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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

Das Feature „JAHRGANG 1929 – wir hören uns gestern“ Von Sophie Garke Produktion: Dlf 2019

Redaktion: Ulrike Bajohr

Erstsendung: Freitag, 27.12. 2019, 20:10 Uhr

Es sprachen: Ursula Illert, Jonas Baeck und die Autorin Ton und Technik: Michael Morawietz und Thomas Widdig

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2 Erika: Wie heißt du? Wer bist du?

Hans-Jochen: Adolf Hans-Joachim. Aber Adolf nicht nach Adolf dem Nazi, sondern mein Großvater hieß Adolf.

Musik

Adolf Hans Joachim Müller und Hans-Joachim hat mich eigentlich noch nie jemand genannt. Denn da heiße ich offiziell eigentlich immer nur Hans-Jochen.

Erika: Wann bist du geboren?

Hans-Jochen: Also, 18. 03. '29 in Wanfried an der Werra geboren.

Erika: Warte mal, ich bin am 18. März 1929 in Scharfs geboren.

Autorin: Ostpreußen. Heute Siemki in Polen.

Hans-Jochen: Wie heißt du?

Erika: Erika Margarete. Das war mein Name: Erika Margarete Frank. Beyer habe ich geheiratet.

Autorin: Fehlt noch: Christa Margarete Elfriede Wolf, geboren am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe, dem heutigen Gorzów in Polen. Ihre Eltern waren die Kaufleute Otto und Hertha Ihlenfeld, dazu ihr Bruder Horst. Verstorben ist sie am 01. Dezember 2011. 3

Christa Wolf: Es zeigt sich, meine Generation hat schon ihre eigene Biografie. Wenn ich in meinem Tagebuch blättere, über Jahre Entwicklungen verfolge, steht das Steigen und Sinken der Figuren in der großen Retorte Gesellschaft mir deutlich vor Augen.

Autorin: Christa Wolf im DDR-Rundfunk, 1966.

Christa Wolf

Wie das Tragische zum Banalen, das Gefährliche zum Komischen herabsinkt, wie in der gleichen Bewegung das Unauffällige auf einmal mächtig hervortritt – wie eh und je kann das Quelle ästhetischen Vergnügens sein.

Ausschnitt aus „Werk und Bekenntnis“, 1966; Radio der DDR: DDR II

Ansage Jahrgang 1929 – wir hören uns gestern. Ein Feature von Sophie Garke.

Erika: Autorin: Hat dir die Stadt zum Geburtstag gratuliert? Erika: Ja. Ja. Ach Gott, die Stadt, nicht nur die Stadt. Nein, der Bürgermeister auch – der Bürgermeister persönlich. Persönlich! Das kriegt nicht jeder. Wenn du dir überlegst, schon 90 Jahre, schon 90 Jahre! Autorin: (liest aus dem Brief) 'Sehr geehrte Frau Erika Beyer ...' Erika: Ich hab's gelesen. Ich hab den 'Scheiß' gelesen. (lachen) Wenn der das jetzt hören würde … 'Was?! Ich gebe mir solche Mühe und die sagt Scheiß?!'

Atmo Geburtstag Erika (Restaurant, Familienrunde), darüber:

Autorin: 18. März 2019. Meine Oma, Erika Beyer, feiert in Quedlinburg, Sachsen- Anhalt, ihren 90. Geburtstag.

Atmo Geburtstag Erika (Restaurant, Familienrunde): 4

Andere Enkelin: Haben wir alle was? Erikas Tochter: Wir haben alle was. Dann, liebe Mama, auf deinen Geburtstag! Andere Enkelin: Auf die nächsten 90! Autorin: Auf dich! Erika: Auf Euch alle. Alle: Santé!! Auf die nächsten 90! Auf dich! Prost. (anstoßen) Mann: Wusstest du, dass Christa Wolf an genau dem gleichen Tag wie du geboren worden ist?! Christa Wolf sagt dir noch was, ja? DDR-Schriftstellerin …

Zitatorin Christa Wolf: Wie kommt Leben zustande? Die Frage hat mich früh beschäftigt. Ist Leben identisch mit der unvermeidlich, doch rätselhaft vergehenden Zeit? Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht – und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen? Merkwürdig aber, dass man es nicht ertappen kann. […] Es gibt zu erkennen, dass es mehr ist als die Summe der Augenblicke. Mehr auch als die Summe aller Tage. Irgendwann, unbemerkt von uns, verwandeln sich diese Alltage in gelebte Zeit. In Schicksal, im besten oder schlimmsten Fall. Jedenfalls in einen Lebenslauf.

Christa Wolf. „Ein Tag im Jahr“, Suhrkamp 2008, S.9.

Autorin: Christa Wolf: „Ein Tag im Jahr“. Wenn Menschen am selben Tag, im selben Jahr geboren wurden, bewirkt das eine Ähnlichkeit ihrer Lebenswege? Gibt es dadurch Wesensverwandtschaften und weitere biografische Berührungspunkte? Oder sind solche Gedanken Humbug?!

Atmo Skype (Klingelton, Begrüßung)

5 Autorin: Luca vom Hofe, Enkelin von Hans-Jochen Müller, Helene Wolf, Enkelin von Christa Wolf, und ich sitzen in , Köln und Palermo. Via Skype schalten wir uns zusammen. Wir sind zwischen Anfang 20 und Mitte 30.

Helene: „Radio-Interview über Skype – sehr spannend.“

Autorin: Luca, die jüngste von uns, macht in Palermo Ferien. Sie ist Studentin und wohnt wie ich in Köln. Helene lebt mit ihrer Familie in Berlin und hat den Verein „fareshare of women leaders“ gegründet, der sich für mehr weibliche Führungskräfte in NGOs einsetzt. Wir wollen über unsere Großeltern sprechen.

Autorin: Ich weiß nicht, wie euch das geht, für mich ist diese Generation auch wirklich was Besonderes. Einfach in Anbetracht dessen, was die alles so mitgemacht haben: also angefangen mit dem Nationalsozialismus und II Weltkrieg, dann 40 Jahre geteiltes Deutschland bis hin zur Wiedervereinigung und dem Land halt, wie wir es heute kennen. Für mich ist das manchmal ganz schön verrückt, sich das vorzustellen, oder wie geht euch das?

Helene: Mich fasziniert schon die Tatsache, dass sie in drei völlig unterschiedlichen politischen Systemen gelebt haben. Ich glaube schon, das ist was, das gibt's nicht so oft auf der Welt. Das kann ich mir sozusagen nicht vorstellen, wie sich das anfühlen muss, was das mit einem macht. Aber die schiere Tatsache, dass das so ist und dass die da geistig gesund raus gekommen sind, fasziniert mich.

Luca: Ich glaube, mich fasziniert am meistens, dass die trotzdem noch irgendwie liebevoll sein konnten oder Liebe zeigen konnten, obwohl man als Kind wirklich schlimme Dinge erlebt hat und das ja eigentlich nie aufgearbeitet wurde, irgendwie mit ´nem Psychologen oder so die Mittel, die es halt heute gibt, wenn irgendwas Schlimmes passiert. Dass sie sich nicht wirklich haben unterkriegen lassen, 6 sondern sich trotzdem noch was aufgebaut haben. Und was ich auch auf jeden Fall an meinem Opa schätze, ist, dass er, auf jeden Fall mit einem großen Genuss durchs Leben geht – so für die kleineren Dinge.

Helene: Meine wirklich prägendste, erste Erinnerung – und ich kann fast das Gefühl wieder hervorrufen davon – war, dass meine Großmutter mir wirklich schon ab sehr früh – da muss ich fünf, sechs, sieben Jahre alt gewesen sein – angefangen hat, ihre Kindheitsgeschichte zu erzählen. Und zwar inklusive Flucht, inklusive Hunger, inklusive Angst. Und sie hat mir sozusagen jeden Morgen ein Stück weiter ihre eigene Kindheit erzählt. Und das hat eine totale Nähe natürlich hergestellt und ich wollte das unbedingt immer weiter hören. Also, für mich war das ein total wichtiger Teil meines Tagesablaufes da und das haben wir über einen langen Zeitraum hinweg jeden Morgen gemacht.

Musik

Erika und Hans-Jochen, Collage aus sich überlappenden Fragen. Die letzte lautet: Wie seid ihr aufgewachsen?

Hans-Jochen: Als ich geboren worden bin – also, im März 1929 – da muss es auch sehr, sehr kalt gewesen sein, denn ich weiß noch, dass meine Mutter hat erzählt, dass als ich die Windeln ... dass sie da immer Probleme noch hatten … dass die Brunnen waren sogar eingefroren. Aber das kann ich mich nicht erinnern, das habe ich nur erzählt gekriegt.

Autorin: Tatsächlich war der sogenannte 'Eiswinter' 1928/29 einer der kältesten des 20. Jahrhunderts. Der Rhein fror auf über 350 Kilometern vollständig zu. Berlin meldete -26 Grad und bei meiner Oma in Ostpreußen fiel die Temperatur auf bis zu 42 Grad unter Null.

7 Hans-Jochen: Irgendwann Anfang '30 – ich glaube, es war so '33 rum – haben wir in Wanfried gebaut. Und da fängt dann die Erinnerung auch an. Es gab also ... jeder Zentimeter wurde mit irgendwas bepflanzt, mit Essbarem.

Erika: Erstens mal: das Haus. Das war ja nun alles ein bisschen größer als ich es hier gewöhnt bin. Und dann die Sonne scheint. Und die Pferde waren mein Ein und Alles. Und dann reiten! Von der Wiese mussten sie ja auch nach Hause geholt werden, die Pferde. Ich da ein Pferd und dann rauf und dann los und dann nach Hause. Und mein Vater, der saß dann in der Küche am Fenster und konnte dann genau gucken, wenn ich den Berg hoch kam von der Wiese. Dann schrie er schon: 'Macht die Tore auf, sie kommt! Macht die Tore auf, sie kommt!' Ich wär' über die Tore drüber weg gerammelt.

Hans-Jochen: Ich gehöre ja noch zu der Generation, wo es dann hieß: 'Heute Abend kommt der Vater nach Hause, dann kriegste das Fell voll gehauen.' Kann ich mich noch erinnern. Aber es ist jetzt nicht ... selten, Gott sei Dank selten passiert. Also, er war kein böser Vater, aber auch kein besonders in meinem Leben Rolle spielender Vater.

Erika: Zu jeder Zeit war er bereit gewesen, uns dies und jenes zu erklären. Er hat uns zur Schule gefahren, wieder abgeholt und gehauen hat er uns gar nicht. Von der Mutti kriegten wir dann schon mal Eine 'gewackelt'. Na ja, das war die Nazizeit, weißt du, da mussten sie streng erzogen werden. Das war so ein Kultus.

Zitatorin Christa Wolf: „Wir hatten alles, was wir uns wünschen konnten. […] Wenn wir nicht zufrieden gewesen wären, Dresche hätte uns da gehört. Wer das Gegenteil behauptet, muss nicht bei Troste sein.“ Christa Wolf: „Kindheitsmuster“, Ebook Suhrkamp 2012, S. 171.

8 Autorin: Schreibt Christa Wolf in ihrem autobiografischem Roman „Kindheitsmuster“. Über die Haltung ihrer Eltern zur Nazi-Zeit notiert sie:

Zitatorin Christa Wolf: „Ist Sich-Erinnern an Handeln geknüpft? Das würde ihren Gedächtnisverlust erklären, denn sie handelten nicht. Sie arbeiteten so schwer, dass sie manchmal unheimlich treffsicher sagten: man ist ja kein Mensch mehr, doch sie handelten nicht und vergaßen ihre Nichthandlungen sofort […].“

Christa Wolf: „Kindheitsmuster“, Ebook Suhrkamp 2012, S. 173.

Erika: Denkst du mein Vater hat gesagt: 'Na, die taugen doch nichts, die Partei.' Oder sonst dergleichen?! Das kannst du doch gar nicht vor deinen Kindern sagen. Wenn sie alle in so ein Horn blasen, wem sollst du dann glauben? Und du als Kind schon gar nicht. Du denkst: die Eltern erzählen das … und eigentlich, ob es wahr ist oder nicht wahr, die Erkenntnis hast du noch gar nicht. Weil du weißt gar nicht, dass die Erwachsenen … oder, dass da so gelogen werden kann oder dass das nur aus Hass schlecht gemacht wird. Und dann sind ja gleich so ein paar Bekloppte da, die dann auf die Straße gehen: 'Juden müssen raus und Juden müssen raus.' Und das hat ihnen Spaß gemacht.

Autorin: Alle drei begeistern sich als Kinder und Jugendliche für Hitler. Die Mädchen sind im Bund Deutscher Mädel, Hans-Jochen ist im Jungvolk. Christa und Hans-Jochen werden sogar BDM- bzw. Jungvolk-Führer. Noch 1945, er ist gerade 16 geworden, zieht Hans-Jochen als überzeugter Kriegsfreiwilliger mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Wolfgang und einer Gruppe Jugendlicher Richtung Front. Einige Jungen aus der Gruppe werden aber bald fahnenflüchtig …

Hans-Jochen: 'Sich ergeben ist Feigheit, das gibt's nicht. Ein deutscher Junge ergibt sich doch nicht.' Und da waren wir immer noch so fanatisch, dass wir – wir waren zu dritt oder zu viert, so eine Art Häuptlinge, und hatten, wie gesagt, die 9 Kleinkalibergewehre – da haben wir uns gesagt: 'Wir dürfen nicht zulassen, dass jede Nacht jemand desertiert! Wir passen jetzt auf und wir schießen, wenn jemand abhaut.'

Musik weg

Dass wir keinen erschossen haben, ja … Denn ich hab mir immer so ausgemalt, wenn ich wieder nach Hause gekommen wäre und hätte dann auf dem Gewissen gehabt, dass ich einen meiner mir anvertrauten, anderen Jungen erschossen hätte, ja … das kann ich mir gar nicht ausmalen. Aber das wären wir willens (gewesen), wir hätten 's gemacht, ja.

Atmo: Hans-Jochen sucht auf der Karte den Ort seiner Gefangennahme:

Autorin: Quedlinburg, wo meine Oma heute lebt, liegt im Harz. Einen Steinwurf von dort entfernt gerät Hans-Jochen am 17. April 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

Hans-Jochen: … Quedlinburg … Güntersberge. Hier sind wir irgendwo in Gefangenschaft gekommen … Thale … Quedlinburg. Siehste, da waren wir gar nicht so weit weg.

Hans-Jochen (liest Brief vor): „Liebe Mutti, Wolfgang und ich befinden uns seit dem 17. April in amerikanischer Gefangenschaft. Gegenwärtig sind wir im Gefangenenlager Bad Kreuznach. Es geht uns gut. Bei uns befinden sich noch Achim Roth, Volkmar Ginßler, Günter Assmann, Hans Marquardt. Benachrichtige bitte nach Möglichkeit deren Eltern. In der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Grüße auch von Wolfgang. Der Überbringer unseres Briefes ist unser bisheriger Lageführer.“

Autorin: Bad Kreuznach ist eines der berüchtigten Rheinwiesenlager unter freiem Himmel. Da es dort keinerlei Behausungen gibt, graben die Gefangenen 10 notdürftige Vertiefungen in die Erde, die wenigstens vor Wind schützen. Hier bleibt Hans-Jochen anderthalb Monate.

Erika: Wie ist das für dich gewesen?

Hans-Jochen: Ich frage mich jetzt noch, wie wir wohl gestunken haben mögen, denn gewaschen haben wir uns auch nicht. Zu siebt hatten wir zwei Wolldecken und damit haben wir uns dann zugedeckt. Auf Pappkartons haben wir dann … war Schlamm. Am Anfang war Schlamm, wer weiß wie. Da haben wir nur gestanden. Wir haben ein paar Tage nur im Stehen geschlafen. Da haben wir uns immer eingehenkelt – immer vier Mann und haben dann, wenn einer richtig einschlief … dann haben den die anderen, wenn er umfiel, ihn wieder hin gestellt. Wir waren im Jugendlichen-Camp und da waren allein zwei bis drei Tausend Jungen. Habe ich mich selber jetzt noch mal gefragt: wie wir uns orientiert haben? Wie wir durch diese Wiese mit den vielen Löchern uns überhaupt wieder in unsere Löcher zurück gefunden haben?!

Autorin: Das Stehen im Schlamm bei Wind und Wetter führt bei Hans-Jochen und vielen anderen Gefangenen zum sogenannten „Grabenfuß“ - im schlimmsten Fall geht dabei das eigene Gewebe in Verwesung über.

Hans-Jochen: Und als dann die Sonne raus kam und wir die Schuhe ausgezogen haben, da konntest du zusehen, wie die Füße dick geworden sind. Geschwollen, weil die so geschwollen waren. Ich kriegte keine Schuhe an und die taten weh. Und dann sind wir dann da mit Füßen im Wasser da lang gekrochen. Aber das hat sich Gott sei Dank gegeben.

Autorin: Berüchtigt sind die Rheinwiesenlager aber vor allem deshalb, weil hier Hunger als gezielter Vergeltungsakt der Siegermächte eingesetzt wurde.

11 Hans-Jochen: Und dann weiß ich noch, dass wir als erste Ration – als es dann Brot gab – da haben wir mit 100 Mann ein Brot gekriegt. Da kannst du dir ja vorstellen, wie viel du da gekriegt hast. Es gibt Bilder von mir, wie ich nach Hause gekommen bin, da hatte ich nur Haut und Knochen. Viel mehr sind ältere Leute gestorben, denn wir waren ja noch zäh als 16-Jährige.

Luca: Essen ist bei meinem Opa auch so ein Thema, was sehr zentral in seinem Leben steht. Mir ist auch gerade noch eingefallen, dass also die ersten Geschichten, die ich von meinem Opa über den Krieg oder über seine Kindheit so gehört habe, waren immer mit dem Essen verbunden.

Helene: Essen – auch ein riesen Thema bei meinen Großeltern. Und auch grad bei meinem Großvater. Kenne ich auch sehr gut.

Autorin: Also, bei meiner Oma stand das Essen selber jetzt weniger im Vordergrund. Was sie aber nie davon abgehalten hat – und das ist auch eine sehr schöne Erinnerung – eigentlich über wirklich viele, viele Jahre jeden Tag für uns zu kochen – also, für meine Familie und mich, weil wir ja in derselben Stadt gelebt haben … Aber ja klar, ich meine abgesehen jetzt davon, liegt es natürlich auf der Hand, dass halt generell diese Generation von den Kriegserfahrungen bis ins Mark geprägt wurde.

Erika: Wenn du das nicht ertragen willst, dann musst du sterben. Geht ja gar nicht. Es passierte ja alles bei uns im Haus, auf dem Hof. Alles. Und wir Kinder waren dabei, da konnten sie nicht erst sagen: Kinder geht mal weg.

Autorin: Seit Oktober 1944 rückt die Rote Armee gen Westen vor. Berichte von Gräueltaten eilen ihr voraus und führen zu gewaltigen Flüchtlingstrecks – zuerst in der ostpreußischen Heimat meiner Oma, später auch in Christa 12 Wolfs Geburtsstadt.

Musik

Hans-Jochen: Welche Erfahrungen hast du als Vertriebene gemacht?

Erika: Dann sind wir gelaufen und haben uns versteckt, wenn da so Russen oder Polen kamen, die im Krieg waren. Lange keine Frau gehabt und dann haben sie uns Mädchen gesehen und dann … wer nicht bei drei auf ´m Baum war, sag ich mal … Da saßen wir auch in der Scheune, ja. Da hat keiner was gesprochen, kaum geatmet.

Musik weg

Zitatorin Christa Wolf: Es war jener kalte Januarmorgen, als ich in aller Hast auf einem Lastwagen meine Stadt in Richtung Küstrin verließ und als ich mich sehr wundern musste, wie grau diese Stadt doch war, in der ich immer alles Licht und alle Farben gefunden hatte, die ich brauchte. Da sagte jemand in mir langsam und deutlich: das siehst du niemals wieder.

Christa Wolf: „Blickwechsel“ (In: „August und andere Erzählungen.“), Ebook Suhrkamp 2014, S. 36.

Erika: Weißt du, was das heißt, alles stehen und liegen (lassen)?! Die Polen waren schon drin. Wir hatten nur noch zwei Zimmer für uns. Alles andere durften wir nicht betreten. Nichts, gar nichts. Und ich habe nicht so drunter gelitten und die Mutti, glaube ich, auch nicht so doll. Aber mein Vater hat das ja alles aufgebaut. Und mein Vater ganz ruhig, ganz ruhig. Aber was er hat: er hat viel geschlafen. Er hat sich hingelegt und immer wieder hingelegt und zum Schluss hat er nur noch gelegen. Und dann mussten wir wieder raus. Das hieß: Also, um 18 Uhr geht der letzte Zug nach Deutschland. Das war der 6. Dezember. Also, wenn Sie jetzt nicht mitfahren mit dem, dann müssen Sie die Staatsbürgerschaft annehmen und Pole werden. 13

Musik

Zitatorin Christa Wolf: Man will nun also abfahren. Macht schnell, beeilt euch, es wird spät. Nelly, schon im Lastauto, streckt den Arm aus, ihrer Mutter noch herein zu helfen. Die aber tritt plötzlich zurück, schüttelt den Kopf: Ich kann nicht. Ich bleibe hier. Ich werde doch nicht alles im Stich lassen. Folgte ein Tumult aus dem Wagen heraus, Rufe, Beschwörungen, Schreie sogar […]

Autorin: Christa Wolf, „Kindheitsmuster“.

Zitatorin Christa Wolf: Jahre später, als die Betäubung sich aufzulösen begann, hat Nelly sich jede Minute dieses letzten Tages, den ihre Mutter in ihrer Heimatstadt verbrachte, vorzustellen versucht. Der Augenblick, da der Lastwagen ihren Blicken entschwunden ist, sie wie angenagelt steht. Nun ist es zu spät. Den Gedanken, dass sie ihre Kinder verloren hat, muss sie sich verbieten. Christa Wolf: „Kindheitsmuster“, Ebook Suhrkamp 2012, Seite 314 f.

Musik weg

Erika: Ich sehe noch einzelne Straßen und Häuser. Da sind wir an den Häusern so vorbei gegangen… Was kannst du 12 km tragen?! Was sollst du alles mitnehmen, wenn es jetzt heißen würde: so um sechs musst du weg?! Was nimmst du jetzt alles mit?! Der Vater konnte gar nichts mehr tragen. Der hatte so mit sich zu tun gehabt, und im Zug hat er nur noch gelegen. Und dann haben sie ihn mit der Bahre – das weiß ich noch … Wir sind ja mit dem Viehwagen transportiert worden und da sind doch so 'ne Dinger da drin, weißt du. So ´ne Fenster – so breit und dann so hoch – wo die Viecher so bisschen Luft holen können, ja. Und ich habe da durch geguckt und dann habe ich gesehen: meinen Vater haben sie mit der Bahre raus gebracht, der lag drauf, auf den 14 Bahnsteig gestellt, ja und der Zug stand daneben. Und ich hab so raus geguckt und er hatte sie gerade so erhoben und hat geguckt, was nun vor sich geht, warum sie ihn nicht weiter rein tragen, nehme ich an, ja. Und wir sind dann losgefahren und dann hat er sich so erhoben noch einmal und hat geguckt und dann ist er so zusammengesackt. Und wir sind losgefahren. Und seitdem ist er weg. Ich nehme an, der war tot. Keine Unterlagen, nichts, gar nichts. Haben sie ihn irgendwie verscharrt, irgendwo in der Erde. Die erste Zeit das war furchtbar, da denkst du doch noch immer: Wo ist er, wo ist er? Aber Mutti hat ja geschrieben und alles Mögliche gemacht und … und keine Antwort. Den haben sie nicht wiedergefunden.

Christa Wolf:

Ich hatte auch den Eindruck in meinem Leben, dass der Nachhall dieser Erfahrung – eigentlich war es ja eine traumatisierende Erfahrung, was man sich zuerst gar nicht so eingestanden hat oder vielleicht auch nicht so bemerkt hat – aber der Nachhall dieser Erfahrung ist sehr, sehr langwierig und durchzieht das ganze Leben. Und ich glaube schon, dass Menschen, die diese Erfahrung gemacht haben, sich unterscheiden von solchen, die nie ihre Heimat verloren haben, nie den Boden unter den Füßen verloren haben, nie als totale Außenseiter und als Beargwöhnte und auch beschimpfte Außenseiter irgendwo sich neu einfinden mussten.

„Ich meine, dass ich zu denen gehöre, die die Pflicht haben über unsere Geschichte etwas zu sagen. (Nachdenken über Christa Wolf)“ (Scala); 2002; WDR 5.

Autorin: Christa Wolf in einem Interview aus dem Jahr 2002.

Musik

Mit viel Glück finden sich Mutter und Kinder in den Kriegswirren wieder. Der Vater kommt Jahre später aus russischer Kriegsgefangenschaft frei. Bis an ihr Lebensende kann die Mutter den Verlust von Heimat und Besitz nur verbittert hinnehmen. Die Familie siedelt sich zunächst in Grünefeld bei Berlin an.

15 Meine Oma strandet mit Mutter und Geschwistern im sachsen- anhaltinischen Radegast. Und Hans-Jochen Müller kehrt in seinen Heimatort Wanfried in Hessen zurück. Die Nachkriegszeit bleibt für alle entbehrungsreich, es mangelt am Notwendigsten. In Deutschland sind 14 Millionen Geflüchtete auf der Suche nach einem neuen Zuhause – zumeist verarmt, entwurzelt und traumatisiert. Zum Nachdenken fehlt . Man konzentriert sich aufs Private und Überlebensnotwendige.

Erika: Ach, und da haben wir noch eine gute Wohnung gekriegt, da haben wir noch eine schöne Wohnung gekriegt. Da haben's andere Leute also viel schlimmer … da musste man denken: mein Gott, wenn wir hier rein gekommen wären, aber die mussten auch leben da drin, ja. Das ist Krieg, der ist nicht gut. Krieg ist nicht schön: verlierst alles und nichts zählt. Du hast keine Rechte. Nichts, gar nichts zählt.

Hans-Jochen: Zuhause war's einem im Grunde genommen eigentlich egal, ob Demokratie oder nicht Demokratie. Es ging in erster Linie darum, dass man satt zu essen hatte und wieder ein Dach überm Kopf. Zu Hause. Aber direkt sagen: so, jetzt haben wir ein anderes Regime und das ist besser … wüsste ich keinen Termin zu nennen.

Christa Wolf:

Was jetzt mich betrifft, so war ich – also, vielleicht (ist das) ein Generationsproblem – so war ich einfach sehr darauf aus, nach diesem Zusammenbruch der faschistischen Ideologie und nach dieser Verzweiflung, in die man danach gestürzt wurde und diesem rasenden Schuldgefühl das man hatte – jedenfalls unsere Generation hatte es, glaube ich, mehr als die Eltern – das war eine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen, etwas dagegen zu setzen. Etwas, was man als absolut das Gegenteil davon empfand.

„Christa Wolf im Gespräch mit .“ 1991. Deutschlandsender Kultur (DRA).

16 Helene: Wenn ich auf das Leben meiner Großmutter schaue, würde ich, glaube ich, an die Anfangsjahre der DDR reisen. Um zu verstehen, was da für eine Hoffnung, Glaube und vielleicht eben auch Naivität … aber was das für eine Stimmung war. Es gab einen sehr starken Glauben, da entsteht ein antifaschistischer Staat, der sozusagen eine andere Gesellschaftsform versuchen will. Das ist aus heutiger Sicht so schwer nachzuvollziehen und mir überhaupt nicht zugänglich. Und ich weiß aber, dass es das gab. Und das fänd ich also, auf das Leben meiner Großeltern geguckt, am interessantesten.

Luca: Ich hab in meiner Generation das Gefühl – vielleicht auch im Unterschied zu der von meinen Großeltern – dass es durch diese Informationsflut und auch diese tausend Möglichkeiten, auch so eine Überforderung gibt. Früher hat man, glaube ich, sich eher auf andere Werte besonnen und dadurch eher entschieden.

Musik

Erika und Hans-Jochen, Collage aus sich überlappenden Fragen. Die letzte lautet: Was hast du nach dem Krieg gemacht?

Hans-Jochen: Dann ging's dann darum, dass die Schule wieder eröffnet hat, dass ich wieder in die Schule gegangen bin und dann Abitur machen konnte und dann, dass es eben weiterging. Dann habe ich in Wanfried meine Frau kennengelernt. War Flüchtling auch, aus Wittenberg. Und da hab ich geheiratet, Kinder bekommen, auch ein Haus gebaut.

Erika: Na ja, und dann sind wir, wie gesagt, nach Radegast gekommen und ich habe dann als Kindergärtnerin angefangen und dann fand ich da wieder mein Zuhause. Mehr Leute, junge Leute kennengelernt, dann sind wir tanzen gegangen und dann war's besser. Und dann nachdem, ich würde sagen, Radegast war nachdem schon wie Zuhause.

17 Atmo Radegast

Autorin: Im Mai 2015 machen meine Oma Erika und ich einen Ausflug nach Radegast. Sie zeigt mir das Lokal, in dem sie nach der Flucht mit vielen anderen die ersten Nächte verbrachte und wo sie später beim Tanz ihren Mann Harry kennenlernte.

Erika (in Radegast): Das war die Gaststätte, gleich die erste und die Fenster, alles war unten, der Saal auch: groß. Unten sind wir rein gekommen. Links. Da hab ich auf 'm Billard geschlafen. Ich konnte mich nicht auf die Erde hinlegen. Also, das war zu komisch gewesen. Dann sind wir hier Tanzen gewesen. Und hier hab ich auch Harry … ist der anstolziert.

Autorin: Viel ist nicht übrig geblieben. Radegast ist eine jener entvölkerten ostdeutschen Ortschaften, in denen alle Läden geschlossen und viele Häuser verlassen sind.

Erika (in Radegast): So ist das. So kann eine Stadt verschwinden.

Autorin: Wir streunen durch den Ort. Jemand erkennt meine Oma unverhofft wieder. Dann suchen wir die Stelle, an der sich das eingeebnete Grab ihrer Mutter befunden haben muss, meiner Urgroßmutter.

Erika O-Ton (in Radegast): Siehst du Mutti, jetzt stehen wir hier und wissen nicht, wo du liegst … schrei' doch mal ... Nichts. […] Mutti, du siehst es ja dann.

Autorin: So wie in den 70er Jahren für Christa Wolf beim Besuch ihrer Geburtsstadt 18 Landsberg ihre Kindheit wieder aufersteht, treiben wir noch eine Weile durch die Erinnerungen meiner Oma: ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin, der Tod der verarmten Mutter, die erste Liebe, die Geburt ihrer drei Kinder.

Christa Wolf:

Als wir unser Kind erwarteten – da waren wir auch noch gar nicht verheiratet – da war klar, dass einer von uns beiden Geld verdienen musste. Also, mein Mann Gerhard – damals schon, derselbe, der er heute noch ist – und er wurde, trotz nur zwei Jahren Studiums, angestellt als Hilfsredakteur zunächst, mit dem großen Gehalt von 300 Mark im Monat. Und ich bekam hundert Mark Studienhilfe und damit mussten wir dann eben auskommen. Da zogen wir nach Leipzig. Ich habe eben weiter studiert, mein Kind bekommen, Staatsexamen gemacht und dann hat er studiert. Wir haben uns abgewechselt. Also, daran lag es zum Beispiel, dass durch die Kinder kein Bruch in meiner beruflichen Entwicklung kommen musste.

Ich habe das Leben, das zu mir passt. 1999. Radio Bremen.

Hans-Jochen: Also, seitdem wir geheiratet haben, hat sie nicht mehr gearbeitet. War sie nur noch Hausfrau und Mutter. Da war sie ja auch ausgelastet. Aber inzwischen weiß ich, dass sie ganz gerne auch noch weiter gearbeitet hätte. Aber damals war das noch nicht so üblich.

Erika: Weißt du, das kennen wir ja alles nicht. Wir sind auf Arbeit gegangen und dann saß ich am Schreibtisch und dann kriegte ich halt mein Gehalt.

Musik

Autorin: Hans-Jochen Müller absolviert nach dem Abitur eine kaufmännische Ausbildung und wird in einer Strickwarenfabrik seiner Heimatstadt angestellt, für die er Export und Einkauf organisiert und viele Auslandsreisen unternimmt. Christa Wolf arbeitet nach dem Germanistik-Studium als Redakteurin und Lektorin – bevor sie sich ganz dem Schreiben widmet. 19 Erika Beyer ist erst Kindergärtnerin, dann Buchhalterin und Sekretärin in einer Fabrik und schließlich Abteilungsleiterin für „Jugendfragen, Körperkultur und Sport“ beim Rat des Bezirkes Halle.

Autorin: Was ich bei ihr total faszinierend fand, war, dass offensichtlich damals nach dem Krieg einfach händeringend Menschen gesucht wurden, die Aufgaben übernehmen. Und dass sie immer eine Geschichte erzählt, wo sie auf der Straße von einem Bekannten angesprochen wurde, der gesagt hat: 'Wir brauchen da jemanden, der zum einen irgendwie so Buchhaltung macht und irgendwie vor den Frauen irgendwie Reden hält. Willst du das nicht übernehmen?!'

Erika: Das waren ja 200 Frauen und die wollten ja was hören von mir. Und dann ging's immer weiter, immer weiter. Und ich habe Reden geschwungen, ich weiß auch nicht. Ich konnte eigentlich gar nichts, aber ich habe es gemacht und alle waren hellauf begeistert. Ich kriegte sogar noch Beifall (lacht).

Helene Skype: Sicherlich hat das natürlich unsere ganze Familie mit geprägt, dass sie diese Rolle war und da ja auch in sehr viel verschiedenen Aspekten sozusagen präsent war in der Öffentlichkeit. Also, ich glaube, ich hab von ihr bestimmt so einen Anspruch, dass man irgendeine kleine Rolle spielen sollte in der Welt. Ich konnte den irgendwie gut annehmen oder hab den sehr verinnerlicht, aber ich glaube, der ist auch ne ganz schöne Ansage. An sie selbst, aber auch an die Außenwelt.

Atmo Rollkoffer, ankommen, Türsummer, Tür auf, Treppe hoch.

Autorin: Im August 2019 besuche ich Gerhard Wolf, Autor, Herausgeber und Verleger, in seiner Wohnung in Berlin. Hier hat das Ehepaar Wolf bis zuletzt gemeinsam gelebt.

Autorin: Hallo, Herr Wolf. Gerhard Wolf: Oh, sie haben da schweres Gepäck. Tag! 20 Tür zu. Gerhard Wolf Tee oder Kaffee? Autorin: Tee.

Autorin: Gerhard Wolf verschwindet kurz in der Küche, dann sitzen wir im Wintergarten bei Tee und Kuchen, und er erzählt aus 60 gemeinsamen Ehejahren.

Gerhard Wolf: Wir haben unheimlich viel diskutiert. Natürlich sehr oft über das, was wir machten. Ich habe dann ja eine Taktik gehabt, dass ich nicht zu früh in ihre Sachen rein geguckt habe, damit sie nicht irritiert wird. Es gibt ja die Anekdote, dass ich dann sage … dass ich heimlich rein geguckt und habe und sage: jetzt läuft's und dann konnte sie weitermachen.

Helene: Und was sicherlich sozusagen, ich sag jetzt mal, im Alltag im weitesten Sinne mit denen eine Rolle gespielt hat, war, dass sie einfach immer extrem interessiert und informiert waren, was in der Welt los ist und das sehr offen und auch mit uns Kindern, je älter wir wurden, besprochen haben. Also, es war immer ein sehr reger Austausch.

Autorin: Das Ehepaar Wolf identifizierte sich mit den antifaschistisch-humanistischen Positionen des Staates DDR. Die rigide Kulturpolitik der Nach-Stalinära hatte sich nach dem Mauerbau zunächst entspannt. Christa debütierte 1961 als Schriftstellerin, 1963 erschien „Der geteilte Himmel“. Und dann kam 1965 das 11. Plenum der SED, das die Zensur wieder anzog. Erich Honecker war damals Mitglied des Politbüros:

Erich Honecker: Unsere deutsche, demokratische Republik ist ein sauberer Staat, in ihr gibt es unverrückbar Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte. Wir stimmen jenen zu, die feststellen, dass die Ursachen für diese Erscheinungen 21 der Unmoral und eine dem Sozialismus fremden Lebensweise auch in einigen Filmen, Fernsehsendungen, Theaterstücken, literarischen Arbeiten und in Zeitschriften bei uns zu sehen sind. „KAHLSCHLAG - EINE DOKUMENTATION ZUM 11 PLENUM DES ZK DER SED 1965“, DRA Reihentitel: „Aus den Tonarchiven des Rundfunks“, EA: 1991; Deutschlandsender Kultur

Christa Wolf: Ich habe den Eindruck durch diese Tagung, dass eine Gefahr besteht...

Autorin: Christa Wolf – damals Kandidatin des Zentralkomitees der SED – war die einzige, die widersprach.

Christa Wolf:

Genossen, die gleichen Leute werden jetzt sich umdrehen – aber um 180 Grad! - und werden alles abdrehen. Die werden nicht nur jeden nackten Hals zudecken in jedem Fernsehspiel, die werden auch jede kritische Äußerung an irgendeinem Staats- oder Parteifunktionär als parteischädigend ansehen und zurückdrehen. Und sie tun es schon!

„KAHLSCHLAG - EINE DOKUMENTATION ZUM 11 PLENUM DES ZK DER SED 1965“, DRA Reihentitel: „Aus den Tonarchiven des Rundfunks“, EA: 1991; Deutschlandsender Kultur

Gerhard Wolf: Es war eine konfliktreiche Zeit, aber das war natürlich wiederum ihre Stunde dann beim 11. Plenum, dass sie da als einzige widersprochen hat, aufgestanden ist. Das war ganz wichtig für sie, aber war so weit, dass sie körperlich sozusagen, psychisch und ... – (sie) kriegte Herzgeschichten und so – dass sie da wirklich anschließend im Krankenhaus war und so.

Christa Wolf: Das kommt immer wieder neu, bei neuen Konfliktsituationen, komm ich zurück immer wieder auf die sehr frühe Kindheit, indem einfach Liebe an bestimmte Bedingungen gebunden war, zum Beispiel dass man auf eine bestimmte Weise sich verhielt. Und dieses Konformitätsstreben, das also so eine Beruhigung und ein inneres Übereinstimmungsgefühl, das vielleicht jeder irgendwo sucht, auslöste, 22 das musste ich und muss ich vielleicht heute noch regelrecht absichtlich durchbrechen. Das ist nicht mir gegeben, von vornherein abzulehnen. „Christa Wolf im Gespräch mit Daniela Dahn.“ 1991. Deutschlandsender Kultur (DRA).

Autorin: Die politische Auseinandersetzung, die in Christa Wolfs Leben immer präsent gewesen ist, hat im Alltag meiner Oma Erika Beyer eher eine kleine Rolle gespielt.

Erika: Ich meine unpolitisch war ich nicht. Natürlich man interessiert sich für die Politik. Die interessiert mich jetzt auch noch, was die Idioten manchmal machen. (lacht) Wenn die das jetzt hören würden...

Musik

Autorin: In seinem hessischen Wohnort Wanfried bleibt die 10 km entfernte innerdeutsche Grenze für Hans-Jochen Müller in all den Jahren immer präsent.

Erika: Was hast du gemacht?

Hans-Jochen: Da habe ich aber einmal Bekannte von uns – bei Nacht – habe ich die dann über die Grenze gebracht bis Sichtweite Bahnhof und hab die dann auch da raus gebracht. Ein bisschen beschäftigt waren wir da mit der ganze Geschichte schon. Im Laufe der Jahre haben sie die Grenze immer mehr ausgebaut und da gab's dann auch die Selbstschussanlagen. Diese Zäune, die sind da alle bei uns auch gebaut worden.

Autorin: Um zum Beispiel Freunde zu besuchen, unternimmt er aber auch nach dem 23 Mauerbau noch Ausflüge auf die andere Seite der Grenze.

Hans-Jochen: Also, wenn man von hier kam und da rüber ging, dann hatte man schon das Gefühl, es ist rückständiger. Es stank überall mehr oder weniger nach Braunkohle oder nach Lysol oder nach irgendwas ähnlichem. Und es war irgendwie schwieriger auch zu leben als bei uns. Aber sonst … ich habe mir immer nur gesagt, ich bin froh, dass ich nicht da wohnen muss.

Erika: Ja, ja … aber das, weißt du, das hat man alles gar nicht so tragisch mehr genommen. Es kam immer was Neues.

Musik weg

Christa Wolf:

Jede revolutionäre Bewegung befreit auch die Sprache. So viel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden. Miteinander geredet worden! Noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer, aber auch mit so viel Hoffnung.

Autorin: Christa Wolf am 04. November 1989 auf dem Berliner .

Christa Wolf: Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell dir vor, es ist Sozialismus und keiner geht weg. „Rede Christa Wolfs auf der Protestdemonstration der Berliner Kunst- und Kulturschaffenden auf dem Alexanderplatz am 04.11.1989“, Rundfunk der DDR: DDR II, EA: 1989

Autorin: Wenige Tage vor dem Mauerfall hoffen Teile der ostdeutschen Bevölkerung – unter ihnen die Wolfs und andere Intellektuelle – noch darauf, dass aus der Volkserhebung ein neuer, demokratischer Staat DDR entstehen kann.

24 5 Tage später sitzt Hans-Jochen Müller vor dem Fernseher. Mittlerweile lebt er in Kaarst in Nordrhein-Westfalen.

Hans-Jochen: Ich hab den Schabowski … ich habe das im Fernsehen … ich hab gedacht, das darf doch nicht wahr sein! Und bin dann sofort nach Hause gefahren, um das selber mit anzusehen, wie die dann in Heerscharen mit den vor sich hin müffelnden Trabis da lang kamen. Und die Freude war von beiden Seiten groß.

Musik

Autorin: Ja, also in meiner Familie ist das auch eine ganz besondere Zeit gewesen, weil mein Vater ein paar Monate vor dem Mauerfall – abgesprochener Weise – von einem Westbesuch nicht zurückgekommen ist. Also es gab so den langfristigen Plan, dass die Familie dann irgendwie nachkommen würde. Und dann öffnete sich aber die Grenze, wirklich schon sehr unverhoffter Weise am Geburtstag meines Vaters witzigerweise – am 09. November. Und wir sind am nächsten Morgen direkt aufgebrochen. Ich weiß noch, dass meine Oma immer erzählt hat, dass das Wichtigste auf ihrer Flucht, wäre das Bettzeug gewesen. Und auch meine Mutter warf Bettzeug mit ins Auto, bevor wir los gefahren sind. Ja aber meine ersten Erinnerungen hinter der Grenze sind einfach wunderschön. Die sind einfach geprägt von ganz viel Euphorie. Da waren ganz viele Westdeutsche, die einfach Sekt und Schokolade ins Auto gereicht haben. Und überall gab's Freudentränen. Und deshalb ist auch bis heute so, dass wenn ich Bilder von der Wiedervereinigung sehe, dass mich das jedes Mal zu Tränen rührt, weil das einfach so ein Ausnahmezustand von gegenseitiger Freude gewesen ist.

Luca: Ich war ja noch lange nicht auf der Welt, als die Mauer gefallen ist. Und es ist halt einfach ähnlich so, wie wenn mein Opa mir was erzählt hat (lacht kurz) … einfach so von der Distanz her. Aber es ist dann doch irgendwie eine sehr andere Kindheit, die wir erlebt haben.

25 Helene: Ich glaube 'Möglichkeiten' ist vielleicht so ein Wort, was das widerspiegeln könnte, wie meine Familie das vielleicht erlebt hat. Und da ist ja dann auch drin: die können auch sich nicht verwirklichen oder sich anders wirklich als man dachte oder so.

Musik weg

Christa Wolf:

Es war etwas schwieriger natürlich, glaube ich, diese Zeit, das zu verarbeiten, auf welche Weise dann die DDR verschwand. Und dass es in den ersten Jahren so schien, als ob sie nur mit irgendwelchen Etiketten versehen werden sollte ohne jede Differenzierung und dass vor allen Dingen die Menschen, die dort gelebt haben – dass also das Leben der Leute in der DDR – so stark entwertet wurde.

„Ich habe das Leben, das zu mir passt“, Radio Bremen, 1999

Autorin: Im Januar 1993 veröffentlicht Christa Wolf einen Artikel in der Berliner Zeitung, in dem sie Auskunft gibt über etwas, was sie bis dahin verdrängt hatte:

Zitatorin Christa Wolf: […] seit dem Mai vorigen Jahres, als mein Mann und ich unsere -Akten einsehen konnten. Wir sahen uns mit 42 Bänden konfrontiert allein für die Jahre zwischen 1968 und 1980. […] Ich fand aber bei meinen Akten zu einem „Auskunftsbericht“, auch ein dünnes Faszikel, aus dem ich erfuhr, dass die Stasi mich von 59 bis 62 zunächst als „GI“ („Gesellschaftlicher Informant“), dann als „IM“ geführt hat.

Das traf mich völlig unvorbereitet. Christa Wolf: „Eine Auskunft“, Berliner Zeitung, 21.01.1993; Später veröffentlicht in „Akteneinsicht Christa Wolf“, Luchterhand Literaturverlag, 1993, S.143.

Autorin: Ihre Tätigkeit umfasste mehrere Treffen und einen wohlmeinenden Bericht. Eine ausführliche Darstellung mit dem Titel „Akteneinsicht Christa Wolf“ 26 veröffentlichen die Wolfs im selben Jahr.

Helene: Ich hab hauptsächlich eine Enkelmeinung, die ist geprägt von allem anderen, was ich über sie weiß. Aber ich finde, auch andere sind in der Lage sich über dieses Buch und auch Sachen, die danach geschrieben und gesagt wurden, sich da ein ganz gutes Bild zusammenzufügen – wenn man es möchte.

Gerhard Wolf: Wir sind ja die einzigen, die eine sogenannte Täter-Akte sofort publiziert haben. Kein Schwein hat mehr darauf Bezug genommen. (lacht) Weil auch nicht viel drin stand, konnte man sie ohne weiteres veröffentlichen. Aber ging niemand mehr drauf ein. Aber der Stempel 'IM', der 30 Jahre zurück lag, den kriegte sie aufgeknallt.

Musik

Erika und Hans-Jochen, Collage aus sich überlappenden Fragen. Letzte Frage: Wie ist das alt zu sein?

Autorin: Gerhard und Christa Wolf haben – genau wie Harry und Erika Beyer – 1951 geheiratet und über 60 Jahre zusammengelebt. Beide Paare wohnten eine Weile zur selben Zeit in Halle an der Saale. Christa Wolf starb im Dezember 2011, Harry Beyer im Dezember 2009.

Hans-Jochen: Was hat das mit dir gemacht?

Erika: Wenn du so 60 Jahre mit einem Mann zusammen warst, ja … 60 Jahre jeden Tag um dich rum und plötzlich ist er nicht mehr da. Das kann sich keiner vorstellen, wie das ist. Jetzt geht's schon, jetzt bin ich schon klar. Denn mein Zahnarzt sagte zu mir: 'Frau Beyer, Sie sind ja wieder da!' Ich sage: 'Ich war doch gar nicht verreist.'

27 Gerhard Wolf: Es war schon eine Erlösung, dass sie dann starb. Das war schon richtig. Das war, glaube ich, für sie ganz gut, denn sie konnte sich nicht mehr selbst gut bewegen und musste hier gepflegt werden und das hat ihr eigentlich nicht gepasst.

Helene: Der Weg zum Tod war relativ kurz und war sehr persönlich. Und wir waren als Familie sehr anwesend, wir waren auch tatsächlich anwesend. Und dafür bin ich bis heute total dankbar. Und danach, das war wie so ein Tunnel. Dann ging es sehr in diesen öffentlichen Bereich und die Planung dieser Beerdigung. Und da haben wir halt als Familie ... da jeder mit angepackt sozusagen. Und ein bisschen hat es vielleicht gefehlt dadurch, einfach als Enkelin trauern zu können, weil, da stand dann das Öffentliche viel mehr im Vordergrund.

Autorin: Hans-Jochen Müller verliert seine erste Frau schon 1972. Viele Jahre später heiratet er ein zweites Mal: seine heutige Frau Elke - Lucas Großmutter. Doch zunächst bleibt er mit drei Kindern im Teenager-Alter allein zurück.

Hans-Jochen: Ich habe sie ja noch nicht mal mit zur Beerdigung genommen. Das war irgendwie nicht üblich. Ich weiß, meine Frau war lange krank und da musste das Leben weitergehen. Also die Älteste war da – und die musste dann den Haushalt schmeißen – die war 17 Jahre und der Sohn war 19 und die Jüngste war elf. Aber die hat's am schwersten gehabt, das weiß ich.

Atmo Friedhof, darüber:

Autorin: Im August 2019 besuche ich Christa Wolfs Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin.

Gerhard Wolf: Und dann oben legen sie manchmal wie bei jüdischen Steine drauf und so. Das 28 ist auch das einzige Grab, wo das … vor allen Dingen wo das herkommt, wusste ich gar nicht. Da war ein Becher da richtig, wo die immer Stifte und Kulis reingesteckt haben.

Autorin: Besucher spazieren vorbei, kommentieren die Grabgestaltung und eine Frau beschreibt mir ihren Eindruck von der Schriftstellerin.

Friedhofsbesucherin: Weiß man natürlich nicht, privat kannte ich sie ja nicht so. Bloß der äußere Eindruck, den man so hat, ist eben, dass sie also schon herb war.

Musik

Zitatorin Christa Wolf: Was ich lebendig nenne? Was nenne ich lebendig. Das Schwierigste nicht scheuen: das Bild von sich selbst ändern.

Christa Wolf: „Kassandra“, Ebook Suhrkamp 2010, S.19.

Erika und Hans-Jochen, Collage aus sich überlappenden Fragen. Die letzte lautet: Wer bist du?

Musik weg

Helene: Ganz spontan liebevoll und ja, ich glaube diese Zugewandtheit war eine ihrer größten Stärken.

Autorin: Was mich jetzt noch interessieren würde, ist, wie sich euer Bild von euren Großeltern über die Jahre gewandelt hat. Also, damit meine ich sowohl, was ihr an ihnen schätzt und liebt, als auch vielleicht was schwieriger geworden ist oder wo sich vielleicht euer Blick verändert hat?

29 Helene: Ich glaube, ihr fiel es sehr schwer, Dinge loszulassen und einfach sein zu lassen, wie sie sind. Und das ist vielleicht auch das, was oft als so eine Ernsthaftigkeit empfunden wird und wurde und was mit diesem hohen Anspruch einhergeht.

Luca: Ich glaube, ich schätze an meinem Opa vor allem, dass er so eine sehr tiefe Ruhe ausstrahlt. Auch lustig. Doch, er hat immer auch viele Späße mit uns gemacht als wir noch klein waren. Was sich vielleicht verändert hat, ist mein Blick so, dass er halt nicht so gut darin ist, Emotionen auszudrücken fallen ihm, glaube ich, ziemlich schwer.

Hans-Jochen: Mir ging's eigentlich immer gut. Und Ängste kenne ich nicht.

Autorin: Ich würde meine Oma schon als so ein Familienoberhaupt beschreiben. Aber gerade deshalb, weil sie schon auch so eine Autorität ausstrahlt, empfand ich das als extrem schwierig tatsächlich … diesen einen Konflikt, an den ich mich da erinnere, da sind wir eigentlich nur so raus gekommen, dass jeder seinen Standpunkt irgendwie klar gemacht, so super emotional und eigentlich das dann danach beiseitegelegt wurde, weil uns das beiden nicht möglich war … weil, weil … Harmoniebedürfnis vielleicht?!

Und was ich aber wirklich an meiner Oma sehr schätze, ist Humor. Ich glaube, dass das so eine große Kraft ist, aus der sie irgendwie so schöpfen kann und die sie irgendwie begleitet und auch immer wieder aufgerichtet hat.

Erika: Du wirst geboren, um zu sterben – da fragt auch keiner. Du wirst geboren und musst sehen, wie du krabbelst. Aber dass die so schnell vergangen sind, so viele Jahre. Wo sind die hin?!

Christa Wolf:

Ich sehe mein Leben als so ein Gewebe. Und ich habe zu stark, glaube ich, das 30 Gefühl, wenn ich da jetzt einzelne Fäden raus ziehen würde, dass dann das ganze Muster zerstört würde – dass die alle da rein gehören, ob sie mir nun gefallen oder nicht und ob sie jetzt düster, dunkel, weiß ich was, peinlich sind oder nicht.

Ich kann sie nicht raus ziehen und hatte offenbar – ich glaube, das stimmt, wenn ich das sage – dass ich das Bedürfnis nicht hatte.

„27. September: Die Zeugenschaft der Schriftstellerin Christa Wolf“ (ZeitZeichen); 2003, WDR 5

Musik

Zitatorin Christa Wolf: Nachts werde ich – ob im Wachen, ob im Traum – den Umriss eines Menschen sehen, der sich in fließenden Übergängen unaufhörlich verwandelt, durch den andere Menschen, Erwachsene, Kinder, ungezwungen hindurch gehen. Ich werde mich kaum verwundern, dass dieser Umriss auch ein Tier sein mag, ein Baum, ein Haus sogar, in dem jeder der will, ungehindert ein und aus geht. Halbbewusst werde ich erleben, wie das schöne Wachgebilde immer tiefer in den Traum abtreibt in immer neue, nicht mehr in Worte fassbare Gestalten, die ich zu erkennen glaube. Sicher, beim Erwachen die Welt der festen Körper wieder vorzufinden, werde ich mich der Traumerfahrung überlassen, mich nicht auflehnen gegen die Grenzen des Sagbaren. Christa Wolf: „Kindheitsmuster“, Ebook Suhrkamp 2012, S. 447

Absage: „Jahrgang 1929. Wir hören uns gestern.“ Ein Feature von Sophie Garke.

Mit Zitaten aus Christa Wolfs Werken: Ein Tag im Jahr, Blickwechsel, Kindheitsmuster und Kassandra. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag. Es sprachen: Ursula Illert und die Autorin Ton und Technik: Michael Morawietz und Thomas Widdig. Regie: Sophie Garke. Redaktion: Ulrike Bajohr. Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019.