösen? Was hatte er im Sinn? Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß es wiederum

BPK seine „Himmelsgedanken“ für den Volkssturm sind, die er meint, also wohl von ihm zu lösende Probleme Indianer? Er sah deren Nachkom- philosophischer und theologischer Na- men. Knapp 400 Abkömmlinge der Iro- tur. Die Gänsefüßchen wollen wir hier kesen hausten in armseligen Rundzel- erst einmal weglassen. ten in einem Reservat nahe der Niaga- Zunächst sei von Karl Mays eupho- rafälle. Frau Klara fotografierte den risch-triumphalem Ende die Rede. „Häuptling“ und verschickte Postkarten Die von ihm und gegen ihn ange- en masse in die Heimat. strengten Prozesse erstickten in sich Während dieser Reise hielt Karl selbst, auch seine Feinde verloren die May in der überfüllten Turnhalle Lust, sich mit ihm anzulegen. von Lawrence (Massachusetts) vor Der heute weiter nicht mehr bekann- Deutschamerikanern einen Vortrag. te Romancier Robert Müller, der sonst Wilhelminisches war von ihm dabei Werke von Frank Wedekind, Arnold nicht zu hören. „Unsummen von Geld Schönberg und Alban Berg zu popula- und Blut“ habe deutsche Herrschsucht risieren pflegte, brachte es im Frühjahr bereits verschwendet, kritisierte der des Jahres 1912 zuwege, den bereits Sachse May seine Regierung. Gerade populären Karl May nach Wien einzu- die Deutschamerikaner, so appellierte laden, um ihn gegen die Verfolgungen er, sollten an der Spitze stehen, um ei- seitens der „bürgerlichen Gesellschaft“ nen humanen Staat zu schaffen. zu schützen. Zu Müllers Verband ge-

Da zeigte sich Karl Mays politische hörte als faszinierter Karl-May-Leser ULLSTEIN Gesinnung, vielleicht sogar die man- auch der Lyriker Georg Trakl. May-Wunderwaffen* cher seiner Zuhörer. Tatsächlich stand May nahm die Einladung an. Am Vorläufer für V-1 und V-2 er gegen Rassismus, Kolonialismus, Im- 22. März 1912, wenige Tage bevor er perialismus, war auf seine verschwöre- starb, hielt er im Wiener Sophiensaal nunmehr waffenlosen Karl May erreicht rische Art Pazifist, gelegentlich auch vor 2000 bis 3000 Zuhörern einen Vor- hat. projüdisch. trag unter dem heute seltsam anmuten- In der Zukunft sollte Karl May noch Im Dezember heimgekehrt, plumpste den Titel „Empor ins Reich des Edel- eine merkwürdige Metamorphose erfah- May sogleich wieder in die bei ihm übli- menschen“. Robert Müller hatte durch ren. Denn kaum hatte Adolf Hitler 1933 che Prozeßlawine. Dabei hatte er seit eine Umfrage für positive Stimmung sein Drittes Reich etabliert, da wandten fast 40 Jahren keine Straftaten mehr gesorgt. Heinrich Mann, der Mays Er- sich auch schon jene Schriftsteller, die begangen. Bärentöter, Silberbüchse zählungen schätzte, hielt ihn nun „erst Karl May früher als Dichter eingestuft und Henrystutzen, alle eigens für ihn in recht“ für einen Dichter. Albert Eh- und wertgeschätzt hatten, gegen ihn. Dresden angefertigt, waren in den Gar- renstein, der Expressionist und Kultur- Plötzlich galt ausgerechnet dieser fried- tenschuppen verbannt worden. In Trap- kritiker, wünschte sich einen Cervantes liebende Phantast als Wegbereiter der perkleidung mochte er sich auch nicht für „diesen ehrwürdigen Don Qui- braunen Massen, ausgerechnet jener Pa- mehr ablichten lassen. Seine Renom- xote“. Erich Mühsam, 1934 von den zifist, der noch in seinem letzten Wiener miersucht aber, auch wenn er sie noch Nazis ermordeter Lyriker und Drama- Vortrag die Kinder Israels gerühmt hat- so sehr bekämpfte, blieb. tiker, billigte May „das Prädikat eines te, wurde nun mit den Wahnsinnstaten Der 68jährige Karl May war körper- Dichters“ ohne Einschränkung zu. Da- lich ein gebrechlicher Greis. Er konnte mit kam er um wenige Tage zu spät, * Bärentöter, Silberbüchse, Henrystutzen.

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TITEL Silberbüchse und Indianerskalp Wie das Karl-May-Museum im sächsischen Radebeul die DDR überstand

ndächtig lugen Besucher in die Bi- bliothek, die von mildem, durch Aviolette Jugendstilvorhänge gefil- tertem Licht beschienen wird. Auf dem Diwan liegt ein braunes Bärenfell, da- neben steht ein arabischer Kaffeetisch mit aufgeschlagenem Koran. Den gro- ßen Holztisch bedeckt eine Landkarte von Nordamerika. Bücherregale, ange- füllt mit Lexika und Atlanten, verdek- ken die Wände. Rund 125 000alte und junge Fans pil- gern Jahr für Jahr durch die Villa Shat- terhand in Radebeul bei Dresden. Hier war Karl May 1896, damals schon hoch- berühmt, eingezogen, hier verfaßte der Abenteuerschriftsteller sein pazifisti- sches Spätwerk. Seit Ende März sind drei in den ur- sprünglichen Zustand zurückverwan-

delte Räume, neben der Bibliothek das K.U.K. Empfangs- und das Arbeitszimmer,

wieder zu besichtigen. Im Erdgeschoß K. LAUX / bestaunen Besucher May-Utensilien Freizeitindianer in Radebeul: Schrumpfköpfe und Menschenohren im Magazin wie Winnetous berühmte Silberbüchse, kaufen am Souvenirshop Videos, Kas- densverhandlungen in der vergange- Die Ost-Stiftler kümmerten sich der- setten und Bücher. nen Woche, eine ganze Horde renom- weil, ziemlich lustlos, um die Villa Bä- Auf dem Schreibtisch im Arbeitszim- mierter Anwälte in Marsch gesetzt. renfett im Garten von Karl May. Das mer des 1912 verblichenen Hausherrn Der Verleger fürchtet ums eigene Ge- 1926 im Stil eines Wildwestblockhauses liegt hinter Briefwaage und Tintenfaß schäft. errichtete Gebäude, nach Mays Erzäh- ein Faksimile des Manuskripts von Schmid pocht auf Vereinbarungen, lung „Der Ölprinz“ Villa Bärenfett ge- „Merhameh“, Mays letzter Novelle, die er mit der damaligen realsozialisti- nannt, beherbergt seit 1928 ein India- darauf seine Drahtbrille. „Es sei Frie- schen Leitung der Radebeuler Stiftung nermuseum. In das Haupthaus, die Vil- de!“ sind die letzten Worte des Textes. getroffen hat. Im Arbeiter-und-Bau- la Shatterhand, zog ein Kinderhort ein. Doch davon ist die May-Gemeinde ern-Staat war Hitlers „Lieblingsschrift- Jeder Hinweis auf May selbst wurde derzeit weit entfernt. Sie streitet um steller“ lange unerwünscht. Die Rade- sorgsam vermieden. Geld. beuler Karl-May-Straße wurde unmit- Ihrem Helden konnten May-Jünger Schuld ist die deutsche Einheit. Die telbar nach dem Krieg umbenannt in deshalb lange Zeit nur auf dem zehn Möbel der drei original erhaltenen Hölderlinstraße. „Das Kapitel Karl Gehminuten entfernten Radebeuler Räume hatte Karl-May-Verleger Lo- May“, verkündete das ostdeutsche Ostfriedhof huldigen, wo der Meister in thar Schmid 1960 ins westdeutsche Exil Börsenblatt 1958, „ist in der DDR einem Nike-Tempelchen mit Milchglas- nach Bamberg geholt. Für die Rückga- schon vor Jahren endgültig abgeschlos- dach begraben liegt. be verlangt Schmid, 66, von der Besit- sen worden.“ Erst Anfang der achtziger Jahre ent- zerin des Museums, der Karl-May-Stif- Zwei Jahre später verlegte Schmid, deckten die SED-Agitatoren den Klas- tung, notariell vereinbarte 3,5 Millio- ein gelernter Jurist und Schachgroß- senkämpfer Karl May. Der Proletarier- nen Mark als Entgelt. Doch die Stiftung meister, der sich später als Haupt- sohn aus dem sächsischen Ernstthal, will nur die halbe Summe bezahlen, schiedsrichter bei Schachweltmeister- lautete plötzlich die offizielle Lesart, sei weil Möbel beschädigt in Radebeul an- schaften einen Namen machte, den ein aufrechter „Kämpfer gegen die US- gekommen seien und angeblich Bücher Karl-May-Verlag von Radebeul nach amerikanische Raub- und Ausrottungs- fehlen. Bamberg und machte mit den SED- politik“ gewesen. Weihnachten 1982 Seither sind die Bamberger und Ra- Verwaltern einen Deal: Für die Über- strahlte das DDR-Fernsehen sogar erst- debeuler May-Erben auf dem Kriegs- lassung aller Rechte an May und seinen mals die westdeutschen „Winnetou“- pfad. Der Stiftungsvorsitzende, Hans- Werken sowie des Mobiliars aus der Filme aus, mit Pierre Brice als Winne- Joachim Kühn, 48, ein Marketingun- Villa Shatterhand erhielten die Realso- tou und Lex Barker als Old Shatter- ternehmer aus München, will künftig zialisten mehrere Grundstücke und hand. von der Villa Shatterhand aus auch das Häuser in Pirna, Radebeul und Dres- Radebeul bekam 1985 seine Karl- literarische Werk des Dichters verle- den. Im kurz darauf einsetzenden Karl- May-Straße zurück, die Villa Shatter- gen. Schmid („Das ist illegal“) hat nun, May-Boom erwies sich der Verlag bald hand wurde Karl-May-Museum. Auch unabhängig vom Ausgang der Frie- als Goldgrube (siehe Kasten Seite 140). lesen durften DDR-Bürger den Dichter

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der Nationalsozialisten dikat zuerkannte, Her- in Verbindung ge- warth Walden, Bertolt wieder: 1982 brachte der volkseigene bracht. Brecht, der ihm in Verlag Neues Leben einen, seit 1983 Eine Massenneurose Augsburg zuhörte, Jo- sogar zwei May-Bände pro Jahr her- schien die emigrierten hannes R. Becher und aus. Die Auflage von je 250 000 war deutschen Schriftstel- Erich Kästner. Daran meist innerhalb eines Tages vergriffen. ler ergriffen zu haben. nicht beteiligt waren Das Geburtshaus des Schriftstellers Sie, die das Herauf- Hermann Bahr, Albert in Hohenstein-Ernstthal bei Chemnitz kommen Hitlers nicht Ehrenstein, Berthold wurde ebenfalls zur Gedenkstätte er- hatten verhindern kön- Viertel, erst recht hoben. Das Städtchen, neuerdings of- nen oder wollen, reich- nicht Carl Zuckmayer, fiziell „Karl-May-Geburtsstadt“, ver- ten die Schuld in die auch Hermann Hesse fügt heute über 22 verbürgte May- graue Vorzeit an einen und Leonhard Frank Stätten, von der Büste bis zur Taufkir- Mann zurück, dem etli- nicht. Hermann Broch che. ches Deutsche, aber weigerte sich beharr- Von Hohenstein-Ernstthal aus kön- gar nichts Imperiales lich, den toten May nen Fans zur Karl-May-Höhle wan- und Nationalistisches mit Nazi-Deutschland dern, einem Erzstollen nahe der Ge- zu eigen war. In den in Verbindung zu brin- meinde Kuhschnappel, in dem der Worten Klaus Manns, gen, Bloch notierte: Hochstapler und Betrüger May sich 28 Jahre nach des „Old Shatterhand trägt

1869 vor der Polizei versteckt gehalten Schriftstellers Tod, ULLSTEIN einen sehr deutschen hatte. hörten sich die Vorwür- Bertha von Suttner Bart, und seine Faust Nur die Bibliothek der Villa Shat- fe so an: schmettert imperiali- terhand blieb bis zum Ende des SED- stisch herab.“ Heinrich Mann erblickte Das Dritte Reich ist Karl Mays endgülti- Regimes zweckentfremdet: Sie diente plötzlich in den Schriften Karl Mays nur ger Triumph, die schreckliche Verwirkli- der Stasi als konspirative Wohnung. noch Kennzeichen von Banausentum. chung seiner Träume, die sich – nach al- Der Stasi-Treff wurde im Herbst Der Journalist und Schriftsteller Leo len ethischen und ästhetischen Krite- 1989 aufgegeben. Ansonsten aber ging Lania schloß 1936 in Analogie: „Man rien – in nichts von dem unterscheiden, an dem Radebeuler Anwesen die weiß eben nie, was dem ersten Schritt was der mit Old Shatterhand aufge- deutsche Einheit fast spurlos vorüber. folgt, welch ein Küken aus dem Ei wachsene österreichische Anstreicher Rene´ Wagner, 45, seit acht Jahren kriecht.“ Es sollte wohl so scheinen, als jetzt versucht, um die Welt neu zu ord- Museumsdirektor, ist stolz auf die sei aus dem Ei Karl May das Küken nen. Kontinuität seines Hauses: „Wir muß- Adolf Hitler gekrochen. ten nur sehr wenig aus ideologischen Rekurrierte der Sohn Thomas Manns Soweit man sehen kann, haben aktiv Gründen ändern.“ auf Old Shatterhand, so nahm sich der nur Bernhard Menne und Egon Erwin Tatsächlich wirkt die Indianeraus- jüdische Autor Friedrich Sally Großhut Kisch, der ihn besuchte, für May Stel- stellung in der Villa Bärenfett wie aus der Rothaut Winnetou an: „Ja, der Vor- lung bezogen. den fünfziger Jahren. Damals wander- läuferprophet kann sich heute würdig be- Johannes R. Becher, der spätere ten abgeschnittene Menschenohren stätigt finden . . .“ Unter der redaktio- Kulturminister der DDR, verbat sich und ein Schrumpfkopf aus Pietäts- nellen Ägide Arnold Zweigs erschien ein 1943 jegliche Rehabilitierungsversuche, gründen ins Magazin. Heute hängen böser Angriff aus seiner Feder: SA, SS schon ein besseres Deutschland im noch immer Indianerskalpe zwischen und Gestapo seien Spielarten der Apa- Blick. Schließlich, diese verlogene Räu- einem Zauberbeutel aus Skunkhaut chen und Sioux Mayscher Prägung. berromantik sei Hitlers „Lieblingslektü- und Hermelinfellen. Zwei Dutzend Schriftsteller und die re“. Heinrich Mann setzt einen drauf: Im rustikalen Vortragssaal dudelt „I meisten namhaften Exilzeitschriften be- „Pachulke als Führer kann neben sei- was born under a wandering star“ aus teiligten sich an dieser Leichenfledderei. nem Bett unmöglich andere Bücher ha- dem Lautsprecher neben einem gewal- Mit von der Partie waren Ernst Bloch, ben als die von Karl May.“ tigen Elchgeweih. In der Ecke steht der May 1929 noch gerühmt hatte, Hein- Es hat binnen 50 Jahren wohl nur ein ausgestopfter Bär. Hier trifft sich rich Mann, der ihm 1912 das Dichterprä- zwei deutsche Staatsoberhäupter gege- jeden ersten Freitag im Monat der er- ste Country- und Westernclub Rade- beul. Auch Indianervereine, von de- nen es in Sachsen Dutzende gibt, ver- sammeln sich gern unter den Skalpen – etwa die Stammesbrüder von Häupt- ling Rainer „Big Hand“ Gebhardt aus dem benachbarten Weinböhla, der vor allem „das Umweltbewußtsein der In- dianer“ für beispielhaft hält. Im Haupthaus hatte Wagner etwas mehr Wendearbeit: 1992 wurden die Begleittexte der Ausstellung gekürzt und von realsozialistischen Einspreng- seln gereinigt. Von sächsischer „Klassenjustiz“ und „imperialistischen Großmachtbestre- bungen“ der USA ist seither in Rade- beul nicht mehr die Rede. SÜDD. VERLAG S. MOSES Autoren Bloch (1965), Klaus Mann (1936): An der Leichenfledderei beteiligt

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Jugendschriftsteller wie Karl May, die Nazis hat- ten jedenfalls keinen. Nun muß man sich fra- gen, warum wohl die Vielzahl unter seinen er- wachsenen Anhängern (von Bergengruen bis Einstein, von Kissinger bis Liebknecht, von Heuss bis zu Kardinal Frings) nicht bemerkt ha- ben sollte, welch gefährli- chem Scharlatan man hier aufgesessen war. Nie- mand wird ernsthaft be- haupten können, Hitler hätte seinen Krieg ohne Karl May gar nicht oder zumindest anders ge- führt. Und doch, in einem tie- feren Bereich wurzeln möglicherweise Gemein- samkeiten. Legt man die

KLUSSMEIER Deutung des Psychoana- lytikers Erich Fromm zu-

FOTOS: G. grunde, dann figuriert Geburtshaus in Ernstthal, Jungredakteur May (1875): Mehr Silben geschrieben als Goethe Hitler „im Zentrum einer von May geförderten Wirklichkeitsverleugnung zugunsten von Atavismus, Irrationalismus und ro- mantischer Alltagsüberhöhung“. Da mag etwas dran sein. Aber Fromm selbst sagt auch, es gebe hierfür nicht genügend überzeugende Belege. Sicher ist: Hitler und Karl May waren beide außergewöhnlich narzißtisch in- trovertierte Menschen. Ihre Phantasie- welt war für sie realer als die Realität selbst. Schuld an Karl Mays Innenwelt könnte ja demzufolge in Umkehrung der Beweislast auch Adolf Hitler gewe- sen sein. Um Hitler auf den Boden der Realitä- ten zurückzubringen, hat es der An-

KARL-MAY-GESELLSCHAFT strengungen der ganzen Welt bedurft. Katholische Gefängniskirche in Waldheim: Als Lutheraner die Orgel gespielt Karl May hingegen begegnete seiner Realität, indem er sie aufsuchte. Er rei- ben, die Winnetou zu ihrem Lieblings- Hitler wußte Dilettanten, wie er ste. Seine Exkursionen plante er nach helden erkoren – Roman Herzog, wir selbst einer war, immer zu schätzen. Er dem Baedeker. „Aus der bloßen Begeg- wissen es schon, und Adolf Hitler, der mochte Leute, die sich durchbeißen nung mit der Realität“, so Hans Woll- dem „Edelmenschen“ und dessen Erfin- mußten, so wie auch er sich hatte durch- schläger, hat May „das Fürchten ge- der fast bis in den Bunker hinein die beißen müssen. lernt“. Treue hielt. Treu war er, das wissen wir, Es hätte allerdings keines Old Shat- Zwar gab er sich als Weltenbummler er, der Gefreite mit dem EK 1, hielt terhand bedurft, um in Hitler den Ge- Kara Ben Nemsi, schrieb Serien von auch über den „Pour le me´rite“-Träger danken wachzurufen, er müsse das Ju- Postkarten und ließ sich fotografieren, Ernst Jünger seine Hand. dentum auslöschen und im Osten ein aber hinter der zur Schau gestellten Fas- Winnetou, so Hitler vor und nach der germanisches Großreich der Sklaven- sade des plötzlich Gealterten verbarg Machtergreifung, sei für ihn seit je das halter gründen. sich sein völliger Zusammenbruch. Das Vorbild eines edlen Menschen. Es sei Es klingt wie eine Satire, daß noch sogenannte Spätwerk entstand. Er ver- notwendig, der Jugend die richtigen Be- Ende 1944 der Generalstabschef des lor die „Unschuld“, die „Naivität“ des griffe von Edelmut beizubringen, sie Heeres, Heinz Guderian, die Lektüre literarischen Erzählens. brauche Helden wie das tägliche Brot. der Karl-May-Bücher für den neuzubil- Die Karl-May-Kenner teilen sich da- In seiner taktischen Wendigkeit und denden Volkssturm – darunter viele Ju- her in zwei Schulen. Die erste, 1929 pro- Umsicht, wie sie ihm Karl May verlie- gendliche – empfahl, weil eine hantier- minent vertreten durch Ernst Bloch, hen habe, sei Winnetou „geradezu das bare militärische Vorschrift nicht recht- hielt das nach der Orientreise ent- Musterbeispiel eines Kompaniefüh- zeitig ausgearbeitet werden konnte. standene Spätwerk schlicht für eine rers“, ohne Pour le me´rite – wir zitieren Doch bei aller Situationskomik, es gab „Verirrung“. Der Karl-May-Forscher hier Albert Speer. eben seinerzeit keinen so populären und Schriftsteller Arno Schmidt hinge-

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gen will die ersten 60 Jahre des Dich- ters als Quantite´ne´gligeable angesehen wissen. Wohl jeder, der die bis 1900 ge- schriebenen Werke Karl Mays gelesen „Wie ein Terrier“ und reflektiert hat – letzteres tat man als Jugendlicher wohl nicht –, muß sich Der Karl-May-Verlag kämpft um seinen einzigen Autor die Frage stellen: Woher nahm der Mann sein Wissen? Manche Ungereimtheiten lassen sich arl Mays Figuren streiten um Gut Polster später Freunde im Osten. Im- aus Karl Mays Lebenslauf erklären, oder Böse, die Eigentümer des merhin eine Viertelmillion Bücher im den Hermann Wohlgschaft in einer KKarl-May-Verlages auch: Gut ist, Jahr verkauft der Karl-May-Verlag umfangreichen Biographie zusammen- wenn sie den Meister drucken, böse, nach eigenen Angaben noch. getragen hat*. Kurz nach der Geburt wenn es ein anderer tut. Festspiele in Bad Segeberg und war das Kind erblindet. In einer Der Karl-May-Verlag in Bamberg Elspe locken jeden Sommer Zehntau- Dresdner Klinik, wo die Mutter zur ist in mancher Hinsicht ein Unikum: sende, Karl-May-Liebhaber zahlen für Hebamme ausgebildet wurde, erlangte Er verlegt ausschließlich einen einzi- alte Filmplakate 500 Mark, für rare der Vierjährige die Sehkraft zurück. Er gen Autor, und er bekämpft mit ein- Bände gar 1000. Karl-May-Kalender, hatte sein erstes entscheidendes Ret- zigartiger Streitlust jeden anderen, der Kassetten, Spiele, Krüge, Aschenbe- tungserlebnis, erlitt aber wohl damals sich auch an Karl May vergreifen will. cher, Handtücher, T-Shirts – das nöti- erhebliche narzißtische Verletzungen, Seit vielen Jahrzehnten beherrschen ge Futter für den treuen Fan. die er mit einer überreichen Phantasie die Nachkommen des Verlagsgründers „Der Name Karl May ist zeitlos“, zu kompensieren suchte. Euchar Schmid, die drei Söhne Lo- glaubt der Bamberger Verlagsjunior Bernhard Schmid, „Winnetou und Old Shatterhand sind bekannter als man- che Disney-Figur und als Helmut Kohl.“ Jedoch: Nicht überall, wo Karl May draufsteht, ist Karl May drin. Die Abenteuer in den grünen Bänden, die Millionen Jugendliche im funzeligen Strahl ihrer Taschenlampen verschlan- gen, sind nicht die Originale des Mei- sters, sondern das Ergebnis Schmid- scher Redigierarbeit. Einst bekam der Verlagsgründer von der Witwe Mays die Erlaubnis, das Geschriebene ihres Gatten zu bearbei- ten. Seitdem fuhrwerken die Schmids in den Romanen herum. „Es gibt kei- nen Autor“, zürnt der Zürcher Verle-

R. JANKE / ARGUS ger Gerd Haffmans, „dem so übel mit- Karl-May-Bücher gespielt wurde.“ Sein Leben ist zunächst einmal von Gründlich verfälscht Mit Abscheu beobachten Verleger kleinen und größeren Krisen geprägt. Im und Karl-May-Experten seit langem Lehrerseminar von Waldenburg empfin- thar, Joachim und Roland, mit ihren das Bamberger Treiben. Es sei ein ein- det er den Religionsunterricht als kalt berühmten grünen Schwarten das Ge- maliger Skandal in der Publikationsge- und poesielos. Weil er für den heimischen schäft mit Karl May. 1960 siedelte der schichte, meint Heiner Taubert vom Christbaum sechs Kerzen gestohlen hat- in Radebeul gegründete Verlag nach Kölner Parkland Verlag, „daß ein so te, mußte er 1860 die Anstalt verlassen. Bamberg über, Mays Nachlaß nahm vielgelesener Autor von seinem Verle- Ein Gnadengesuch hatte Erfolg, May die Familie für 50 000 Mark mit. ger so gründlich verfälscht wurde“. konnte seine Ausbildung in Plauen fort- Ein Streich, dessen Umstände nie Doch gerade die Bearbeitung be- setzen. geklärt worden sind – aber er zahlte gründete über Jahrzehnte das Bamber- Nachdem er die Kandidatenprüfung sich für die Bamberger Verlegerfamilie ger Monopol: Die eigenen Textfassun- 1861 mit „gut“ bestand, erhielt er seine aus. Mit einer Auflage von rund 100 gen hat der Karl-May-Verlag urheber- erste Anstellung als Hilfslehrer in der Ar- Millionen Büchern ist May der meist- rechtlich schützen lassen – der origina- menschule von Glauchau. Doch dort flog gelesene deutsche Romanautor. Vor le Karl May ist seit 1962 gemeinfrei, er schon nach zwölfTagen wieder hinaus, allem die Winnetou-Filme in den sech- das heißt: für jedermann verwertbar. weil er mit der jungen Frau seines Ver- ziger Jahren schraubten die Auflagen Nur – wer es je versuchte, hatte die mieters ein Verhältnis angefangen hatte. der Karl-May-Abenteuer in phantasti- Anwälte der Bamberger am Hals. Mit Auch eine Anstellung als Fabrikschulleh- sche Höhen. Inbrunst und unvergleichlicher Pro- rer in Altchemnitz scheitert. May wird Heute ist die Begeisterung für Karl zeßlust wirft sich der Karl-May-Verlag nach sieben Wochen in Hohenstein ver- Mays brave Helden abgekühlt. Eine vor die Werke seines Autors. haftet, weil er seinem Logierbruder eine geschrumpfte, aber solide Gemeinde Verleger, Film- und Hörspielprodu- Taschenuhr, eine Tabakpfeife und eine bleibt dem Meister dennoch treu: Ne- zenten, die sich aus dem Bamberger Zigarrenspitze geklaut haben soll. Er ben nachwachsenden pubertierenden Nachlaß bedienen wollen, müssen Schmetterfaust-Schwärmern sind es Tantieme zahlen. Kaum eine Devotio- Nostalgiker, Sammler sowie ein dickes nalie kommt ohne den Zugriff der * Hermann Wohlgschaft: „Große Karl May Biogra- phie“. Igel Verlag, Paderborn; 840 Seiten; 148 Mark.

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Lutheraner May die Orgel spielen. Schmids in den Handel. Der Verlag Während Karl May in den ließ sich die Namen Karl May, Winne- verschiedenen Gefängnissen tou und Old Shatterhand einfach als saß – immer unter harten Haft- Warenzeichen eintragen. bedingungen –, begann er zu Mit enormem juristischem Gerassel schreiben. Doch erst 1875, kommt der Karl-May-Verlag in der May war gerade aus dem Regel ohne Klärung der Rechtslage Zuchthaus entlassen, für wei- ans Ziel. Die Drohung mit einstweili- tere zwei Jahre unter Polizei- gen Verfügungen und teuren Prozes- aufsicht gestellt und lebte von sen macht die Verfolgten schnell gefü- der Unterstützung der Eltern, gig. erschien seine erste Novelle Sogar Bertelsmann kniff. Vor 20 „Die Rose von Ernstthal“. Jahren luchste der Karl-May-Verlag Im März 1875 wird Karl May dem Bücher-Riesen die Zusage ab, nie schließlich als Redakteur bei wieder eine May-Edition herauszuge- dem Dresdner Kolportage- ben. Dem Xenos-Verlag setzten die verleger Heinrich Gotthold Schmids wegen Fotografien auf den Münchmeyer, der ihn „Herr Einbänden zu, die angeblich urheber- Doktor“ nennt, angestellt. Sei-

rechtliche Ansprüche verletzten. Xe- KLUSSMEIER ne Vita hat er ins Makellose nos zahlte die geforderte Tantieme umgedichtet. Die erste Erzäh-

und verramschte kurz darauf seine FOTOS: G. lung wird veröffentlicht. Restauflage. May mit Ehefrau Emma (1890) Im selben Jahr gründet der Der Zürcher Haffmans Verlag stell- Echt stolz auf den Gatten Schriftsteller die Arbeiterzeit- te seine 99bändige historisch-kritische schrift Schacht und Hütte und Ausgabe mit Mays Originaltexten auf wird zu sechs Wochen Haft verurteilt, die das Journal Deutsches Familienblatt.Er den juristischen Beschuß der Bamber- sich als grobes Unrecht in sein Gedächt- schreibt sittlich hochstehende Texte und ger hin wieder ein. „Die versuchen, je- nis eingraben. Die Lehrertätigkeit ist für lustige Kurzgeschichten. In einer Wild- den wegzubeißen“, sagt Haffmans ge- immer beendet. westerzählung tritt erstmals Winnetou nervt. „Ich lasse mich nicht zerflei- Trotz dieser Erfahrung begeht er, wäh- auf, hier noch alswilder Skalpjäger. Aber schen.“ rend er 1864 und ’65 als Landstreicher es ist noch ein weiter Weg bis zu Winne- „Wie ein Terrier begleiten sie jede umherzieht und von einem kärglichen tous Worten: „Scharlih, ichglaube an den Werbeaktion“, so Taubert vom Park- Einkommen alsMusikant lebt, drei phan- Heiland, Winnetou ist ein Christ.“ land Verlag. Als „Hauptwerk“ Karl tastisch-komische Eigentumsdelikte un- Karl Mays Leben scheint nun geordne- Mays hat Parkland seine 33bändige ter den Namen Dr. med. Heilig, Seminar- tere Bahnen anzunehmen. Er lernt Em- Ausgabe beworben. Prompt schnappte lehrer Lohse und Hermes Kupferstecher. ma Lina Pollmer (1856 bis 1917) kennen, der Karl-May-Verlag zu: Nach seiner Er wird steckbrieflich gesucht und am 26. und er hält Verbindung mit Peter Roseg- Auffassung sei die Bezeichnung unzu- März 1865 festgenommen. Zum zweiten- ger, der 1877 die „Rose von Kahira“ ver- lässig. mal verurteilt ihn das Gericht, diesmal zu öffentlicht. Natürlich glaubt auch Roseg- „Für einen kleinen Verlag ist es ein vier Jahren und einem Monat Arbeits- ger, Karl May habe den Orient selbst be- ungeheures Risiko, sich an Karl May haus; er wird in die Strafanstalt Schloß reist. heranzuwagen“, sagt Taubert. Schon Osterstein in Zwickau eingeliefert. In Der junge Schriftsteller May fand 1878 mehrmals gab Parkland nach, um die diesen kargen Zeiten beginnt Karl May eine Anstellung als Redakteur bei Bruno Auslieferung seiner Auflage nicht zu zu komponieren und zu musi- gefährden; zum Beispiel zahlte er zieren, durch die Gunst eines 30 000 Mark für die Verwendung des Aufsehers avanciert er im Ge- angeblich geschützten Titels „Durch fängnis zum Posaunenbläser die Wüste“. und Mitglied des dortigen Kir- Aber kein Monopol hält ewig. Das chenchors. Publikum schmökert immer lieber in KaumisterEnde1868wieder den alternativen Ausgaben. In den frei, wird er im neuen Jahr unter neuen Bundesländern etwa hat es der anderem als „Leutnant von Karl-May-Verlag schwer, seine grünen Wolfrahmsdorf“ rückfällig, neben den Bänden des Ostverlags und im böhmischen Niederal- Neues Leben zu behaupten. gersdorf wird er Anfang 1870 Über 30 000mal hat Parkland in drei als „Albin Wadenbach“, an- Jahren seine Billigausgabe mit dem geblicher Plantagenbesitzer in echten Karl May verkauft – für den Obry-Martinique, in einer Bamberger Verlag Grund genug, den Scheune aufgegriffen. Der ma- unliebsamen Konkurrenten zäh zu ver- terielle Gewinn einer Serie von folgen. äußerst skurrilen, die Obrigkeit Der Klein-Verleger will sich nun verhöhnenden Delikten steht nicht mehr in die Knie zwingen lassen. in keinem Verhältnis zum „Diesmal werden wir nicht zahlen“, Aufwand. Im Gefängnis von verkündet Taubert mit dem Mut des Waldheim gelingt es dem echten Westmannes. „Wir geben nicht Anstaltskatecheten Johannes nach.“ Kochta sogar, sein Gewissen umzudrehen. Im katholischen May-Ehefrau Klara, verwitwete Plöhn (1908) Gefängnisgottesdienst darf der Zusammen nach New York

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Radelli und redigierte dessen Blatt Frohe Karl May bringt es fertig, stückweise Stunden. Eigene Beiträge veröffentlichte und zeitversetzt so zu schreiben, daß er unter dem Pseudonym Emma Pollmer. sein Endprodukt wie aus einem Guß er- Nachdem der junge Zeitungsmacher mit scheint. Er macht immer weniger kom- Emma – die er stets als seine Frau vor- positorische Fehler. Wie er allerdings stellte – eine gemeinsame Wohnung be- durch seine vielen verschiedenen Ver- zogen hatte, kommen aber doch auch sei- lagspflichten hindurchgefunden hat, ne Verwandlungskünste wieder zum bleibt wohl immer sein Geheimnis. Der Vorschein. Hausschatz wird zwar irgendwann wie- Als „höherer Regierungsbeamter“ der beliefert, aber es kommt auch noch tritt er in der Nähe von Stollberg auf, um Der Gute Kamerad hinzu. die mysteriös erscheinenden Umstände Ende 1888 ziehen die Mays nach des Todes von Emil Pollmer, dem Onkel Kötzschenbroda um. May meldet sich von Emma, zu klären. May wird der beim Gemeindeamt als Dr. phil. an. Im Amtsanmaßung bezichtigt und kassiert Jahr 1889 verfaßt May insgesamt 3770 drei Wochen Gefängnis. Manuskriptseiten, darunter auch den Wieder in Freiheit, wird er von nun an „Schatz im Silbersee“, seinen ersten er- bis zu seinem Lebensende als freier folgreichen, aber keineswegs besten Ju- Schriftsteller arbeiten, hat aber bis zum gendroman. Herbst 1882 erhebliche Geldschwierig- Etwa um diese Zeit lernen die Mays keiten. Seine Einkünfte sichern ihm le- das Ehepaar Richard und Klara Plöhn diglich das Existenzminimum. Emma, kennen. Klara (1864 bis 1944) wird spä- G. KLUSSMEIER May im Radebeuler Arbeitszimmer (1896): Der Autor ist im Orient auf Reisen

die er inzwischen geheiratet hat, kommt ter eine enge Freundin von Emma. 1903 erst auf ihre finanziellen Kosten, nach- wird sie Mays zweite Ehefrau werden. dem Karl May seinen Orient-Zyklus zu 1890 befindet sich das Paar wieder in schreiben begonnen hatte. Geldschwierigkeiten. May verfaßt für Spätestens 1881 reitet Karl May gei- den Regensburger „Marienkalender stig durchs Wilde Kurdistan; Le Monde 1891“ die Novelle „Christus oder Mu- veröffentlicht erstmals einen May-Text hammed“, und er bedient nun auch di- in französischer Übersetzung. May lie- verse katholische Verlage. fert auch an Münchmeyer in Dresden Die Lohnschreiberei hat erst mit den Romane, allerdings ohne schriftlichen Vorschüssen seines neuen Verlegers Vertrag, was ihm später zum Verhäng- Fehsenfeld ein Ende. 1892 ist Karl May nis werden wird. Vorläufig kann er mit endlich ein wohlhabender Mann. Emma, die sich mit den beiden Münch- Um die Weihnachtszeit 1894 über- meyers angefreundet hat, nach Dres- rascht der seßhaft gewordene Abenteu- den-Blasewitz ziehen. Verlagen, die rer seine Hausschatz-Leser. Er berichtet vergebens auf ein Manuskript warten, ihnen vom Besuch Winnetous beim der Deutsche Hausschatz zum Beispiel, Dresdner Gesangsverein. May, inzwi- wird bedeutet, der Autor sei auf Reisen, schen mit Old Shatterhand und Kara wahrscheinlich im Orient. Ben Nemsi identisch, veröffentlicht sei-

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des Ich-Erzählers in den Reise- vor fast 1000 Personen: Rund 1200 Spra- romanen mit dem bürgerlichen chen und Dialekte beherrsche er, so Namen Karl May, und er for- tönt der Dichter, bei den Apachen sei er ciert die religiösen Tendenzen als Nachfolger Winnetous Befehlshaber seiner Geschichten in fast uner- von 35 000 Kriegern. Ehefrau Emma ist träglicher Weise. echt stolz auf ihren Gatten. Eine be- Der Reformkatholik und Li- kannte Spiritistin – und Schwindlerin – teraturfreund Carl Muth (1867 namens Anna Rothe hält wiederholt Se- bis 1944) wirft May „literarische ancen in der „Villa Shatterhand“ ab. Geschmacksverderbung“ vor. May durchschaut sie, er will aber weder Mays religiöse Phrasen seien seine jetzige noch seine künftige Ehe- nichts anderes alsGunsthasche- frau kränken. rei. Diese Kritik war wohl auch Ohne Emmas Beisein verteilt er im gegen die fast durchgängig ge- niedersächsischen Gatow nicht nur seine währte Unterstützung Mays gröbsten Flunkereien, sondern auch seitens der katholischen Kirche Goldstücke an die notleidende Bevölke- gerichtet, für katholische Ver- rung, mildtätig war er ja auch sonst. Tat- lage schrieb er ja reichlich. sächlich kommt wieder einmal die Poli-

K.U.K. Die Vorwürfe bringen den zei auf den Plan, die mißtrauisch den Dichter ins Grübeln, und er Hochstapler in ihm riecht und May vor-

K. LAUX / nimmt sich vor, einen neuen übergehend festnimmt. May-Museum „Villa Shatterhand“ Weg zu beschreiten. Seinem War das bisherige Leben überwie- Besuch von Winnetou im Gesangsverein Verleger Fehsenfeld teilt Karl gend biographisch umstritten, so wer- May mit, er beginne jetzt mit den die nächsten zehn Jahre von literari- nen berühmtesten und meistgelesenen „seinen eigentlichen Absichten heraus- schen Argumenten beherrscht sein. Sei- Roman „Winnetou I“. Als Winnetou ist zurücken“. Diese Absichten, das waren ne juristischen Widerwärtigkeiten, de- er Retter in allen Nöten geworden. wohl geplante Reisen in die Länder sei- ren Hauptursache er selbst ist, werden Seinem Freiburger Verleger gegen- ner Helden. Bevor er diese jedoch an- ihn niederdrücken. Das wird die literari- über beklagt der Dichter sich nun aller- tritt, wird er im Frühjahr 1897 noch eine schen Kritiker aber nicht beeindrucken. dings über häusliche Zerwürfnisse, und Partitur zu Winnetous Sterbegebet, dem Die „eigentlichen Absichten“, das ist er blickt oft nach der Wand über seinem Ave Maria, komponieren. Sie fand aber sein „Spätwerk“. Die wenigsten seiner Schreibtisch, wo der geladene Revolver kein Publikum. Laien-Bewunderer dürften es gelesen hängt. Doch wie von unsichtbarer Hand Während einer Reise durch Deutsch- haben. Ich kann nicht anders, ich neige wird er vom Letzten zurückgehalten. land spricht Dr. Karl May in München hier nicht Arno Schmidt, sondern Ernst Trotz seiner ehelichen Bloch zu, der im Spätwerk Schwierigkeiten erwirbt das die Frische und Naivität Ehepaar May am 30. Dezem- der früheren Erzähl-Roma- ber 1895 eine Villa in Rade- ne vermißt (1929). Was ha- beul, Kirchstraße 5,Kaufpreis ben die Niagarafälle in 37 300 Mark, damals eine er- „Winnetou IV“ zu suchen? kleckliche Summe, man zieht Den Hitler kann man in also in die „Villa Shatter- diesem Kontext vergessen. hand“. Er dürfte kein „Spätwerk“ Der Dresdner Büchsenma- gekannt haben. „Sterbens- cher Oskar Fuchs überreicht langweilig“ findet der Ger- May die „Silberbüchse“ und manist Michael Zeller das wenig später den „Bärentö- Spätwerk. ter“. Er hat die Wunderwaf- Über den theologischen fen im Auftrag von May ange- Wert möchte ich mit dem fertigt. Im Zweiten Weltkrieg verdienstvollen Stadtpfarrer wird man Hitlers „Wunder- von Landsberg am Lech, waffen“ V-1 und V-2 mit ih- Hermann Wohlgschaft, die- nen gleichsetzen. Den „Hen- sem höchst aktiven Mitglied rystutzen“ konnte sich der der Karl-May-Gesellschaft, Dichter erst 1902 kaufen. nicht streiten. Den norma- Der 1896 aus Linz angerei- len Leser kann auch nicht ste Amateurfotograf Alois interessieren, wie akribisch Schießer machte von dem May seine dubiose Vergan- Dichter 101 Aufnahmen im genheit neu verschlüsselt Phantasiekostüm: Old Shat- und ins Positive hin aufgear- terhand mit Silberbüchse, Ka- beitet hat. ra Ben Nemsi mit Revolver – Ein besseres Nachwort pictures all over the world. finde ich nicht, als Martin Die Verlage reißen sich Walser es uns 1991 an die jetzt um den großen Sachsen. Hand gegeben hat: „Warum May verfaßt unter dem Titel habe ich Karl May gelesen, „Die Freuden und Leiden ei- jahrelang? Weil ich mir rett- nes Vielgelesenen“ einen bar vorkommen wollte, ob

pseudobiographischen Text. G. KLUSSMEIER im Balkan oder in den Hän- Er unterstreicht die Identität Dichter May in Wien (1912): „Sterben, sterben, sterben“ den von Indianern.“ Y

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AUSLAND PANORAMA

Mexiko müsse entweder von den chien den Sozialismus wie- Mordplänen gewußt haben, derherstellen. Mit angeblich 100 km Geheime Hand oder er habe sein Amt „sträf- schon 20 000 Mitgliedern von Salinas lich vernachlässigt“, hieß es plant die zahlenmäßig fünft- aus dem Büro des General- größte Partei bei den Parla- UGANDA Die Untersuchung des Mor- staatsanwalts. Abgeordnete mentswahlen im nächsten des an dem mexikanischen forderten Präsident Ernesto Jahr den Griff nach der Präsidentschaftskandidaten Zedillo schon auf, die „gehei- Macht. Sˇteˇpa´n, früher KP- Luis Donaldo Colosio im me Hand von Salinas“ (so Boß von Prag, war nach der März 1994 rückt den ehema- das mexikanische Nachrich- Wende 1989 als einer der we- RUANDA ligen Präsidentenberater Jose´ tenmagazin Proceso) und Sa- nigen ehemaligen Prominen- Kiwu- Kigali see Marı´a Co´rdoba ins Zwielicht. linas selbst vor Gericht zu ten zu einer Freiheitsstrafe Kibeho Co´rdoba war der engste Mit- stellen. wegen Amtsmißbrauchs ver- arbeiter des früheren Präsi- urteilt worden. Dennoch hält denten Carlos Salinas de Tschechien er seine damalige Tätigkeit Gortari und galt als „Macht für „im Kern ehrlich und Bujumbura hinter dem Thron“, weil er Comeback der wahrhaft“. Ehemalige Dissi- ZAIRE die Kontrolle über alle mexi- denten wie der Christdemo- BURUNDI kanischen Sicherheitsdienste alten Genossen krat Va´clav Benda, 48, sind hatte. Nachforschungen deu- Mit der Neugründung einer entsetzt über die Neuzulas- Tanganjika- see ten darauf hin, daß Colosios Partei Tschechoslowakischer sung der Partei. Benda, Lei- TANSANIA Leibwache in das Attentat Kommunisten (SCˇ K) will Mi- ter der Ermittlungen kom- verwickelt war. Co´rdoba roslav Sˇteˇpa´n, 49, in Tsche- munistischer Verbrechen, nennt die Wiederkehr der sche Armee am vergange- Altgenossen eine „Ohrfeige nen Wochenende mindestens für die Demokratie“. Verbo- 2000 Hutu-Flüchtlinge getö- ten werden kann die neue KP tet – gibt es keine Hoffnung jedoch nur durch Beschluß mehr auf Versöhnung zwi- des Obersten Gerichts in schen Hutu und Tutsi. Denn Prag – nach Empfehlung der auch im benachbarten Bu- Regierung oder des Präsiden- rundi bringen Angehörige ten. der beiden Volksgruppen einander um. Deshalb disku- Ruanda tieren Politiker jetzt einen Plan aus der Kolonialzeit, Apartheid für der in Zentralafrika eine Art offizieller Apartheid errich- Hutu und Tutsi? ten würde: Danach sollten

AP Nach dem Massaker von Ki- Hutu und Tutsi streng ge- Attentatsopfer Colosio beho – dort hatte die ruandi- trennt in unterschiedlichen

Palästina den baldigen Abbau von Zollschranken zwischen unserer Autonomieregion und Nachbarländern sowie einen we- sentlich verbesserten Handel. „Geruch von Geld“ SPIEGEL: Wie paßt das zu Israels Abschottungspolitik? Ahmed Kurajji (Beiname: Abu Ala), 57, wachte zwölf Die Regierung Rabin behindert die Ausreise von Bewoh- Jahre über die Finanzen der PLO. Jetzt leitet er in der nern aus Gaza, die exterritorialen Überlandverbindungen palästinensischen Autonomieverwaltung das nach Jericho bleiben gesperrt. Wirtschaftsressort. Kurajji: Die Grenzsperrung ist kein Dauerzustand, und die Übergänge nach Ägypten sind offen. Mit dem nahen SPIEGEL: Anschläge auf jüdische Siedler, Razzien der palä- ägyptischen Sinai-Flughafen El-Arisch haben wir eine An- stinensischen Polizei, ein Heer von Arbeitslosen im Gaza- bindung an den internationalen Luftverkehr, eine Hub- streifen: Was bringen, angesichts von Elend schrauberverbindung nach Gaza folgt dem- und Terror, Gespräche über den Handel? nächst. Kurajji: Es geht um Fragen, die direkten Ein- SPIEGEL: Droht nicht der Machtkampf zwi- fluß auf die schwierigen Lebensbedingungen schen PLO und islamischen Extremisten alle unseres Volkes haben. Immerhin haben sich Ihre Pläne zunichte zu machen? jetzt in Kairo Palästinenser, Jordanier, Kurajji: Einen Bürgerkrieg wird es nicht ge- Ägypter und Israelis auf die Gründung eines ben. Trotz der angeblich instabilen Lage regionalen Entwicklungsrats geeinigt. Damit sind schon viele palästinensische und auslän- existiert erstmals eine glaubwürdige wirt- dische Unternehmer an mich herangetreten, schaftliche Großraumplanung. um Milliarden bei uns zu investieren. Mit SPIEGEL: Wirtschaftsgemeinschaft Nahost – Ägypten reden wir über eine Eisenbahnver- welche konkreten Auswirkungen wird das bindung und den Bau einer Erdgasleitung für Ihre Landsleute haben? vom Nildelta nach Gaza und ins Westjordan-

Kurajji: Eine deutliche Lockerung der für SCANFOTO land. Wer eine gute Nase hat, kann das Geld uns strangulierenden Reisebeschränkungen, Abu Ala förmlich riechen.

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Regionen leben. Spätestens seit dem Blutbad von Kibeho ist endgültig klar, daß kaum noch Hutu-Flüchtlinge aus den Camps jenseits der Gren- zen in ihre ruandische Hei- mat zurückkehren werden. Schon im vergangenen Jahr traten von 2,2 Millionen Hu- tu (knapp ein Drittel der Be- völkerung Ruandas) nur et- wa 300 000 den Weg in ihre alten Dörfer an. Die meisten fürchten die Vergeltung der neuen Herren, welche die Schuldigen des Genozids von 1994 vor ein internationales Tribunal stellen wollen.

Großbritannien Labour-Lob für Lady Thatcher In seinem Werben um den konservativen Mittelstand verprellte Labour-Chef Tony Blair, 31, seine Partei mit ei- nem verblüffenden Bekennt- nis. Ausgerechnet für die Ex- Premierministerin und Sozia- listenhasserin Margaret That- cher bekundete der Oppositi- onsführer plötzlich Respekt: „Sie war eine durch und GAMMA / STUDIO X PA / DPA Thatcher Blair

durch entschlossene Person. Dies ist eine bewundernswer- te Qualität.“ Das Lob für die Eiserne Lady, von der rech- ten Aufsteigerklasse immer noch als Heldin verehrt, soll dem bürgerlichen Lager die Angst vor einem Labour- Wahlsieg und einem künfti- gen Premier Blair nehmen. Viele Genossen empfinden das Lob ihres Vorsitzenden dagegen als „unnütz und opportunistisch“. Blair-Vize John Prescott, ein Parteilin- ker, gab die grummelnde Ba- sis-Stimmung wieder: „Für Frau Thatcher habe ich keine warmen Worte.“

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AUSLAND

Kriegsverbrechen VÖLKERMORD VOR GERICHT In Den Haag will die Uno endlich mit der Verfolgung der Greuel im Balkankonflikt Ernst machen: Der Prozeß gegen einen serbischen Folterer aus dem Internierungslager Omarska beginnt. Chefankläger Richard Goldstone läßt auch gegen den bosnischen Kriegsherrn Radovan Karadzˇic´ und seinen General Ratko Mladic´ ermitteln.

„Mit eigenen Augen“ habe er gese- hen, berichtete etwa der Zeuge Islam S., wie Tadic´ in Omarska einer Frau de- ren zweieinhalbjähriges Kind aus der Hand gerissen und gegen einen Lastwa- gen geschleudert habe. Als Goldstone im Februar die Ankla- geschrift verlas, war keiner der Beschul- digten anwesend. Und wahrscheinlich wird Tadic´, der am vergangenen Mon- tag per Hubschrauber aus München-Sta- delheim nach Den Haag überführt wor- den war, auf absehbare Zeit der einzige sein, dem der Prozeß gemacht werden kann. Schon beim Arbeitsbeginn des Ge- richts im November 1993, 15 Monate nach Bekanntwerden der Greuel in bos- nischen Internierungslagern, wurden die Schwierigkeiten des neuen Tribunals deutlich: Ein Chefankläger und elf Richter konnten im folgenden Jahr die Massaker zwar untersuchen, ohne aber wirklich in der Lage zu sein, die Verbre- chen auch zu ahnden. Denn in Abwe-

AP senheit darf keiner der Folterer und Richter des Haager Tribunals: Vorwürfe in zwölf Ländern recherchiert Mörder verurteilt werden. So höhnte der bosnische Serbenführer Radovan ur eine knappe halbe Stunde dau- wieder Ende Juli vor Gericht erschei- Karadzˇic´ bereits, er werde das Tribunal erte der historische Augenblick in nen. und seine Entscheidungen schlicht igno- NDen Haag. Zum erstenmal seit den Dusˇko Tadic´ ist einer von 22 Serben, rieren. Nürnberger Prozessen stand am vorigen die vom Uno-Gerichtshof angeklagt Dennoch sieht der südafrikanische Ju- Mittwoch wieder ein mutmaßlicher sind, 1992 als Kommandanten oder Auf- rist Goldstone, der sich im Kampf gegen Kriegsverbrecher vor einem internatio- seher im Internierungslager Omarska die Apartheid einen Namen gemacht nalen Tribunal. moslemische und kroatische Gefangene hat, „keinen Grund, frustriert zu sein“. Hinter einer Glasscheibe, eingerahmt gequält und getötet zu haben. 20 Mitar- Machtlos sei das Gericht keineswegs. von zwei Uno-Soldaten, verfolgte der beiter des Chefanklägers Richard Gold- Schon die Verlesung der Anklageschrift Serbe Dusˇko Tadic´ mit Hilfe eines Dol- stone haben fünf Monate lang in zwölf vor einem internationalen Forum sei ein metschers den Schlagabtausch zwischen Ländern die Vorwürfe recherchiert. „wichtiger Schritt“: Ein Auslieferungs- der Vorsitzenden Richterin Gabrielle Tadic´, 39, gelernter Elektrotechniker, antrag des Uno-Tribunals nehme dem Kirk McDonald aus den USA und sei- Cafe´-Besitzer, Karatespezialist und zeit- Beschuldigten jede Bewegungsfreiheit nem niederländischen Verteidiger Mi- weise Polizist, wird in der 13seitigen Ge- außerhalb seines Heimatlandes. chail Wladimiroff. richtsakte beschuldigt, an 12 Mordtaten Vor allem möchte Goldstone ohne Als die drei Richter aus dem Saal aus- und 16 Folterungen beteiligt gewesen zu Rücksicht auf diplomatische Empfind- gezogen waren und der leitende Staats- sein. Der Serbe, der alle Vorwürfe ab- samkeiten und die langwierigen Frie- anwalt Grant Niemann aus Australien streitet, zählte zwar nicht zu den Anfüh- densverhandlungen auch die politischen seine Akten in einem dunkelroten Samt- rern bei der systematischen Vertreibung und militärischen Führer zur Rechen- beutel verstaut hatte, wurde der Ange- und Vernichtung von Tausenden Mos- schaft ziehen. Nicht nur den brutalen klagte wieder abgeführt – in eine Zelle lems in seinem Heimatbezirk Prijedor. Handlangern und sadistischen Folterern des Scheveninger Uno-Gefängnisses, in Aber für Goldstone repräsentiert er ei- soll der Prozeß gemacht werden, son- dem er bislang als einziger Häftling ein- nen jener Fälle, die „das Grundmuster dern ebenso jenen Drahtziehern, die sitzt, rund um die Uhr von 14 Soldaten dieser weitverbreiteten Verbrechen be- „von den schweren Menschenrechtsver- bewacht. Wahrscheinlich muß er erst stätigen“. letzungen und Gewalttätigkeiten wuß-

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ten, ohne sie zu verhindern, fängnis in Scheveningen. Überdies wird oder sie gar geplant haben“. alles rund um die Uhr von bewaffneten Mit den Ermittlungen ge- Soldaten bewacht. gen Karadzˇic´, dessen General Die Richter, unter ihnen zwei Frauen, Ratko Mladic´ und den frühe- kommen aus allen Erdteilen und reprä- ren Chef der serbischen Son- sentieren alle Rechtssysteme. Sie haben derpolizei Mirko Stanisˇic´ soll im vergangenen Jahr die Rechtsnormen deutlich werden, daß auch die und die Strafprozeßordnung entwickelt, politischen und militärischen nach denen jetzt die mutmaßlichen Führer künftig für ihre Misse- Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen taten geradestehen müssen – Jugoslawien verurteilt werden sollen. selbst dann, wenn das Gericht Die Verhandlungen werden öffentlich damit die Waffenstillstands- in englischer Sprache geführt. Jeder An- verhandlungen in Bosnien- geklagte hat das Recht auf einen Anwalt Herzegowina stören könnte. An Beweisen für die in Ex- Jugoslawien begangenen Ver- Mit den Drahtziehern brechen gegen die Mensch- des Bosnien-Kriegs lichkeit mangelt es nicht. Goldstone weiß, wo Massen- wird weiter verhandelt gräber zu finden sind, in denen Hunderte bestialisch seiner Wahl. Tadic´ beanspruchte und ermordeter Menschen ver- erhielt einen Pflichtverteidiger. scharrt wurden. Er kennt die Noch ist der Haager Gerichtshof weit- Namen paramilitärischer Kil- gehend machtlos. Denn beim ersten in- lertrupps, die sich an Vertrei- ternationalen Kriegsverbrecherprozeß bung und Mord von Zivilisten seit dem Zweiten Weltkrieg sind die beteiligt haben. Mehr als Rollen vertauscht: Saßen damals die ge- 100 000Seiten Ermittlungsbe- schlagenen Nazi-Größen hinter Gittern, richte liegen ihm vor, die bru- fühlen sich die schlimmsten Drahtzieher tale Verbrechen an Kindern, des Bosnien-Kriegs jetzt als Sieger und Frauen und Männern im feiern ihre Erfolge. Sie diktieren weiter- schmutzigen Krieg auf dem hin Waffenstillstandsbedingungen, und Balkan belegen. westliche Politiker kündigten vergange- Seinem Amtssitz in der ne Woche bereits an, mit Karadzˇic´ und Haager Churchillplein fehlt es Mladic´ auch künftig zu verhandeln. auch nicht an eindrucksvollen Aber das neugeschaffene Gericht Attributen juristischer Auto- könnte zum Vorläufer einer ständigen rität. Der Internationale Institution werden und langfristig eine Strafgerichtshof, durch einen alte Wunschvorstellung der Vereinten GAFF / SIPA Beschluß des Uno-Sicher- Nationen erfüllen – daß alle, die unter heitsrats eingesetzt, verfügt dem Deckmantel eines Kriegs Verbre-

A. KAISER / über einen mit Panzerglas ge- chen begehen, bestraft werden. Angeklagter Tadic´ schützten Gerichtssaal und Nur widerstrebend, von den Ameri- Von 14 Uno-Soldaten bewacht ein eigenes Untersuchungsge- kanern gedrängt, hatten sich Russen, SIPA GAMMA / STUDIO X Internierungslager Omarska, Folteropfer: Killertrupps und Massengräber sind dem Gericht bekannt

DER SPIEGEL 18/1995 149 Franzosen und Briten auf die Gründung dieser Strafinstanz eingelassen. Die Rus- sen fürchteten, der Kriegsgerichtshof könne sich zu einem reinen Serben-Tri- bunal entwickeln – ihren orthodoxen Glaubensbrüdern werden immerhin 80 Prozent der dokumentierten Greuel vor- geworfen. Engländer und Franzosen wollten nicht, daß allzu spektakuläre An- klagen gegen die politische und militäri- sche Führung Serbienseine politische Lö- sung des Konflikts unmöglich machen. Auch wird gegen Schreibtischtäter wie Serbiens allmächtigen Präsidenten Slo- bodan Milosˇevic´ noch immer nicht ermit- telt – obwohl er es war, der Karadzˇic´ und Mladic´ als seine Statthalter in Bosnien einsetzte. Das Gerichtsbudget von 28,3 Millio- nen Dollar für dieses Jahr ist noch immer nicht von der Vollversammlung verab- schiedet worden. Die Finanzmittel fürdie auf inzwischen 210 Mitarbeiter ange- wachsene Institution werden von so un- terschiedlichen Staaten wie Kanada, Un- garn, Malaysia und Pakistan durch frei- willige Beiträge aufgebessert. Großbri- tannien und Amerika stifteten Compu- ter, Schweden und Dänen ordneten Per- sonal ab. Frankreich und die Bundesre- publik haben sich dagegen bislang mit materieller Hilfe zurückgehalten. Schon als Leiter einer Untersuchungs- kommission über den Mißbrauch der Staatsgewalt in Südafrika hat sich Gold- stone von der „naiven Vorstellung“ ver- abschiedet, nur psychisch Gestörte könn- ten Greueltaten gegen ihre Mitmenschen begehen: „Gestern galt es in Deutsch- land, heute gilt es für Ex-Jugoslawien: Oft sind es die ganz normalen Menschen, die sich an den Brutalitäten beteiligen.“ An einem weiteren Arbeitsplatz, der ihn demnächst in Arusha in Tansania er- wartet, wird sich diese Erkenntnis aber- mals bestätigen. Denn die Vereinten Na- tionen haben den Südafrikaner auch zum Chefankläger eines Ruanda-Tribunals bestellt. Dort soll sich Goldstone darum kümmern, die Anführer des politisch ge- planten Völkermords zur Rechenschaft zu ziehen. Nur die kleinen Mörder und Schlächter bleiben den nationalen Ge- richten überlassen. Der Traum von Staatsanwalt Gold- stone aber ist ein permanentes Interna- tionales Strafgericht, das die Verstöße gegen Menschenrechte in allen Staaten der Welt „unabhängig von politischen Einflüssen“ ahndet. Doch eine solche Instanz müßte, an- ders als das Jugoslawien- und das Ruan- da-Tribunal, nicht nur vom Uno-Sicher- heitsrat, sondern von der Vollversamm- lung der Vereinten Nationen beschlossen werden. Es ist kaum zu erwarten, daß et- waRußland, China, die Türkei oder auch Zaire für ein Gericht stimmen, das ihre politische oder militärische Führung ver- folgen könnte. Y

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hat vielen Amerikanern schlagartig gezeigt, daß aus den Hirngespinsten der konservativen Anarchos schrecklicher Ernst werden kann. Auch vorigen Donners- tag hatten die Suchtrupps noch längst nicht alle Lei- chen aus dem zerstörten Gebäude bergen können, in dem eineinhalb Dutzend Bundesbehörden ihre örtli- chen Filialen untergebracht hatten. Mutmaßliche Kom- plizen des verhafteten Ti- mothy McVeigh, der in ei- nem Leserbrief an die Hei- matzeitung schon vor drei Jahren mit einem blutigen Kampf gegen „das System“ rechnete, befanden sich noch immer auf der Flucht. Die Schockwellen des

C. HOWE / SYGMA Attentats erschütterten Milizionäre beim Schußwaffentraining: „In den Kopf, in den Kopf“ Washington. In der Bun- deshauptstadt, für die pa- Nation angeblich ihrem Armageddon triotischen Rechtsradikalen Sitz des Bö- USA entgegenfiebert, möchte er seine sen, bahnte sich eine Auseinanderset- „Gemeinschaft des christlichen Bundes“ zung um die politischen Ursachen des mit Überlebenskursen auf die Endzeit heimischen Terrorismus an, die Präsi- vorbereiten. dent Bill Clinton unverhofft gegen die Kainsmal Den Feind wähnt Gritz („Ich sehe al- übermächtigen Republikaner zu stärken les aus der Guerrilla-Perspektive“) vor schien. Überzeugend konnte sich Clin- allem in der Washingtoner Regierung. ton als Wahrer eines Staats präsentie- der Rechten Deren Agenten fürchtet er genauso we- ren, der von seinen radikalen Gegnern nig wie die vietnamesischen „gooks“, in Kampfsportgruppen sowie Milizen- Das Massaker von Oklahoma City denen er noch lange nach Kriegsende verbänden verteufelt und nun sogar mit löste einen politischen Schock aus. mit handstreichartigen Aktionen zuset- mörderischen Waffen bekämpft wird. zen wollte. Das Massaker im „Land der Freien“, Republikaner sehen sich als geisti- Gritz ist einer der prominentesten wie US-Amerikaner ihre Heimat in der ge Brandstifter verdächtigt. rechten Ultras, die aus ihren Refugien Nationalhymne besingen, könnte zum in unwegsamen Bergregionen Staat und Kainsmal der gesamten konservativen Gesellschaft den Krieg erklärt haben. Rechten werden. Denn hinter dem An- lmost Heaven“ – beinahe der Him- Und die Bombe von Oklahoma City schlag von Oklahoma City wurde ein mel – nennt James „Bo“ Gritz sein ganzes Netz staatsfeindli- A270 Hektar großes Wald- und Hü- cher, gewaltbereiter Fana- gelgelände, das er seit Anfang vorigen tiker sichtbar; ihre Angrif- Jahres im Nordwesten von Idaho zusam- fe auf die Washingtoner mengekauft hat. Gut 2500 Dollar hat er Bundesregierung rechtfer- für einen Hektar bezahlt. tigen sie mit Argumenten, Nur wenige Schotterwege erschließen die fatal an die Tiraden ein- dieses Paradies, das Gritz in zwei und gefleischter Republikaner vier Hektar große Parzellen aufteilte. erinnern. Die Grundstücke finden reißenden Ab- Mit immer neuen Geset- satz – für das Dreifache des Einstands- zen, Bestimmungen und preises. Die Erklärung für den erstaunli- Steuern, behaupten die chen Wertzuwachs: Die Käufer erwer- neuen Staatsfeinde, habe ben nicht nur irgendein Stück Land, sie sich die Washingtoner Re- hoffen auf einen Platz in der Arche No- gierung eine geradezu ver- ah – auf Rettung im Endkampf zwischen fassungsfeindliche Macht- Gut und Böse, den sie nahe glauben. fülle angemaßt. Nun müsse Gritz, Einzelkämpfer in Vietnam und sie mit den gleichen Mit- hochdekorierter Kriegsheld, ist das Vor- teln bekämpft werden wie bild für Sylvester Stallones Filmhelden einst die Tyrannei der briti- Rambo. Der Veteran glaubt an den bal- schen Kolonialherren. digen Untergang der Welt und will seine Beamte von Bundesbe- Anhänger in Idaho um sich scharen. hörden sind in vielen Tei-

Weitab von den städtischen Ballungs- AP len Amerikas, vor allem im zentren, in denen die amerikanische Fanatiker Gritz (1983): Vorbild für Rambo Westen, zur Zielscheibe

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für die Paranoiker geworden. Morddro- Clinton der Bundespolizei FBI mehr hungen, Bombenanschläge und verein- Rechte für den Antiterror-Kampf im In- zelt sogar Festnahmen durch lokale Po- neren geben will. Den Erzkonservati- lizeibehörden haben dazu geführt, daß ven, die Gingrich im November für sei- manche Washingtoner Ämter ihre ge- ne Partei einspannte, galt bislang jeder setzlich vorgeschriebenen Aufgaben in Machtzuwachs für zentrale Polizeibe- bestimmten Regionen kaum noch erfül- hörden als Beleg für ihre schlimmsten len können. Befürchtungen. In den eigenbrötlerischen Rocky- Gelingt es den Demokraten, republi- Mountains-Staaten hat die Forstverwal- kanische Staatsverleumdung, den Haß- tung ihre Angestellten angewiesen, nur Talk konservativer Radiomoderatoren noch zu zweit zu reisen und stets Funk- und die Gewaltaufrufe fanatischer Mili- kontakt mit der nächsten Dienststelle zu zionäre in direkten Zusammenhang zu halten. Fischereibeamte tragen spezielle bringen, droht der parlamentarischen Mehrheitspartei schwerer Schaden. Denn dann stünden gerade jene Kräfte Stimmenfang mit als ideologische Brandstifter da, die sich immer schärferen Parolen bislang als Kämpfer für die wahren Wer- te Amerikas aufgespielt haben. gegen Washington Und bitter rächen könnte sich, daß konservative Republikaner gern die Nä- Karten mit den Telefonnummern der he von Talkshow-Prominenten wie dem nächsten Bundesstaatsanwälte bei sich – Ex-Watergate-Einbrecher Gordon Lid- für den Fall, daß sie vom örtlichen Sheriff dy gesucht haben. Der hatte seinen Hö- „bei der Ausübung ihres Amtes auf öf- rern erst kürzlich geraten, beim Kampf fentlichem Grund festgenommen wer- gegen Bundespolizisten mit der Waffe in den“. der Hand nicht auf den meist von kugel- „Hier draußen ist es wirklich hart, ein sicheren Westen geschützten Körper zu Bundesbeamter zu sein“, erklärt John zielen: „In den Kopf, in den Kopf“ müß- Freemuth, Politologe der Universität ten sie schießen. von Boise, Idaho; durch tägliche Anfein- dungen „fühlen sich Washingtons Ver- treter eingeschüchtert, isoliert und ent- mutigt“. Am wachsenden staatsfeindlichen Un- mut sind die Republikaner nicht unschul- dig. Wut auf Washington, von ihnen mit- geschürt, hat der Partei bei den Wahlen im November die Macht im Kongreß ein- getragen. Seit Ronald Reagan es geschafft hat, sich seinen Wählern Anfang der achtzi- ger Jahre glaubwürdig zugleich als Präsi- dent und als prominentester Regierungs- gegner zu präsentieren, sind seine Partei- freunde mit immer schärferen Parolen gegen Washington auf Stimmenfang aus- gezogen. Lautstarke Unterstützung erhielten sie dabei von einem Heer konservativer Ra- diomoderatoren, die in ihren Talkshows oft nur ein Thema variieren – den Haß auf „die da oben“. Die ständige Hetze, klagt nun Präsident Clinton, habe in Oklahoma City bittere Frucht getragen. Das Entsetzen über das Attentat hat

einen Stimmungsumschwung bewirkt. TRIPPETT / SIPA Die verstümmelten Leichen der Kin- Republikanerführer Gingrich der sowie der unermüdliche Einsatz Emotionen angeheizt der staatlichen Helfer diskreditieren ein Kernelement des republikanischen Viele republikanische Wähler, für Glaubensbekenntnisses, nach dem eben die Einzelkämpfer Bo Gritz bisher ein dieser Staat mit seiner ausufernden Bü- Held war, sind schockiert über das Kli- rokratie die Wurzel allen Übels sei. ma des Hasses und der Verachtung. Oklahoma City, schreibt David Broder Der Bombenanschlag von Oklahoma, in der Washington Post, „könnte Auslö- triumphierte der Rambo aus Idaho zy- ser für die nächste politische Wende nisch, sei ein Meisterwerk gewesen, sein“. „ein wahrer Rembrandt, ein glänzen- Schon jetzt ist klar, daß sich die Repu- des Zusammenspiel von Naturwissen- blikaner nicht widersetzen können, wenn schaft und Kunst“. Y

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Frankreich Großes Pardon Die Gaullisten zittern vor dem Finale: Ihr Favorit Chirac ist ange- schlagen, und der Rechtsradikale Le Pen spielt den Königsmacher.

er neue Präsident, der Europas äl- teste Nation ins nächste Jahrtau- Dsend führen soll, wird dank der Verfassung mit der Macht eines absolu- tistischen Herrschers ausgestattet und darf sich privat einer für westliche De- mokratien beispiellosen höfischen Pracht erfreuen. Nur: Als Symbol des nationalen Wil- Frankfurter Allgemeine lens wird sich Frankreichs künftiges Staatsoberhaupt nicht fühlen können. ten Anlauf auf die „magistrature su- Führer des Front national (FN), Jean- Die Ära der Giganten der Fünften Re- preˆme“ gar nur auf jämmerliche 20,8 Marie Le Pen, 66. Der lag mit 15 Pro- publik ist dahin – adieu! de Gaulle, Prozent, knapp einen Punkt mehr als zent nur dreieinhalb Punkte hinter dem adieu! Mitterrand. 1988. Die damalige Erkenntnis seiner ausgeschiedenen Premier Edouard Bal- Nie zuvor in der gaullistischen Repu- Frau Bernadette: „Die Franzosen mö- ladur. blik sind Thronanwärter mit so kleinem gen meinen Mann nicht“, bleibt aktuell. Der Rassist, der in Marseille und sie- Anhang aus dem Volk, mit so wenig Vierzig Prozent der Franzosen – ein ben Departements die beiden Gaullisten Charisma und Zutrauen in ihre Reform- Rekord – kehrten den großen politi- und Jospin abhängte, hat nun gute kraft vor den Toren des Elyse´e aufge- schen Parteien den Rücken und wähl- Chancen, mit seinem Stimmenpotential taucht wie der Gaullist Jacques Chirac, ten vornehmlich radikale Randpartei- den Elyse´e-Prätendenten Zugeständnis- 62, und der Sozialist Lionel Jospin, 57. en; besonders bedenklich: Rund 20 se abzutrotzen. Sein Preis ist die Verän- Die beiden fechten am 7. Mai den Prozent liefen den Rechtsextremen zu. derung des Wahlrechts. Der Front na- Kampf um das Siebenjahresmandat an Und beinahe jeder vierte Franzose – tional möchte zurück zur Verhältnis- der Staatsspitze aus. noch ein Rekord – ging vor lauter Frust wahl; damit stünde Le Pen die Rück- Der Überraschungssieger des ersten gar nicht erst zur Wahl. kehr in die Nationalversammlung offen, Wahlgangs, Jospin, stoppelte 23,3 Pro- Zu wenig und zu spät hat Frankreichs in der er bereits einmal mit 34 Abgeord- zent zusammen; sein linker Lehrherr politische Elite sich darauf eingestellt, neten saß. Franc¸ois Mitterrand war mit Vertrau- daß die Nation „aufgebracht, beunru- Schon bot der gaullistische Innenmi- ensquoten von bis zu 43 Prozent zum Fi- higt, unwohl in ihrer Haut“ ist, so die nister Charles Pasqua dem Rechten be- nale angetreten. Und Chirac, der selbst- Diagnose von Le Monde. Betreten flissen eine „Dosis Verhältniswahlrecht“ ernannte Enkel de Gaulles, von den De- müssen die großen Parteien jetzt zuse- an. Und der sonst so ehrpusselige Sozia- moskopen fälschlich auf bis zu 27 Pro- hen, wie sich ein Rechtsextremist als list Jospin wehrte sich in der stillen zent veranschlagt, kam bei seinem drit- Königsmacher aufplustern kann: der Hoffnung auf FN-Stimmen nicht gegen das vergiftete Lob des Rassisten, er sei Die letzten drei Präsidentschaftswahlen in Frankreich „respektabel“. Rechnerisch bleibt 1981 1. 2. 1988 1. 2. 1995 1. letzte Chirac hoher Elyse´e- wahlgang wahlgang wahlgang umfrage Favorit: Das Verhält- Mitterrand 25,8% 51,8% Mitterrand 34,1% 54,0% Chirac 20,8% 55,0% nis von Rechten zu Giscard d’Estaing 28,3% 48,3% Chirac 19,9% 46,0% Jospin 23,3% 45,0% Linken wird in Frank- reich auf rund 60 zu 40 Quelle: BVA veranschlagt. Aber nach dem Superflop der Demoskopen vor dem ersten Durch- gang – kein Institut hatte Jospin den er- sten Platz prophezeit – mißtrauen die Parteistrategen jeder Wahlarithmetik. Der Jospin-Schock hat die Konserva- tiven verunsichert; der Sozialdemokrat hat mit dem Image von Ehrbarkeit in 15 von 22 französischen Regionen die bei- François Mitterrand Valéry Giscard d’Estaing Jacques Chirac Lionel Jospin Sozialist Liberalkonservativ Gaullist Sozialist den gaullistischen Kandidaten über- trumpft. So warnte der gaullistische Prä-

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„Eine wohlverdiente Backpfeife“ Das Elsaß wurde zu einer Hochburg des rechtsradikalen Front national

enn die Araber beim Rathaus In der Rezession gingen Industrie- im Sundgau, im Nordelsaß und am Schlange stehen, benutzen arbeitsplätze verloren. Das traf be- Rand der Vogesen, in den herausge- Wsie nie den Vordereingang“, sonders die Einwanderer und putzten Bauerndörfern, mächtig zu- ereifert sich ein Gast im Cafe´du Flüchtlinge, die in den engen Wohn- legten. Dort, woes weder Arbeitslose Pont. „Die holen sich ihr Kuvert mit silos am Stadtrand leben – „Cite´ noch verschleierte Frauen gibt, „ist der Stütze diskret an der Hintertür Poubelle“, Mülltonnen-Stadt, nen- das kein Problem der sozialen Be- ab.“ Die Wirtin fügt hinzu, daß sie nen die Einheimischen das Ghetto. nachteiligung und der Verzweiflung“. dabei „mit dem Mercedes“ vorfah- Um das Elend zu entschärfen, be- So stimmten im malerischen ren. müht sich Bockel seit Jahren um die Riquewihr bei Colmar, in dessen Kel- Als Ausländerhasser empfinden Integration der Immigre´s: Er führte lern sich deutsche Touristen gern zur sich die beiden keineswegs – wie die Beiräte ein, in denen die Zuwande- Weinprobe drängen, 142 von 636 meisten Wähler, die vorigen Sonn- rer mitreden können, und erhöhte Wählern für Le Pen: 22,3 Prozent. tag in Mülhausen dem rechtsex- das Budget für Sozialwohnungen – „Ein bestimmtes Gedankengut“ tremen Präsidentschaftskandidaten ganz in der Tradition der Stadt, de- habe die Bauern erfaßt, vermutet Jean-Marie Le Pen zu einem Spit- ren Behörden seit 1908 gesetzlich Bockel. Der Straßburger Politologe zenplatz verhalfen. Etwa jede vierte Stimme ging im Elsaß an den Führer des Front national – rund zehn Pro- zent mehr als im Landesdurch- schnitt. Schon bei den Präsidentenwahlen vor sieben Jahren war Le Pen zwi- schen Vogesen und Rhein mit sei- nen populistischen Parolen hinter Franc¸ois Mitterrand auf den zweiten Platz gestürmt. Verstört beteuerten die Lokalpolitiker damals, ab sofort werde niemand mehr über die Köpfe der Leute hinweg regieren. „Alles leere Versprechen“, meint der Cafe´- Besucher. „Die machten unverdros- sen weiter, wie sie wollten.“ Im Elsaß hält sich die bürgerliche Rechte seit 50 Jahren ununterbro- chen an der Macht. Die Kommuni- sten blieben ohne Einfluß; Soziali- sten sind höchstens in großen Städ-

ten als Bürgermeister geduldet. Auf T. ORBAN / SYGMA den höheren Ebenen der Departe- Rechtspopulist Le Pen: Hang zu autoritären Systemen ments und der Regionen sind die Parteihonoratioren beim Kungeln verpflichtet sind, jeden Notleidenden Richard Kleinschmager beobachtet und Repräsentieren ganz unter sich. zuunterstützen, ganz gleich, woher er „einen Hang zu autoritären Syste- „Das Elsaß ist eine rechte Regi- kommt. men“, eine Neigung „zur germani- on“, interpretierten die Straßburger Doch bei den Kantonalwahlen vor schen Kultur“ und denkt an das ewige Dernie`res Nouvelles d’Alsace das einem Jahr entging Bockel haarscharf Identitätsproblem der Elsässer, die in Wahlergebnis; jetzt sei es gar eine einer Niederlage. Und am letzten den letzten 125 Jahren viermal ihre „Festung der extremen Rechten“. Sonntag gab fast jeder dritte Wähler Nationalität wechseln mußten. Jean-Marie Bockel, Sozialist und im Mülhauser Norden Le Pen seine Im Cafe´ aux Deux Clefs im Sund- seit 1989 Bürgermeister von Mül- Stimme. gauer Dorf Kappelen grinsen die hausen, hat versucht, das zu ändern. Der Bürgermeister, für den es Mit- Bauern über die städtischen Klug- Rund 22 000 der 110 000 Einwohner te Juni bei den Kommunalwahlen scheißer. Die Wahl Le Pens sei für die seiner Stadt sind Ausländer, die mei- ums politische Überleben geht, hat bürgerlichen Politiker „eine Mords- sten stammen aus Nordafrika. Sie dafür sogar Verständnis: „Hier gibt es backpfeife, eine wohlverdiente“. füllten in den letzten 20 Jahren an doppelt so viele Arbeitslose wie im Scham empfinden die Zecher Fließbändern und Webmaschinen je- übrigen Elsaß, und die Zahl der Aus- nicht. Das Vergnügen, den Politikern ne Lücken, die entstanden, als im- länder ist mit die höchste in ganz einzuheizen, wollen sie sich bewah- mer mehr Elsässer bei den Nachbarn Frankreich.“ ren: „Schade, daß Le Pen nicht in die in der Nordwestschweiz und in Süd- Bockel beunruhigt mehr, daß die Stichwahl kam. Erst das hätte einen baden besser bezahlte Jobs fanden. Rechtsextremen auch auf dem Land, richtigen Aufruhr verursacht.“

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sident der Nationalversammlung und Chirac-Freund Philippe Se´guin denn auch: „Jospins Sieg ist möglich.“ Chirac braucht zum Erfolg eine fest ge- schlossene Rechte – eine gute Portion FN-Marschierer inbegriffen. Die bloße Vorstellung, daß nach zweimal sieben Jahren Mitterrand mit Jospin wieder ein Sozialist in den Elyse´e einziehen könnte, läßt Konservative und Liberale erschau- ern. Deshalb üben sich Chirac- und Balla- dur-Anhänger, die einander noch vor we- nigen Tagen als „Politiker von gestern“, „Amateure“ oder „Tatsachenverdreher“ beschimpft hatten, nun im großen Par- don. Kaum stand seine Niederlage fest, trat „Doudou“ Balladur heroisch vor die TV-Kameras und gelobte: „Im zweiten Wahlgang werde ich für Jacques Chirac stimmen, und ich fordere alle auf, die mich unterstützt haben, dasselbe zu tun.“ Buhrufer pfiff er an: „Schweigen Sie!“ In seinem Hauptquartier an der Ave- nue d’Ie´na stürzte der durch Jospins Überflug völlig verstörte Chirac ans Tele- fon: „Edouard, ich danke Ihnen.“ Zwei- mal haben die Konservativen gegen Mit- terrand verloren, weil sie sich zerstritten Die Kommunisten ködert Jospin mit Angeboten von Ministerposten

präsentierten. Vor seinem Chirac-feind- lichen Anhang mahnte Balladur: „Ich möchte nicht noch einmal erleben, was sich 1981 und 1988 abgespielt hat.“ Der Ruf fand Gehör: Der zu Balladur übergelaufene Innenminister Pasqua kehrte an die Seite Chiracs zurück; Scharen von Balladurianern aus Kabi- nett und Parlament, die um ihre Posten bangen, folgten ihm. Der Angst der Rechten entspricht die Hochstimmung der Linken. Selbst Mit- terrand, der sich bisher aus dem Wahl- kampf herausgehalten hatte, gratulierte seinem früheren Erziehungsminister Jo- spin. Um Wähler aus der Mitte anzuzie- hen, hat Jospin sich den populären frü- heren Chef-Europäer Jacques Delors als Wahlhelfer verpflichtet. Dessen Tochter Martine Aubry könnte Regierungs- chefin unter Jospin werden. Die Kommunisten köderte er mit An- geboten von Ministerposten. Vorigen Mittwoch beschloß die KP-Spitze, Jo- spin zu unterstützen; allerdings nur, wie Parteichef Robert Hue seine Abneigung gegen den Sozialdemokraten verbräm- te, um „uns dem verheerenden Pro- gramm der Rechten entgegenzustellen“. Eine gute Chance, seinen Schwung aufrechtzuerhalten, bietet sich dem Linkskandidaten am kommenden Dienstag. Da tritt der gewandte Debat- tierer im traditionellen Fernsehduell der

156 DER SPIEGEL 18/1995 Elyse´e-Finalisten gegen den oft um- ständlich argumentierenden Chirac an. Dafür hat der Gaullist seinem Kontra- henten die Erfahrung eines TV-Kandi- datengefechts voraus – 1988 gegen Mit- terrand. Der psychologische Druck ist immens: Ein richtiges Lächeln, ein fal- scher Zungenschlag können Wählermas- sen umstimmen. In ihrem sofort wieder aufgenomme- nen Wahlkampf mühen sich die Kontra- henten, die zu radikalen Parteien geflo- henen „Verzweiflungswähler“ (Se´guin) wieder einzufangen. 8,64 Prozent, 2 Pro- zent mehr als bei der Elyse´e-Wahl 1988, votierten für die schon totgesagte KPF; 5,3 Prozent, doppelt soviel wie vor 21 Jahren, liefen der Trotzkistin Arlette La- guiller zu – einmalig in Europa. Frank- reichs gesellschaftliche Zersplitterung in partikulare Interessengruppen hat eine politische Zerstückelung bewirkt, die wenig Stabilität verheißt. Auf diese labile Situation ist Jospin (neuer Slogan: „Der Präsident der wah- ren Veränderung“) mit seiner „sozialisti- schen Dynamik“ aus Arbeitszeitverkür- zung, höherer Besteuerung von Kapital- erträgen und sozialem Wohnungsbau besser eingestellt als sein Widersacher; der Linke kann seinen Wahlkampf ohne Bruch fortsetzen. Er wird versuchen, das „Volk der Linken“ komplett hinter sich zu bringen, ohne jene bürgerlichen Libe- ralen zurückzustoßen, denen Chirac zu rechts ist. Chirac, der seinen Ansturm auf den Elyse´e mit einem Linksdrall begonnen hatte, muß dagegen auf die bürgerlich- katholische Klientel seines ungeliebten Verbündeten Balladur Rücksicht neh- men. Im Klartext: mehr Europa, weni- ger linke Flirts. Der Pariser Bürgermei- ster hat schon mehrfach durch Kehrt- wenden Verwirrung bei Freunden und Spott bei Feinden provoziert. Der Gaul- list ändere „von Tag zu Tag seine Positio- nen“, höhnte Jospin. Balladurs Solidaritätseinsatz für den Parteifreund ist befristet – er endet mit der Wahl am 7. Mai. Daß er auf der Ziel- geraden zum Elyse´e nicht dabei ist, hat den Premier schwer getroffen; aber in- nerhalb des rechten Lagers fühlt er sich – bei nur zwei Prozent Abstand zu Chirac – weiter als ebenbürtiger Führer. Balladur vor jubelnden Fans: „Ich bewahre meine Rolle in der nationalen Politik.“ Ein von Chirac angebotenes Gespräch unter vier Augen lehnte der Ex-Kandi- dat mit altem Hochmut ab. Er will dem Rivalen – Zeichen seiner Führerrolle – nur mit großer Delegation gegenübertre- ten. Im Wahlkampf hatte Chirac vor einem „Balladur-Staat“ gewarnt; jetzt muß er sich vor einer neuen Balladur-Partei fürchten. Die linke Tageszeitung Libe´ra- tion über das Verhältnis der beiden: „Die Wunde blutet noch.“ Y

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ein, um ihn nach Moskau zu überführen Kriminalität und zu weiteren mysteriösen Fällen zu befragen. Seine Opfer waren meist ledige Frau- en, denen der „Sexmanjak“ auflauerte, „Ein Wolf, der Blut trinkt“ um sie mit dem Messer zu töten. Sein Handwerk betrieb er umsichtig; zum SPIEGEL-Redakteurin Martina Helmerich über den kasachischen Zerteilen der Leichen trug er in einem Frauenmörder und Kannibalen Nikolai Dschumagalijew Rucksack stets das nötige Werkzeug mit sich: ein Beil, einen Satz verschiedener Messer und Verpackungsmaterial. Zu Hause in seinem Heimatdorf Usu- nagatsch bei Almaty drehte er manch- mal Leichenteile durch den Fleischwolf. Ahnungslose Gäste soll er mit Maulta- schen bewirtet haben, die mit dem Fleisch seiner Opfer gefüllt waren. Den getöteten Frauen schnitt er manchmal die Brüste und Wadenmus- keln ab. Gelegentlich pökelte er die Körperteile oder dörrte das Fleisch auf dem Dachboden. Die abgeschabten Knochen vergrub oder verbrannte er. Weil er wußte, daß Zähne erst bei Temperaturen um 800 Grad zerstört werden, zermalmte der handwerklich geschickte Mann diese verräterischen Reste seiner Opfer, um jede Spur zu verwischen. Wenn es stimmt, was die Ermittler ihm vorhalten, dann ist der Fall Dschu- magalijew auch ein Justizskandal, der in den Wirren der zerfallenden Sowjetuni- on möglich geworden war. Denn der Mann, der seit Ende März in Bischkek einsitzt, war schon einmal gefaßt wor- den – 1980, als Bekannte ihn bei seinem

R. PODERNI monströsen Treiben überraschten. Häftling Dschumagalijew, SPIEGEL-Redakteurin*: „Ich bin Jäger“ In seinem Elternhaus fand die Miliz damals einen unbekleideten Frauenkör- ber dem Schreibtisch des Polizei- getötet haben, darunter 47 Frauen, die per auf dem Bett im Schlafzimmer. leutnants Iramis Seinalow hängt er zerstückelt und teilweise gegessen Kopf und Hände waren abgetrennt. Ünoch immer das Porträt des be- hat. Das Blut der Ermordeten hatte sich in rüchtigten Geheimdienstgründers Felix Zwei Polizeibeamte bringen den eine große Emailschüssel auf dem Bo- Dserschinski aus den Anfangsjahren der Häftling in einen muffigen, nur mit kar- den ergossen. Nikolai hatte die junge Sowjetunion. Seinalow bekämpft keine gen Pritschen ausgestatteten Raum zum Frau vergewaltigt und mit einem Jagd- Staatsfeinde mehr; normalerweise hat er Verhör. Durch das vergitterte Fenster messer getötet. nur Routinedelikte aufzuklären, kleine fällt kaum Tageslicht in das Verlies. „Das war ein komplexes Ex- Diebstähle und Drogengeschäfte vor al- Der große drahtige Mann antwortet periment“, erzählt Dschumagalijew lem. ruhig und beherrscht. Tiefe Falten in jetzt den schaudernden Beamten in Nun aber beschäftigt sich Seinalow der gebräunten, wettergegerbten Haut Bischkek. „Ich wollte sehen, wie ihre seit Wochen mit einem Fall, der ihn lassen ihn älter aussehen, als er ist. Ein Seele entweicht.“ Auch glaubte er, elektrisiert und den Kriminologen in mehrere Tage alter Bart verschattet sein „erleuchtet und innerlich gereinigt zu ihm herausfordert. Im Untersuchungs- Gesicht. Manchmal lächelt er und ent- werden“, wenn er Menschenblut trinke. gefängnis der kirgisischen Hauptstadt blößt dabei die silbrig glänzenden Me- 1980 wurde ihm in Almaty der Pro- Bischkek befindet sich Nikolai Dschu- tallstifte, die seine vorderen Schneide- zeß gemacht. Gutachten erklärten ihn magalijew, 43, in Obhut der Justiz. zähne ersetzen. für geisteskrank, das rettete ihn vor ei- Überall hier ist er als „Kolja, der Men- Innere Unruhe verrät nur ein Muskel, nem Todesurteil. Nur in sieben Fällen schenfresser“ bekannt. der in der rechten Wange unentwegt gelang es, die Spuren seiner Bluttaten „Er ist ein Kannibale, ein Vampir. zuckt. Mal stützt er seine schweren Hän- sicherzustellen. Die Suchaktion nach Wie ein Wolf hat er das Blut seiner Op- de auf die Knie, dann verkrampft er sie Knochen und Leichenteilen dirigierte fer getrunken. Aus der Hüfte einer Frau hinter der Rückenlehne des Verneh- Dschumagalijew persönlich. „Ich war schnitt der Mörder ein Stück Fleisch und mungsstuhls. der leitende Archäologe“, brüstet er aß es in rohem Zustand“, erregt sich Dschumagalijew hat bisher zehn Mor- sich heute. Seinalow. „Es wäre besser, Dschumaga- de zugegeben, die er in seiner Heimat Das Gericht ließ ihn 14 Jahre in eine lijew umzubringen.“ Kasachstan verübte. Diese Woche traf Nervenheilanstalt einweisen. Doch 1989 Seine russischen Kollegen in Moskau eine Fahndungskommission des russi- konnte er seinen Bewachern auf dem halten den Häftling gar für den schen Innenministeriums in Bischkek Flughafen von Bischkek entwischen, als „schlimmsten Killer, den die Welt je ge- er in eine Spezialklinik nach Taschkent sehen hat“. Er soll über 100 Menschen * Martina Helmerich im Gefängnis von Bischkek. überstellt werden sollte. Danach tauch-

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te er zwei Jahre unter; mehrere Monate klettert; der wachhabende Soldat stellte werde dich töten und deine Frau aufes- hielt er sich in Moskau auf, wie abgefan- den Eindringling, der gefälschte Papiere sen.“ gene Briefe bewiesen. bei sich trug. Die Polizei hielt ihn zu- Auch Kuban Saberkulow, dem Ge- Dschumagalijew habe während dieser nächst für einen Landstreicher, bis ein fängnisleiter von Bischkek, ist der pro- Zeit wahrscheinlich „zwei Frauen pro Untersuchungsrichter in ihm den be- minente Häftling nicht geheuer. „Er hat Woche getötet“, glaubt in Moskau rüchtigten „Menschenfresser Kolja“ er- etwas Dämonisches“, sagt Saberkulow. Oberst Jurij Dubjagin, der seit Jahren kannte. „Solche Leute gehören auf den elektri- im Fall des Serienmörders ermittelt. Mit elf Mithäftlingen teilt Nikolai schen Stuhl, wie in Amerika.“ Erst 1991 wurde er im usbekischen jetzt eine acht Quadratmeter große Haß auf Frauen habe ihn getrieben, Fergana wieder festgenommen. Kaum Zelle im Untersuchungsgefängnis von gibt Dschumagalijew heute als Motiv zu glauben: Im Januar 1994 kam Dschu- Bischkek. Die anderen wissen nichts an: „Sie sind alle Schlampen und Ehe- magalijew endgültig frei, angeblich, weil über sein Vorleben. „Die Männer wür- brecherinnen.“ Irgendwann habe er be- seine Schwester den behandelnden Arzt gonnen, sich als „Kämpfer ge- bestach. Der Mediziner erklärte bei der gen das Matriarchat“ zu be- Entlassung Dschumagalijews: „Eine greifen, als ein Mann, der das Garantie, daß er geheilt ist, kann ich „weibliche Geschwür in der nicht geben.“ Gesellschaft“ austilgen müsse. Die Freilassung des „Ungeheuers“ Den ersten Mord verübte hält Dubjagin schlicht für „Wahnsinn“. der ehemalige Fallschirmsprin- Aber im usbekischen Taschkent fühlten ger und Feuerwehrmann 1978 sich die Behörden für den unheimlichen an einem 26 Jahre alten Mäd- Patienten nicht mehr verantwortlich. chen aus dem Nachbardorf Fa- „Wir hatten keinen Platz für ihn“, sagt britschnoje. Er überfiel sie der Arzt Robert Babajew. „Er ist jetzt nachts, als sie von der Arbeit Bürger eines anderen Staats, sollen die nach Hause ging. Den Rumpf kasachischen Behörden sich doch um zu zerteilen und Arme und ihn kümmern.“ Beine abzutrennen fiel ihm In seinem Heimatdorf mieden die nicht schwer. Dschumagalijew: Nachbarn den Freigelassenen. Kolchos- „Ich bin Jäger und kenne mich melkerinnen, die ihre Schicht in der in Anatomie gut aus.“ Die Lei- Früh um vier antraten, forderten von chenteile vergrub er in einem der Polizei Begleitschutz. Aus Furcht Wald. vor neuen Bluttaten schloß ihn seine „Ich verspürte danach eine große Erleichterung“, sagt er. „Es war, als hätte ich eine Schuld beglichen.“ Im Ab- stand mehrerer Monate kamen die nächsten Opfer an die Rei- he, darunter auch seine Ge- liebte. Die Bluttaten zeigten die von Dschumagalijew ge- wünschte Wirkung. „Die Frau- en begannen sich plötzlich zu Opfer des Frauenmörders fürchten, sie hörten auf, Beil im Rucksack abends auszugehen und mit anderen herumzuhuren“, sagt den in Panik ausbrechen und ihn er- er. „Ein Mann im Haus war plötzlich et- schlagen, wenn sie erführen, wer er ist“, was wert, denn der sollte sie nun be- sagt der Polizeibeamte Seinalow. Ein- schützen.“

R. PODERNI zelzellen gibt es nicht. Dschumagalijew hofft jetzt darauf, Beschuldigter Dschumagalijew Oberst Dubjagin fahndet derzeit nach daß sich westliche Seelenärzte für ihn in- Flucht in die Berge der Herkunft von Menschenfleisch, das teressieren; in Rußland, wo ihm die To- Anfang dieses Jahres von Landstrei- desstrafe drohen würde, sei für ihn kein Mutter oft tagelang im Haus ein. Denn chern in Chabarowsk und Tschita wie Platz mehr. auch nach so langer ärztlicher Behand- Schweinefleisch zum Verkauf angebo- Oberst Dubjagin in Moskau will ihm lung kam ihr der Sohn „nicht ganz nor- ten wurde – fein portioniert in Plastik- mit Hilfe eines Hypnotiseurs weitere mal“ vor. beutel verpackt. Der Oberst argwöhnt, Geständnisse entlocken. Nach seiner Schließlich floh Dschumagalijew, der darin „die Handschrift Dschumagali- Ansicht übertrifft der Frauenhasser Anfeindungen leid, in die nahen Berge. jews“ zu erkennen. Die Landstreicher noch den Rekord des Massenmörders Über ein Jahr lang hauste er allein in ei- behaupten, ihre Ware „irgendwo gefun- Tschikatilo aus Rostow am Don, der 52 ner Höhle und lebte von Beeren. den“ zu haben. Menschen umgebracht hat. Dschumagalijew: „Ich ernährte mich Wie gefährlich Dschumagalijew wer- Seine Mutter Marija hat ihn versto- rein vegetarisch.“ Menschen habe er in den kann, hatte Dubjagin vor einigen ßen: „In meinem Haus ist für ihn kein seiner Einsiedelei kaum zu Gesicht be- Jahren am eigenen Leib erlebt: Als dem Platz mehr.“ Lange genug habe man sie kommen. Frauenmörder bei einem Verhör die im Dorf als „Mutter des Menschenfres- Ende März dieses Jahres tauchte Handschellen abgenommen wurden, sers“ gemieden. Sie habe ihre vier Kin- Dschumagalijew im benachbarten Kirgi- stürzte er sich auf den Polizeioffizier der anständig erzogen, doch irgendwann sien wieder auf. Betrunken war er über und schlug ihm zwei Zähne aus. Nach sei es „dunkel in Koljas Kopf“ gewor- den Zaun einer Regierungsdatscha ge- seiner Überwältigung drohte er: „Ich den. Y

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Durch die Buchhalterprüfung, keine Für seine „Vermittlertätigkeit“, be- Großbritannien schwierige Klippe im britischen Bil- haupten britische Blätter bis heute un- dungssystem, rasselte der Sprößling Jah- dementiert, soll er bis zu 30 Millionen re später gleich dreimal. Während Mar- Mark Provision kassiert haben. Saudi- garet Thatcher bei den Tories an die Unterhändler Adnan Kaschoggi lobte Mumsies Parteispitze drängte, trieb sich Mark auf den kurzen Draht ins Londoner Macht- internationalen Rennpisten herum; feh- zentrum: „Wenn wir Fragen hatten, lendes Talent versuchte er durch rück- konnte Mark zu seiner Mutter gehen.“ Liebling sichtslosen Fahrstil wettzumachen. Nun drohen Margaret Thatcher, von Dennoch hat es der Autorowdy ganz der Queen längst zur Baronin geadelt, Fragwürdige Geschäfte ihres ver- schön weit gebracht: Mark Thatcher, neue Enthüllungen über die Verquik- hätschelten Sohnes Mark bringen heute 41, gilt als überaus erfolgreicher kung ihrer Staatsgeschäfte mit dem fi- Geschäftsmann, sein Privatvermögen nanziellen Fortkommen des Filius. Was Margaret Thatcher in Verruf. wird auf über 50 Millionen Mark taxiert. politische Gegner jahrelang vergebens Vom texanischen Wohnsitz Dallas aus versuchten, könnte ausgerechnet Lieb- weimal nur in ihrer elfjährigen dirigiert der zweifache Vater, verheira- ling Mark herbeiführen: ihren Ruf als Amtszeit verlor Margaret Thatcher tet mit der deutschstämmigen Millio- unbestechliche und unangreifbare Zöffentlich die Fassung: zuletzt im närstochter Diane Burgdorf, seine welt- Staatslenkerin zu beschädigen. November 1990, als die Konservative umspannenden Aktivitäten. In einem neuen Buch enthüllen die Partei die Regierungschefin über Nacht Der wundersame Aufstieg in die Busi- Journalisten Paul Halloran und Mark schnöde verstoßen hatte. Tränen liefen ness-Elite verblüffte um so mehr, als Hollingsworth, auf welch dreiste Weise über ihr Gesicht, als sie ihr Büro in Thatchers ungehobelte Manieren, ge- sich Mark Thatcher bei seinen Nahost- Downing Street 10 räumen mußte. paart mit der Arroganz der englischen Geschäften der Hilfe seiner Mutter be- diente. In der Entourage der Regie- rungschefin öffneten sich für Thatcher junior bei Staatsvisiten wie selbstver- ständlich Türen, die anderen Geschäfts- leuten versperrt blieben. Anfang der achtziger Jahre überreich- te Mark dem Scheich Sajid, Emir von Abu Dhabi und Präsident der Vereinig- ten Arabischen Emirate, ein Bild mit persönlicher Widmung der Mama: „Ich habe meinen Sohn gebeten, Ihnen auf diesem Wege meine Hochachtung und besten Wünsche zu überbringen.“ Kurz darauf ergatterte Mark Thatcher unter Ausschaltung internationaler Konkurrenz für ein britisches Bauunter- nehmen einen 1,1-Milliarden-Mark Auftrag in Oman, mitfinanziert vom umschmeichelten Ölpotentaten aus Abu Dhabi. Marks geschätztes Honorar: knapp zehn Millionen Mark. Doch seit die schützende Hand der einstigen Regierungschefin nicht mehr so weit reicht, verkümmern auch Marks

REX FEATURES wirtschaftliche Tätigkeiten. In seiner Thatcher-Sohn Mark*: „Niemand versteht den Jungen“ Wahlheimat USA ermitteln derzeit Fi- nanzbehörden gegen ein Thatcher-Un- Am Rande eines seelischen Zusam- Aufsteigerklasse, selbst auf Wohlmei- ternehmen wegen Steuerhinterziehung menbruchs hatten Vertraute die Eiserne nende schnell abstoßend wirken. Zu- in Millionenhöhe. Ein ehemaliger Ge- Lady auch im Januar 1982 erlebt. Da dem erinnert sein Auftreten mit Gold- schäftspartner hat ihn wegen Betrugs war ihr Sohn Mark bei der Rallye Paris– kettchen und Protz-Rolex eher an einen und Diebstahls angezeigt. Dakar verschollen. Sechs bange Tage Vorstadt-Strizzi. Vielleicht hätte Frau Thatcher auf ih- später tauchte der Amateur-Rennfahrer Nur eine weiß, wie empfindsam Mark ren Mann hören sollen. Sir Denis, 79, unversehrt wieder auf – er hatte sich in wirklich ist – seine Mutter: „Niemand der im Schatten der herrischen Lebens- der Wüste „ein bißchen verfahren“. versteht den Jungen, niemand liebt ihn. partnerin seinen drei Leidenschaften Reichlich Grund zu Kummer bot Deshalb bleibt alles an mir hängen, und Golf, Gin und Tabak frönt, warnte Mark im Gegensatz zur Zwillingsschwe- ich muß mich um ihn kümmern.“ schon frühzeitig vor den Aktivitäten des ster Carol den Eltern von Kindesbeinen Das tat sie während ihrer Amtszeit Nachwuchses: Die würden „irgendwann an. Schon im Vorschulalter ließ sich ab- mit großer Beharrlichkeit und soll so ih- mal zu Schwierigkeiten führen“. sehen, daß der Junge keineswegs mit rem verhätschelten Buben, der sie bis Die einstige Premierministerin, blind Mutters Intelligenz gesegnet war. Marks heute öffentlich „Mumsie“ nennt, zu vor Mutterliebe, hält zu ihrem Sohn, erster Schulleiter David Gee erinnert seinen vielen Millionen verholfen ha- den sie nach wie vor für einen „gebore- sich: „Er war nicht gerade clever, um es ben. Als Großbritannien 1985 Flugzeu- nen Geschäftsmann“ hält. Die Hoff- milde auszudrücken.“ ge und Schiffe an Saudi-Arabien ver- nung auf erfolgreiche Erziehungsmaß- kaufte, war Mark, obschon ohne gering- nahmen hat sie allerdings aufgegeben: * 1989 vor Downing Street 10 mit Mutter, Sohn ste einschlägige Erfahrung, an den Ver- „Der Junge wird nicht mehr lernen, bit- und Ehefrau. handlungen beteiligt. te und danke zu sagen.“ Y

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Indochina Der Junge ohne Mund SPIEGEL-Reporter Cordt Schnibben über den Vietnamkrieg und die Odyssee eines Totgesagten

und unterwegs überlegten sie, welcher Vietcong ihnen wohl heute durch die Lappen gegangen war. Das süße Ziga- rettenmädchen? Der bettelnde Greis? Der schnelle Schuhputzer? Der kleine Junge mit den Bums-Fotos? In ihrer Festung hörten sie über Ame- rican Forces Vietnam Network Songs von Jimi Hendrix, den Doors, Wilson Pickett und den Mothers, spielten Gitar- re und Karten, rauchten Cambodian Red oder Lao Green und zeigten sich ih- re Alben mit den immer gleichen Fotos, mit dem Kopf-ab-Foto, dem Ohr-ab-Fo- to, dem Feuerzeug-die-Hütte-brennt- Foto, dem Tote-Vietcongmädchen-oh- ne-Pyjama-Foto. Und während sie dann für ihren Oberbefehlshaber zusammenlogen, wie- viel Schlitzaugen sie am heutigen Tag erlegt hatten, damit dessen Presseleute aus dem beeindruckenden „body count“ LAIF wieder einen erfolgreichen Tag im Kampf gegen die kommunistische Be-

A. KRAUSE / drohung machen konnten, krochen die Kriegsopfer Suong (1995): Sechs Monate zwischen Leben und Tod Vietcong in Vo Suongs Dorf und in an- deren Dörfern Mittelvietnams aus ihren ie Ausgabe der Saigon Giai Wie ein Geist sehe er auf dem Bild Erdlöchern, sammelten die Reisportio- Phong vom 17. April 1995 enthält aus, hat seine Tochter nach einigen nen ein, die die GIs verteilt hatten, ohr- Dfür Vo Suong und seine drei Schrecksekunden gewispert. feigten die Mädchen, die sich von den Töchter eine glückliche Mitteilung: Zwischen Leben und Tod schwebte Eindringlingen hatten umarmen lassen, Der Vietnamkrieg, steht da zu lesen, Suong damals sechs Monate lang, nach- verteilten Medikamente und Waffen sei ein einziger großer Irrtum gewesen, dem unter dem Zwölfjährigen auf dem und Weisheiten, versprachen den Frie- eine Kette folgenschwerer Fehler der Weg zur Schule plötzlich der Erdboden den, die Einheit und die Freiheit und amerikanischen Regierung. Der frühe- aufgebrochen war. Er lebte zusammen verprügelten diejenigen, die sie ver- re US-Verteidigungsminister Robert mit seinen neun Geschwistern und sei- dächtigten, die Prügel der Amerikaner McNamara habe dies in seinen soeben nen Eltern in Vinh Xuan, 30 Kilometer nicht stumm überstanden zu haben, veröffentlichten Memoiren mitgeteilt, südlich von Da Nang, in einem jener oder sie ertränkten sie kurzerhand – je liest Vo Suong. Ob er es seiner zweit- vielen Dörfer in Mittelvietnam, die tags nachdem, wie ihr Tag unter der Erde ge- ältesten Tochter erzählt, weiß er noch den Amerikanern gehörten und nachts wesen war. nicht. Kann eine Siebenjährige das ver- den Vietcong. In so einem Dorf lebte Vo Suong, hat- stehen? Nach Sonnenaufgang schwebten ge- te sich mit dem Geschick eines Kindes Erst vor einer Woche hatte sie wie- wöhnlich die Hubschrauber ins Dorf, den Gesetzen dieses Geländespiels an- der nach dem Krieg gefragt, weil in und die großen weißen Männer durch- gepaßt, haßte weder die einen noch die den Straßen Saigons Transparente auf- wühlten die Hütten nach Partisanen anderen, konnte die Gegner am Klang gehängt wurden zum „20. Jahrestag oder verteilten Kaugummi; sie zerstör- ihrer Gewehre unterscheiden, hatte ge- der Befreiung“. ten die Reisfelder oder schleppten Reis- lernt, Tretminen zu entdecken, und wie Sie hatte auf seine linke Wange ge- säcke heran, auf denen stand „Donated es pfeift, wenn eine Granate auf einen zeigt, die aussieht, als habe vor langer by the people of the United States“; sie zufliegt, wußte nur, daß er, was immer Zeit die Pranke eines grausamen Tie- legten ihre dicken Arme um die Hüften auch passieren sollte, seine beiden Viet- res sie getroffen, und hatte sie noch der Mädchen und ließen sich fotografie- congbrüder nicht verraten durfte – aber mal hören wollen, die Geschichte vom ren; sie zündeten eine Hütte an oder gegen diese Bombe half auch nicht die großen Loch in seinem Gesicht, und er verbanden einem kleinen Jungen den Weisheit eines Kindes. hatte widerwillig das alte Bild tief un- Fuß – je nachdem, wie die Nacht davor Sie kam von jenseits der Wolken, und ten aus seinem Schrank hervorgekramt gewesen war oder wer die Truppe kom- wie Suong nun von McNamara erfährt, und es ihr zum erstenmal gezeigt, die- mandierte oder welche Post sie aus der war sie ein ziemliches Mißgeschick, weil ses Bild, das ein deutscher Fotograf im Heimat bekommen hatten. die amerikanische Regierung spätestens April 1968 auf dem Lazarettschiff Und dann stiegen sie wieder in ihre im Dezember 1967 von der Nutzlosig- „Helgoland“ gemacht hat. Vögel und flogen zurück in ihre Lager, keit weiterer Bombenangriffe überzeugt

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Straßenkämpfe in Saigon (1965): Zu wissen, wie es pfeift, wenn eine Granate auf einen zufliegt T. PAGE / REPORTAGE

war und nach Meinung McNamaras die gem Sand. Er versucht aufzustehen, ihm aus dem Mund und aus den Armen. Truppen zu diesem Zeitpunkt hätten ab- bricht aber nach ein paar Metern zu- Die Deutschen um ihn herum hält er für ziehen sollen. sammen, am Rande eines Kraters. Sein Amerikaner, aber das ist ihm egal. Friedlich war es nicht gewesen am Gesicht ist taub. Er tastet seinen Schä- „Deutsche“ kennt er nicht. Er liegt in ei- Morgen des 3. Januar 1968, offensicht- del ab; neben dem Scheitel steckt ein nem Spezialzimmer. Das Schiff verläßt lich waren die abziehenden Herrscher Stück Metall im Kopf. Wo seine linke immer wieder den Hafen, fährt im Kreis der Nacht mit der anschwebenden Ar- Wange war, hängt ein Klumpen aus oder ankert auf offener See, weil nach mee des Tages zusammengestoßen; der Fleisch, Zähnen und Knochen. Ein der Tet-Offensive die Gefechte um Da Gefechtslärm war so laut, daß Suong be- Bombensplitter hat sein Gesicht aufge- Nang zu heftig geworden sind. schloß, lieber nicht in die Schule zu ge- rissen und den Oberkiefer zertrümmert. Als das Schiff schließlich zurückkeh- hen und umzukehren, aber das Knallen Soweit er gucken kann, sieht er Kra- ren kann und Suongs Schwester an Bord und Zischen war doch so weit entfernt, ter und brennende Hütten und keinen darf, findet sie den Namenlosen nicht daß er nicht rannte. Menschen. Man findet mich nicht, auf dem überfüllten Lazarettkreuzer. Er Urplötzlich bricht die Erde vor Suong denkt er, bevor er einschläft, man ver- sieht sie am Bullauge seines Zimmers auf, donnernd, als explodiere sie, und gißt mich. vorbeigehen, aber sie erkennt ihn nicht fegt ihn durch die Luft. Als er aufwacht, Die Bauern, die noch laufen konn- unter seinen Verbänden. Rufen kann er liegt er halb unter Schlamm und bluti- ten, haben das Dorf verlassen. Suongs nicht, und als er schließlich seinen Na- Eltern glauben, daß ihr Sohn, wie die anderen Schüler, tot sei. Am Nachmit- Am 30. April 1975 tag wird der Bewußtlose von Nachbarn gefunden und auf Bambusstöcken ins 30 endete der Vietnamkrieg durch den Kilometer entfernte Krankenhaus ge- Einmarsch nordvietnamesischer tragen. Truppen in Saigon. Seit 1957 hatte Die Ärzte wollen ihn nicht aufneh- die Guerrillabewegung des Viet- men. Man könne ihm nicht mehr hel- cong, unterstützt und angeleitet fen, sagen sie. Suong hört, wie seine vom kommunistischen Norden, die Mutter und seine Schwester um sein Le- Regierung des Südens zu stürzen ben betteln. versucht. Seit 1961 hatten die USA Sie sammeln Geld, kaufen vier Sitze zunächst mit Militärberatern, spä- im Bus nach Da Nang und legen den ter mit massiven Bombardierungen Halbtoten auf die Rückbank. Das Hu- und der Entsendung von bis zu pen auf dieser Fahrt hört Suong heute 540 000 Soldaten die militärischen noch manchmal, das Hupen ist ihm Kämpfe eskalieren lassen. Die auch im Ohr, als er im Flur des Kran- Amerikaner fürchteten die Ausbrei- kenhauses von Da Nang liegt und wie- tung des Kommunismus in Indochi- der hört, daß die Ärzte ihn für tot er- na und ganz Asien. Viele westliche klären. Er hat die Augen geschlossen, Regierungen, auch die Bundesre- aber er versteht, was sie sagen. Das gierung, unterstützten das Eingrei- nächste, was er hört, sind Schiffssire- fen der USA. Dem Krieg fielen mehr nen. Er liegt auf der „Helgoland“, dem als 3,5 Millionen Menschen zum Lazarettschiff des Deutschen Roten Opfer, darunter 2 Millionen Zivili- Kreuzes, das im Hafen von Da Nang

sten und über 58 000 amerikani- ankert. M. PABEL / BPK sche Soldaten. Nach Tagen wacht Suong aus der Be- Kriegsopfer Suong (1968) wußtlosigkeit auf. Schläuche hängen Als die Erde aufbrach

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men auf das Fensterglas schreibt, ist sie Am St.-Jürgen-Krankenhaus in Bre- Der Abschied zur Operation ins schon verschwunden. men begeisterte Hopp einen Kiefern- Krankenhaus fällt Suong immer schwe- „Junge ohne Mund“ nennen ihn die chirurgen für den interessanten Fall, rer, und bereits nach der vierten Opera- Schwestern. Die Ärzte sind freundlich überzeugte ihn davon, den Jungen ohne tion ist er so verängstigt und verzweifelt, zu Suong, über einen Dolmetscher re- Mund wieder zu einem Menschen zu daß er Hopp unter Tränen signalisiert, den sie zu ihm, sie enteitern seine Wun- machen, kostenfrei, und besorgte ein er wolle raus aus dem Krankenhaus und de, sie geben ihm flüssige Nahrung, aber Flugticket für Suong. weg aus Deutschland. sie operieren ihn nicht, und das beunru- Wochenlang wird der stumme Patient Erst ein Krankenpfleger, der ihn auf higt ihn. Ich bin am Leben, sagt er sich, zunächst aufgepäppelt und an die neue der „Helgoland“ betreut hat, der ein mehr kann ich nicht erwarten. Umgebung gewöhnt; doch schon nach wenig vietnamesisch spricht und ihn im Nach drei Monaten hat er sich eine kurzer Zeit erfährt Hopp, daß das ame- Krankenhaus aufgestöbert hat, kann ihn Zeichensprache beigebracht, die die rikanische Generalkonsulat in Bremen beruhigen. Der erklärt ihm, wie die Krankenschwestern verstehen. Mehr Druck auf die deutschen Behörden aus- Ärzte ihm helfen wollen und warum sie kann ich nicht tun, sagt er sich. übt, dem prominent werdenden Kriegs- ihn so oft operieren müssen, bis er einen Nach sechs Monaten sagen neuen Oberkiefer hat und ein ihm die Ärzte, nur in Deutsch- neues Gesicht. Am Ende wird land könne man ihn operieren. er 23 Operationen hinter sich Schlimmer kann es nicht wer- haben. den, sagt er sich. Suong zieht in ein Heim, Doch er landet zunächst im das die Hilfsorganisation Ter- Krankenhaus von Saigon. Er re des Hommes in Vechta für trägt keinen Verband mehr, ei- schwerverletzte Kriegskinder ne Schutzmaske verschließt das aus Vietnam eingerichtet hat. Loch in seinem Gesicht. Die Sein Deutsch ist inzwischen so Schwestern geben ihm Reis zu passabel, daß er die Berufs- essen. Er könne nicht kauen, schule für Autoschlosser besu- gibt er ihnen zu verstehen. Sie chen kann. Die Kinder auf der sind ratlos und bedeuten ihm, Straße starren erschrocken auf etwas anderes alsReis könne er sein Gesicht, die Fahrgäste im nicht bekommen, seine Familie Bus fragen, ob er aus diesem müsse ihn versorgen. Krieg in Vietnam komme, die Suong erbettelt Geld von Pa- Mitschüler tragen Peace-Zei- tienten und deren Angehöri- chen an ihren Parkas. gen und kauft sich Milch. Um Im Fernsehen sieht Suong sie trinken zu können, muß er täglich Bilder aus seiner Hei- die Maske abnehmen und den mat – brennende Hütten, wei- Kopf schräg legen. Zwei Wo- nende Frauen, Flammenwer- chen lang lebt er von Milch und fer, feuernde Panzer und von Zigaretten, die er schnorrt. Bomben, die aus Flugzeugen „Zieh dich schön an“, sagt ei- trudeln. Noch häufiger jedoch nes Morgens die Kranken- sieht er Bilder aus seiner neu- schwester, „heute geht es nach en Heimat – Ho-Tschi-minh- Deutschland.“ Poster, Vietcongfahnen, ren- Am Saigoner Flughafen nende Studenten, Wasserwer- nimmt eine Stewardess der Air fer und wild um sich schlagen- France den maskierten Zwölf- de Polizisten. jährigen in Empfang, am Bre- Der Krieg ist Suong bis nach mer Flughafen wartet ein Kran- Vechta gefolgt – er läßt die kenwagen. Saigon ist dem Bau- Deutschen kämpfen, als lägen

ernjungen schon vorgekom- D. MCCULLIN / MAGNUM / FOCUS sie selbst im Dschungel. Die men wie ein lärmendes Unge- US-Marines, gefangener Vietcong: Bilder aus der Heimat Freiheit Berlins werde in Sai- heuer, Bremen erscheint ihm gon verteidigt, sagen die ei- auf der Fahrt zum Krankenhaus noch un- opfer keine Aufenthaltsgenehmigung zu nen; sie wollen deutsche Soldaten hin- heimlicher. erteilen. Hopp bittet den Bremer Bür- überjagen und Kampfhubschrauber, Suong kommt zunächst in die Quaran- germeister um Beistand, erfolgreich. aber dann begnügen sie sich damit, den täne-Station. Dort besucht ihn der Mann, Vom Bauch und von den Beinen holt südvietnamesischen Soldaten Schäfer- der dafürgesorgthat, daßSuong Vietnam der Chirurg die Hautfetzen, mit denen hunde zu schicken und den Witwen verlassen konnte: Arne Hopp*, ein Un- Suongs Gesichtsruine verschlossen wird. amerikanischer Soldaten kleine Kopien ternehmer aus Fischerhude bei Bremen. Alle zwei, drei Monate muß er für meh- der Berliner Freiheitsglocke. Auf einem Flug von Stuttgart nach rere Wochen ins Krankenhaus. Zwi- Die Würde aller Menschen werde in Wien hatte ein Arzt der „Helgoland“ schendurch wohnt er bei den Hopps. Vietnam zertreten, sagen die anderen; Hopp erzählt, daß es da drüben in Viet- Sie wissen wenig über Suong, nicht sie veranstalten Protestmärsche und Tri- nam einen Jungen gebe, dem nicht mehr einmal sein Alter. Er ißt mit den Fin- bunale, sie lassen Scheiben klirren und zu helfen sei. Ein Bombensplitter habe gern, am liebsten Brathähnchen, ungern Molotowcocktails fliegen, sie verbren- sein Gesicht so weit aufgerissen, daß ihm Kartoffelbrei; als sie gemeinsam am nen Sternenbanner und basteln Pud- jeder bis in die Kehle gucken müsse. Nur Wümme-Teich picknicken, gräbt Suong dingbomben. ein Spezialist könne das Loch wieder wie selbstverständlich mit den Händen Der Vietnamkrieg verändert schließen. ein Feuerloch. Er müsse auf dem Lande Deutschland: Er schürt Zweifel am groß geworden sein, kombinieren seine American Way of Life und an dem, was * Name von der Redaktion geändert. neuen Geschwister. von Millionen Empörten nun „Weltim-

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Werbeseite . HALSTEAD / LIAISON / STUDIO X US-Soldaten bei Saigon: Zweifel am American Way of Life

perialismus“ genannt wird; er politisiert sen, findet als Fratze des Krieges Auf- Daß dieser Krieg zwischen der mäch- Schriftsteller, Künstler und Filmema- nahme in die 3. Weltausstellung der tigsten Militärmaschine des Westens cher; er macht aus einem bis dahin bloß Photographie, zusammen mit Dutzen- und einer Armee von Kämpfern mit antiautoritären Generationenaufstand den anderen Meisterwerken des Grau- Kinderärmchen, daß diese große das, was bis heute „die Revolte der ens. Diese Bilder und die Fernsehbilder Schlacht zwischen Ost und West und 68er“ heißt; und er läßt eine kleine radi- sind es, die schließlich aus dem Gemet- Arm und Reich, die Millionen Men- kale Minderheit den ersten Terrorakt zel in den Dschungeldörfern Indochinas schen getötet hat und Abermillionen begehen – Andreas Baader und seine einen Weltkrieg machen, der weder Ma- Menschen an ihrem Weltbild zweifeln Freunde stecken ein Frankfurter Kauf- drid noch Paris oder Mexico City ver- ließ, daß dieser Krieg, wie sein Archi- haus in Brand, „aus Protest gegen die schont, schon gar nicht die Großstädte tekt nun in seinen Memoiren ausplau- Gleichgültigkeit, mit der die Menschen der Vereinigten Staaten. dert, nicht mehr war als die Tölpelei ei- dem Völkermord in Vietnam zusehen“. Die Abendnachrichten tragen die Ge- nes Haufens ahnungsloser Minister, Das Foto von Vo Suongs zerbombten walt so lange in die Wohnzimmer der Präsidentenberater und Militärs, ist das Gesicht, auf der „Helgoland“ geschos- Amerikaner, bis es auf ihren Straßen zu- letzte Massaker, das dieser Krieg in den geht wie in Saigon wäh- Hirnen der Überlebenden anrichtet. rend der Tet-Offensi- Als Suong 1972 nach vier Jahren in ve. Auf den Stufen des den Krieg zurückkehrt – weil die süd- Kapitols erschießt sich vietnamesische Regierung droht, ihm ein 15jähriger Viet- die Staatsbürgerschaft zu entziehen; und namkriegsgegner, ein weil er trotz aller Freundlichkeiten in anderer verbrennt sich Deutschland ein Fremder geblieben war vorm Pentagon; in –, fallen noch immer Bomben auf Viet- Kent, Ohio, werden nam. Der 17jährige soll zunächst im vier Protestierer von deutschen Krankenhaus in Saigon blei- der Nationalgarde er- ben, weil ihm in seinem Heimatdorf schossen. blüht, von der südvietnamesischen Ar- „Warum werden mee zum Soldaten befördert zu werden. schwarze Boys 10 000 Nach zwei Wochen macht er sich trotz Meilen weit geschickt, aller Warnungen auf den Weg und trifft um Freiheiten zu ver- in der Nähe seines Dorfes wieder auf teidigen, die sie selber amerikanische Einheiten. Sie sind in Harlem nicht gefun- freundlich, diese Zone gilt jetzt als den hatten?“ wagt der „befriedet“. Die Landstriche rund um Vietnamkriegsgegner Da Nang nennen die GIs Arizona Terri- und Schwarzenführer tory, Charlie Ridge oder China Beach, Martin Luther King um sich in dem Land, das für sie nicht 1968 zu fragen. Als er mehr ist als ein gut bewachsener Schieß- kurz darauf erschossen stand, ein wenig heimischer zu fühlen. wird, brechen in mehr In Vinh Xuan stößt Suong nur noch als 100 Städten der auf ein paar wackelige Hütten, die sich

DPA USA diebisdahingröß- die 20 verbliebenen Familien aus den Verletzte GIs im Dschungel ten Krawalle ihrer Ge- Trümmern des Dorfes, in dem einmal Ein gut bewachsener Schießstand schichte los. über tausend Menschen lebten, zusam-

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mengezimmert haben. Nur wenige er- nes Rettungsboot zu springen und dem kennen Suong wieder. Sie erzählen ihm, friedlichen, unerträglichen Land zu ent- daß seine Mutter und sieben Geschwi- kommen. ster tot seien. Der Vater lebe mit zwei Die siebeneinhalb Millionen Tonnen Schwestern in einem Nachbardorf. Bomben, die auf Indochina gefallen wa- Auch Suong hielt der Vater für tot, ren (mehr als zweimal soviel wie auf alle um so größer ist seine Freude, ihn in die Länder im Zweiten Weltkrieg), hatten Arme schließen zu können, und um so das gesamte Verkehrssystem und viele stärker ist sein Wille, Suong sofort nach Deiche und damit den Reisanbau zer- Saigon zurückzuschicken. Die jungen stört. Ein Drittel der Südvietnamesen Männer des Dorfes verstecken sich in waren aus ihren Dörfern geflüchtet, Erdlöchern vor den Soldaten der süd- 800 000 zu Waisen geworden, eine halbe vietnamesischen Armee. Million zu Krüppeln. Bei Terre des Hommes, der interna- Über 140 Milliarden Dollar hatten sich tionalen Hilfsorganisation, die verletzte die Vereinigten Staaten den Spaß in In- und verwaiste Kinder nach Europa aus- dochina kosten lassen; Wiederaufbauhil- fliegt, findet Suong in Saigon Unter- fe erhält das Land, obwohl zunächst zu- schlupf. Als Fahrer muß er sich gele- gesagt, in den Nachkriegsjahren weder gentlich auf den Weg in die Provinzen von den Amerikanern noch von anderen rund um Saigon machen, muß Barrieren westlichen Staaten. Nur Schweden gibt des Vietcong passieren oder Minen um- LAIF Hunderte Millionen Dollar, und auch die fahren, doch beschossen wird er nur ein- sozialistischen Staaten helfen, aber die

mal, zwei Tage vor dem Ende des Krie- A. KRAUSE / schicken mit dem Geld auch militärische ges, in den Straßen der Hauptstadt. Mutter Nguyen, Tochter und politische Berater. Dem zerstörten Die Parole „Wir begrüßen den Frie- Fünf Bomben auf jeden Einwohner Agrarland wird ein Sozialismusmodell den“ prangt auf Suongs Wagen, und aufgezwungen, mit all dem, was die so- deswegen feuern südvietnamesische Sol- 2000 Deutschen mit monatlich 30 Mark wjetischen Vertreter seinerzeit im Ange- daten hinter ihm her. Am 30. April finanziert wird. Die 720 000 Mark rei- botsköfferchen haben: Verstaatlichung, 1975, zwei Stunden nachdem der Präsi- chen, um ein Waisenhaus zu unterhal- Zentralismus, Schwerindustrie, Büro- dent Südvietnams im Radio die Kapitu- ten, ein Zentrum für Querschnittge- kratie. lation erklärt hat und die letzten Hub- lähmte und zehn andere Projekte in Pro- Suong, selbst ein Kriegsopfer, fährt schrauber der Amerikaner aus der Stadt vinzen Vietnams. die Ärzte und Helfer von Terre des verschwunden sind, hämmern Gewehr- 1976 heiratet Suong eine Kinderpfle- Hommes nun Monat für Monat in die kolben an das verschlossene Hoftor von gerin aus dem Waisenhaus. Ihre ge- Provinzen, in denen der Krieg die tief- Terre des Hommes. Die Helfer wissen meinsame Tochter, kurz darauf gebo- sten Wunden hinterlassen hat. Aus der nicht, ob die Soldaten Zuflucht suchen ren, erkrankt an Leukämie. In Deutsch- Mekong-Provinz Ben Tre kommen be- oder Amok laufen. Sie öffnen nicht. land wähnt er, wie in seinem Fall, die sonders viele unterernährte Babys in das Die meisten westlichen Hilfsorganisa- Rettung, auch wenn es bedeutet, daß er Saigoner Heim. Dort sind auf jeden Ein- tionen haben Saigon verlassen, aus Vietnam wieder verlassen muß. Deut- wohner – statistisch gesehen – fünf Bom- ben abgeworfen worden, dort beginnt Terre des Hommes früh mit Projekten gegen Durchfall, schlechtes Wasser und Armut. Suongs Chefin, Nguyen Thi Man, stammt aus dieser Provinz. Noch immer sei jedes zweite Kind in diesen ländlichen Regionen unterernährt, sagt sie. Zwei Prozent der schweren Fälle sterben. Zunächst waren es die Folgen des Krieges, gegen die sich die Hilfsorganisa- tion gestemmt hat, dann die Folgen der Mißwirtschaft, und nun sind es die Fol- gen der Marktwirtschaft. Die ökonomi- sche Liberalisierung hat Vietnam ein ho- hes Wirtschaftswachstum gebracht und viele neue Hotels, aber auch einen Man- chester-Sozialismus, der, wie Nguyen Thi Man beobachtet, „viele reicher macht, doch noch mehr ärmer“. Milch und Fleisch sind in den letzten Frauenbataillon des Vietcong: „Der Krieg, die schönste Zeit im Leben“ fünf Jahren mehr als doppelt so teuer ge- worden, auch die Preise für Medikamen- Angst vor einem Blutbad. Terre des sche Ärzte nehmen ihm diese Hoffnung: te sind stark gestiegen, und Terre des Hommes bleibt und kümmert sich um Der Tochter ist nicht mehr zu helfen. Hommes laufen die Mitarbeiter weg, unterernährte Waisenkinder und Sein Vater stirbt im selben Jahr; die weil sie woanders mehr verdienen. Kriegskrüppel, die in den folgenden Nachkriegsjahre sind auch wirtschaftlich In Ben Tre unterstützt die Hilfsorgani- Monaten aus allen Teilen Südvietnams so hart, daß Suong nur durch die Hilfe sation eine Manufaktur, in der 300 ar- nach Saigon strömen. seiner deutschen Noteltern und Freunde beitslose Witwen für Taiwan Kokosnuß- Suong bleibt als Fahrer bei der Hilfs- davon abgehalten wird, wie über eine fasern zu Fußmatten verarbeiten. Und in organisation, deren Arbeit bis heute von Million Vietnamesen in irgendein klei- einer Lehrwerkstatt werden junge Frau-

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M-113-Angriff im Mekong-Delta: Nichts Schöneres als ein bekifftes Feuergefecht bei Nacht C. RENTMEESTER / TIME / LIFE

en auf eine Karriere in den Billiglohnnä- Die Partisanin von einst hegt keinen die wirtschaftliche Öffnung des Landes. hereien Saigons vorbereitet. Haß gegen ihre Jäger von damals, aber Es gibt etwas, das die Veteranen beider „Einkommenschaffende Maßnah- auf die langen schwarzen Lincolns, die Seiten miteinander verbindet, etwas, men“, heißt das in der Sprache der Hilfs- wieder durch die Straßen Saigons glei- das sie sich gestehen, wenn sie die Flos- bürokratie. Man wolle, soweit man kön- ten, starrt sie mit demselben Mißtrauen, keln ausgetauscht haben und in die Ab- ne, helfen, die Ursachen von immer wie- mit dem sie einst den Hubschraubern gründe ihrer Erinnerung blicken. „Die- derkehrender Unterernährung zu besei- hinterherblickte. „Diesmal wollen ser Krieg war die schönste Zeit meines tigen, übersetzt Nguyen Thi Man, und die sie unser Land über den Dollar in die Lebens“, sagt Nguyen Thi Man dann, wichtigste sei eben Armut durch Arbeits- Finger bekommen“ – so denken und ihre amerikanischen Feinde stim- losigkeit. viele der alten Vietcong-Kader über men meist verblüfft zu. In den Gitterbettchen ihres Wai- Sie hat die Jahre im Dschungel senhauses liegen immer öfter Sozi- geliebt, weil alle Partisanen gleich alwaisen, die von ihren Eltern weg- waren und dasselbe wollten, weil es gegeben werden, weil sie sie nicht keine Korruption gab und keine mehr ernähren können. Und im- Bürokratie und weil sie mit der mer öfter stehen vor diesen Betten größten Macht der Welt Jo-Jo nun Besucher, die Nguyen Thi Man spielten. mit vorsichtigem Lächeln begrüßt: Sie hat die Jahre im Dschungel amerikanische Kriegsveteranen, gehaßt, weil es keine Seife gab und die 20 Jahre nach Kriegsende ihr wenig zu essen, weil es keinen Spie- Gewissen beruhigen und Geschäfte gel gab und keine Binden „für die machen wollen, die alte Schlacht- seltenen Tage des Monats“ und felder und neue Märkte besichti- weil es Napalm gab und Agent gen. Orange und Hubschrauber und Sie betreten still und vorsichtig B-52-Bomber. die abgedunkelten Räume mit den Es war ihre schönste Zeit, weil in Windeln zappelnden Winzlin- sie in der Nähe des Todes gieriger gen, und ihre Ängstlichkeit wächst, lebte und das Leben ein Ziel hatte wenn sie begreifen, wer sie da an jenseits von essen, lieben und den Waisen vorbeiführt. schlafen. Suong sehen sie an, daß er ein Der GI hat sein Jahr im Dschun- Kind des Krieges ist; aber daß sich gel gehaßt, weil dort die schlimm- NguyenThiMan 1960mit 17Jahren sten Alpträume aus der Kindheit dem Vietcong anschloß und später jede Nacht wahr wurden; weil er Frauenbataillone der Guerrilla schon nach wenigen Wochen wuß- kommandierte, erzählt sie nur den te, daß dieser Krieg von allen sinn- Geläuterten unter den Kriegsgeg- losen Kriegen der sinnloseste war; nern, und die glaubt sie daran er- weil er öfter gegen Moskitos

kennen zu können, daß diese keine T. PAGE / REPORTAGE kämpfte als gegen Kommunisten. kleinen süßen schlitzäugigen Babys Go-go-Girls im GI-Lager (Weihnachten 1968) Der GI hat sein Jahr im Dschun- in die USA exportieren wollen. Woodstock mit Waffen gel geliebt, weil das Napalm wild

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brannte wie das Feuer der Hölle, weil Gelegentlich fährt Vo Suong Besu- Mit Amerikanern redet Suong nicht die Leuchtspurmunition nachts so ele- cher des Waisenhauses wieder hinaus in gern, was nicht am Krieg liegt, sondern gante Linien zog, weil die Drogen so na- den Krieg, nach Cu Chi, zu dem weit- am mangelnden Englisch. Sein Deutsch he am Goldenen Dreieck so gut und so verzweigten Tunnelsystem der Viet- ist immer noch gut, selbst wenn es billig waren, weil die Mädchen so lieb cong. Es ist jetzt eine Touristenattrakti- klingt, als habe er eine heiße Bratkartof- und so preiswert waren, weil er immer on, die besichtigt wird, als sei es eine fel im Mund. Auch beim Trinken behin- gute Songs im Ohr hatte, weil er wie ein Tropfsteinhöhle. Die Schaulustigen dert ihn seine vernarbte neue Wange, Kriegshippie herumlaufen konnte, weil müssen vier Dollar zahlen, um die ge- aber als Raucher weiß er den neuen er bei diesem Woodstock mit Waffen tarnten Eingänge aufstöbern zu können, Mund zu schätzen – die kleine Kerbe in den Mekong herunterbrausen konnte so wie es damals die GIs mußten, und der Oberlippe ist so nützlich wie die und von Hügel zu Hügel hüpfen, weil er die Fremdenführer in den schwarzen Py- Mulde eines Aschenbechers. Menschen wie Tiere behandeln durfte, jamas der Partisanen lotsen sie durch GIs zu fahren ist für Suong nichts Be- weil er in diesem Chaoskrieg seine Offi- unterirdische Schlafräume, Kommando- sonderes. Seine Bombe lastet er ihnen ziere in die Luft jagen konnte, weil er in zentralen, Schulen und Operationssäle. nicht an, die war für ihn nie so sehr eine diesem Fernsehkrieg groß herauskom- Vo Suong pflegt auf dem Parkplatz zu amerikanische Bombe, die kam vom men konnte, wenn er zur rechten Zeit warten, ihm sind die Bombenkrater un- Himmel, von einem Todesstern, von eine Handgranate schleu- jenseits der Menschlich- derte. keit. Nichts sei schöner als ein Die Siegesparade am 30. bekifftes Feuergefecht bei April, bei der wieder – wie Nacht, schwärmt noch vor 20 Jahren am Tag des heute William Broyles, Kriegsendes – Panzer auf damals Truppen-Führer in den alten Präsidentenpa- der Nähe von Da Nang, last zurollen, will er nicht später Chefredakteur von besuchen. Ihn hält der Newsweek. Der Vietnam- Ausbau seiner winzigen krieg war für ihn „die Ein- Einzimmerwohnung in weihung in die Macht von Atem, in der er mit seiner Leben und Tod“, an die Frau und seinen drei Töch- Frauen rührten, „wenn sie tern zu ebener Erde lebt. gebären, Männer nur am Da, wo jetzt noch ein Po- Rande des Todes“. Nie ster von Steffi Graf den wieder habe er die Nähe zu breiten Riß in der Wand Menschen intensiver erlebt verdeckt, soll eine neue als im Vietnamkrieg, „weil Mauer hin, aber sein Nach- man dem anderen sein Le- bar, ein aus der DDR ben anvertraut“. heimgekehrter Arbeitslo- So gesehen müßten die ser, will sich nicht an den Millionen Amerikaner, die Kosten beteiligen. dieses einzigartige Erlebnis 800 000 Dong verdienen genießen durften, dem Di- Suong und seine Frau im rigenten des Krieges dank- Monat, das sind weniger bar sein, aber die amerika- als 75 Dollar, damit kann nischen Veteranen, die in er keine neue Mauer bau- diesen Tagen das Waisen- en. Das reicht gerade zum haus von Terre des Hom- Überleben, da müssen Su- mes besuchen, tragen den LAIF ongs Eltern aus Fischerhu- Zorn auf McNamara laut de helfen.

fluchend vor sich her. Sie A. KRAUSE / Der Kampf um Dollar erzählen von ihrer Pflicht, Kriegsopfer Suong*: Wem er helfen soll, sich oder den anderen bestimmt seit zwei Jahren von ihrem Auftrag, von der Suongs Leben. Sein Lohn Freiheit, die es zu verteidigen galt, von angenehm und die Hubschrauber- wird immer weniger wert, er sieht den dem guten Willen, der mißbraucht wur- wracks und die Panzerruine. Dem Tag kommen, wo er nicht mehr reicht. de. Sie erzählen das, was Soldaten im- Knall der Schüsse allerdings entkommt Du bist verrückt, sagen seine Freun- mer erzählt haben und immer erzählen er nicht, abgefeuert von scherzenden de, die Drucker waren und jetzt als pri- werden. Es ist für Soldaten die einzige Menschen in Bermudashorts, die für vate Taxifahrer 500 Dollar im Monat Art, den Frieden nach dem Krieg zu einen Dollar pro Patrone mit einer AK verdienen, du bist Autoschlosser, in überleben. 47 oder einer M16 originalgetreuen Deutschland ausgebildet, du kriegst ei- Aber diese Veteranen bekommen Kriegslärm machen. nen Haufen Geld, wenn du nicht mehr nun von demjenigen, der sie in den Am Schießstand hat Suong kürzlich bei dieser Hilfsorganisation arbeitest. Krieg geschickt hat, um die Ohren ge- einen Österreicher getroffen, einen Und darum liegt Suong nun gelegent- hauen, daß das alles blanker Unsinn war Veteranen des Zweiten Weltkriegs, der lich wach, wenn das Fernsehprogramm – daß sie eigentlich nur zum Spaß im auf Suongs Gesicht zeigte und eine vorbei ist, hin- und hergerissen zwischen Dschungel lagen. Fachsimpelei begann über Kiefernchir- Vergangenheit und Zukunft. Er weiß, Als Helden waren sie in den Krieg ge- urgie. Er hatte sich an der Ostfront daß er ohne die Hilfe all der Helfer nicht zogen, als Schweine waren sie heimge- einen Wangendurchschuß eingefan- mehr am Leben wäre; er ist froh, daß er kehrt, und jetzt stehen sie auch noch als gen. ein wenig Hilfe zurückgeben konnte in Trottel da, die erleben, daß man sie nun den letzten 20 Jahren; aber er weiß in Vietnam freundlicher behandelt als * In Ben Tre beim Kokosfaserprojekt von Terre nicht, wem er in Zukunft helfen soll – nach Kriegsende in den USA. des Hommes. sich oder den anderen. Y

180 DER SPIEGEL 18/1995 Japan Delphine und Schimpansen In phantasievollen Romanen schrei- ben Trivialautoren den Zweiten Weltkrieg um. Diesmal ist der japa- nische Endsieg sicher.

ie Brände tauchten den Himmel tagelang in glühendes Rot, „un- Dzählige Rauchsäulen stiegen hoch in die Luft“: In der Nacht zum 7. Mai 1942 beschießt die „Yamato“, das größte und feuerstärkste Schlachtschiff, das je in Japan gebaut wurde, aus ihren neun 45,72-Zentimeter-Kanonen die Titel von Simulationsromanen: „Die Leser verstehen . . . amerikanische Westküste. Seattle wird verwüstet, ein Stütz- bislang 43 Schmöker über Admiral Ya- Doch die Fans der „Simulationsroma- punkt der U. S. Navy geht in Flammen mamoto verfaßt hat. Oder der Roman ne“, wie sich die fernöstlichen Landser- auf. Ein Luftaufklärer meldet dem ja- „Entscheidungsschlacht auf dem ameri- hefte nennen, sind zumeist kaum älter panischen Oberbefehlshaber, dem le- kanischen Festland“ von Yoshiaki Hiya- als 30 Jahre. Von Geschichte, insbeson- gendären Admiral Isoroku Yamamoto, ma: Darin bezwingen Großjapans glor- dere großjapanischer Kolonialbesessen- Vollzug: „Kommandeur, ein voller Er- reiche Krieger den bösartigen und rassi- heit und militärischer Expansionswut folg.“ stischen US-Feind (ein FBI-Agent: „Die im 20. Jahrhundert, haben sie meist Yamamoto, Planer des japanischen Japaner sind eine von uns völlig ver- nur wenig Ahnung: Der Stoff ist in Überfalls auf Pearl Harbor, eilt fortan schiedene Rasse, wie Delphine und den Schulen bislang nicht gelehrt wor- von Sieg zu Sieg: Hawaii entreißt er Schimpansen“); nach dem Endsieg wird den. dem US-Joch und erklärt den Archipel Amerika bis weit in den Süden des Kon- Vor rund drei Jahren befragte der öf- zu einem souveränen Staat (unter japa- tinents hinein kolonisiert. fentlich-rechtliche Fernsehsender NHK nischem Protektorat); in Kalifornien Autor Aramaki, im Zivilberuf Litera- junge Tokioter zum Zweiten Weltkrieg befreien seine Truppen Hunderttausen- turdozent an einer Tokioter Universität, – und bekam zum Teil erstaunliche Ant- de internierter Amerikaner japanischer vermag in seinen Werken nichts Anstö- worten: „Japan hat Krieg geführt? Ge- Abstammung; seine Soldaten dringen ßiges oder gar Revisionistisches zu er- gen wen? Wer hat gewonnen?“ fast ungehindert bis zum Panama-Ka- kennen: „Die Leser verstehen, daß dies Schulbücher, die vom Erziehungsmi- nal vor und zerstören ihn. mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. nisterium zugelassen sind (also alle), be- Unbesiegbares Nippon – zumindest Diese Bücher sind Fiktion.“ richten bis heute nicht von einem in der Phantasie. Ein halbes Jahrhun- dert nach der Atombombe auf Hiro- schima und Japans bedingungsloser Ka- pitulation schreiben patriotische Trivi- alautoren den Zweiten Weltkrieg neu; sie schlagen die großen Schlachten in Romanen noch einmal und lassen dies- mal die kaiserlichen Truppen trium- phieren. Millionen von Japanern delek- tieren sich am virtuellen Weltkrieg. In Wirklichkeit war Admiral Yama- moto 1943 bei einem Aufklärungsflug abgefangen und getötet worden; das Riesenschlachtschiff „Yamato“ kam nicht ein einziges Mal zum Gefechts- einsatz und wurde bei seiner ersten Feindfahrt von US-Kampffliegern ver- senkt. Die nachträglichen Siege auf dem Papier sind offenbar Balsam für Japans verstörte Seele. Hunderte von Titeln überschwemmen derzeit den Buch- markt; viele erklettern die Bestsellerli- sten, wie die Serie „Hochseeflotte“ des Vielschreibers Yoshio Aramaki, der . . . daß dies Fiktion ist“: Japanische Superwaffe in Comic-Heft

DER SPIEGEL 18/1995 181 Werbeseite

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AUSLAND

„Überfall“ auf Pearl konfuzianischer Tradi- Harbor; fast alle leh- tion bleibt stumm, wer ren gleichlautend, Ja- sich schämt. Die Politi- pan sei durch ein ker und der Kaiser ta- unmenschliches Wirt- ten sich schwer, für die schaftsembargo der Opfer der Aggression USA und Großbritan- ein Wort der Entschul- niens in den Krieg ge- digung zu finden. trieben worden. Doch Asien verstand, Den „Todesmarsch als der greise Tenno von Bataan“, auf dem Hirohito vier Jahr- Tausende amerikani- zehnte nach Kriegsen- scher Kriegsgefange- de vage von den

ner in der Dschungel- SÜDD. VERLAG „schweren Zeiten“ hölle der Philippinen Admiral Yamamoto (1941) sprach, die ihn „be- starben, erwähnt kein kümmerten“. Schulbuch. Noch im vergangenen Jahr „Den Krieg auch nur zu erwähnen“, mußte der Justizminister in Tokio zu- meint der Kriegsbuch-Verlagslektor rücktreten, weil er öffentlich das Nan- Shin Niina, „galt früher schon als Glori- king-Massaker von 1937 als „Erfindung“ fizierung des Kriegs.“ Jetzt ist die amerikanischer Propagandisten ausgab. Schamzeit vorbei, obwohl Autor Ara- Eine wild gewordene japanische Solda- maki genau weiß, daß seine Geschichts- teska hatte in der eroberten chinesischen fiktion im Ausland auf Befremden Stadt binnen weniger Tage mehr als stößt. Die Phantasiespiele, in denen 100 000 Zivilisten massakriert. Großjapan zum Weltbezwinger auf- So stoßen die umfrisierten Frontbe- steigt, bleiben denn auch heimischem richte auf ein weitgehend geschichtsfreies Publikum vorbehalten; Lizenzen für und unkritisches Bewußtsein. Da können Auslandsauflagen und Übersetzungen sie Wirkung entfalten: Aramakis Kriegs- werden grundsätzlich nicht erteilt. bücher, lobte eine Tokioter Hausfrau be- Sanae Takaichi, 34, Mitglied des japa- geistert, entlarvten „den verqueren Ge- nischen Parlaments, gehört zu Aramakis rechtigkeitssinn der Amerikaner“ und getreuen Lesern. Als Ministerpräsident deren „Eigentümlichkeit, immer irgend- Tomiichi Murayama kürzlich anregte, wo in der Welt einen Krieg anzuzetteln“. das Parlament sollte zum 50. Jahrestag Lange hatte Japan es vorgezogen, über des Kriegsendes eine Entschuldigung an die Zeit zwischen Pearl Harbor am 7. De- die Welt richten, stellte sich fast ein zember 1941 und Hiroschima am 6. Au- Drittel aller Regierungsabgeordneten gust 1945 zu schweigen. Denn gemäß gegen sein Ansinnen. Für sie sprach die junge Abgeordnete Takaichi: „Ich sehe keinen Grund, warum ich mich für den * Am 2. September 1945 auf dem US-Schlacht- schiff „Missouri“, mit Außenminister Shigemitsu Krieg entschuldigen sollte. Ich gehöre (M.) und Generalstabschef Umezu (3. v. r.). einer anderen Generation an.“ Y

Japanische Kapitulation*: Geschichtsfreies Bewußtsein

184 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

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Film VOM TERROR IM KOPF Nach einer Kette von Mißerfolgen gelingt dem Regiestar Roman Polanski ein großes Comeback: Sein neuer Film „Der Tod und das Mädchen“ dokumentiert die langen Schatten der Diktatur und die Rachephantasien ihrer Opfer – ein spannender Psychothriller mit autobiographischer Note.

in kleiner jüdischer Junge, 1940 un- terwegs im Krakauer Ghetto, be- Egegnet auf der Straße einer Kolon- ne gefangener Frauen. Eine Alte kann nicht mehr Schritt halten. Ein deutscher Wachsoldat treibt sie vorwärts, aber sie fällt. Auf allen Vieren liegend, fleht sie ihn auf jiddisch an. Der Deutsche zieht eine Waffe, es knallt laut. Aus dem Rücken der alten Frau quillt Blut. Der kleine Junge versteckt sich in ei- nem Treppenhaus und wagt sich erst nach Stunden wieder hervor. Danach entwickelt er den Tick, seine Fäuste so fest zu ballen, daß sich Schwielen an den Handflächen bilden. Die Erschießung der alten Frau ist ei- ner der wenigen Augenblicke des Grau- ens, die Roman Polanski in seine Auto- biographie aufgenommen hat. Vieles andere aus seiner Jugend im Holocaust bleibt vage, fast kaltherzig, ganz so, als wolle der Autor sich nicht allzu nah an alten Schmerz herantasten. Nie auch hat Polanski einen offen au- tobiographischen Film gedreht, schon gar nicht über seine Erfahrungen im Ghetto. Sein Vater und seine Halb- schwester wurden nach Auschwitz und

FOTOS: KINOARCHIV ENGELMEIER Mauthausen verschleppt; erst nach Jah- Kingsley, Weaver in „Der Tod und das Mädchen“: Perverse Vertrautheit ren traf er sie wieder. Seine Mutter starb in Auschwitz. Er wäre nicht dazu in der Lage gewesen, „Schindlers Liste“ zu machen, hat er gestanden: „Mir ist das Thema viel zu nah.“ Gegen die Suche nach politischen oder moralischen Botschaften in seinem Werk hat er sich stets verwahrt. Er trat auf als koboldhafter Playboy, als Hasar- deur, den – besonders nach der Ermor- dung seiner zweiten Frau, Sharon Tate – die Aura des wilden, gefährlichen Le- bens umschwebte, und als Vagabund, dessen einzig wahre Heimat der Film war. Sein Credo: Unterhaltung ist alles. Dem ist er gefolgt, in verschiedenen Genres, zuletzt jedoch mit immer länge- ren Unterbrechungen – in den vergange- nen anderthalb Jahrzehnten konnte er nur vier Filme verwirklichen – und mit immer weniger Erfolg. Ihm fehlte der TELEBUNK Polanski-Filme „Ekel“ (1965), „Rosemaries Baby“ (1968)*: Alles kann täuschen * Mit Cathe´rine Deneuve (l.), Mia Farrow.

186 DER SPIEGEL 18/1995 Kontakt zu Hollywood, denn seit 1978 So ohne jeden Anlauf und ohne große so langsam und sorgfältig, daß sie das durfte er – bis heute – die USA nicht Geste kann den Terror nur darstellen, Kleingeld in seinen Hosentaschen klim- mehr betreten. Er war aus dem Land ge- wer ihn schon lange im Kopf hat. pern hörte. Dann vergewaltigte er sie. flohen, um einer Verurteilung wegen Der Regisseur braucht nicht mehr als Zwei Monate wurde Paulina gefan- Unzucht zu entgehen. ein einsam gelegenes Haus, eine finstere gengehalten. 14mal wurde sie miß- Sein letztes Leinwandwerk, die Sado- Nacht, ein Ehepaar und einen fremden braucht. Jetzt will sie ihrem Vergewalti- Maso-Eskapade „Bitter Moon“ (1992), Gast. Ein Sturm hat den Strom ausfallen ger den Prozeß machen. erinnerte nur noch an das Aufbegehren lassen, die Telefondrähte gekappt. Eine Sie überwältigt und fesselt den Frem- eines alternden Erotomanen. geschlossene Gesellschaft, aus deren den. Mit der perversen Vertrautheit, die Und jetzt hat er, mit 61 Jahren, ausge- klaustrophobischem Bann es eine Nacht sich zwischen Opfer und Täter bildet, rechnet einen intimen Film über den lang kein Entkommen geben wird, eine stopft sie ihm ihren Slip in den Mund, Terror gedreht. Einen Film, wie ihn Nacht der Rache und der Wahrheit. setzt sich auf seinen Schoß, beißt ihm in kaum jemand von ihm erwartet hatte Erst im Morgengrauen wird der Spuk zu den Hals. Brutale Machtspiele sind das, und der trotz mancher Anklänge an sei- Ende gehen. Rachespiele, in denen Sex zum Mittel ne Klassiker anders ist als alles, was Po- Begonnen hat der Abend mit einer der Gewalt wird. Für Paulina ist es eine lanski je auf die Leinwand brachte. harmlosen Reifenpanne. Der Rechtsan- Geisteraustreibung.

Polanski bei Dreharbeiten zu „Der Tod und das Mädchen“: „Jemanden vernichten, der einem Schlimmes angetan hat“

Gelungen ist ihm ein großartiges walt Gerardo (Stuart Wilson), ein auf- Einen Revolver in der Hand, zwingt Comeback, ein furchterregendes Psy- strebender Politiker in einem namenlo- sie bedenkenlos ihren entsetzten Mann chodrama über die verheerenden Fol- sen Land Lateinamerikas, das sich gera- Gerardo, an der Vergeltung mitzuwir- gen von Diktaturen, darüber, wie die de von langen Jahren der Tyrannei er- ken. Er soll den Angeklagten verteidi- Erinnerung an Verfolgung, Erniedri- holt, wird von einem Fremden, einem gen, sie spielt die Staatsanwältin. Be- gung und Folter ganze Lebensläufe be- freundlichen, unscheinbaren Arzt, nach weise kann sie allerdings nicht vorlegen. herrschen und vergiften kann. Sein Film Hause gebracht. Seine Frau Paulina Paulina hat den grausamen Arzt damals „Der Tod und das Mädchen“ handelt (Sigourney Weaver) erwartet ihn unge- nicht einmal gesehen. Aber sie zweifelt vor allem davon, daß die Vergangenheit duldig. keine Sekunde lang an seiner Identität. für die Leidtragenden der Geschichte Doch dann glaubt Paulina, in dem Seine Stimme verrate ihn, seine Haut, niemals vergangen ist. Fremden (Ben Kingsley) ihren schlimm- sein Geruch. Es wäre naiv zu glauben, daß der sten Folterer wiederzuerkennen. Jenen Als Strafe fordert das Opfer von ehe- Film, entstanden als Auftragsarbeit Arzt, der vor 15 Jahren in den Kerkern dem nichts weiter, als daß der Täter sei- nach dem gleichnamigen Erfolgsdrama der Geheimpolizei immer dann zu ihr ne Schuld eingesteht. Weigert er sich, des chilenischen Autors Ariel Dorfman, kam, wenn sie die Elektroschocks und will Paulina ihn erschießen. endlich einen Einblick in das wahre Ich Schläge wieder einmal überstanden hat- Aber ist er schuldig? Der Arzt be- des Ghettojungen Roman gibt. Aber es te. Der ihr, die gefesselt und mit ver- hauptet, von nichts zu wissen. Eine tra- wäre auch akademisch verblendet, die bundenen Augen dasaß, auf einem gische Verwechslung. Man solle ihn so- Lebenserfahrung des Kinoerzählers wackligen alten Plattenspieler Schuberts fort freilassen. vollkommen von seinem Film zu tren- Streichquartett „Der Tod und das Mäd- Daß die Zuschauer in dieser Unge- nen. chen“ vorspielte. Dabei zog er sich aus, wißheit gehalten werden, zwingt sie da-

DER SPIEGEL 18/1995 187 Werbeseite

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Werbeseite . DPA Polanski, Ehefrau Sharon Tate* Unterhaltung ist alles

zu, Stellung zu beziehen, abzuwägen und zu urteilen. Jeder wird zum Richter: Wer sagt die Wahrheit? Wem ist zu trauen? Dem Arzt, der so glaubhaft sein Alibi vorträgt? Oder Paulina? Sigourney Weaver spielt eine Frau, die schon so lange am Rande des Nervenzusammenbruchs lebt, daß sie ihre letzten Reserven auf- gezehrt hat, auch physisch. Sie ist schmerzhaft mager. Paulina schwankt zwischen hysterischer Überspannung und nüchternem Erkennen, eine kalte Furie, eine traumatisierte und unbe- Wachen die Frauen? Träumen sie? Sind sie durchgedreht?

rechenbare Überlebende, in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit nicht einzu- schätzen. Darin ist Paulina eine Schwester der jungen Irren in „Ekel“ (1965) und der zar- ten, verunsicherten Schwangeren in „Rosemaries Baby“ (1968). In diesen drei Polanski-Filmen geben zunächst we- der die Bilder noch die Worte eine Ant- wort darauf, wie es tatsächlich mit der Wahrheit bestellt ist. Wachen die Frau- en? Träumen sie? Sind sie durchge- dreht? Die drei sind Symbolgestalten des tie- fen Mißtrauens, das der Regisseur gegen- über der Unmittelbarkeit der Filmbilder hegt. Unschuld oder Schuld lassen sich nicht an der Oberfläche ablesen. Alles

* 1968 bei ihrer Hochzeit in London.

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KULTUR

kann täuschen in seinem Werk, auf treibt sich eine verlorene Schar von Au- nichts ist Verlaß. Film ßenseitern herum. Die neuen Gäste der Wohl darum hat er in „Der Tod und Seine-Stadt haben kein Geld, keine das Mädchen“ auf jede Rückblende in Chance und bald auch keine Hoffnun- die Folterkammern verzichtet. Der Film gen mehr. bleibt sonderbar abstrakt und ortlos. Killer an Große Geschichten lassen sich aus der Das Haus, eine Theaterkulisse, ist die Gleichgültigkeit ihrer ebenso unruhigen einzige Handlungsstätte, ausstaffiert oh- wie ziellosen Tage nicht mehr schlagen. ne ein Indiz dafür, das auf Lateinameri- der Seine Selbst die Tatsache, daß ein Killer rei- ka verweist. Gedreht wurde in Frank- henweise alten Damen Sterbehilfe lei- reich und Spanien, die Schauspieler „Ich kann nicht schlafen“. Spielfilm stet, nimmt die Stadt – und der Film – stammen aus Amerika und England, sie von Claire Denis. Frankreich 1994. nurmehr beiläufig wahr. sprechen (in der Originalfassung) ihre Statt dessen streift Claire Denis wie Muttersprache. zufällig durch lauter kleine Lebensläufe. Die Botschaft dieser irritierenden Un- rüher wollten alle nach Paris, die Daiga raucht viel zuviel, während sie bestimmtheit ist klar: „Der Tod und das Jungen, die Verliebten und vor al- darauf wartet, daß endlich ihre Zukunft Mädchen“ spielt an keinem wirklichen Flem die Amerikaner. Doch das ist anfängt. Die Besitzerin des Hotels trai- Ort. Es geht nicht nur um Lateinameri- lange her, und wer heute nach Paris will, niert mit einem Trupp dynamischer Al- ka, nicht nur um die Desaparecidos ei- der weiß womöglich nicht, was ihn er- ter die Kunst der Selbstverteidigung ner bestimmten Ära. Seit Dorfman sein wartet. („Auf die Eier! Ins Gesicht!“). Drama schrieb, sind andere Diktatu- So wie die blutjunge Litauerin Daiga, Der schweigsame Camille tritt nachts ren gefallen, im ganzen ehemaligen die am Anfang von „Ich kann nicht in einer Schwulenbar im kleinen kommunistischen Block. Der Film meint sie mit. Es geht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit, immer und überall. Aber wie sind sie zu bestrafen? Wie geht man mit der Geschichte eines Staa- tes um, der sein Regime ausgewechselt hat? Wenn Paulina dem Fremden ein gerechtes Verfahren verweigert, begibt sie sich dann moralisch auf dieselbe Stu- fe wie die Täter? Gefährdet sie sogar die Demokratie? Das sind die Fragen, die Gerardo, der Realpolitiker, seiner Frau stellt. Paulina hält mit ihrem moralischen Anspruch dagegen: Warum sollen immer die Ge- peinigten auf Genugtuung verzichten? Warum soll Paulinas Leben geringeren Wert besitzen als der Fortbestand eines schwammigen Rechtssystems, das nie- mals Anklage gegen die Drahtzieher er- heben wird? Und wie sollen die ehemals

Gequälten ohne Gerechtigkeit neben KINOARCHIV ENGELMEIER den Tätern weiterleben? Denis-Film „Ich kann nicht schlafen“*: Vertrautheit ist ein rares Gut Auch er habe in Polen „die schlimm- sten Apparatschicks im Namen der Er- schlafen“ mit ihrem Uraltauto die Pe´- Schwarzen auf, dealt ein wenig, hängt neuerung reden sehen“, sagt Polanski. riphe´rique entlanggeknattert kommt, herum, während sein Bruder (Alex Auch er kenne den Impuls, „jemanden geradewegs aus Wilna. Kaum eines Descas) davon träumt, endlich mit Frau zu vernichten, der einem Schlimmes an- Wortes der fremden Sprache ist Daiga und Kind aus Frankreich abzuhauen. getan hat“. Aber dennoch sei ihm (Katerina Golubeva) mächtig, aber sie Was zählt, ist immer nur die Gegen- Gerardo die nächste unter den drei Fi- hofft auf eine Karriere beim Theater. wart, und darum versucht der Film erst guren. Kein Idealist, sondern ein Prag- Landen wird sie als Zimmermädchen gar nicht, Zusammenhänge herzustellen matiker „mit seinem Pazifismus, seinen in einer mittelmäßigen Absteige, in der oder Erklärungen zu finden. Schwächen und seinem lächerlichen Ba- sich auch der junge schwarze Transvestit Selbst daß Camille der Killer ist, ver- demantel“. Camille (Richard Courcet) mit seinem rät er ohne jedes Aufheben, in wenigen So pragmatisch – und pessimistisch – Liebhaber einquartiert hat. Ihre Wege sachlichen Bildern: ein Anti-Krimi. De- läßt er auch seinen Film enden. Ohne werden sich kreuzen, aber mehr als ein nis hat sich an einen authentischen Fall Antworten. Ohne Vergeltung. Er stellt Blick wird zwischen ihnen nicht fallen. gehalten, den des aidskranken Thierry einfach fest: Täter und Opfer werden Im entzauberten, kalten Paris der Fil- Paulin, der vor acht Jahren gefaßt wur- nebeneinander weiterleben, schon weil memacherin Claire Denis („Chocolat“) de und starb, ehe sein Verfahren be- es gar nicht anders geht. Das ist der bleiben alle Begegnungen flüchtig. Ver- gann: ein Unbekannter, dessen Beweg- grausame Witz der Geschichte. Sie wer- trautheit ist ein rares Gut. gründe auch im Film vage und fern blei- den sogar, im schlimmsten Fall, im sel- Drei Jahrzehnte nach der Nouvelle ben. ben Konzertsaal Schuberts Streichquar- Vague weht eine neue Tristesse durch Die Welt wird sich durch Camilles tett beklatschen. Einen kurzen Blick die Bilder: In den Straßen und billi- Verhaftung nicht verbessern. Alle ande- tauschen. Und vielleicht wird das Opfer gen Zimmern des 18. Arrondissements ren schlagen sich weiter durch. Nur Dai- seine Fäuste ballen, bis sich Schwielen ga hat dazugelernt: Sie klaut das Geld bilden. Susanne Weingarten * Mit Katerina Golubeva. aus Camilles Hotelzimmer. Y

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Theater „Wir sind explosive Wesen“ Der Schriftsteller Peter Turrini über das Morden, Österreich und sein neues Stück „Die Schlacht um Wien“

SPIEGEL: Herr Turrini, Ihr jüngstes Werk „Die Schlacht um Wien“ steht vor der Uraufführung am Wiener Burgthea- ter. Früher protestierten aufgebrachte Politiker und Kirchenleute schon vor der Premiere. Wo bleibt diesmal der Skandal um Sie und Regisseur Claus Peymann? Turrini: Ich bin doch froh, daß es so ru- hig ist. Diese Skandale bringen die Men- schen nur auf und verstellen den Blick. Der Skandal ist eher eine Kriegserklä- rung gegen das Stück, die Qualität einer Theaterarbeit hängt nicht vom Geschrei rundherum ab, sondern davon, ob es ge- lingt, die Menschen aus einem zutiefst inneren Gefühl heraus zu berühren. SPIEGEL: „Die Schlacht um Wien“ spannt den Bogen von der Welterschaf- fung bis zu ihrem vermeintlichen Unter- gang. Sieben Wohlstandsbürger treffen sich im Wald, aus der Lust am Morden.

Statt aber wie geplant ein Asylanten- ACTION PRESS heim abzufackeln, bringen sich einige, Bombenanschlag in Oberwart (im Februar): „Liebe Mörder, wie geht es euch?“ getrieben von ihren Aggressionen und Enttäuschungen, selbst um. Zurück Sprengsätzen. Die Menschen sind an ermordet, der Rechtspopulist Jörg Hai- bleibt das Gefühl, alles sei in Auflösung. den Rand ihrer gegenseitigen Erträg- der rückt in Österreich der Macht im- Turrini: Ich erzähle die Geschichte des lichkeit geraten. Das ist kein Phänomen mer näher. Kommt Ihr Stück nicht zu heraufdämmernden neuen Mittelalters. von Tuzla und Umgebung. Es ist euro- spät? Wir befinden uns generell in einem paweit so, auch in den zwischenmensch- Turrini: Wissen Sie, wenn Journalisten Kriegszustand. Je nach Mentalität und lichen Beziehungen. Wir sind explosive mich jetzt immer wieder drängen, etwas Möglichkeit wird er im Moment unter- Wesen geworden. Warnendes zu unserer präfaschistischen schiedlich ausgetragen: in Jugoslawien SPIEGEL: Im burgenländischen Ober- Situation zu sagen, bekomme ich einen massenweise, in Deutschland häuser- wart haben Rechtsradikale vier Roma Lachanfall. Seit 40 Jahren beschreiben weise, in Österreich besonders hinter- die österreichischen Literaten den Fa- fotzig mit Hilfe von Briefbomben und * Hans-Peter Martin im Wiener Burgtheater. schismus in diesem Lande, den Frem-

Mit scharfen Angriffen auf die verlogene Bürgergesellschaft wurde der Schriftsteller Peter Turrini bekannt. Heute zählt er zu den meistgespielten Theaterautoren der Gegenwart. Allein sein Stück „Alpenglühen“ (1993) wurde bislang in 18 Sprachen über- setzt. Turrini, 51, Kärntner Dorfkind wie Peter Handke, jobbte in diversen Berufen, ehe er 1971 mit der Mülltragödie „Rozznjogd“ für Auf- sehen sorgte. Seine sechsteilige TV-Serie „Alpensaga“ (Mitautor: Wilhelm Pevny) gilt als Klassiker des Genres. Mit polemischen Essays und Reden etablierte sich Turrini als moralisch- politische Instanz in der Alpenrepublik. Seit 1988 spielt Claus Peymann seine Werke auf den Bühnen des Burgtheaters. Turrinis jüngstes Stück „Die Schlacht um Wien“ (erschienen im

H. NEUBAUER Luchterhand Literaturverlag) wird am Samstag Autor Turrini, SPIEGEL-Redakteur*: „Neues Mittelalter“ kommender Woche uraufgeführt.

192 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

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Rede die provokante Frage: „Liebe Mörder, wie geht es euch?“ Turrini: Ich versuche, mich an das schweigende Öster- reich zu wenden. Ich verste- he einfach nicht, wie man Menschen in die Luft spren- gen kann. Diese Mörder le- ben unerkannt mit mir in ei- nem Land, und halb Öster- reich sympathisiert mit ih- nen. SPIEGEL: Sie übertreiben. Turrini: Wahrscheinlich ist es sogar mehr als die Hälf- te. Ich bin ein Mensch, der mit allem, was er sich an Schrecklichkeiten ausgedacht hat, von noch Schrecklicherem eingeholt wurde. Keine meiner Über- treibungen war so maßlos wie die Wirklichkeit. In die- ser Hinsicht bin ich ein völ- lig gescheiterter Autor. SPIEGEL: Verbindet dieses Schicksal Sie mit Thomas Turrini-Werk „Rozznjogd“*: „In jedem anspruchsvollen Theaterstück geht es ums Ficken“ Bernhard? Turrini: Darauf kann ich nur denhaß, die verkappte sehr persönlich antworten. Mordlust. Dafür wurden ih- Als Kind versucht man da- re Arbeiten ignoriert, ver- zuzugehören, ich wollte spottet und als reine Über- Teil meines Kärntner Dor- treibung hingestellt. fes sein, dieses Landes. Das SPIEGEL: Rechtsradikale funktionierte nicht. Mein politische Morde sind in den Vater war Italiener, Aus- 50 Jahren der Zweiten Re- länder, er sah aus wie ein publik aber etwas Neues. Sendbote der Mafia. Später Turrini: Sie irren. Diese Re- lebte ich jahrelang in ande- publik ist buchstäblich auf ren Ländern, schleppte Mord gegründet worden. aber das verpatzte, mißlun- Als im April 1945 bereits gene Österreich immer mit die provisorische Regierung mir herum. Den meisten ausgerufen war und im Par- Schriftstellern meiner Ge- lament tagte, wurden noch neration ging es ähnlich. etwa 2000 jüdische Zwangs- SPIEGEL: Thomas Bernhard arbeiter durch die Lande ge- starb 1989, Peter Handke trieben. Bei diesen Todes- floh nach Paris. Werden Sie märschen sind in fast jedem das Land verlassen, wenn Dorf, auch in Oberwart, ei- Jörg Haider Kanzler wer- nige von ihnen erschlagen den sollte? worden, und zwar von den Turrini: Ich fühle mich in Dorfbewohnern. Doch die- Österreich fremd, aber se Mörderrepublik hat das auch anderswo. Da kann ich verdrängt. Die Täter haben Turrini, Vater Ernesto*: „Ich wollte Teil meines Dorfes sein“ gleich hierbleiben. Außer- die Wehrmachtsuniform dem habe ich hier ein Kind. ausgezogen und das Gastwirtsgewand spielt. In den ersten drei Jahren nach SPIEGEL: Kennen Sie Haider persön- angezogen. Die Mörder stellten sich dem Krieg produzierte dieses kleine lich? vors Weiße Rößl und sagten: Wir sind Land 42 Spielfilme, vermutlich ein Turrini: Haider existiert gar nicht. Er ist Wirte, willkommen in Österreich. Weltrekord. Der Österreicher war dar- eine Zusammenfassung aller schlechten SPIEGEL: Aber der Rest der Welt hat in der gastfreundliche Dodel, das Land österreichischen Eigenschaften, eine gern an die Postkarte Österreich ge- bot sich als Hawaii Mitteleuropas an. Mischung aus Opportunismus und glaubt. Nur wenn sich Kurt Waldheim verplap- Fremdenfeindlichkeit. Haider ist eine Turrini: Wir haben die Welt ganz schön pert oder einige Roma umgebracht Erfindung, da es zu aufwendig wäre, angeschmiert und blendend Theater ge- werden, fällt auf, daß etwas nicht Millionen Österreicher immer in den stimmt. Zeitungen zu beschreiben. Haider heißt * Oben: Inszenierung des Schauspiels Leipzig SPIEGEL: Am vergangenen Mittwoch, in Wirklichkeit Haiduschka und stammt mit Ute Loeck und Jochen Noch 1990; unten links: als Elfjähriger auf einem Kärntner Berg; bei der Feier zur Republikgründung auf aus Trutnov in Nordböhmen. Er hat das rechts: als Statist in der Arena von Verona 1929. dem Wiener Heldenplatz, enthielt Ihre Auftreten eines wendigen Kellners, des-

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halb fallen auch die Deutschen auf ihn Turrini: Es ist ein entscheidender Unter- Turrini: Das Morden läßt mich tatsächlich herein. schied, ob sich ein Deutscher gegenüber nicht los. Mein Österreich ist übersäht SPIEGEL: Wer hat ihn denn erfunden? einem Polen abgrenzt oder ein österrei- mit Toten, mit toten Juden, toten Zigeu- Turrini: Die Journalisten. In diesem chischer Tscheche gegenüber einem nern. Und immer heißt es, das stimmt gar Lande werden Erfindungen so lange Tschechen. Ein Düsseldorfer, der einen nicht, die sind gar nicht tot. In den fünfzi- aufrechterhalten, bis sie für wirklich ge- Türken nicht mag, ist zwar ein Voll- gerJahren saßen die Dorfhonoratioren in halten werden. Die Medien haben den depp, aber er mag einen anderen nicht. den Gasthäusern und sagten: Das mit den Zeitpunkt verpaßt, sich sechs Millionen ermordeten Juden ist ein rechtzeitig von ihrem Ein- Blödsinn. Erstens waren es viel weniger, fall zu distanzieren. Öster- und zweitens sind sie alle wieder zurück- reich gibt es in Wahrheit ja „Er existiert gekommen. Ich habe mir damals ge- auch nicht. gar nicht, er dacht, das ist wie im Theater: Die Toten SPIEGEL: Jetzt im Ernst: stehen wieder auf. Der Nazi-Lehrer, der Haider hat behauptet, ist eine jetzt der Schuldirektor ist, und der Mas- Österreich sei eine „ideolo- Erfindung“ senmord, das ist alles ein Spiel. Es gibt gische Mißgeburt“. Meinen keine Mörder, nur Mörderdarsteller. Sie das etwa auch? Turrini über Jörg Haider Deshalb bin ich zum Theater gegangen, Turrini: Ja, aber in einem um endlich etwas von der Wirklichkeit zu erfahren. anderen Sinne. Das Land L. NEKULA / VIENNA REPORT ist ein europäisches Ge- SPIEGEL: Das Theater ist doch etwas misch mit stark slawischem Einschlag. Ein Österreicher, der einen Tschechen höchst Irreales. Diese Promenadenmischung gibt sich nicht mag, mag sich selbst nicht. Dieses Turrini: Für mich ist das Theater der einzi- als deutscher Schäferhund aus, und Hai- Land und seine Literatur sind nur be- ge Ort der Wirklichkeit. Da kann man der ist der oberste Schäferhund. Das ist greifbar aus dieser Tragikomödie. aus allen Lügen ausbrechen, aus den poli- die wahre österreichische Tragödie, die SPIEGEL: Fast alle Ihre Stücke enden tischen und aus den Lebenslügen. natürlich auch eine Komödie ist. Könn- aber in der Katastrophe. In der SPIEGEL: Warum sind Ihre Bühnenfigu- te der Österreicher sein Durcheinander „Rozznjogd“ von 1971 wird das Liebes- ren so durchgängig obsessiv? lieben, das andere in ihm, was für ein paar von Unbekannten erschossen, in Turrini: Die Obsession ist die einzige schönes Land wäre das. den „Minderleistern“ von 1988 springt Möglichkeit, dem Leben noch eine Spur SPIEGEL: Das Gegenteil findet statt: Die der Hauptdarsteller in den Hochofen, von Anderssein abzugewinnen, vielleicht Menschen klammern sich immer mehr „Die Schlacht um Wien“ schließlich ist auch von Glücklichsein. Aus dem Ge- an eine nationale Zugehörigkeit. die Geschichte einer Mördergruppe. fängnis der Lügen und der Verordnun-

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KULTUR

gen, in das man hineingeboren wurde, de sich selbst abschaffen, wenn es zu ei- ner ganzen Geschichte besteht, ver- kann man nur ausbrechen, wenn man nem zeitverzögerten Nachbilder oder rückt. Das wäre ja so, als würden die sich etwas äußerst Schamloses, Verrück- Aufarbeiter der Medien wird. Das reale Burgtheater-Besucher während meines tes, Merkwürdiges oder sehr Morali- Schreckensbild aus Sarajevo, als eine Stückes kurz ins Theater in der Josef- sches vorstellt. Manchmal gelingt es, für Granate in eine Schulklasse einschlug, stadt gehen oder zum Würstelstand und einen kurzen Moment. war vollkommen. Das Theater kann und wieder zurück. SPIEGEL: Ihre wichtigste Obsession ist soll nicht noch blutigere Schulbänke zei- SPIEGEL: Im Theater entkommen Ihnen die Sexualität. Kritiker halten Sie für ei- gen. die Zuschauer nicht so leicht. nen „Zwangspornographen“. SPIEGEL: Welche Reaktion bleibt Ihnen Turrini: Richtig. Da sitzen sie so eng, Turrini: Was glauben Sie, wofür ich die noch, was ist angemessen? daß niemand zu flüchten wagt. Meine Kritiker halte? In jedem halbwegs an- Turrini: Du kannst nur noch gehört wer- abendliche Einschaltquote liegt bei un- spruchsvollen Theaterstück geht es ums den, wenn du ganz wenig und ganz sel- gefähr 499 Menschen, und das freut Ficken, um was denn sonst? Die Fremd- ten etwas sagst. Du kannst nur etwas mich sehr. Die hören mir ganze zwei heit, die Berührungsangst, der Sauber- Stunden zu, das ist eine Lie- keitswahn, der sich zwischen uns aufge- beserklärung. Das geht weit türmt hat, ist nur noch durch die Gier zu über die Liebe unter Ehe- überbrücken. Die Gier ist die wahre „Er lebt in leuten hinaus. Anarchie. Darum flüchten sich so viele der Sprache und SPIEGEL: Ihr Abschied vom Menschen in die Produkte der Pornoin- Fernsehen, vom Millionen- dustrie. Die schmecken nicht und rie- leidet an der publikum, überläßt ande- chen nicht und reden nicht zurück. Sprache der Linken“ ren das Feld – und das in ei- SPIEGEL: Sie pflegen noch eine weitere ner Zeit, in der die intellek- Obsession, nämlich die Gewalt: In „Tod Turrini über Peter Handke tuelle Debatte von der Neu- und Teufel“ ließen Sie Leichen als Jagd- en Rechten bestimmt wird.

trophäen auf die Bühne karren. C. SATTLBERGER / ANZENBERGER Turrini: Der Geschwindig- Turrini: Ich bin in einer bilderlosen Welt keit der deutschen Geistes- aufgewachsen, in einer Verschwörung von der Welt erfahren, wenn du mög- wanderungen habe ich nie entsprechen des Schweigens. Die Leichen wurden lichst wenig Zeitung liest. Du entwik- können. Daß sich ein Dichter der hinter einem Vorhang versteckt. Uns kelst wieder Beziehungen, wenn du Be- Sprachregelung der deutschen Linken war jeder Einfall recht, diesen Vorhang ziehungen aufgibst. Du kannst wieder auf Dauer nicht hingeben kann und zu besudeln. Der Wiener Aktionismus auf jemanden hören, wenn du dein Tele- will, verstehe ich allerdings sehr gut. zum Beispiel schüttete mit Regelblut fon abmeldest. Was wir an Kommunika- SPIEGEL: Sie meinen den Autor Botho und Urin herum. Wir schrien mit allen tionsmaschinen und Bilderfluten bis Strauß . . . Mitteln, und die anderen schwiegen. zum Wahnsinn steigern, bringt uns im- Turrini: . . . ja, aber die politische Doch heute wird überall wie verrückt mer weiter voneinander weg. Rechte, in deren Nähe er und andere geschrien. Ich kann doch nicht zu die- SPIEGEL: Ist dies der Grund für Ihren geraten, hat letzten Endes immer nur sem Leichenberg, der allabendlich im Rückzug als Fernsehautor? mit der Gewalt spekuliert. Die Gei- Fernsehen aufgehäuft wird, noch eine Turrini: Bei so vielen Programmen steslust der deutschen Rechten war im- Theaterleiche hinzulegen. gleichzeitig ist es doch völlig gleichgül- mer gering, aber die Mordlust groß. SPIEGEL: Aber das tun Sie doch auch in tig, was im Fernsehen gezeigt wird. Was Sie hat niemals ein Programm des der „Schlacht um Wien“. helfen mir Millionen Zuseher, wenn die Denkens erstellt, sondern immer ein Turrini: Ich wiederhole keine Medienbil- zwischendurch alle zu „Derrick“ wan- Programm des Handelns, des Zuschla- der, ich erzähle den Schrecken mit den dern oder sonstwohin. Das macht einen gens. Früher oder später wird einem Mitteln des Theaters. Das Theater wür- Dichter, dessen Würde im Erzählen ei- Dichter, der mit den Rechten sympa- thisiert, von Rechten, die ihm gar nicht sympathisch sind, eines auf den Kopf gehauen werden. SPIEGEL: Auch die linken Denker sind unter Beschuß. Trifft es Sie, wenn Pe- ter Handke sich freut, „daß die Linke endlich den Mund hält“? Turrini: Ich halte das für eine feinnervi- ge Bemerkung. Peter Handke lebt in der Sprache und leidet an den Sprach- redundanzen der Linken. SPIEGEL: Auch Sie argumentieren nur ästhetisch. Das politische Versagen des Sozialismus ist doch längst Geschichte. Turrini: Das mag ja sein, aber die be- schissenen sozialen Verhältnisse sind es nicht. Das steht ja sogar im SPIEGEL. Es gibt eine zunehmende Verelendung in den deutschen Städten, die Arbeits- losigkeit wächst. Daß sich darum keine Studentenbewegung kümmert, ist nur bezeichnend für den ruckartigen Ideo- logiewechsel unter deutschen Geistes-

O. HERRMANN * Aufführung des Wiener Burgtheaters mit Trau- Turrini-Erfolgsstück „Alpenglühen“*: „Mit ideologischer Blindheit durch die Welt“ gott Buhre und Kirsten Dene.

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Werbeseite KULTUR menschen. Es sagt nichts über die Lage der betroffenen Menschen. SPIEGEL: Spricht da der alte Unterstüt- zer der Kommunisten? Turrini: Ich habe schon immer ein Faible für eine schöne Ideologie gehabt. Die aufgehende Sonne am Horizont von Vietnam oder China, oder wo meine Generation sie eben gerade aufgehen sah, ist ja wirklich etwas Schöneres als ein morgendlicher Kater. SPIEGEL: Aber der Blick in die Sonne macht blind. Turrini: Ich würde gerne weiterhin mit ideologischer Blindheit durch die Welt schreiten, aber das dürfen jetzt nur die Katholiken. Sie sehen alles unter dem Blickwinkel der göttlichen Erlösung. Damit ist die größte Katastrophe erträg- lich, weil der liebe Gott schon dafür sor- gen wird, daß es einmal besser wird. Und sei es im Paradies. SPIEGEL: Ist der als Gotteslästerer ver- schmähte Peter Turrini im Grunde sei- nes Herzens zutiefst katholisch? „Ich hoffe, daß ich Gott auslachen kann“

Turrini: Zutiefst. Ich halte die Welt überhaupt nicht aus, ohne mir von ihr zwischendurch paradiesische Vorstel- lungen zu machen. SPIEGEL: Im neuen Stück tritt Gottvater persönlich auf, schweigt aber. Turrini: Der liebe Gott war in meinem Leben übermächtig. Ich kenne heute noch alle Bilder, die es von ihm im Reli- gionsbuch gab. In der „Schlacht um Wien“ ist er für mich ein Entsprungener aus einem Debilenheim, der sich ein bißchen Watte aufgeklebt hat und als Gott durch die Gegend rennt. SPIEGEL: Ihr norddeutsch-protestanti- scher Regisseur Peymann sieht das si- cher anders. Turrini: Vielleicht sieht er ihn philoso- phischer, bedeutungsvoller, die Welt er- schaffend und an ihr zerbrechend. Aber ich habe ja auch einen Gott gehabt, der immer durch die Oberlichte bei unserem alten Klo hereinschaute und mir beim Onanieren zusah. SPIEGEL: Fürchten Sie, daß Gott Ihnen am Ende Ihres Lebens das alles vorhal- ten könnte? Turrini: Ich hoffe, daß ich ihn dann aus- lachen kann. Das wäre ein sehr gelunge- ner Moment meines Lebens. SPIEGEL: Keine Angst vor diesem Fre- vel? Turrini: Ich glaube, daß man im Dichter- leben nur ein paar gute Zeilen zusam- menbringt, und der Stoff, aus dem die gemacht sind, ist der reine Frevel. SPIEGEL: Herr Turrini, wir danken Ih- nen für dieses Gespräch. Y

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KULTUR

Kunst Volkssturm ins gelobte Land SPIEGEL-Redakteur Jürgen Hohmeyer über die Kindheits-Szenen des Biennale-Teilnehmers Martin Honert FOTOS: B. HELLGOTH Honert-Installation „Das fliegende Klassenzimmer“ (noch unvollendet): Figuren in Kinder-Lebensgröße

er Schulmeister trägt geisterhaft weiß herumstehen, einen kleinen angepapp- das gibt sich. Der Künstler Dten Schnauzbart, Him- wird sie alle sorgfältig bema- melspförtner Petrus eine fal- len, ehe er sie einem großen sche Glatze. Alles ist Verklei- Publikum vor Augen führt. Bei dung, Theater, Kinderspiel. der Biennale in Venedig (Er- Das soll durchaus jeder mer- öffnung am 11. Juni) hat seine ken. Deswegen schwenkt die Inszenierung im deutschen Pa- Kleine im blauen Kleidchen villon Premiere. Thema und auch triumphierend ihre Zopf- Titel: „Das fliegende Klassen- perücke wie einen Skalp – und zimmer“. outet sich als Knabe. Honert entnimmt seinen An das „Ende einer mittel- Stoff Erich Kästners Kinder- mäßigen Transvestiten-Show“ buch, an dem er sich als Junge denkt der Künstler Martin Ho- begeistert hat. In der da flott- nert, 41, bei der seltsamen Sze- gefühlvoll stilisierten Schulwelt ne, die er sich provisorisch in Honert-Modell für Venedig: „Vergangenes bleibt“ mit ihrer Atmosphäre von sein Düsseldorfer Atelier ge- Freundschaftskult und Heim- stellt hat. Zugleich aber ist sie für ihn vollplastisch, sondern mit je einer Vor- weh nach dem Elternhaus fand er eigene ein Inbegriff von Bühnen-Tableau, auf- der- und Rückseite in Flachrelief, wie Internatserfahrungen wieder. gebaut mit „großer Vorliebe für billige Zinnsoldaten aus Urgroßvaters Spiel- Entscheidend aber: Kästners Klassen- Effekte“. Kaum nötig, daß er bekennt: zeugkiste. Was in Frontalansicht dem zimmer geht in die Luft. Ein selbstver- „Ich hasse perfekte Illusion.“ Betrachterauge schmeicheln mag, wirkt faßtes Weihnachtsmärchen, das die Ter- Von der kann wirklich keine Rede – Honert hat es so gewollt – beim Blick tianer am letzten Dezemberschultag sein. Die Figuren in Kinder-Lebensgrö- auf die Schmalseiten „einfach fürchter- aufführen, katapultiert den Lehrbetrieb ße stehen einzeln auf flachen Boden- lich“. auf eine höhere, fiktiv-utopische Ebene. platten. Sie sind aus Kunststoff gegos- Daß allerdings die meisten dieser Als Flugreise zum Vesuv, zu den Pyra- sen, doch nicht etwa wirklichkeitsgetreu Flachmann-Typen obendrein noch so miden und zum Nordpol wird der Erd-

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KULTUR FOTOS: MMK Honert-Werke „Zigarrenkistenbild“ (1988), „Feuer“ (1992): Eingefrorene Abenteuerspiele

vischen Inszenierung mit gemaltem Hin- tergrund und bis zu 1,65 Meter hohen spielzeugartigen Polyester-Figuren: ein Playmobil-Volkssturm ins gelobte Land. „Eingefroren“ nennt Honert es, wenn er seine Erinnerung, und sei es die an ei- ne Phantasievorstellung, mit Kunststoff und Farbe festgemacht hat. Etwa, in trü- gerischer Klischeeschönheit, einen Pal- menstrand auf massivem Holzbrett („Zigarrenkistenbild“). Auch gefällt ihm das Paradox, als Souvenir an Bottroper Jungenspiele ausgerechnet „Feuer“ in ei- nen starren Körper aus transparentem Gießharz zu bannen –mit flackernder In- nenbeleuchtung. Wie faszinierend verunsichert aber wird der Betrachter erst durch eine „Fo- to“ genannte Installation des Künstlers, die Biennale-Kommissar Ammann der- zeit in seinem Frankfurter Museum aus-

H. WESSEL stellt (und deren leicht abweichende Honert-Installation „Foto“ (1993): Die Verwandtschaft weggelassen Zweitfassung der Bremer Kunsthalle ge- hört). Das Werk, das tatsächlich auf ei- kundeunterricht zum „Lokaltermin“. mon Samiel gab, noch immer „für nichts ner Fotografie basiert, zeigt den drei- Die Expedition endet versehentlich am zu schade“. Mit der Symbolszenen-Mo- oder vierjährigen Martin Honert hinter Himmelstor, wo Petrus ein vom Pharao delleurin Katharina Fritsch und dem Fo- einem großen Tisch. Ramses festgehaltenes Mädchen durch to-Experimentator Thomas Ruff wird er Da sitzt er hart an der Stuhlkante und einen Zauberspruch erlöst: „Das Ver- auf Einladung des Frankfurter Muse- läßt notgedrungen die kurzen Beine bau- gangene ist geblieben, und der Weg be- umsdirektors und deutschen Biennale- meln, den Blick verloren in eine imaginä- hält die Schritte.“ Kommissars Jean-Christophe Ammann re Kamera gerichtet. Die Szene ist, sozu- Honert geht sie zurück, nicht nur für in Venedig ein postmodernes Trio bil- sagen, fotorealistisch wiedergegeben, je- sein Biennale-Projekt. Immer wieder den. doch dreidimensional, so daß der Muse- greift er zu frühen Vorstellungsbildern, Ein Schlüsselerlebnis, das beinahe umsbesucher leibhaftig in sie eintreten die sich in seinem Gedächtnis festgesetzt Züge einer Erweckungsvision getragen kann. haben. haben muß, ist Honert noch in der Folglich kann er Figur und Mobiliar Doch die Kindheit wird nicht verklärt Grundschule widerfahren. Der Ge- mal von ihrer Licht-, mal von ihrer Schat- und auch nicht düster-stimmungsvoll ge- schichtslehrer hatte den „Kinderkreuz- tenseite inspizieren, wie die durch kon- schildert. Jenseits aller Kunstideale von zug“ erwähnt, beiläufig und eher verle- trastierende Bemalung ein für allemal strenger Form de- und rekonstruiert gen. Doch bei diesem Wort, das die festgelegt sind. Zugleich aber werfen Honert seine Erinnerungen in wechseln- Grenzen zwischen Abenteuerspiel und Kunstobjekte und Publikum ihre Schat- den, oft ernüchternd banalen Medien. Welthistorie so unheimlich verschwim- ten im wechselnden realen Licht des Da ist sich der Mann, der einst der Feu- men ließ, ging für Honert gleichsam Schauraums. Zweierlei Wirklichkeiten erwehr seiner Heimatstadt Bottrop Ku- „die Wandtafel auf“. Vor seinem inne- geraten einander in die Quere. Honerts lissen zur Karnevalsfeier malte und auf ren Auge stand „ein Bild“. Kunst, die manchmal so illustrativ und der Essener Opernbühne in selbstent- Genau das verwirklichte er dann flach daherkommt, gewinnt unversehens worfener Maske den „Freischütz“-Dä- 1985/87 in einer aufwendigen perspekti- Tiefe.

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Die Vorlage allerdings zeigte noch mehr Personal: Auf dem – per Selbst- auslöser aufgenommenen – Familienbild sind Vater, Mutter und drei Honert- Kinder versammelt, der Tisch ist mit Pa- pieren bedeckt. Für sein „Foto“ ließ der Künstler die Verwandten und Requisi- ten weg – und vereinfachte so nicht nur die Bildform, sondern klärte auch die psychologische Situation. Denn allein der Jüngste, Martin, hat- te damals nicht begriffen, daß die Auf- nahme Vorbereitungen für eine Spa- nienreise (auf die er dann auch gar nicht mitkam) szenisch darstellen sollte. Als einziger starrte er deswegen vorschrifts- widrig ins Objektiv. Die schon vom Foto ablesbare Isolierung ist im plastischen Selbstporträt weniger anekdotisch, da- für um so klarer „eingefroren“. Wieviel oder wie wenig Autobiogra- phie auch in Honerts „Fliegendes Klas- senzimmer“ hineinspielt, läßt sich genau kaum sagen. Als einen „netten Zufall“ immerhin verbucht er, daß Kästners Klassenprimus, der so eindrucksvolle Kulissen malt wie einen „beängstigend schönen“ Vulkan (und der zu Weih- nachten beinahe im Internat bleiben muß), den Vornamen Martin trägt. Ho- nerts eigene Vesuv-Attrappe übrigens zehrt von der „Lehrmittelästhetik“ alter Geographiebücher und vom Design ei- ner Pizzeriareklame. Das ist ein angemessener Hintergrund für eine Parade der billigen, jederzeit durchschaubaren Effekte. Auch die Produktionstechnik scheint jeden höhe- ren Ehrgeiz zu dementieren. Zwar hat Honert alle Figuren zu- nächst liebevoll und klassisch aus Ton modelliert. Ihre definitive Gestalt aber erreichen sie in Polystyrol, einem Mate- rial, das sonst gerade für Mickymäuse und Pralinenpackungen gut genug ist. Bei Hoesch in Düren industriell gegos- sen, wirken die Schüler-, Lehrer- oder Pharaohälften erst einmal wie garantiert ungenießbarer Riesenspekulatius. Y B. HELLGOTH Künstler Honert Vision an der Wandtafel .

KULTUR SZENE

Film Ausstellungen Papi ist Kurfürstlicher der Retter Prunk im Wald Hollywood feiert derzeit wie- Er war der letzte Groß-Bau- der die traute Kleinfamilie, meister des Barock, der als gälte es, das Patriarchat Westfale Johann Conrad vor dem drohenden Ende zu Schlaun (1695 bis 1773), der bewahren. Ob im schotti- den europäischen Prunkstil schen Hochland des 18. Jahr- mit nobel-beschwingten Kir- hunderts („Rob Roy“, Start chen, Landhäusern und Palä- Ende Mai), ob in ferner Zu- sten der Backstein-Tradition

kunft („Waterworld“, Start WARNER BROS. seiner Heimat anverwandel- im Herbst) – quer durch alle Connery in „Sumpf des Verbrechens“ te. In Münster dokumentiert Zeiten, Orte und Genres das Landesmuseum zum 300. werfen sich wackere Männer re Papi-ist-der-Retter-Fabel. einem rachehungrigen Killer Geburtstag Schlauns jetzt für ihre Brut ins Zeug. Auch Ein honoriger Rechtsprofes- zu. Den Anlaß zu dieser Ra- dessen Gesamtwerk mit der gerade angelaufene Süd- sor (Sean Connery) hat die che liefert jedoch die Mutter Zeichnungen, Modellen und staaten-Thriller „Im Sumpf Verteidigung eines zum Tode (Kate Capshaw). Die hatte Video-Demonstrationen und des Verbrechens“ (Regie: verurteilten Schwarzen über- den Killer einst als Staats- zeigt auch internationale Arne Glimcher) entpuppt nommen und treibt seine Fa- anwältin in den Knast brin- Verbindungen auf (7. Mai bis sich gegen Ende als weite- milie dadurch unwissentlich gen wollen: wieder so ein 6. August). Erstmals ausge- Fall von fehlgeleitetem weib- stellt werden rund 100 Blät- lichen Ehrgeiz. Das wird ter aus belgischem Privatbe- die Dame lehren, in Zu- sitz – Entwürfe für ein kunft brav zu Hause zu blei- Schlaun-Meisterwerk, das ben. emsländische Jagdschloß Clemenswerth. In abgelege- Tanztheater ner Waldgegend hatte sich der Wittelsbacher Clemens Fauxpas August, fünffacher Bischof und Kölner Kurfürst, ein Pa- in der Kantine villon-Ensemble in beschei- Zimperlich war er nie, der denen Dimensionen errich- Ballett-Berserker Johann ten lassen, das seine geistlich- Kresnik, 55; wo er hintreten weltliche Herrschaft aber ließ, jüngst gegen Ernst Jün- mit höchstem künstlerischem ger und Gustaf Gründgens, und symbolischem Anspruch wuchs kein rechtes Gras feierte. Für die Dekoration mehr. Wesentlich folgenrei- nahm Schlaun allerdings Hil-

MARCUS / BRYAN BROWN cher wirkt nun ein Pas de fe in Anspruch: Die kostbare Musical „Tommy“ (am Broadway) deux, den Kresnik Ende Skizze für das Treppenhaus März mit dem Kantinenwirt des Clemenswerther Haupt- Musical des Hamburger Schauspiel- baus stammt offenbar von ei- hauses aufführte: Vier Wo- nem erst kürzlich aus den chen lang grummelt es schon Quellen aufgetauchten kur- Tommy, der dritte hinter den Kulissen zwischen fürstlichen „Hofmaler und Die Story vom kleinen Briten, der mitansehen muß, wie Betriebsrat und Intendanz, Dessinateur“ namens Ste- sein Vater den Liebhaber der Mutter erschießt, und der wie das Tänzchen zu bewer- phan Laurent Delarocque. vor Schreck blind, stumm und taub wird, hat inzwischen ten sei. Die Choreographie: viele Fassungen. Pete Townshend, 49, einst Autor, Kopf Nach der „Gründgens“-Ge- und Gitarrist der englischen Band „The Who“, machte neralprobe kritzelt Kresnik daraus Ende der sechziger Jahre seine legendäre Rock- mit bunten Stiften einen teu- Oper „Tommy“. 1975 brachte Skandal-Regisseur Ken ren (600 Mark) Kantinen- Russell eine Film-Version unter die Leute, und 1992 stell- tisch voll. Das mißfällt dem te Townshend in den USA eine dritte, vorerst letzte Bear- Wirt, der wiederum mißfällt beitung vor: „Tommy“, das Musical. Seit vergangenem dem Künstler. Böse Worte Freitag geht das Stück nun auch in Offenbach als europäi- knallen, dem Kresnik geht sche Erstaufführung in Serie. Exzellente Sänger-Darstel- der linke Gaul durch: Er malt ler, eine kühle, kitschfreie Regie (Ko-Autor Des Mc- „Heil Hitler“ und ein Haken- Anuff) und vor allem die kühne Optik des Bühnenbild- kreuz an die Kantinenwand ners John Arnone machen die Produktion zu Deutsch- und schleudert den Gruß lands modernstem Musical. Der Stoff allerdings, Tommys „verbal sehr lautstark“ (Be- Wandlung vom autistischen Sonderling zum selbstbewuß- triebsrat) hinterher. Abgang. ten Individuum, dürfte den an Andrew Lloyd Webbers Nachspiel: Kresnik entschul- musikalische Zuckerwatte gewöhnten Musical-Freunden digt sich und tilgt die Zeichen

einigermaßen schwer im Magen liegen. an der Wand. Fauxpas aus WESTFÄLISCHES LANDESMUSEUM der Welt? Delarocque-Zeichnung

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KULTUR

Literatur Wahrheit ohne Trost Hellmuth Karasek über Aleksandar Tisˇma und dessen Roman „Das Buch Blam“

leksandar Tisˇma hat in seinen Er- Eine Schlächterei ohnegleichen be- zählungen und großen Romanen gann. Ungarn, Deutsche und Kroaten Adie Hölle auf Erden beschrieben. stürzten sich auf Juden und Serben. Tisˇ- Eine Hölle ohne Teufel und ohne Gott ma war Serbe und Jude zugleich, dop- in einem noch so entfernten, noch so pelt zum Opfer prädestiniert. Er wurde entgegengesetzten Himmel; Menschen Zwangsarbeiter, wie sie damals im Krie- in ihrer Normalität genügen, die Hölle ge zu Hunderttausenden verheizt wur- schrecklich zu machen. den, Sklaven, deren Erlösung nur im Es ist der Zufall, Geschichte genannt, Tod zu bestehen schien. der die Menschen zu Teufeln formt, zu Tisˇma floh nach Budapest, tauchte armen Teufeln, die grausam erschlagen, unter, geschützt auch durch den Wider- bestialisch umgebracht, sinnlos ausge- willen, den selbst ungarische Faschisten löscht werden; zu sadistischen Teufeln, Hitlers antisemitischen Ausrottungsplä- Quälern, die die Hölle bereiten. nen entgegenbrachten. Der junge (jugo- U. ANDERSEN / GAMMA / STUDIO X Autor Tisˇma: Das Böse braucht keine Gründe

Tisˇma wurde 1924 in Horgosˇ, einem slawische) Patriot und Antifaschist wur- serbischen Ort an der ungarischen de Partisan, der in Titos Armee gegen Grenze geboren. Sein Vater war Serbe, die Deutschen kämpfte. seine Mutter ungarische Jüdin. Kindheit Die Hölle, die Tisˇma erlebt, durch- und Jugend erlebte er in Novi Sad, einer lebt und (wäre man blasphemisch, wür- großen Landstadt, in der das ethni- de man sagen: „wie durch ein Wunder“) sche Durcheinander herrschte, das die überlebt hat, ist der Stoff seiner Litera- k. u. k. Donaumonarchie als Erbe ihres tur. Die Alternative zum unausweichli- kolonial-imperialen Drangs hinterlassen chen Sterben, das er paradoxerweise hatte. überlebte, ist das Schreiben. Es ist das Ein gefährlicheres Lebenslos als Tisˇ- Los, das ihm das Todeslos übriggelassen ma konnte man nicht ziehen. Als er 17 hat. Tisˇma schreibt nicht zur Tröstung; Jahre alt war, marschierten die Ungarn er schreibt aus Pflicht, aus Zwang. Er und die Deutschen in die Vojvodina ein. muß sagen, was war. Er muß die Wahr- Die Ungarn beanspruchten die nach heit sagen. dem Ersten Weltkrieg Jugoslawien zu- Novi Sad ist dank Tisˇma einer der lite- geschlagenen Landstriche, in denen Un- rarischen Orte Europas geworden wie garn, Juden, Serben, Kroaten und das Dublin von James Joyce, das Triest Deutsche (die sogenannten Donau- Italo Svesos, das Danzig von Günter schwaben) lebten. Graß. Allerdings ist Novi Sad, in den

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Kriegswirren ein Inferno auf Erden, keit. Der Folterer erledigt sein Opfer ein erschreckend realer Ort, und Tisˇma auf bestialische Weise in dem Augen- scheinbar ein nüchterner Chronist, der blick, da er kein Geständnis mehr aus dem Leser weder den Trost eines ihm pressen muß. „Sinns“, einer „Deutung“ anbietet, Dulics, schreibt Tisˇma, verschloß die noch die geschilderte, die beschwore- Tür, „fiel auf die Knie, faltete die Hän- ne, die erinnerte Wirklichkeit in einen de, hob den Blick zur Decke und rief gnädigen Schleier besänftigender Meta- laut, befreit: ,Ich danke dir, Gott! Es phern hüllt. gibt dich nicht, Gott! Nein, es gibt dich Wir wissen bei Tisˇmas durch die un- wirklich nicht. Ich danke dir!‘“ barmherzigen Erinnerungen erfunde- nen Figuren, daß sie wahr sind – wahr wie unerbittliche Beispiele, Zeugnisse aus der Hölle namens Wirklichkeit. Es BESTSELLER sind Szenarien, Szenen, die vor Tisˇ- mas Erfahrungen undenkbar wa- BELLETRISTIK ren. Im Roman „Der Gebrauch des Men- Gaarder: Sofies Welt (1) schen“ (1980; er erschien deutsch 1991 1 Hanser; 39,80 Mark bei Hanser) hat ein jüdischer Kauf- mann im Vorkrieg eine Deutsche ge- Gaarder: Das (2) heiratet. Sie, die einst Dienstmädchen 2 Kartengeheimnis im Haus seiner Mutter war, später als Hanser; 39,80 Mark Kellnerin so etwas wie eine Prostituier- te, lebt fremd neben dem Mann, der Eco: Die Insel (3) sie liebt. 3 des vorigen Tages Im Krieg kommt ihr Bruder in ihr Hanser; 49,80 Mark Haus, wo der Mann, längst enteignet und durch einen ungarischen „Treu- Tamaro: Geh, wohin dein (4) händer“ ersetzt, vergebens Trost in der 4 Herz dich trägt deutschen Literatur, in den Dokumen- Diogenes; 32 Mark ten europäischen Wissens sucht. Der Bruder ist ein brutaler SS-Mann, der Allende: Paula (7) die Erinnerungen an Judenerschießun- 5 Suhrkamp; 49,80 Mark gen in der Sowjetunion mit sich ins Wirtshaus schleppt, um sich dort voll- Fosnes Hansen: Choral (6) laufen zu lassen. 6 am Ende der Reise Findet er dort, in der feindseligen Kiepenheuer & Witsch; Umwelt, weder den Trost eines Ge- 45 Mark sprächs noch ein Mädchen, dann kehrt er heim zu seinem jüdischen Schwager Høeg: Fräulein Smillas (5) (der noch, kurze Zeit, verschont lebt) 7 Gespür für Schnee und jammert dem sein „Leid“ vor: Daß Hanser; 45 Mark er die Juden wie Ungeziefer vernichten mußte. Und der Schwager hört ihm mit Haslinger: Opernball (8) Schweiß auf der Stirn zu. Sind das die 8 S. Fischer; 44 Mark Erzählungen, Erfindungen eines Ver- rückten? Oder ist die Welt verrückt ge- Walters: Die Bildhauerin (9) worden? 9 Goldmann; 39,80 Mark In der Erzählung „Die Schule der Gottlosigkeit“ (1978; die deutsche Aus- Noll: Die Apothekerin (10) gabe in der hervorragenden Überset- 10 Diogenes; 36 Mark zung von Barbara Antkowiak, die alle bei Hanser erschienenen Werke Tisˇmas 11 Proulx: Schiffsmeldungen (11) übertrug, erschien 1993) wird ein unga- List; 39,80 Mark rischer Folterer 1942 einen Gefangenen durch fortgesetzte Mißhandlungen er- 12 Pilcher: Das blaue Zimmer (12) morden. Wunderlich; 42 Mark Weil der Peiniger in dem Gefolter- ten, einem Studenten ohne abgearbei- 13 Grimes: Inspektor Jury tete Hände, etwas „Besseres“ sieht. gerät unter Verdacht Weil er kein Geständnis aus ihm her- Wunderlich; 38 Mark ausprügeln kann. Weil er erfährt, daß ein anderer Gefangener längst gestan- 14 Morgan: Traumfänger (13) den hat, was er aus seinem Opfer her- Goldmann; 36 Mark ausschinden sollte. Weil sein Kind ster- Follett: Die Pfeiler benskrank zu Hause liegt. Vor allem (15) 15 der Macht aber, weil es kein „weil“ gibt. Lübbe; 46 Mark Das Böse braucht keine Gründe, nur schreckliche Zufälle der Zwangsläufig- Soeben ist in Deutschland Aleksandar Seinen Roman „Der Gebrauch des Tisˇmas Roman „Das Buch Blam“* er- Menschen“ hatte aus der Perspektive je- schienen (auch dieses Buch, das in Bel- ner scheinbaren Vorkriegsidylle in Novi grad 1985 veröffentlicht wurde, mit be- Sad erzählt, in der es ein multikulturel- trächtlicher Verspätung), die es aller- les Nebeneinander gab. Er hatte das dings in einem ergänzenden Zusammen- Schicksal einer Handvoll Menschen er- hang mit einer ganzen Reihe von Buch- zählt, die alle bei einem „Fräulein“ die veröffentlichungen bringt – mit Louis deutsche Sprache erlernten, aus ver- Begleys „Lügen in Zeiten des Krieges“ schiedenen Motiven: um Konnex zur zum Beispiel. Welt der Bücher und der Bildung zu ge- winnen, um etwas „Besseres“ zu werden oder um die Tradition der Eltern weiter- zuführen. Sie alle werden vom deut- schen Krieg, grausige Ironie der Ge- schichte, erst aus der Lebensbahn ge- SACHBÜCHER worfen, dann zerstört und ermordet. „Das Buch Blam“ (der Titel eine As- Wickert: Der Ehrliche (1) soziation an das biblische „Buch Hiob“) 1 ist der Dumme erzählt die gleiche schreckliche Zeit in Hoffmann und Campe; 38 Mark Novi Sad, die Jahre der Nazi-Herr- schaft. Aber der Roman entwickelt sie, 2 Carnegie & Assoc.: (2) anders als „Der Gebrauch des Men- Der Erfolg ist in dir! schen“, aus der Rückschau der fünfziger Scherz; 39,80 Mark Jahre. Erzählt wird das Grauen der De- Carnegie: Sorge dich (4) portation und Ermordung Tausender 3 nicht, lebe! Serben und Juden von einem Überle- Scherz; 44 Mark benden, von Blam, der sein Überleben als Schuld empfindet, weil er es, neben Friedrichs, mit Wieser: (3) dem Zufall, seinem schüchternen Versa- 4 Journalistenleben Droemer; 38 Mark gen am Leben verdankt. Tisˇmas Bücher sind, bei aller Scho- Paungger/Poppe: Vom (5) nungslosigkeit, zart. Das heißt: Sie ge- 5 richtigen Zeitpunkt hen zart, genau, verständnisvoll, un- Hugendubel; 29,80 Mark barmherzig mit ihren Figuren um. Die Schüchternheit der ersten Liebe, die Ehrhardt: Gute Mädchen (6) Hilflosigkeit von Tanzstunden, das rüh- 6 kommen in den Himmel, rende Bemühen, seine Gefühle in Poe- böse überall hin siealben zu bauen, werden mit dem glei- W. Krüger; 29,80 Mark chen Gewicht, dem gleichen poetischen Ogger: Das Kartell (7) Ernst geschildert wie das Wüten von 7 der Kassierer Hinrichtungskommandos, die Gleich- Droemer; 38 Mark gültigkeit der Mörder. Ja, das Schreckliche an Tisˇmas Wahr- Preston: Hot Zone (9) heit ist es, daß eins sich aus dem andern 8 Droemer; 39,80 Mark ergibt, daß das Unvereinbare zueinan- Gorbatschow: Erinnerungen (10) der paßt – sobald der unausweichliche 9 Siedler; 78 Mark Zufall des Grauens es passend macht. Auch Tisˇmas Roman „Das Buch Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (8) Blam“ ist schreiend gerecht. Es gibt da 10 Integral; 19 Mark einen Kollaborateur, der es in der Un- Paungger/Poppe: Aus (14) garnzeit zum Chefredakteur der faschi- 11 eigener Kraft stischen Zeitung bringt, ein Serbe, der Goldmann; 39,80 Mark mit vielen Frauen ein Verhältnis hat und weil er ein Filou ist, aus Versehen mehr 12 Mandela: Der lange (11) Gutes als Böses bewirkt. So rettet er Weg zur Freiheit dem Helden Blam das Leben bei der S. Fischer; 58 Mark großen Razzia, wie er überhaupt seine Ogger: Nieten in (12) Finger kaum mit Blut befleckt. 13 Nadelstreifen Als die Partisanen siegen, wird er ge- Droemer; 38 Mark fangengenommen. Ein junger kommu- nistischer Partisan tötet ihn auf eine be- 14 Jong: Keine Angst (13) sonders brutale Weise: Er fordert ihn vor Fünfzig auf, den Mund zu öffnen. Warum? Er Hoffmann und Campe; 44 Mark wolle ihm in den Mund schießen. Nein, Knopp: Das Ende 1945 Gerechtigkeit darf, wer Tisˇma liest, als 15 C. Bertelsmann; 48 Mark Trost nicht erwarten. Y Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin Buchreport * Aleksandar Tisˇma: „Das Buch Blam“. Aus dem Serbokroatischen von Barbara Antkowiak. Hanser Verlag, München; 240 Seiten; 36 Mark. .

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Fernsehen Rücktritt vom Rotwein Die Affäre in der Affäre: Heinrich Breloers Film „Einmal Macht und zurück – Engholms Fall“

iel ist Björn Engholm nicht zu ent- schem Ehrenwort, habe es eine „erkenn- leider, keine passende Gelegenheit. locken. Seine Antworten bestehen bare Anlaufstelle“ für Pfeiffer gegeben, Erst schien es nicht opportun, weil kon- Vmeist aus Schweigen. Allenfalls „weder beim Landesvorstand noch beim servative Staatsanwälte, Medien und murmelt er mal ein „Hm“, wenn der In- Fraktionsvorstand, noch bei mir oder Politiker ein Komplott der SPD mit terviewer fragt, ob es ihm nach Uwe sonstwo“. Pfeiffer konstruieren wollten. Barschels Tod „schwergefallen“ sei, Diese abschließende Aufzählung war Dann verbot sich eine Richtigstel- „vor die Kamera zu gehen“. ebenso kurzschlüssig wie überflüssig. lung, weil gerade sein Pressesprecher Vielleicht blieb der frühere SPD-Vor- Engholm hätte ohne weiteres offenbaren Nilius in den Nesseln saß – Pfeiffers von sitzende, Kanzlerkandidat und Kieler können, daß ihn sein Rechtsanwalt Peter der Staatsanwaltschaft beschlagnahm- Ministerpräsident wortkarg, weil er, wie Schulz spätabends am 7. September nach tem Kalender war zu entnehmen, daß der TV-Autor Heinrich Breloer fest- einer Wahlveranstaltung in Wedel infor- der Barschel-Gehilfe und der Engholm- stellte, bei der Aufzeichnung des Ge- miert hatte, was er soeben im Lübecker Adlatus mindestens seit Mitte Juli ver- sprächs „immer nachdenklicher gewor- Lysia-Hotel, im Beisein des damaligen traulichen Umgang pflegten. den ist, wen er da zu sich in die Woh- SPD-Landesvorsitzenden Günther Jan- Schließlich kam der Tod Barschels nung gelassen hat“. sen und des SPD-Pressesprechers Klaus dazwischen – keine gute Zeit für Engholm kannte Breloers Film über Nilius, erfahren hatte: daß ein Überläu- eine späte Beichte. So hielt Engholm die Barschel-Affäre des Jahres 1987 fer auspacken wollte. auch noch vor dem Untersuchungsaus- („Die Staatskanzlei“) und „konnte“, so Vorausgesetzt, Engholm hat wirklich schuß an der gebeugten Wahrheit fest. Breloer, „damit zufrieden sein“. Nun nicht früher von Pfeiffers Treiben Wind Die kam, zum Glück für Engholm, erst kommt, am 3. Mai, auf den Tag genau bekommen – es hätte nichts geschadet, heraus, als die fünfjährige Verjährungs- zwei Jahre nach Engholms Rücktritt von wenn er bekannt hätte, schon sechs Tage frist für die strafrechtliche Verfolgung allen Partei- und Regierungsämtern, früher eingeweiht worden zu sein, statt von Falschaussagen gerade verstrichen die Fortsetzung ins ARD-Programm: am Wahlabend den Unwissenden zu mi- war. „Einmal Macht und zurück – Engholms men. Nun aber war die Legende in der Weil auch das öffentlich-rechtliche Fall“ heißt das in bewährter und vielfach Welt, und für eine Korrektur ergab sich, Fernsehen auf Einschaltquoten achten ausgezeichneter Breloer- muß, schmälzt Breloer Manier verfertigte Doku- das dröge Lehrstück Drama aus Archiv-Auf- großzügig mit Gaudi. nahmen, Interviews und Engholms Schweig- nachgestellten Spielsze- samkeit kontrastiert zu nen. der Geschwätzigkeit et- Das neue Opus handelt wa der Elfi Jabs. Pfeif- von einem beispiellosen fers Ex-Geliebte schwa- Absturz: wieeiner aus na- droniert munter drauf- hezu nichtigem Anlaß los, wie sie ihr „Püpp- vom Beinahe-Kanzler in chen“ vergötterte („Mi- Bonn zum Frührentner in nisterpräsident, das ist Lübeck wurde. für mich eine ganz ande- Die Flunkerei, die re Welt“), bis sie zu der Engholms Fall auslöste, Einsicht gelangte, daß eine Notlüge zu nennen, Pfeiffer immer in seinem wäre schon übertrieben. Leben „die Hand beißt, Denn ohne Not hat der die ihn füttert“. SPD-Spitzenmann am Ihre Liebe war bereits 18. September 1987 be- lange erkaltet, aber es teuert, erst fünf Tage zu- bringt sie fürchterlich in vor, am schleswig-hol- Rage, als eine Freundin steinischen Wahlsonn- ihr berichtet, Pfeiffer ha- tag, von dem Wirken des be schon ein Foto seiner Reiner Pfeiffer in Bar- neuen Flamme in der schels Staatskanzlei er- Brieftasche – wo sie ihm fahren zu haben. doch noch die Wäsche Nirgendwo, versicher- und das Frühstück te Engholm unmittelbar macht. Nun endlich nach Barschels bombasti- schmeißt sie ihn aus der Wohnung, Ordnung muß sein. * Burghart Klaußner; auf dem

TV-Bildschirm: Ministerpräsi- WDR Elfi Jabs kann sich dent Barschel. Regisseur Breloer, Engholm-Darsteller*: Beispielloser Absturz auch wunderbar darüber

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antwortet Gansel verständnislos: „Du, ich hab’ das nicht mehr parat gehabt.“ Eine „existentielle Grenzsituation“ hat Engholm bei seiner Rücktritts-Pres- sekonferenz das lange verschwiegene Nachttreffen mit seinem Anwalt ge- nannt. Später gestand er grienend: „Na ja, ich war voll.“ So will Schulz die Ausrede nicht ste- henlassen. Er schildert Gansel, wie er Engholm in Wedel antraf: „Björn saß da bei einem Glas Wein in ganz erbärmli- cher Stimmung.“ Nach der ersten SPIE- GEL-Veröffentlichung erwog Engholm, aus der Politik auszusteigen. Gegenüber Gansel stellt Schulz klar: „Nicht daß du denkst, er war hinüber. Björn hat genau verstanden, was ich ihm da über Pfeiffer mitgeteilt habe.“ „Die Persönlichkeit Engholms“ bleibt auch für Breloer „ein Rätsel“. Der sei, meint er, „eine Medienfigur gewesen, in

WDR die viel hineingelegt wurde von Bera- Pfeiffer-, Nilius-Darsteller im Breloer-Film*: Vertraulicher Umgang tern“. So wurde er der Gefangene einer von ihm selbst oder von anderen verord- aufregen, daß ihr Lebensabschnittsge- bei Engholms Freunden, hat Pfeiffer neten Rolle als Lichtgestalt. fährte die Klospülung stets viermal zog. den Bremer SPD-Finanzsenator Claus „Fehlverhalten“ mochte sich Eng- Die Stadtwerke, erzählt sie, hätten we- Grobecker angerufen und ihn gebeten, holm beim Rücktritt nicht ankreiden, gen des ungewöhnlich hohen Wasser- ihm einen Kontakt zu den Kieler Sozial- obwohl es im Redeentwurf noch so verbrauchs schon mal angefragt, ob sie demokraten zu bahnen. Doch das pas- drinstand. Der Gestrauchelte hader- einen Rohrbruch habe. sende Puzzle hat Breloer übersehen: te nicht mit sich, sondern mit widrigen Staatsschauspiel und Komödien- „Pfeiffer hat mir von dem Anruf bei Umständen und unerbittlichen Wider- stadel, will der Autor sagen, liegen oft Grobecker nichts erzählt.“ sachern. nah beieinander. Der Film zeigt, so Bre- Mit Engholm hat sich Breloer im Engholms bizarre Gegenoffensive vor loer, „die Beletage, wie Engholm in Winter 1993 über das angebliche Mai- der Demission, sein Lamento über den Kiel regierte, und parterre die Liebesge- Gespräch mit den Freunden unterhal- „organisierten Konservatismus“, hätte schichte von Elfi Jabs und Reiner Pfeif- ten. Was die beiden denn 1987 öffent- den zerrissenen Charakter bloßlegen fer“. lich bekundet hätten, fragte Engholm. können. Doch Breloer verzichtet darauf Und dann „treffen sich die Stränge“: „Sehen Sie“, sagte er, als der Autor de- zugunsten eines unterhaltsameren Ele- Eine Frau von schlichtem Gemüt bringt ments: Er rekonstruiert die Episode, den Hoffnungsträger der Sozialdemo- wie Engholm, angeschlagen und ver- kratie zu Fall. Rachsüchtig rennt sie zur „Eine Medienfigur, schlafen nach einer durchzechten Nacht, Illustrierten Stern und petzt, daß Pfeif- in die viel hineingelegt verspätet zu einer Parteiveranstaltung fer mit mindestens 40 000 Mark von der eintrifft – als handle es sich nicht um das SPD geschmiert worden sei. wurde von Beratern“ Ende einer verheißungsvollen Karriere, Breloer schürt den Verdacht, daß sondern um den Rücktritt vom Rot- Engholm noch früher, als er bis jetzt zu- ren Stillschweigen einräumte, „deshalb wein. gegeben hat, von dem Undercover-Wir- bin ich gegenüber solchen Äußerungen Routiniert baut Breloer seine Collage ken des Staatskanzlisten gewußt habe. mißtrauisch.“ zusammen. Doch alle handwerkliche Dabei gelingt dem Autor sogar noch ein Jetzt vom SPIEGEL nach dem angeb- Perfektion kann ein Dilemma nicht ver- halber Scoop: Ein mit Engholm angeb- lichen Gespräch mit den Freunden be- decken: Wegen der langen Entstehungs- lich befreundetes Paar sagt erstmals aus, fragt, kann sich Engholm nicht mal zeit des Films läuft er immer Gefahr, der Spitzen-Sozi habe ihnen 1987 schon mehr an den dazu mit Breloer geführten daß er etwa durch neuere Erkenntnisse frühzeitig von Steueranzeige und Be- Dialog erinnern. Verdrängt er Unange- des seit zwei Jahren in Kiel ermitteln- spitzelung berichtet. nehmes, oder leidet er unter Gedächt- den Untersuchungsausschusses überholt Am 10. Mai, im Anschluß an eine nisschwund? Ist es vorstellbar, daß einer werden könnte. Vernissage, habe Engholm bei ihnen zu selbst essentielle Sachverhalte, wie Eng- Also läßt Breloer, vorsichtshalber, Hause auf der Couch gesessen und von holm sagt, „nach hinten wegbucht“? viele Deutungsmöglichkeiten offen. den gegen ihn gerichteten Aktionen er- Es wirkt gespenstisch, wenn der SPD- Kryptisch bleibt auch der Schluß: SPD- zählt. Doch Breloer verschießt sein Pul- Vorständler Norbert Gansel nach seiner Landesgeschäftsführer Werner Kinds- ver. Seine Überraschungszeugen blei- Rückkehr von einem Treffen in Wismar müller, der zum Verdruß manches ben anonym, zwei Schauspieler referie- mit Rechtsanwalt Schulz Engholm fragt: Obergenossen auf schonungslose Auf- ren ihre Aussage. Zudem verpaßt Bre- „Warum hast du mich nach Wismar fah- klärung drängte, zieht den Vergleich mit loer die Gelegenheit, das neue Detail ren lassen?“ Engholm mußte, logischer- einer Matrjoschka-Puppe: Unter der mit einem bereits bekannten Indiz zu weise, davon ausgehen, daß Schulz dem Barschel-Affäre kam der Engholm-Fall verknüpfen. Bundestagsabgeordneten unter dem zutage. Denn Ende April 1987, wenige Tage Schutz des beiderseitigen Zeugnisver- Aber, deutet er dunkel an, niemand vor dem angeblichen Couch-Gespräch weigerungsrechts von dem nächtlichen weiß, ob sich darunter noch mehr Ver- Treffen in Wedel berichtet und damit pupptes verbirgt. * Hermann Lause, Wolfgang Schenk. seine Lüge aufdeckt. Doch Engholm Norbert F. Pötzl

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am Stöhnen der in Wehen liegenden Autoren Schöpfung?“ Dann gerät die Mater do- lorosa „in ein theologisches Stammeln hinein, das für die lebendigste Theolo- gie heute charakteristisch ist“, und der Vom Es zum Ich-Du erschöpfte Leser rätselt: Welcher Ko- bold ist denn jetzt in die Autorin gefah- Peter Stolle über die Memoiren der Theologin Dorothee Sölle ren? Die Frage hat wohl auch Sölle-Ken- ner schon beschäftigt. Der rheinische on Kindheit an, im beschirmten Ju- ken Tee und ich unter seinem zu starken Philanthrop Heinrich Böll überzog die risten-Heim, hatte sie „nur wenig Kaffee“. Dennoch hat das Paar die Gesinnungsfreundin gern mit „Zärtlich- VSinn für die Realität“. Als Teen- Grundwerte einer soliden Hausgemein- keit und Spott“. Sie hat ihn vor allem in- ager erhitzte sie sich für den Vakuum- schaft erkannt: „Ohne Es kein Ich-Du, nig verehrt, weil er „den Krieg so gründ- Theoretiker Martin Heidegger. Der Phi- ohne Welt kein gemeinsames Wachsen“ lich haßt, wie es sonst nur Frauen tun“. losophensatz „Dasein ist das Hineinge- und „ohne Vision vom anderen Leben Mit „Hein“ und seiner angetrauten An- haltensein in das Nichts“ gab ihr jahre- keine Ehe, sondern nur die bloße ver- nemarie verbrachte das Ehepaar besinn- lang existentiellen Halt. Und erst all- ödete Konsumorientierung“. Beschämt liche und weinselige Stunden. Dann in- mählich „nistete sich ein radikales Chri- krümmen wir uns in unsere neue Couch- tonierten sie gemeinsam das Lied „Ick stentum“ in ihr ein. Seither jauchzt die garnitur, bleich stopft die Gefährtin ihr wull, wir wärn noch kleen, Johann“. fortschrittliche Ökumene über den Be- antivisionäres Chanel-Kostüm in die Der Dichter rief vergnügt: „Trink doch tätigungsdrang der evangelischen Theo- Altkleidersammlung. noch was, Alte!“ und entbot den Pazifi- login Dorothee Sölle. sten sogar das Du. „Fulbert! Von den Zinnen der Befreiungstheo- Dorothee! Wir waren sehr logie hat sie Unterdrückung und Aus- glücklich.“ beutung der Dritten Welt angeprangert, Lag es an Freund Hein, daß Kapitalismus und Rüstung verdammt. die Theologin sich mit einer Sie hat die Gebets- und Jutegruppen der Rolle als Spezialistin für tran- Friedensbewegung befruchtet und „den szendentales Gebären nicht be- Feminismus zum menschheitlichen Un- scheiden wollte? Jedenfalls hat ternehmen“ erklärt. sie sich freizeittechnisch der Frau Sölle hat sich ein streng geschei- Dichtkunst zugewendet und Ly- teltes, sozialromantisches Weltbild zu- rik abgesondert, zum Beispiel gelegt, in dem die Armen gut und die ein Poem über den Wohnsitz Reichen abgrund böse sind. Sie ist ein des lateinamerikanischen Frie- Mensch mit enormer Herzensbildung, denskämpfers Ernesto Cardenal eine der barmherzigsten Seelen in dieser („Das Haus hat eine Stille/ auch heillosen Zeit. Warum aber verdüstert wenn das Fernsehen dudelt“). diese Ikone der siebziger Jahre ihr Dem toten Böll hat sie sogar christsoziales Lebenswerk nun nachträg- ein Heldengedicht gewidmet: lich mit einem weiträumig verquasten „Wer schützt mich jetzt/ vor den Memoirenband: mit einer Suada aus Projektilen der Polizei/ die in Schwulst und Larmoyanz? die unbewaffnete Menge Unbeugsam links reckt sich diese Be- schießt.“ troffenheitsduse in den „Gegenwind“ So ist diese herzensgute Träu- (Buchtitel) luziferischer Mächte*. Sie merin vor dem Herrn nun 65 hat unermüdlich übertarifliche „Hoff- Jahre alt geworden. Und sie hat, nungsarbeit“ und „Trauerarbeit“ gelei- auch ohne den kugelsicheren

stet, über die „Feindesliebe in der Klas- C. KELLER / GRÖNINGER Poeten, kreuzfidel alle Massen- sengesellschaft“ diskutiert und bei den Ehepaar Sölle-Steffensky Hinrichtungen in deutschen „Nürnberger Orgelwochen“ das Thema „Trink doch noch was, Alte!“ Frauenzentren, jedes Blutbad „Bach lieben in der Folterwelt“ erörtert. an Ostermarschierern und Öko- Sie ist stolz auf „mein Frausein“, verab- Es hat aber in den Sölle-Ehen nicht Zirkeln unversehrt überstanden. Auf- scheut intensiv „Häkeln und Stricken“ nur Vergeistigung, sondern auch leibli- recht realitätsfern wirkt sie fort als und ersehnt „das Leben in Ganzheit“. che, „inselhafte Ich-Du-Begegnung“ „theologische Arbeiterin“ mit „Anteil- Überdies ist die dynamische Protestan- stattgefunden. Davon zeugen vier nun- habe an der weltweiten christlichen Be- tin beseelt von „der menschheitlichen mehr erwachsene Kinder, bei deren Ge- wegung“. Und auch für den Gang in die Aufgabe“, die „Beschädigungen des Pa- burt die Theologin wertvolle Erkennt- Ewigkeit ist sie gut gerüstet: „Ich bin“, triarchats“ zu überwinden. Denn tief nisse über ihr Frausein gewonnen hat. schreibt sie dunkel, „zu Hause in diesem wurzeln in dieser Männerwirtschaft Erneut kommt sie „menschheitlich“ Kosmos, ohne daß ich jetzt meine Teil- „Misogynie, Gebärneid und Angst“. stark ins Grübeln und berichtet von der haftigkeit, die ich vielleicht 70 Jahre Trotz erheblicher Vorbehalte hat sich „Urerfahrung der Frauen, von den Er- lang gehabt habe, weiterleben müßte.“ Frau Dorothee aber in die Gegenge- öffnungswehen zu den Preßwehen zu Fulbert, Sie als Gatte, verstehen Sie schlechtlichkeit versenkt und geheiratet. kommen“, dies sei „grundlegend für je- diesen Satz? Unsere Anteilhabe ist bei Mit dem (zweiten) Ehemann Fulbert de menschengemäße Beziehung zum Ihnen. Und wenn Sie, zerrüttet von Mi- Steffensky neckt und streitet sie sich Schmerz“. sogynie und Gebärneid, den Weg nicht gern. Er leidet „unter meinem zu star- Sie formuliert dann aufgewühlt: „Wie mehr finden vom Es zum Ich-Du, dann wird unser Schmerz zum Schmerz Got- kochen Sie Ihrer häuslichen Hirtin eine * Dorothee Sölle: „Gegenwind“. Verlag Hoffmann tes? Wie gewinnen wir Anteil am besonders starke Tasse Kaffee. Das be- und Campe, Hamburg; 320 Seiten; 36 Mark. messianischen Schmerz der Befreiung, freit, ganzmenschlich. Y

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Stars „Nimm es wie ein Mann“ SPIEGEL-Redakteur Thomas Hüetlin über das Popidol Boy George

er Mann mag um die 30 Jahre alt Punk aufgewachsen ist, sein, und er stiefelt ein wenig wak- waren genau das die DkeligdurchdieglitzerndeLondoner musikalischen Wurzeln, Frühlingsluft. Er trägt zwei Reiseta- und diese Stilvielfalt schen, die Haare sind militärisch kurz ge- machtBoyGeorgezuei- schnitten. Auf seinem Sweatshirt steht: nem der letzten Pop- „Hate is not my drug.“ großmeister –und nicht, Vor ein paar Jahren hat er an solch glit- wie manche meinen, zu zernden Tagen gern mal den Verkehr zu- einem einfallslosen Fäl- sammenbrechen lassen. Aber vor ein scher. „Jede Form von paar Jahren schleppten auch noch Lakai- Musik ist Diebstahl“, en sein Gepäck, die Haare fielen ihm rechtfertigt Boy George noch nicht aus, und den Teint seines Ge- stolz seinen Eklektizis- sichtes kannte sogut wieniemand –außer mus, „es kommt nur dem Visagisten, der jeden Morgen ein an- darauf an, daß man es deres Make-up darüber legte. beherzt tut.“ Heute hat der Mann anderes im Kopf Pop war für den Jun- als nonstop die große Popberühmtheit zu gen, der als eines von spielen. Oft will er einfach nur seine Ru- sechs Kindern irischer he, und er muß nicht viel tun für seine Einwanderer in der Anonymität. Er braucht keine getönten Vorstadt von London Limousinenscheiben und keine Sonnen- aufwuchs, stets mehr als brille. Er braucht nur so ein schwarzes nur Musik. Pop war die Sweatshirt –und schon erkennt ihnkeiner Möglichkeit, einen Sinn mehr. außerhalb von Schule, Zu dem wenigen, was von seiner alten Arbeitslosigkeit oder Identität übriggeblieben ist, zählt der Na- ausgetrampelten Kar- me des Mannes – obwohl er längst aus rierewegen zu finden. Pop war die Chance, Lust und Leidenschaft auch jenseits der Voll- jährigkeit zu erhalten.

STUDIO X Pop war die Ahnung, daß die sexuelle Ratlo- sigkeitdorteinEndefin- den würde.

NICOZZI / GAMMA / Denn mit zwölf hatte Musiker Boy George (1994) George O’Dowd, wie er „Die Pfeffersteakzeit ist vorbei“ damals noch hieß, im Wohnzimmer seiner El- Popideen der achtziger Jahre nicht in ir- tern David Bowie im Fernsehen gese- gendeinem Lexikon oder auf einer hen. „Schwuchteln“, hatte die Groß- Greatest-Hits-CD verrotten zu lassen. mutter gerufen, als sich die Männer auf Beide Werke sind eine endgültige dem Bildschirm küßten. „Was für eine

B. KINNEY / CONTACT / FOCUS Richtigstellung gegenüber jenen Klug- Freude“, dachte sich der Enkel. Popstar Boy George (1984) schreibern, die in Boy George immer George O’Dowd verbrachte seine Ta- Stets auf die Damentoilette nur eine Marionette sahen – unfähig, ei- ge damit, im Supermarkt Regale aufzu- nen Song zu schreiben; unfähig, einen füllen und Akten von Büro zu Büro zu dem Teenageralter raus ist, nennt er Song zu singen; unfähig, auch nur die schleppen. Sein Leben begann nachts, sich immer noch Boy. Boy George. Und Garderobe selbst auszusuchen. wenn er sich in Diskotheken und auf weil dieser Boy George einer der am Die Stilvielfalt, die Boy George oft als Partys neue Identitäten schenkte – als meisten beschriebenen und am häufig- mangelnde Originalität ausgelegt wur- Punk, als Nonne, als Geisha, als Außer- sten beschimpften Popstars des letzten de, bestimmt auch „Cheapness and irdischer. Ende der siebziger Jahre ga- Jahrzehnts war, hat er nun seine Auto- Beauty“, Glam-Rock-Stücke stehen ne- ben sich junge Menschen wie er den Na- biographie mit dem Titel „Take it like a ben Soulballaden, Folksongs im Stile ei- men „Blitz Kids“ – verwegen aussehen- Man“ und die CD „Cheapness and ner Joni Mitchell neben neongrellen de Narzisten, deren größter Ehrgeiz Beauty“ veröffentlicht – zwei Versuche, New-Wave-Nihilismen. darin bestand, für die Klatschspalten wieder zum Autor seines schlingernden Aber für einen Jungen, der mit T-Rex der Szenemagazine fotografiert zu wer- Lebens zu werden, zwei Versuche, die und dem Motown-Sound, Reggae und den. „Solange mich am Abend ein Blitz-

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licht zur Kenntnis nahm“, sagt Boy Talkshows geißeln und George, „hatte ich am nächsten Tag mit ihren Bekenntnissen wieder einen Grund aufzustehen und um die Sympathie derer mir eine neue Verkleidung zu überle- werben, die sie gerade gen.“ Seine Bühne war, lange bevor er noch stürzen sehen woll- seinen ersten Song schrieb, die Straße ten. „Heroin“, sagt Boy und die Tanzfläche. George, „war vielleicht „Wir wollten alle Stars sein“, sagt Boy die schlimmste meiner George, „und es hat jeden von uns fast Drogen – aber ich habe umgebracht, wenn ein anderer schneller das erst bemerkt, als ich ein Star war.“ Anfang der achtziger Jah- keins mehr hatte.“ re verliebte er sich in einen schwarzhaa- Und als er dann leer rigen Schlagzeuger namens Jon Moss, war wie eine alte Auto- und wenig später gründeten sie ihre er- batterie, erinnerte er ste Band: Culture Club. sich, daß Pop doch mehr Schon der zweite Auftritt im Norden bedeutet hatte, als sich Englands wurde zum Fiasko. „Die Leu- von schlechten Fotogra- te brüllten ,Schwuchtel runter von der fen und biederen Talkma- Bühne!‘“, erinnert sich Boy George. Er stern ausnehmen zu las- aber habe zurückgerufen: „Nennt mich, sen. wie ihr wollt. Ich habe jetzt euer Geld, Er begann wieder aus- und ich werde mir jede Menge Lidschat- zugehen, Ende der acht- ten dafür kaufen.“ ziger Jahre, London hatte Nur ein paar Wochen später hatten gerade die Acid-House- die Ausgebuhten ihren ersten Hit. „Do Musik entdeckt, und die you really want to hurt me“ wurde ein Szene war das genaue Ge- Riesenhit, und Culture Club wurde zu genteil von dem, was An- einer der erfolgreichsten Bands des fang des Jahrzehnts wich-

Jahrzehnts. Großmütter, Schulmädchen STUDIO X tiggewesen war. Es warin und Hausfrauen schwärmten plötzlich den Klubs stockfinster, es für dieses dickliche Mann-Frau-Fakto- gabkeine Popstars, esgab tum, das behauptete: „Sex? Ich trinke keinen Glamour, und die

lieber eine Tasse Tee.“ Sogar ein Mann NICOZZI / GAMMA / Räume wurden ausgefüllt wie Robert Mitchum sagte: „Gut, er ist Drogendelinquent Boy George (1987) von Computerklängen, eine Tunte. Aber eine, die ich adoptie- „Wir warten, bis er tot ist“ die irgendein DJ von der ren würde.“ Rampe schickte. Wenn ein paar Fotografen in der Nä- Straße hielt er eine alte Frau an und zeigte Boy George, der die Gesetze der Sub- he standen, dann ließ er das Herrenklo ihr seine American-Express-Karte mit kultur kennt, begriff sofort, daß dies der links liegen und ging stets auf die Da- den Worten: „Sie glauben nicht, daß ich Anfang von etwas Neuem war. Er produ- mentoilette. Das, wußte er, würde ihn Boy George bin, aber hier auf dieser Kar- zierte House-Musik, gründete sein Label mindestens auf die Titelseite der Sun te steht es: Boy George.“ namens „More Protein“ und nahm junge bringen. „Ich wollte in hohen Schu- Zu Hause in England hatten die Boule- Künstler unter Vertrag. hen mit rasierter Brust am Abgrund ste- vard-Zeitungen längst einen Preis auf sei- Und so ist er wieder eingetaucht in die- hen, doch auf einmal war ich der nen Kopf ausgesetzt. Man munkelte von se Ersatzwelt der Klubs und Moden, der Liebling der Großmütter“, sagt Boy 50 000 Pfund, die der bekommen sollte, Platten und Türsteher. Wenn er selbst George. der den Reportern den Beweis brachte, auflegen soll, was er gern tut, dann kostet Er hielt den Ruhm nicht aus – und er daß Englands beliebtester Popstar he- das für eineinhalb Stunden 2000 Mark. wollte immer mehr davon. 1986 in Paris roinsüchtig war. Manche Menschen können ihn über- begann er, Heroin zu schnupfen. Er Am Ende bekamen sie die Geschichte haupt nicht bezahlen, wie dieser Metzger langweilte sich mit seiner Band Culture umsonst. Boy Georges Bruder David rief aus Paris, der neulich 50 000 Mark dafür – weil die Familie angeblich überzeugt bot, daß Boy George bei seiner Hochzeit war, daß dies der letzte Ausweg sei – die ein paar Platten spielte. „Geht leider „Das Beste an Sun an. Am nächsten Morgen erschien nicht,“ flötete der Umworbene. „Die Prinzipien ist, daß sie das Blatt mit der Schlagzeile: „Junkie Pfeffersteakzeit ist vorbei. Ich bin jetzt George has eight weeks to live.“ Vegetarier und habe Prinzipien.“ nicht ewig währen“ Weihnachten 1986 saß er zitternd zu Die Sonne glitzert immer noch auf die- Hause in seiner viktorianischen Villa, die ser Londoner Terrasse, und Boy George, Club, und für Ausgehabende, die ein Vorhänge waren zugezogen, denn drau- dessen Gesicht jetztnicht mehrweiß,son- wenig Abwechslung versprachen, flog er ßen lauerte eine Horde von Fotografen. dern ein wenig rot ist, glitzert immer noch gern mal schnell mit der Concorde nach Seine Mutter erschien, und als sie die Re- nicht. New York. Mit seinem Freund Marilyn porter sah, sagte sie: „Es ist Weihnach- „Das Beste an Prinzipien“, sagter, „ist, mietete er sich ein Apartment. Dort, er- ten, gehen Sie heim.“ „Blödsinn“, ant- daß sie nicht ewig währen. Vor ein paar innert er sich, „sah es aus wie nach den wortete einer. „Wir gehen erst, wenn er Jahren dachte ich noch: Nie mehr Schuhe Mordtaten von Charles Manson“. Nur tot ist.“ kaufen, die mehr als 800 Mark kosten. ohne Blut. Doch den Gefallen wollte Boy George Aber neulich diese 7-Zentimeter-Stilet- Er ging im Bloomingdale’s spazieren, den Leuten nicht tun. Dann schon lieber tos in Melbourne, hätte ich ohne die wo er befahl, das gräßliche Licht dunk- kämpfen, auch wenn es weh tat. heimfliegen sollen?“ ler zu stellen und 20 Calvin-Klein-Un- Als er endlich keinen Schuß mehr Dann überlegt er kurz und grinst. „Ich terhosen sowie die Telefonnummer des brauchte, wurde Boy George nicht einer bin eben ein ziemlich abgefuckter Jun- Verkäufers orderte. Draußen auf der dieser öffentlichen Bereuer, die sich in ge.“ Y

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WISSENSCHAFT PRISMA

Alkoholismus Meerestiere Gedämpfter Rausch Legende vom Monster Die amerikanische Arznei- Als im Jahre 1896 bei Saint Augustine in Flo- mittelbehörde FDA hat das rida ein 20 Tonnen schweres Gewebestück Anti-Suchtmittel Naltrexone von einem toten Tier angeschwemmt wurde, nun auch für die Therapie galt dies als Beweis, daß es sie doch geben von Alkoholkranken freige- müßte, die sagenhafte Riesenkrake, den geben. Bei Versuchen an der „Octopus giganteus“, ein Untier, das von University of Pennsylvania Tentakel zu Tentakel 60 Meter messe. An lag die Rückfallquote der noch vorhandenen Resten des Fleischbrok- mit Naltrexone behandelten kens hat jetzt der Biochemiker Sidney Pierce Süchtigen nach drei Monaten von der University of Maryland die Legende bei 23 Prozent, während 54 vom Menschen und Schiffe bedrohenden Prozent der Patienten aus der Meeresungeheuer widerlegt. Analysen und Kontrollgruppe in diesem Untersuchungen mit einem Elektronenmikro- Zeitraum rückfällig wurden. skop zeigten, daß es sich um reines Kollagen Naltrexone, seit einem Jahr- handelt, eine Eiweißsubstanz ohne bestimmte zehnt schon bei der Behand- Zellstruktur. Wahrscheinlich, so schreiben lung von Opiat-Süchtigen Pierce und seine Kollegen im Biological eingesetzt, hat einen anderen Bulletin, waren es die Überreste eines Wals, Wirkmechanismus als bislang der wochenlang tot in der See geschwommen gängige Anti-Alkoholmittel war. Seine Knochen waren zu Boden gesun- wie etwa Antabus. Während ken, andere Meerestiere und Bakterien hat-

beim Antabus-Gebrauch je- BPK ten alles verzehrt „bis auf das harte, unver- der Alkoholgenuß zu Übel- Riesenkrake (Kupferstich, 1805) dauliche Kollagen“ aus der Walhaut. keit und Erbrechen führt, blockiert Naltrexone be- stimmte Rezeptoren im Ge- nem Buch behauptet, hätten den Schatten eines Bewei- hirn. Es führt dazu, daß die allesamt wissentlich der ses“, daß die vier von Sudo- bei Alkoholkonsum einset- Sowjetunion Informationen platow angeschuldigten Phy- zende Euphorie gedämpft darüber zukommen lassen. siker zu irgendeinem Zeit- und der Drang zum nächsten Eine Untersuchung des ame- punkt „bewußt den KGB un- Schluck gemindert wird. rikanischen Bundeskriminal- terstützt“ und damit den Bau amtes FBI, angeregt von dem der ersten russischen A- Atombombe Physiker Sidney Drell, hat Bombe beschleunigt hätten. die Gründerväter des Atom- Ehrenrettung zeitalters, J. Robert Oppen- Krebstherapie heimer, Enrico Fermi, Leo für Physiker Szilard und Niels Bohr (alle Immunabwehr Die vier führenden Physiker schon verstorben), nun voll beim Manhattan Project, rehabilitiert. Nach einer Mel- übertragen dem Bau der ersten Atom- dung des britischen Wissen- Mit Hilfe einer neuartigen bombe, so hatte der frühere schaftsblattes Nature gibt es – Therapie ist es Krebsspeziali- sowjetische Spion Pawel Su- wie aus dem Bericht des FBI sten am National Cancer In- doplatow letztes Jahr in ei- eindeutig hervorgeht – „nicht stitute gelungen, das Fort- schreiten einer bislang un- SPIEGEL-Titel 19/1994 heilbaren Blutkrebskrank- heit, eines sogenannten Mye- Betroffenen. Die Spekulati- loms, zu stoppen. Wie Larry on der Ärzte, daß sich im Kwak und seine Kollegen im Knochenmark des Bruders britischen Fachblatt The Abwehrzellen entwickeln Lancet berichten, handelt es würden, ging auf. Nach einer sich bei der Versuchsperson Knochenmarksübertragung um eine 43 Jahre alte Frau; vom Bruder auf die Schwe- ihre Erkrankung war vor ster wurde das bösartige sechs Jahren diagnostiziert Wachstum der Blutzellen ge- worden, die üblichen Be- stoppt. Kwak und seine Kol- handlungsverfahren wie Che- legen weisen darauf hin, daß motherapie und Röntgenbe- dieser Versuch „erst bei einer strahlungen zeigten keine einzigen Patientin gemacht Wirkung mehr. Die Medizi- wurde, deren Langfrist- ner isolierten aus dem Blut Schicksal noch ungeklärt“ der Kranken sogenannte mo- sei. „Es ist noch ein weiter noklonale Antikörper eines Weg“, so Kwak, „bis diese

UPI bestimmten Typs und inji- Technik in großem Maßstab Oppenheimer (1949 vor einem Ausschuß des US-Kongresses) zierten diese dem Bruder der eingeführt werden kann.“

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TECHNIK

Raumfahrt PRIVATFLUG INS ALL Vom Jahre 2005 an will die Nasa ihre veralteten, viel zu teuren Shuttles durch eine neue Generation von Raumfähren ersetzen. Dann soll es die In- dustrie übernehmen, Menschen und Material in den Weltraum zu schießen.

as Finanzmanagement der Nasa ist eine Schande“, schimpfte der Kon- Dgreßabgeordnete John Conyers. Die Buchführung bei der nationalen Raumfahrtbehörde sei dermaßen schlampig, „daß man die Bücher über- haupt nicht prüfen kann“. Was der Abgeordnete bei seiner Un- tersuchung im letzten Herbst herausfand und zu Papier brachte, ist eine Chronik der Verschwendung: 14 Milliarden Dol- lar Steuergelder zuviel habe die Welt- raumbehörde an Zulieferer gezahlt; überhöhte Rechnungen seien ohne Prü- fung beglichen worden; die Firmen hät-

ten „exzessive Gewinne“ eingesackt. AP Conyers’ Kollegen im US-Kongreß Nasa-Chef Goldin, „Delta Clipper Experimental“ im Testflug: „Wir müssen schneller, waren entsetzt. Bestätigt fühlten sich all jene Kritiker, welche die Mammutbehör- de mit ihren 24 000 festangestellten Mit- arbeitern seit langem für ein Milliarden- grab halten. Das Ansehen des einstigen Nationalheiligtums Nasa, so kommen- tierte das Magazin Time, sei in letzter Zeit schneller abgestürzt „als eine ausge- brannte Raketenstufe“. Jetzt soll sich alles ändern. Die neue Parole, die der Nasa-Chef Daniel S. Gol- din ausgegeben hat, heißt: „Wir müssen schneller, besser und billiger werden.“ Der amerikanischen Raumfahrtbehörde wird auch gar nichts anderes übrigblei- ben. Mindestens 5 Milliarden Dollar muß die Nasa (Jahresetat: rund 13 Milliarden Dollar) in den nächsten fünf Jahren ein- sparen. Eine „tiefgreifende Umstruktu- rierung“ hat Goldin angekündigt, an de- ren Ende eine „völlig andere, schlanke- re“ Nasa stehen werde.

Der Raumfahrtmanager will errei- GAMMA / STUDIO X chen, daß sich die Nasa darauf be-

schränkt, die Erforschung des Univer- B. SAULS / sums und die Entwicklung neuer Techno- Shuttle-Nachfolger (Entwürfe)*: Lehren aus dem Pleite-Programm logien voranzutreiben. Die Raumfahrt- behörde soll nicht länger „ihre Kräfte da- Was dem Nasa-Chef und auch führen- Raketenflug bei Boeing oder McDon- mit vergeuden, Raketen ins All zu schie- den US-Politikern vorschwebt, wäre der nell Douglas buchen, wenn sie eine For- ßen“. Beginn einer neuen Ära der Raumfahrt: schungssonde zum Mars schicken will? Die Industrie allein, so Goldin, müsse Wird die Eroberung des Weltalls priva- Wohin die Reise gehen wird, zeigt künftig die Aufgabe übernehmen, tisiert? Muß die Nasa demnächst einen die Planung für eine neue Generation Mensch und Material in den Weltraum zu von Raumfahrzeugen, die vom Jahre transportieren – gegen Bezahlung, ver- * Links: Raumgleiter von Lockheed; rechts: 2005 an die Space Shuttles ersetzen sol- steht sich. Shuttle-Modell von Rockwell. len.

226 DER SPIEGEL 18/1995 .

produzieren noch je- die kegelförmige Raumfähre 57 Me- desmal Weltraum- ter, 20 Meter mehr als der bisherige schrott: Ihr 47 Meter Shuttle-Typ. langer Haupttank wird i McDonnell Douglas kämpft für eine während des Fluges wie ein Zuckerhut aussehende Rake- abgeworfen und ver- te, die wieder auf ihrem eigenen Ra- glüht in der Atmo- ketenschweif landet – so wie sie auch sphäre. abgehoben hat. Der Prototyp, der „Wir müssen einen „Delta Clipper Experimental“, ist ein revolutionären Schritt Abfallprodukt des SDI-Projekts und nach vorn gehen“, ver- hat seine ersten Hüpfer in der Wüste langt deshalb Nasa- von Neumexiko bereits hinter sich. Chef Goldin. Er will Ende März hat die Nasa mit allen drei einen Flugkörper Wettbewerbern Verträge geschlossen. schaffen, wie es ihn in Jedes Unternehmen erhält acht Millio- der Geschichte der nen Dollar und muß dafür bis Mitte Raumfahrt noch nie nächsten Jahres ein fertiges X-33-Kon- gegeben hat: einstufig zept abliefern. Als eine Art Ringrichter und vollständig wie- wird die Nasa dann den Sieger ermit- derverwendbar. teln. Der Gewinner bekommt weitere Die Raumfähre der staatliche Fördermittel, um einen Proto- nächsten Generation typ der X-33 anzufertigen. Die spätere trägt die vorläufige Be- Raumschiff-Flotte soll die Industrie in zeichnung X-33. Ende Eigenregie bauen und betreiben. letzten Jahres forderte Ein erster Test, ob sich das neue Ge- die Nasa die großen schäft hoch über den Wolken für die In- Rüstungs- und Luft- dustrie lohnt, ist die gleichzeitige Ent- fahrtfirmen des Lan- wicklung des Raketenflugzeugs X-34. des auf, Entwürfe ein- Das unbemannte, nur 26 Meter lange zureichen. Binnen we- Gefährt soll wie die X-33 Aufgaben der niger Wochen wurden bisherigen Shuttle übernehmen. Eine die Vorschläge für die Boeing 747 trägt die X-34 bis in zehn Ki-

STARLIGHT / FOCUS Shuttle-Nachfolge ge- lometer Höhe und wirft sie ab wie eine besser und billiger werden“ sichtet. In die Endaus- Bombe. Ausgerüstet mit eigenem Rake- tenantrieb, saust der Flugkörper von dort Huckepack in den Orbit Satelliten-Umlaufbahn aus mit 13 000 km/h in Mission des geplanten Raketenflugzeugs X-34 eine niedrige Erdum- laufbahn, entlädt ei- nen Satelliten und Satellit wird kehrt wie ein Flugzeug ausgesetzt zum Boden zurück (siehe Grafik). Drehung um 180° Konstruiert wird die Eintritt in die X-34, die bereits in Erdatmosphäre zwei bis drei Jahren abheben könnte, von In 10 Kilometer Höhe wird das Raketenflugzeug dem Luftfahrtunter- X-34 von einer Boeing 747 ausgeklinkt. Nach nehmen Rockwell und fünf Sekunden freien Falls zündet das Raketen- Drehung um 180° der Orbital Sciences triebwerk – das unbemannte Gefährt fliegt in Corporation. Die Nasa eine erdnahe Umlaufbahn (rund 100 Kilome- unterstützt das Projekt Zündung des ter), wo es einen kleineren Satelliten aussetzt. Raketentriebwerks mit 70 Millionen Dol- Nach der Mission kehrt die X-34 zum Boden lar. Das Raketenflug- zurück und landet wie ein Segelflugzeug. Landung zeug vermag zwar nur Nutzlasten bis zu einer Tonne ins All zu tra- Die Raumfähren sind in die Jahre ge- scheidung kamen drei Raumfahrtunter- gen; da die Satelliten aber immer leich- kommen, ihre Technik stammt aus den nehmen, alle aus Kalifornien: ter werden, erwarten die Firmen genü- frühen Siebzigern. „Die Shuttle ist eine i Lockheed will ein flügelloses Gefährt gend Interessenten. Schwerere Lasten phantastische Maschine“, meint Goldin, bauen, das seinen Auftrieb aus der sollen mit der X-33 befördert werden. „aber nicht die Maschine für das 21. keilförmigen Gestalt seines Rumpfes Die Kommerzialisierung der Raum- Jahrhundert.“ gewinnt. Der rund 38 Meter lange fahrt werde dazu beitragen, so hoffen So sind die heutigen Raumfähren Gleiter soll – nach Vorbild der Shuttle die Nasa-Manager, daß sich die finan- noch auf die Schubkraft von externen – wie eine Rakete starten und wie ein zielle Pleite des Shuttle-Programms Hilfsraketen angewiesen, um den Flugzeug landen. nicht wiederholt. Sprung in die Erdumlaufbahn zu schaf- i Rockwell plant eine überdimensiona- Bis heute hat der Aufbau der Raum- fen. Im Unterschied zu Einwegraketen le Super-Shuttle, gefertigt aus ultra- fährenflotte 60 Milliarden Dollar ver- kehren die Shuttles zwar zur Erde zu- leichten Werkstoffen. Um die entfal- schlungen, weit mehr als geplant. Fast rück und heben wieder ab; doch auch sie lenen Hilfsraketen zu ersetzen, mißt die Hälfte des jährlichen Budgets muß

DER SPIEGEL 18/1995 227 Explodierende Raumfähre „Challenger“ die Nasa für den Betrieb ihrer Shuttle- Flotte ausgeben. „Gemessen an dem Er- trag für das US-Raumfahrtprogramm“, befand eine Nasa-Expertenkommission schon vor zwei Jahren, sei die Space Shuttle „viel zu teuer“. Als Transportmittel der Zukunft wa- ren die wiederverwendbaren Raumfäh- ren Anfang der siebziger Jahre ange- priesen worden – viel billiger als die da- mals üblichen Wegwerfraketen. In wö- chentlichen Intervallen sollte die Fäh- renflotte einen Pendelverkehr ins All aufnehmen. Der kühne Wochenfahrplan für die „Autobahn ins All“ (Nasa-Eigenwer- bung) blieb eine Illusion. Nur siebenmal flogen Raumfähren im letzten Jahr von Cape Kennedy in Florida aus ins All. Von Anfang an sorgten technische Pannen und Schlampereien dafür, daß Starts häufig verschoben werden muß- ten. Mal gab es Probleme mit den Kera- mikfliesen des Hitzeschildes, dann wie- der entdeckten die Techniker ein Leck im Triebwerk. Regelmäßig spielten die hochgezüchteten Programme der Bord- computer verrückt. Und immer wieder versagte das Bordklo. Endgültig verspielte die Nasa ihren durch die Mondlandung erworbenen Ruf der Unfehlbarkeit und technischen Perfektion, als im Januar 1986 die Raumfähre „Challenger“ kurz nach dem Start in einem Feuerball verglühte; sie- ben Astronauten kamen ums Leben. Schuld an dem Unglück war ein schad- hafter Dichtungsring. Fast drei Jahre lang lag die gesamte Raumflotte still. Für zweieinhalb Milliarden Dollar muß- te die Nasa kritische Teile umrüsten. Trotz aller Nachbesserungen liegt das Risiko einer erneuten Katastrophe nach Expertenmeinung noch immer bei 1:78. Unverändert große Gefahren gehen bei- spielsweise von den zwei seitlich am Shuttle angebrachten Feststoffraketen aus. Einmal entzündet, brennen sie ab wie Feuerwerkskörper; sie können nicht (1986): Ruf der Unfehlbarkeit verspielt

abgeschaltet werden. Bereits fünfmal ist zudem an Bord der Raumfähren ein Feuer ausgebrochen, wie die Nasa kürz- lich zugeben mußte, meist als Folge ei- nes Kurzschlusses. Jedesmal gelang es der Besatzung zwar, den Brand unter Kontrolle zu bekommen. Doch in kei- nem Fall hatten die Rauchmelder an Bord Alarm geschlagen. Nicht nur technische Widrigkeiten ha- ben aus den Raumfähren flügellahme Aluminium-Enten gemacht. Auch die hohen Flugpreise verhindern bis heute, daß die Shuttles häufiger abheben. Die Startkosten pro Mission belaufen sich nach Expertenschätzung inzwischen auf 450 Millionen Dollar – viermal so- viel wie ein Schuß mit der Europa-Ra- kete „Ariane“. Die hohen Kosten der Raumfähre führten dazu, daß die Ame- rikaner ihre einst unangefochtene Füh- rungsrolle bei der Beförderung von Sa- telliten eingebüßt haben. Nicht einmal mehr jeder dritte kommerzielle Satellit startet vom Boden der Vereinigten Staa- ten aus ins All. Mit der nächsten Raumfährengenera- tion wollen die Amerikaner das verlore- ne Terrain zurückerobern. Zehnmal we- niger als ein Shuttle-Start soll es kosten, die X-33 in eine Erdumlaufbahn zu hie- ven. Schon der Verzicht auf jegliche Hilfs- raketen könnte eine Menge Dollar spa- ren. Die X-33 soll zudem auf jedem Flughafen der Welt landen und von dort mit eigener Kraft zurück zur Startrampe fliegen können. Die heutigen Raumfäh- ren hingegen, die etwa in Kalifornien herunterkommen, müssen von Groß- raumflugzeugen für viel Geld zum Start- zentrum nach Florida geschafft werden. Die neuen Raumschiffe wären außer- dem erheblich einfacher zu warten als die alten Fähren. Drei Monate dauert es, um eine Shuttle nach einer Expediti- on ins All wieder startklar zu machen. Bei der modernen X-33, so behaupten die Nasa-Experten, müßte das in einer Woche zu schaffen sein. Y

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WISSENSCHAFT

sie Genfähren schmieden, Das gebräuchliche Be- Gentherapie mit denen die heilkräftige handlungsverfahren der Fracht auch in Leber oder Kreislaufmediziner ist die Nervenzellen transportiert sogenannte Angioplastie; werden kann. mit aufblasbaren Kathe- Taxi im Vor allem die Hoffnung tern dehnen die Interni- auf derlei technologische sten den verkalkten Ge- Fortschritte nährt bei den fäßabschnitt auf. Rund Dschungel Gentherapeuten Optimis- 400 000 derartiger Eingrif- mus: Alle gegenwärtigen fe werden jährlich allein in In Berlin traf sich die Elite der klinischen Tests, monie- den USA durchgeführt – ren Experten, würden mit nur geringem Erfolg, Gentherapeuten – sie kommt nur „mit drei bis fünf Jahre al- wie Kreislauftherapeut

langsam voran, meldet aber erste ter Technologie durchge- J. HEEMSTRA / SABA Leiden klagt; bereits sechs führt“ – die gilt ihnen be- Gentherapeut Culver Monate nach dem Eingriff Behandlungserfolge. reits als vorgestrig ange- seien bei nahezu 40 Pro- sichts der rasanten Entwicklung in der zent der Patienten die Gefäße erneut uch der weltumspannende Luftver- Molekülbastelei. „Jetzt können wir verstopft. kehr, tröstet sich der US-Genthe- ganz neue Dinge tun“, schwärmt Gen- Ursache dieser sogenannten Resteno- Arapeut Jeffrey Leiden, habe einst therapeut Culver. sen sind mikroskopisch kleine Verlet- mit Tiefflügen begonnen – die Gebrüder Die klassische Medizin, vor allem in zungen der Gefäßwand durch die ge- Wright seien „schon nach 260 Metern der Krebstherapie, hält Culver für waltsame Prozedur. Die Arterien veren- wieder ins Gras geplumpst“. weitgehend ausgereizt. Über die Hälfte gen sich erneut, weil Muskelzellen in die Bangemachen gilt nicht, heißt derzeit der „derzeitigen medizinischen Thera- vernarbenden Gefäße einsprießen. Lei- das Motto in der Zunft der Genmedizi- pieformen“, meint MDC-Direktor Det- dens Forschertruppe will künftig schon ner. Allzu ernüchternd sind die Erfah- lev Ganten, „sind völlig unbefriedi- während der Ballondilatation die betrof- rungen, die sie bislang mit ihrer Kunst gend“. Bis zum Jahre 2040, prognosti- fene Gefäßmuskulatur mit Adenoviren gemacht haben – bei den weltweit über ziert der Berliner Kreislaufforscher, infizieren – die Gentaxis sollen Rb, ein 100 klinischen Gentherapieversuchen an „werden wir einen großen Prozentsatz modifiziertes Tumor-Suppressor-Gen, rund 300 Patienten blieben die Resulta- gentherapeutischer Medikamente ein- in die Zellen verfrachten. te meist weit hinter den Erwartungen setzen“. Dort, so das Kalkül der US-Medizi- zurück. Am ehesten aus den Labors der US- ner, blockiert das fremde Erbmolekül Zur selbstkritischen Bestandsaufnah- Wissenschaftler können die Genthera- den Teilungszyklus der Muskelzellen in me geriet denn auch die Heerschau der peuten derzeit Erfolgsmeldungen er- den Arterienwänden. Schon jetzt, so be- Genmediziner, die am vergangenen warten; ihr Hoffnungsträger ist Jeffrey richtete Leiden den begeisterten Kolle- Wochenende im Berliner Max-Del- Leiden. Der Kreislaufspezialist von der gen in Berlin, habe sich die Technik bei brück-Centrum für Molekulare Medizin University of Chicago will mit seinem Tierversuchen mit Ratten, Kaninchen (MDC) abgehalten wurde. Längst ver- Geneingriff Herzinfarkt und Arterio- und Schweinen bewährt. In Kürze wol- flogen ist unter den Experten die Hoff- sklerose bekämpfen (siehe Grafik). len die Gentransplanteure das Verfah- nung auf schnelle Erfolge ren auch am Menschen er- gegen Menschheitsplagen Blockade verhindert Gentherapie gegen verstopfte Blutgefäße proben. wie Krebs, Aids, Alzhei- Mit solchen Glanzstük- mer oder Erbkrankheiten. Bei der Behandlung verstopfter Koronararterien mit dem Ballonkatheter (1) ken können die deutschen Kaum eine neue Tech- kommt es leicht zur Verletzung der Gefäßmuskeln: Die Muskelzellen beginnen zu Gentherapeuten bisher nologie, konstatierte der wuchern, die Arterie ist bald wieder blockiert. Dagegen hilft eine von US- nicht aufwarten. Während US-Experte Inder Verma, Medizinern entwickelte Gentherapie: Mit einem in anderen Ländern noch habe bei so vielen Men- Doppelballonkatheter wird der gefährdete Ge- über Richtlinien debattiert schen „unrealistische Er- fäßabschnitt zunächst abgesperrt. Dann werde, so frohlockt US- wartungen erzeugt“ wie werden durch eine Öffnung im Katheter Experte Culver, „führen die Gentherapie. „Alles genmanipulierte Viren freigesetzt (2). wir Jahr für Jahr 30 oder steckt noch in den Kinder- Herz mit Sie zwingen die Zellen zur Herstellung 40 klinische Tests durch“. schuhen“, klagte der For- verengter eines Proteins, welches das Wachstum In Deutschland, bestätigt schungspionier Kenneth Arterie der Muskelzellen stoppt – die Gefäß- auch MDC-Direktor Gan- Culver, „Gentherapie – bahn bleibt frei. ten, fehle noch immer „die das ist ein unerforschter Infrastruktur, um aus der Katheter 1 Ablagerung Dschungel, den wir jetzt Forschung in die Klinik zu zum erstenmal betreten.“ gehen“. Speziell die Technik des Ballonkatheter Gleichwohl sei das Feld Gentransfers in die Kör- für die Europäer nicht ver- perzellen der Patienten loren, meint Fachmann bereitet den Medizinern Culver: „Wir selber wissen noch immer Kopfzerbre- Gefäßmuskel auch nicht, wie die Gen- 2 chen; ihren Gentaxis man- therapie eines Tages funk- gelt es an Zielgenauigkeit. Kanüle tionieren wird.“ Fieberhaft basteln die Mo- Jeder Forscherkongreß lekularbiologen deshalb zeige aufs neue, wieviel an neuen Gentransfersy- Ballon Ballon noch zu lernen sei. „Wenn stemen: Aus dem Erbgut ich dann nach Hause fah- von Adeno- oder Herpes- Genmanipulierte Viren re“, gesteht er, „fühl’ ich und Hepatitisviren wollen mich richtig dumm.“ Y

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TECHNIK

gedauert, um Metall und Porzellan säu- Umwelt berlich voneinander zu trennen. Normalerweise landen ausgediente Zündkerzen derzeit auf Mülldeponien. Eine Rückgewinnung der darin verar- Schlag ins beiteten Materialien wäre zu aufwendig und zu teuer. Mit dem in Karlsruhe de- monstrierten Trennverfahren kann sich Wasser das ändern: Sogenannte Verbundwerk- stoffe, bestehend aus unterschiedlichen Karlsruher Forscher zerlegen mit Materialien, lassen sich damit leicht in Elektroschocks Industriemüll und ihre Bestandteile zerlegen und für eine Wiederverwendung aufbereiten. bereiten ihn für die Wiederverwen- Beton etwa wird von den hochvolti- dung auf. gen Elektroschocks in Minutenschnelle zertrümmert, Stahlbeton restlos von den Moniereisen abgelöst. Das Steingemisch hristoph Schultheiß, Physiker am kann im Betonbau als Zuschlagmaterial Forschungszentrum Karlsruhe, wiederverwendet, der Armierungsstahl Cwirft zwei Hände voll Zündkerzen erneut verhüttet werden. in einen mit Wasser gefüllten Plastikbe- Die Stromstöße trennen selbst extrem hälter. Sie bleiben auf einem Metallsieb harte Schleifmittel wie beispielsweise Si- in der Mitte des Eimers liegen. Dann lizium-Karbid oder das Tonerde-Mine- stülpt er einen Deckel auf das Gefäß, in ral Korund rückstandsfrei von ihren dem ein Eisenstab steckt. Das Me- Trägerplatten. Glas zerfällt unter den tallsieb und der Eisenstab sind an Elektroschocks zu feinem Sand, wobei einen Spannungsgenerator angeschlos- die Körnchen keinerlei Schnittkanten sen. mehr aufweisen. Ein kurzer Knopfdruck, und für den Mit der neuen Trenntechnik läßt sich fünfmillionstel Teil einer Sekunde ent- die Körnung der zerkleinerten Stoffe lädt sich ein künstlicher Blitz mit einer vorher genau festlegen: Je feiner das Spannung von 250 000 Volt in das Was- Sieb, desto feinkörniger ist das Granu- ser; er dringt in die Porzellanisolierung lat. Sind nach einem Stromschlag die der Zündkerzen. Unterhalb des Metall- Körnchen klein genug, so rutschen sie siebs sinken winzige Porzellanpar- durch die Löcher des Siebs. Die größe- tikel auf den Gefäßgrund. ren bleiben zurück und werden beim Nach 200 weiteren Stromschlägen hat nächsten Blitz zermörsert. sich das Porzellan als feinkörniges Gra- Schon vor 20 Jahren wurde das Ver- nulat unter dem Sieb gesammelt. Oben fahren in der ehemaligen Sowjetunion bleiben stumpf glänzend die Metalldor- entwickelt. Es sollte Gesteinsmühlen er- ne aus den Auto- und Motorradzünd- setzen, die Molybdän- und Wolfram-Er- kerzen liegen. Nur 40 Sekunden hat es ze mechanisch zerkleinerten. Die Physi- ker der Polytechnischen Universität im westsibirischen Tomsk nutzten eine be- sondere Eigenschaft von Materialgemi- schen: In dem Gemenge und zwischen seine verschiedenen Bestandteile sind winzige Gasbläschen eingebettet. Bei der plötzlichen Entladung wird das eingelagerte Gas elektrisch leitfähig (Ionisation). Beim anschließenden Stromdurchgang heizen sich die Gas- bläschen auf, wobei sie sich explosions- artig ausdehnen – die Materialpartikel werden auseinandergerissen. Im Prinzip gleicht das Verfahren der altertümlichen Methode, Felsbrocken mit einem Holzpflock zu sprengen: Wird der Pflock gewässert, quillt das Holz, bis der Steinblock zerbirst. Der Elektroschock arbeitet schneller: Um 100 Kilo Recycling-Material zu zerle- gen, braucht die Karlsruher Demonstra- tionsanlage nur eine knappe Stunde. In der früheren Sowjetunion war die Erfindung des Elektromörsers zum Staatsgeheimnis erklärt worden. Später

U. REINHARDT / ZEITENSPIEGEL geriet die Blitzschlagtechnik, wie viele Physiker Schultheiß andere Errungenschaften sowjetischer Staatsgeheimnis gelüftet Ingenieurskunst, in Vergessenheit. Erst Werbeseite

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sen; auch in der primä- ren Materialverarbei- tung erweist sich die Methode als nützlich. So lassen sich damit hochreine Silizium- Granulate für die Chip- produktion herstellen. Beim herkömmlichen Zerkleinern in Mühlen wird das Granulat –we- gen der Härte des Silizi- ums – stark mit Abrieb durchsetzt; die Reini- gung ist zeitaufwendig und kostspielig. Schon die russischen Wissenschaftler hatten mit dem Blitzschlag ins Wasser auch die Aus- beute bei biologischen Rohstoffen gesteigert; so wurden i Nadeln von Kiefern und Fichten mit Starkstrom zerbrö- selt, um die Gewin- nung von ätheri- schen Ölen zu ver- bessern; i Sojabohnen zur ver-

M. SCHRÖDER / ARGUS-FOTOARCHIV mehrten Produktion Hochhaus-Abriß: Betonbrocken ausgesiebt von Sojamilch unter Strom gesetzt; i Wurzeln durch Stromstöße fein zer- hackt, um Grund- stoffe für die Arznei- mittelfabrikation zu gewinnen. Inzwischen denkt Physiker Schultheiß an weitere Einsatzmög- lichkeiten der „Pulsed- Power“-Technik: Mit ihrer Hilfe könnten et- wa metallische Rohrsy- steme auf einfache Weise von Ablagerun- gen befreit werden; da- zu genügt ein frei be-

FORSCHUNGSZENTRUM KARLSRUHE wegliches Stromkabel: Elektrisch zerlegter Müll: Vom Blitz zermörsert Wenn der Starkstrom- Blitz durch die Röhren Wissenschaftler des Karlsruher Groß- gefahren ist, lassen sich die abgespreng- forschungsbetriebs weckten das vielsei- ten Bröckchen mühelos herausspülen. tige Verfahren aus seinem Dornrös- Überdies entfalten die stromstarken chenschlaf. Blitzschläge im Wasser eine keimabtö- In Kooperation mit der Universität tende Wirkung. So läßt sich nicht nur Tomsk bauten sie in Karlsruhe eine Pi- verseuchtes Wasser genießbar machen. lotanlage. „Das Projekt hat ein großes Auch medizinisches Besteck könnte auf Interesse seitens der deutschen Indu- diese Weie sterilisiert, der Einsatz von strie gefunden“, berichtet Herbert antiseptischen Chemikalien erheblich Wieczorek vom Technologietransfer des reduziert werden. Karlsruher Zentrums. Eindrucksvoll ist schließlich auch der Das ist verständlich: Mit der neuen Preis, zu dem das Starkstromverfahren Technik können nicht nur viele Stoffe arbeitet: Die Stromkosten für das Zerle- aus dem Verbund zurückgewonnen wer- gen von 100 Kilo faustdicker Beton- den, die heute noch mit viel Aufwand brocken in Geröll von Kieselsteingröße etwa als Baumüll entsorgt werden müs- liegen bei drei Groschen. Y

DER SPIEGEL 18/1995 237 .

TECHNIK

Flugunfälle „Wie am Jüngsten Tag“ Deutschlands Privatpiloten gehören zu den schlechtesten der Welt: Sie sind mangelhaft ausgebildet, fliegen zu selten und verlieren bei Wetterwechsel schnell den Überblick – die Folge: 180 Unfälle im letzten Jahr.

ast lautlos segelt das kleine Flug- be der Pilot genug Flugerfahrung ge- zeug auf das leuchtend grüne Korn- habt. Er hätte wissen müssen, daß er mit Ffeld zu. Nur das leise Pfeifen der der hohen Zuladung – beim Start lag die Windgeräusche an den Tragflächen und „Pierre Robin“ sogar oberhalb des zu- den stillstehenden Propellerblättern lässigen Gesamtgewichts – die Strecke durchschneidet die klare, warme Luft auf keinen Fall schaffen konnte. des schönen Frühsommertages. Alles „Kaum nachzuvollziehen“, „unerklär- klar zur Notlandung – die Maschine hat lich“ – aber traurige Normalität: Der keinen Tropfen Benzin mehr im Tank. Absturz der einmotorigen „Pierre Ro- Zu spät sieht der Pilot die Telefonlei- bin“ war nur einer von 180 Unfällen tung, die quer zu seiner Anflugrichtung kleiner deutscher Privatmaschinen im verläuft. Das abrupte Hochziehen, mit vergangenen Jahr, die mal mit ein paar dem er über das Hindernis kommen Furchen im Acker, nicht selten aber mit will, schafft die antriebslose „Pierre Ro- einigen Toten enden. 1994 verloren 44 bin“ nicht. Sie macht nur einen kurzen Menschen bei Unfällen mit Privatma- Bocksprung, dann fällt sie aus etwa zehn schinen unter zwei Tonnen Gesamtge- Meter Höhe steil nach unten ins Feld. wicht ihr Leben. Alle vier Insassen sterben. Das Luftfahrtbundesamt schlägt Absturzursache Spritmangel: Der of- Alarm: Die Unfall- und Todeszahlen fizielle Bericht der Flugunfalluntersu- sind „die höchsten seit zehn Jahren“, chungsstelle (FUS) des Luftfahrtbun- warnte die FUS in einem Rundbrief und desamtes in Braunschweig, deren Ex- nannte die häufigsten Unfallursachen: perten den Crash in der Nähe von Spritmangel, Pilotenfehler bei schlech- Landshut untersucht haben, konstatiert ten Wetterverhältnissen, Leichtsinn im ein „kaum nachzuvollziehendes Verhal- Vertrauen auf moderne Apparaturen – ten“ des Piloten. Abstürze aus technischen Gründen da- „Unerklärlich“ sei sein Versäumnis, gegen machen nur rund zehn Prozent al- auf dem Weg von Bad Neuenahr-Ahr- ler Unfälle aus. weiler nach Landshut nicht einen Tank- „Eigentlich sind die Hauptprobleme stopp eingelegt zu haben. Eigentlich ha- seit Jahren immer die gleichen“, sagt H. SCHWARZBACH / ARGUS Flugunterricht: „Die Schüler werden in Watte gepackt“

238 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

Werbeseite .

TECHNIK PRESS ACTION PRESS HEUSER / O. WITT / ACTION Abgestürzte Privatflugzeuge: Beim Flug durch die Wolken drei Minuten Überlebenschance

Bruchpiloten Verunglückte deutsche Privatflugzeuge* 180

160

140 Unfälle 120

100

80

60 Tote 40

20

1985 86 87 88 89 90 91 92 93 94 DPA Flugzeugtrümmer (im Offenbütteler Moor): „Das verstehe, wer will“ *Maschinen unter zwei Tonnen Quelle: Luftfahrtbundesamt

Peter Schlegel, Leiter der FUS, „aber stens werden für die Ermittlung jener wiegende Mehrheit der Besitzer einer das Verhalten der Leute ändert sich ein- Werte nagelneue Maschinen bei bestem Privatfluglizenz (PPL) ist nicht erfah- fach nicht, verstehe das, wer will.“ Wetter von „ausgezeichneten Piloten ren: Durchschnittlich fliegen die Hobby- Resignierend deutet Schlegel auf eine mit goldbesetzten Handschuhen“ geflo- piloten nur 13 Stunden pro Jahr – genau der „Flugunfallinformationen“, eine Art gen, so Hasenfuß, und „zweitens ist so eine Stunde mehr, als gesetzlich zur Bei- Merkzettel, die von der FUS regelmäßig ein Handbuch ja auch gleichzeitig ein behaltung der Fluglizenz notwendig ist. herausgegeben werden: „Kraftstoffma- Verkaufsprospekt, da wird dann auch „Die kommen auf den Platz, mit Ver- nagement – Ist das denn wirklich so schon mal gedrückt“. wandtschaft oder Freundin“, erzählt schwer?“ lautet die Überschrift. „Die ist Auch beim Unfall der „Pierre Ro- Hasenfuß, „schauen sich kurz um und aus dem März 1991“, ergänzt Schlegels bin“, so die Braunschweiger Bruchspe- mieten dann großspurig die erstbeste Mitarbeiter Stefan Hasenfuß, „aber ei- Maschine, die gerade frei ist.“ gentlich können wir die jetzt mal wieder Neben Spritmangel ist schlechtes neu herausgeben, unverändert.“ 95 Prozent der Piloten Wetter eine Hauptunfallursache: Fast Offensichtlich lernen weder Flugzeug- haben nur eine 95 Prozent der 36 000 deutschen Privat- bauer noch Flieger in manchen Berei- flieger haben nur eine Schönwetterflug- chen ihres Metiers dazu. „Die Tankan- Schönwetterlizenz lizenz. Die berechtigt zu einem Flug bei zeigen vieler kleiner Maschinen sind im- ausreichenden Sichtverhältnissen, die mer noch mehr als ungenügend“, sagt zialisten, weise das Handbuch des Flug- laut Luftverkehrsordnung dann gegeben Hasenfuß – bei Maschinen, die bis zu ei- zeuges „gravierende Mängel“ bei den sind, wenn „das Luftfahrtzeug von den ner halben Million Mark kosten können Angaben zum Spritverbrauch auf. „Wer Wolken in waagerechter Richtung min- und mit oft unsinnigem elektronischem sich darauf verläßt“, sagt Hasenfuß, „ist destens 1,5 Kilometer Abstand hält“. Schnickschnack ausgerüstet sind, mehr oft bald verlassen.“ Oft aber verhindert oder verzögert als unverständlich. Erfahrene und entsprechend vorsich- das Wetter den Start. Während der Flü- Hinzu kommt, daß die Flughandbü- tige Piloten kalkulieren deshalb in ihre ge müßte jede größere Wolke eigentlich cher der Hersteller oft einen viel zu Spritberechnungen stets bis zu 30 Pro- umkurvt oder unterflogen werden – niedrigen Spritverbrauch angeben. Er- zent mehr Treibstoff ein. Doch die über- schon das ist bei den klimatischen und

240 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

Werbeseite TECHNIK geographischen Verhältnissen in Deutschland für viele Hobbyflieger nicht gerade einfach. Trotzdem scheuen viele Flugschüler die mit 50 000 Mark bis zu fünfmal teu- rere und wesentlich zeitaufwendigere Instrumentenflugausbildung. Anders als in den USA beispielsweise wird bei der Schulung für die Sichtfluglizenz keiner- lei Sicherheitstraining in schlechtem Wetter verlangt. „Im Gegenteil“, erzählt Wolf Heck- mann, Hamburger Journalist und erfah- rener Privatpilot, „hier schüren die Fluglehrer die Angst vor jeder Wolke.“ Wenn ein frischer PPL-Besitzer dann mal in eine plötzlich aufziehende Gewit- terfront komme, kriege der „Panik wie am Jüngsten Tag“. Gefährlich wird es erst recht, wenn sich ein Schönwetterflieger ganz bewußt Viele Hobbyflieger verlassen sich blind auf den Autopiloten

– „welche Gründe auch immer ihn da reiten“ (Schlegel) – in dunkle Wolken wagt. „Die trauen sich in Suppen, das ist abenteuerlich“, sagt Heckmann. Typisch sind die Schwierigkeiten von Piloten, die nach einem Wochenendaus- flug auch unter gefährlichen Bedingun- gen rechtzeitig zu Hause sein wollen. Mit Besorgnis registriert die FUS eine Zunahme von Unfällen, in denen Hob- byflieger bei kritischen Wettersituatio- nen auf technische Hilfsmittel wie Auto- piloten vertrauen – ohne dafür ausgebil- det zu sein. Neuester Schrei auf dem nach wie vor boomenden Markt der Sportfliegerei sind satellitengesteuerte Navigationshil- fen (GPS), die mit einer verblüffenden Genauigkeit arbeiten und mittlerweile schon für knapp 2000 Mark zu haben sind. Auf der Fachmesse „Aero 95“ in Friedrichshafen drängten sich Hunderte technikbegeisterter Hobbypiloten um die Stände verschiedener GPS-Anbie- ter. „Aber was nützt das ganze Zeug, wenn es mich dazu verleitet, in schlech- tes Wetter hineinzufliegen, im Glauben, ich könne mich ja auf meinen elektroni- schen Kursgeber verlassen“, sagt Schle- gel. Die meisten Privatpiloten hätten kaum Erfahrung mit GPS oder dem Au- topiloten, „die kennen vielleicht den An- und Ausschalter und ein paar weni- ge Dinge mehr“. Unter ungünstigen Wetterbedingun- gen kann auch ein automatisches Steu- ersystem den falschen Weg weisen. Mal sagt es nichts über die tatsächliche Höhe des Flugzeuges, mal sorgt ein kräftiger Seitenwind für Abdrift in Richtung nächste Bergwand. Überdies schaffen es die wenigsten Privatflieger, die sich durch dunkle Wolken kämpfen wollen, nur mit Hilfe der Instrumente den Überblick zu be- halten. Ohne Sicht voraus und auf den Boden verlieren sie das Gefühl für das Gleichgewicht und ihre Lage im Raum – eine physiologisch normale Krise, die man aber nur dann mit Instrumenten- unterstützung ausgleichen kann, wenn man sie vorher geübt hat: Ohne Trai- ning, so haben amerikanische Untersu- chungen ergeben, hat ein Pilot in Wol- ken nur eine Überlebenschance für drei Minuten. Doch gerade in puncto Schulung gibt es in Deutschland gravierende Mängel: Für Heiko Teegen, Herausgeber der Zeitschrift Pilot und Flugzeug, gehören „die deutschen Privatpiloten zu den weltweit am schlechtesten ausgebilde- ten“. Wegen seiner scharfen Kritik ist Tee- gen in der Branche zum schwarzen Schaf geworden, in der Sache geben ihm viele recht: „Eigentlich müßte jeder verantwortungsbewußte Fluglehrer sei- nen Schüler, der etwa zum drittenmal eine Spritberechnung versiebt hat, kräf- tig schütteln und Strafarbeiten büffeln lassen“, sagt FUS-Experte Hasenfuß. Aber leider sehe die Praxis an deut- schen Flugschulen oft ganz anders aus: „Heute werden die Kunden in Watte gepackt – die Konkurrenz ist einfach zu groß.“ Daß bei solventen Kunden mitunter eine Extraprämie für den Fluglehrer mangelndes Talent beim Schüler er- setzt, ist eine branchenbekannte Tatsa- che. Gefahr für den deutschen Luft- raum signalisieren auch viele Angebote ausländischer Flugschulen, vor allem amerikanischer, mit denen die Flieger- magazine vollgestopft sind. Sie verspre- chen „Fliegen lernen in vier Wochen“, oft für die Hälfte der deutschen Preise. Doch wer meint, mit einer Lizenz, die er in Florida oder Arizona bei optima- len Flugbedingungen quasi im Urlaub erworben hat, gerüstet zu sein für das rauhe mitteleuropäische Klima, kommt beim ersten Island-Tief und bei böigem Nordnordwest schnell an seine fliegeri- sche Grenze. Oft bleibt dem überforderten Flug- zeugführer dann nur noch, das Aller- schlimmste zu verhindern – wie dem Pi- loten der aus Osnabrück kommenden „Beach 60“, die vor wenigen Wochen in einer stürmischen Nacht in der Nähe von Dresden zu Bruch ging. Fünf Tote forderte der Absturz – höchstwahr- scheinlich auch ein Pilotenfehler, wie die Voruntersuchung der FUS ergab. Daß es nicht noch mehr Opfer gab, ist dem letzten Manöver des Flugzeug- führers zu verdanken. Er dirigierte sei- ne abstürzende Maschine auf unbe- wohntes Gebiet. Y Materialforschung Charme der Winzlinge Eine neue Chemo-Technik veredelt Glas oder Metalle und verleiht Werk- stoffen völlig neue Eigenschaften.

artin Mennig, Chemiker am Saar- brücker Institut für Neue Mate- Mrialien (INM), fixiert zwei völlig gleiche Objektträger an einen Ständer. Dann richtet er die Feuerstrahlen zweier Lötbrenner auf die Glasstücke. Unter dem Ansturm der 1400 Grad heißen Flammen zeigt sich der Unterschied. Das eine Glas schmilzt rasch und beginnt weg- zutropfen. Das andere bildet im Zentrum der Flamme eine schrumpelige Oberfläche, unter der es rot glüht. Aber selbst nach 15 Minuten hält es dem Feuerstrahl noch stand: Es trägt einen unsichtbaren Brandschutz aus winzigen Silizium- Körnchen. Mit dem neuartigen Hitzeschild lassen sich auch Metalle, Kunststoff- und Glas- fasergewebe feuerfest machen. Bei ho- hen Temperaturen verwandelt sich die Schutzschicht in eine glasartige Haut, die das geschmolzene Material daran hin- dert, auseinanderzufließen. Rainer Kasemann, ebenfalls Chemi- ker am INM, nimmt einen Spiegel und haucht ihn dreimal kräftig an. Während die eine Spiegelhälfte beschlägt, bleibt die andere allzeit klar – der Grund: Sieist mit einem hauchdünnen Film aus Ten- sidpartikeln überzogen; auf ihm verläuft Wasser schneller, und das Licht kann sich an den Tröpfchen nicht mehr brechen. Für Klarheit sorgt der dauerhafte Tensid- film auch bei Metallen und Kunststoffen. Herbert Krug, Leiter der Komposit- Technologie am INM, läßt eine Sonde auf einen beschichteten Objektträger herab. An ihrer Spitze sitzt eine kleine, beheizbare Stahlkugel. Während sie sich in die durchsichtige Schicht drückt, här- tet die Hitze den Oberflächenfilm aus. Dann wiederholt der Chemiker den Vor- gang. Unter einem Profilabtaster zeigt sich auf dem Monitor anschließend ein ganzes Feld von Mini-Linsen. Ihr Durchmesser beträgt jeweils einen viertel Millimeter. Gebraucht werden derart kleine Linsen in Kopiergeräten, Kameras und Sonnen- kollektoren, in der chirurgischen Endo- skopie und in der optischen Datenverar- beitung. Die Fabrikation solcher Mikro-Lin- sen, deren Durchmesser unter einem hal- .

TECHNIK

Normales feuerfestes Glas im Hitzetest: Unsichtbarer Brandschutz

ben Millimeter liegt, war bisher extrem zeit rund 150 Techniker- kostenintensiv und zeitaufwendig. Mit teams an Sol-Gel-Projek- dem neuen, jetzt in Saarbrücken vorge- ten. stellten Verfahren lassen sie sich aus Bei dem Verfahren kleinsten Acrylsäure-Teilchen billig und schwimmen die Ausgangs- in beliebiger Stückzahl herstellen. materialien in einer Flüssig- Gemeinsam ist allen drei Beschich- keit (Sol). Ein chemischer tungen der Stoff, aus dem sie bestehen: Trick verhindert, daß sie zu Nano-Partikel. Das sind unsichtbare größeren Strukturen zusam- Materialteilchen mit einer Größe von menwachsen. Wird das Sol wenigen millionstel Millimetern, mithin auf eine Materialoberfläche kleiner als die Wellenlängen des sichtba- gebracht, verdunstet das ren Lichts. Diese Mini-Partikel, erläu- Lösungsmittel rasch – und tert Helmut Schmidt, geschäftsführen- die chemischen Winzlinge Schmutzabweisende normale Glasscheibe der Direktor des INM, „stellen eine bilden ein amorphes Netz- Allzeit Klarheit Zwischenstufe zwischen den atomaren werk (Gel) mit einer Bausteinen der Materie und dem festen Schichtdicke von nur wenigen tausend- Schmidt, bestehe darin, daß sie sich „für Körper dar“. stel Millimetern. beliebige Anwendungen maßschneidern Fast alle gängigen Werkstoffe lassen Sol-Gel-Kombinationen lassen sich in lassen“. sich auch als Nano-Teilchen herstellen. jedem Reagenzglas zusammenmixen; Eine davon schützt vor Bleivergiftung: Grundlage des Verfahrens ist der soge- aufwendige Produktionsanlagen sind Werden in einer Kristallkaraffe alkoholi- nannte Sol-Gel-Prozeß – keine neue Er- nicht erforderlich. Je nach Anforderung sche Getränke verwahrt, tritt mit der Zeit findung: Das Reichspatent der Jenaer an die neue Oberflächeneigenschaft immer mehr von dem giftigen Schwerme- Schottwerke für das Verfahren stammt kommen in die Ausgangslösung noch tall in die Flüssigkeit über. Ein glasklarer aus dem Jahre 1939 und fand lange Zeit spezielle „Funktionsmoleküle“. Wäh- Überzug aus Bor- und Silizium-Teilchen keine Beachtung. Erst neuerdings wird rend des Aushärtens lagern sie sich in bildet eine wirksame Bleibarriere. die Erforschung der Chemo-Technik das Nano-Netz ein. „Der Charme der Eine andere Mixtur, aus Kohlenstoff- vorangetrieben. In Europa arbeiten der- neuen Oberflächen“, so Chemiker und Silizium-Nanos, verleiht Metallen ei- nen silbrigen Spiegelglanz. Die neue Oberfläche istzudem äußerst korrosions- beständig, abrieb- und kratzfest. Be- schichtete Aluminiumbleche überstan- den schadlos vier Wochen konzentriertes Nordseeklima in einer Salznebelkam- mer. Verarbeiten lassen sich die neuen Na- no-Filme so problemlos „wieein gewöhn- licher Lack“ (Schmidt). Durch einfaches Sprühen, Walzen oder Tauchen werden die Sol-Gel-Komposite auf die Werkstof- fe gebracht und meist bei mäßiger Hitze ausgehärtet. Fast alle Materialien lassen sich mit Nano-Partikeln beschichten. Sie verleihen ihnen zusätzliche, völlig neue Eigenschaften. Führend in der Fortentwicklung der Nano-Technik ist gegenwärtig das Insti- tut in Saarbrücken. Bisher wurden von ihm zehn der High-Tech-Oberflächen zum Patent angemeldet, darunter auch die Fensterscheibe, die nicht ver-

FOTOS: H. CHRISTOPH / DAS FOTOARCHIV schmutzt. Im Herbst kommt sie auf den Beschichtungsanlage in Saarbrücken: Bleibarriere für die Karaffe Markt. Y

DER SPIEGEL 18/1995 245 Werbeseite

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TECHNIK

dem City-Einsatz von Automobile einer Bordlichtmaschi- ne oder über Nacht an einer Steckdose wieder aufgeladen. Lautlos Mit dem neuen se- mi-elektrischen Laster verschreibt sich Mer- zum Laden cedes einer Antriebs- technik, die schon um Ein neuer Lkw mit kombiniertem die Jahrhundertwende die Lkw-Konstrukteu- Diesel- und Elektroantrieb soll in re beschäftigte. Der Innenstädten abgasfrei fahren. österreichische Hofwa- genfabrikant Jakob nvermittelt vernahmen Passanten Lohner entwickelte zu- in der Stuttgarter Fußgängerzone sammen mit dem da- Ukürzlich das Schrillen einer Fahr- mals kaum 27jährigen radklingel. Der vermeintliche Radler im Nachwuchstechniker verbotenen Terrain war neun Tonnen Ferdinand Porsche ei-

schwer, aber kaum hörbar. Mit abge- nen Lkw mit kombi- B. BOSTELMANN / ARGUM schaltetem Dieselmotor schlich ein Last- niertem Antrieb aus Hybrid-Laster von Mercedes: Heilmittel für das Stadtvolk? wagen durch das sonst autofreie Zen- Verbrennungs- und trum der Schwaben-Metropole. Am Elektromotor, der 1902 als Feuerwehr- Hybrid-Wagen von Mercedes auf Tour, Rückspiegel trug er eine Velo-Schelle, auto eingeführt wurde. Das aufwendige um Politiker und Stadtväter für Kom- passend zum verkehrsberuhigten Um- Prinzip setzte sich jedoch nicht durch. promißlösungen zu gewinnen. feld. Nun soll die Renaissance der Hybrid- „Wir wollen etwas mehr tun, als auf Der in Stuttgart erstmals eingesetzte Technik drohenden politischen Restrik- restriktive Gesetze zu warten“, sagt Prototyp, entwickelt von Mercedes- tionen zuvorkommen. Zunehmend weh- Gerhard Bluhm, 47, Umweltbeauftrag- Benz und bestellt von der Deutschen ren sich Kommunalpolitiker gegen den ter der Kleiderspedition. Käufer des Kleiderspedition, soll als spätes Heilmit- wachsenden Lieferverkehr in den Zen- Hybrid-Lasters werden vor allem mehr tel gegen eine längst bekannte Seuche tren. Mit knappen Anlieferzeiten bis bezahlen müssen. Im Durchschnitt wird der zusätzliche Elektroantrieb einen Lkw um mehr als 30 Prozent verteuern. Im Versuchswagen kostet das Strompa- ket 80 000 Mark. Fast die Hälfte des Preises entfällt auf die an den Flanken montierten Batterien. Die teuren Stromspeicher haben noch einen weiteren Nachteil: Sie sind schwer. Zwei Tonnen wiegen die Batte- rien des Mercedes. Damit ist die Hälfte der Zuladung verspielt. Den Textilkut- schern ist das Jacke wie Hose, denn ihre Ware zählt nicht zu den schweren Trans- portgütern. Um den Hybrid-Laster auch für die Transporteure gewichtigerer Frachten attraktiv zu machen, plant Mercedes für weitere Versuchswagen den Einsatz von Nickel-Cadmium-Batterien. Die wiegen bei gleicher Leistung nur etwa eine Ton-

WERKFOTO PORSCHE ne, sind dafür aber doppelt so teuer. Hybrid-Feuerwehrwagen von Lohner (1902): Plage der Pioniere Mit denselben Schwierigkeiten plag- ten sich schon die Pioniere der bivalen- eingesetzt werden: die ständig anwach- morgens um zehn oder spätestens elf ten Antriebstechnik. Motorchronist sende Lastwagenlawine, die das Stadt- Uhr schotten sie vielerorts die Stadt- Erik Eckermann notierte in seiner PS- volk mit Lärm und Abgasen plagt. zentren gegen qualmende Brummis ab. Rückschau „Vom Dampfwagen zum Die größte Strecke seines Weges be- Die Lieferanten arbeiten deshalb im Auto“: „Verbundantriebe sind unwirt- wältigt der neue Hybrid-Laster konven- täglichen Wettlauf mit den Politessen. schaftlich wegen teurer Batterien und tionell mit Dieselantrieb. Beim Eindrin- Doch in den Schubladen vieler City- ungünstigem Verhältnis von Eigenge- gen in einen Stadtkern schaltet der Fah- Regenten liegen bereits Pläne zum to- wicht zu Nutzlast. Gering war die Pro- rer auf E-Betrieb um. Sogleich treibt ein talen Fahrverbot. Logistische Vorden- duktion von Mixte-Antrieben um die 46 Kilowatt starker Elektromotor den ker erarbeiten daher Konzepte zur Wa- Jahrhundertwende.“ Lastwagen an. renversorgung per Straßenbahn (in Ein massenhafter Durchbruch des Unter Strom erreicht der Transporter Leipzig) oder planen citynahe Sammel- Hybrid-Lastwagens zur nahen Jahrtau- 50 km/h. Mit einer Batterieladung lager. sendwende ist aus Sicht des Herstellers schafft er 50 Kilometer, genug um eine Spediteuren und Händlern sind sol- noch nicht zu erwarten. Mercedes rich- Großstadt abgasfrei zu durchqueren. che Visionen ein Graus. Die Kleider- tet sich vorerst auf einen Jahresabsatz Die Blei-Gel-Batterien werden nach spedition geht deshalb derzeit mit dem von 20 Fahrzeugen ein. Y

DER SPIEGEL 18/1995 247 .

WISSENSCHAFT

stand darin, an geeignetes Hirngewebe Hirnforschung von lebenden Erwachsenen heranzu- kommen. Jahrelang mußte der Forscher warten, ehe er genug beisammen hatte. Das Material stammte aus den Schädeln Urzellen von Epileptikern. Um die Schwerkran- ken zu heilen, hatten die Ärzte ihnen an jenen Stellen Hirnmasse entfernt, wo ih- im Kopf re Anfälle entsprungen waren. Als Goldman die Gewebeklumpen in Ein US-Neurologe hat die Lehrmei- einer Nährlösung kultivierte, entstan- nung widerlegt, daß menschliche den durch Zellteilung rasch neue Neuro- nen; bald sprossen Fortsätze aus ihren Hirnzellen nie mehr nachwachsen. Zellkörpern. „Die Zellen erlangten in der Kulturschale volle Reife, sie funk- n jeder Sekunde bilden sich im Kopf tionierten physiologisch wie ganz nor- eines Fötus 4000 Nervenzellen. Die male Neuronen“, berichtet Goldman. Irasante Zellvermehrung dauert neun Noch nie allerdings ist beim Men- Monate. Bei der Geburt des Säuglings schen beobachtet worden, daß Hirnzel- schwimmt ein Knäuel aus 100 Milliarden len auf natürliche Weise nachwachsen. untereinander verknüpften Neuronen Das hängt offenbar mit Hemmstoffen unter der Schädeldecke. zusammen, welche die Ausreifung der Das ganze weitere Leben, so be- sagt die Lehrmeinung, entstehen keine neuen Hirnzellen mehr. Wenn der Mensch Erfahrungen und Wissen ansammelt, verdrah- ten sich die vorhandenen Neuro- nen lediglich zu einem immer komplexeren Gebilde. Doch das wissenschaftliche Dogma, daß einmal zerstörte menschliche Hirnzellen nicht durch nachwachsende Zellen er- setzt werden können, scheint jetzt erschüttert. Der Neurologe Steven Goldman von der New Yorker Cornell University hat in einer ab- gelegenen Hirnregion ungewöhn- liche Zellen entdeckt, die vermut- lich seit dem Embryonalstadium überlebt haben. Wenn diese sich teilen, können neue Hirnzellen heranreifen, wie der Forscher im Laborexperiment gezeigt hat. Erste Hinweise, daß die Ner- venzellen im Hirn einen nach- wachsenden Rohstoff darstellen,

kamen aus der Welt der Singvö- SABA gel. Schon vor über zehn Jahren Neurologe Goldman löste Goldmans Lehrer Fernando Neue Hirnzellen für Alzheimer-Kranke? Nottebohm das Rätsel, weshalb männliche Kanarienvögel im Frühjahr Urzellen blockieren. Goldman aber symphonische Lieder trillern, im Herbst hofft, daß sich frische Hirnzellen in eini- jedoch aus dem Takt kommen und in gen Jahren in Bioreaktoren züchten las- der nächsten Saison auf einmal ganz an- sen; sie könnten dann Kranken einge- dere Melodien flöten. pflanzt werden. Je nach Jahreszeit, so fand Biologe Helfen würde eine solche Implantati- Nottebohm heraus, wachsen oder on von Hirngewebe allen Patienten, bei schrumpfen die Bereiche, die im Vogel- denen Nervenzellen im Hirn verküm- hirn das fröhliche Gezwitscher kontrol- mert sind: Opfern eines Schlaganfalls, lieren. Die zuständigen Nervenzellen Alzheimer-Patienten, bei denen der werden jedesmal neu gebildet und nach Zelltod im Kopf zu Gedächtnisausfällen einigen Monaten wieder abgebaut. Ge- führt, aber auch Parkinson-Kranken mit steuert wird der Blasebalg im Kopf von ihren typischen Sprech- und Bewe- dem männlichen Geschlechtshormon gungsstörungen. Testosteron. Allerdings, vorerst bleibt ungewiß, ob Goldman glaubte, daß auch im Men- sich die von außen zugeführten Hirnzel- schenhirn ähnliche dynamische Prozesse len mit dem Biocomputer im Kopf ver- ablaufen könnten. Die größte Hürde be- schalten würden. Y

248 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

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SPORT

SPIEGEL-Gespräch „KANN AUCH TYSON KNACKEN“ Schwergewichtsboxer Axel Schulz über Schmerzen, Schläge und Intelligenz im Ring

SPIEGEL: Bleibt denn wenigstens die Genugtuung, es den Leuten gezeigt zu haben, von denen Sie zuvor als Wind- beutel und Weichei beschimpft wurden? Schulz: Nee, nee. Ich wußte immer, was ich kann. Mir geht’s nicht drum, wer was behauptet. Das beschissene Gefühl, auf gut deutsch gesagt, ist, daß ich den Titel verdient, aber nicht gewonnen habe. SPIEGEL: Einer aus Ihrem Team hat nach dem Kampf gesagt: Heute ist unser Baby erwachsen geworden. Schulz: Das war der Henry, wa. Oder Torsten May? Oder der Trainer? Sind ja nur drei. Nein, das mit dem Erwachsen- werden ist schon in den letzten drei, vier Monaten passiert. SPIEGEL: Aber vor zehn Wochen, bei Ihrer Promotion-Tour in New York, wirkten Sie noch eher wie einer, der zu

A. HASSENSTEIN / BONGARTS „Big George“ aufschaut. Geschlagener Schulz: „Bei mir ist ja hier alles ein bißchen geschwollen“ Schulz: Das kommt mir nicht so vor. Ich habe im Training schon häufig die nötige SPIEGEL: Herr Schulz, wer hat Ihnen SPIEGEL: Sprechen Sie sich damit selbst Leistung gebracht. Es mußte irgend- letztendlich mehr Schmerzen zugefügt Mut zu? wann ja passieren, daß ich rausgehe und – Foreman mit seinen Schlägen oder Schulz: Wenn ich alleine bin, denn heu- sie auch im Ring zeige. die Kampfrichter mit ihrem Urteil da- le ich auch. SPIEGEL: Was bedeutet es für Sie, gegen nach? SPIEGEL: Waren Sie sich denn wirklich das Denkmal Foreman bestanden, es Schulz: Foreman hat mir keine so sicher, gewonnen zu haben? nach Meinung der Experten sogar ge- Schmerzen zugefügt. In meinem Ge- Schulz: Das war einfach im Gefühl drin. stürzt zu haben? sicht sieht’s zwar jetzt ein bißchen ek- Schon in der neunten Runde habe ich Schulz: Mir ist im ganzen Kampf nicht lig aus, und das wird auch noch ein mal triumphierend die Arme hochgeris- einmal durch den Kopf gegangen: paar Tage dauern. Aber das tut nicht sen: Ich dachte, ick hab’ et. Ich habe „Mensch, das ist ja die Legende so weh wie die Fehlentscheidung, die Foreman doch angesehen, daß er selbst George.“ Aber er ist der Gradmesser kann man nicht zurücknehmen. nicht mehr an seinen Sieg glaubte. dafür, wo ich stehe. Er ist der aktuelle SPIEGEL: Aber jetzt weiß jeder, wer Weltmeister. Durch diesen Kampf ist Axel Schulz ist. viel vorangetrieben worden. Der ameri- Schulz: Popularität ist schön. Aber das Die Urteilsschelte kanische Kabelsender HBO, der sich Ding in Las Vegas war die größte auf Boxen spezialisiert hat, will künftig Chance des deutschen Boxsports seit hat Axel Schulz, 26, ebenso be- meine Fights übertragen. Die wünschen, 60 Jahren. Ich will nicht noch einmal rühmt gemacht wie sein Kampf ge- daß ich öfter in den USA boxe. 60 Jahre warten. gen die Schwergewichts-Legende SPIEGEL: Können Sie künftig jeden SPIEGEL: Jeder, der in Amerika an- George Foreman in Las Vegas. Bis- schlagen? tritt, muß mit solchen Urteilen rech- lang in den USA verspottet, wurde Schulz: Jetzt weiß ich, daß ich keinen nen. der Boxer aus Frankfurt/Oder in den fürchten muß – wenn unser Konzept Schulz: Richtig, das wußten wir vor- 36 Minuten zu einem Mann, um den stimmt. her. Aber im Schwergewichtsboxen sich auch die amerikanischen Ma- SPIEGEL: Wie sieht denn so ein Konzept muß man nach Amerika gehen. Wenn nager reißen. Unter dem öffentli- aus? ich genau den gleichen Kampf heute chen Druck nahm Foreman seine Er- Schulz: Das muß man jedesmal neu zu- noch mal mache, dann kriege ich den klärung zurück, nicht noch einmal rechtschneidern. Gegen Foreman woll- Sieg, auch hier in Las Vegas. Insofern gegen „diesen tasmanischen Teu- ten wir die ersten Runden drücken, habe ich trotz der Niederlage gewon- fel“ boxen zu wollen. Eine Entschei- nicht mitschlagen, denn wir haben auf nen. dung über den nächsten Schulz- den Videos gesehen, daß er sehr hart Gegner fällt aber wohl erst Ende schlägt. Das Gespräch führten die Redakteure Walter Mayr Mai. SPIEGEL: Was nützen starres Konzept und Heiner Schimmöller. und Videostudien, wenn ein K.o.-Schlag

250 DER SPIEGEL 18/1995 . FOTOS: AP Sieger Foreman, Schulz-Treffer „Ich habe ihm angesehen, daß er nicht an den Erfolg glaubte“

wie der, mit dem Foreman Moorer be- nicht vermeiden, ganz siegte, ansatzlos kommt? klar. Dazu ist das Ni- Schulz: Nein, auch den konnte man veau zu hoch bei Welt- schon im Ansatz sehen. Wir haben das meisterschaften. analysiert. Er stand richtig hinter dem SPIEGEL: Wenn Sie na- Schlag. he rangingen, wirkte SPIEGEL: Woran haben Sie erkannt, daß Foreman wie ein wehr- Foreman zuschlagen will? loses Riesenbaby. Schulz: An der Beinstellung, an den ein- Schulz: Genau das zelnen Bewegungen. Is’ nich’ so, daß ich wollten wir erreichen. nur in die Augen kucke, man hat immer Aber leider hat der den ganzen Mann im Blick, voll fixiert. Ringrichter teilweise Foreman nimmt vorher immer kurz die zu zeitig unterbrochen. Hand runter. Aber alles in allem muß Der hatte erkannt, daß man das im Gefühl haben, da kann auch Foreman nicht zu- der Trainer nicht helfen. rechtkommt. Ist ja SPIEGEL: Einmal hat der Weltmeister Sie klar, der Mann ist auch aber voll erwischt . . . Amerikaner. Schulz: Getroffen hat er mich häufiger, SPIEGEL: Haben Sie

bei mir ist ja hier alles ein bißchen ange- auch in Foremans Au- BONGARTS schwollen. Aber nur einmal ging das gen Angst gesehen? wirklich schwer drauf. Das zeigt: Unser Schulz: Angst nicht, Konzept hat schon gestimmt, keine Fra- eher Verzweiflung. ge. Bei Trainer Wolke geht Boxen durch Weil sein Konzept den Kopf. Nicht einfach reingehen und nicht aufging. Er kam drauflosschlagen. Da ist man vielleicht immer schneller nach einmal erfolgreich, aber nur einmal. vorne, weil er mich in SPIEGEL: Spielt dabei nicht auch Angst eine Ecke drängen mit? wollte. Es wäre dumm Schulz: Ein Boxer sollte Angst haben. Es gewesen, wenn ich ihm wäre Dummheit, wenn ich behaupten seinen Wunsch erfüllt würde, ich hätte keine. Treffer kann man hätte: wie die anderen Werbeseite

Werbeseite SPORT zu boxen und nicht wegzurennen. Da SPIEGEL: In Ihrem Beruf nicht unbe- hätte ich keine Chance gehabt. dingt. Da zählt Aggressivität. SPIEGEL: Woher wußten Sie, daß Sie auf Schulz: Aggressivität würde ich nicht sa- dem richtigen Weg sind? gen. Für mich zählt die sportliche Her- Schulz: Das habe ich auch an den Augen ausforderung. Ich muß meinen Gegner von Trainer Wolke in der Ecke gesehen. nicht hassen. George Foreman finde ich Wenn er sie verdreht und die Stirn voller sogar ausgesprochen nett. Er ist Predi- Schweißperlen ist, dann ist das kein so ger, der hat ’ne Riesenshow drauf. gutes Zeichen. Aber er war ganz ruhig. SPIEGEL: Hüben das Bild vom aggressi- SPIEGEL: Im nachhinein gesehen: zu ru- ven Kampfsport, drüben das Ideal der hig? technisch hochwertigen Ausführung ei- Schulz: Teilweise hätte ich vielleicht ner Disziplin – ein klassischer West-Ost- nachsetzen sollen oder können, aber Konflikt? dann wäre ich wieder ein Risiko einge- Schulz: Unsere Philosophie ist unser gangen. Ich habe gesagt: Trainer, ich se- Vorteil. Schade ist nur, daß dieses Bo- he es an den Augen, der wartet auf meine xen nach uns wieder untergehen wird. Führungshand. Die darf ich jetzt nicht SPIEGEL: Und wenn Sie oder Maske als einsetzen. Trainer Ihre Erfahrung weitergäben? SPIEGEL: Glauben Sie, daß das Urteil der Schulz: Das soziale System ist jetzt ein Kampfrichter sich auch gegen das von Ih- anderes. Uns geht’s inzwischen wahr- rem Stall gepflegte wissenschaftliche scheinlich zu gut. Da geht keiner mehr DDR-Boxen richtet? das Risiko ein und sagt: Ich boxe, viel- Schulz: Nee, nee, das hat damit nichts zu leicht bin ich der eine von tausend, der tun. Unser Stil ist Manfred Wolkes Schu- durchkommt. Die Eltern schicken ihre le, das hat nichts mit einer DDR-Schule zu tun. Das hat allein er ins Boxen rein- getragen. Die Amerikaner sind sehr auf „Schade ist nur, daß die Auseinandersetzung gepolt, aufs dieses Boxen nach uns Schlagen. Sie ballern drauf los, nehmen den Schlagabtausch an. wieder untergeht“ SPIEGEL: Eben deshalb wird in den US- Ringen Urgewalt immer höher einge- Kinder lieber zum Fußball. Da ist die schätzt als ein kühler Kopf. Chance größer. Schulz: Man hat an den Reaktionen des SPIEGEL: Aber Boxen erlebt zur Zeit ei- Publikums gesehen, daß ich auch die nen Boom. Amerikaner überzeugt habe. Die vielen Schulz: Als Deutscher Meister verdienst Deutschen haben ohnehin Stimmung ge- du kein Geld. Wenn du mehr willst, macht. Ab der vierten, fünften Runde muß du Abstriche machen. Ich bin seit habe ich gespürt, wie das Publikum ins- vier Monaten in keiner Disco mehr ge- gesamt umgeschwenkt ist, wie alle wesen, habe keine Nacht mehr durchge- „Axel, Axel“ gebrüllt haben. Ich dachte: macht. Das ist auch eine Frage der Er- Das ist ja wie zu Hause. ziehung – und die hat bei uns mit 13 in SPIEGEL: Selbst der Boxverband IBF den Kinder- und Jugendsportschulen hatte ursprünglich Zweifel, ob Sie länger begonnen. Da hatte man sich entschie- als eine Runde stehen bleiben wür- den: Ich mach’ es jetzt richtig, geh’ auf den . . . ein Internat, da ist man unter Kontrolle. Schulz: Ich aber nicht. Wir hatten schon SPIEGEL: Bejubeln die Deutschen dem- lange vor der Entscheidung, daß es zum nach eine aussterbende Spezies intelli- Kampf kommen würde, rumgeflachst: genter Boxer? „Mensch, den George würden wir gerne Schulz: Das ist leider wahr. Wenn die haben.“ Berliner bei ihrer Olympia-Bewerbung SPIEGEL: Und nun haben Sie jede Menge weniger Fehler gemacht hätten, wäre es neue Freunde und so manchen im mit Förderung wenigstens bis zum Jahr Schlepptau, auf den Sie vielleicht gern 2000 weitergegangen. Man hätte ein- verzichten würden? fach die Entwicklung der DDR über- Schulz: Ich habe keine neuen Freunde. nommen, um im eigenen Land zu glän- Freunde sucht man sich aus. Die wirkli- zen. chen Freunde waren nach der Niederlage SPIEGEL: So aber sind auch die Besten bei der Europameisterschaft 1993 sehr darauf angewiesen, sich mit Sponsoren wichtig. Sie haben verhindert, daß ich gut zu stellen. meine Karriere aus Enttäuschung been- Schulz: Ich habe schon mal einen gro- det habe. Als der Kampf gegen Foreman ßen Sponsor abgelehnt. perfekt war, haben Leute angerufen, die SPIEGEL: Die Deutsche Bank? mich vorher nicht mal mit dem Hintern Schulz: Nee. Die hätte ich genommen. angekuckt haben. Das ist ein Witz, aber Da wohn’ ich gleich um die Ecke. Bei ich sage da nichts drauf. Warum soll ich einem Sieg gegen Foreman könnte ich die Leute vor den Kopf hauen? künftig auswählen. So sind mir ein paar SPIEGEL: Das machen Sie nur im Ring? Millionen verlorengegangen. Schulz: Ich bin eher ein harmoniebedürf- SPIEGEL: Weitsprung-Olympiasiegerin tiger Mensch. Das ist doch normal. Heike Drechsler wurde lange als „SED-

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Werbeseite . H. RAUCHENSTEINER Trainer Wolke, Schützling Schulz: „Boxen geht durch den Kopf“

Ziege“ verunglimpft. Als sie nach ihrem hätte, gäb’s mich als Sportler auch WM-Sieg erklärte: „Ich habe auch für nicht. Deutschland gewonnen“, fielen ihr zahl- SPIEGEL: Foreman hat zehn Millionen reiche Werbeverträge zu. Dollar bekommen, aber Sie gelten als Schulz: Das mit der Nation ist ein Pro- der wahre Held des Abends. Nun kön- blem der Altbundesländer. Ob Ost oder nen Sie selbst Großverdiener werden. West, wenn wir keine Leistung bringen, War dieser Kampf für Sie wie ein Sech- sind wir raus – auch bei RTL. Aber na- ser im Lotto? türlich kämpfen auch wir für Deutsch- Schulz: Nee, das hat mit Lotto nichts zu land. tun. Das war harte Arbeit. SPIEGEL: Bei Ihrem Manager Wilfried Sauerland stapeln sich die Angebote aus den USA. Was ist, wenn Mike Tyson ge- gen Sie antreten will? Schulz: Da kann man drüber reden. Auch Tyson ist zu knacken. Je früher, desto leichter. Vor seiner Verhaf- tung habe ich mich mehr mit ihm beschäftigt als mit Fore- man. Ich wollte schon immer ganz nach oben. Und dort war damals Tyson. SPIEGEL: Haben Sie auch von ihm Videos gesammelt? Schulz: Ich habe Videos von allen. Und bei Tyson haben wir auch schon ein paar Schwä-

BONGARTS chen entdeckt. Möglicher Schulz-Gegner Tyson SPIEGEL: Ein zweiter Kampf „Je früher, desto leichter wird’s“ gegen Foreman ist allerdings derzeit noch wahrscheinlicher. SPIEGEL: Weil Sie einen deutschen Paß Schulz: Kommt es dazu, würde George haben? Stil beweisen. Schulz: Ja. Aber ich habe auch mit SPIEGEL: Es gibt aber auch das Ge- Deutschland kein Problem. Ich kam frü- rücht, daß Foreman ungeschlagen ab- her schon aus Deutschland. treten will und Sie dann um seine SPIEGEL: Sind Sie ein Nutznießer der Nachfolge boxen könnten. Wende? Schulz: Da mache ich mir keine Ge- Schulz: Klar, die Wiedervereinigung ist danken. Er kann abtreten oder gegen für mich ein Glücksfall. Aber früher mich antreten – meine Chance kommt ging’s mir auch nicht schlecht. Ich bin in so oder so. Ich bin auf dem Weg nach der DDR groß geworden und sehr stolz oben. darauf, auch die Zeit miterlebt zu ha- SPIEGEL: Herr Schulz, wir danken Ih- ben. Wenn’s die DDR nicht gegeben nen für dieses Gespräch. Y

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SPORT

wird, ist eben wie geschaffen als multi- mediale Vorzeigefigur. Finke hat schnell gelernt, sich als Re- voluzzer und Missionar zugleich zu in- szenieren. Als Freiburg vor zwei Jahren in die Bundesliga aufstieg, zielte jede Fernsehkamera auf Brilli und Selbstge- drehte des Trainers, der ab sofort als „exotischer Vogel“ durch die Sportsen- dungen irrte. Als Finke begann, sich in jedem Interview gegen das „blöde Kli- schee“ zu wehren, wußte er natürlich, daß der nutzlose Widerstand seinen Ruf nur noch festigt. Tatsächlich probt Finke, eine Art Joschka Fischer der Bundesliga, einen ständigen Spagat: Als einsamer Cowboy, der stets übernächtigt aussieht und gern ganz in Schwarz auftritt, scheint er das Grundgesetz des Profifuß- balls – wer das meiste Geld hat, gewinnt – außer Kraft zu setzen. In Wahrheit hat er es längst verinnerlicht.

GES Obwohl Finke schon weinende Spie- Aufsteiger Finke: Revoluzzer und Missionar gleichzeitig ler, die mit dem Kinderwagen an der Hand um sein Mitleid baten, fortschick- te, weil er sie nicht für fähig hielt, „ein Fußball höheres und höheres und höheres Ni- veau“ zu erreichen, gilt er immer noch als Sozialarbeiter auf der Trainerbank. Die Einschätzung ist ein Relikt aus Fin- Hemmungslos erfolgreich kes Schulzeit: Der Oberstudienrat wur- de dereinst von Nienburger Gymnasia- SPIEGEL-Redakteur Klaus Brinkbäumer über Freiburgs Trainer Volker sten zum Vertrauenslehrer gewählt. Finke und die Irritationen in der Provinz Mit großem Geschick versteht es der Trainer, dieses Bild zu erhalten: Kühl behandelt er nur die Kicker, die er nicht n Konferenzen kann es der beurlaub- Shooting-Stars befällt: Daß sich der Er- mehr braucht. All denen, die neue Ver- te Lehrer für Gemeinschaftskunde, folgreiche von Amateuren aller Art träge erhielten und nun Leistung brin- IGeschichte und Sport mitunter kaum umstellt und behindert sieht, ist ein gen sollen, erscheint er als Übervater. noch ertragen. Dort sieht er sich mit klassisches Aufsteiger-Syndrom. Als wäre er noch immer der Pädagoge, dem geballten Dilettantismus dieser Nun, da es sportlich am schönsten dem vor allem an seinem Sorgenkind Welt konfrontiert. Fragen würden da ist, versuchen sie in Freiburg die Balan- liegt, gibt sich Finke mit Leidenschaft gestellt, „die glaubt man nicht“. Und ce zu finden zwischen allen Ansprü- dem Sondertraining für den Ersatztor- „wenn Dummheit triumphiert“, sagt der chen: Finke weiß um die Gefahren sei- wart hin. Und nach Niederlagen bittet Trainer des Sportclubs Freiburg, „werde ner Dominanz, die andern mühen sich, er alle Spieler zum „gemeinsamen Be- ich nervös“. sie ihm nicht übelzunehmen. sinnen“. Da soll herausgefiltert werden, Die anderen lernen ihm nicht schnell Kein zweiter Trainer wird in der was die Stimmung stört. genug. Da ist dem SC Freiburg Volker Bundesliga derart hochgejubelt wie Fin- Der ungekämmte Mann, der in sei- Finke, 47, erschienen, hat in vier Jahren ke. In den vergangenen Wochen fragte nem winzigen Arbeitsraum im Dreisam- über 25 Spieler aussortiert – und flugs beinahe die Hälfte aller Bundesligama- stadion auf der Suche nach einem Brief wurde aus einem Durchschnittsklub der nager bei ihm an, ob er nicht den Klub Kaffeetasse, Tabak, Zeitschriften, Vi- zweiten Liga ein Spitzenteam, das inzwi- wechseln wolle; auch das von vielen deokassetten und Mineraltabletten über schen sogar um den Titel des Deutschen Kollegen wie ein Ritterschlag gewertete den Schreibtisch schiebt, wirkt nach au- Meisters mitspielt. Lob des Münchner Vereinspräsidenten ßen tatsächlich tiefsinniger und klüger Doch rings um Finke, in den lokalen Franz Beckenbauer blieb nicht aus. als die Mehrheit seiner Kollegen – was Redaktionsstuben wie in den Marke- Erfolgreicher als Finke, der einen sich auch aus seiner Vita erklärt. ting-Agenturen oder den örtlichen Gön- vermeintlich sicheren Absteiger zum Rekrutieren sich die übrigen Trainer ner-Cliquen, sitzen immer noch diesel- Titelkandidaten machte und von den ausschließlich aus ehemaligen Profis ben Provinzler, die an der Vereinspoli- Profis vor Wochen zum besten Trainer und Amateurfußballern, die gern Profis tik mitdrehen wollen. gewählt wurde, arbeitet keiner; nie- geworden wären, so hatte Finke nie Die Frage, die Volker Finke dann mand sonst ist in der Bundesliga rheto- Ambitionen auf einen Job in der Bun- stellt, ohne sie auszusprechen, ist ganz risch derart versiert und gleichzeitig desliga. Beständig verbreitet er die Au- einfach: Müssen, wenn ein Fußballver- fachlich unumstritten; kein zweiter ra des bodenständigen Normalo. ein professionell wird, nicht auch die spielt wie Finke die Rolle des Vorzeige- Als eines von vier Kindern des Dorf- Partner ihr Personal auswechseln? Rebellen. Einer, der seinen Kickern schullehrers von Brebber in Niedersach- Selbst die „Schwarzwald-Idylle“, als das brasilianisch anmutende Kurzpaß- sen mußte er seine Zensuren in Ord- die der SC Freiburg landesweit apostro- spiel einbimst und gleichzeitig auch nung halten und durfte sich ansonsten phiert wird, ist offenbar nicht resistent noch dafür sorgt, daß das Dach seines auf Bolzplätzen und Straßen herumtrei- gegen jenen Bazillus, der mit Vorliebe Stadions mit Solarzellen ausgestattet ben. Der junge Finke beschäftigte sich

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SPORT

mit Volleyball, Tischtennis und Leicht- Natürlich, meint Präsident Stocker, sei athletik und glaubt darum heute, offe- der moderne SC Freiburg primär „Finkes ner für Anregungen aus anderen Diszi- Werk“. Doch weil das Finke genauso plinen zu sein als die Trainer, die sieht und auch noch ganz offen aus- „immer im eigenen Saft steckten“. spricht, mehren sich die Verwerfungen Daß er etwa der Mannschaft ausge- imBreisgau. Freunde macht sich nur, wer rechnet am Tag vor den Spielen freigibt, die Huldigungen der Untertanen be- ist ein simpler pädagogischer Trick, galt scheiden entgegennimmt; einer wie Fin- der Konkurrenz allerdings lange Zeit als ke aber huldigt sich, hinter ein paar Flos- eher skurril. Doch seit der Lehrer auf keln notdürftig versteckt, lieber selbst. Urlaub immer seltener verliert, wächst Wird das marode Gelände des Sport- im Establishment die Angst, daß dieser clubs Freiburg von 1991 mit dem Sport- Seiteneinsteiger allen etwas voraus hat. park von heute verglichen – alles Finke- Komplexes Denken und „eine sozio- land. Kombinationsfreudige Flexibilität logische Sensibilität“, sagt Finke, habe der neuen Mannschaft – ein elfköpfiger er Ende der sechziger Jahre an der Uni- Gesamtfinke. Es sei schon so, sagt Finke: versität Hannover gelernt. Er sei Lehrer „Das ist hier mein Ding.“ geworden, weil „in diesen irrsinnig Zwar ahnt er, was taktisch klug wäre. spannenden Zeiten“ eine „neue Schule“ Da sich „im Erfolg immer alle zuständig entstehen sollte. fühlen“, müsse er „im Höchstmaß“ auf- Doch nach 14 Jahren als Beamter passen, damit die Freiburger Funktionä- merkte er, daß an den Gymnasien eher re „nicht zuwenigabkriegen“vomRuhm. immer weniger Demokratie gewagt wur- Und auch die Mannschaft, dieser „Hau- G. STOPPEL Trainer Finke, Profis: „Das ist hier mein Ding“

de und sein Lebensplan für die näch- fen“von Kickern, „die anderswo geschei- sten 30 Jahre festgeschrieben war. Dar- tert sind“, verlangt nach Anerkennung – um suchte er „nach einem zweiten soll sie ihr Lob also haben, „ehrlich“. Bein“ und begann als Trainer beim nie- Doch schon indem er diese Halbsätze dersächsischen Dorfverein TSV Havel- vorausschickt und dabei mäßig engagiert se, den er bis in die zweite Bundesliga aus dem Fenster guckt, erreicht Finke, führte. Als die Ehrenamtlichen „plötz- daß jedes Kompliment an andere gewollt lich Entscheidungen treffen und Inter- wirkt: Was wären die ohne ihn? Es ist ein views geben wollten“, kündigte Finke. offenbar unausweichliches Phänomen Die Kollegen aus dem Vorort Han- des Showgeschäfts Bundesliga, daß gera- novers, erinnert sich der Freiburger de den vergötterten Alleinherrschern Vereinspräsident Achim Stocker, 59, kleiner Vereine die Provinz irgendwann hätten ihm erzählt, der Finke sei ein zu provinziell wird – zuletzt ereilten den hervorragender Mann, „aber ich müßte Bremer Trainer Otto Rehhagel ähnliche einige meiner Kompetenzen an der Gefühle. Garderobe abgeben“. Stocker enga- Obwohl alles besser denn je läuft, läuft gierte ihn trotzdem, „der Kerl“ er- Finke nichts mehr gut genug. Weil Finke schien ihm „so kantig“: Finke war ein eben „im Detail pingelig“ ist, will er an je- Handschlag wichtiger als ausgefeilte der Entscheidung beteiligt werden; Verträge. „immer dominierender“ werde er, hat

260 DER SPIEGEL 18/1995 Stocker beobachtet. Vereinbart etwa ein Spieler ein Interview, will der Trai- ner den Termin verhindern, weil jener Profi „ja nicht mal selbst denkt“. Alle im Klub bewundern diesen Trai- ner, dessen „Mischung aus Vitalität und Intellektualität eine ungeheure Power erzeugt“ (Stocker) – aber niemand liebt ihn. Auf der Geschäftsstelle hat man ihm den Namen „Herr Oberlehrer“ ver- paßt, andere im Verein nennen ihn „größenwahnsinnig“. Und jeder Klein- kunde, der im neuen Stadion nicht mehr für 300 Mark werben darf, weiß Finke, „hält mich für die Quelle des Übels“. So ist es möglich, daß Finke bald er- kennen muß, daß er Freiburg in seinem Streben überfordert, den Verein zwar sauber und liebenswert zu halten, aber „Kommen Niederlagen, werden einige im Klub aufstehen“ zugleich zur geschäftstüchtigen Fußball- firma zu trimmen. Kommt die nächste Niederlagenserie, so der Präsident, wür- den „einige im Klub aufstehen“. Finke ist ob der Nebenwirkungen des Erfolgs „besorgt“ –aber sorichtig weiß er auch nicht, wie die Verhältnisse zu än- dern sind und vor allem: in welche Rich- tung? Er halte doch noch immer „den ganz kurzenDraht zumPräsidenten“, mit dem er sich täglich zweimal zur Bespre- chung trifft. Und um im Fußball Erfolg zu haben, müßten nun einmal „alle Fäden bei einer Person zusammenlaufen“. Schon die großen Trainer der Vergangen- heit, Hennes Weisweiler etwa oder Udo Lattek, hätten das so gehandhabt. Vielleicht kann es ja bei einem, der in wenigen Monaten ein Star wird, gar nicht anders kommen. Täglich fragen bei Finke Dutzende von Organisationen, die „mit Kindergärten, Schwerintegrierbaren, Ausländern, Asylanten, Flüchtlingen oder alternativer Energie“ zu tun haben, um Unterstützung an, „weil der Finke in seiner Vergangenheit immer so sozial en- gagiert war“. Sagt er ab, nimmt man übel. Selbst Freunde haben ihm bereits vorge- worfen, er sei „so schroff und abweisend“ geworden. Den Fußball, das Spiel, das ihm dieses neue Leben „ohne viele Kompromisse“ gestattet, liebt er immer noch. „Hem- mungslos schön“ sei es doch, wenn ausge- rechnet der SC Freiburg Bayern Mün- chen 5:1 schlägt. Doch wenn er mit seiner Frau durch den Schwarzwald radelt, sind all die „Naiven“ und die „Willi Wichtigs“ wie- der da. Er haßt diese Menschen, dieFahr- radblockaden errichten, um ihn anzufas- sen. Und dann wünscht sich Finke einen „Stuntman, der für mich in der Welt un- terwegs ist“. Y

DER SPIEGEL 18/1995 261 . PERSONALIEN

ean-Marie Le Pen, 66, schen dokumentierte. Schok- streit mit den Investoren und Jfranzösischer Rechtsextre- kierte Straßburger riefen die der Regierung führen, be- mist, fühlt sich wieder mal als Polizei. Radio und Fernseh- haupten, rund 100 000 Bäu- Opfer der Medien. Anlaß sender berichteten von dem me des 200 Jahre alten Wal- waren die Berichte über eine unglaublichen Vorgang und des seien für das Projekt ge- Fahne mit Hakenkreuz, die verwiesen auf das Ergebnis im fällt worden. Der Werbespot am vergangenen Montag am ersten Durchgang der franzö- des gefallenen Umweltengels Straßburger Münster von ei- sischen Präsidentschaftswah- soll noch bis Oktober ausge- nem Fernsehteam für Auf- len, wonach Le Pen im Elsaß strahlt werden. mit 25,4 Prozent sein landes- weit bestes Ergebnis erzielt ürgen Möllemann, 49, Ex- hatte. In einem Kommunique´ JMinister („Briefbogenaffä- empörte sich der Rechtsaußen re“) und abgemeierter Lan- über die assoziative Verbin- desvorsitzender der nord- dung, im übrigen sei er „ein rhein-westfälischen FDP, französischer Patriot, der verspürt politischen Auf-

Frankreich immer verteidigt“ ACTION PRESS wind. Bei seinem ersten Auf- habe. Das Fernsehteam ent- Sting tritt nach den Osterferien in schuldigte sich. Es hatte ver- Aachen kamen, so trium- gessen, die Behörden übersei- ting (bürgerlich Gordon phierte der postenlose Libe- ne Fahnenaktion zu informie- SMatthew Sumner), 43, bri- rale, „bei 23 Grad 120 Leute, ren. tischer Rocksänger, Song- statt im Biergarten zu sit- schreiber („Roxanne“), Um- zen“. Die Aachener Partei- olfgang Bötsch, 56, weltschützer und Gründer der freunde hätten „höchstens WBundespostminister, bat Amazonas Regenwald Stif- mit 40 Besuchern gerech- den Fußballtrainer Otto tung, ist vom wahren Glauben net“. Entsprechend hochge- Rehhagel um Unterstützung abgefallen. Der Musikus tritt stimmt war Möllemann. Falls für ein schwieriges Reform- in einem japanischen TV-Spot die FDP bei den bevorste- projekt. Der CSU-Politiker auf, in dem für ein neues gi- henden Landtagswahlen in will von 1998 an den deut- gantisches Erholungszentrum Nordrhein-Westfalen schei-

AFP schen Telekommunikations- in dem japanischen Gebiet tere, prophezeite der Freide- Nazi-Fahne in Straßburg (1995) markt fast vollständig für von Miyazaki geworben wird. mokrat seinem Parteivorsit- den Wettbewerb freigeben. In dem Werbefilm schlendert zenden Klaus Kinkel „Tabula nahmen zu einem histori- Als Etikett für die geplante Sting über das Gelände, lehnt rasa“ auf dem nächsten Par- schen Film gehißt worden Liberalisierung lieh sich sich dann versonnen an eine teitag im Juni. Möllemann: war. Das Tuch war – ohne Fußballfan Bötsch den Reh- einsam dastehende Pinie und „Ich warte einfach ab.“ behördliche Genehmigung – hagel-Kampfbegriff von der haucht: „Miyazaki, I love it.“ just am selben Ort ange- „Kontrollierten Offensive“ Für japanische Umweltschüt- orbert Blüm, 59, Bundes- bracht worden, wo 1940 ei- und bat den künftigen Trai- zer ist das Erholungsgebiet Narbeitsminister und Vor- ne Nazi-Fahne hing, die die ner von Bayern München der Ort eines ungeheuerli- sitzender der CDU von Annexion der elsässischen schriftlich, auf Tantiemen zu chen Umweltfrevels. Öko- Nordrhein-Westfalen, hat Grenzregion durch die Deut- verzichten. gruppen, die einen Rechts- ein Buchungsproblem. Im

Atienza AP

uis Atienza, 37, spanischer Landwirtschafts- und Fischerei- Fangmengen der Spanier beschnitten, die der kanadischen Lminister, wurde von Computergrafikern der Tageszeitung Fischer aber verdoppelt worden. Angeblich sind rund 8000 El Mundo in einen dummen, glubschäugigen Fisch verwan- Jobs in der fischverarbeitenden Industrie Spaniens gefährdet. delt. Nach Meinung der Zeitung und vieler Spanier hatte sich Der Mundo-Fisch Atienza, der auch als Symbol für die an- Atienza als „totale Flasche“ (El Mundo) erwiesen, als es dar- geblich „schwache Regierung“ herhalten muß, wäre als ech- um ging, spanische Ansprüche auf die Heilbutt-Fanggründe tes Meerestier auf jeden Fall Beute der spanischen Fischer. vor der kanadischen Küste machtvoll zu vertreten. Statt dessen Dazu sind die Maschen ihrer Netze zu eng und der Fisch zu seien in dem Vertrag, der den Fischereistreit beendet, die dick.

262 DER SPIEGEL 18/1995 .

Landtagswahlkampf hatte der Christdemokrat NRW-Innen- minister Herbert Schnoor In die schöne Versagen bei der Kriminali- tätsbekämpfung vorgewor- Frau verknallt fen. Schnoor wies in einem Brief an Blüm die Vorwürfe zurück. Weil eine Replik Blüms bei Schnoor verstüm- melt ankam, baten Schnoor- Leute beim CDU-Landesver- band um eine komplette Fas- sung. Dort wußte zwar nie- mand von dem Blüm-Schrei- ben, doch wenig später ging der Brief in Düsseldorf ein – per Fax, abgesendet aus Blüms Bonner Ministerbüro. Daß dies bei kleinlicher Aus- legung eine unzulässige Ver-

R. HARTMANN / GLOBE PHOTOS mischung von Amts- und Par- Torricelli, Jagger teifunktion bedeutete, be- schwerte offenbar die Christ- ianca Jagger, 44, Bürgerrechtle- demokraten: Telefonisch ver- Brin aus Nicaragua und Ex-Ehe- sicherten sie wenig später im frau von Rolling Stone Mick Jagger, Innenministerium, der Vor- mischt kräftig mit in der amerikani- gang werde „selbstverständ- schen Innenpolitik. lich korrekt gegenüber dem Der Grund ist die Liebe. Der Arbeitsministerium abge- stockkonservative Washingtoner rechnet“. Schnoor: „Wir sind Politiker Bob Torricelli hatte sich in gespannt, unter welchem Ti- die schöne Frau verknallt, als sie tel die 94 Pfennig im Haushalt ihn auf den Fluren des Repräsen- des Bundesarbeitsministers tantenhauses um Hilfe für bosni- auftauchen.“ sche Waisenkinder bat. Seitdem ist das Paar unzertrennlich. Vor Wochen erfuhr Torricelli mehr beiläufig als Mitglied im Geheim- dienstausschuß von der Ermordung eines mittelamerikanischen Unter- grundkämpfers und eines US-Bür- gers durch einen in CIA-Diensten stehenden Oberst der guatemalte-

kischen Armee. Weil der Mörder der SABA GAMMA / STUDIO X CIA als Informant unersetzlich Clark schien, verschwieg der Geheim- dienst das Verbrechen. arcia Clark, 41, Ankläge- Torricelli geriet in einen Zwie- Mrin im O.-J.-Simpson- spalt. Einerseits verbot ihm sein Prozeß, gab dem an Skanda- Amtseid, über dienstliche Geheim- len und Skandälchen reichen nisse zu sprechen, andererseits Verfahren ein neues Image. handelte es sich um strafwürdiges Als sie jüngst den Gerichts- Verbrechen, das er nach US-Recht saal betrat, hatte sie glatt ge- zu melden hatte. Er vertraute sich striegeltes Haar – statt ihrer Bianca an. Folge: Torricelli offen- gewohnten, mal kürzer, mal barte sein Wissen der Presse. länger getragenen Krauslok- Als Gegner seinen Ausschluß als ken. Der Prominenten-Frisör Geheimdienstkontrolleur forderten, Kenneth, dem schon das hatte Bianca wieder guten Rat: Tor- Haar von Marilyn Monroe ricelli solle sein Mandat niederle- und Jackie Onassis anver- gen und die Wähler in seinem traut war, bestätigte: „Sie Wahlkreis entscheiden lassen: sieht besser aus. Kraushaar Amtseid oder Öffentlichkeit. Umfra- wirkt unmodern und ge- gen ergaben, der ehrliche Demo- wöhnlich.“ Auch die anwe- krat würde mit riesiger Mehrheit senden Reporter applaudier- wiedergewählt werden. Die Torri- ten. Geschmeichelt ermun- celli-Kritiker gaben auf. terte die Staatsanwältin die Journalisten: „Get a life. Macht das Beste daraus.“ .. REGISTER

Gestorben bendig. Sie hatte sich in den Dreißigern durch die schönsten aller Musicals ge- Ginger Rogers, 83. Ihre Karriere be- tanzt, durch „The Gay Divorcee“, gann, als die Filmkopien noch mit Silber „Top Hat“ oder „Shall We Dance“, beschichtet und superleicht entflamm- und immer hatte sie darauf gehofft, ei- bar waren – und um ihren ganzen Zau- ne seriöse Schauspielerin zu werden. ber und ihre Erregtheit zu spüren, müß- Sie setzte sich durch, gewann 1940 den te man sie eigentlich auf einer dieser al- Oscar für „Kitty Foyle“, spielte für Ho- ten Nitrokopien sehen, die schimmerten ward Hawks und Billy Wilder – und im- und glänzten. Sie hatte angefangen als mer häufiger schien es, als ob sie, die einst den künstlichen Welten des Musi- cals erst das Leben eingehaucht hatte, sich nun nicht mehr zurechtfände in je- ner Welt, in der die Menschen älter werden. Sie war in Wilders „The Major and the Minor“ eine junge Frau, die sich als zwölfjähriges Mädchen ausgab. Sie spielte in Hawks’ „Monkey Busi- ness“ eine reife Frau, die Verjüngungs- pillen schluckte, und diese Filme reflek- tierten ihr eigenes Problem. Denn sie verstand es nicht, zu altern; sie hielt ih- rem eigenen Bild die Treue, auch als es aus der Mode kam. Ginger Rogers, die sich in den sechziger Jahren aus dem Filmgeschäft zurückzog, ist vergange- nen Dienstag im kalifornischen Rancho Mirage gestorben. CAMERA PRESS

eines jener Glamourgirls, die vor allem hübsch und jung und blond aussehen Egon Franke, 82. Er verkörperte den und die Kulissen schmücken mußten wie sozialdemokratischen Parteisoldaten die sündhaft teuren Requisiten jener von altem Schrot und Korn. Als einer, Zeit: als Art De´co aus Fleisch und Blut. der die Verfolgung durch die Nazis und Aber bald bemerkten die Leute in Hol- das Strafbataillon 999 überlebt hatte, lywood, daß der Schein der Lichter sich schätzte er Zusammenhalt und Solidari- in ihren Augen und ihrem Lächeln viel tät von Partei und Fraktion höher als heller und viel heftiger spiegelte, und als politische Inhalte. Machtbewußt schar- sie zum erstenmal auf Fred Astaire traf, te der Abgeordnete des Bundestages, da war es, wie wenn zwei Wasserstoff- dem er ab 1951 angehörte, sozialdemo- atome miteinander verschmelzen: Un- kratische Hinterbänkler um sich, die geahnte Energien wurden frei. „Er gab Kanalarbeiter. Diese ihr Klasse, sie gab ihm Sex“, so hat, an- lose Vereinigung von geblich, Katherine Hepburn diese be- rechten Sozialdemo- sondere Chemie zu beschreiben ver- kraten war eine Ant- sucht. Und Ginger Rogers behauptete wort auf die Partei- ihre Sinnlichkeit in einer Umgebung, in Intellektuellen, wie der alles künstlich war und fast abstrakt: etwa Fritz Erler, die Wo Astaire beim Tanzen die Schwer- schlechte Wahlergeb- kraft verhöhnte und sich in der Bewe- nisse einfuhren, aber gung fast aufzulösen schien, da insze- in der Fraktion das

nierte sie das Spiel vom Begehren und L. KUCHARZ Sagen hatten. Wäh- Begehrtwerden und holte ihren Partner rend der Regierungs- auf den Boden zurück. Wo die Bühnen- zeit von Willy Brandt und Helmut bildner luxuriöse Kulissen bauten, die Schmidt stützte Egon Franke die Regie- mehr dem Interieur der Träume als den rung vorbehaltlos, getreu dem Kanalar- Wohnzimmern wirklicher Häuser gli- beiter-Prinzip: die Macht den Sozis auf chen, da wandelte sie ganz wach durch jeden Fall erhalten. Die fachliche Füh- diese Orte und erklärte die Sehnsucht rung seines Amtes als Minister für in- nach Luxus zum Menschenrecht. Sie nerdeutsche Beziehungen (1969 bis hatte kein Talent zur Verführerin; sie 1982) überließ er weitgehend seinem war es, die verführt werden wollte, und Staatssekretär. Als Franke angeklagt wenn Astaire sie lockte und um- wurde, 5,6 Millionen Mark im Zusam- schwärmte, wenn das Kino der dreißiger menhang mit den Freikäufen von Jahre seinen ganzen Reichtum an sie DDR-Häftlingen veruntreut zu haben, verschwendete, dann repräsentierte sie wurde er freigesprochen, sein Abtei- immer auch das Publikum, dem dieser lungsleiter zu dreieinhalb Jahren Haft Aufwand ebenfalls galt. Nur zur Göttin verurteilt. Egon Franke starb am ver- taugte sie nicht, dafür war sie viel zu le- gangenen Mittwoch in Hannover. Werbeseite

Werbeseite .

1. bis 7. Mai 1995 FERNSEHEN

MONTAG etablieren. Der Kölner Sen- te: Der Sohn eines Schuh- 17.25 – 18.57 Uhr ZDF der versucht es nun mit 273 händlers aus Peine emigrier- Folgen eines US-Hits (28 te vor Kriegsbeginn mit sei- Fünf Millionen Emmys, über 30 Prozent nen Eltern nach Lodz, ent- und ein paar Zerquetschte Marktanteil), der nach dieser ging später den deutschen Passend zum Kampftag der Pilotsendung in den Nacht- Häschern durch Flucht in die Arbeiterklasse: TV-Film stunden laufen soll. Wie der Sowjetunion. Dort wurde er über einen Lottogewinn, den feucht-fröhliche Titel verrät, in einem Waisenhaus zum sichersten Weg zur Lösung geht es um eine Bar, die ein Kommunisten gedrillt. Als sozialer Probleme. Ex-Baseballer (Ted Danson) auch hier die Wehrmacht betreibt und in der sich einmarschierte, gab sich Sa- drei ziemlich unterschiedli- lomon als verschleppter 19.30 – 20.15 Uhr ZDF che Angestellte beharken: Volksdeutscher aus, wurde Eine Frau in den ein rauhbeiniger Barkeeper, Dolmetscher bei den Solda- allerbesten Jahren eine spitzzüngige und eine in- ten und zur Belohnung auf Justitia könnte aussehen wie tellektuelle Kellnerin. Auch eine NS-Eliteschule nach Thekla Carola Wied: genau- Gäste gibt es – den fetten Braunschweig geschickt. so vernünftig, so unbestech- Norman und den Briefträger Dort mußte er, der Beschnit- lich, so blind gegen männli- Cliff, der in seinem Leben tene, sich vor den Blicken che Gespreiztheiten. Die wohl je nur eine Sache beför- seiner Kameraden hüten und Washington dritte Episode zeigt sie als dert hat: Bier in seine Kehle. durfte auf die Avancen einer Richterin, der ein liaisonfähi- blonden Mitschülerin nicht der 1965 ermordete Afro- ger Erfolgsarchitekt (Dieter 20.15 – 22.10 Uhr Sat 1 eingehen. Durch Glück Amerikaner Malcolm Little Mann) vorgemacht hat, er sei konnte er überleben. Ag- (Denzel Washington). Der verheiratet. Der Luftikus Aus den Augen verloren nieszka Holland machte aus hatte sich, nach sieben Jah- hatte die Tarnung gewählt, Weißt du noch, als du Sport- dem Schicksal des Jungen ren Gefängnis, „X“ genannt, um sich von Freundinnen im- reporter bei Radio Bremen mit den zwei Seelen in seiner um an die unbekannten Na- mer mal wieder trennen zu warst? Ein witziger, frecher Brust einen oberflächlichen, men seiner Vorfahren zu er- können. Nun aber, ange- Radio-Dachs. Dann, Jörg reißerischen, aber wegen der innern. Die spannendsten sichts von Theklas Zauber, Wontorra, haben wir uns aus ungewöhnlichen Geschichte Bilder des drei Stunden lan- dauert ihn seine Täuschung, den Augen verloren – bis wir dennoch anrührenden Film. gen, satten Hollywood-Kinos doch der Lügenbaron wird uns nun heute zu dieser neu- sind die, die dem Attentat das Tarnkleid nicht so ohne en Live-Sendung wiederse- 20.40 – 22.45 Uhr Arte auf den Ex-Junkie folgen: weiteres los. Die tadellose hen. Wir werden alle älter, Dokumentaraufnahmen aus Herzensdame duldet weder ruhiger und weiser, und es ist Night on Earth den sechziger Jahren, ange- Scheidung noch Trug. Die gut, daß du jetzt Klassentref- Jim Jarmuschs Episodenfilm füllt mit dem Brandgeruch Lust weint leise im Dunklen. fen organisierst und Belinda (USA 1991) von fünf Men- der Straße. Zum Schluchzen. helfen wirst, ihren Urlaubs- schen in verschiedenen Städ- flirt wiederzusehen. Wir kön- ten, die im Taxi heiter-me- 19.40 – 20.15 Uhr RTL nen uns getrost wieder aus lancholische Geschichten er- DIENSTAG den Augen verlieren. zählen. In New York kut- 20.15 – 21.00 Uhr ZDF Cheers schiert Helmut (Armin Versteckte Kamera Comedy heißt im deutschen 20.30 – 22.19 Uhr ARD Mueller-Stahl) und bringt Fernsehen oft „komme nie“: Fahrgast YoYo (Giancarlo Vielleicht deckt die versteck- Von Ausnahmen wie „Eine Hitlerjunge Salomon Esposito) zur Verzweiflung. te Kamera ja auf, welchen schrecklich nette Familie“ Was Salomon Perel durchge- Witz und Reiz Claudia Schif- abgesehen, ist diese in den macht hat, klingt unglaublich 22.00 – 22.50 Uhr ZDF fer (diesmal unter den her- USA erfolgreiche Sendeform und beruht doch auf einer au- eingelegten Promis) noch vor hierzulande nur schwer zu thentischen Lebensgeschich- Eine Liebe in Hollywood der Öffentlichkeit verbirgt. Michelle Pfeiffer als Filmdi- va im Hollywood der dreißi- 23.05 – 0.05 Uhr ARD ger Jahre. Sie lernt bei ei- nem Autounfall einen ver- Boulevard Bio heirateten Mann (Brian Ker- „Talk, Talk, Talk“ – die win) kennen, doch dessen lautesten Schnatterhälse schwangere Frau bemerkt des deutschen Fernsehens bald den Seitensprung. im Bio-Laden: Margarethe Amerikanisches TV-Drama Schreinemakers, Erich Böh- von 1987, Regie: Paul Bo- me, Thomas Gottschalk, gart. Hans Meiser.

22.55 – 2.10 Uhr ZDF 0.05 – 1.45 Uhr Vox Malcolm X Barocco – Mord um Macht Die 34-Millionen-Dollar- Ein abgehalfterter Boxer Film-Elegie (USA 1992, Re- (Ge´rard Depardieu) nimmt gie: Spike Lee) handelt von Geld von einem Chefredak-

FOTOS: KINDERMANN der Trauer und dem Aufruhr teur, damit er dessen politi- „Hitlerjunge Salomon“-Darsteller Marco Hofschneider, Julie Delpy der Schwarzen. Ihr Held ist schen Konkurrenten der Ho-

266 DER SPIEGEL 18/1995 .

mosexualität zeiht. Gleich- so lange gegen Brückenpfei- 23.15 – 24.00 Uhr ARD KIOSK zeitig kassiert der Verleum- ler, bis sich dem Typ die der von der Gegenpartei, um Zunge löst. Das schwarze Schaf mit dem Geld aus beiden vom Niederrhein Gong Quellen samt Freundin (Isa- 0.15 – 1.15 Uhr ZDF Der Kabarettist Hanns Die- belle Adjani) zu verschwin- ter Hüsch wird 70. Horst für Borrink den. Doch der Boxer wird Orson Welles – Mühlenbeck begleitete den Bob Borrink, 60, fristlos wegen seines Doppelspiels Genial und geächtet Jubilar auf seiner aktuellen, geschaßter und sogleich umgebracht, der Mörder US-Dokumentation (1992) der inzwischen 53. Tournee mit Hausverbot belegter nimmt die Stellung bei der über den 1985 in Los Ange- durch Deutschland und zeigt Redaktionsdirektor des Freundin ein und entflieht les gestorbenen Regisseur, den Brettl-Druiden als Frei- Münchner Gong-Verlags mit ihr. Kritiker reagierten Schauspieler und Autor, der zeitprediger in Kölner Kir- (Gong, Die Zwei, Die Aktu- auf Andre´Te´chine´s Film jetzt 80 Jahre alt geworden chen. Unter den Gratulanten elle, Tier- und Rätselhef- (Frankreich 1975) unter- wäre. Morgen, Donnerstag, NRW-Ministerpräsident Jo- te), kämpft um sein „Le- schiedlich. Die einen fanden 24.00 Uhr, zeigt das ZDF hannes Rau sowie die Kolle- benswerk“. Seinem Wider- den Film verquast, andere seinen berühmtesten Film: gen Dieter Hildebrandt und part Rainer Cordes, Ge- lobten das intellektuelle Citizen Kane. Dieter Hallervorden. schäftsführer der Nürnber- Glasperlenspiel mit filmhi- ger Muttergesellschaft Se- storischen Reminiszenzen an baldus, wirft Borrink in ei- Hitchcock und die Schwarze DONNERSTAG FREITAG nem Dossier für Sebaldus- Serie. 22.00 – 22.30 Uhr MDR 20.15 – 22.25 Uhr Sat 1 Gesellschafter nun Miß- wirtschaft sowie „rüden“ Befreiung von der Angst Die Glücksjäger Umgang mit Beschäftigten MITTWOCH MDR-Intendant Udo Reiter Der eine ist taub und nimmt bis hin zu Verfolgung und 20.30 – 22.15 Uhr ARD befragt Bundeskanzler Hel- also nicht wahr, wenn ihm Schnüffeleien vor. Der vor mut Kohl über das Kriegsende Revolverkugeln um die Oh- einem Jahr angeheuerte Einmal Macht und zurück und die Deutschen nach 1945. ren pfeifen, der andere ist frühere Bertelsmann-Ma- Heinrich Breloers TV-Doku- blind und kann also die Ursa- nager Cordes hatte den mentarspiel über Björn Eng- 22.10 – 0.05 Uhr Pro Sieben che einer wilden Knallerei Gong-Chef nach monate- holms Fall (siehe Seite 212). nicht erkennen – gemeinsam langen Querelen wegen Das Gesetz bin ich sind sie ein Idealgespann, um „unterschiedlicher Bewer- 21.10 – 22.00 Uhr 3Sat Ein verwitterter Outlaw Überfälle, Fluchten und Ver- tungen der zukünftigen (Charles Bronson) sucht als folgungsjagden im Kampf mit Verlagspolitik“ vor die Tür Jenseits der gesetzt. Durch die Vergabe Schattengrenze von Druckaufträgen nach Im ersten Teil seiner Trilo- außen – „Rätselhefte von gie protokolliert Hartmut uns werden jetzt bei Ber- Schoen, der Adolf-Grimme- Preisträger 1995, die Reise des amerikanischen Viet- nam-Kriegsveteranen Larry Powell von seinem Dorf im US-Staat Kentucky nach Ha- noi, Da Nang, Hue und Sai- gon. Ein beeindruckender Bericht.

21.15 – 22.45 Uhr West III Point Blank Der britische Regisseur John

Boorman verdüsterte sein ROSY-PRESS „Das Gesetz bin ich“-Darsteller Bronson (l.) W. M. WEBER Gangsterstück (USA 1967) Borrink mit kafkaeskem Brimbori- um, Raum-Zeit-Sprüngen Melonenzüchter die letzte einem Supergangster durch- telsmann hergestellt“ – und Vor- und Rückblenden. Chance, im bürgerlichen Le- zustehen. In diesem Film nehme Cordes die „Zerstö- Lee Marvin spielt einen ben Fuß zu fassen. Doch Gau- (USA 1989, Regie: Arthur rung“ der eigenen Drucke- wortkargen Brutalnik, der ner und die Polizei machen Hiller) bewähren sich Gene reien in Kauf, klagt Bor- bei einem Coup um seinen dem Mann mit dunkler Ver- Wilder und Richard Pryor rink. Außerdem wolle Cor- Anteil geprellt wurde. Mit gangenheit Schwierigkeiten. als brillantes Klamauk-Duo. des jedem Objekt im Gong- einem schweren Trommelre- Richard Fleischers Actionfilm Was sie mit Slapstick-Rasanz Haus, dessen 200 Redak- volver schießt er sich rä- (USA 1974) „versammelt“, liefern, ist mehr als ein teure gemeinsam 23 Ma- chend durch bis zur Spitze sprachpuzzelte die Frankfur- schamloser Behindertenwitz, gazine herstellen, eigene eines geheimnisvollen Gang- ter Allgemeine, „zwar alle Kli- denn in den entscheidenden Verlagsleiter verpassen – stersyndikats. Besonders ein- schees der Gattung, klebt sie Augenblicken erweisen sich zu erwartende Folge, laut drucksvoll, wie der Rächer aber nicht brav aneinander, ihre Handicaps als Vorteile, Borrink: „eine Menge neu- einen Mitfahrer zum Plau- sondern behandelt sie wie be- die den Sieg bringen: Ein er Kosten“. dern bringt: Er rammt ein wegliche Teile eines überra- Hörender und Sehender hät- weißes Chrysler-Automobil schenden Puzzles“. te die Sache nicht überlebt.

DER SPIEGEL 18/1995 267 . FERNSEHEN

21.15 – 21.45 Uhr ZDF den amerikanischen Wort- schatz um den Nonsens-Aus- DIENSTAG Irgendwo gebettelt, druck „way“ (soviel wie 23.00 – 23.40 Uhr Sat 1 irgendwo geklaut „Alles klar“) erweiterte. SPIEGEL TV Die heute 57jährige Elisa- REPORTAGE beth Otto ist eines von 5000 deutschen „Wolfskindern“, 1.05 – 2.55 Uhr ZDF Teil II der Farbdokumenta- die sich nach dem Zweiten Der Frauenmörder tion über das Kriegsende: Weltkrieg als Waisen in den von Boston Im April 1945 liegt Nazi- Deutschland am Boden. Wäldern des Baltikums wie- Regisseur Richard Fleischer Die Rote Armee kämpft derfanden. Mit Reporterin rekonstruiert in seinem Psy- in Berlin, die Amerikaner Ingeborg Jacobs besuchte sie chokrimi (USA 1968) den au- marschieren auf Mün- Orte und Menschen ihrer thentischen Fall des schizo- chen. Die Farbkameras Vergangenheit. phrenen Klempners Albert des Special Film Project Henry De Salvo, der in Bo- dokumentieren das zer- ston 13 Frauen erwürgte. Ei- 23.10 – 0.45 Uhr Sat 1 störte Nürnberg und das ne höchst subtile Kinobear- KZ Dachau, wo die Überle- Kursaison beitung, die bisweilen mit Si- benden ihre toten Kame- für scharfe Kumpel multanszenen auf unterteilter raden beerdigen. Die US- Leinwand arbeitet. Tony Glück auf – der Steiger Kameraleute zeigen den

Curtis spielt De Salvo als COLUMBIA TRI-STAR kommt. Sat 1 greift nach den lächelnden Hermann Gö- schwammig-sensiblen Gatten Eastwood Abraumhalden des deut- ring in Kriegsgefangen- und Vater, der nach dem TV- schen Sexfilms. schaft und den Komponi- Begräbnis John F. Kennedys (USA 1993) glückte dem sten Richard Strauß beim aus Niedergeschlagenheit ei- deutschen Regisseur Wolf- Rosenschneiden, aber ne Blondine tötet und die Tat gang Petersen der Holly- SAMSTAG auch die endlosen Reihen vergißt. Erst Zufallskontakte wood-Durchbruch. Clint 20.15 – 22.10 Uhr Pro Sieben von Trümmerfrauen. mit Polizei und Psychiatrie Eastwood spielt den Geheim- Wayne’s World bringen den kranken Installa- dienstagenten, der das Trau- Der Film von Penelope teur schließlich in Mordver- ma mit sich herumschleppt, MITTWOCH Spheeris (USA 1991) mußte dacht. Qualvolle Gespräche daß er das Kennedy-Atten- 22.05 – 22.50 Uhr Vox hierzulande als Beleg für die mit einem Kommissar (Hen- tat nicht verhindern konnte. SPIEGEL TV THEMA stetige Verblödung der ame- ry Fonda) enthüllen in den Nun scheint sich die Ge- rikanischen Jugend herhal- besten Sequenzen des Films schichte zu wiederholen: Der Karl May – eine deutsche ten. In Wahrheit handelt es sein Doppelleben. Der wirk- Killer Mitch Leary (John Legende zwischen Mythos sich um ein visionäres Mach- liche De Salvo wollte sich in Malkovich) läßt den Agenten und Kitsch. werk, in dem sich die bei- dem Würger-Epos nicht er- wissen, daß er den amtieren- den Hauptdarsteller Wayne kennen und versuchte verge- den Präsidenten ermorden FREITAG (Mike Myers) und Garth bens, den Start des Licht- will. Am schönsten ist, wie 21.55 – 22.25 Uhr Vox (Dana Carvey) nur für Fun spiels durch Richterspruch zu Petersen dem patriotischen unterbinden. Pathos das Lachen beige- SPIEGEL TV interessieren – also für wirk- INTERVIEW lich wichtige Dinge wie Par- bracht hat. Da wollen alter Vor 20 Jahren berichtete tys, Heavy Metal, Autofah- 1.25 – 7.45 Uhr 3Sat Agent und junge Agentin ren und Mädchen. Zudem ist (Rene Russo) endlich ins er über den Fall von Sai- der aberwitzigen Nummern- Pudel Overnight: Berlin Bett, und beim Ausziehen gon, als CNN-Reporter in revue anzurechnen, daß sie Der Schlagerparodist King fallen ihr sämtliche Utensi- Bagdad wurde Peter Ar- Rocko Schamoni und der lien geheimdienstlicher Tä- nett während des Golf- Punksänger Schorsch Kame- tigkeit klirrend zu Boden: kriegs zum Superstar. run streifen mit Pudel und der Staatsdienst als Slapstick. SPIEGEL TV INTERVIEW Kamerabegleitung durch das traf Arnett in Vietnam. nächtliche Berlin. Die Sen- 20.15 – 21.44 Uhr ARD dung ist der Pilot für eine SAMSTAG Reihe von Nachtausflügen Tatort: Bienzle 22.10 – 24.00 Uhr Vox durch Städte Deutschlands, und der Mord im Park Österreichs und der Schweiz. Der Stuttgarter Kommis- SPIEGEL TV SPECIAL Es müssen ja nicht immer nur sar Bienzle (Dietz-Werner Langfassung der Farbdo- S-Bahn-Fahrten und Aqua- Steck) ist, was schwäbisch kumentation (siehe Re- rien sein, wenn man nachts „knitz“ heißt und soviel wie portage). glotzen und nicht schlafen verschmitzt, clever und nicht will. unsympathisch bedeutet. In SONNTAG diesem Spiel (Autor: Felix 22.15 – 22.55 Uhr RTL Huby, Regie: Dieter Schlot- SONNTAG terbeck), in dem es um den SPIEGEL TV MAGAZIN Deutschland im zweiten 20.15 – 22.20 Uhr Premiere Mord an drei Pennern geht, kann er leider seine Kunst Frühling. 50 Jahre nach In the Line of Fire – nicht so wie sonst entfalten, dem 8. Mai 1945. Proto- Die zweite Chance weil die Handlung mit nächt- koll einer Nachkriegsju-

U. RÖHNERT Mit diesem ebenso spannen- licher Action überfrachtet er- belwoche. Carvey den wie komischen Thriller scheint.

268 DER SPIEGEL 18/1995 Werbeseite

Werbeseite HOHLSPIEGEL RÜCKSPIEGEL

Aus der Welt am Sonntag über den Ex- Der SPIEGEL berichtete . . . Boxer Hein ten Hoff: „Ein Teil der von ihm ausgehenden Schwere ist auf seine . . . in Nr. 10/1995 PANORAMA: FOR- Nachdenklichkeit zurückzuführen.“ SCHUNGSFÖRDERUNG – „SCHWERER FLIEGER“ über die Pannen beim Bau des Y Stratosphären-Forschungsflugzeugs Stra- to 2 c. Der Höhengleiter zur Erforschung der Ozonschicht sollte vom bayerischen Flugzeugbauer Burkhart Grob ursprüng- lich für 93 Millionen Mark gebaut wer- den: 72 Millionen Mark sollte das For- schungsministerium spendieren.

Vor dem Haushaltsausschuß räumte For- schungsminister Jürgen Rüttgers am ver- gangenen Dienstag ein, daß der Gleiter, für dessen Bau sich Finanzminister Theo Waigel (CSU) stark gemacht hatte, nicht nur 50 Millionen Mark teurer, sondern auch 1,1 Tonnen schwerer würde als ge- plant. Damit würde das Flugzeug statt 24 Kilometer Höhe nur 18 Kilometer errei- Aus einer Werbung des Ingolstädter chen. Rüttgers will die zusätzlichen Mil- Reisebüros Stempfl und World Wide lionen nicht aufbringen, das Stratosphä- Gruppenreisen ren-Projekt ist damit gescheitert. Y . . . in Nr. 49/1994 POLIZEI – TOD IM BIENENSTOCK über das Unvermögen von Mecklenburg-Vorpommerns Innenmini- ster Rudi Geil, Vorwürfe zu Korruption, Aus der Göppinger Zeitung Filz und Schlendrian in seinen Polizeibe- hörden aufzuklären. Y Aus der Süddeutschen Zeitung: „Schon Nach fünfmonatigen Vorermittlungen immer war Sofia ein Aschenputtel unter hat Innenminister Geil vergangene Wo- den Städten, das bezaubernd wäre, che den Chef des Schweriner Landeskri- wenn es sich nur herausputzen könnte. minalamts, Siegfried Kordus, vorläufig Aber davon ist die Stadt mittlerweile des Dienstes enthoben. Ein Disziplinar- weiter entfernt denn je: Es ist nicht nur verfahren durch Karl-Friedrich Steinert, der Zustand der Straßenoberflächen Vizepräsident des Rostocker Oberlan- und die Tatsache, daß immer noch Zi- desgerichts, soll jetzt Geils Anschuldi- geuner mit ihren Tanzbären durchs Zen- gungen gegen den Beamten förmlich prü- trum ziehen.“ fen. Ohne den Ausgang des Verfahrens Y abzuwarten, beabsichtigt Geil schon jetzt die 20prozentige Kürzung von Kordus’ Bezügen. Die Aussagen zweier Zeugen, wonach Kordus auch Razzien an die Rot- lichtszene verraten sowie Kokain konsu- miert und verbreitet haben soll, erwiesen Aus den Lübecker Nachrichten sich bei Vernehmungen durch landesex- terne Ermittler als nicht haltbar. Diese Y Zeugen hatten auch den Generalstaats- anwalt des Landes und hohe Politiker als Rotlichtkunden genannt.

. . . in Nr. 15/1995 PANORAMA: NEONA- Aus einer Anzeige des Bonner Psychia- ZIS über die Werbung, die Rechtsextre- trie-Verlags in der Zeit misten für den Auftritt des sächsischen Y Justizministers Steffen Heitmann auf ei- Aus den Benutzerbedingungen für nem Kongreß des konservativen Studien- Großkundenabonnenten der Deutschen zentrums Weikersheim und der Hans-Fil- Bahn: „Beachten Sie bitte bei der Aus- binger-Stiftung zum 8. Mai auf dem fertigung der Fahrscheine die Ihnen für Hambacher Schloß gemacht haben. die Ausfertigung übergebenen Anwei- sungen für die Ausfertigung von Fahr- Steffen Heitmann sagte vergangene Wo- scheinen im grenzüberschreitenden Ver- che nach öffentlichen Protesten seine kehr.“ Teilnahme ab.

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