SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 21. 01. 1969

[70 a]

21. Januar 1969: Fraktionssitzung (Teil 1)

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 114 Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung vom Dienstag, dem 21. Januar 1969«. Dau- er: 16.13–18.34 Uhr. Anwesend: 174. Vorsitz: Schmidt, Möller. Bundesregierung: Heine- mann, Schiller, Schmid, Strobel, Wehner; StS: Schäfer. PStS: Börner, Jahn. Protokoll: Schmidt. Datum der Niederschrift: 3. 2. 1969.

Sitzungsverlauf: A. Informationen B. Öffentliche Angriffe gegen den Bundestagspräsidenten

Helmut Schmidt beglückwünschte Hans Lautenschlager (z. Zt. in Straßburg) zum 50., Max Seidel (entschuldigt abwesend) zum 63. und Reinhard Bühling zum 43. Geburts- tag. Er hieß Helmut Esters (33), Nachfolger für Klaus Hübner1, als neues Fraktionsmit- glied willkommen. Helmut Esters ist Assistent von Alfred Nau. Sodann schlug vor, den Tagesordnungspunkt 82 abzusetzen, weil in der Sache sich der Arbeitskreis II3 noch damit zu befassen habe. Es wurde so beschlos- sen. regte zu den letzten in Berlin stattgefundenen Demonstrationen an, daß ein Berliner Genosse dazu berichten möge. In seiner gleichzeitigen Eigenschaft als Vor- sitzender des SPD-Landesverbandes Berlin gab Kurt Mattick einen eingehenden Be- richt über den Verlauf der angemeldet gewesenen APO-Demonstration aus Anlaß der Wiederkehr des 50. Todestages von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Nach sei- nen Ausführungen sei gegen eine solche Demonstration nichts zu unternehmen gewe- sen. Ein Verbot war nicht ergangen. Beteiligt haben sich schätzungsweise 1 000 bis 2 000 vorwiegend sehr junge Menschen, zum großen Teil etwa 16-Jährige und auffallend viele Schulmädchen. Die sichernde Polizei sei zahlenmäßig ausreichend gewesen. Beim DGB- Haus, in dessen Nähe Bauarbeiten im Gange waren, haben sich zahlreiche Demonstran- ten mit Wurfmaterial versehen und »Kristallnacht«-ähnliche Vorgänge ausgelöst. Am DGB-Haus seien etwa 6 Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Die aufgebrachte Bevölkerung rufe nach einem »starken Mann«. Kurt Mattick stellte die Fragen, ob die gesetzlichen Mittel zur Aufrechterhaltung von Ordnung und Freiheit in Berlin noch ausreichen und wie weit ein sich austobendes Rowdytum noch gehen werde. Kurt Neubauer habe ihm erklärt, daß »etwas getan werden müsse, um die Frei- heit Berlins zu sichern«. Karl Mommer wies auf Äußerungen des Innenministers Benda hin, wonach Studenten, die Unruhen verursachen und daran teilnehmen, die Förderungsmittel entzogen werden

1 Klaus Hübner hatte am 14. Januar 1969 sein Mandat niedergelegt, um in das Amt des Polizeipräsiden- ten der Stadt Berlin zu wechseln. 2 Es handelte sich um die »Kleine Anfrage betr. Elektronische Datenverarbeitung in der Justiz«. Dieser Punkt wurde in der Sitzung vom 11. Februar 1969 behandelt, vgl. SPD-Fraktionssitzung am 11. Fe- bruar 1969. 3 Innenpolitik.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 1 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 21. 01. 1969

sollen.4 Im Gegensatz zu Ulrich Lohmar, der Benda widersprochen habe, halte er es mit Benda, denn wer die Feinde des Staates finanziere, sei zum Untergang verurteilt. Fritz Böhm erklärte sich als Augenzeuge der Berliner Vorgänge und bestätigte Kurt Matticks Ausführungen. Dabei erwähnte er Einsatzmängel der Polizei, die dringend be- hoben werden müßten. Werner Jacobi sprach von Anarcho-Syndikalisten, die nicht nur in Berlin, sondern auch in Heidelberg ihr Unwesen trieben.5 Er zog einen warnenden Vergleich zu Begebenhei- ten in der Nazizeit, verneinte jegliches Entschuldigungsrecht und behauptete Mitschuld der Exekutive. Dem widersprach Edith Krappe. Die an der Berliner Demonstration Beteiligten hätten zwar auf die SPD geschimpft. Notwendig sei, ihnen ein verlorengegangenes Vertrauen wiederzugeben. Ulrich Lohmar warnte davor, in dieser Debatte eine falsche »Schlachtordnung« zu geraten. Mit Karl Mommer stimme er in der Bewertung von Berlin überein. Seine in der vorangegangenen Woche abgegebene Erklärung habe sich nicht gegen die politische Absicht von Karl Mommer gerichtet.6 Aus einer Mehrzahl von Gründen habe er Ben- das Auffassung ad absurdum führen müssen (5 Gründe), und die Fraktion könne sich hinter seine Erklärungen stellen. Helmut Schmidt nahm danach ausführlich zur bisherigen Diskussion Stellung. Seine Ausführungen sind in der von der Pressestelle der Fraktion gefertigten Niederschrift (Anlage Nr. 4)7 enthalten. Eingehend auf Reinhard Bühling berief sich Kurt Mattick nochmals auf Kurt Neubau- er, der ihm gesagt habe, daß Demonstrationen nicht verhindert werden können. Es müßten Wege gefunden werden, um Übergriffe zu vermeiden. Was sich in Berlin abge- spielt habe, hat nichts mit Unruhe an Unis zu tun. Jacobis Pläne seien nicht gangbar. Franz Neumann erklärte, nach einem Gespräch mit Klaus Hübner könne er dessen Auffassung nicht zu seiner machen. Er bedauere es im übrigen, daß an der Spitze des Berliner Demonstrationszuges Peter Brandt8 gewesen sei. Hans Matthöfer beanstandete, daß von einer Informationsstunde keine Rede mehr sein könne. Es müsse auf Einhaltung der Geschäftsordnung geachtet werden. Seine Bemer- kung: »Berlin ist nicht die Bundesrepublik« entlockte Karl Herold einen Zwischenruf. Warnen müsse er, Matthöfer, von »Vertierten Horden«» zu sprechen und bat dringend, solche Terminologie zu vermeiden. Willy Bartsch griff noch einmal die Äußerungen von Ulrich Lohmar auf, dessen Stel- lungnahme in der Öffentlichkeit nicht gut angekommen sei. Die Äußerungen Lohmars könnten die politische Leidenschaft verändern, speziell in Berlin. Stellungnahmen müß- ten stets so erfolgen, daß keine schädlichen Ausdeutungen mehr möglich seien. Dabei sei auch an die Wahlauswirkungen zu denken.

4 Vgl. »Bonn denkt an Stipendien-Streichung«, FAZ vom 16. Januar 1969. 5 Außer in Berlin war es vor allem an der Heidelberger Universität in der Woche vom 13. Januar zu massiven Ausschreitungen mit Institutsbesetzungen und Sachbeschädigungen gekommen. 6 Lohmars Antrag betr. Stipendienentzug und der Antrag Mommer/Hermsdorf »Erklärung der SPD- Bundestagsfraktion betr. Sperrung von Stipendien« vom 21. Januar 1969 liegen dem Protokoll bei. Der Antrag Lohmars ist als Pressemitteilung INFORMATIONEN, Nr. 26 vom 16. Januar 1969 er- schienen. 7 Zum Wortlaut vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 3). 8 Der älteste Sohn Willy Brandts, der in Berlin studierte, war schon einmal im Zusammenhang mit den Studentenunruhen in die Schlagzeilen geraten, vgl. SPD-Fraktionssitzung am 29. April 1968, Anm. 16.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 2 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 21. 01. 1969

Willy Könen mahnte zu einem Rückblick nach 1933. Es bestehe Selbsthilfegefahr. Er wandte sich gegen Hans Matthöfer und lehnte Einengung einer Diskussion ab. Karl Wienand mahnte, künftig in der Ausdrucksweise vorsichtiger zu sein. SPD- Politiker müßten sich von dramatisierenden Worten freihalten. Dazu erklärte Helmut Schmidt, es werde langsam notwendig, die Dinge mit den ihnen zukommenden Namen zu benennen; allerdings sei die Fraktion keine pädagogische Anstalt. Joachim Raffert bat um eine Information durch zu dem Überfall auf ein Munitionsdepot in Lebach.9 Gustav Heinemann antwortete, daß er sich mit dem Generalbundesanwalt10 in Verbindung gesetzt habe. Dieser habe ihm jedoch er- klärt, daß er die erbetene Information über Einzelheiten deshalb nicht geben könne, weil die Leitung nicht abhörsicher sei. Helmut Schmidt bemerkte dazu fragend, ob da wohl Kräfte außerhalb Deutschlands mitspielen. fragte kritisch, unter Bezug auf Presseveröffentlichungen, wie es möglich gewesen sei, daß erst vormittags gegen 08.30 Uhr das Verbrechen von Le- bach entdeckt worden sei. Hier seien Prüfungen erforderlich. Karl Herold wies darauf hin, daß sich der Verteidigungsausschuß unverzüglich unter- richten lassen werde. Wolfgang Schwabe bemängelte, daß die ausgesetzte Belohnung zur Ergreifung der Täter zu niedrig sei. Nach seiner Meinung wären statt 10 000 DM mindestens 100 000 DM notwendig gewesen. Helmut Schmidt regte die Genossen aus dem Saarland an, zu den Trauerfeierlichkeiten zu fahren.11 Dazu empfahl Karl Mommer, es mögen auch Genossen teilnehmen, die dem Verteidigungsausschuß angehören. Hans Matthöfer fragte sodann, auf die Geschäftsordnung hinweisend, nach der Einstel- lung der Bundesregierung zur Frage der Militärhilfe für Griechenland.12 Es müsse ein Mechanismus gefunden werden, daß solche Fragen unter uns gestellt werden können. Dazu wies Helmut Schmidt auf den beim Arbeitskreis I13 liegenden Auftrag betreffend Griechenland hin. (Vgl. Anlage 2)14

Die Fraktion war sodann damit einverstanden, daß der Tagesordnungspunkt 6 vorge- zogen wurde.

9 Am 20. Januar 1969 überfielen drei Männer ein Munitionsdepot der Bundeswehr im saarländischen Lebach und töteten vier Soldaten. Ein weiterer Soldat wurde schwer verletzt. 10 Ludwig Martin.

11 An der Trauerfeier am 23. Januar 1969 nahm u. a. Bundesverteidigungsminister Schröder teil. 12 Der hatte im April 1968 dem Antrag des Auswärtigen Ausschusses (BT ANL. 113, Drs. V/2608) auf Einstellung einer Militärhilfe außerhalb der NATO-Verpflichtungen zugestimmt, BT STEN. BER. 66, S. 8658–8662. hatte in der Fraktionsvorstandssitzung vom 14. Januar 1969 darauf hingewiesen, daß die bisherige Haltung, keine NATO-Hilfe an Griechenland zu gewäh- ren, aber private Rüstungslieferungen von U- und Schnellbooten zu gestatten, auf Dauer nicht auf- recht erhalten werden könne. In der Fraktionssitzung vom 21. Januar solle darüber berichtet und dar- auf hingewiesen werden, daß deutsche Außenpolitik für Deutschland gemacht werden müsse, AdsD, SPD-BTF 5. WP, 239. Zur Vorgeschichte vgl. SPD-Fraktionssitzung am 15. Oktober 1968, Anm. 3; zum weiteren Verlauf: AAPD 1969, Dok. 143, TOP 3 sowie Dok. 273. 13 Außenpolitik und gesamtdeutsche Fragen. 14 Der handschriftlich vom Protokollanten im Original eingefügte Verweis auf Anlage 2 ist offensicht- lich falsch. Anlage 2 ist die Pressemitteilung der Fraktion INFORMATIONEN, Nr. 44 vom 21. Januar 1969, die sich mit den Ausschreitungen von Demonstranten in Berlin und den Überfall auf das Muni- tionsdepot bei Saarbrücken befaßt.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 3 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 1): 21. 01. 1969

Helmut Schmidt gab hierzu einen sehr eingehenden Bericht.15 Entsprechend einem Beschluß des Fraktionsvorstandes haben er und Alex Möller um 14.00 Uhr mit dem Bundestagspräsidenten Gerstenmaier gesprochen. Auf einen Beschluß der Fraktion zu der Frage, ob Gerstenmaier im Amt zu verbleiben habe oder nicht, komme es im Au- genblick nicht an. Vorrangig sei es notwendig, Klärungen zu 4 Tatsachenfragen herbei- zuführen. Nach erfolgter Klärung allen Sachverhaltes werde er die Fraktion zu erneuter Sitzung einberufen, und in dieser nächsten Sitzung komme es auf die Würdigung des Berichtes an, den , Martin Hirsch und Fritz Sänger geben werden. Nach eingehenden Diskussionen zum Komplex Gerstenmaier, in denen Willy Könen, Werner Jacobi, Lisa Korspeter, Bruno Wiefel, Paul Kübler, Karl Riegel, Franz Marx, Hedwig Meermann, Kurt Gscheidle, Walter Langebeck, Gerhard Koch, Kurt Mattick, Hermann Schmitt-Vockenhausen, Wolfgang Schwabe, Joachim Raffert, Karl Wien- and, Fritz Büttner, , Horst Gerlach, Ernst Haar und Artur Killat das Wort nahmen, berichtete Alex Möller, der inzwischen den Vorsitz übernommen hatte, daß die FDP-Fraktion nicht bereit sei, sich an der Untersuchung des Falles Gerstenmai- er zu beteiligen.16

Die Fraktion beschloß sodann die in der Presse-Information Nr. 45 vom 21. 1. 1969 niedergelegten Punkte (Anlage zu diesem Protokoll Nr. 3).17 Die Fraktionssitzung wurde um 18.34 Uhr für die Zeit bis 19.00 Uhr unterbrochen.

15 Weil ihm 1938 eine Professur verweigert worden war, hatte Bundestagspräsident Gerstenmaier, der während des »Dritten Reichs« zum Widerstand zählte, ein Wiedergutmachungsverfahren nach dem BWGöD angestrengt. Zweifel am korrekten Ablauf des Verfahrens hatten zu ersten Rücktrittsforde- rungen geführt. Man warf ihm u. a. vor, bei der Novellierung des BWGöD das Gesetzgebungsverfah- ren zu seinen Gunsten beeinflußt zu haben. 16 Die FDP hatte die Mitarbeit in einer Dreierkommission mit dem Argument abgelehnt, es gehe dabei nicht um rechtliche, sondern um politisch-moralische Fragen. Vgl. »Gerstenmaier heute vor den drei Fraktionsvorsitzenden«, FAZ vom 22. Januar 1969. 17 Liegt dem Protokoll bei. Die Fraktion erklärte darin, sie wolle innerhalb der nächsten 48 Stunden geklärt wissen, ob die Wiedergutmachungszahlungen an Gerstenmaier in Übereinstimmung mit dem BWGöD stünden, ob die relevante Novelle zum BWGöD unter dem Einfluß Gerstenmaiers zustan- degekommen sei, ob sein Wiedergutmachungsverfahren in regulärer Weise abgewickelt worden sei und ob die öffentlich abgegebenen Erkärungen Gerstenmaiers zu seinem Wiedergutmachungsfall den Tatsachen entsprächen.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 4 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 21. 01. 1969

[70 b]

21. Januar 1969: Fraktionssitzung (Teil 2)

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 114 Überschrift: »Protokoll der Fraktionssitzung vom 21.1.1969 Teil II«. Dauer: 19.15–21.50 Uhr. Anwesend: [174]. Vorsitz: Möller. Bundesregierung: Heinemann, Schiller, Schmid, Strobel, Wehner; StS: Schäfer. PStS: Börner, Jahn. Protokoll: Brenner. Datum der Nie- derschrift: nicht bekannt.

Sitzungsverlauf: A. Erste Lesung 2. Besoldungsneuregelungsgesetz (BE: Schmitt-Vockenhausen) B. Öffentliche Angriffe gegen den Bundestagspräsidenten (BE: Helmut Schmidt) C. Erste Lesung 2. Besoldungsneuregelungsgesetz (Fortsetzung) D. Erste Lesung Vorbeugehaft (BE: Hirsch) E. Parteienfinanzierung (BE: Jahn) F. Zweite und dritte Lesung Reparationsschädengesetz (BE: Korspeter) G. Sonstige TO-Punkte und Ablauf der Plenarsitzungen (BE: Frehsee)

Alex Möller berichtet über das Gespräch, das Helmut Schmidt und er inzwischen mit dem Vorsitzenden1 und dem Parlamentarischen Geschäftsführer2 der CDU-Fraktion geführt haben. Es wurde vereinbart, daß – entsprechend einem Vorschlag der FDP – erneut die drei Fraktionsvorsitzenden zusammenkommen sollten. Der FDP werde die Frage zu stellen sein, warum sie eine Untersuchung durch eine interfraktionelle Dreier- Kommission abgelehnt habe, nachdem sie ursprünglich ein gemeinsames Vorgehen der Fraktionen gefordert hatte.3 Die Behandlung dieses Tagesordnungspunktes wird bis zum Ergebnis der Unterredung der Fraktionsvorsitzenden ausgesetzt.

Tagesordnungspunkt 2: Erste Lesung Zweites Besoldungsneuregelungsgesetz4 Anstelle des verhinderten Hermann Schmitt-Vockenhausen gibt Kurt Gscheidle einen Bericht zur Regierungsvorlage. Er kritisiert, daß die Amtsgehälter der Minister und die Diäten der Abgeordneten an die Bezüge der Staatssekretäre gekettet seien. Die aus der Umstrukturierung der Besoldungsgruppe B resultierenden Erhöhungen der Bezüge der Ministerialdirigenten und Ministerialdirektoren seien im Vergleich zu denen des einfa- chen und mittleren Dienstes zu hoch. Die Einzelfragen der Besoldungsstruktur müßten in den Ausschußberatungen noch eingehend geprüft werden. Entsprechend früheren Erklärungen der SPD-Fraktion sollte die rahmenrechtliche Bindung der Lehrergehälter noch zurückgestellt werden. Ferner sollte versucht werden, den Zeitpunkt des Inkraft- tretens der Besoldungserhöhungen vorzuverlegen. Die Beratung des Punktes 2 der Tagesordnung wird unterbrochen.

1 . 2 Will Rasner. 3 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 1), mit Anm. 15; SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 3). 4 BT ANL. 126, Drs. V/3693, 1. Beratung am 22. Januar 1969, BT STEN. BER. 68, S. 11404–11408.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 5 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 21. 01. 1969

Fortsetzung der Beratung des Punktes 6 der Tagesordnung Helmut Schmidt berichtet über das Gespräch der Fraktionsvorsitzenden. Er habe dem Vorsitzenden der FDP5 vorgeworfen, sich dem von der FDP noch am Vortage vorge- schlagenen »gemeinsamen Handeln« verschlossen zu haben. Dieser habe geäußert, die FDP sei davon überzeugt, Gerstenmaier habe rechtlich korrekt gehandelt; die FDP stütze ihre Kritik allein auf das politische und moralische Verhalten des Bundestagsprä- sidenten. Man habe vereinbart, daß die drei Fraktionsvorsitzenden am nächsten Tage mit Präsident Gerstenmaier ein Gespräch führen sollten.6 Helmut Schmidt ist der Meinung, die SPD solle nicht davon absehen, die formulierten vier Fragen prüfen zu lassen, und diese Prüfung nunmehr allein vornehmen. Diese Mei- nung habe sich auch im Fraktionsvorstand ergeben.7 Der Vorstand schlägt für die Un- tersuchungskommission der Fraktion Kurt Gscheidle, Fritz Sänger und Martin Hirsch vor. Die Fraktion stimmt dem angekündigten Gespräch der Fraktionsvorsitzenden mit dem Bundestagspräsidenten sowie der Einsetzung der Fraktionskommission zu. Die Kom- mission wird aufgefordert, ihre Arbeit sofort aufzunehmen. Fortsetzung der Behandlung des Tagesordnungspunktes 2: Fritz Schäfer stellt fest, daß die sozialdemokratischen Staatssekretäre sich gegen die Einführung einer Amtszulage für Staatssekretäre gewandt hätten. Philipp Seibert und Ernst Haar setzen sich für einen früheren Termin des Inkrafttretens des Gesetzes ein. Philipp Seibert fragt, ob die in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehene Erhö- hung eingehalten werden müsse. Alex Möller weist auf den im Zusammenhang mit der mittelfristigen Finanzplanung gefaßten Beschluß der Fraktion hin, wonach Ausgaben- erhöhungen nur bei gleichzeitiger anderweitiger Deckung beschlossen werden dürften. Davon könne nicht abgegangen werden. Detlef Haase setzt sich dafür ein, daß der Verteidigungsausschuß mitberatend sein solle. Die Fraktion wird einem entsprechenden Antrag zustimmen. Alex Möller berichtet, der Fraktionsvorstand habe sich für eine nur lineare Erhöhung der Abgeordnetendiäten ausgesprochen. Ferner werde der Fraktion empfohlen, deutlich zum Ausdruck zu bringen, daß den Beamten kein Nachteil erwachsen dürfe, wenn durch die Tarif-Verhandlungen der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst die gesamte zur Verfügung stehende Finanzmasse überproportional in Anspruch ge- nommen wird. stellt fest, daß die in der mittelfristigen Finanzplanung für lineare und strukturelle Verbesserungen vorgesehene Erhöhung der Mittel um 5 % durch den güns- tigen Verlauf der Gesamtwirtschaft (der Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung werde ein Orientierungsdatum von 5 ½ bis 6 ½ % für die Einkommenssteigerung ge-

5 . 6 Vgl. »Besprechungen mit Gerstenmaier im Endstadium«, FAZ vom 23. Januar 1969. Einen Tag zuvor hatte die FDP offiziell bedauert, daß Gerstenmaier nicht von sich aus die erforderlichen Konsequen- zen gezogen und seinen Rücktritt erklärt habe, um das Amt des Bundestagspräsidenten aus dem ge- genwärtigen Zwielicht zu befreien, vgl. »Die Freien Demokraten wünschen Gerstenmaiers Rück- tritt«, FAZ vom 21. Januar 1969. 7 Zu den Fragen im einzelnen vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 1), Anm. 17. Der Vorschlag, eine eigene Fraktionskommission zur Klärung dieser Fragen einzusetzen, stammte von Alex Möller. Eine Prüfung durch ein Gremium aller Bundestagsfraktionen war zuvor am Widerstand der FDP gescheitert; und eine Kommission bestehend nur aus Unions- und SPD-Mitgliedern wäre laut Möller unglaubwürdig gewesen, vgl. AdsD, SPD-BTF 5. WP, 240.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 6 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 21. 01. 1969

ben) im Grunde überholt sei. Der Finanzminister8 habe sich jedoch geweigert, die er- forderlichen Mittel entsprechend zu adaptieren. Alex Möller empfiehlt, der Redner der Fraktion solle auf der Basis der Ausführungen von Kurt Gscheidle und der Vorschläge des Fraktionsvorstandes Stellung nehmen. Mit Hermann Schmitt-Vockenhausen solle abgestimmt werden, wer für die Fraktion spre- chen soll. Die Fraktion stimmt dem zu. Tagesordnungspunkt 3: Erste Lesung Vorbeugehaft9 Martin Hirsch erläutert noch einmal die Zielsetzung des Entwurfs der Koalitionsfrak- tionen und nimmt zur bisherigen öffentlichen Diskussion Stellung (vgl. Umdruck An- lage 5)10. Er warnt davor, daß der Eindruck entstehen könnte, die Liberalisierung des Strafrechts führe in Wirklichkeit zur Freiheit von Kriminellen. Er werde jedoch für die SPD-Fraktion im Plenum zum Ausdruck bringen, daß sie für die Diskussion aller Al- ternativ-Vorschläge offen ist. Gustav Heinemann wendet sich gegen die Einführung einer Vorbeugehaft, mit der die Reform aus dem Jahre 1965 wieder zunichte gemacht würde.11 Zur Lösung des Pro- blems böten sich auch andere Möglichkeiten an. Er werde im Plenum die verschiedenen Alternativen vortragen. Manfred Schulte plädiert dafür, im Plenum die Bereitschaft für sinnvolle Modifikatio- nen des Entwurfs zu zeigen, z. B. eine weitere Begrenzung des Katalogs der Delikte sowie eine Beschränkung der Vorbeugehaft auf vorbestrafte Täter. , Philipp Seibert und Adolph Müller-Emmert wenden sich gegen den Gesetzentwurf. Alex Möller beklagt die mangelnde Abstimmung der Fraktion mit dem Bundesjustizministerium. Martin Hirsch betont, daß er selbst nicht der Urheber des Entwurfs gewesen sei. Er werde auf die Offenheit der SPD-Fraktion in dieser Frage hinweisen und die Durchfüh- rung eines Hearings fordern, um eine rechtsstaatliche Lösung zu finden. Hans Matthöfer stellt den Antrag, die Fraktion solle sich zwecks weiterer Überlegungen für die Absetzung des Gesetzentwurfs von der Tagesordnung des Bundestages einsetzen. Hugo Collet spricht sich gegen den Antrag aus. Alex Möller berichtet, der Fraktions- vorstand rate zu einer beweglichen Argumentation im Plenum. Gustav Heinemann werde mit seiner Rede eine Brücke schlagen für die Erarbeitung alternativer Lösungen in den Ausschußberatungen. Der Antrag auf Absetzung von der Tagesordnung wird mit 47 gegen 21 Stimmen abge- lehnt. Tagesordnungspunkt 7: Parteienfinanzierung Gerhard Jahn bittet um die Vollmacht, die beim Bundesverfassungsgericht anhängige Klage zur verschleierten Parteienfinanzierung durch die Regierung zurückzuziehen,12

8 Franz Josef Strauß. 9 Gesetzentwurf zur »Änderung der Strafprozeßordnung und des Jugendgerichtsgesetzes« (BT ANL. 126, Drs. V/3633), BT STEN. BER. 68, S. 11428–11462. 10 Entwurf liegt dem Protokoll bei. 11 Bezieht sich auf das seit April 1965 geltende Haftrecht (StPÄG vom 19. Dezember 1964, BGBl. I S. 1067), zu Heinemanns Erläuterungen im Plenum vgl. BT STEN. BER. 68, S. 11444 ff. Vgl. auch »Schwere Bedenken Heinemanns gegen Vorbeugehaft«, FAZ vom 25. Januar 1969. 12 Die am 22. März 1966 eingereichte Organklage betr. »Zuwendungen tatsächlicher und finanzieller Art an Regierungsparteien aus dem Bundeshaushaltsplan« von SPD und 193 weiteren MdB (2 BvE 1/66) wurde am 30. Januar 1969 zurückgenommen und damit das Verfahren eingestellt. Eine Nor- menkontrollklage (2 BvF 1/66) war ebenfalls zurückgezogen worden.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 7 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 2): 21. 01. 1969

da die Klage der SPD nicht zum Erfolg führen dürfte. Der politische Zweck der Klage sei durch die Einführung einer parlamentarischen Kontrolle des »Reptilienfonds«13 ohnehin erreicht. Die Fraktion erklärt sich einverstanden.

Tagesordnungspunkt 4: Zweite und dritte Lesung des Reparationsschädengesetzes14 Lisa Korspeter gibt einen Bericht zum Reparationsschädengesetz. Sie begründet den Änderungsantrag einer Gruppe von Abgeordneten zur Ergänzung des § 67 des Ent- wurfs (vgl. Anlage 6)15. Die Fraktion stimmt der Einbringung des Gruppenantrags zu. wird ihn im Plenum begründen. Horst Gerlach bittet die Fraktion um Zustimmung zu einem Änderungsantrag, wonach enteignete Traktatländereien im deutsch-niederländischen Grenzgebiet nicht als Repa- rationsschäden im Sinne dieses Gesetzes gelten sollen (vgl. Anlage 7)16. Der Antrag wird nach Diskussion durch die Fraktion abgelehnt. Lisa Korspeter plädiert dagegen für die Einbringung eines Entschließungsantrages (vgl. Anlage 8)17 zur dritten Lesung durch die Fraktion. Die Fraktion stimmt dem zu. Horst Gerlach wird beauftragt, den Antrag mündlich zu begründen. Auf die Einbringung des vorgesehenen Entschließungsantrages bzgl. der sogenannten »Dritterwerber« (vgl. Anlage 9)18 wird verzichtet. Dieser Antrag wird nach Rückspra- che zwischen Martin Hirsch und Lisa Korspeter der Fraktion nicht mehr zur Abstim- mung vorgelegt. wird gebeten, in der dritten Lesung für die Fraktion eine Erklärung abzugeben.

Tagesordnungspunkt 5: Sonstige TO-Punkte und Ablauf der Plenarsitzungen Heinz Frehsee gibt einen Überblick über den Ablauf der Plenarsitzungen dieser Wo- che. Die verschiedenen Gesetzentwürfe der SPD-Fraktion zur Mitbestimmung wird Helmut Schmidt summarisch begründen.19

13 Der Haushaltstitel 300 »Förderung des Informationswesens«» unterlag bis 1967 lediglich der Kon- trolle durch den Präsidenten des Bundesrechnungshofs, im Mai 1967 beschloß der Haushaltsaus- schuß des Bundestages einstimmig, daß die Prüfung auch durch einen Unterausschuß des Haushalts- ausschusses vorgenommen werden sollte. Vgl. u. a. DIE SPD-FRAKTION TEILT MIT, Nr. 226/67 vom 10. Mai 1967. 14 BT ANL. 117, Drs. V/2432, BT STEN. BER. 68, S. 11379–11399. 15 Der Entwurf liegt dem Protokoll bei. Es ging um die unentgeltliche Beratung von Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen in Rechts- und Wirtschaftsfragen durch Vertriebenenorganisationen. BT STEN. BER. 68, Umdruck 568, S. 11412. Der Antrag wurde im Laufe der Debatte wieder zurückgezo- gen, ebd. S. 11391. 16 Entwurf liegt dem Protokoll bei.

17 Entwurf liegt dem Protokoll bei. BT STEN. BER. 68, Umdruck 572, S. 11412 f. 18 Entwurf liegt dem Protokoll bei. 19 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 14. Januar 1969, Anm. 24. Zur Begründung Schmidts: BT STEN. BER. 68, S. 11337–11348.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 8 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 3): 21. 01. 1969

[70 c]

21. Januar 1969: Fraktionssitzung (Teil 3)

AdsD, SPD-BT-Fraktion 5. WP, 114 1 Überschrift: »Pressestelle. 27. 1. 1969. An alle Mitglieder der Fraktion«.

[Helmut Schmidt:] Wir müssen uns darüber klar werden, daß diese Berliner Ereignisse und die Ereignisse in Frankfurt, Heidelberg und anderswo – was die Wirkung in der Öffentlichkeit angeht – im psychologischen Gesamtzusammenhang gesehen werden müssen mit den Ereignissen im Saarland, wo vier Soldaten getötet worden sind.2 Das alles zusammen macht es nicht nur notwendig, daß sich die Fraktion in ihrer Informati- onsstunde damit beschäftigt, sondern daß sie sich auch öffentlich äußert. Dazu laßt mich bitte zunächst etwas sagen, was nach meinem Gefühl nicht öffentlich hörbar werden sollte: Wir alle sind in die Zwangslage versetzt, prüfen zu müssen, ob wir als einzelne, ob unsere Unterbezirks- und Bezirksvorstände, ob unsere jeweiligen Kollegen und Genossen in Stadträten, Landesregierungen und auch wir hier selber in Bonn bei der Beurteilung der Entwicklung unserer Gesellschaft zur Gewalt hin immer noch von den richtigen Maßstäben ausgehen. Ich habe den Eindruck, daß sich in Teilen unserer Gesellschaft die Überzeugung breitmacht, daß derjenige, der Gewalt übt, er- stens davonkomme und zweitens sich möglicherweise mit dem, was er damit beabsich- tigt, sogar noch erfolgreich durchsetze. Dies halte ich für eine schon relativ fortgeschrit- tene, im Grund diesen demokratischen Staat und das demokratische Selbstverständnis tief bedrohende Entwicklung. Die Sache wird speziell für die Sozialdemokratische Par- tei dadurch nicht leichter, daß wir traditionell immer die Anwälte von Minderheiten gewesen sind und auch bleiben wollen. Ich glaube, es führt kein Weg daran vorbei zu erkennen, daß sich die Demolierung von Rektoratszimmern oder von Kaufhäusern oder Gewerkschaftshäusern oder Parteibüros – wie das auch immer ideologisch legitimiert werden mag – in keiner Weise unterscheidet von dem Verhalten von SA-Trupps heute vor 30 oder 35 Jahren. Ich hoffe, ich mache nicht den Eindruck, emotionalisiert zu sein. Aber ich hoffe, daß die sozialdemokratischen Mandatsträger sich inne werden der Gefahr, die hier für den Staat und für die Sozialdemokratische Partei entsteht. Gewiß müssen wir uns der politi- schen Auseinandersetzung mit den jungen Leuten stellen, soweit diese das wirklich wollen. Dabei muß man sehen, daß eine demokratische Partei nicht in erster Linie eine pädagogische Institution, eine allgemeine Volkshochschule ist – das ist sie u. a. auch –, sondern in erster Linie eine Vereinigung politisch Gleichgesinnter, um staatliche Macht zu erringen und zu bewahren, um sie zur Verwirklichung ihrer Ziele zu benützen. Jemand, der Fensterscheiben einwirft, darf nicht das Gefühl bekommen, daß er außer- dem von uns auch noch als jugendlicher Gesprächspartner akzeptiert wird. Das will auch niemand von uns. Aber dies ist nun langsam nicht mehr eine Frage, die man noch von Fall zu Fall durch die eine oder andere abgewogene Äußerung beantworten kann. Es besteht in diesem Lande die Gefahr, daß (ähnlich wie gewisse jugendliche Kreise in

1 Die Pressestelle leitete ihr Schreiben folgendermaßen ein: »Liebe Freunde, auf mehrfachen Wunsch geben wir nachstehend die Ausführungen von Helmut Schmidt in der Fraktionssitzung vom 21. Ja- nuar 1969 wieder«. 2 Gemeint sind die Studentenunruhen und der Überfall auf ein Munitionsdepot im saarländischen Lebach, vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 1).

Copyright © 2016 KGParl Berlin 9 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 3): 21. 01. 1969

den Vereinigten Staaten von Amerika die demokratische Partei und Hubert Humphrey – z. T. aus idealistischen Motiven, z. T. mit ekelhaften Methoden – zum Buhmann des Wahl- kampfes gemacht haben) alles, was auf irgendeine Weise zur außerparlamentarischen und antiparlamentarischen Opposition sich zählt – auch das letztere wird ja inzwischen schon mit Stolz bekannt, antiparlamentarisch gesonnen zu sein – es besteht die Gefahr, daß alles, was sich dahin bekennt, demnächst öffentlich verkündet: Der Hauptfeind ist die Sozialdemokratische Partei. Das ist dann übrigens auch logisch, denn sie ist wirklich der Hauptpfeiler des demokratischen Staatsgefüges in Deutschland. Sie w a r es jeden- falls nach dem bisherigen Verlauf der deutschen Geschichte, und ich hoffe, daß sie es auch in Zukunft sein will. Wenn sie diese Rolle wirklich spielen will, muß sie sich dar- über klar werden, daß dazu nicht nur pädagogisches Verständnis für irregeleitete Ju- gendliche, sondern ebenso der energische Wille gehört, Vergehen oder Verbrechen gegen die gesetzliche oder gegen die grundgesetzliche Ordnung auch mit den Mitteln zu ahnden, die der Rechtsstaat bietet. Wenn ich sehe, wie in manchen deutschen Städten Leute, gegen die seit Wochen oder Monaten Haftbefehle vorliegen, aus Opportunitätsgründen nicht verhaftet werden; wenn ich sehe, daß in einer anderen Stadt ein sozialdemokratischer Innenminister3 sagt: Hier liegt ein Haftbefehl gegen Personen vor, die mit Gewalt der Verhaftung durch den Staat entzogen werden sollen, also muß ich meinerseits nun dafür sorgen, daß die Verhaftung nun vollzogen wird; und wenn es dann anschließend Sozialdemokraten gibt, die als erstes diesen Innenminister öffentlich verurteilen, dann habe ich das Gefühl, daß diese Sozialdemokraten den Ernst der psychologischen Lage im Volke einfach nicht begrei- fen. Ich bin, wenn auch in ruhigeren Zeiten, selbst lange genug Chef einer Großstadtpolizei gewesen,4 um zu wissen, daß der durchschnittliche Polizist eben nur Durchschnitt ist. Er kann auch niemals die psychologisch differenzierten Verständnismöglichkeiten in sich selbst entwickeln, wie ein Akademiker sie verlangen mag. Das sind halt weder Aka- demiker noch Abiturienten, sondern das sind Leute aus dem Volk, die aus verschiedenen Motiven diesen Beruf ergriffen haben und die so sind, wie sie sind. Ich hielte es nicht für gut, wenn wir auf die Dauer meinten, wir müßten zunächst immer erst einmal bei der Exekutive suchen, ob nicht »wieder einmal« die Polizei versagt habe; ganz abgesehen davon, daß Ihr noch nicht wißt, wo und wann Ihr die Kollegen der Polizei noch einmal brauchen werdet, die zum großen Teil außerdem noch unsere Wähler sind. Ich hielte das nicht für gut. Mir würde am Herzen liegen, daß die gegenwärtigen Anlässe, die diese Diskussion ausgelöst haben, benutzt werden, um qua Fraktion öffentlich noch einmal klarzustellen: Gerade weil wir nicht wollen, daß die Ausbreitung der Gewalt in unserem Lande in die Reaktion und zur Stimmabgabe für die NPD führt, in das allgemeine Geschrei »law and order und im übrigen soll alles so bleiben, wie es ist!« müssen wir klar und deutlich sagen, daß beides zusammengehört und bei uns beides gemeint ist, nämlich die Freiheit und der Wille zur Reform auf der einen Seite und die Erhaltung der Gesetzlichkeit und die Sicherheit für die Bürger auf der anderen Seite. Beides gehört untrennbar zusammen. Es ist notwendig, auch unseren Genossen im Lande klarzumachen, wo wir in der Aus- einandersetzung mit Leuten stehen, die Gewalt üben wollen. Ich würde dann gerne

3 Bezieht sich vermutlich auf die Verhaftung von fünf SDS-Mitgliedern am 10. Januar 1969, gegen die wegen Nichterscheinens zu einem Gerichtstermin Haftbefehl erlassen worden war und die sich in der Heidelberger Universität verbarrikadiert hatten. Der Baden-Württembergische Innenminister Walter Krause mußte sich daraufhin gegen Kritik an dem Polizeieinsatz zur Wehr setzen. 4 1961 bis 1965 als Hamburger Innensenator.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 10 SPD – 05. WP Fraktionssitzung (Teil 3): 21. 01. 1969

einen anderen Satz noch hinzufügen mögen, wenn die Fraktion ihn so billigen sollte. Er stammt von Ulli Lohmar, der ja mit dem, was er eben dargelegt hat, auch nicht ohne Grund unter den Füßen argumentiert, wenngleich er mit Karl Mommer nicht ganz übereinstimmen konnte.5 Ich würde also hinzufügen wollen, daß die Sozialdemokrati- sche Fraktion von denjenigen Jugend- und Studentenverbänden, die Gewalt ablehnen, eine öffentliche Klarstellung erwartet, daß sie mit Vorgängen solcher Art nichts zu tun haben wollen. Vielleicht darf ich gleich noch einen Absatz hinzusagen wegen eines anderen Vor- kommnisses: Ich weiß, daß jemand unter den Fragestellern – ich glaube Joachim Raffert – dazu noch eine Frage vorbringen wird und sicherlich wird der Justizminister6 sich dar- auf noch einlassen.7 Ich meine, die Fraktion sollte auch etwas sagen zu dem bewaffneten Überfall, der bisher zum Tode von vier Soldaten und zur lebensgefährlichen Verletzung eines fünften geführt hat. Abgesehen davon, daß für die Fraktion schon das Mitgefühl mit den Familien zum Ausdruck gebracht wurde, meine ich, daß wir Anlaß haben, auf der einen Seite die Bundesanwaltschaft und das Kriminalamt aufzufordern, alle Mög- lichkeiten zu raschen Aufklärung zu nutzen, auf der anderen Seite die Bundeswehr aufzufordern, die nötigen Vorkehrungen gegen etwaige Wiederholungen dieser Art mit aller Energie zu treffen. Jedes Schweigen zu solchen Vorkommnissen schädigt den Staat, ein Nichthandeln schä- digt den Staat und ein Nichthandeln der Sozialdemokraten, ein Schweigen der Sozi- aldemokraten zu diesen Vorkommnissen schädigt das Ansehen der Sozialdemokratischen Partei in diesem Staat. Es wäre nicht gut, wenn wir uns dabei von Emotionen hinreißen ließen, so gut ich das verstehen könnte; wir dürfen auch nach draußen nicht den Ein- druck machen, daß wir uns von Emotionen hinreißen lassen. Der Eindruck, den wir machen müssen, ist derjenige der Stetigkeit und Festigkeit in der Bewahrung beider Grundlinien: der Prinzipien der Freiheit und des Reformwillens auf der einen genauso wie der Prinzipien der Aufrechterhaltung von Gesetz und Verfassung auf der anderen Seite.

5 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 1), Anm. 6. 6 Gustav Heinemann. 7 Vgl. SPD-Fraktionssitzung am 21. Januar 1969 (Teil 1), Anm. 9.

Copyright © 2016 KGParl Berlin 11