ISSN 1866-0843

HEFT 278 – JUNI 2010 50. JAHRGANG

• Hirtenbrief des Papstes • deutsches Engagement in Afghanistan • Autobahnkirchen in Deutschland • Haupttagung der GKMD • Bundeskanzler Kohl und die (II) INHALT AUFTRAG 278 • JUNI 2010 • 50. JAHRGANG

EDITORIAL ...... 3 BLICK IN DIE GESCHICHTE 50 Jahre Bundeswehr: (II.Teil): SEITE DES BUNDESVORSITZENDEN ...... 4 Der sechste Bundeskanzler und die Bundeswehr von Dieter Kilian ...... 44 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK Am Ursprung der Christenheit – 100 Jahre Katholische Kirche gründet „Zentrum für Dormitio Kirche in Jerusalem ethische Bildung in den Streitkräften“ von Gabi Fröhlich/KNA ...... 56 von Paul A. Schulz ...... 5 1.100 Jahre Abteigründung Cluny – Zwischen Politik und Völkerrecht religiöses Zentrum des Mittelalters von Dr. Klaus Achmann ...... 8 von Christoph Strack/KNA Regierungserklärung der Kanzlerin: und Paul A .Schulz ...... 57 nimmt historische Herausforderung an von Klaus Liebetanz ...... 10 KIRCHE UNTER SOLDATEN Das Kundus Syndrom PERSONALIA von Bertram Bastian ...... 12 Tragischer Verlust der Neue Deutsche Strategie für Afghanistan polnischen Militärseelsorge ...... 62 von Klaus Liebetanz ...... 13 Kurzporträt Hanna-Renate Laurien ...... 62 Zur Proliferationsproblematik von Werner Bös ...... 15 Josef Rommerskirchen ...... 62 Neuer belgischer Militärbischof GESELLSCHAFT NAH UND FERN Andre-Josef Leonard ...... 62 Neues Selbstbewusstsein russisch-orthodoxer Neuer Wehrbeauftragter des Bundestages Kirche – ein Jahr Patriarch Kyrill I. Hellmut Königshaus ...... 62 von Oliver Hinz/KNA ...... 23 Endlich! Leben und Überleben AUS BEREICHEN, STANDORTEN UND GKS Salzburger Hochschulwochen 2010 BEREICH SÜD von Bertram Bastian ...... 24 DAK I/2010 ...... 64 Autobahnkirchen in Deutschland von Bertram Bastian ...... 25 BEREICH WEST DAK I/2010 ...... 65 BILD DES SOLDATEN Eine starke Gemeinschaft MILITÄRPFARRAMT von Georg-Peter Schneeberger ...... 27 Familienwochenende in Lennestadt ...... 65 Willst Du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung von Karl-Heinz Lather ...... 28 KURZ BERICHTET: . . . . . 9, 22, 23, 26, 31, 42, 61, 63

RELIGION UND GESELLSCHAFT BUCHBESPRECHUNGEN ...... 66 Was ich in den letzten drei Monaten gelernt habe IMPRESSUM ...... 68 von Pater Klaus Mertes SJ ...... 32 Hirtenbrief des Papstes Benedikt XVI an die Katholiken in Irland ...... 33 Vatikanische Statistik deutet für die Weltkirche Gewichtsverschiebung an Redaktionsschluss für KNA ...... 38 Gemeinschaft Katholischer Männer Deutschlands: Mann und Macht – was man(n) damit macht AUFTRAG 279 von Paul A. Schulz ...... 39 Probleme der Bioethik Freitag, 25. Juni 2010 von Reinhold Gradl ...... 43

UNSER TITELBILD: Hinweisschild an der Autobahn -Ludwigshafen (A 61) auf die Autobahnkirche in Waldlaubersheim (siehe Artikel Seite 25)

2 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 • 50. JAHRGANG editorial:

schürte so die „moralische Panik“. Eine sachliche Diskussion erscheint unmöglich, wie auch die Vor- gänge um unseren Militärbischof zeigen. Wer schon einmal ehrenamtlich in einer Kirchenverwaltung tätig war, der weiß um die Probleme, wenn Seel- sorger sich als Manager eines Kindergartens oder gar einer Waisenhausstiftung bewähren müssen. Trotzdem müssen die Vorfälle unaufgeregt aufge- klärt werden.

eder Vorfall ist ein Vorfall zuviel, keine Fra- Jge! Aber jeder Vorfall bedingt auch eine Ein- zelbetrachtung (auch eine einzeln zu erfolgende Täterbetrachtung) und keine pauschalisierte Vor- verurteilung ganzer Institutionen. Schuldige müs- Liebe Leserschaft, sen zur Rechenschaft gezogen werden, dabei sind die Opfer unserer besonderen Sorgfalt anvertraut. auf dem Titelbild sieht man den Hinweis, wo es Diese dürfen nicht instrumentalisiert werden, um zur Autobahnkirche bei der Abfahrt 47 auf der A 61 alte Grabenkämpfe aufleben zu lassen, sondern die von Koblenz nach Ludwigshafen in der Ortschaft Opfer brauchen Hilfe, um ihre Situation bewälti- Waldlaubersheim geht. Man könnte es auch inter- gen zu können, damit sie das traumatisierende Er- pretieren, dass die Kirche abseits des pulsierenden lebnis des Missbrauches verarbeiten können. Dies Lebens steht und nicht nur abseits der Autobahn. muss der Mittelpunkt des Bestrebens sein, um die Zurzeit ist unsere Mutter Kirche anscheinend in der Diskussion um diese abscheulichen Vorfälle so zu Krise. Nur anscheinend? Nun, es war ein Mann der führen, dass eine Aufarbeitung zweckmäßig ist, im Kirche, der die Aufarbeitung der zurückliegenden Sinne der Opfer. Missbrauchsfälle einschließlich der Misshandlun- gen eingeleitet hat. Der Leiter des Canisius-Collegs enn man dann davon liest, dass sich Kir- in Berlin Pater Klaus Mertes SJ, dessen Erklärung Wchenaustritte signifikant erhöhen, dann vor dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken stellt sich die Frage: Wenn man erwartet, dass die Sie in diesem Heft lesen können, brachte den Stein Kirche in schwierigsten persönlichen Situationen ins Rollen, nicht die Justizministerin, die als Bei- hilfreich zur Seite steht, warum sind diese Leute rätin der Humanistischen Union sich die Chance dann in schwierigen Situationen der Kirche nicht nicht entgehen ließ, in der Öffentlichkeit gegen an ihrer Seite? Die Antwort könnte sein: Damit die die Kirche zu agitieren. In der Humanistischen Kirche in Zukunft stärker ist! Dann würde sich die Union, die sich gegen die Kriminalisierung von Krise als reinigendes und stärkendes Feuer erwei- Pädophilen und Sexualstraftätern stark macht, sen, durch welches die Institution gestählt würde! wurde im Jahr 2000 eine Erklärung, dass durch die Verpolizeilichung der Gesellschaft im Bereich In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leser- der Sexualstraftaten eine mediale und öffentliche schaft, angeregte Lektüre in unserem neuen Heft, „Erzeugung moralischer Panik“ betrieben werde, verhindert. Die Ministerin, unterstützt durch die Parteivorsitzende und die Fraktionsvorsitzende einer im vertretenen Partei krimina- lisierte zuerst die gesamte katholische Kirche und

3 SEITE DES BUNDESVORSITZENDEN

Kirche in der Krise – Auftrag für die Gemeinschaft

ie katholische Kirche steckt in der Krise, daran welche unzulässig bleibt. Die Kontrollinstanz für die Dbesteht kein Zweifel. Die sprunghaft angestiege- eigene Macht ist damit für den Soldaten im Einsatz ne Anzahl der Kirchenaustritte scheint dies zu bestä- regelmäßig das eigene Gewissen. Wie wichtig diese tigen. Feinsinnig wird von manchem unterschieden, Funktion ist, haben die jüngsten Ereignisse eindruck- dass es eine Krise der Kirche sei, keine Krise des voll unter Beweis gestellt. Zur Entwicklung dieser Glaubens. Ich halte die- eigenen Kontrollinstanz se Unterscheidung für so einen Beitrag zu leis- nicht zulässig. Auch wenn ten,t haben wir uns auf der Anlass in der Kirche die Fahne geschrieben. begründet liegt, so gehö- Und ist es für den Ein- ren Glaube und Kirche zelnenz auch nur ein Bei- doch zusammen, denn trag,t für den Orientie- Glaube kann nur in der rungr Suchenden jedoch Gemeinschaft wirklich vvielleicht ein wichtiger. gelebt werden. Und die- Dieser Aufgabe werden se Gemeinschaft ist eben wwir uns weiter stellen. zuerst die Kirche. Aber Mit diesem Beispiel auch unsere Gemein- möchte ich den Nach- schaft Katholischer Sol- weisw erbringen, dass daten hat hier ihren Platz, wwir als Gemeinschaft denn die Laienorganisa- Katholischer Soldaten tionen tragen die Kirche gebraucht werden. Wir als Ganzes mit. Was aber werdenw gebraucht in der ist in diesem Zusammen- Kirche, genauso wie die hang die genaue Aufgabe Kirche in der Gesell- der Gemeinschaft Katho- schaft gebraucht wird – lischer Soldaten? gerade heute. Der Bamberger Erz- Der katholischen bischof Ludwig Schick, in Kirche den Rücken zu der Deutschen Bischofs- kehren ist daher aus konferenz zuständig für meiner Sicht keine Lö- die Männerseelsorge, hat sung, die noch zu erfül- in einem Interview gefor- lendenl Aufgaben ma- dert, dass in der aktuellen Diskussion um Missbrauch chen es schlicht nicht verantwortbar. So werden wir der Missbrauch von Macht in jeder Form zu einem uns weiter bemühen, unseren bescheidenen, aber Dauerthema werden muss (dazu der Artikel über die spezifischen Beitrag zur Identität der katholischen Haupttagung der Gemeinschaft Katholischer Män- Kirche zu leisten. ner Deutschlands, GKMD, in dieser Ausgabe). Sol- daten sind in Ausübung ihrer spezifischen Aufgaben n Abwandlung einer bekannten Losung möchte zur Machtausübung befugt und damit potenziell zum Iich sagen: „und in dem wir diese Aufgabe recht Machtmissbrauch befähigt. Macht darf nie zügellos erfüllen, tragen wir wahrhaft zur Entwicklung in der und ohne Kontrolle ausgeübt werden und Soldaten Kirche bei“. sind unter den widrigen Bedingungen im Einsatz oft gefordert, eigenverantwortlich zu entscheiden, wel- Rüdiger Attermeyer che konkrete Handlung von ihnen gefordert ist und Bundesvorsitzender

4 AUFTRAGAUFTRAG 278 • JJUNIUNI 2010 0 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK

Katholische Kirche gründet „Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften“ (zebis)

VON PAUL A. SCHULZ n einem „Zentrum für ethische Vordergrund der Aussagen stehen richtung in den Streitkräften“, wel- Bildung in den Streitkräften“ (ze- Ausrüstung und Schlagkraft der ches die kirchliche Seite zur Verfü- Ibis) – angesiedelt am Hambur- Truppe, die wachsenden Anforde- gung stelle. Dies sei ein „nachhaltiger ger Institut für Theologie und Frie- rungen durch Auslandseinsätze so- Beitrag zur Verbesserung der ethi- den (ithf) – sollen Militärseelsorger wie mögliche Einsätze im Inland. schen Bildung“. Wichtige Einrich- für ihre Aufgabe, einen Beitrag zur – Die katholischen Bischöfe in tungen der Bundeswehr wie Univer- ethischen Bildung der Soldaten im Deutschland hatten bereits Ende sitäten, die Führungsakademie Ham- Rahmen des Lebenskundlichen Un- 2005 die wachsende Bedeutung burg und das Zentrum Innere Führung terrichts zu leisten, fortgebildet wer- der „Inneren Führung“ bei der Koblenz wollen mit zebis kooperieren. den. Darüber hinaus soll das Zent- Bundeswehr betont und vor deren Das Evangelische Kirchenamt für die rum Bundeswehr-Angehörigen, die Infragestellung oder Nivellierung Bundeswehr ist zur Mitwirkung ein- in Führungsverantwortung stehen, be- gewarnt.2 geladen. rufs- und friedensethische Qualifika- tionen anbieten. Das seit dem 1. März 2010 von der Sozialethikerin Dr. Veronika Bock (47) geleitete Zentrum wurde am 12. April vom Katholischen Militärbi- schof Dr. Walter Mixa im Haus der kirchlichen Dienste des Erzbistums feierlich eröffnet. Unter den Vertretern aus Politik, Bundeswehr und Kirche befanden sich u.a. der ehemalige Generalinspekteur Gene- ral a.D. Wolfgang Schneiderhan, der Kommandeur der Führungsakademie Robert Bergmann und der Kommandeur des Zentrums In- nere Führung Alois Festakt zur Eröffnung des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften. Bach. Das Erzbistum Hamburg ver- In der ersten Reihe v.r.: Brigadegeneral Alois Bach (Kdr ZInFü Koblenz), trat Weihbischof Norbert Werbs. Die a.D. Wolfgang Schneiderhan (ehem. Generalinspekteur), Dr. Heinz- Eröffnungsveranstaltung, die vom Gerhard Justenhoven (Direktor ithf), Weihbischof Norbert Werbs (Erzbistum Bläserensemble Elbe-Brass musika- Hamburg), Militärbischof Dr. Walter Mixa. lisch begleitet wurde, moderierte der Direktor des ithf Dr. Heinz-Gerhard Justenhoven. Die Bundeswehr begrüßt in einer In seinem Grußwort wies Bischof Mit der zebis-Gründung reagiert Äußerung des STAL FüS I, Brigade- Werbs auf Johannes den Täufer hin, die katholische Kirche in Deutsch- general Reinhard Kloss, das zebis der auf die Frage von Soldaten, „Was land u.a. auf zwei von ihr bemängelte als „hochrangige Ausbildungsein- sollen wir tun?“, antwortete: „Tut nie- Feststellungen: mandem Gewalt an, erpresst nieman- – Das „Weißbuch 2006 zur Sicher- historische Bildung. Die Intensivierung den und begnügt euch mit eurem Sol- der ethisch-moralischen und inter- heitspolitik und zur Zukunft der kulturellen Bildung trägt dazu bei, die de“ (Lk 3,14). Dies zeige, so der Bi- Bundeswehr“ macht keine we- Handlungsfähigkeit von Soldatinnen schof, dass der militärische Dienst sentlichen Ausführungen zu ethi- und Soldaten in ethischen Konfl iktsi- neben einer ethischen auch eine theo- tuationen und in einem durch kulturelle schen Fragen des Soldatenberu- Unterschiede geprägten Einsatzgebiet logische Dimension habe und der Sol- fes. Erst gegen Ende des 170-sei- zu stärken. dat sich letztlich Gott gegenüber zu tigen Weißbuchs ist die Rede von 2 vgl. Die deutschen Bischöfe, Soldaten verantworten habe. ethischen Konfliktsituationen.1 Im als Diener des Friedens. Erklärung zur Der Kommandeur der Führungs- Stellung und Aufgabe der Bundeswehr akademie, Generalmajor Robert Berg- 1 Weißbuch 2006, Kap. 7.5, S. 164: vom 29.11.2005, herausgegeben vom „Vor allem Offi ziere und Unteroffi ziere Sekretariat der Deutschen Bischofskon- mann, merkte an, verantwortliches erhalten eine umfassende politische und ferenz, Bonn 2005. Handeln entspreche den Grundsät-

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 5 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK zen der Inneren Führung und dem dern um die moralische Willensbil- Zeitdruck und in Krisensituationen Bild des Soldaten in der Demokratie. dung bei allen Soldaten, besonders richtig bewerten zu können. Deshalb werde an den Bildungsein- aber der Führer. Diese hätten neben Nachstehend das Redemanu- richtungen der Streitkräfte ethische den allgemeinen Tugenden besonders skript des Katholischen Militärbi- Kompetenz vermittel. Hierbei gehe ihre moralische Urteilsfähigkeit zu schof zur Eröffnung sowie die Äuße- es nicht um die Stärkung der Moral schulen, um die Voraussetzungen und rungen der Leiterin zur Konzeption der Truppe, betonte der General, son- Wirkungen eigenen Handelns unter des zebis:

Militärbischof Dr. Walter Mixa anlässlich des Festaktes zur Eröffnung des Zentrums für ethische Bildung in den Streitkräften (zebis)

m 1. März dieses Jahres habe ich Das Zentrum für ethische Bildung kompetenz gründende Entscheidung Adas Zentrum für ethische Bildung in den Streitkräften soll ein Ort für die gefordert ist. in den Streitkräften (zebis) hier am maßgeblichen Debatten hinsichtlich Ethische Bildung ist dabei immer renommierten Institut für Theologie der ethischen Aspekte des soldati- mehr als ein rein kognitiver Vorgang. und Frieden in Hamburg gegründet. schen Dienstes werden, die dann wie- Sie ist zugleich Gewissensbildung Mit der Einrichtung des Zentrums für derum in Gesellschaft, Politik und in und verbunden mit der Entwicklung ethische Bildung in den Streitkräften die Kirchen hineinwirken. lebenspraktisch wirksamer Werthal- will ich die ethische Reflexion und Besondere Bedeutung hat das ze- tungen. In unseren alltäglichen Ent- Orientierung in den Streitkräften stär- bis gerade im Blick auf die wachsen- scheidungssituationen sehen wir uns ken und ausbauen. Zugleich soll da- den Belastungen deutscher Soldaten in aller Regel nicht mit der einfa- mit Zeugnis von einer Friedensethik und Soldatinnen bei Auslandseinsät- chen Unterscheidung von Schwarz und abgelegt werden, die dem Ernst der zen. Sie müssen Entscheidungen tref- Weiß, sondern mit einem Spektrum anstehenden Fragen dieser Zeit ge- fen, die über das Wohl und Wehe an- von Grautönen konfrontiert, an dem recht wird. derer, oft aber auch über das eigene sich die moralische Unterscheidungs- Die Militärseelsorgerinnen und Schicksal bestimmen. fähigkeit erst zu erweisen hat. Diese Militärseelsorger leisten dazu einen – Welche Tragweite ihre Entschei- Unübersichtlichkeit vieler ethischer wertvollen Beitrag. Die neue Zentrale dungen haben können, mussten Entscheidungssituationen hat mit der Dienstvorschrift 10/4 „Selbstverant- und müssen wir immer wieder neu anwachsenden Komplexität unserer wortlich leben – Verantwortung für erfahren? gesellschaftlichen Wirklichkeit zu tun. andere übernehmen können“ überträgt – Welche Möglichkeiten bleiben den Dies zeigt sich in besonderer Weise im ihnen (den Seelsorgern/-innen) mit der Soldaten, die eigene Urteils-und Umgang mit militärischen Gewaltmit- Durchführung des Lebenskundlichen Handlungsfähigkeit zu bewahren teln. Die Auswirkungen von militäri- Unterrichts eine wichtige Aufgabe. – gerade in Situationen, in denen schen Entscheidungen sind oft gra- Die unterschiedlichen Fortbil- notwendige Entscheidungen unter vierend und nicht selten irreversibel. dungsformate und -Inhalte des zebis Zeitdruck, bei Ungewissheit über Der hohe sittliche Ernst militärischer werden die Militärseelsorgerinnen und mögliche Folgen und oftmals un- Entscheidungen ist daher deutlich her- Militärseelsorger dabei unterstützen, ter Bedingungen der Fremd-und vorzuheben. Verstärkend kommt hin- damit sie ihren Beitrag zur berufs- Selbstgefährdung getroffen wer- zu, dass militärische Kampfsituationen ethischen Bildung des Soldaten und den müssen? unter einem erheblichen, nicht zuletzt der Soldatin noch qualifizierter leisten – Welches moralische Selbstver- zeitlichen Druck erfolgen. Will man können. Das Fortbildungsangebot des ständnis trägt in derartigen Situ- Gewaltdynamiken und die mit ihnen zebis zu individualethischen Fragen ationen? verbunden Folgen minimieren, sind sowie aktuellen friedensethischen und – Wann und wie darf und muss entsprechende Haltungen und Hand- sicherheitspolitischen Themen richtet ich mich selbst und die mir zum lungen vorher einzuüben. sich darüber hinaus auch an weitere Schutz Anvertrauten verteidigen? Das Konzept der Inneren Führung, Angehörige in der Bundeswehr – zumal All das sind im Einzelfall sehr das wir deutschen Bischöfe zuletzt in an solche in Führungsverantwortung. schwer zu treffende Entscheidungen. unserer Erklärung „Soldaten als Die- Im zebis sollen zunächst die Kom- Charakteristisch für solche Kon- ner des Friedens“ (2005) noch einmal petenzen all derjenigen gebündelt wer- fliktsituationen ist die Konkurrenz un- ausdrücklich befürwortet haben, ver- den, die an den unterschiedlichen Or- terschiedlicher Werte und Pflichten, sucht dies seit Jahrzehnten mit beacht- ten in der Bundeswehr in der ethischen die verschiedene Handlungsmöglich- lichem Erfolg. Es zeichnet die Kultur Bildung tätig sind. Dazu zählen natür- keiten erlauben und immer ein Abwä- der Inneren Führung aus, dass sie be- lich auch die qualifizierten externen gen der jeweiligen Folgen beinhalten. müht ist, einen Freiheitsspielraum zu Fachkräfte in den Erwachsenenbil- Hier geht es um Ermessensfragen, in schaffen, in dem eine Auseinanderset- dungseinrichtungen der Kirchen und denen die eigene verantwortliche, d.h. zung mit friedensethischen Themen Akademien. die auf Recht und moralische Urteils- möglich wird. Sie tut dies mittels einer

6 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK auf ethische Bildung und Einübung dung deutscher Truppen in multinati- gewiesene Sozialethikerin mit lang- beruhenden Stärkung von Haltungen, onale Strukturen bei Auslandseinsät- jähriger Erfahrung in Forschung und die dem sittlichen Ernst der Anwen- zen führt darüber hinaus zur Konfron- Lehre als Leiterin für dieses Institut dung von militärischer Gewalt ange- tation mit fremden Führungskulturen, gewonnen zu haben. Für Ihre verant- messen sind. die zum Teil auch durch andersge- wortungsvolle Aufgabe wünsche ich Allerdings haben wir deutschen artete Wertestandards geprägt sind. Ihnen, liebe Frau Dr. Bock, und Ih- Bischöfe wiederholt mit Sorge festge- Soldaten und Soldatinnen begeg- rem Mitarbeiter alles Gute und erbitte stellt, dass das Konzept der Inneren nen überdies im Rahmen ihres Aus- Gottes Segen. Führung von verschiedenen Seiten landseinsatzes nicht selten Lebens- Der Gedanke ein Zentrum für her unter Druck gerät. Insbesondere verhältnissen, die dem eigenen Ver- ethische Bildung in den Streitkräften die zunehmende Bedeutung der Aus- ständnis eines menschenwürdigen zu gründen, wurde im ökumenischen landseinsätze, die damit verbundenen Lebens zutiefst widersprechen – etwa Gespräch geboren und ausformuliert. Anforderungen an die Interoperabili- die Konfrontation mit Not, Elend, Dis- Daher hoffe ich, dass die Arbeit an tät in multinationalen Einsätzen oder kriminierung und Gewalt gegenüber diesem Zentrum in ökumenischer Of- Verbänden bringen die Gefahr einer hilflosen Menschen. fenheit zur ethischen Bildung in den Nivellierung des Konzepts der Inne- Mit Blick auf die Komplexität Streitkräften beiträgt und für die Kir- ren Führung mit sich.1 Die Einbin- dieser Fragestellungen freue ich che unter den Soldaten ökumenische 1 vgl. Die deutschen Bischöfe, a.a.O. S. mich, mit Frau Dr. Bock eine aus- Impulse setzt 10-12.

Dr. Veronika Bock zur Konzeption von zebis

… ich danke Ihnen, Herr Bischof – Wie bildet sich das Gewissen he- Hier spielen nicht nur Faktoren Mixa, dass Sie mir diese verantwor- raus? wie die Konfrontation mit unauslösch- tungsvolle und wichtige Aufgabe der – Gibt es Menschen ohne Gewis- baren Erlebnissen und Bildern eine Leitung des Zentrums für ethische Bil- sen? zentrale Rolle – der US-amerikani- dung in den Streitkräften übertragen – Wie frei ist der Mensch wirklich haben. Und ich freue mich mit meiner in seinen Entscheidungen? Familie nach Hamburg zurück- und – Die Frage nach Verantwortung heimgekehrt zu sein. und Schuld. Ich denke sehr gerne an meine Zeit an der Helmut-Schmidt-Univer- Ich werde diese Fragen konkreti- sität als wissenschaftliche Mitarbeite- sieren vor dem Hintergrund der ethi- rin am sozialethischen Lehrstuhl von schen Herausforderungen, mit denen Herrn Professor Hoppe zurück. Die sich die Bundeswehr, die einzelne Auseinandersetzung dort mit Themen Soldatin, der einzelne Soldat in Aus- der Allgemeinen Ethik, mit frieden- landseinsätzen gegenwärtig konfron- sethischen und sicherheitspolitischen tiert sieht. Fragen und aktuellen Menschen- So wurde ich in einem Interview rechtsthemen bilden den Hintergrund zum zebis gefragt: „Wie greifen Sie in für meine geplanten Schwerpunktset- ihren Seminaren den Gegensatz auf, zungen im zebis. Und sie lässt mich dass sich die Bundeswehr an gewisse eine Position innerhalb der theologi- ethische Maßstäbe und Regeln halten schen Friedensethik vertreten, wie sie soll, bzw. hält, die Aufständischen in im Schreiben der Deutschen Bischö- den Einsatzgebieten dies aber nicht Militärbischof Mixa überreicht fe „Gerechter Friede“ aus dem Jahr tun? Wie geht das zebis mit solch ei- Dr. Veronika Bock, die 2000 ihren Ausdruck findet. nem Dilemma um, wenn der Gegner Ernennungsurkunde zur Leiterin Ich möchte Fragen der Allgemei- sich nicht an minimale ethische Vor- zebis und betont, dass er sich mit nen Ethik und Moraltheologie verbin- gaben hält?“ Blick auf die Komplexität der von den mit Themen der Angewandten Neben der Frage der interkultu- ihm aufgezeigten Fragestellungen Ethik, noch genauer: der Politischen rellen Geltung von Menschenrechten freue, mit Frau Dr. Bock eine Ethik und der Friedensethik – wie die möchte ich das Phänomen der Post- ausgewiesene Sozialethikerin mit Frage nach der interkulturellen Gül- traumatischen Belastungsstörung zu langjähriger Erfahrung in Forschung tigkeit von Moralprinzipien wie der einem Schwerpunkt der Seminare in und Lehre als Leiterin für dieses Menschenwürde; so beispielsweise diesem Jahr machen. Posttraumatic Institut gewonnen zu haben. „Für die Frage nach der Universalität von stress disorder (PTSD) – ein Begriff Ihre verantwortungs¬volle Aufgabe Menschenrechten, oder die Frage: der psychische Reaktionen auf Ext- wünsche ich Ihnen und Ihrem – Was hat es mit dem Phänomen Ge- rembelastungen wie Auslandseinsätze Mitarbeiter alles Gute und erbitte wissen überhaupt auf sich? zu fassen sucht. Gottes Segen.“

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 7 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK sche Psychoanalytiker Robert Jay Lif- Konzeptionell sehe ich das zebis verantwortung entwickeln, die als ton spricht vom „death imprint“, vom als didaktische Verlängerung und Multiplikatoren für die Ethikver- „Todesstempel“ –, sondern auch mo- Übersetzung dieser Forschungsar- mittlung und die ethische Bildung ralische und sozialethische Aspekte, beit in Akademieformate. Akade- eingesetzt werden. wie Schuldgefühle der Betroffenen, mieformate unterschiedlichen Zu- Dies will und kann das zebis die Einordnung des Erlebten in ein schnitts – Podiumsdiskussionen nicht allein stemmen, sondern in (möglichst) sinnhaftes Ganzes und oder ein- bis dreitägigen Seminare Kooperation mit den sozialethischen die Akzeptanz oder eben Nicht-Ak- – hier in Hamburg, aber auch in an- Lehrstühlen an den Universitäten zeptanz, auf die der Einzelne in der deren Städten. der Bundeswehr, mit dem Bereich Gesellschaft und Öffentlichkeit stößt. Oder Formen des E-Learning, der sozialethischen Lehre und For- Seit sechs Wochen arbeite ich also der Aufbau einer Internetplatt- schung an der Führungsakademie als Direktorin des zebis im Institut form, auf der – zielgruppenspezifisch der Bundeswehr, mit dem Zentrum für Theologie und Frieden – und ich – Unterrichtsmaterialien zur Förde- für Innere Führung und dem So- kann sagen: Ich fühle mich dort sehr rung der ethischen Kompetenz in zialwissenschaftlichen Institut der wohl und gut aufgehoben. Ich finde den Streitkräften zur Verfügung ge- Bundeswehr. Sie sehen allein an es spannend, an welchen Themen stellt werden. dieser – immer noch unvollständi- die Wissenschaftlerinnen und Wis- Die erste Zielgruppe der Quali- gen – Auflistung, wie viele Akteure senschaftler im Institut arbeiten: an fizierungsangebote wurde von mei- der Ethikvermittlung und -bildung der Fortentwicklung des humanitä- nen Vorrednern schon genannt: die es in der Bundeswehr gibt. Und ich ren Völkerrechts, also an Fragen des Militärseelsorgerinnen und Militär- freue mich sehr, dass Vertreter all ius in bello. So fand am vergangenen seelsorger. Darüber hinaus will das dieser Institutionen heute zu die- Samstag eine Tagung zur Zulässigkeit zebis die Qualifizierung von Lehr- sem Festakt, zur feierlichen Eröff- des Targeted Killing, des gezielten kräften außerhalb der Bundeswehr nung des zebis gekommen sind – ein Tötens, statt. zur Durchführung des Lebenskund- gutes Signal für die zukünftige Zu- Weitere Forschungsschwerpunk- lichen Unterrichts weiter fördern sammenarbeit! te sind die responsibility to protect, und ausbauen. Sie, verehrter Herr Bischof, ha- deren Bedeutung der Papst in seiner Über den unmittelbaren Kontext ben in Ihrem Grußwort bereits auf UNO-Rede hervorgehoben hat, Ge- des Lebenskundlichen Unterrichts die ökumenische Offenheit des Zen- walt und Islam, Cicero und das bel- hinaus will das zebis Seminarange- trums verwiesen – auch dies ist mir lum iustum oder das dunkle Kapitel bote zur Qualifizierung von Angehö- neben den genannten Inhalten und der Kindersoldaten. rigen der Streitkräfte in Führungs- Kooperationen ein Anliegen. … ❏

Zwischen Politik und Völkerrecht Die Probleme der deutschen Soldaten in Afghanistan mit ihren Politikern

VON KLAUS ACHMANN1

eit 2001 ist die Bundeswehr auf knapp eine Woche später das Feuerge- sacht durch Politiker, die unbequemen Wunsch der afghanischen Re- fecht mit vier Toten und fünf Schwer- Fragen ausweichen wollten und durch Sgierung als Teil der International verletzten. Gab es dafür vermeidbare Generäle, die es versäumten, die nö- Security Assistance Force (ISAF) in Ursachen? tigen Forderungen zu stellen. Heute Afghanistan. Nach Angaben der Bun- Die Nordregion Afghanistans, seit werden unsere Soldaten mit den ihnen deswehr gab es dort bisher 43 tote Sol- 2006 das Verantwortungsgebiet der zur Verfügung stehenden Mitteln der daten, davon sind 22 Soldaten durch Bundeswehr, war relativ ruhig, als der Taliban kaum noch Herr. Fremdeinwirkung (Gefechte, Anschlä- Einsatz begann. Die deutsche Politik Am Karfreitag waren unsere Sol- ge, Minen usw.) gefallen, 146 Soldaten war darüber erleichtert und sah nur die daten in heftige Kämpfe verwickelt. wurden verwundet. Zuletzt fielen am Notwendigkeit eines reinen Stabilisie- Sie hatten weder Kampfhubschrauber Karfreitag drei Soldaten, acht weite- rungseinsatzes. Sie vergaß die Gärt- noch andere dringend benötigte schwe- re wurden zum Teil schwer verwundet, nerpflicht, das überall aufkeimende re Waffen. Die Kampfflugzeuge, die 1 Dr. jur. Klaus Achmann, a.D., Unkraut rechtzeitig zu jäten, also kon- über ihnen kreisten („show of force“), 1998-2003 Vorsitzender des GKS-Sach- sequent jede Tätigkeit der Taliban zu griffen nicht ein: Seit der Oberkom- ausschusses „Sicherheit und Frieden, unterbinden – bis es zu spät war und mandierende der NATO-Streitkräfte 1999-2004 Vertreter der GKS in der Dt. schließlich Krieg herrschte. Die Selbst- in Afghanistan, der US-General Stan- Kommission „Justitia et Pax“, 2000- 2007 Bundesgeschäftsführer der GKS. täuschung, es handele sich nur um ei- ley McChrystal, den möglichst weitge- nen Stabilisierungseinsatz, war verur- henden Schutz von Zivilpersonen an-

8 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK geordnet hat und seit sich Oberst Ge- kutiert, ob die Entscheidung von Oberst Zweifellos wurde in Afghanistan org Klein wegen des Angriffs auf die Klein nach deutschem Strafrecht oder viel erreicht: Tausende von Schulen Tanklastwagen in der Nähe von Kundus nach Kriegsvölkerrecht zu beurteilen wurden errichtet, Millionen von Kin- heftigsten Vorwürfen ausgesetzt sieht, sei. Diese Ungewissheit ist für die Sol- dern – davon mehr als ein Drittel Mäd- wagt niemand mehr, einen Luftangriff daten vor Ort – und besonders natürlich chen – konnten den Unterricht besu- zu befehlen, der das Leben von Zivilis- für Oberst Klein – in jeder Hinsicht un- chen. Ein großer Teil der Bevölkerung ten kosten könnte. zumutbar. Allzu lange haben die Poli- kann medizinisch versorgt werden. In- Dies ist politisch und auch ethisch- tiker die Augen vor der Notwendigkeit frastruktur wurde wieder hergestellt, moralisch sinnvoll. Gleichwohl sollte verschlossen, Klarheit zu schaffen. eine rechtsstaatliche Verfassung ver- die Rechtslage klar sein: Die NATO- Schon 2002 hatte Deutschland die abschiedet, in vielen Bereichen wurde Streitkräfte in Afghanistan handeln in Verantwortung für den Aufbau und die die Sicherheit verbessert. Dem stehen einem nicht internationalen bewaffne- Ausbildung der neuen afghanischen Probleme und Rückschläge gegenüber: ten Konflikt im Sinne des humanitären Polizeikräfte übernommen, diese Mis- Das Erstarken der Taliban, dadurch Völkerrechts, sie sind legitimiert u.a. sion jedoch durch Unterfinanzierung verursacht der Rückgang des Schul- durch die Resolutionen 1386 (2001) und personelle Unterbesetzung fak- besuches, die Manipulationen bei den und 1890 (2009) des VN-Sicherheitsrat tisch scheitern lassen. Nach langen Präsidentenwahlen, Korruption und und sie sind in Afghanistan auf Einla- Jahren hat die Bundesregierung jetzt Drogenanbau, die Macht der Warlords, dung der afghanischen Regierung. In endlich ein schlüssiges Afghanistan- die Verzögerungen bei der Ausbildung dieser Situation ist es rechtlich nicht Konzept beschlossen, das den nötigen von Polizei und Militär und manches zu beanstanden, wenn nicht direkt am Schwerpunkt auf den zivilen Aufbau, andere. Kampf beteiligte Zivilpersonen bei ei- auf die Polizeiausbildung und auf die Die Diskussionen über den Abzug nem Angriff auf militärische Ziele un- militärische Ausbildung legt. Wenn es der westlichen Truppen sind einerseits beabsichtigt getötet werden, sofern der gelingt, diese Ziele zu erreichen und nötig, um die Perspektive einer selbst Angriff der militärischen Notwendig- Stabilität in Afghanistan herzustellen, tragenden Stabilität in Afghanistan als keit und der Verhältnismäßigkeit ent- werden auch die Voraussetzungen für realistisches Ziel im Auge zu behalten, spricht (§ 11 Abs. 1 Nr. 3 des deutschen einen Abzug der deutschen Truppen ge- andernfalls gefährlich, weil es nicht zu Völkerstrafgesetzbuchs). Freilich wird geben sein. Die Afghanistan-Konferenz einer Situation kommen darf, in der die die Mission der westlichen Truppen in in London am 28. Januar 2010 hat die- Aufständischen damit rechnen können, einem solchen Fall in den Augen der se Zielsetzung bestätigt. Fachleute, da- ihre Ziele ohne Verhandlungen und einheimischen Bevölkerung in Frage runter auch Soldaten wie zum Beispiel Kompromisse durch schlichtes Zuwar- gestellt. Da es in Afghanistan häufig die Gemeinschaft Katholischer Solda- ten erreichen zu können. Daher muss kaum möglich ist, zwischen bewaffne- ten, fordern schon seit 2004 ein solches der zivile Aufbau energisch vorange- ten Kämpfern und unbeteiligten Zivi- Gesamtkonzept. Stattdessen wurde das trieben werden, die Ausbildung von listen zu unterscheiden, steht der je- Militär ständig unter Umständen ein- Polizei und Militär muss intensiviert weils verantwortliche Soldat oft in einer gesetzt, die weit hinter den möglichen werden, aber die westlichen Streitkräfte äußerst schwierigen Entscheidungssi- stabilen und friedlichen Zuständen zu- müssen gleichzeitig so lange wie nötig tuation. Politik und Öffentlichkeit in rück blieben, die das Ziel aller Bemü- in der Lage sein, ihren Auftrag zu er- Deutschland haben bisher nicht den hungen waren. füllen. Für das Bundeswehrkontingent Eindruck vermittelt, diese komplexe Die Bundeswehr ist eine Parla- in Afghanistan ist dies in die Diskussi- Situation umfassend zu verstehen und mentsarmee. Das Parlament hat mit on geraten. ❏ vorurteilsfrei zu bewerten. dem Anspruch, über alle Auslandsein- Bei dem von Oberst Klein befoh- sätze zu entscheiden, auch die ent- lenen Angriff wurde eine ganze Reihe sprechende Verantwortung übernom- von Mängeln deutlich, die nicht von den men. Aber das Hauptthema im Deut- Soldaten vor Ort zu verantworten sind. schen Bundestag ist seit Wochen nicht Ermittlungsverfahren eingestellt Es fehlte ein strategisches Aufklärungs- die Frage, wie der zivile und militä- Die Bundesanwaltschaft system, es fehlten Kampfhubschrau- rische Einsatz in Afghanistan erfolg- hat nach einer Mitteilung vom ber, es fehlte eine Reserve an Kräften. reich und mit möglichst wenigen Ver- 19. April das Ermittlungsver- Unabhängig von der Frage, ob Fehler lusten an Menschen zu Ende geführt fahren gegen Oberst Georg begangen wurden, trugen diese Män- werden kann. Vielmehr wird detailliert Klein wegen des Luftangriffs gel dazu bei, dass es zu dem Angriff untersucht, wer nach der so genannten bei Kundus eingestellt. Klein auf die Tanklastwagen kam. Erst jetzt Kundus-Affäre wem wann welche In- und sein Flugleitoffizier haben begann in Deutschland die politische formationen und Berichte weitergege- bei dem Bombardement am Debatte über Defizite bei Ausbildung ben hat. Ausrüstung und Ausbildung 4.9.2009 mit zahlreichen To- und Ausrüstung der in Afghanistan ein- unserer Soldaten wurden nicht einmal ten und Verletzten weder gegen gesetzten Soldaten. nach den Mahnungen des Wehrbeauf- die Vorschriften des Völkerstraf- Nach dem Angriff auf die Tank- tragten in seinem letzten Bericht dis- gesetzbuches noch gegen die lastwagen mit den vielen toten Taliban- kutiert, sie geraten nur gelegentlich in Bestimmungen des deutschen kämpfern und Zivilpersonen wurde in das Blickfeld, wenn es gerade wieder Strafgesetzbuches verstoßen. Deutschland über Monate hinweg dis- einmal Tote gegeben hat.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 9 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK Angela Merkel nimmt historische Herausforderung an Regierungserklärung zu Afghanistan in Auszügen

n ihrem Vorwort zum Weißbuch „Zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ von 2006 fordert Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel „eine vorausschauende und nachhaltige, letztlich erfolgrei- Iche Sicherheitspolitik, die zivile und militärische Instrumente auf einander abstimmen und zum Einsatz brin- gen muss.“ Damit war ihre Richtlinienkompetenz als Kanzlerin gefordert (vgl. AUFTRAG 264 vom Dez. 2006 „Eine historische Herausforderung für Angela Merkel“). Mit ihrer Regierungserklärung vom 22. April 2010 hat sie sich endgültig dieser historischen Herausforderung gestellt, wohl wissend, dass Afghanistan ein schwieriger Fall für eine „Friedenskonsolidierung in der Konfliktfolgephase“ ist. Im Folgenden werden wesentliche Aussagen ihrer Regierungserklärung zu Afghanistan wiedergegeben und am Schluss durch Klaus Liebetanz kommentiert. Die Zwischenüberschriften wurden von dem Kommentator eingefügt.

Die Bundeskanzlerin steht zu den Konflikt im Sinne des humanitä- ghanistan. Das lohnt sich, und das ist gefallenen deutschen Soldaten ren Völkerrechts zu qualifizieren.“ mancher Mühe wert. Dadurch alleine eder einzelne gefallene Soldat Das, meine Damen und Herren, ist könnte der Einsatz unserer Soldaten „Jverpflichtet deshalb uns alle, das, was landläufig als kriegerische dort aber nicht gerechtfertigt werden. sorgsam mit seinem Andenken um- Handlung oder Krieg bezeichnet wird. In so vielen anderen Ländern die- zugehen. Unser Entwicklungshilfemi- Jedem Mitglied dieses Hauses, das ser Welt werden die Menschenrechte nister Dirk Niebel hat die drei Toten sich ernsthaft mit dieser Frage be- missachtet, werden Ausbildungswege des Karfreitags zurück nach Deutsch- schäftigt hat – und das unterstelle verhindert, sind Lebensbedingungen land begleitet. Unser Verteidigungs- ich jedem von uns – , war dies vor der katastrophal und trotzdem entsendet minister Karl-Theodor zu Guttenberg Abstimmung über das aktuelle Man- die internationale Gemeinschaft kei- ist unmittelbar nach dem Gefecht der dat bewusst. Wir können von unseren ne Truppen, um sich dort militärisch vergangenen Woche zurück nach Ma- Soldaten nicht Tapferkeit erwarten, zu engagieren. Nein, in Afghanis- sar-i-Scharif geflogen. Ich bin vor zwei wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu tan geht es noch um etwas anderes. Wochen nach Selsingen zur Trauerfei- dem zu bekennen, was wir beschlos- Der berühmte Satz unseres früheren er gefahren, und ich werde am Sams- sen haben.“ Verteidigungsministers Peter Struck tag gemeinsam mit dem Bundesau- bringt das für mich auf den Punkt. ßenminister und dem Bundesverteidi- Merkel beruft sich auf Obama Er sagte vor Jahren: ‚Die Sicherheit gungsminister in Ingolstadt sein. Wir „Anlässlich der Verleihung des Deutschlands wird auch am Hindu- alle haben das nicht allein als Regie- Friedensnobelpreises am 10. Dezem- kusch verteidigt.‘ Bis heute hat nie- rungsmitglieder getan, wir tun es auch ber des letzten Jahres hat der ameri- mand klarer, präziser und treffender – wie viele andere aus diesem Hohen kanische Präsident Barack Obama ausdrücken können, worum es in Af- Hause – als Abgeordnete des Deut- gesagt: ghanistan geht. Bislang ist diesem schen Bundestages. Denn auch als ‚Ja, die Mittel des Krieges spielen Satz aber vielleicht noch nicht eine Abgeordnete haben wir diesen Ein- eine Rolle in der Erhaltung des Frie- ausreichende Debatte darüber ge- satz beschlossen und damit die Ver- dens. Und doch muss diese Wahrheit folgt, was genau es bedeutet, wenn antwortung dafür übernommen, was neben einer anderen bestehen, näm- wir sagen: Deutschlands Sicherheit mit unseren Soldatinnen und Solda- lich der, dass Kriege menschliche Tra- wird auch am Hindukusch verteidigt.“ ten geschieht. Das, was unsere toten gödien bedeuten, wie gerechtfertigt Soldaten für uns getan haben, hat im sie auch immer sein mögen. Der Mut Auch Deutschland ist im Visier des Mittelpunkt unseres öffentlichen An- des Soldaten ist ruhmreich, ein Aus- internationalen Terrorismus denkens zu stehen.“ druck der Aufopferung für sein Land, „Es wäre jedoch ein Trugschluss für die Sache und für seine Waffen- zu glauben, Deutschland wäre nicht Deutschland führt Krieg in Afghanistan brüder. Doch der Krieg selbst ist nie- im Visier des internationalen Terro- „Am 10. Februar dieses Jahres mals ruhmreich, und wir dürfen ihn rismus. Die Anschläge des 11. Sep- hat Bundesaußenminister Guido Wes- niemals so nennen.‘“ tember haben uns ahnen lassen, was terwelle für die Bundesregierung vor sich mittlerweile bestätigt hat: dass diesem Hohen Haus erklärt: Deutschland wird auch am Hindukusch sich unter den Bedingungen der Glo- „Die Intensität der mit Waffen- verteidigt balisierung die Herausforderungen an gewalt ausgetragenen Auseinander- „Dass afghanische Frauen heute unsere Sicherheitspolitik nach dem setzung mit Aufständischen und de- mehr Rechte als früher haben, dass Ende des Kalten Krieges drastisch ren militärischer Organisation führt Mädchen zur Schule gehen dürfen, gewandelt haben. Es wird in Zukunft uns zu der Bewertung, die Einsatz- dass Straßen gebaut werden und dass weit weniger als bisher um Konflikte situation von ISAF auch im Nor- vieles, vieles mehr geschafft wurde, ist zwischen Staaten gehen. Es sind die den Afghanistans als bewaffneten das Ergebnis unseres Einsatzes in Af- asymmetrischen Konflikte, die unsere

10 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK sicherheitspolitische Zukunft domi- walt und Terror abzuschwören. Es ist chen Ordnung zu unterstützen, und nieren werden. Es sind Taliban und ein Angebot an alle, die sich am Auf- zwar weil das unserer eigenen Sicher- ihre Verbündeten in Afghanistan, die bau einer guten Zukunft ihres Landes heit dient. Das ist der Auftrag, den sich hinter Stammes- und Dorfstruk- beteiligen wollen. Die Londoner Stra- die NATO und ihre Verbündeten, also turen unerkannt verstecken und da- tegie sieht vor, die afghanischen Si- auch die Soldatinnen und Soldaten mit selbst hinter Frauen und Kindern, cherheitskräfte so auszubilden, dass der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist um dann mit militärischen Mitteln zu- sie schnellstmöglich in die Lage ver- richtig: Sicherheit kann es auf Dauer zuschlagen. Es sind Piraten vor der setzt werden, für die Sicherheit und nicht ohne Entwicklung geben; aber Küste Somalias, die mit räuberischen Stabilität ihres Landes selbst zu sor- genauso richtig ist: Sicherheit ist die Attacken unsere Handelswege in Ge- gen. Bereits 2011 wollen wir mit der Voraussetzung jeder Entwicklung und fahr bringen. Es sind die Gefahren, die Übergabe in Verantwortung beginnen. die Voraussetzung dafür, dass sich in nicht dem klassischen, dem gewohn- Die Londoner Strategie stimmt un- einem Land wie Afghanistan nicht ten Muster von Konflikten und Krie- sere Aufbau- und Ausbildungsleis- wieder Brutstätten des internationa- gen entsprechen, die auch aus weiter tung mit den Entwicklungsmaßnah- len Terrorismus bilden, die uns in Eu- Entfernung in Windeseile direkt zu men unserer Partner genau ab. Die ropa und der Welt bedrohen können. uns gelangen können.“ Londoner Strategie hat ausdrücklich Das eine ist die Voraussetzung des eine regelmäßige Überprüfung von anderen. Die internationale Gemein- Merkel fordert den gesellschaftlichen Benchmarks, Zielen und Maßnahmen schaft wird ihre militärische Präsenz Rückhalt festgelegt. Eine erste Bilanz wird die so lange aufrechterhalten, wie es nö- „Dies ist wichtiger denn je. Denn nächste Konferenz am 20. Juli in Ka- tig ist, nicht länger, aber auch nicht die Bundeswehr wird ihren Auftrag bul ziehen, an der der Bundesaußen- kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf nur dann erfüllen können, wenn sie minister teilnehmen wird.“ Dauer angelegt, aber auf Verlässlich- sich auf den nötigen Rückhalt in der keit. Das ist der Kern der Übergabe Gesellschaft verlassen kann und wenn Voraussetzungen für die Übergabe in Verantwortung, die wir in London dieser Rückhalt auch sichtbar wird. in Verantwortung eingeleitet haben und die wir erfolg- Auf der Grundlage dieses rechtlichen „In einem Wort: Die Londoner reich beenden werden.“ Rahmens für unsere Bundeswehr sage Strategie schafft die Voraussetzungen ich unmissverständlich: Zum Einsatz für eine Übergabe in Verantwortung. Abschließende Kommentierung der Bundeswehr im multilateralen Darum, um eine Übergabe in Verant- Mit der Entscheidung für eine Rahmen wie den Vereinten Nationen, wortung, hat es der internationalen Strategie, die den Vorrang der zivi- der Europäischen Union und der Nato Staatengemeinschaft zu gehen, nicht len Mittel (effektiver, rechtstaatli- sind wir bereit, wenn er dem Schutz um einen Abzug in Verantwortungs- cher Polizeiaufbau, wirksamer wirt- unserer Bevölkerung oder dem unse- losigkeit wie auch nicht um den Ver- schaftlicher Wiederauf- und Aus- rer Verbündeten dient. Wer deshalb such, Afghanistan zu einer Demokra- bau zu Gunsten auch der einfachen heute den sofortigen, womöglich sogar tie nach westlichem Vorbild zu ma- Bevölkerung und die Förderung von alleinigen Rückzug Deutschlands un- chen. Das missachtete entweder un- rechtstaatlichen Instrumenten, wie abhängig von seinen Bündnispartnern sere eigenen Sicherheitsinteressen, eine ordentliche Gerichtsbarkeit und aus Afghanistan fordert, der handelt oder es wäre zum Scheitern verurteilt, der Zivilgesellschaft) vor dem reinen unverantwortlich.“ weil es die kulturellen, historischen militärischen Einsatz setzt, beginnt und religiösen Traditionen der afgha- etwas völlig Neues und Zukunftwei- Die besondere Bedeutung der Londoner nischen Gesellschaft unberücksich- sendes. Wird diese Strategie auch in Afghanistan-Konferenz tigt ließe. Es ist wahr: Die Traditio- den zu erwartenden künftigen Kon- „Es ist deshalb in seiner Bedeu- nen der Stammesversammlungen und flikten so durchgesetzt, dann ist dies tung gar nicht hoch genug einzuschät- der Loya Jirga in Afghanistan sind ein wichtiger Schritt für die weitere zen, dass auf der Londoner Afghanis- uns nicht vertraut, sondern fremd. Entwicklung der Welt zu Frieden und tan-Konferenz vor gut drei Monaten Aber wahr ist auch: Sie sind eine ei- Gerechtigkeit. Damit fügt sich Ange- gemeinsam mit der neuen afghani- gene afghanische Tradition der kon- la Merkel in die Reihe ihrer histo- schen Regierung wichtige neue Wei- sensorientierten Entscheidungsfin- risch bedeutsamen Vorgänger im Amt chenstellungen unseres bisherigen dung, die auf ihre Weise Prinzipien ein, nämlich von Konrad Adenauer Vorgehens in Afghanistan vorgenom- von Rechtsstaatlichkeit ermöglichen und Helmut Kohl. Adenauer hat mit men wurden. Es wurde die Strategie kann. Nicht nur aufgrund meiner ei- der Einführung der „Sozialen Markt- der vernetzten Sicherheit verabschie- genen Erfahrung in der DDR halte wirtschaft“ zum Wohlstand der ein- det, in der die Sicherheitspolitik und ich den Rechtsstaat für die größte fachen Bevölkerung beigetragen und die Entwicklungspolitik eng mitein- zivilisatorische Errungenschaft der so letzten Endes den Untergang des ander verbunden sind. Menschheit.“ sozialistischen Lagers bewirkt, weil Die Londoner Strategie schließt dieses – im Vergleich zum Westen – alle politischen Kräfte Afghanistans Abzug nach Erfüllung der Voraussetzungen an seinen eigenen Ansprüchen ge- ein. Ja, es ist ein Angebot auch an „Es ist die vornehme Aufgabe der scheitert ist. Helmut Kohl hat durch diejenigen unter den Taliban und den internationalen Staatengemeinschaft, sein konsequentes Eintreten für die Aufständischen, die bereit sind, Ge- Afghanistan beim Aufbau einer sol- Einigung Europas dazu verholfen,

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 11 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK dass heute von Portugal bis kurz vor ausgeschlossen ist. Angela Merkels hat und die verschiedenen Bundes- St. Petersburg eine Zone entstanden historisches Verdienst besteht darin, ministerien auf ein gemeinsames ist, in der aus strukturellen Gründen dass sie angemessen von ihrer Richt- friedenspolitisches Ziel eingeschwo- ein Krieg innerhalb dieser Region linienkompetenz Gebrauch gemacht ren hat. ❏

Das Kundus-Syndrom Sicherheitspolitische Herausforderungen für die Deutsche Politik

nter dem oben genannten Titel te. Als Folge forderten im Juni 2003 Dies führte auch dazu, dass sich die hielt Winfried Nachtwei1 am knapp 80 Nichtregierungsorganisatio- Taliban-Kämpfer ebenso nach Norden UDienstag, den 13. April 2010, nen den NATO-Einsatz in der Fläche orientierten. Der Wechsel der Kampf- einen Vortrag bei der DAG (Deutsche des Landes, was dazu führte, dass die weise der Aufständischen von „hit and Atlantische Gesellschaft) im Haus der Verantwortlichkeiten in Afghanistan run“ hin zu militärisch geführten Ope- Geschichte in Bonn. Nach der Begrü- neu verteilt wurden. Ausführlich zeig- rationen führte dazu, dass sich die zi- ßung durch GenMaj a.D. Peter von te Nachtwei die positiven Ergebnisse vile Entwicklung auf die Stadt Kundus Geyso, Sprecher des Bonner Forums des Wiederaufbaus in den Bereichen selbst zurückziehe. Die Berichterstat- der DAG, begann der ausgewiesene si- Bildung und Gesundheit, sowie Infra- tung beschränke sich auf das Wahr- cherheitspolitische Fachmann Nacht- struktur. nehmen der schlechten Nachrichten, wei mit seinem Vortrag. Zu Be- wobei gelegentlich übersehen ginn schilderte der Vortragen- werde,w dass von 123 Destrik- de die Historie des Einsatzes tten nur acht sogenannte „hot in Afghanistan, der nach sei- spots“ seien. Die politische nen Worten eine zu stark auf Betrachtung sei auf die Ober- Afghanistan fokussierte Nabel- ggrenze der Truppe fixiert und schau beinhalte und durch rosa sei somit nicht erfolgsorien- oder schwarze Brillen gesehen tiert.t Hier nahm der Redner würde. Der richtige Blick aber died Politiker in die Verant- müsse immer die Gesamtheit im wortung.w Er mahnte einen of- Auge behalten. Deshalb stellte ffenen und ehrlichen Umgang Nachtwei zuerst die Geographie mmit dem Geschehen und er- Afghanistans vor, schilderte den iinnerte an die Verantwortbar- Zuhörern die ethnische Frag- kkeit des Einsatzes. Der Ein- mentierung dieses großen Lan- satz müsse durchführbar sein des und hinterlegte diesen In- Der ehemalige Bundestagsabgeordnete Winfried und die Soldaten benötigten formationen die Rolle der War- Nachtwei und GenMaj a.D. Peter von Geyso blicken die dazu notwendigen Mittel, lords in den einzelnen Gebie- während der Diskussion auf die erhöht sitzenden führte der Redner aus. Alles ten, damit der ca. 200 Personen Gäste der Veranstaltung im großen Vortragssaal im andere sei nicht vermittelbar. große Zuhörerkreis einen Über- Haus der Geschichte Mit der Hinwendung auf die blick über den Ort des Gesche- neue Strategie schloss der Vor- hens hatte. Nach diesen allgemeinen Betrach- tragende seine Ausführungen, bevor Deutlich schilderte der ehemali- tungen schilderte der Redner den Be- es dann zu einer angeregten Diskus- ge Bundestagsabgeordnete die Anfän- reich der deutschen Verantwortlichkeit sion kam. ge des Afghanistan-Einsatzes, als die im Norden. Auch hier begann er seine Als einer der Hauptgründe für zö- internationale Gemeinschaft noch mit Ausführungen mit einer geographi- gerlichen Beginn des Afghanistan-Ein- dem Ansatz operierte, ja nicht als Be- schen Betrachtung, um die Ausdeh- satzes nannte der ehemalige Bundes- satzer zu erscheinen (light foot prints). nung aufzuzeigen, die verbunden mit tagsabgeordnete, dass ein Rechtferti- Dieser Ansatz sei gescheitert, da 2003 der vorhandenen Infrastruktur eine gungsdiskurs im Vordergrund stand, der Schwerpunkt von Amerika und stabile Sicherung des Gebietes mit den nicht der Wirksamkeitsdiskurs. So wer- Großbritannien im Irak lag und sich wenigen Kräften nicht zulasse. Hinzu de auch bis heute stets eine Mandats- in Afghanistan alles um Kabul dreh- kam die strategische Aufwertung des verlängerung im Bundestag besprochen Gebietes, da der Nachschub für die aber nie eine Mandatserweiterung er- 1 W. Nachtwei war von 1994 bis 2009 für ISAF-Truppen nicht mehr allein über wogen. Ein strukturelles Defizit sieht die Grünen im Deutschen Bundestag und von 2002 bis 2009 der Obmann der Pakistan geschähe, sondern auch über Nachtwei in der fehlenden Wirksam- Partei im Verteidigungsausschuss. den Norden nach Afghanistan gelänge. keitsbetrachtung. So werde zwar die Ar-

12 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK mee immer in den Fokus der Berichter- Bei Zwischenfällen werde reflexartig ter ein und dies bei der Größe des Lan- stattung und des „Hinsehens“ gerückt, nach besserer Ausrüstung und besserer des! Ziel und Auftrag der eingesetzten aber die anderen beteiligten Ressorts Ausbildung gerufen, bevor das Ereig- Soldaten sei nach wie vor Aufbau des stünden nicht im Rampenlicht. Hier nis überhaupt analysiert sei. Schwerere Landes und seiner Strukturen. Dies sei gelte es, eine Ehrlichkeit anzustreben, Fahrzeuge schränkten den Radius der nach wie vor erreichbar. die dem Gesamtansatz gerecht werde. Wirksamkeit von Patrouillen noch wei- (Text und Foto: Bertram Bastian)

Neue deutsche Strategie für Afghanistan Bericht von der Tagung in Loccum

VON KLAUS LIEBETANZ

n der Zeit vom 7. bis 9. April 2010 fand in der Evangelischen Akademie Loccum eine kompetent besetzte Ta- gung zum Thema „Vorrang für Zivil! Neue deutsche Strategie für Afghanistan?“ statt. Wesentliche Ergebnisse Iund Stellungnahmen werden im Folgenden wiedergegeben.

Ziele und Strategie für das deutsche Dazu kamen Fragen aus dem Au- verschiedene zivile Wiederaufbau- Engagement in Afghanistan ditorium: Wie säubert man Gebiete? arbeiten stehen aus dem Titel „Frie- er Parlamentarische Staats- Wie erkennt man Taliban-Sympathi- denserhaltene Maßnahmen“ (FEM) sekretär beim Bundesminis- santen? Was macht man mit Ihnen? 180 Mio. Euro zur Verfügung. Dter der Verteidigung Thomas Hierzu gab es keine befriedigende Kossendey (CDU) äußerte sich wie Antwort. Ferner ging Kossendey auf Beachtung der kulturellen Eigenheiten folgt zum deutschen Engagement in das „Partnering“ ein. Deutsche Sol- der Afghanen Afghanistan: Bereits bei der Afgha- daten sollen gemeinsam Schulter an Cornelia Bringmann, erfahrene nistankonferenz 2006 in London wur- Schulter mit Soldaten der afghani- Friedensfachkraft in Afghanistan, er- de der AFGAN COMPACT von allen schen Streitkräfte (ANA) Gebiete im läuterte anschaulich, wie in Afgha- beteiligten Ländern beschlossen. Die Norden von Taliban säubern und an- nistan auf unterer Ebene Probleme Ziele für einen sich selbst tragenden schließend sichern. Anfangs 2003 einvernehmlich gelöst werden müs- Friedensprozess sollten bereits 2011 hatte die Bundeswehr 280 Ausbilder sen. Dazu gehören die Familie, Malik in Afghanistan erreicht sein. Die von für die ANA vorgesehen, in der neu- (Bürgermeister), ehem. Kommandeu- der internationalen Gemeinschaft zur en Strategie sind es 1.400 deutsche re, Mullah, Khan (wirtschaftlich Po- Verfügung gestellten Mittel und der Ausbilder. Ferner sollen 200 deut- tente Leute) etc. Auf mittlerer Ebene politische Wille der verantwortlichen sche Polizeiausbilder jährlich 2.500 müssen Schuren, Ältestenräte, das Afghanen waren offensichtlich nicht afghanische Polizisten ausbilden, die Paschtun Wali (Rechtssystem) und die ausreichend. Auch Deutschland hat- u.a. in der Phase HOLD eingesetzt allgegenwärtige Korruption beachtet te, wie z.B. beim Aufbau der afgha- werden können. werden. Offiziere und Feldwebel der nischen Polizei, illusionäre Vorstel- Es geht bei der militärischen Um- Bundeswehr, die mit der Zivilbevöl- lungen. gliederung um die Aufstellung von kerung umgehen, müssen ein Min- Ziel der Neuen Strategie ist die Ausbildungs- und Schutzbataillonen. destmaß an entwicklungspolitischen Übergabe einzelner Provinzen in die Die Umgliederung soll Ende August Kenntnissen, interkultureller Kompe- Verantwortung der afghanischen Hän- 2010 abgeschlossen sein. Dann wird tenz und viel Zeit mitbringen, damit de, und zwar irreversibel in Bezug auf sich die neue Strategie auswirken sich Ihre guten Absichten nicht ins Sicherheit (Leben der Bevölkerung und für die deutschen Soldaten wird Gegenteil verkehren. ohne Furcht) und in wirtschaftlicher der Auftrag nicht ungefährlicher sein Interessierte Afghanen (auch die Zukunft. Von 123 Distrikten in AFG Derzeit kommen zusätzliche Taliban) haben eine zeitnahe Infor- sind 115 einigermaßen befriedet, le- 5.000 amerikanische Kämpfer in mation über die Situation in Deutsch- diglich in acht Distrikten ist die Si- den deutschen Bereich. Ferner gibt land. Ziel der Attacken gegen deut- cherheit gefährdet oder überhaupt es eine Entwicklungsinitiative mit sche Soldaten ist immer auch die deut- nicht gegeben. ca.430 Mio. Euro (250 Mio. BMZ, 180 sche Öffentlichkeit. Die neue militärische Vorgehens- Mio. AA (einschl. Polizeiausbildung). weise der ISAF wurde von den Ame- Hierzu führte der Leiter Sonderstab Beachtung der Schutz und rikanern übernommen: AFG/PAK Rüdiger König (AA), aus, Patronagebeziehung SHAPE – CLEAR – HOLD – dass eine kohärente Politik (AA, BMZ, Dr. Citha Maaß (Politikwissen- BUILD – TRANSFER BMI, BMVg) Vorrang haben wird. Für schaftlerin, Spezielgebiet: AFG, PAK;

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 13 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK

Stiftung Wissenschaft und Politik nistan 45 Dienstposten. Sie führen Oberst a.D. Friedel Eggelmeyer, neuer (SWP) Berlin) erläuterte das allge- u.a. das zivile Lagebild. Der Pro- Abteilungsleiter IV im BMZ genwärtige Schutz- und Patronage- vincial Development Fund beträgt Seine neue Abteilung umfasst beziehungen. Jeder muss etwas ab- 16.679.000 Euro. Damit sollen in Mittel-Osteuropa (MOE), Süd-Ost- geben. Es gibt eine große Verqui- 2010 350 Projekte zwischen 2.000 europa (SOE), den gesamten Nahen ckung mit der offiziellen Hierarchie, und 20.000 € implementiert werden. Osten (einschließlich Ägypten) und z.B. mit dem Clan-System Karsai. Die Ausbildung der CIMIC-Of- reicht über den Irak, Iran bis Af- Die Zentralregierung sei korrupt, fiziere dauert nur 5 Wochen. Im zi- ghanistan und Pakistan. Ferner ist ineffizient und dennoch notwendig. vilen Bereich hingegen absolvieren er im Bundesministerium für Wirt- Citha Maaß bezweifelte die Fä- Projektleiter bei den Hilfsorgani- schaftliche Zusammenarbeit und Ent- higkeit des BMZ, dass es die ver- sation ein zweijähriges Zusatzstu- wicklung für Friedenssicherung ver- doppelten Mittel für die Entwick- dium an der Uni Bochum (Human- antwortlich, einschließlich der Frie- lungszusammenarbeit (EZ) abflie- ingenieur). densdienste und des Referats „Ent- ßen und umsetzen kann. Ferner führ- wicklungsorientierte Nothilfe“. Fer- te C. Maaß aus, dass die Deutschen Wie schaffen wir den Aufbau von Frieden? ner gehören in seinen Bereich die in erster Linie Afghanen schützen Martin Kipping, BMZ-Referent sog. failing states. Nach Aussagen sollten, die sich für Afghanistan ein- für AFG/PAK, war auch zwei Jah- von Friedel Eggelmeyer sieht sich setzen und nicht nur in die eigene re vor Ort. Er berichtete über Fort- das BMZ nicht als Anhängsel des Tasche wirtschaften. Man bräuchte schritte im Bildungsbereich: Zurzeit AA und des BMVg. Es betreibt sei- eine Verwaltungsakademie in AFG. der Taliban gab es eine Mio. Schü- ne Zusammenarbeit mit den anderen ler (nur Jungen). Derzeit gibt es sie- Ministerien auf Augenhöhe, also nach Tragfähige Binnenwirtschaft statt ben Mio. Schüler, davon ein Drittel den Prinzipien der Entwicklungshil- Drogenökonomie und Hilfslieferungen Mädchen. 80% der Bevölkerung fe, die sich von denen des AA und Barbara Rippel, GTZ, führte aus, hat Zugang zum Basisgesundheits- BMVg unterscheiden. dass das Ziel eine tragfähige Bin- system. Die Kindersterblichkeit (bis Das BMZ sei weiterhin der nenwirtschaft sein muss statt ei- fünf Jahre) betrug in 2002 noch 250 menschlichen Sicherheit (Kofi An- ner Drogenökonomie: Trockenobst, Tote pro 1.000 Kinder, 2008 ver- nan: Human Security) verpflichtet, Teppichdesign, andere Fruchtverar- ringerte sich die Rate auf 161 pro was bedeutet, dass die Menschen der beitung, Verbesserung der Bewäs- 1.000. Zur Wirtschaftsentwicklung 3. Welt in Freiheit und ohne Furcht serung, Wolle- und Lederproduk- erläuterte Kipping, dass seit 2002 und ohne Mangel (Hunger, Krank- tion modernisieren. Kabul hat jetzt der Durchschnittverdienst um 70% heit, ohne Umweltzerstörung) leben durchgehend Strom. Ferner kommt gewachsen ist. 2009 hatte man die können. Bei den Friedensfachkräf- es darauf an, den Afghanen beim größte Ernte u.a. durch die verbes- ten steht AFG und Palästina an ers- Stellen von komplizierten deutschen serten Bewässerungsanlagen. Heute ter Stelle. Anträgen zu helfen. Es gibt z.B. Trai- gibt es sieben Mio. Mobiltelefone in Bis Ende April 2010 werden 10 ningsmaßnahmen an der Uni Bo- Afghanistan. Mikrokredite werden Mio Euro den deutschen Nichtregie- chum und eine Masterausbildung von 400.000 Haushalten genutzt. rungsorganisationen für AFG zur Ver- für Afghanen. In Afghanistan gibt Ferner zitierte Martin Kipping eine fügung gestellt. Hierzu wird es ent- es mittlerweile eigene Wirtschafts- Untersuchung von Prof. Zülcher, sprechende Gespräche geben. In ca. forschungsinstitute. Am Anfang gab Berlin, dass wirtschaftlicher Fort- 70 Staaten betreibt das BMZ vorbeu- es auf beiden Seiten viel Enthusias- schritt nicht das Entscheidende für gende Krisenprävention, baut struk- mus. Dem ist mittlerweile ein Rea- die Zustimmung der Bevölkerung turelle Defizite ab und trägt lang- lity Check gewichen. Seit 2002 gab ist. Entscheidend sei die subjektive fristig zur Staatsbildung (funktionie- es immerhin eine Steigerung des Einschätzung der Bevölkerung zur render Staat) bei. Bei der bilateralen Bruttosozialprodukts um 70%. Der Sicherheitslage. Hilfe gibt es keine Budgethilfe (auch Jugend müsse eine Perspektive ge- nicht für AFG), was den afghani- geben werden, damit es langfristig Wie lässt sich das deutsche Engagement schen Politikern nicht angenehm ist, besser werden könne. evaluieren und weiterentwickeln? wie sich das beim Besuch von BM Roderich Kiesewetter, MdB Dirk Niebel in Afghanistan zeigte. Bundeswehr als Schützer und Helfer: (CDU), Mitglied des Auswärtigen Die Hilfe des BMZ erfolgt zu einem Was können Soldaten leisten? BT-Ausschusses fordert Erfolgskri- Drittel multilateral und zu zwei Drit- Oberst Frank Baumgard, Kom- terien (Benchmarking), insbesonde- tel bilateral. mandeur CIMIC Zentrum, Nienburg re die Wahrnehmung der Sicherheit hielt einen Vortrag über CIMIC. Be- durch die afghanische Bevölkerung. Schlussfolgerungen griffe wie „Force Protection“ und Des weiteren fordert er ein Lage- Deutschland hat durch illusionä- „Quick impact“ Projekte werden und Krisenzentrum beim Kanzleramt re und halbherzige Vorgehensweise nicht mehr erwähnt, weil sich diese und ein Handbuch für ähnliche Kri- fünf Jahre in AFG verloren. Wenn die als entwicklungspolitische Unwörter sen. R. Kiesewetter war vor kurzem Bundesregierung das neue, jetzt vor- herausgestellt haben. CIMIC hat im noch Oberst i.G. im Führungsstab liegende Konzept schon 2005 imple- deutschen Bereich von Nordafgha- des Heeres. mentiert hätte, als die Taliban noch

14 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK nicht so erstarkt waren, wäre alles viel lungen getöteter deutscher Soldaten. die radikal-islamischen Taliban in einfacher gewesen. Es scheint aber in Das neue Ausbildungskonzept wäh- den Besitz von pakistanischen Atom- AFG noch nicht zu spät zu sein. Die rend des Kampfeinsatzes außerhalb waffen kommen sollten, dann besteht Bundesregierung muss jetzt Kurs hal- der befestigten Lager beginnt ja erst die Gefahr eines Atomkrieges. Das ten, trotz voraussehbarer Rückschlä- im August 2010. Wenn das neue ehr- muss unter allen Umständen vermie- ge und weiterer, durch Kampfhand- geizige Konzept versagen sollte und den werden. ❏

Sachausschuss Sicherheit und Frieden Entwicklungen bei der Weiterverbreitung von nuklearer (Waffen-)Technologien (13. gekürzte Fortschreibung – Zeitraum März 2010 bis April 2010)

VON WERNER BÖS

ie Redaktion wird auch weiterhin über das Monitoring der Proliferationsproblematik des Sachausschus- ses „Sicherheit und Frieden“ berichten. Wie gewohnt, verzichten wir auf die detaillierte Wiedergabe der Dchronologischen Ereignisse und werden uns auf die Bewertungen des Autors stützen. An der chronologi- schen Entwicklung interessierte Leser könne diese bei der Redaktion AUFTRAG per E-Mail abrufen (redaktion- [email protected]). Zu den Wahlen im Iran und zum neuen Chef der Internationalen Atomenergiebe- hörde (IAEA) Yukiya Amano kann eine gesonderte Bewertung von Werner Bös bei der Redaktion angefordert werden. Aufgrund des aktuellen Geschehens bei der nuklearen Abrüstung wird die Bewertung des Autors zu den Fortschritten auf diesem Gebiet abgedruckt.

Iran: im Irak und in Bahrain beobachtet die programm schon jetzt seinen Zweck enn der iranische Präsident Entwicklung in Iran sehr genau. Die erfüllt, „weil Israel dadurch seine Si- WMahmud Ahmadinedschad eine Auswirkungen interner Konflikte bei cherheit gefährdet sieht“. Rede hält, dann hören ihm auch arabi- den persischen Nachbarn bekommen Unabhängiger und objektiver sche Fernsehzuschauer zu. Viele von nicht die Europäer sondern die Ara- klingt da ein Kommentar der über- ihnen sind hin- und hergerissen – zwi- ber als erste zu spüren. Genauso, wie regionalen arabischen Zeitung „Al schen Begeisterung für einen Politiker, die Folgen eines möglichen israeli- Sharq Al-Awsat“. Ahmadinedschad der gegen Israel wettert und selbst- schen Angriffs auf die iranischen Ato- handele nach dem Prinzip: Wenn du bewusst das Recht seines Landes auf manlagen, der auch zu einem neuen in einer Sackgasse steckst, dann ma- Nuklearenergie verteidigt, und Miss- Krieg zwischen Israel und der pro- che deine Feinde nervös, dann werden trauen gegenüber einem Präsidenten, iranischen Hisbollah im Libanon füh- die Karten noch einmal ganz neu ge- der seine Gegner verhaften lässt.Die ren würde. mischt. Und sie warnt: „Diese Strate- arabischen Staatspräsidenten und Mo- Dass sich die arabischen Herr- gie endet – das hat die Geschichte ge- narchen stellen den Konflikt um das scher mit radikaler Kritik am irani- zeigt – immer mit einer Katastrophe.“ iranische Atomprogramm im öffentli- schen Regime trotzdem so zurückhal- Von dem notorischen Holocaust- chen Diskurs gern als Problem zwi- ten, hängt vor allem damit zusammen, und neuerdings auch „9-11“-Leugner schen Teheran und dem Westen dar. dass sie sich machtlos fühlen. Das au- sowie Israel-Feind Ahmadinedschad Dabei beobachten die meisten von ih- ßenpolitisch ambitionierte Golfemirat ist der Westen Schmähungen und Sä- nen die Entwicklung im Iran teilweise Katar lädt Ahmadinedschad zwar ge- belrasseln gewöhnt. Doch was bewegt mit noch größerer Sorge als die USA legentlich ein. Doch Einfluss auf die seinen seit 30 Jahren wichtigsten Ver- und die Europäer. Noch bedeutsamer Entscheidungen Teherans haben die bündeten in der Region, den syrischen als der Atomstreit seien derzeit die Araber kaum. Syrien ist sogar ein Ver- Staatschef Baschar al Assad, seinen Konfrontation zwischen dem Regime bündeter Irans; allerdings spielen die Schulterschluss mit dem iranischen und der Opposition sowie „zwischen Syrer in dieser Allianz eher die Rolle Regime so eng zu gestalten, wie das diesem Regime und seiner arabisch- des Juniorpartners. Das Gleiche gilt bei dem Treffen Ende Februar 2010 in islamischen Umgebung“, stellt die für die Hisbollah, die auf die Waffen- Damaskus zum Ausdruck gekommen arabische Zeitung „Al-Hayat“ fest. lieferungen der Iraner angewiesen ist. ist? Obwohl die Politik der beiden Re- Denn die Araber sind nahe dran. Aus Sicht der libanesischen Schiiten- gime nicht deckungsgleich ist, scheint Die schiitische Bevölkerungsmehrheit Bewegung hat das iranische Atom- die Gegnerschaft zu Israel das einende

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 15 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK

Band in dieser Allianz zu sein. Einst kus ernannt hatten, eine konstruktive tisch gegenüberstehen. Zweitens sah schmiedete die beiderseitige Feind- Rolle Syriens in der Region erwartet, sich El Baradei immer wieder Vorwür- schaft zum irakischen Baath-Regime nämlich den „Iran zu einer Änderung fen ausgesetzt, er halte aus politischen Saddam Husseins die beiden Länder seines Verhaltens zu bewegen“. Gründen belastendes Material gegen zusammen, doch das Bündnis muss Währenddessen hat Israel seinen den Iran zurück. Etwa um jenen keine nicht ewig halten. neuesten, unbemannten großen Fern- Munition zu liefern, die harte Sankti- Nachdem sich der iranische und aufklärer vorgestellt. Das Flugzeug onen oder gar einen Militärschlag ge- syrische Präsident demonstrativ ih- erreicht mit annähernd 30 Metern gen Irans Atomanlagen wollen. rer Freundschaft versichert hatten, in etwa die Spannweite einer Boeing Die Frage war also drittens, wie sind sie mit den Spitzen der libane- 737und ist mit modernster Technik der neue IAEA-Chef mit dem Dos- sischen Hizbullah und der Hamas, ausgerüstet. Das Gerät ist die neu- sier umgehen würde, das seine Ins- Hassan Nasrallah und Chef des Ha- este Version der Heron-Drohne mit pektoren zusammengetragen haben. mas Politbüros in Damaskus Chaled dem Namen Eitan (hebr. Stark). Das Dieser Bericht galt als Indiz dafür, Meschal, zusammengekommen, um Flugzeug kann bis in den Persischen wie Amano die IAEA auszurichten sich auf eine gemeinsame Position ge- Golf fliegen – und damit auch den gedenkt und wie er die internen Gra- genüber Israel zu verständigen. Dabei Iran erreichen. Die über vier Tonnen benkämpfe zwischen Inspektoren und seien die „wiederholten Drohungen“ schwere Eitan kann mit einer Tank- Diplomaten in den Griff bekommen Israels gegenüber dem Libanon und füllung mehr als einen Tag fliegen, will. Diese Rangeleien hatten dazu Syrien beraten worden. Ziel der Un- dabei mehrere Tausend Kilometer geführt, dass die Glaubwürdigkeit der terredungen Ahmadinedschads mit zurücklegen und bis zu einer Tonne IAEA beschädigt und ihre Integrität den radikalen Palästinensern sei es Ladung mitnehmen. Sie ist eine All- in Frage gestellt wurde. gewesen, eine „permanente Koordi- wetter-Vielzweck-Plattform, die vie- Seit Mitte Februar lag Amanos nation“ zwischen Iran und den paläs- lerlei Aufgaben übernehmen kann. Erstlingswerk vor, und man musste tinensischen Gruppen herzustellen. Dazu gehören Aufklärungsflüge im ihm dazu gratulieren. Er hatte keine Aufgrund der Entwicklungen haben sichtbaren und Infrarot-Bereich, die Sensationen enthüllt, aber zu einer Assad, Ahmadinedschad, Nasrallah Aufzeichnung von Funkverkehr und klaren Sprache und einer anderen Be- und Meschal mutmaßlich eine militä- die Überspielung per Satellit aller tonung gefunden, ohne seinen Vorgän- rische Zusammenarbeit im Falle eines Daten an die Heimatbasis wie auch ger zu brüskieren oder bloßzustellen. Angriffs Israels auf die Hizbullah und die Übermittlung von Videoaufnah- Amano hat ein umfassendes Bild vom den Libanon erörtert. men in bester Qualität. Theoretisch Stand des iranischen Atomprogramms Iran versucht mit der Hilfe sei- könnte die neue Super-Drohne auch gezeichnet. Und er hat klargestellt, ner Verbündeten Spannungen an der mit Raketen und Bomben ausgestat- dass es die Regierung in Teheran ist, israelischen Nordgrenze zu schüren tet werden. die ihren Pflichten nicht nachkommt und will damit die internationale Auf- Alle drei Monate muss der Chef – und nicht etwa der Westen. Ama- merksamkeit von den Bemühungen der Internationalen Atomenergiebe- no ist nicht der Versuchung erlegen, um Sanktionen gegen Iran wegen sei- hörde dem UN-Sicherheitsrat Bericht den schwerwiegenden Verdacht, dass nes Atomprogramms ablenken. Es über das iranische Atomprogramm Iran an Atomwaffen arbeitet, mit Hil- ist nicht auszuschließen, dass Isra- erstatten. Der Neuigkeitswert dieses fe schwer verständlicher technischer el durch eine gezielte Provokation Reports erschöpfte sich in den vergan- Fragen zu chiffrieren. zu einem Militärschlag verleitet wer- genen eineinhalb Jahren darin, dass Die Nachricht, dass der Iran den könnte. „Wir haben nicht nur die Inspektoren der IAEA den aktu- wahrscheinlich mithilfe eines Wis- gemeinsame Interessen und Ziele, ellen Stand der Urananreicherung in senschaftlers aus einem früheren sow- sondern auch gemeinsame Feinde“, Natans referierten. Denn bei der ent- jetischen Nuklearwaffenlabor bereits sagte Ahmadinedschad und erneuer- scheidenden Frage, ob Iran heimlich den Bauplan für einen fortgeschrittene te während einer gemeinsamen Pres- an Atomwaffen gearbeitet hat oder das und funktionsfähige „nukleare Nutz- sekonferenz seine Drohungen, Israel immer noch tut, konnte der damalige last für eine Rakete“ entwickelt, ver- zu vernichten. Mit Genugtuung und Generaldirektor El Baradei immer leitet einen dazu, auszurufen: „Also dankbar nahm der Iran den Ausspruch nur feststellen: Kein Fortschritt. Iran doch !“ Danach arbeitet der Iran wie- des syrischen Präsidenten bei diesem weigert sich, dazu beizutragen, dass der oder immer noch an einem Atom- Treffen zur Kenntnis: „Amerikas Hal- dieser Verdacht ausgeräumt wird. Da- waffenprogramm. Damit weist der Be- tung gegen Iran ist eine neue Form des ran hat sich nichts geändert. Dennoch richt die verbreitete Fehlannahme zu- Kolonialismus. Die Kritik des Wes- wurde der erste Bericht von El Bara- rück, der Iran habe keinesfalls mehr tens an Irans Atomprogramm ist ein deis Nachfolger Yukiya Amano mit nach 2003 an der Bombe gearbeitet. neokoloniales Gebaren“. Heute solle Spannung erwartet. Der Iran besitzt offenbar Pläne zur der Iran daran gehindert werden, die- Erstens hat das unabhängige Ur- Herstellung eines Atomsprengkopfs, se Technologie zu nutzen, morgen tref- teil der IAEA ein nicht zu unterschät- mit dem er seine Mittelstreckenra- fe es die Araber, sagte er. Welch eine zendes Gewicht in der Debatte im UN- keten bestücken kann. Unklar bleibt Enttäuschung! Hatten doch vor allem Sicherheitsrat über neue Sanktionen nur, wann das Land über genügend, die USA, die erstmals seit 2005 jüngst gegen Iran, vor allem für jene Länder, d.h. ca. 25 Kilogramm, hochangerei- einen neuen Botschafter in Damas- die den Vorwürfen des Westens skep- chertes waffenfähiges Uran verfügen

16 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK wird, um eine Nuklearwaffe zünden In Peking geben sich die Besu- da das Verhältnis zu den USA trotz al- zu können. Für einen funktionsfähi- cher aus aller Welt die Klinke in die ler Schwierigkeiten immer noch als gen Sprengstoff braucht es weiter eine Hand. Die Volksrepublik ist zu einer wichtiger eingeschätzt wird, als die Reihe praktischer Tests. Top-Adresse geworden, wenn es dar- chinesischen Interessen im Nahen Doch niemand kann sich mehr da- um geht, Lösungen für internationale und Mittleren Osten. Bis es im Si- rauf verlassen, dass dies nicht schon Konflikte zu suchen. Ein brennen- cherheitsrat zu einer Entscheidung sehr bald der Fall sein wird. Ob die des Thema, bei dem die Chinesen kommt, dürften Chinas Diplomaten Iraner nun entschieden haben, eine eine neue Schlüsselrolle spielen, ist jedoch versuchen, die Sanktionen zu Bombe zu bauen oder ob sie sicher- das Atomprogramm Irans. In der Ver- verwässern. Das diplomatische Tau- gehen wollen, dass sie sie schnell gangenheit zeigte sich China nicht ziehen dauert schon Monate an und bauen können, sobald sie sich dazu besonders besorgt. Mitte März aller- kann sich noch einige Zeit hinziehen. entschließen, ist nachrangig. Dem dings ließen neue Zwischentöne auf- Auch wenn es ein sehr langer und zö- Regime in Teheran genügt ohnehin horchen. Zwar wünscht sich China gerlicher Prozess ist – China scheint fürs Erste die technische Fähigkeit einen Atomstaat Iran ebenso wenig sich mit dem Gedanken an neue UN- zum Atomwaffenbau. Denn dadurch wie die anderen Staaten. Aber wäh- Sanktionen gegen Iran angefreundet kann die Islamische Republik ihre rend in den Vereinigten Staaten und zu haben. Nach monatelanger Verzö- Ansprüche gegenüber dem Westen Europa die Stimmen immer lauter gerungstaktik hat sich das Reich der wie gegenüber seinen Nachbarn in werden, die schärferen Strafen gegen Mitte zu ernsten Gesprächen dazu der Region stets mit der unterschwel- Iran fordern, will die chinesische Re- bereit erklärt. Wenn Russland Sank- ligen Drohung verknüpfen, den letz- gierung von Sanktionen noch immer tionen unterstützt, wird sich China ten Schritt zur Bombe zu vollziehen. nichts wissen, zeigt sich aber – wie dem wahrscheinlich auch anschlie- Durch die neuesten Erkenntnisse bei dem „Nuclear Security Summit“ ßen, um eine diplomatische Isolation über den Stand der iranischen Nukle- im April in Washington – andeutungs- zu vermeiden. arrüstung erweist sich die Beteuerung weise flexibel. Iran will in den kommenden 12 des Regimes, es verfolge mit seinem Hinter der Pekinger Zurückhal- Monaten durch die Privatisierung von Atomprogramm ausschließlich zivile tung steckt der Wunsch, Iran als ein- zwei Ölraffinerien und zwei Autoher- Absichten, als systematische Lüge flussreichen islamischen Staat nicht stellern sowie von anderen Staatsbe- – und sie stellen Verharmlosern der zu verärgern. Zudem will die Regie- trieben umgerechnet 12,5 Milliar- wahren Ziele des Iran ein schlimmes rung die muslimische Minderheit in den Dollar einnehmen. Das gab die Zeugnis aus. Das Regime will höchst- China nicht verprellen. Hinzu kom- Privatisierungsbehörde bekannt. Als wahrscheinlich den Besitz der Atom- men handfeste wirtschaftlich Interes- erstes könnten die Raffinerien Ban- bombe und strebt die Vorherrschaft im sen: Iran deckt mittlerweile elf Pro- dar Abbas und Abadan an die Börse Nahen Osten an. zent des chinesischen Energiebedarfs. gebracht werden, dann die Autoher- Der neue IAEA-Chef richtet zu- Im Jahr 2009 unterzeichneten Firmen steller Iran Khodro und Saipa. Ferner dem ein klares Wort an Iran und auch beider Länder einen Vertrag im Wert will der Staat Aktien des Versicherers an jene Verschwörungstheoretiker, die von 4,7 Milliarden US-Dollar über die Dana verkaufen. Insgesamt stehen alle belastenden Indizien gegen Iran Förderung iranischer Erdgasvorkom- 524 Staatsbetriebe zur Privatisierung als „gefälscht“ abtun und hinter dem men. Chinesische Arbeiter und Inge- bereit. Die iranische Wirtschaft ist Ganzen ein Komplott wittern. Die nieure bauen in Iran U-Bahnen, Pipe- zu etwa drei Viertel in der Hand des Informationen sind laut Amano „um- lines, Kraftwerke, Straßen, Telefonlei- Staates oder staatsnaher Institutionen. fangreich und aus einer Reihe ver- tungen und Autofabriken. Mittlerwei- Der Spielraum der Regierung für In- schiedener Quellen“. Er charakteri- le ist die Volksrepublik der wichtigste vestitionen ist gering. Um zu sparen, siert sie als „stimmig und glaubhaft“, Handelspartner Irans. soll an Subventionen gekürzt werden. was die technischen Details angeht, Trotz seiner engen Kontakte zu Doch das Parlament, das mehrheitlich aber auch in Bezug auf den zeitlichen Iran hat China keine der drei frühe- die Wirtschaftspolitik der Regierung Ablauf sowie auf Organisationen und ren UNO-Resolutionen verhindert. Im ablehnt, hat nur der Hälfte der von Personen in Iran. ersten Quartal des Jahres jedoch ha- Präsident Ahmadinedschad vorge- Amano hat damit nach innen das ben sich die Funktionäre stark über schlagenen Kürzungen zugestimmt. Zeichen gesetzt, dass der Generaldi- die USA geärgert: Waffen für Taiwan, Die Subventionen im Staatshaushalt rektor seinen Inspektoren vertraut, Empfang des Dalai Lama durch Prä- gehen damit nur von 100 Milliarden nachdem El Baradei es zugelassen sident Obama. Die Pekinger Partei- auf 80 Milliarden Dollar zurück. Da- hatte, dass daran Zweifel aufkamen. zeitung „Global Times“ erinnert da- bei hat der Staatshaushalt ein Gesamt- Wichtiger aber ist, dass die Welt nun ran, das es die Amerikaner waren, volumen von 347 Milliarden Dollar, eine solide Grundlage hat für ihre die Irans Atomindustrie ursprünglich finanziert zu zwei Dritteln mit Erdöl- Beratungen über das weitere Vorge- gefördert hätten – allerdings noch zu verkäufen. Diese sinken aber stark. hen gegen Iran. Den hohlen Phrasen Zeiten des Schahs, der1979 gestürzt In den ersten Monaten des Jahres ist aus Teheran, Iran strebe nicht nach wurde. die Menge des Rohöls, das Iran an Atomwaffen, kann nach diesem Be- Gleichwohl darf man davon aus- China liefert, im Vergleich zu den richt nun guten Gewissens niemand gehen, dass China UN-Sanktionen Vorjahresmonaten um 37 Prozent zu- mehr Glauben schenken. nicht mit einem Veto blockieren wird, rückgegangen. Auf Druck Amerikas

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 17 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK bezieht China nun mehr Erdöl aus Der Westen darf sich von weite- vorhandenen Produkte immer teurer Saudi-Arabien, Russland und Ango- ren Hinhaltemanövern der iranischen werden. Um die grassierende Inflation la. Keine Fortschritte macht Irans Er- Führung nicht mehr irritieren lassen. einzudämmen und die Schwarzmarkt- schließung seiner großen Gasvorkom- Bisher war jeder scheinbare iranische geschäfte zu unterbinden, gab Pjöng- men. Bei der internationalen Auktion Kompromiss eine Finte. Und so sollte jang im vergangenen November neues für 12 Gasblöcke war im vergangenen man die weiteren Winkelzüge schon Geld aus. Beim Zwangsumtausch gab November kein Angebot eingegangen. im Ansatz betrachten. Zumindest so- es für 100 alte Won einen neuen, wobei Keines der Projekte, Gas an Pakistan, lange, bis Teheran durch praktische jede Familie maximal 100.000 Won Indien oder die arabischen Nachbarn Schritte beweist, dass es das ganze umtauschen durfte, was rund 30 Euro zu liefern, macht Fortschritte, da we- Ausmaß seiner Nuklearambitionen of- entspricht. Viele Sparguthaben wur- gen der Sanktionen keine Gasleitun- fen legen will. Der Westen muss einst- den so vernichtet. Wer konnte, verwei- gen verlegt werden können. Unter- weilen zügig zu schärferen Sanktionen gerte der Regierung die Gefolgschaft dessen hat die Arbeitslosigkeit die übergehen – notfalls einseitig, wenn und wechselte sein Geld heimlich in Marke von 3 Millionen überschritten. China seine Zustimmung im UN-Si- sicherere Währungen wie den chine- Drei Viertel der Arbeitslosen sind jün- cherheitsrat verweigert. sischen Yuan oder gar US-Dollar um. ger als 30 Jahre. Jedes Jahr drängen Werden die Atompläne des Iran Die Verunsicherung der Bevöl- weitere 800 000 Schulabgänger neu nicht bald gestoppt, steuert der Nahe kerung trieb die Preise für Grund- auf den Arbeitsmarkt. Osten auf einen kriegerischen Kon- nahrungsmittel noch schneller in die Seit mehr als drei Jahrzehnten flikt zu. Obwohl fraglich ist, ob eine Höhe als bisher. Allein der Reis ver- findet sich die Bühne der Weltkon- Militärintervention die Iraner noch teuerte sich um den Faktor 50. Vie- flikte im Mittleren Osten. Aber kei- von ihrem Abenteuer abhalten kann. lerorts kam es zu Unruhen, Geschäfte ner ist gefährlicher als der Atomstreit Gewalt würde das Atomprogramm nur wurden mehrere Tage lang geschlos- mit der revolutionär-religiösen Islami- temporär zurückwerfen – und die Be- sen. Nach wenigen Wochen war die schen Republik Iran, wo die Mullahs völkerung und das Regime zusam- Versorgungslage so dramatisch, dass und ihre Revolutionsgarden mit Fol- menschweißen. Pjöngjang allen politischen Querelen ter und Galgen regieren. Was auf dem zum Trotz nach zweijähriger Unterbre- Spiel steht sind die Bemächtigung der Nordkorea chung wieder Lebensmittelhilfen aus Bombe und die Vorherrschaft am Golf, ass Nordkoreas ehemaliger Südkorea annahm. Um den Volkszorn die Sicherheit des Staates Israel so- Doberster Wirtschaftslenker Pak auf andere ablenken zu können, ließ wie die Verteidigung der konservati- Nam-Ki zum Sündenbock für die miss- Kim im Februar erklären, sein Herz ven sunnitischen Regime Ägyptens, lungene Währungsreform in 2009 ge- sei gebrochen, dass die Menschen in Saudi-Arabiens und Jordaniens. Die macht wurde und Mitte März von ei- seinem Land nur noch „gebroche- Bundesregierung, zusammen mit den nem Erschießungskommando hinge- nen Reis“ essen könnten. Gemeint fünf permanenten Mitgliedern des richtet wurde, wirft einen alarmieren- ist Reis, der in anderen Ländern als UN-Sicherheitsrates mit der bisher den Schatten auf die wirtschaftliche Abfall gilt. vergeblichen Zähmung des Iran be- Lage des Landes. Er sei ein „Sohn der Es war ein ungewöhnliches Ein- fasst, lässt von Zeit zu Zeit hören, die Bourgeoisie“ gewesen, der die „Rän- geständnis der Probleme des eigenen „militärische Option müsse ausge- ge der Revolution infiltrierte, um die Landes, denn normalerweise sugge- schlossen sein“. Wohl wissend, dass Volkswirtschaft zu zerstören“. Dass riert der Propagandaapparat den Nord- bisher alle nicht militärischen Anwen- die Umstellung des Geldes nicht wie koreanern, dass die Welt sie um ihren dungen so gut wie nichts brachten. Die gewünscht klappte und scheiterte, sei Wohlstand beneide. Südkoreanischen Stationierung von Abwehrsystemen Ergebnis seiner Sabotage. Die Wäh- Medien zufolge steckt Kims Regime in am Golf und der Flottenaufmarsch rungsreform hatte in dem verarmten seiner größten Krise seit Jahren. Denn sind vor allem im Verhandlungspoker Land seit Monaten für Unruhe ge- mit der Hinrichtung Paks dürfte sich von Bedeutung, die Ultima Ratio sind sorgt und das Vertrauen in die Regie- das Vertrauen kaum wiederherstellen, sie nicht. Gelingt es nicht, in diesen rung so stark beschädigt, dass sich geschweige denn das Währungspro- Monaten den Iran zu stoppen, dann sogar der als unfehlbar geltende Dik- blem lösen lassen. ist das zwar nicht das Ende der Welt, tator Kim Jong Il im Februar 2010 zu Außerdem soll die missglückte und auch nicht der Diplomatie, wohl einem öffentlichen Reuebekenntnis Reform in Wahrheit im Namen von aber eine militärische, politische und genötigt sah. Kims drittem Sohn Kim Jong-un an- psychologische Revolution, die weit Da das staatliche Versorgungs- gestoßen worden sein, der bisher als über die Region hinaus alle strate- system seit Jahren nicht mehr funkti- Wunschnachfolger des gesundheitlich gischen Gleichungen verändert. Die oniert, sind viele Menschen für Nah- angeschlagenen Diktators gilt. Im ver- Führer des Iran würden entdecken, rungsmittel und andere Lebensnot- gangenen Oktober hatten die Verein- dass sie eine Waffe hätten, die sie gar wendigkeiten auf den Schwarzmarkt ten Nationen Kim vorgeworfen, einem nicht einzusetzen brauchten, um ihre angewiesen. Doch selbst mit dieser Drittel seiner 24 Millionen Einwohner Ziele zu erreichen. Diese scheinbar Parallelwirtschaft, die zum Teil auf das Menschenrecht auf Nahrung vor- komfortable Lage würde nur die ara- Schmuggel aus China beruht, lässt zuenthalten. Nach dem Währungs- bischen Staaten anspornen, es dem sich der Bedarf der Nordkoreaner debakel dürfte der Anteil sogar noch Iran gleich zu tun. kaum decken, so dass die wenigen höher sein.

18 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK

Exkurs und Bewertung zur atomaren sprengköpfe in Reserve, von denen in der Staatsduma hat es bereits in der Abrüstung: die USA und Russland je etwa 6700 Vergangenheit Probleme gegeben. Ob mmer wieder haben Friedensno- haben dürften, werden nicht auf die die US-Republikaner angesichts der Ibelpreisträger Barack Obama und Obergrenzen angerechnet und sollen Kongresswahlen im November still- Kremlchef Dimitri Medwedew atoma- letztlich unbrauchbar gemacht wer- halten werden, ist fraglich. Bei dem re Abrüstung versprochen. Im März den. Kurzstrecken-Atomwaffen wer- Vertrag von 1991 dauerte die Rati- schließlich ist den Vertretern der bei- den vom neuen Vertrag nicht erfasst. fizierung rund drei Jahre. Präsident den größten Atommächte der Durch- Davon haben die USA schätzungswei- Obama jedoch ist zuversichtlich, dass bruch gelungen. In Prag, wo Obama se 500, von denen rund 200 in Euro- seine Regierung die im Senat dafür vor einem Jahr seine Vision einer pa stationiert sind. Russland hat etwa benötigten 67 Stimmen erhalten wird. atomwaffenfreien Welt verkündete, 2000 Stück, alle auf eigenem Gebiet Auch die Optimisten im russischen haben er und Medwedew am 8. April stationiert. Die Vertragspartner in- Lager halten angesichts der Unterstüt- 2010 schließlich den ersten großen formieren einander zudem über ihre zung des Vertrages durch den Kreml Abrüstungsvertrag dieses Jahrhun- Raketentests. Der Vertrag sieht ei- die Zustimmung der Staatsduma für derts unterzeichnet. Obama sprach nen neuen Kontrollmechanismus vor, wahrscheinlich. von einem „Meilenstein“, der die USA der weniger umständlich und teuer Während Obama auf einen konst- und die Welt sicherer machen werde. sein soll. ruktiven Dialog mit Russland bei den Medwedew bezeichnete das Abkom- Die US-Regierung hat angekün- umstrittenen US-Raketenplänen hofft, men als „historisch“. Beide senden digt, nach Inkrafttreten des neuen ist für Moskau die Frage der Rake- nun ein klares Stopp-Signal an alle, Abkommens mit Russland über Ober- tenabwehr weiterhin nicht vom Tisch die nach Massenvernichtungswaffen grenzen sowohl für Kurzstrecken- als und trägt zumindest das Potential des streben. Die nukleare Abrüstung steht auch für Langstreckenwaffen verhan- Scheiterns in sich. Ungeachtet ihrer wieder auf der internationalen Agen- deln zu wollen. Der Vertrag ist nicht atomaren Abrüstungsvereinbarung da wie seit Ende des Kalten Krie- nur deshalb wichtig, weil er die ato- streiten Russland und die USA wei- ges nicht mehr. Die Unterzeichnung mare Gefahr drastisch verringert, son- ter darüber. So behält sich Moskau das des amerikanisch-russischen Vertrags dern vielmehr, weil er eine Brücke Recht vor, aus dem neuen START-Fol- über die Abrüstung strategischer Nu- zu weiteren, potenziell substantiel- geabkommen über die Reduzierung klearwaffen ist dabei nur Mosaikstein len Abrüstungsvereinbarungen baut. strategischer Offensivwaffen wieder in einer Reihe von militärpolitischen Außerdem demonstrieren die beiden auszusteigen, wenn es Washingtons Initiativen, mit denen Obama die Welt Staaten damit, dass sie selbst in der Raketenpläne weiter als Bedrohung überrascht. Lage sind, zumindest einige Waffen ansieht. „Der Vertrag enthält keine Der Vertragstext umfasst 20 Sei- abzubauen, deren kompletten Verzicht Bestimmungen, die den Aufbau einer ten plus über 100 Seiten Anhänge. sie von anderen Staaten, wie zum Bei- US-Raketenabwehr erleichtern, die Das Abkommen betrifft eine einzige spiel dem Iran, fordern. eine Gefahr für Russland darstellen Kategorie von Atomwaffen, nämlich Das neue Abkommen ist nach sei- würde“, stellte der russische Außen- Langstreckenwaffen. In den USA sind ner Ratifizierung auf 10 Jahre ausge- minister Lawrow fest. Auf der anderen dies 288 Interkontinentalraketen mit legt, wobei eine Verlängerung um fünf Seite werfen viele Osteuropäer Oba- Atomsprengköpfen an Bord von U- weitere Jahre möglich ist. Es löst den ma vor, dass er sich von den Plänen Booten, 450 in unterirdischen Silos START I-Vertrag aus dem Jahr 1991 seines Vorgängers für einen Raketen- im Mittleren Westen und 60 weitere, ab, der am 5. Dezember 2009 ausge- schild in Polen und Tschechien ver- die von B-2 und B-52-Bombern trans- laufen war. Moskau und Washington abschiedet hat. Es treibt sie die Sorge portiert werden – insgesamt 798 Sys- haben sich damit in einem sehr diffi- um, dass Mittel-Osteuropa der neuen teme. Die strategischen Atomwaffen zilen und für die Sicherheit der Welt Freundschaft zwischen Moskau und Russlands sind stärker landgestützt. außerordentlich wichtigen Bereich Washington „geopfert“ werden könnte Ihre Zahl liegt nach allgemeiner Ein- nach intensiven Verhandlungen geei- Nachdem US-Vizepräsident Bi- schätzung bei weniger als 600 Sys- nigt. Das lässt für eine weitere Ausge- den auf der Münchner Sicherheits- temen. Die Menge der Trägersyste- staltung der bilateralen Beziehungen konferenz 2009 einen „Neustart“ in me, also schwere Bomber sowie auf hoffen, deren Zustand für das Klima den russisch-amerikanischen Bezie- U-Booten oder zu Land stationierte der Welt nicht mehr so entscheidend hungen angekündigt hatte, ist die Un- Raketen, wird mit der neuen Ober- ist wie im Kalten Krieg, die aber im- terzeichnung des Nachfolgevertrags grenze von 800 rechnerisch halbiert. mer noch – je nach Wetterlage – für für das erste Start-Abkommen sicher Beide Seiten verpflichten sich weiter, kühle oder eben auch wärmere Stim- ein Meilenstein. Für Präsident Oba- binnen sieben Jahren die Zahl der mung sorgen können. ma ist das neue Abkommen nur ein Atomsprengköpfe auf strategischen Doch bis das neue Abkommen zur erster Schritt in seiner ehrgeizigen Trägersystemen von 2200 gemäß des Reduzierung strategischer Offensiv- Abrüstungsagenda, auf dem Weg in ausgelaufenen Vertrages auf maximal waffen gültig wird, ist noch ein weiter eine Welt ohne Atomwaffen. „Yes, we 1550 zu senken. Das ist viel und liegt Weg. Denn die Vereinbarung von Ob- can“, rief er den Menschen in Prag immerhin 30 Prozent unter der jetzt ama und Medwedew wird erst gültig, vor einem Jahr zu: Eine Welt ohne erlaubten Zahl. Die Zählweise hat wenn auch die Parlamente den Ver- Nuklearbedrohung sei möglich. Wei- sich im neuen Vertrag geändert: Atom- trag ratifizieren. Im US-Kongress und tere konkrete Schritte nahm Obama

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 19 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK bereits ins Visier. Ginge es nach den endlich voranzutreiben. Wenn Euro- nicht-atomare Angriffe auch nicht mit Vereinigten Staaten, sollen sich mit pa dieses Ziel tatsächlich erreichen Atomwaffen zu vergelten, ist trotz al- Russland Verhandlungen über takti- möchte, wie es Bundesaußenminister ler Einschränkungen ein bedeutendes sche nukleare Gefechtsfeldwaffen wie Westerwelle bereits erklärt hat, muss Zeichen des amerikanischen Abrüs- Kurzstreckenraketen, Bomben und es sich aktiv – und mit einer Stimme tungswillens. Zusammen mit der Un- Artilleriegeschosse anschließen. Hier – zugunsten einer besseren Einbin- terzeichnung des START-Folgeab- sind die Bestände Russlands um ein dung Russlands in die europäischen kommens und dem großen „Nuclear Vielfaches höher als die der USA. Die- Sicherheitsstrukturen einsetzen. Security Summit“ im April in Wa- se Absicht kann man nur unterstützen: Die US-Regierung hat die Über- shington, startete Obama eine über- Das Abkommen muss als Sprungbrett prüfung ihrer neuen Nukleardoktrin zeugende neue Offensive zur nukle- für eine umfassendere nukleare Ab- beendet. Präsident Obama bricht mit aren Abrüstung. rüstung und eine sicherere Welt ge- der neuen „Nuclear Posture Review“ Der „Nuclear Security Summit“ nutzt werden. Wirklich nützlich ist das mit der bisherigen Militärdoktrin und endete mit einem vollen Erfolg und START-Folgeabkommen nur, wenn es will den Einsatz von Kernwaffen be- war nach Worten von Bundeskanzle- nicht am Ende, sondern am Anfang schränken. Das Weiße Haus will keine rin Merkel ein „bemerkenswertes Er- weiterer Verhandlungen stünde. Dafür derartigen Waffen mehr gegen Staa- eignis“. 47 Staaten haben sich erst- muss sich Europa von seiner passiven ten einsetzen, die selbst nicht über mals gegen den illegalen Handel mit Haltung verabschieden und sich ent- Atomwaffen verfügen. Voraussetzung Nuklearmaterial zusammengeschlos- schlossen in die Nuklearabrüstungs- sei jedoch, dass die betreffenden Län- sen. Auf dem von Präsident Obama Verhandlungen einbringen. der den Atomwaffensperrvertrag ein- initiierten Atom-Gipfel einigten sie Neben strategischen Nuklearwaf- halten. Damit bleiben der Iran und sich dazu auf eine gemeinsamen Er- fen, deren Arsenale im Rahmen des Nordkorea weiter potenzielle Ziele klärung und einen Aktionsplan. Der START-Abkommens begrenzt sind, amerikanischer Kernwaffen. Die neue Gipfel war sich klar, dass der Nuk- unterliegen alle anderen Atomwaf- Strategie ist ein klarer Bruch mit der learterror zu den größten Gefahren fentypen keiner internationalen Be- Politik der Vorgängerregierung, die für die Weltsicherheit gehöre. Ziel grenzung. Dies betrifft insbesondere eine atomare Vergeltung für Angrif- ist die Eindämmung des Handels in „taktische Nuklearwaffen“, die die fe mit bakteriologischen und chemi- den nächsten vier Jahren sowie eine NATO ursprünglich als Abschreckung schen Waffen vorgesehen hatte so- strenge juristische Aufsicht. Aller- gegen einen konventionellen sowjeti- wie die Entwicklung neuer bunker- dings handelt es sich um unverbind- schen Angriff auf Westeuropa einführ- knackender „Mini-Nukes“ plante. So liche Absichtserklärungen. 2012 soll te. Im heutigen strategischen Kontext heißt es jetzt, die Vereinigten Staaten in Südkorea ein Folgetreffen zur nu- sind diese Waffen irrelevant gewor- würden den Einsatz von Kernwaffen klearen Sicherheit stattfinden. Die den. Dennoch sind sie immer noch nur noch unter „extremen Umstän- durch die Tschernobyl-Katastrophe auf dem gesamten europäischen Kon- den“ erwägen und auf die Entwick- traumatisierte Ukraine sicherte zu, tinent verteilt und bleiben eine nicht lung neuer Sprengköpfe verzichten. ihr Nuklearmaterial, das für den Bau zu unterschätzende Gefahr, z. B. im Kritiker aus dem oppositionellen La- mehrerer Atombomben ausreicht, in Falle eines Raubs durch Terroristen, ger der Republikaner werfen ihm vor, den nächsten beiden Jahren bis zum die sie für einen Terroranschlag ein- der Verzicht auf Nuklearwaffen ge- letzten Gramm vernichten zu wollen. setzen könnten. Trotz alledem sind rade angesichts neuer Bedrohungen Auch Kanada plant, mehrere 100 Kilo bisher die Versuche zur vollständigen durch Iran und Nordkorea sei naiv. hoch angereichertes Uran aus seinen Beseitigung taktischer Nuklearwaffen Während dem linken Flügel der De- Forschungseinrichtungen in die USA gescheitert. Die Gründe hierfür sind mokratischen Partei der Kurswechsel zu verlagern. Dass Chile nach dem vor allem politisch-strategischer Na- Obamas nicht weit genug geht, wer- großen Erdbeben im März sein Nuk- tur: Für Russland bleiben taktische fen ihm die Konservativen die Ge- learmaterial aus Sicherheitsgründen Nuklearwaffen ein Mittel, die militä- fährdung der nationalen Sicherheit bei Nacht und Nebel in die USA ver- rische und strategische Überlegenheit vor. Aber es wäre eine Sensation ge- schiffen ließ, ist in Obamas Augen des NATO-Bündnisses zu kompensie- wesen, wenn Präsident Obama klipp ein hoffnungsvolles Zeichen für das ren. Russland wird deshalb erst dann und klar auf die Option des atomaren wachsende Verantwortungsbewusst- über die Abrüstung von taktischen Erstschlags verzichtet hätte. Indem er sein im Umgang und bei der Lage- Atomwaffen verhandeln, wenn es die weiterhin mit der Möglichkeit droht, rung radioaktiver Materialien. Die Garantie hat, dass die NATO keine Atomwaffen gegen Außenseiter-Staa- USA und Russland unterzeichneten Gefahr mehr darstellt. Deswegen muss ten einzusetzen, die die Welt mit Nu- ein Abkommen zur Vernichtung von Russland als gleichwertiger Partner in klearwaffen bedrohen, nimmt Obama 34 Tonnen Plutonium ab 2018. Vor die europäischen Sicherheitsstruktu- freilich Rücksicht auf die aufgeheizte allem waffenfähiges Uran und Pluto- ren eingebunden werden. Stimmung in Washington. Auch unter nium sollen nicht in falsche Hände Hier wird Europas Verantwor- Obama halten die USA an der atoma- geraten. Gemessen an heutigen Be- tung deutlich. Der erfolgreiche Ab- ren Abschreckung fest – mit behut- drohungsszenarien sei die Zeit des schluss des Start-Nachfolgevertrags samen Akzentverschiebungen. Der Kalten Krieges zwar „schwierig, aber bietet eine einmalige Gelegenheit, die erklärte, umstrittene Verzicht, keine übersichtlich“ gewesen. Die Sorge, Abrüstung taktischer Nuklearwaffen Atomwaffen mehr zu entwickeln und dass sich El Kaida eines Tages mit

20 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK

Hilfe skrupelloser Wissenschaftler ten zu begegnen. Je mehr Jerusalems liierten über die in Europa verblie- und profitgieriger Schmuggler eine Atomwaffen aber in den Fokus gera- benen taktischen Nuklearwaffen ge- Atombombe verschafft, treibt vor al- ten und je mehr sie nicht nur in der geben. Die Zahl der amerikanischen lem die Amerikaner um. Auch all das Wahrscheinlichkeitsform, sondern als Atomwaffen in Europa hat in den ver- radioaktive Material, das sich in For- Faktum auf internationalen Foren dis- gangenen 40 Jahren drastisch abge- schungseinrichtungen und medizini- kutiert werden, desto weniger haltbar nommen: Waren es 1971 noch etwa schen Geräten befindet, ist für den ist diese Politik der Mehrdeutigkeit. 7300, sollen es inzwischen höchstens Bau einer schmutzigen Bombe ver- Dieses Thema auf dem „Nuclear Se- 350 Stück sein. Die US-Waffen in Bü- wendbar und ist zu sichern. Pakistan, curity Summit“ hochzuziehen, nur um chel werden im Rahmen des NATO- das praktisch über Nacht zur Atom- einmal gegen Israel zu punkten, wäre Konzepts der nuklearen Teilhabe ge- macht aufgestiegen war, wehrte sich nicht klug gewesen. Denn es hätte von lagert, mit dem jene Mitgliedstaaten in gegen die Rolle des „bösen Buben“, den wirklichen Problemen abgelenkt. einen Einsatz einbezogen werden kön- der atomar weiter aufrüstet, ohne sich Etwa vom iranischen Atomprogramm, nen, die selbst über keine Atomwaf- internationalen Kontrollen zu unter- das die eigentliche strategische Be- fen verfügen. Deutschland stellt die werfen. Dass Indiens instabiler Nach- drohung für die arabischen Staaten Tornado-Trägerflugzeuge für die Bom- bar und Rivale darüber hinaus noch ist, weil Teheran offen terroristische ben. Noch im Sommer 2008 warnte die die Kaida-Terroristen vor der eigenen Organisationen wie die libanesische damalige Bundesregierung davor, die Haustür weiß, lässt die Alarmglocken Hisbollah und die palästinensische nukleare Teilhabe als Kern des Nord- schon seit längerem schrillen. Iran Hamas unterstützt. Schließlich sind atlantischen Bündnisses in Frage zu hatte Obama ebenso wie Nordkorea es vor allem islamistische Terroris- stellen. Die Wende in dieser Haltung gar nicht erst eingeladen. Auf Granit ten – mit einer starken arabischen kam mit dem Regierungswechsel. Der biss der abrüstungswillige Gastgeber Komponente wie El Kaida – die sich heutige deutsche Außenminister Gui- ausgerechnet bei Frankreichs Präsi- bisher bemüht haben, an Atombom- do Westerwelle hatte schon länger auf denten Sarkozy. Auf seine Atomwaf- benmaterial zu kommen. einen Abzug der Waffen als wichtiges fen, Frankreichs Eintrittskarte für den Mit Obama steht die atomare Ab- Abrüstungssignal gepocht. Die Uni- Club der Großen, will Sarkozy auf kei- rüstungsdebatte, die nach dem Ende onsparteien stimmten letztlich in den nen Fall verzichten. Israels Premier- des Kalten Krieges tatsächlich ein Koalitionsverhandlungen unter der minister Benjamin Netanjahu war vor- Stück weit in Vergessenheit geraten Bedingung zu, dass es keinen deut- sorglich gar nicht erst zur Konferenz schien, wieder auf der Tagesordnung. schen Alleingang gebe. Westerwelle erschienen, um nicht Zielscheibe von In Deutschland sind wahrschein- und seine Amtskollegen aus Norwe- arabischen und anderen islamischen lich noch zehn bis 20 Nuklearbom- gen und den Benelux-Staaten haben Staaten zu werden, die weniger über ben nahe dem Ort Büchel in der Eifel in einem Brief an NATO-Generalse- Nuklearsicherheit reden, sondern Is- stationiert. Auch in Italien, Belgien, kretär Anders Fogh Rasmussen eine rael wegen seiner Atompolitik an den der Türkei und den Niederlanden la- Debatte darüber gefordert. Bei der Pranger stellen und seine Unterzeich- gern noch amerikanische Atomwaf- NATO-Außenminister-Tagung im Ap- nung des Atomwaffensperrvertrages fen, insgesamt wohl nicht mehr als ril in der estnischen Hauptstadt Tal- betreiben wollten. Die vermuteten 200 Stück. In der neuen Strategie legt lin waren Beratungen über weitere israelischen Atomwaffen sind nach sich Obama nicht auf einen Abzug Schritte zur nuklearen Abrüstung auf juristischen Maßstäben nicht illegal, dieser Atomwaffen aus Europa fest. die Tagesordnung gesetzt worden. Ein weil das Land, anders als der Iran, Wie Amerikas Vizepräsident Joe Bi- Bündnis aus Deutschland, Belgien und so wie Indien und Pakistan den den verkündet hat, soll die deutliche und drei weiteren NATO-Mitglieds- Nichverbreitungsvertrag nie unter- Reduzierung der Sprengköpfe zum ländern will von den USA den Abzug zeichnet hat. Deshalb hat die inter- Teil dadurch aufgewogen werden, dass aller Atomwaffen aus Europa verlan- nationale Gemeinschaft auch kein mehr Sorgfalt darauf verwendet wird, gen. Diesem Bündnis gehören auch Recht, Inspektionen zu fordern. Is- die Funktionsfähigkeit der verblei- Luxemburg, die Niederlande und Nor- raels Umgang mit seinen Atomwaffen benden Waffen sicherzustellen. Im wegen an. Es hofft, dass die USA ihr ist jedoch problematisch, Sie stellen Haushalt für 2011 hat Obama deshalb Atomwaffenarsenal möglicherweise eine Anomalie dar, die nur dadurch eine Erhöhung des Budgets der Nuk- um Tausende Waffen und damit auch erklärbar ist, dass der kleine Staat in learsicherheitsbehörde um 13 Prozent die taktischen Atomwaffen in den be- den letzten 60 Jahren wie kaum ein auf 11,2 Milliarden Dollar vorgesehen troffenen Ländern reduzieren wird. anders Land gefährdet war und Vor- – die größte Ausweitung aller Regie- Diese Erwartung ist verständlich, aber sorge treffen wollte. Israel hat aber rungsinstitutionen. Offenbar soll das wohl etwas verfrüht. Die Reduzierung nie zugegeben, über Atomwaffen zu Kritiker auch auf republikanischer der so genannten taktischen Atom- verfügen und eine „Politik der Mehr- Seite besänftigen. Die bemängeln, waffen mit kurzer Reichweite in Eu- deutigkeit“ verfolgt. Denn herauszu- dass der geplante Abbau nicht in eine ropa ist für Obama tatsächlich kein posaunen, dass man diese Waffen hat, Zeit passe, in der Problemstaaten wie vorrangiges Ziel. Keine dieser Waf- hätte die umliegenden, zum Teil feind- Nordkorea und der Iran Atomwaffen fen bedroht schließlich die eigenen seligen Staaten gezwungen, ebenfalls haben oder entwickeln. Grenzen. Dringenden Handlungsbe- Atomwaffen zu entwickeln – schon Hinter den Kulissen hat es auch darf sieht Washington auch unter ei- um dem Druck ihrer Öffentlichkei- Gespräche mit den europäischen Al- nem prinzipiell abrüstungsbereiten

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 21 SICHERHEIT UND FRIEDENSETHIK

Präsidenten dafür nicht. Bundesau- Atomwaffen und nuklearem Materi- ihr Vorhaben in diesem Zusammen- ßenminister Westerwelle hatte bei al, begrüßen die Minister in ihrem hang besser stehen. Zudem wollen wiederholten Gelegenheiten, auch bei Brief an den NATO-Generalsekretär die Außenminister die Debatte über der Münchner Sicherheitskonferenz, das Ziel von US-Präsident Obama, das strategische Konzept der NATO die Forderung nach Abzug der noch alle Atomwaffen abzuschaffen. „Wir beeinflussen, das voraussichtlich auf in Deutschland verbliebenen Atom- glauben, dass wir auch in der NATO den NATO-Gipfel im November in bomben bekräftigt. Angesichts der im diskutieren sollten, wie wir diesem Lissabon für die nächste Dekade fest- Mai in New York stattfindenden, alle übergeordneten politischen Ziel nä- legen wird, welche Rolle die Allianz 5 Jahre terminierten Überprüfungs- her kommen können“. Zugleich rech- der nuklearen Abschreckung künftig Konferenz zur Nichtverbreitung von nen sie damit, dass die Chancen für noch beimisst. ❏

Kurznachrichten Caritas in Russland ist wieder aufgeblüht Sant‘Egidio organisiert Tagung in Rom

ie Caritas in Russland ist nen Nebenräumen verfolg- verteidigen kann, und immer Dwieder aufgeblüht. Der Me- te die Arbeiten dieser Tagung, mehr darum, wie man sich vor tropolit Filaret von Minsk, vom die ein Thema der verschiede- den Armen verteidigen kann. Moskauer Patriarchat, wies jetzt nen christlichen Traditionen zur Ja, sich vor den Armen vertei- in Rom darauf hin, dass die Wer- Sprache brachte, das – wie er- digen!“, so Ricardi. ke der Nächstenliebe nach dem wähnt wurde – ein unumgäng- „In einer Gesellschaft, in Ende des Sowjetregimes in den liches Element der christlichen der die Wirtschaft zum Maß- orientalischen Kirchen wieder Identität und ein Faktor der Ein- stab des Urteilens wird, ist der aufgeblüht sind. heit der Kirche darstellt. Arme bedeutungslos. So werden Ber der Tagung „Die Armen „Wir Christen der verschie- die Armen unsichtbar, sie treten sind der kostbare Schatz der denen Konfessionen sind schon nicht in Erscheinung. Die alten Kirche: Orthodoxe und Katho- in der Liebe zu den Armen ver- Menschen (es ist ein großes Ge- liken auf dem Weg der Nächs- eint“, betonte Andrea Riccar- schenk unserer Zeit, dass die tenliebe“, die jetzt in Rom statt- di, der Gründer der Bewegung Zahl der Lebensjahre ansteigt, fand erklärte Filaret: „In den Sant‘Egidio. Ricardi betonte, was den Traum von Jahrhunder- Sprachen der heutigen Gesell- dass diese Liebe auch auf die ten verwirklicht) werden aus den schaft verschwinden die Wor- tiefen Fragen der Männer und Familien vertrieben und sterben te ‚Nächstenliebe‘ und ‚Wohl- Frauen unserer Zeit eine Ant- allein in Heimen, ungesehen. tätigkeit‘ Schritt für Schritt aus wort gibt: „Wir leben in einer Kranke, Gefangen sind außer- dem Sprachgebrauch und neh- schwierigen Zeit. Viele Men- halb unseres Blickes. Die Bett- men einen etwas archaischen schen leiden in den reichen Län- ler werden aus den Stadtzentren Klang an“. dern unter der Wirtschaftskrise, vertrieben, weil sie das Umfeld Die von der Gemeinschaft die die Armut vergrößert. Es gibt hässlich machen. Die Armen Sant‘Egidio in Rom ausgerich- nicht nur happy days. Im Süden machen keine Schlagzeilen. Die tete Tagung führte Vertreter der der Welt leiden viele in den ar- Medien vergessen die Armut katholischen und orthodoxen men Ländern. Die Solidarität im schnell: das ist der Fall bei Ha- Kirche zusammen. Bereich des Marktes wird durch iti, das nach der richtigen Me- Ein zahlreiches und auf- die Wirtschaftskrise und den dienaufmerksamkeit in den ers- merksames Publikum im über- Wettbewerb schwächer“. ten Tagen nach dem schreckli- füllten Tagungssaal und auch „Es geht immer weniger um chen Erdbeben vergessen ist“. in den über Video verbunde- die Frage, wie man die Armen (ZENIT)

22 AUFTRAGAUFTRAG 278 • JJUNIUNI 2010 0 GESELLSCHAFT NAH UND FERN Neues Selbstbewusstsein Russisch-orthodoxe Kirche: Ein Jahr Patriarch Kyrill I.

VON OLIVER HINZ (KNA-KORRESPONDENT)

er Moskauer Patriarch Kyrill I. sten kann bereits eine Reihe von Er- hat in den ersten 15 Monaten folgen vorweisen. Staatspräsident Dan der Spitze der russisch- Dmitri Medwedew erfüllte nach Ge- orthodoxen Kirche klare Akzente ge- sprächen unter vier Augen gleich drei setzt. So boykottierte er die im Oktober zentrale Patriarchenwünsche. Mit ei- 2009 gewählte Spitzenrepräsentantin nem Pilotprojekt ebnete er der Wie- der deutschen Protestanten, Bischöfin dereinführung des Religionsunter- Margot Käßmann, und schmiedet zur richts an Schulen den Weg. Auch den Verteidigung konservativer Werte ein Ausbau der bislang bescheidenen Mi- Bündnis mit dem Vatikan. Seit Amts- litärseelsorge ordnete der Kremlchef antritt des charismatischen Kyrill I. an. Und erst vor wenigen Wochen er- am 1. Februar 2009 strotzt Russlands reichte Kyrill das Versprechen, dass orthodoxe Kirche vor neuem Selbst- die Kirche fast ihr gesamtes zu So- bewusstsein – manchmal sogar gegen- wjetzeiten enteignetes Eigentum zu- über dem Kreml. rückbekommt. Das Oberhaupt von weltweit 150 Großen Respekt genießt der Patri- Millionen russisch-orthodoxen Chri- arch bei vielen Russen besonders we- Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland nach seiner Stichwort Intronisation. Russisch-orthodoxe Kirche (Quelle: www.oki-regensburg.de) gen seines souveränen und bisweilen ie russisch-orthodoxe Kirche ist mit rund 150 Millionen Gläubigen humorvollen Auftretens. Vor Fernseh- Ddie mit Abstand größte orthodoxe Nationalkirche. In Russland be- publikum scherzte er etwa über sei- kennen sich gut zwei Drittel der Bevölkerung zu ihr – etwa 100 Millio- ne Aversion gegen das Klavierspie- nen Menschen. Fast alle übrigen ehemaligen Sowjetrepubliken zählt das len und lobte seine selbst gemachten Moskauer Patriarchat ebenfalls zu seinem kanonischen Territorium. Die Frikadellen. In der „Elite-Rangliste“ Zahl der Pfarreien und Geistlichen stieg nach dem Ende des kirchen- des staatlichen Meinungsforschungs- feindlichen kommunistischen Regimes stark an. Heute gibt es 167 Diö- instituts VCIOM landete Kyrill I. im zesen, rund 30.000 Pfarreien und 202 Bischöfe. Dezember auf Platz vier – höher stuf- Nach dem Tod des Moskauer Patriarchen Alexij II. im Dezember te die Bevölkerung nur Ministerpräsi- 2008 wurde im Januar 2009 Metropolit Kyrill von Smolensk und Kali- dent Wladimir Putin, Präsident Med- ningrad zum neuen Patriarchen gewählt. Zwischen der Kirche und dem wedew und eine Musikerin ein. geistigen Zentrum der Weltorthodoxie, dem Ökumenischen Patriarchat Auch der langjährige katholische von Konstantinopel, gibt es Meinungsverschiedenheiten beim Umgang Moskauer Erzbischof Tadeusz Kon- mit den nationalen orthodoxen Abspaltungen in der Ukraine und Estland. drusiewicz bewundert den „enormen Das Wort „orthodox“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet Enthusiasmus“, mit dem Kyrill I. die „rechter Lobpreis“. Die russische Kirche entstand im Jahr 988 mit der größte orthodoxe Nationalkirche lei- Taufe des Kiewer Großfürsten Wladimir. Nach dem Zerfall der Kirchen- tet. „Er ist ein sehr guter Organisator, einheit 1054 erkannte die Orthodoxie allein die sieben ersten ökumeni- sehr aktiv, gut vorbereitet, sehr be- schen Konzilien an. Sie verwirft die neueren katholischen Dogmen wie redt und beliebt, nicht nur in Russ- die Unfehlbarkeit des Papsts oder Aussagen über Maria. Auch sieht die land, sondern weltweit bekannt, eine Orthodoxie den Papst nicht als Oberhaupt der Gesamtkirche, sondern echte Führungspersönlichkeit“, sag- als Bischof von Rom und gleichgeordneten Patriarchen des Westens. te der heutige Minsker Erzbischof der Ende des 16. Jahrhunderts erhielt die Kirche von Moskau den Rang Katholischen Nachrichten-Agentur eines Patriarchats. Während der Kirchenreform von Zar Peter dem Gro- (KNA). Der Patriarch habe seiner Kir- ßen (1682-1725) wurde die russisch-orthodoxe Kirche Staatskirche. che einen neuen Schub geben. Auch Bis 1917 blieb sie staatsgebunden. Nach der Oktoberrevolution spalte- die Beziehungen zur katholischen Kir- te sich in den 1920er Jahren die russisch-orthodoxe Kirche außerhalb che hätten sich stark entwickelt – die Russlands (ROKA) von der Mutterkirche ab. Erst 2007 kam es zur Wie- Standpunkte des Patriarchen deckten dervereinigung. sich in theologischen Fragen fast voll- ständig mit denen von Benedikt XVI.

AUFTRAGAUFTRAG278 278 • JJUNIUNI 2010 23 GESELLSCHAFT NAH UND FERN

Einen Zeitplan für eine historische hatte. Auch nach dem Rücktritt der Begegnung der Oberhäupter beider EKD-Vorsitzenden wurde der Dialog seit rund tausend Jahren getrennten noch nicht wieder aufgenommen. Die Kirchen gebe es allerdings noch nicht. Nummer zwei des Moskauer Patriar- Stark abgekühlt haben sich da- chats, Außenamtschef Erzbischof Hi- gegen die Beziehungen zu den deut- larion, will jedoch bald nach Deutsch- schen Protestanten. Wegen der Wahl land kommen. Käßmanns zur EKD-Ratsvorsitzen- Dass Kyrill. I. nicht immer auf den kam es im November zum Eklat: Kremlkurs ist, zeigte er im Fall des Die in Berlin und Moskau geplan- von Georgien abtrünnigen Abchasien. ten Feiern zum 50-jährigen Jubiläum Während das russische Parlament die des Dialogs zwischen beiden Kirchen Unabhängigkeit der Kaukasusregion platzten. Kyrill I. lehnte Käßmann als anerkannte, entriss der Patriarch die Gesprächspartnerin ab. Nun herrscht Staatspräsident Dmitri Medwedew Kirchenprovinz nicht der georgisch- auf Spitzenebene erst einmal Funk- im Gespäch mit Patriarch Kyrill I. orthodoxen Kirche. Eine herbe Ent- stille. Eine Frau als Kirchenführerin Das Kirchenoberhaupt Kyrill I. täuschung für die selbst ernannte ab- – das widerspricht den Grundsätzen erklärte bei diesem Treffen, es sei chasische Nationalkirche, die gerne der orthodoxen Kirche. Zwar kappte sehr wichtig, dass Religions- unter die Fittiche Moskaus möchte. das Patriarchat den Kontakt zur EKD unterricht auf freiwilliger Basis Wie eng die Bindung von Kyrill I. zu nicht vollends, stoppte aber den einst stattfinde. Man müsse ohne Medwedew sonst ist, sah man während fruchtbaren Dialog beider Kirchen jeglichen Druck und Einfluss von des Weihnachtsgottesdienstes. Vor in der bisherigen Form. Kyrill I. hat- außen frei zwischen den Grund- dem Altar tauschten beide Geschenke te nicht einmal auf einen Brief Käß- lagen der russischen Orthodoxie, aus. Der Staatschef übergab ein hand- manns geantwortet, in dem diese ihn des Islam, des Judaismus oder des geschriebenes Neues Testament, der kurz nach ihrem Amtsantritt um die Buddhismus auswählen können. Patriarch eine Sammlung russischer Weiterführung des Dialogs gebeten (domradio.de) Gedichte. (KNA/PS)

Salzburger Hochschulwochen Endlich! Leben und Überleben

VON BERTRAM BASTIAN

nter diesem Titel wird von Montag, den 2., bis Sonntag, den 8. August 2010, in verschiedenen Diskursen nach dem Stellenwert und der Bedeutung von dem gefragt, was das Ende und die Endlichkeit in unserem ULeben und für unser Überleben darstellt. Die Salzburger Hochschulwoche, die seit 1931 durchgeführt wird, soll das Gespräch der Theologie mit den anderen Wissenschaften pflegen und führen, jungen Studieren- den die Möglichkeit am interdisziplinären Gespräch der Wissenschaften bieten und nicht zuletzt ein Forum der Begegnung verschiedener Generationen und Länder sein.

Geschichtlicher Rückblick katholischer Positionen, und zwar als konferenz der Benediktiner, das Ka- m Jahr 1931, in der Zeit der Welt- Selbstüberprüfung nach innen wie tholische Hochschulwerk Salzburg, Iwirtschaftskrise, dem Empor- als Darstellung nach außen hin. Als die Görres-Gesellschaft, die Katholi- kommen des Nationalsozialismus in Sommeruniversität konzipiert, sollten schen Akademikerverbände Deutsch- Deutschland, wurde die deutschspra- die Salzburger Hochschulwochen die lands und Österreichs sowie das Fo- chige Öffentlichkeit aufgefordert, ihr Gründung einer katholischen Univer- rum Hochschule und Kirche der Deut- Wissen und ihre Bildung nach katho- sität in Salzburg forcieren, was aber schen Bischofskonferenz. Karl Rah- lischen Grundsätzen in streng wissen- nicht gelang. 1939 wurde die Veran- ner hat in Salzburg seinen „Hörer des schaftlicher Methode zu erweitern und staltung auf Anweisung der National- Wortes“ erstmals entwickelt und vor- zu vertiefen. Mit diesem Anschrei- sozialisten verboten und nahm ihren getragen – einen der religionsphiloso- ben zu den ersten Hochschulwochen „Vorlesungsbetrieb“ gleich 1945 wie- phischen Grundtexte des 20. Jahrhun- setzten die Salzburger Wissenschaft- der auf, als die Menschen Halt und derts. Mehrfach ist Joseph Ratzinger, ler ein theologisches Signal in einer Stütze brauchten. bevor er Papst wurde, als Festredner Zeit, in der die Menschen nach Orien- Träger der Einrichtung sind die aufgetreten. Aber auch Persönlich- tierung suchten. Es ging um die wis- Theologische Fakultät der Univer- keiten wie Ruth Klüger, August Ever- senschaftlich fundierte Vermittlung sität Salzburg, die Salzburger Äbte- ding oder Hans-Georg Gadamer und

24 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 GESELLSCHAFT NAH UND FERN zuletzt Peter Simonischek, um nur lungsoptionen durchsetzt, vermittelt Akademikerarbeit Deutschlands, in einige zu nennen, haben die Salzbur- sich im Glauben an die unendliche der die GKS Mitglied ist, zwei Mit- ger Hochschulwochen als ein Forum Lebensmacht Gottes. Die Reich-Got- glieder des Präsidiums vertreten, Frau offener Katholizität und auseinan- tes-Botschaft Jesu Christi erfasst sie Elke Peters, die Vizepräsidentin und dersetzungsbereiter Gesprächskul- unter einem besonderen Vorzeichen: Schatzmeisterin, und Dr. Wolfgang tur etabliert. nichts ist dringlicher als der Macht Löhr, der Altpräsident. des Lebens über den Tod Raum zu Die Tage beginnen mit einer Eu- Veranstaltung 2010 geben. Das „Endlich!“ des Programm- charistiefeier oder einem gemeinsa- ie Salzburger Hochschulwoche titels arbeitet in seinen unterschied- men Gebet in der Regel ab 08.45 Uhr. „D2010 stellt sich einem Thema, lichen Wortbedeutungen an dem, was Zwischen 10.00 Uhr und 12.00 Uhr das im Zuge begrenzter Lebensres- an- und was aussteht. Endlich – das finden Vorlesungen statt, am Nachmit- sourcen eine besondere Intensität ver- nimmt unsere Existenz-Limits ernst. tag ab 14.30 Uhr werden Vorlesungen spricht und zu kritischen Positionsbe- Endlich – darin steckt ein befreiendes mit Kolloquien veranstaltet. Ausnah- stimmungen herausfordert: ‚Endlich! Moment, ein Anfang. Endlich – das me ist der Donnerstagnachmittag, an Leben und Überleben‘. Die befristete meint zugleich die Anspannung an- diesem wird der Publikumspreis ver- Lebenszeit und das Ende des Lebens gesichts anstehender Aufgaben.“ Mit liehen. Am Sonntag findet der Fest- überhaupt sind Probleme, die Reli- diesen Worten stellt der Obmann des gottesdienst im Salzburger Dom statt, gionen immer wieder bearbeitet ha- Direktoriums der Salzburger Hoch- bevor der Akademische Festakt in der ben. Für das Christentum verbindet schulwochen, Univ.-Prof. Dr. Gregor großen Aula der Universität die dies- sich damit eine Hoffnungsperspek- Hoff, die diesjährigen Veranstaltun- jährigen Hochschulwochen beschlie- tive. Die menschliche Endlichkeit, gen in dem Flyer vor. In diesem Di- ßen wird. Festrednerin wird an diesem die sich komplex in unseren Hand- rektorium sind von der Katholischen Tag Gesine Schwan sein.

Autobahnkirchen in Deutschland

VON BERTRAM BASTIAN

eutschland hat mit eines der bes- ge und Dauerbaustellen dafür, dass nung bis zu 1.000 m von der Strasse Dten Autobahnnetze in Europa, Fahrten auf unseren Autobahnen im- entfernt, den Reisenden die Möglich- wenn nicht das Beste. Diese ausge- mer ein Erlebnis sind. keit bieten, sich einige Augenblicke zeichnete Infrastruktur in Verbindung Soldatinnen und Soldaten ken- von dem Stress zu erholen. Sowohl mit der zentralen Lage Deutschlands nen diese Autobahnen in der Haupt- konfessionell gebundene Kirchen als in Europa führt dazu, dass der Tran- sache am Wochenende, wenn man auch ökumenische Häuser sind eben- freitags eilig nach Hause fährt, um die Familie zu sehen oder die an- stehenden Probleme zu lösen. Am Sonntag oder in der frühen Montag- nacht macht man sich wieder auf den Weg zurück zur Dienststelle und hetzt über dieselben Strecken. Die Landschaft nimmt man schon gar nicht mehr wahr, konzentriert sich stattdessen auf die „Blechlawine“ und dass man heil durchkommt. Da Bild 1 fällt das kleine Zeichen am Stra- ßenrand, das schwarze Kirchlein auf sitverkehr die Republik im wahrsten weißem Grund, kaum auf. Auch aus Sinne des Wortes überrollt. Durch die diesem Grund ist es auf die Titelsei- Verringerung der Lagerhaltung bei te gerutscht. Das Zeichen soll die der Industrie, verbunden mit dem hastenden Menschen darauf aufmerk- Stichwort „just in time production“, sam machen, dass es eben doch mehr Bild 2 hat der Schwerlastverkehr diese Ver- gibt, als nur die Hetze im Alltag. kehrsadern fest im Griff. Die Auto- In Deutschland gibt es Autobahn- falls zu finden, denn – schon diese bahnmeistereien müssen diese Stre- kapellen, die meist auf Rastplätzen Tatsache ist für Deutschland bemer- cken instand halten und sorgen mit direkt an der Autobahn liegen und es kenswert – es gibt keine Vorschriften Wanderbaustellen für Grünholzpfle- gibt Sakralbauten, die in einer Entfer- über Autobahnkirchen. Immer führt

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 25 GESELLSCHAFT NAH UND FERN die Entscheidung einer örtlichen Ge- taurierung des Innenraumes die Bli- In fast allen Kirchen und Kapel- meinde zur Einrichtung einer solchen cke auf die Wandmalereien früherer len findet man ein Buch, in dem man Kirche oder Kapelle. Diese Gemein- Tage frei. seine Gedanken und Wünsche nie- de, die im Regelfall die Einrichtung Aber auch junge Kirchen finden derschreiben kann. Ob es der glück- dann auch betreut, sorgt dafür, dass sich in der Sammlung der Autobahn- liche Autofahrer ist, der knapp einem zu bestimmten Tageszeiten die Kirche kirchen, die eine ganz andere Art und Unfall entkommen ist oder der ver- offen und zugänglich ist für die Besin- Weise besitzen, um den Besucher zu zweifelte Gläubige, der Gott bittet, nungssuchenden. Aber das ist auch beeindrucken. Auf dem Weg zu der seine Familie vor drohender Tren- unterschiedlich, Kapellen auf den Martinskirche (Evangelische Auto- nung zu bewahren. Diese Orte geben Rastplätzen sind meist 24 Stunden bahn- und Gemeindekirche Waldlau- uns Menschen die Möglichkeit, zu geöffnet, die evangelische Autobahn- bersheim, an der A61 im Rheinland uns selbst zu finden, nicht unterzu- und Gemeindekirche in Gelmeroda Bild 2) gelangt man von der lärmen- gehen in dem teils selbst verursach- zum Beispiel täglich von 08.00 Uhr den, breiten Autobahn in eine andere ten Stress. An diesen Orten sollte uns bis 20.00 Uhr. Historisch interessan- Welt. Kleine, enge Gassen, die durch wieder bewusst werden, dass es Be- te Kirchenbauten wie die ökumeni- das Winzerdorf hin zur Kirche führen, deutenderes gibt als wichtig zu sein. sche Autobahnkirche Jakobikirche lassen den Eindruck entstehen, dass Und das es Einen gibt, der größer ist in Wilsdruff, an der A4 in Sachsen hier die Zeit langsamer vergeht. Zur als alles andere. (Bild 1) bieten dem Besucher his- Kirche selbst muss man einige Trep- Wer sich mehr informieren möch- torische Raritäten. Ist die Jakobi- pen steigen, um dann in der Kirche te oder vielleicht plant, eine Ur- kirche doch die älteste, erhaltene zur Ruhe zu kommen. Die Hektik und laubsreise entlang dieser schönen Wehrkirche in Ostsachsen und ist der pulsierende Lärm sind weit weg, Objekte durchzuführen, der kann ein Schmuckstück des romanischen bis man sich selbst wieder auf den sich im Internet unter der Adresse Sakralkirchenbaus. Darüber hinaus Weg macht, zurück in die Betrieb- www.autobahnkirche.de über diese gibt sie durch die unvollendete Res- samkeit der Autobahn. sehenswerte Orte unterrichten. ❏

Kurznachrichten: Das Recht auf Kruzifixe

er emeritierte Kölner fünf Richtern bestehendes tanz einer italienischen Mut- DStaatsrechtler Martin Gremium billigte die Über- ter Recht gegeben, die sich Kriele hat scharfe Kritik am weisung des Falls an eine aus gegen Kreuze an öffentlichen Europäischen Gerichtshof für 17 Richtern bestehende Gro- Schulen gewandt hatte. Die Menschenrechte mit Blick auf ße Kammer. Regierung und Richter erklärten, das Kreuz das Kruzifix-Urteil geübt. katholische Kirche in Italien könne als religiöses Symbol Sollte die Große Kammer nun begrüßten die Wiederaufnah- auf Kinder verstörend wirken. im Revisionsverfahren das me des Kruzifix-Verfahrens. Das Recht, an keine Religion Urteil ohne enge Eingrenzung Wird das ursprüngliche zu glauben, gehöre zur Reli- bestätigen, habe dies weitrei- Urteil bestätigt, verletzten gionsfreiheit. Nach Krieles chende Konsequenzen, warnt „eigentlich alle Kruzifixe in Ansicht folgt das Urteil der Kriele in einem Gastbeitrag allen öffentlichen Räumen Auffassung, dass es ein Men- für die „Frankfurter Allge- die Menschenrechte“, so der schenrecht sei „in einem sä- meinen Zeitung“. Denn nach Staatsrechtler. Dasselbe gel- kularisierten Staat zu leben, seiner Überzeugung folgt das te für alle öffentlichen Er- in dem sich die Religion voll- Urteil der Logik des Schwei- scheinungsformen von Reli- ständig aus dem öffentlichen zer Minarett-Verbots. gion, wie das Glockenläuten Leben zurückgezogen hat“. Das Gericht hatte am 2. bis hin zu Kirchen und Mo- Diese Formel finde sich aber März entschieden, über das scheen. in keiner Menschrechtskon- umstrittene Kruzifix-Urteil Der Menschenrechtsge- vention. neu zu verhandeln. Ein aus richtshof hatte in erster Ins- (KNA-ID-09/2010)

26 AUFTRAGAUFTRAG 278 • JJUNIUNI 2010 0 BILD DES SOLDATEN Eine starke Gemeinschaft

VON GEORG-PETER SCHNEEBERGER

n der Diözese Eichstätt in der Pfarrei St. Martin in Wettstetten wurde das GKS-Mitglied Georg-Peter Schnee- berger zum Vorsitzenden des örtlichen KAB-Verbandes gewählt. In dem folgenden Artikel stellt er die KAB Ivor, die viele von uns nur durch ihre Häuser kennen. ie Katholische Arbeitnehmer „Werkvolk – Süddeutscher Verband darische und gerechte Entwicklung in DBewegung (KAB) ist ein Sozi- katholischer Arbeitnehmer“. 1972 zahlreichen armen Ländern rund um alverband, der seine Wurzeln in der wurde aus dem Werkvolk die Katho- den Globus. Der KAB-Diözesanver- christlichen Arbeiterbewegung des lische Arbeitnehmer-Bewegung. band Eichstätt ist zum Beispiel Part- 19. Jahrhunderts hat. Die KAB ent- Die KAB ist ein Verband der sich nerorganisation des Christian Wor- stand aus dem Zusammenschluss von kirchlich, sozial- und gesellschafts- kers Movement Kenyas. Zahlreiche Arbeitervereinen durch Unterstüt- politisch engagiert. Religiöse Orien- weitere Informationen erhält man im zung des Mainzer Bischofs Wilhelm tierung durch Besinnungstage und Internet unter: www.kab.de und www. Emmanuel von Ketteler (1811-1877). Exerzitien, Bildungsangebote für Ar- kab-eichstaett.de. Ausdrückliche Anerkennung und Ori- beitnehmer/innen und ihre Familien, Die KAB Deutschlands. gliedert entierung erhielten die katholischen arbeits- und sozialrechtliche Bera- sich in Diözesanverbände. Alle KAB- Arbeitervereine durch das erste große tung und Vertretung vor Arbeits- und Vereine/Ortsgruppen eines Bistums Sozialrundschreiben Rerum novarum Sozialgerichten, Steuerhilfe für Ar- bilden den Diözesanverband. Der- zeit besteht die KAB Deutschlands. aus den Diözesanverbänden Aachen, Augsburg, Bamberg, Berlin, Dres- den-Meißen, Eichstätt, Erfurt, Essen, Freiburg, Fulda, Görlitz, Hamburg, Hildesheim, Köln, Limburg, Magde- burg, Mainz, München und Freising, Münster, Osnabrück, Paderborn, Pas- sau, Regensburg, Rottenburg-Stutt- gart, Speyer, Trier, Würzburg. Der Mitgliederstand bewegt sich bei ca. 150.000 Mitgliedern. Als Jugend- organisation arbeitet die Christliche Arbeiterjugend (CAJ) mit der KAB zusammen. Der KAB-Mitgliedsbeitrag OStFw a.D. Georg-Peter Schneeberger (dritter von rechts, hinten stehend) braucht keinen Leistungsvergleich wurde als Vorsitzender gewählt. Gleichzeitig wurden er als Delegierter für zu scheuen mit anderen Sozialver- den KAB Kreisverbandstag und für den KAB Diözesanverband bestimmt. bänden und anderen Verbänden mit anerkannter berufspolitischer Zweck- von Papst Leo XIII. im Jahre 1891. In beitnehmer, politische Aktionen aber setzung. Der Mitgliedsbeitrag anderer diesem Jahr erfolgte im süddeutschen auch gesellige Veranstaltungen zählen Sozial- und Berufsverbände, die teil- Raum der Zusammenschluss zum Ver- zum Angebot der KAB. Die KAB ver- weise erheblich weniger Rechtsschutz band Süddeutscher Katholischer Ar- steht sich als Kirche in der Arbeits- und Programmangebote vorhalten, beitervereine. welt und versteht sich innerhalb der liegt bereits heute deutlich über den Nach der Machtübernahme der Kirche auch als Fachverband für die für 2010 beschlossenen KAB-Bei- Nationalsozialisten im Jahre 1933 Interessenvertretung der Arbeitneh- trägen. wurden die Arbeitervereine reihen- mer/innen. Der Begriff des Arbeit- Die aktuellen Jahresbeiträge be- weise verboten. Aus den Reihen der nehmers wird dabei weit begriffen tragen: Einzelmitglied 45,00 Euro / KAB gingen auch die von den Na- und umfasst zum Beispiel eben auch Familie 60,00 Euro zis ermordeten Widerstandskämpfer Soldaten. Das KAB-Mitgliedermaga- Die KAB in unserem Heimat- Nikolaus Groß und Bernhard Letter- zin „Impuls“ liefert monatlich gute bistum Eichstätt präsentiert ein at- haus hervor. Nikolaus Groß wurde am Informationen zu religiösen, sozialen traktives Jahresprogramm für Arbeit- 7. Oktober 2001 von Papst Johannes u. politischen Themen. Die KAB ist nehmerInnen, Familien, Frauen und Paul II. selig gesprochen. Teil der Weltbewegung Christlicher Männer, sowie Senioren. Das Kette- Im süddeutschen Bereich erfolgte Arbeiter (WBCA) und unterstützt mit ler-Ferienwerk offeriert preisgünsti- 1947 ein Neubeginn der ehemaligen einem eigenen internationalen Hilfs- ge Urlaubsfahrten im In- und Aus- Arbeitervereine unter dem Namen werk, dem Weltnotwerk der KAB, soli- land. ❏

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 27 BILD DES SOLDATEN

Ansprache zum Weltfriedenstag, 2010 im Collegium Josephinum in Bonn „Willst Du den Frieden fördern, so bewahre die Schöpfung! “

VON GENERAL KARL-HEINZ LATHER1

ie Botschaft des Papstes betrach- sollen es 74 getötete Zivilisten sein, im Gange und wird leider stark par- Dtet die Schöpfung, um die wir darunter zahlreiche Kinder im Al- teipolitisch instrumentalisiert und ge- Menschen uns kümmern sollen. Die- ter von acht bis zwölf Jahren. Jeder nutzt. Ich möchte mich hier an den se Schöpfung ist uns von Gott anver- einzelne Tote ist dabei einer zuviel. Spekulationen über Ziel und Zweck traut. Wir sollen verantwortungsvoll Über diesen Sachverhalt und seiner dieser Arbeit nicht beteiligen. mit ihr umgehen. Das ist der göttliche politischen Bewertung wurden der Oberst Klein hat seine militäri- Auftrag. Nur an wenigen Stellen sind Generalinspekteur der Bundeswehr, sche Verantwortung übernommen und in der Schrift Benedikts Bezüge zum General Wolfgang Schneiderhan, und sieht sich wahrscheinlich einem Er- Militärischen enthalten. Ganz zu Be- ginn verweist Benedikt XVI. auf die Grausamkeit „des Menschen gegen den Menschen…, die den Frieden. “ bedrohe durch „Kriege, internationa- le und regionale Konflikte, Terrorakte und Menschenrechtsverletzungen“. Zur Mitte spricht er die aktuellen Bemühungen eines Wunsches nach Global Zero an, „welche auf eine fort- schreitende Abrüstung und eine Welt ohne Atomwaffen abzielen“, da letzte- re schon durch ihr bloßes Vorhanden- sein die ganzheitliche Entwicklung der Menschheit heute und in Zukunft bedrohten. Und zum Ende des Textes bezeichnet er es als Pflicht eines jeden Menschen – also auch wir alle hier – „eine Welt des Friedens aufzubauen“. Vor seiner Rede stellte sich General Lather der Presse. Dazu seien die Natur und die Umwelt v.l.nr. Militärpfarrer Bonn MD Benno Porovne, GKS-Kreis Vorsitzender zu schützen oder in seinen Worten: Bonn OSF Joachim Lensch, Gen Karl-Heinz Lather, Militärgeneralvikar „Die Bewahrung der Schöpfung und Apostolischer Protonotar Walter Wakenhut die Verwirklichung des Friedens sind eng miteinander verbunden! “ Staatssekretär im Bundesministerium mittlungsverfahren gegenüber. Dies der Verteidigung, Dr. Peter Wichert, gilt auch, nachdem die Bundesan- Die militärischen Aspekte der entlassen. Der zur Zeit des Zwischen- waltschaft zum Schluss gekommen päpstlichen Botschaft falls amtierende Verteidigungsminis- ist, es handele sich in Afghanistan um eit Kunduz am 4. September 2009 ter Dr. Franz-Joseph Jung übernahm einen nicht-internationale bewaffne- Sist der Afghanistan-Einsatz vor die politische Verantwortung und trat ten Konflikt und das somit die Vor- allem bei uns in Deutschland noch als Arbeits- und Sozialminister zu- schriften des Völkerstrafgesetzbuches schärfer in das Bewusstsein der Öf- rück. Der neue, junge Verteidigungs- Anwendung finden. Letzteres hatte fentlichkeit getreten. Wir alle waren minister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu die Bundesregierung im Zusammen- betroffen von den Konsequenzen ei- Guttenberg musste seine anfängliche hang mit der Mandatsverlängerung nes Einsatzes der NATO-Luftstreit- Bewertung eines angemessenen Ein- für den deutschen ISAF-Anteil er- kräfte, die auf Befehl eines deutschen satzes vollständig korrigieren. NATO freulicherweise schon politisch fest- Kommandeurs im PRT Kunduz zwei und Deutschland führten und füh- gestellt. Demnach würde also Kriegs- Tanklastzüge und aufständische Tali- ren umfängliche Untersuchungen zum völkerrecht, bzw. humanitäres Völker- ban mit gelenkten Bomben angriffen, Ablauf des Luftangriffes durch. Die recht und Kriegsvölkerstrafrecht, aber beide vernichteten, dabei aber auch Ergebnisse sind meist geheim einge- nicht ziviles Strafrecht wie bisher gel- eine große Zahl von zivilen Opfern stuft und dennoch den Medien, z.B. ten. Für den Oberst gilt damit, dass verursachten, wie wir heute wissen. dem Spiegel oder der süddeutschen er sich nach dem Völkerstrafrecht zu Laut streng vertraulichem Bericht des Zeitung bekannt – ganz oder teilweise. verantworten hat. Für den gläubigen Internationalen Roten kreuzes (IRC) In Berlin beauftragte das Parlament Christen Oberst Klein sicher kein den Verteidigungsausschuss, den Vor- einfacher Weg. Wer ihn kennt und er- 1 General Karl-Heinz Lather ist Chef des Stabes des Supreme Headquater of fall als Untersuchungsausschuss zu lebt hat, der weiß, wie sehr ihn seine Allied Power in Europe (SHAPE) untersuchen. Diese Untersuchung ist Verantwortung drückt, wie bewusst er

28 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BILD DES SOLDATEN aber auch sich dieser Verantwortung mulierte sie. Nun ist Frau Käßmann Natürlich wird unsere Thematik stellt; hätte er doch bei seiner An- nicht irgendwer. Sie ist kommunikativ, auch beim 2. Ökumenischen Kirchen- hörung vor dem Untersuchungsaus- vielen sympathisch insbesondere we- tag in München sehr präsent sein. schuss des Deutschen Bundestages gen ihres offenen Umgangs mit ihrer Zuvor, in der Vollversammlung des schweigen können. Dort hat er dem eigenen Vita. Sie ist eine öffentliche Zentralkomitees der Deutschen Ka- Vernehmen nach seinen Standpunkt Person zum Anfassen. Sie wird gehört. tholiken im April in München, wird überzeugend vertreten und seine Mo- Nach ihren Worten kommt es zu einer das Thema Friedensethik in einem tive in der Lage vor Ort eindrucksvoll breiten Debatte in Deutschland. Die- sich wandelnden Sicherheitsumfeld erklären können. se ist noch nicht zu Ende, und das, so ein wichtiger Tagungsordnungspunkt Oberst Kleins Handeln geschah finde ich, ist sehr gut. Endlich, könnte sein. Als Mitglied des Zentralkomi- zu einem Zeitpunkt, als der neue man aufatmen, tut die Republik das, tees der Deutschen Katholiken und Kommandeur der ISAF, General Stan was lange überfällig ist, nämlich in- sicher im Namen unserer evange- McChrystal, den Fokus seiner Ope- tensiv über die ethischen, die morali- lischen Mitbrüder und -schwestern rationsführung zu verändern begann. schen, die rechtlichen und die politi- möchte ich Sie herzlich einladen, den Der Schutz de afghanischen Zivilbe- schen Aspekte des Einsatzes von Sol- ÖKT in München zu besuchen und am völkerung steht im Mittelpunkt allen daten streiten. Ehrlichkeit, Wahrheit Abend nach dem Himmelfahrtstag um Handelns. Wir denken und handeln und Offenheit des Diskurses gewinnen 21.30 Uhr auf dem Marienplatz an ei- nicht mehr vom Gegner her, den es Raum. Und, sehen wir einmal vom üb- nem ökumenischen Gottesdienst teil- zu besiegen gilt, sondern wir tun al- lichen Gezänk der Parteien ab, so hat zunehmen, der alle in den Blick neh- les, um der Zivilbevölkerung eine die Ernsthaftigkeit der Debatte erheb- men soll, die in Auslandseinsätze ent- eigenständige Entwicklung und ein lich zugenommen. All das hat die Bi- sendet werden: Soldaten, Polizisten, leben in Sicherheit zu ermöglichen. schöfin mit ihrer Predigt losgetreten. Diplomaten, Friedensfachkräfte, die Dadurch solle die Insurgency, solle Mittlerweile haben sich auch der Angehörigen. Auch an die Bevölke- die Aufständischen von der örtlichen Vorsitzende der Deutschen Bischofs- rung in den Einsatzgebieten und ihre Bevölkerung getrennt und das Ver- konferenz, Erzbischof Dr. Robert Opfer wollen wir denken. Wir wollen trauen in die zivile Verwaltungs- und Zollitsch ebenso wie Justitia et Pax versuchen mit diesem Gottesdienst Entwicklungsstrukturen wiederher- mit Bischof Dr. Stephan Ackermann ein deutliches, unmissverständliches gestellt werden. Das ist der Kern der für die Katholische Kirche geäußert. Wort des Dankes und der Anerken- Strategie, wie sie der Kommandeur Frau Käßmann, der Evangelische Mi- nung zu sagen. Wir wolle unser ehrli- der ISAF-Truppe in seinem Bericht litärbischof Dr. Martin Dutzmann und ches Mitgefühl denen ausdrücken, die vom August 2009 an den US-Präsi- Bundespräses Nikolaus Schneider, am Einsatz Schaden nahmen oder im denten und an den NATO-Rat erläu- inzwischen designierter Nachfolger Einsatz fielen. Wir wollen mit den An- tert hat. Von allen NATO-Nationen im EKD-Vorsitz, haben Ende Januar gehörigen mitfühlen, mit ihnen trau- grundsätzlich begrüßt, in der Londo- in einem veröffentlichen Schreiben ern und den Segen unseres Herrgot- ner Afghanistan Konferenz im Januar eine differenziertere Haltung einge- tes erbitten. 2010 bekräftigt, von Präsident Barak nommen, als dies die damalige Bi- „Wer als Soldat im Dienste des Obama in seiner Westpoint-Rede dis- schöfin in ihren Predigten tat. Im Er- Vaterlandes steht“, so lehrt es das kutiert und mit dem Termin für den gebnis möchte ich festhalten, dass zweite Vatikanische Konzil, „betrach- Abzugsbeginn versehen. Beide, der beide Kirchen in ihren grundsätz- te sich als Diener der Sicherheit und Bundesaußen- und der Bundesver- lichen Bewertungen hohe Überein- Freiheit der Völker. Indem er diese teidigungsminister, sprechen gar von stimmung aufweisen, soweit sie sich Aufgabe recht erfüllt, trägt er wahr- einem Strategiewechsel. In diesem bezüglich des Einsatzes militärischer haft zur Festigung des Friedens bei“. Verständnis hat der Deutsche Bun- Gewalt auf das Konzept des „Gerech- So steht es in der Ziffer 33 des Bi- destag im Februar 2010 mit sehr gro- ten Friedens“ berufen. Insofern sind schofswortes „Gerechter Frieden“. ßer Mehrheit einer Verlängerung des die entsprechenden Verlautbarungen Die Förderung des Friedens steht ISAF-Mandats unserer Bundeswehr der Katholischen Deutschen Bischö- im Mittelpunkt, und deshalb leisten zugestimmt. fe in ihrem Hirtenwort „Gerechter Soldaten Friedensdienst. Damals wie Friede“ vom 27. September 2000 so- heute danken unsere katholischen Die ökumenischen Aspekte der wie „Soldaten als Diener des Frie- Bischöfe den Soldaten und ihren An- päpstlichen Botschaft dens“ vom 29. November 2005 ein gehörigen für die mit diesem Dienst ine ganz andere Aktualität und ebenso klarer Bezugspunkt wie die verbundenen Opfer, auch unter Hin- EEmotionalität erhielt die Diskus- Denkschrift des Rates der EKD „Aus gabe des Lebens. sion, als die inzwischen zurückgetre- Gottes Frieden leben – für gerechten Aber, wir sollen „di ese Aufgabe tene Vorsitzende der EKD und Lan- Frieden sorgen“ vom Oktober 2007. recht“ erfüllen. Mir ist schon wich- desbischöfin von Hannover, Frau Dr. Der moralisch-theologisch-ethische tig, dies im Blick zu behalten; denn Margot Käßmann, in Predigten am Ansatz unserer beiden großen Kirchen hier wird in prägnanter Kürze eine Heiligabend und zum Neuen Jahr die ist sehr gleichartig, nahezu kongru- ethische Einordnung des Soldaten- ethische Rechtfertigung des Afgha- ent. Wenn wir denn in der Ökumene dienstes im Einsatz vorgenommen. nistan-Einsatzes massiv kritisierte. an anderen Stellen miteinander auch Klar und unbestritten ist, dass die Nichts sei in Afghanistan gut, so for- so weit wären! Anwendung von Gewalt im Sinne von

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 29 BILD DES SOLDATEN

Gegengewalt grundsätzlich nur als nen militärischen Einsatz annehmen – Der Grundsatz der Menschlich- letztes Mittel, als Ultima Ratio in Be- und anstreben. Aber auch die Londo- keit: Man verhält sich mensch- tracht kommen kann. Zuvor müssen ner Afghanistankonferenz vom letzten lich! alle anderen Mittel und Sanktionen Januar ist ein Beispiel für eine derar- – Das Unterscheidungs- oder Dis- ausgeschöpft worden sein. Politik und tige Konsensbildung mit 73 Staaten. kriminierungsprinzip: Man darf diplomatische Anstrengungen waren militärische Ziele und kämpfende also in höchstem Maße gefordert und Die rechtlichen Aspekte der Kombattanten bekämpfen, nicht letztlich ohne Erfolg. Wir sind auf päpstlichen Botschaft aber die Zivilbevölkerung oder Gewaltverzicht verpflichtet, der An- as Kriegsvölkerrecht – auch hu- sich ergebende, wehrlose oder griffskrieg ist geächtet. Dennoch kann Dmanitäres Völkerrecht, Recht verwundete Kombattanten. die prinzipielle Gewaltfreiheit mit der des bewaffneten Konfliktes oder Ius – Das Prinzip der militärischen Pflicht konkurrieren, andere Men- in bello genannt – galt und gilt pri- Notwendigkeit: In dem Sinne, schen und Völker schützen zu müssen, mär in zwischenstaatlichen, in in- dass nur diejenigen Maßnahmen damit ihnen kein massives unrecht ge- ternationalen Konflikten, traditionell angewendet werden dürfen, die schieht und sie nicht brutaler Gewalt regelt es also den Umgang von sou- das Kriegsvölkerrecht nicht aus- ausgeliefert werden. Nach der Über- veränen Staaten und ihren Armeen. drücklich verbietet und die zur zeugung vieler resultiert daraus ge- Diese Recht befindet sich erkenn bar Auftragserfüllung zwingend er- radezu eine Beistandsverpflichtung. im Fluss. Die meisten Völkerrecht- forderlich sind. Bosnien-Herzegowina nach Srebre- ler werden Ihnen heute argumentativ – Das Prinzip der Verhältnismä- niza, das Eingreifen im Kosovo, auch nachweisen und sind sich sehr einig ßigkeit: Die Begrenzung militä- in Somalia oder in Dafur ebenso wie darin, dass diese Regeln gleicherma- rischen Handelns auf minimale die Interventionen in Afghanistan, im ßen auf nicht-internationale bewaff- Gewaltanwendung und Schadens- Kongo und im Tschad, alles in den nete, auf intern bewaffnete und auf begrenzung. beiden letzten Jahrzehnten, sind Bei- internationale bewaffnete Konflikte – Das Beschränkungsprinzip: Kei- spiele dafür, dass die Vereinten Nati- anzuwenden sind. Die genaue Be- ne verbotenen Strategien, Takti- onen, die Europäische Union oder die achtung des humanitären Völkerrech- ken und Waffen anwenden; keine NATO sich letztlich zu militärischem tes schützt in den drei Fällen nicht Planung oder vermeidbare Ver- Handeln durchringt, was die Anwen- nur die betroffene Zivilbevölkerung, ursachung von unnötigen Leiden dung von Gewalt einschließt. Auch sondern vor allem auch uns Solda- oder Schäden. der Irakkrieg zählt zu dieser Katego- ten. Soldaten haben im Einsatz, zum rie, wenn gleich viele diesen US-ge- Beispiel in Afghanistan, schwierige, Ich möchte an dieser Stelle fest- führten Koalitionseinsatz ethisch und oft undankbare aufgaben in einem halten, dass unsere Soldaten diese völkerrechtlich für fragwürdig halten. extrem gefährlichen und komplexen Regeln ganz überwiegend einhalten Übrigens, schon bald könnte sich die Umfeld zu erfüllen. Beachten wir die und beherzigen. Da wir es aber in un- Weltgemeinschaft erneut gezwungen regeln, dann ist das Handeln legitim, seren Einsätzen, so wie wir sie stän- sehen, militärisch zu intervenieren, u.a. weil es für unser Land elementar dig erleben, mit extrem komplexen, falls der Iran seine Atomwaffenambiti- wichtig und notwendig ist. Es ist aber oft unüberschaubaren Situationen zu onen nicht aufgeben sollte. Politisches auch offensichtlich, dass fast alles, tun haben, lässt sich ein Fehlverhal- Handeln, Diplomatie und wirtschaft- was Soldaten tun oder unterlassen, ten einzelner nie gänzlich ausschlie- liche Sanktionen scheinen in diesem von der Öffentlichkeit, durch unser ßen. Die Bündnisse und ihre Mit- Falle wenig zu fruchten. Parlament und vor allem durch die gliedsstaaten sind sich dessen be- sehr präsenten Medien intensiv und wusst. Oft verschärfen sie daher die Grundsätzlich gilt festzuhalten, kritisch begleitet wird. Bei manchen allgemeinen Regeln des humanitären dass jede militärische Intervention mit Ereignissen und Vorfällen mag man Völkerrechtes je nach Situation, po- einer politischen Perspektive verbun- zu vorschnellen Schlussfolgerungen litischem Interesse oder auch kultu- den sein soll. Sie sollte immer auch kommen. Vorverurteilungen, persön- rellem Hintergrund. Deutsche Sol- in ein Gesamtkonzept eingebunden liche Verletzungen und öffentliche daten, für die anderen gilt dies ent- sein. Wir bezeichnen dies heute oft Bloßstellungen zählen leider auch sprechend, tragen das alles mit sich als Comprehensive Approach oder als zur Wirklichkeit. Wenn die betroffe- in ihrem Einsatzgepäck in Form von: Vernetzte Sicherheit. So hat die NATO nen Soldaten sich an die allgemeinen Status of Forces Agreements, Bestim- für Afghanistan einen CSPMP einen Grundsätze und regeln des humani- mungen des VN-Mandates und des Comprehensive Strategic Political Mi- tären Völkerrechtes genau beachtet Deutschen Bundestages, Memoran- litary Plan entwickelt. Man versucht haben, dann wird dies zur Nüchtern- da of Understanding, Military Tech- so eine möglichst breite internatio- heit, Wahrhaftigkeit und Ernsthaftig- nical Arrangements, Einsatzregeln nale Übereinstimmung zu erreichen keit der Aufarbeitung entscheidend und die so beliebten Taschenkarten und Kriterien für die Beurteilung der beitragen. für Soldaten. All diese Dokumente Lage zu etablieren. Konsequent ist werden in dem ernsthaften Bemühen auch, dass Staaten und Regierungen Die Regeln erklären sich dem erlassen, die Komplexität der Kon- in aller Regel ein Mandat der Verein- unvoreingenommenen Zuhörer fast flikt- und Bedrohungssituation ge- ten Nationen als Voraussetzung für ei- von selbst: nauer zu beschreiben, jeglicher Form

30 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BILD DES SOLDATEN von Willkür zu begegnen, rechtliche ge nicht gut! Töten macht – immer – Zielgebiet, also dort, wo Waffen und Handlungssicherheit zu gewähren so- moralisch schuldig! Sprengsätze wirken, verlieren Men- wie den Einsatz militärischer Gewalt Wenn Sie mir in dieser Argumen- schen ihr Leben. möglichst klaren, einvernehmlichen tation folgen, dann hat das für uns eine Wir müssen zunehmend nicht-leta- Regeln verbindlich zu unterwerfen. ganze Reihe von Konsequenzen für le Techniken, Mittel, Taktiken und Stra- Wenn der Soldat diese Regeln das Handeln von Soldaten im Einsatz: tegien entwickeln und umsetzen, um un- nicht einhält, bricht er das Recht, das – Das Töten eines anderen Men- sere militärischen Aufträge zu erfüllen. Gesetz, die Bestimmungen und die schen ist an die Abwehr einer Regeln. Folglich muss er sich verant- konkreten Lebensbedrohung ge- Der Einzelne, jeder Soldat muss worten – kriegsvölkerstrafrechtlich, bunden. lernen, mit diesen Konsequenzen um- strafrechtlich, disziplinarrechtlich! – Das Töten aus nationalen, präven- zugehen. Der Politiker, der den Auf- In Deutschland haben wir bezüglich tiven oder religiös-ideologischen trag gibt, der Soldaten in den Einsatz der strafrechtlichen und disziplinar- Bedrohungen ist verboten. entsendet, hat dies bei der Mandats- rechtlichen Verfahren weitgehende – Weil Töten immer schuldig macht, erteilung zu bedenken. Patriotische, Rechts- und Verfahrenssicherheit. Für darf es weder verklärt noch heroi- ideologische und den Krieg gar ver- den Umgang mit den Konsequenzen siert werden. herrlichenden Reden sind völlig un- der Anwendung des humanitären Völ- – Der Soldat kann einen anderen angemessen und zu vermeiden. Und – kerrechtes und des kriegsvölkerrech- Soldaten nicht töten, nur weil er die existenzielle Frage nach der Über- tes fehlen uns, so glaube ich, sowohl Soldat ist. Die berechtigte Gegen- nahme der Schuld muss vor, während die Erfahrung als auch die Verfahren wehr wird zum wesentlichen Ent- und nach einem Einsatz angemessen und Institutionen. Bleibt zu wünschen scheidungskriterium. Konkret ist und ernsthaft thematisiert werden. und zu fordern, dass als unmittelbare dieses schwierige Kriterium in ei- Im Krieg, im nicht-internationa- Folge des Kunduz-Zwischenfalls mehr ner Lage der Landesverteidigung len bewaffneten Konflikt, in der Not- Klarheit und Rechtssicherheit eintre- leichter zu verstehen als in einem wehrsituation, während eines Stabili- ten, unser Parlament also die nötigen Stabilisierungseinsatz, in einer sierungs- oder humanitären Hilfsein- Gesetzgebungsverfahren einleitet und humanitären Intervention oder in satzes mag die Tötung von Menschen sich dabei nicht im Föderalismus ver- einer bewussten und vertretbaren unter bestimmten Umständen zwin- liert. Fragen und Herausforderungen Angriffssituation. gend erforderlich und unumgänglich wie das Bundeswehr-Aufgabengesetz, sein. Dennoch macht ein solcher Akt die Prüfung der Einrichtung einer Wir müssen uns auch fragen, wie der Gewalt moralisch schuldig. Übri- Militärstrafgerichtsbarkeit oder das es um die Verantwortung des Bomber- gens – das Nichthandeln, das Abseits- Schaffen von Polizeieinsatzregeln in piloten, des Raketeneinsatzoffiziers stehen, der Voyeurismus, der Verzicht nicht –internationalen bewaffneten oder des Bedieners einer bewaffneten auf ein Eingreifen können doch wohl Konflikten bedürfen einer realisti- Drohne steht? Alle lenken ihre Waf- in gleicher Weise moralisch schul- schen und der Gegenwart angemes- fen aus sicherer Distanz ins Ziel. Als dig machen. Als Verantwortliche in senen, gesetzgeberischen Klärung. Artillerist weiß ich um das Gefühl, Staat und Gesellschaft, als politisch, Wir Soldaten, ebenso die Polizisten ein Geschütz, eine Kanone abzufeu- ethisch und moralisch denkende und und unsere Öffentlichkeit müssen un- ern, das Ziel aber nicht zu sehen. Ich handelnde Menschen und vor allem serer Politiker in Bund und Land an will aber festhalten: Militärische Ge- als Christen werden wir diesen Ge- ihre originäre Verantwortung erinnern. walt darf nie selbstverständlich wer- gensatz, diese Dilemma aushalten und Moderne Entwürfe von Militäre- den. Militärische Gewalt ist vor allem ertragen müssen. Der Katholik sagt, thik legitimieren den Soldaten grund- auch kein Computerspiel; denn im gläubig aushalten müssen. ❏ sätzlich zum Töten – aber, das ist wichtig, auch unter Soldaten muss gel- ten: nur als Notwehr oder Notwehrhil- fe zum Schutz des eigenen und frem- Kurznachrichten den Lebens sowie zum Schutz der le- gitimen Rechtsordnung, in der Regel Bundeswehrstruktur-Kommission der internationalen Rechtsordnung. eneral Karl-Heinz Lather wurde von Minister Karl-Theodor zu Guttenberg in Der in diesem Rahmen handelnde Gdie sechsköpfige Strukturkommission berufen. Leiter der Kommission wur- Soldat ist dabei immer und umfassend de der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, der als Oberst in seine nationalstaatliche Rechtsord- der Reserve über militärische Erfahrung verfügt. Weitere Mitglieder sind der nung eingebunden und im Konflikt- Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Hans oder Kriegsfall dem internationalen Heinrich Driftmann, die frühere Präsidenten des Bundesrechnungshofes und Kriegsvölkerrecht verpflichtet. Ins- jetzige Vizechefin von Transparency International, Hedda von Wedel, der ehe- besondere hat er, wie ich ausführte, malige Leiter des deutschen Büros der Unternehmensberatung McKinsey und die elementaren Menschenrechte voll- jetzige Vorstandsvorsitzende des Haniel-Konzerns, Jürgen Kluge, der SPD-Ab- ständig und umfassend zu beachten. geordnete und Regierungskoordinator für die deutsch-amerikanische Zusam- menarbeit, Hans-Ulrich Klose (BB). So weit, so gut – rechtlich! Dadurch aber wird Töten moralisch noch lan-

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 31 RELIGION UND GESELLSCHAFT

In dieser Rubrik werden zwei Dokumente wiedergegeben, von denen zu hoffen ist, dass durch sie etwas mehr Sachlichkeit in die Aufarbeitung der bekannt gewordenen Misshandlungs- und Missbrauchsfälle in der katho- lischen Kirche in Deutschland einfließen kann. Es sind: – das Statement des Leiters des Berliner Canisius-Kollegs, Pater Klaus Mertes SJ, der die Aufklärung von Missbrauchsfällen an (kirchlichen) Internaten eingeleitet hat, sowie – der Brief des Papstes an die Irländer, der über Irland hinaus auch für andere Länder gilt. Was ich in den letzten Monaten gelernt habe Statement auf der Vollversammlung des ZdK in München, 16.04.2010

VON PATER KLAUS MERTES SJ auch so sagen: Die Opferperspektive der Sexualpädagogik liegt in alleiniger einzunehmen bedeutet, für sich selbst Verantwortung des geistlichen Leiters. 1. Opfer und Institution zu klären: Wir sind nicht die Opfer, Ein vernünftiger Austausch findet um Missbrauch gehören zwei As- sondern die Opfer sind die Opfer. nicht statt. Eine weibliche Bezugs- Zpekte: die Missbrauchstat im en- person für heranwachsende Mädchen geren Sinne sowie die unangemessene 2. Der Geschmack des Missbrauchs ist nicht da. Sexualität wird tabuisiert, Reaktion der Institution, in welcher Ein Missbrauch in der Familie und mit Verboten wird versucht, die der Missbrauch geschieht. Gerade Müller schmeckt nach Familie Müller, Sexualität gezielt zu steuern und zu dieser zweite Aspekt schmerzt viele ein Missbrauch in der Odenwaldschu- beeinflussen. Wir verweisen ferner Opfer heute noch, oft noch mehr als le schmeckt nach Reformpädagogik, auf die auch in der offiziellen katho- der erste Aspekt des Missbrauchs. Die ein Missbrauch in einer katholischen lischen Lehre ungelösten Probleme Betroffenen melden sich ja bei der In- Schule schmeckt nach katholischer homosexueller Jugendlicher, die sich stitution (in meinem Fall: beim Ca- Kirche. Die Familie als Institution schwerwiegenden Belastungen ausge- nisius-Kolleg), nicht bei den Tätern. muss nicht abgeschafft werden, wenn setzt sehen müssen und vielfach mit Meistens wollen die Opfer mit diesen in ihr Missbrauch geschieht. Die Re- ihren Problemen alleingelassen wer- gar nichts mehr zu tun haben. Aber formpädagogik ist durch ihren Miss- den und erfahren müssen, widersitt- sie wollen ihr Verhältnis zur Instituti- brauch auch nicht per se desavouiert. liche und unnatürliche Auffassungen on klären, vielleicht sogar versöhnen. Dasselbe gilt auch für die kirchliche von Sexualität zu haben.“ Die Frage, In dieser Situation besteht seitens Pädagogik einschließlich ihrer Sexu- die mich quält, lautet: Was hat uns der angesprochenen Institution die alpädagogik. Abusus non tollit usum. daran gehindert, solche Beschwer- Grundentscheidung darin, den Op- So weit so gut. den zu hören und nachzufragen, wel- fern als Vertreter der Institution ge- Aber auch diese banale Wahrheit che konkreten Erfahrungen dahinter genüberzutreten. Ich gehöre in meiner kann man missbrauchen, um sich stecken? Und was hindert uns heute, Eigenschaft als Jesuit, Priester und selbst und das eigene Denken einer zuzuhören, wenn Opfer unserer Päd- Schulrektor zur Institution und distan- kritischen Überprüfung zu entziehen. agogik und Pastoral sprechen? ziere mich von der Institution nicht, Der Missbrauch stellt die Instituti- Ich möchte dazu einen Aspekt gerade auch nicht in der Begegnung on und ihr Selbstverständnis auf den nennen: Nicht hören können und mit den Opfern. Die Opfer brauchen Prüfstand. Dem kann ich als Jesu- nicht sprechen können hängt zusam- jemanden, der ihnen bestätigt: „Ja ihr it ebenso wenig entkommen wie als men. Wer nicht sprechen kann, kann seid bei mir an der richtigen Adresse, Lehrer und als katholischer Priester. auch nicht hören. Natürlich muss um eure Geschichte zu erzählen, eu- Um mit der Selbstprüfung wei- auch schweigen können, wer hören ren Zorn zu zeigen, anzuklagen und ter zu kommen, hilft es, den Opfern will. Das hörende Schweigen ist hier Forderungen zu stellen.“ Das ermög- zuzuhören: Welche Erfahrungen ha- nicht gemeint. Vielmehr meine ich die licht den Opfern zu sprechen. Alle ben sie mit Strukturen in der Kir- Sprachlosigkeit, die mit Verschwei- Versuche, die Institution ihrerseits che, mit kirchlicher Sexualpädagogik gen, mit verängstigtem Schweigen, als Opfer der Täter oder gar als Opfer und mit Schweigen in der Kirche ge- vielleicht auch mit Überforderung zu der Opfermeldungen zu präsentieren, macht? Zum Beispiel hat die Wucht tun hat. Die Sprachlosigkeit ist der gehen daneben. In gewisser Weise der Schuldgefühle bei den Opfern ei- Preis des Schweigens. Das trifft auch sind solche Umdeutungen der eige- nen spezifisch katholischen Aspekt, auf Institutionen zu. Da scheint mir nen Ausgangsposition sogar eine Fort- der mit der Lehre zusammenhängt, eine tiefe und wichtige Frage zu lie- setzung des Missbrauchs. Zum Miss- wie mir viele Opfer berichten. gen: Gibt es Themen, bei denen wir brauch gehört es ja, den Opfern als Auch das Weghören hat einen als Kirche sprachlos sind? Sprachlos, Institution auszuweichen und ihnen spezifisch katholischen Geschmack. weil wir uns gefährden, wenn wir da- statt dessen gar nicht oder mit dem Die von Missbräuchen betroffenen rüber sprechen? Sprachlos, weil die Therapeutenohr oder mit einem an- Schüler am Canisius-Kolleg schrieben auszusprechende Wahrheit zu bitter, deren Ohr zuzuhören. Man könnte es 1981 an die Autoritäten: „Der Bereich zu unschön ist? Mich interessiert die

32 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 RELIGION UND GESELLSCHAFT

Frage im Interesse der Opfer und im Zugang zu Christus, zum Glauben an Erzbischof Zollitsch mit der Bun- Interesse der Kirche. Es interessiert Christus beschädigt, wenn nicht so- desjustizministerin zusammenge- mich sehr, wenn in der Aussprache gar zerstört. Das ist ein ungeheuerli- troffen ist. Selbstverständlich muss im Plenum dazu etwas zu hören wäre. cher Vorgang. Ich bin entsetzt, wenn und will die Kirche mit der Staats- ich sehe, wie viele der härtesten Kir- anwaltschaft zusammenarbeiten. Die 3. Geistliche Vollmacht und Missbrauch chenfeinde, denen ich in den letzten Fürsorgepflicht des Bischofs gegen- Mit der Weihe ist eine geistliche Wochen begegnet bin, eine Kirchen- über Priestern und kirchlichen An- Vollmacht gegeben, die Papst Bene- biographie im Hintergrund haben, der gestellten darf nicht Verstecken vor dikt in diesem Jahr des Priesters be- mit Machtmissbrauch durch Priester der Strafverfolgung, Täterschutz le- sonders herausgearbeitet hat durch zusammen hängt. gitimieren. Aber Opfer müssen ei- den Hinweis auf den Pfarrer von Ars. Die Frage nach der geistlichen nen Weg gehen, bis sie in der Lage Es gibt eine besondere priesterliche Macht in der Kirche und ihren Struk- sind, Täter vor dem Gericht zu kon- Vollmacht. Ich glaube daran. Sie ge- turen ist eine Frage von allgemei- frontieren. Für diesen Weg brauchen hört zum Wesen der Kirche dazu. nem kirchlichem Interesse. Auf den sie Schutz. Die Staatsanwaltschaft Die Opfer, über die wir sprechen, Klerus bezogen: Was bedeutet uns ist keine Opferschutzinstitution. Es werden im Rahmen eines Machtge- Klerikern Macht? Reflektieren wir gibt genügend Fälle, in denen sie im fälles zu Opfern; das Kind wird von überhaupt angemessen, dass wir sie Sinne des Opferschutzes gerade kon- den Eltern missbraucht, der Schüler haben? Was bedeutet uns Macht für traproduktiv agiert hat. Hier stehen vom Lehrer, der Patient vom Arzt. unsere eigenen Beziehungs- und An- wir vor einem Dilemma. Wenn das Das Ganze geschieht in einer für das erkennungsbedürfnisse? Wo können Prinzip „Opferschutz hat Vorrang“ Opfer unausweichlichen Vertrauens- wir sie mehr teilen? Wo können wir gilt, dann muss es auch in diesem beziehung. Beim Priester kommt der in der Kirche Empfangende sein. Wie Falle das ausschlaggebende Krite- Missbrauch der geistlichen Vollmacht kommunizieren wir mit Nicht-Kleri- rium für die diversen Verfahrens- hinzu. Auch die Beziehung zum geist- kern? Wie konfrontieren wir Klerika- fragen sein, die zu stellen sind. Ich lichen Amt ist unausweichlich für lismus, der ja nicht nur eine Eigen- möchte an dieser Stelle nicht in die diejenigen, die Christus in der Eucha- schaft von Klerikern ist? Kasuistik einsteigen, aber der Hin- ristie, in der Absolution, aber auch weis sei erlaubt: Mir kommt in der als Hirten und Lehrer begegnen wol- 4. Staatsanwaltschaft und Opferschutz Debatte um die Staatsanwaltschaft len. Wenn der, der in persona Christi Gestatten Sie mir eine letzte Be- die Frage nach dem Opferschutz zu handelt, missbraucht, dann wird der merkung aus aktuellem Anlass, da kurz. ❏

HIRTENBRIEF DES HEILIGEN VATERS PAPST BENEDIKT XVI. AN DIE KATHOLIKEN IN IRLAND

Liebe Schwestern und Brü sie über ihren Umgang mit diesen sind, die Aufgabe zu übernehmen, 1. der, mit großer Sorge schreibe Angelegenheiten in der Vergangen- die vergangenen Ungerechtigkeiten ich euch als Hirte der weltweiten Kir- heit berichten und um die Schritte wieder gut zu machen und das wei- che. Wie Euch haben auch mich die aufzuzeigen, die sie unternommen tergehende Thema des Missbrauchs Informationen über den Missbrauch haben, um auf diese schwerwiegen- an Minderjährigen in einer Weise an Kindern und Schutzbefohlenen de Situation zu reagieren. Gemein- anzugehen, die den Anforderungen durch Mitglieder der Kirche Irlands, sam mit höheren Verantwortlichen der Justiz und der Lehre des Evan- besonders durch Priester und Ordens- der römischen Kurie habe ich gehört, geliums entspricht. leute, sehr beunruhigt. Ich kann die was sie, sowohl einzeln als auch als Bestürzung und das Gefühl des Ver- Gruppe, zu der Analyse der began- Die Schwere der Vergehen trauensbruchs nur teilen, das so viele genen Fehler und der gelernten Lek- 2. und die oftmals unangemes- von euch beim Erfahren dieser sünd- tionen, als auch in der Darstellung senen Reaktion der kirchlichen Au- haften und kriminellen Taten und der der Programme und jetzt geltenden toritäten in eurem Land erwägend Art der Autoritäten der Kirche, damit Richtlinien zu sagen hatten. Unsere habe ich entschieden, diesen Hirten- umzugehen, erfahren haben. Diskussionen waren offen und kon- brief zu schreiben, um meine Nähe Wie ihr wisst habe ich erst kürz- struktiv. Ich bin zuversichtlich, dass zu euch auszudrücken und einen Weg lich die irischen Bischöfe zu einem resultierend aus diesen Gesprächen der Heilung, der Erneuerung und der Treffen hier in Rom eingeladen, dass die Bischöfe nun besser in der Lage Wiedergutmachung vorzuschlagen.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 33 RELIGION UND GESELLSCHAFT

Wie viele in Eurem Land betont Die Ideale von Heiligkeit, Nächsten- Tochter, einen Onkel oder eine Tante haben: es ist wahr, dass das Problem liebe und transzendenter Weisheit, ge- – der sein Leben der Kirche gegeben des Missbrauchs von Kindern weder boren aus dem christlichen Glauben, hat. Irische Familien würdigen und ein rein irisches noch ein rein kirch- fanden ihren Ausdruck in den Kirchen schätzen zu Recht die Ihren, die ihr liches ist. Trotzdem ist Eure Aufgabe und Klöstern, in den Schulen, Biblio- Leben Christus geweiht haben, die das nun, das Problem des Missbrauchs theken und Hospitälern, die alle da- Geschenk des Glaubens mit anderen aufzuarbeiten, das in der irischen ran mitwirkten, die geistige Identität Teilen und aus diesem Glauben Taten katholischen Gemeinschaft entstan- Europas zu festigen. Diese irischen folgen lassen, in liebendem Dienst an den ist, und dies mit Mut und Be- Missionare haben ihre Stärke aus dem Gott und dem Nächsten. stimmtheit zu tun. Niemand erwar- festen Glauben, der starken Leitung tet, dass diese schmerzhafte Situation und der aufrechtem Verhalten der Kir- In den vergangenen Dekaden sich schnell lösen lässt. Wirklicher che in ihrem Mutterland gewonnen. 4. hatte die Kirche in Eurem Fortschritt ist gemacht worden, aber Beginnend mit dem 16. Jahrhun- Land jedoch neue und schwere He- es bleibt noch viel zu tun. Durchhal- dert haben die Katholiken in Irland rausforderungen für den Glauben tevermögen und Gebet sind nötig, eine lange Zeit der Verfolgung erdul- durch die rasche Transformation und mit großem Vertrauen in die heilende den müssen, während derer sie sich Säkularisierung der irischen Gesell- Kraft der Gnade Gottes. mühten, die Flamme des Glaubens schaft zu bestehen. Der schnelllebige Gleichzeitig muss ich aber auch unter gefährlichen und schwierigen soziale Wandel hat oft genug das tra- meine Überzeugung mitteilen, dass Umständen lebendig zu halten. Der ditionelle Festhalten der Menschen die Kirche in Irland, um von dieser Heilige Oliver Plunkett, der Märty- an den katholischen Lehren und Wer- tiefen Wunde zu genesen, die schwe- rerbischof von Armagh, ist das be- ten beeinträchtigt. Viel zu oft wurden re Sünde gegen schutzlose Kinder vor rühmteste Beispiel einer ganzen Schar die sakramentalen und andächtigen Gott und vor anderen offen zugeben von mutigen Söhnen und Töchtern Gebräuche vernachlässigt, die den muss. Solch eine Anerkennung, be- Irlands, die bereit waren, ihr Leben Glauben erhalten und ihm erlauben, gleitet durch ernste Reue für die Ver- aus Treue zum Evangelium hinzuge- zu wachsen, wie etwa die regelmäßi- letzung dieser Opfer und ihrer Fami- ben. Nach der katholischen Eman- ge Beichte, das tägliche Gebet und lien, muss zu einer gemeinsamen An- zipation war die Kirche frei, neu zu jährliche Einkehrtage. Bedeutsam war strengung führen, um den Schutz von wachsen. Familien und zahllose Ein- während dieser Zeit ebenfalls die Ten- Kindern vor ähnlichen Verbrechen in zelne, die den Glauben in Zeiten der denz vieler Priester und Ordensleute, der Zukunft sicher zu stellen. Prüfung erhalten haben, wurden zum Weisen des Denkens und der Ein- Da Ihr nun die Herausforderun- Auslöser für das große Wiederaufle- schätzung säkularer Realitäten ohne gen des Augenblicks auf euch nehmt ben des irischen Katholizismus im 19. ausreichenden Bezug zum Evangeli- bitte ich euch, „blickt auf den Fel- Jahrhundert. Die Kirche bot Bildung, um zu übernehmen. Das Programm sen, aus dem ihr herausgehauen seid“ besonders für die Armen, und leiste- der Erneuerung, dass das Zweite Va- (Jesaja 51,1). Bedenkt den großherzi- te dadurch ihren Beitrag zur Gesell- tikanische Konzil vorgelegt hat, wur- gen und oft heroischen Beitrag, den schaft Irlands. Zu den Früchten des de häufig falsch gelesen; im Licht des vergangene Generationen irischer Wachsens der neuen katholischen tiefen sozialen Wandels war es schwer, Männer und Frauen für die Kirche Schulen gehörte eine Zunahme in die richtigen Weisen der Umsetzung und die ganze Menschheit geleistet Berufungen: Generationen von Missi- zu finden. Es gab im Besonderen die haben. Lasst Euch das Ansporn sein onaren, Schwestern und Brüdern, ha- wohlmeinende aber fehlgeleitete Ten- für eine ehrliche Selbstbetrachtung ben ihr Heimatland verlassen um auf denz, Strafen für kanonisch irregulä- und ein engagiertes Programm kirch- allen Kontinenten zu dienen, beson- re Umstände zu vermeiden. In die- licher und persönlicher Erneuerung. ders in der englischsprachigen Welt. sem Gesamtkontext müssen wir das Ich bete dafür, dass die Kirche in Ir- Bemerkenswert waren nicht nur ihre verstörende Problem des sexuellen land, durch den Beistand der vielen große Zahl, sondern auch die Stärke Missbrauchs von Kindern zu verste- Heiligen und gereinigt durch Reue, ihres Glaubens und die Standhaftig- hen versuchen, das nicht wenig zur die augenblickliche Krise überwindet keit ihres pastoralen Engagements. Schwächung des Glaubens und dem und erneut ein Zeuge für die Wahrheit Viele Bistümer, besonders in Afrika, Verlust des Respekts vor der Kirche und die Güte des allmächtigen Gottes Amerika und Australien, haben von und ihre Lehren beigetragen hat. wird, die sich zeigt in seinem Sohn Je- der Präsenz irischer Geistlicher und Nur durch sorgfältige Prüfung der sus Christus. Ordensleute profitiert, die das Evan- vielen Faktoren die zum Entstehen gelium verkündeten und Pfarreien, der augenblicklichen Krise geführt In der Geschichte waren die Schulen, Universitäten und Kranken- haben kann eine klare Diagnose ih- 3. Katholiken Irlands immer häuser gründeten, die sowohl den rer Gründe unternommen und können eine starke Kraft für das Gute, in Katholiken als auch der gesamten wirkungsvolle Abhilfemaßnahmen ge- der Heimat und außerhalb. Keltische Gesellschaft dienten, mit besonde- funden werden. Sicherlich können Mönche wie der heilige Kolumban ha- rem Augenmerk auf die Bedürfnisse wir zu den entscheidenden Faktoren ben das Evangelium in Westeuropa der Armen. hinzuzählen: unangemessene Verfah- verbreitet und das Fundament für die In fast jeder Familie in Irland gibt ren zur Feststellung der Eignung von mittelalterliche Klosterkultur gelegt. es jemanden – einen Sohn oder eine Kandidaten für das Priesteramt und

34 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 RELIGION UND GESELLSCHAFT das Ordensleben; nicht ausreichende zu euch einzeln und zu euch allen ge- dass Ihr auf diese Weise Versöhnung, menschliche, moralische, intellektu- meinsam als Brüder und Schwestern tiefe innere Heilung und Frieden fin- elle und geistliche Ausbildung in Se- im Herrn sprechen. den könnt. minarien und Noviziaten; eine Ten- denz in der Gesellschaft, den Klerus An die Opfer des Missbrauchs An die Priester und Ordensleute, und andere Autoritäten zu favorisie- 6. und ihre Familien 7. die Kinder missbraucht haben ren; und eine fehlgeleitete Sorge für Ihr habt viel gelitten und ich be- Ihr habt das Vertrauen, das von den Ruf der Kirche und die Vermei- daure das aufrecht. Ich weiß, dass unschuldigen jungen Menschen und dung von Skandalen, die zum Versa- nichts das Erlittene ungeschehen ma- ihren Familien in Euch gesetzt wur- gen in der Anwendung bestehender chen kann. Euer Vertrauen wurde de, verraten und Ihr müsst Euch vor kanonischer Strafen und im Schutz verraten und eure Würde wurde ver- dem allmächtigen Gott und vor den der Würde jeder Person geführt hat. letzt. Viele von Euch mussten erfah- zuständigen Gerichten dafür verant- Es muss dringend gehandelt werden ren, dass, als Ihr den Mut gefunden worten. Ihr habt die Achtung der Men- um diese Faktoren anzugehen, die so habt, über das zu spreche, was euch schen Irlands verspielt und Schande tragische Konsequenzen in den Le- zugestoßen ist, Euch niemand zuge- und Unehre auf Eure Mitbrüder ge- ben von Opfern und ihrer Familien hört hat. Diejenigen von euch, denen bracht. Die Priester unter Euch haben hatten und die das Licht des Evange- das in Wohnheimen und Internaten die Heiligkeit des Weihesakraments liums in einer solchen Weise verdun- geschehen ist, müssen gefühlt haben, verletzt, in dem Christus sich selbst kelt haben, wie es noch nicht einmal dass es kein Entkommen gibt aus Eu- in uns und unseren Handlungen ge- Jahrhunderten der Verfolgung gelun- rem Leid. Es ist verständlich, dass genwärtig macht. Gemeinsam mit dem gen ist. es schwer für Euch ist, der Kirche zu immensen Leid, das Ihr den Opfern vergeben oder sich mit ihr zu versöh- angetan habt, wurde die Kirche und Bereits mehrfach seit meiner nen. Im Namen der Kirche drücke ich die öffentlichen Wahrnehmung des 5. Wahl auf den Stuhl Petri habe offen die Schande und die Reue aus, Priestertums und des Ordensleben ich Opfer sexuellen Missbrauchs ge- die wir alle fühlen. Gleichzeitig bitte beschädigt. troffen und ich bin bereit, das auch ich Euch, die Hoffnung nicht aufzuge- Ich mahne Euch, Euer Gewissen in Zukunft zu tun. Ich habe mit ihnen ben. In der Gemeinschaft der Kirche zu erforschen, Verantwortung für die zusammen gesessen, habe ihre Ge- begegnen wir Christus, der selbst ein begangenen Sünden zu übernehmen schichten gehört, ihr Leiden wahrge- Opfer von Ungerechtigkeit und Sünde und demütig Euer Bedauern auszu- nommen und ich habe mit ihnen und war. Wie ihr trägt er immer noch die drücken. Ehrliche Reue öffnet die Tür für sie gebetet. Schon früher in mei- Wunden seines eigenen ungerechten zu Gottes Vergebung und die Gnade nem Pontifikat habe ich in meiner Leidens. Er versteht die Tiefe eures ehrlicher Besserung. Durch Gebet Sorge diese Frage anzusprechen, die Leides und die fortdauernden Aus- und Buße für die, denen Ihr Unrecht Bischöfe Irlands aufgefordert, „die wirkungen auf Euer Leben und Eure getan habt, sollt ihr persönlich für Wahrheit dessen, was in der Vergan- eigenen Beziehungen, eingeschlossen Euer Handeln Sühne leisten. Christi genheit geschehen ist, festzustellen, Eure Beziehung zur Kirche. Ich weiß, erlösendes Opfer hat die Kraft, sogar jede notwendige Maßnahme zu ergrei- dass es einigen von euch schwer fällt die größte Sünde zu vergeben und Gu- fen, damit das nie wieder geschehen durch die Türen der Kirche zu gehen tes sogar aus dem schlimmsten Übel kann, sicherzustellen, dass die Vor- nach allem, was passiert ist. Aber wachsen zu lassen. Gleichzeitig ruft gaben der Justiz voll eingehalten wer- Christi eigene Wunden, verwandelt uns Gottes Gerechtigkeit dazu auf, den und, am wichtigsten, den Opfern durch sein erlösendes Leiden, sind Rechenschaft über unsere Taten ab- und allen von diesen ungeheuerlichen der Weg, durch den die Macht des Bö- zulegen und nichts zu verheimlichen. Verbrechen Betroffenen Heilung zu sen gebrochen wird und wir zu Leben Erkennt Eure Schuld öffentlich an, bringen“ (Ansprache an die Bischö- und Hoffnung wiedergeboren sind. Ich unterwerft Euch der Rechtsprechung, fe von Irland während des Ad Limina glaube zutiefst, dass diese heilende aber verzweifelt nicht an der Gnade Besuchs, 28. 10. 2006). Kraft der aufopfernden Liebe Befrei- Gottes. Mit diesem Brief möchte ich euch ung und die Verheißung eines Neuan- alle, das Volk Gottes in Irland, ermah- fangs bringt – sogar in den dunkelsten nen, die Wunden am Körper Christi zu und hoffnungslosesten Situationen. 8. An die Eltern betrachten. Betrachtet aber auch die Ich spreche zu Euch als Hirte, der Ihr seid zutiefst entsetzt über die manchmal schmerzhaften Heilmittel, sich um das Wohl aller Kinder Gottes furchtbaren Dinge, die an den Orten die wir brauchen, um diese Wunden sorgt und bitte Euch, zu bedenken, stattgefunden haben, die eigentlich zu binden und zu heilen, und eben- was ich gesagt habe. Ich bete, dass die sichersten und sorgenfreiesten falls die Notwendigkeit der Einheit, durch die Annäherung an Christus Orte hätte sein sollen. Es ist heute der Nächstenliebe und der gegensei- und durch die Teilnahme am Leben nicht einfach, ein Zuhause zu bilden tigen Unterstützung in einem langwie- seiner Kirche – einer Kirche gereinigt und Kinder zu erziehen. Sie verdienen rigen Prozess der Wiederherstellung durch Buße und erneuert in Nächsten- es, sicher aufzuwachsen, geliebt und und kirchlicher Erneuerung. Ich wen- liebe – Ihr die unermessliche Liebe geschätzt mit einem starken Gefühl de mich nun an euch mit Worten, die Christi für jeden von Euch wiederent- ihrer Identität und ihres Wertes. Sie von Herzen kommen und ich möchte decken könnt. Ich bin zuversichtlich, haben das Recht, mit authentischen

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 35 RELIGION UND GESELLSCHAFT moralischen Werten erzogen zu wer- tigen Enthusiasmus und Idealismus des Kirchenrechts zu sexuellem Miss- den, zutiefst in der Menschenwürde zum Neuaufbau und der Erneuerung brauch von Kindern versagt haben. verankert. Sie haben das Recht, in- Eurer geliebten Kirche. Schwere Fehler sind bei der Behand- spiriert zu werden durch die Wahr- lung von Vorwürfen gemacht worden. heit unseres katholischen Glaubens An die Priester und Ordensleute Ich erkenne an, dass es schwer war, und Weisen des Verhaltens und Han- 10. in Irland die Komplexität und das Ausmaß delns zu erlernen, die zu einem gesun- Wir alle leiden als Folge der Sün- des Problems zu erkennen, gesi- den Selbstwert und zu dauerhaftem den unserer Mitbrüder, die das heili- cherte Informationen zu erlangen und Glück führen. Diese noble aber auch ge Vertrauen missbraucht haben oder die richtigen Entscheidungen bei wi- anspruchsvolle Aufgabe ist zualler- versagt haben, gerecht und verantwor- dersprüchlichen Expertenmeinungen erst Euch anvertraut, den Eltern. Ich tungsvoll mit den Missbrauchsvorwür- zu treffen. Trotzdem muss zugegeben bitte Euch dringend, Eure Rolle bei fen umzugehen. In der Wut und der werden, dass schwerwiegende Fehl- der Gewährleistung der besten mög- Empörung die das alles nicht nur un- urteile getroffen wurden und Fehler lichen Fürsorge für die Kinder so- ter den Gläubigen sondern auch unter in der Leitung vorkamen. Dies alles wohl zu Hause als auch in der Gesell- Euch und in den Ordensgemeinschaf- hat Eure Glaubwürdigkeit und Effek- schaft zu spielen, während die Kirche ten hervorgerufen hat, fühlen sich vie- tivität untergraben. Ich erkenne Eure ihre Rolle wahrnimmt und weiter die le von Euch mutlos oder sogar verlas- Bemühungen an, vergangene Fehler Maßnahmen der letzten Jahre umsetzt sen. Mir ist ebenfalls bewusst, dass in wieder gut zu machen und zu garan- um junge Menschen in Pfarreien und den Augen vieler Ihr durch die Nähe tieren, dass sie nicht wieder passie- Schulen zu schützen. Während Ihr zu den Tätern einen Makel tragt und ren. Abgesehen von der vollständigen Eure lebenswichtige Verantwortung als irgendwie verantwortlich für die Umsetzung der Normen des Kirchen- wahrnehmt möchte ich Euch versi- Verbrechen anderer gesehen werdet. rechts im Umgang mit Fällen von Kin- chern, dass ich Euch nahe bin und die In dieser schmerzlichen Zeit möch- desmissbrauch: kooperiert weiter mit Unterstützung meiner Gebete anbiete. te ich Eure Hingabe an das Pries- den staatlichen Behörden in ihrem tertum und das Apostolat würdigen Bereich. Für die Ordensoberen gilt An die Kinder und die Jugend und Euch einladen, Euren Glauben dasselbe. Sie haben ebenfalls an Dis- 9. Irlands in Christus zu festigen, Eure Liebe kussionen hier in Rom teilgenommen, Euch möchte ich ganz besonders zu seiner Kirche und Euer Vertrauen um einen eindeutigen und klaren Weg ermutigen. Eure Erfahrung der Kirche in die Verheißung des Evangeliums zum Umgang in dieser Angelegenheit ist sehr unterschiedlich von der Eurer auf Erlösung, Vergebung und innere zu entwickeln. Es ist zwingend erfor- Eltern und Großeltern. Die Welt hat Erneuerung. Auf diese Weise werdet derlich, dass die Normen der Kirche sich sehr geändert seit sie in Eurem ihr aufzeigen, dass da, wo die Sünde in Irland zum Schutz von Kindern kon- Alter waren. Trotzdem sind alle Men- mächtig wurde, die Gnade übergroß tinuierlich überprüft und aktualisiert schen aller Generationen dazu beru- wurde (Römerbrief 5,20). werden und dass sie vollständig und fen, denselben Weg durchs Leben zu Ich weiß, dass viele von Euch von unabhängig in Übereinstimmung mit gehen, gleich unter welchen Umstän- der Art und Weise, wie diese Dinge dem Kirchenrecht angewandt werden. den. Wir sind alle skandalisiert von von Euren Oberen behandelt wur- Ausschließlich entschiedene den Sünden und dem Versagen von ei- den, enttäuscht, verwirrt und verär- Handlungsweisen, umgesetzt in vol- nigen Mitgliedern der Kirche, beson- gert sind. Trotzdem ist es wesentlich, ler Aufrichtigkeit und Transparenz, ders durch die derer, die eigens dazu dass Ihr eng mit den Autoritäten ko- wird den Respekt und den guten Wil- ausgesucht waren, jungen Menschen operiert und helft, dass die Maßnah- len des irischen Volks der Kirche ge- zu dienen und sie anzuleiten. Aber men zur Bewältigung der Krise wirk- genüber, der wir unser Leben geweiht es ist die Kirche, in der Ihr Christus lich dem Evangelium gemäß, gerecht habt, wiedergewinnen. Das muss zu- findet, der derselbe ist, gestern, heu- und effektiv sind. Vor allem aber bitte allererst aus Eurer Selbsterforschung, te und morgen (Hebräerbrief 13,8). Er ich Euch, immer mehr Männer und aus innerer Reinigung und geistlicher liebt Euch und er hat sich am Kreuz Frauen des Gebets zu werden, die Erneuerung kommen. Die Menschen für Euch hingegeben. Sucht eine per- mutig dem Weg der Bekehrung, Rei- Irlands erwarten zu Recht, dass Ihr sönliche Beziehung zu ihm in der Ge- nigung und Versöhnung gehen. Auf Menschen Gottes seid, dass Ihr gott- meinschaft der Kirche, denn er wird diese Weise wird die Kirche in Irland gefällig und einfach lebt und täglich nie Euer Vertrauen missbrauchen! Er neues Leben und neue Dynamik aus die persönliche Bekehrung erstrebt. allein kann Eure tiefsten Sehnsüchte Eurem Zeugnis für Gottes erlösende Für sie – in den Worten des heiligen erfüllen und Eurem Leben den vol- Kraft, die in Eurem Leben sichtbar Augustinus – seid Ihr Bischof; aber len Sinn geben dadurch, dass er es wird, schöpfen. gemeinsam mit ihnen seid Ihr berufen, zum Dienst am Nächsten lenkt. Hal- Christus nachzufolgen (Sermon 340, tet Eure Augen auf Jesus und seine An meine Mitbrüder 1). Ich ermahne Euch deswegen, Eu- Güte gerichtet und schützt die Flam- 11. im Bischofsamt ren Sinn für die Rechenschaftspflicht me des Glaubens in Eurem Herzen. Es kann nicht geleugnet werden, vor Gott zu erneuern, in der Solidari- Gemeinsam mit den übrigen Gläubi- dass einige von Euch und von Euren tät mit Eurem Volk zu wachsen und gen in Irland sehe ich in Euch treue Vorgängern bei der Anwendung der die pastorale Sorge für alle Mitglieder Jünger unseres Herrn; bringt den nö- seit langem bestehenden Vorschriften Eurer Herde zu vertiefen. Besonders

36 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 RELIGION UND GESELLSCHAFT fordere ich Euch auf, achtsam zu sein geht, durch das Halten der Gebote und tung zuteil werden; in jedem Bistum für die geistlichen und moralischen dadurch, dass Ihr Euer Leben immer soll es Kirchen oder Kapellen geben, Bedürfnisse jedes einzelnen Eurer mehr in Übereinstimmung mit dem die speziell diesem Zweck gewidmet Priester. Gebt ihnen durch Euer ei- Leben Jesu Christi bringen, werdet sind. Ich fordere Pfarreien, Semina- genes Leben ein Beispiel, seit ihnen Ihr sicher die tiefe Erneuerung erfah- rien, Ordenshäuser und Klöster dazu nahe, hört auf ihre Anliegen, bie- ren, die wir in dieser Zeit so dringend auf, Zeiten eucharistischer Anbetung tet Ermutigung in dieser schwierigen brauchen. Ich lade Euch ein, auf die- zu organisieren, so dass sich alle be- Zeit und nährt die Flamme ihrer Lie- sem Weg beständig zu sein. teiligen können. Durch intensives Ge- be zu Christus und ihr Engagement bet vor dem anwesenden Herrn könnt für den Dienst an ihren Brüdern und Liebe Brüder und Ihr Wiedergutmachung leisten für die Schwestern. 13. Schwestern in Christus, Sünde des Missbrauchs, die so viel Die Gläubigen sollen ebenfalls er- ich wollte Euch diese Worte der Er- Schaden angerichtet hat. Gleichzeitig mutigt werden, ihre eigene Rolle im mutigung und Unterstützung aus mei- könnt Ihr so die Gnade neuer Stärke Leben der Kirche zu spielen. Sorgt da- ner Fürsorge für Euch alle in dieser erflehen und einen tieferen Sinn des für, dass sie so ausgebildet sind, dass schmerzvollen Zeit, in der die Zer- Auftrags aller Bischöfe, Priester, Or- sie eine verständliche und überzeu- brechlichkeit des menschlichen We- densleute und Gläubigen. gende Darstellung des Evangeliums sens so deutlich offenbar geworden ist, Ich bin zuversichtlich, dass dieses in mitten der modernen Gesellschaft schreiben. Ich hoffe, dass Ihr sie als Unterfangen zu einer Neugeburt der geben können (1. Petrusbrief 3,15) Zeichen meiner geistlichen Nähe und Kirche in Irland führen in der Fülle und vollständiger mit dem Leben und meiner Zuversicht in Eure Fähigkeit von Gottes Wahrheit führen wird, denn dem Auftrag der Kirche kooperieren. empfangt, den Herausforderungen der es ist die Wahrheit, die uns frei macht Dies wird umgekehrt Euch helfen, Stunde dadurch zu begegnen, dass Ihr (Johannesevangelium 8,32). wieder glaubwürdige Obere und Zeu- erneuerte Inspiration und Stärke aus Darüber hinaus, nachdem ich da- gen der erlösenden Wahrheit Christi Irlands nobler Tradition der Treue rüber beraten und gebetet habe, habe zu werden. zum Evangelium empfangt, Ausdau- ich vor, eine Apostolische Visitation er im Glauben und Beharrlichkeit im einiger Bistümer Irlands abzuhalten, Erstreben von Heiligkeit. In Solida- ebenso von Seminarien und Ordens- 12. An alle Gläubigen Irlands rität mit Euch allen bete ich, dass mit gemeinschaften. Absprachen für diese Die Erfahrung der Kirche eines Gottes Gnade die Wunden, die so viele Visitation, die der Ortskirche auf ih- jungen Menschen sollte immer aus Einzelne und Familien verletzt haben, rem Weg der Erneuerung helfen soll, einer persönlichen und Leben spen- heilen und dass die Kirche in Irland werden in Absprache mit den zustän- denden Begegnung mit Jesus Chris- eine Zeit der Wiedergeburt und der digen Büros der römischen Kurie und tus in einer liebenden, nährenden Ge- geistlichen Erneuerung erfahre. der irischen Bischofskonferenz getrof- meinschaft Frucht bringen. In dieser fen. Die Einzelheiten werden zu gege- Umgebung sollten junge Menschen Ich möchte Euch nun bener Zeit bekannt gegeben. ermutigt werden, ihre menschliche 14. auch einige konkrete Initi- Ich schlage ebenfalls eine ge- und geistliche Gestalt voll zu entwi- ativen zum Umgang mit der Situation meinsame Mission in ganz Irland für ckeln, das hohe Ideal der Heiligkeit, vorschlagen. alle Bischöfe, Priester und Ordens- der Nächstenliebe und der Wahrheit Am Ende meines Treffens mit den leute vor. Es ist meine Hoffnung, dass anzustreben, und von den Reichtü- irischen Bischöfen habe ich darum durch das Nutzen der Expertise er- mern der kulturellen und religiösen gebeten, dass diese Fastenzeit re- fahrener Prediger und Exerzitien- Tradition inspiriert zu sein. In unse- serviert wird für das Gebet um das begleiter von Irland und andernorts rer zunehmend säkularisierten Gesell- Ausgießen der Barmherzigkeit Gottes und durch das erneute Studium der schaft, in der selbst wir Christen es oft und der Geistesgaben der Heiligkeit Dokumente des Konzils, der liturgi- schwer finden, über die transzendente und Stärke über der Kirche in Eurem schen Riten von Weihe und Profess Dimension unserer Existenz zu spre- Land. Ich lade Euch alle ein, die Frei- und der neueren päpstlichen Lehren, chen, müssen wir neue Wege finden, tagsbuße für die Dauer eines Jahres Ihr zu einem tieferen Verständnis für jungen Menschen die Schönheit und bis Ostern 2011 dieser Intention zu Eure jeweilige Berufung kommt, um den Reichtum der Freundschaft mit widmen. Ich bitte Euch, Euer Fasten, so die Wurzeln Eures Glaubens in Je- Christus in der Gemeinschaft der Kir- Euer Gebet, Eure Schriftlesung und sus Christus wieder zu entdecken und che nahe zu bringen. Für die Bewäl- Eure Werke der Nächstenliebe dem zu aus dem Quell des lebendigen Was- tigung der gegenwärtigen Krise sind widmen, damit Ihr so die Gnade der sers zu trinken, den er Euch durch Maßnahmen, die gerecht mit indivi- Heilung und der Erneuerung für die seine Kirche bietet. duellem Unrecht umgehen, unerläss- Kirche in Irland erlangt. Ich ermutige In diesem Jahr des Priesters emp- lich, aber allein für sich sind sie nicht Euch, aufs Neue das Sakrament der fehle ich Euch ganz besonders den ausreichend: wir brauchen eine neue Versöhnung für Euch zu entdecken heiligen Jean-Marie Vianney, der ein Vision, um zukünftige Generationen und häufiger die verwandelnde Kraft reiches Verständnis des Mysteriums zu inspirieren, das Geschenk unseres seiner Gnade zu nutzen. des Priestertums hatte. Er schrieb: gemeinsamen Glaubens zu schätzen. Besondere Aufmerksamkeit sollte „Der Priester hält den Schlüssel zu Indem Ihr den Weg des Evangeliums ebenfalls der eucharistischen Anbe- den Schätzen des Himmels: er ist es,

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 37 RELIGION UND GESELLSCHAFT der die Tür öffnet: er ist der Statthalter sind, und genauso den vielen Män- land beenden, das ich Euch mit der des guten Herrn; der Verwalter seiner nern und Frauen in ganz Irland, die besonderen Sorge des Vaters für seine Güter.“ Der Pfarrer von Ars verstand schon heute für den Schutz von Kin- Kinder und der Zuneigung eines Mit- sehr gut, wie gesegnet eine Gemein- dern im kirchlichen Umfeld arbeiten. christen sende, der skandalisiert und schaft ist, wenn ihr von einem guten Seit der Zeit, als wir begonnen haben, verletzt ist durch das, was in unserer und heiligen Priester gedient wird: die Schwere und das Ausmaß des Pro- geliebten Kirche geschehen ist. Wenn „ein guter Hirte, ein Hüter nach Got- blems zu verstehen, hat die Kirche Ihr es in Euren Familien, Pfarreien tes Herzen, ist der größte Schatz, den eine ungemein große Anstrengung in und Gemeinschaften betet, möge die Gott einer Gemeinde schenken kann vielen Teilen der Welt geleistet, um selige Jungfrau Maria jeden von Euch und eines der wertvollsten Geschen- sich dem zu stellen und um Abhilfe zu schützen und leiten zu einer engeren ke göttlicher Gnade.“ Durch die Für- schaffen. Auch wenn keine Anstren- Verbindung mit ihrem Sohn, dem Ge- sprache des heiligen Jean-Marie Vi- gung aufgespart werden sollte, die kreuzigten und Auferstandenen. Mit anney möge das Priestertum in Irland Verfahren zu verbessern und zu aktu- großer Zuneigung und unentwegter neu belebt werden und möge die gan- alisieren, bin ich doch ermutigt durch Zuversicht in Gottes Zusage sende ich ze Kirche in Irland wachsen in Wert- die Tatsache, dass die augenblickli- Euch herzlich meinen apostolischen schätzung für das große Geschenk des chen Verfahren zur Absicherung, die Segen als eine Zusage von Stärke und priesterlichen Dienstes. die Kirche eingeführt hat, in einigen Frieden im Herrn. An dieser Stelle möchte ich denen Teilen der Welt als vorbildlich für an- im voraus danken, die an der Aufgabe dere Institutionen angesehen werden. Aus dem Vatikan, 19. März 2010, der Organisation der Apostolischen Ich möchte diesen Brief mit einem am Hochfest des heiligen Josef Visitation und der Mission beteiligt besonderen Gebet für die Kirche in Ir- BENEDIKTUS PP. XVI.

Religion und Gesellschaft: Vatikanische Statistik deutet für die Weltkirche Gewichtsverschiebungen an ie katholische Kirche zählt weltweit 1,166 Milliarden Mitglieder, das sind 19 Millionen mehr als im Jahr zuvor. Prozentual erhöhte sich der Anteil der Katholiken an den zuletzt 6,7 Milliarden Erdenbewohnern Dvon 17,3 auf 17,4 Prozent. Das geht aus dem „Annuario Pontificio“, dem Päpstlichen Jahrbuch 2010, hervor, dessen erstes Exemplar dem Papst jetzt überreicht wurde. Leicht angestiegen ist dem Annuario zufolge auch die Zahl der katholischen Priester. Rückläufig ist unterdessen die Zahl der Ordensfrauen. Die Zahl der katholischen Priester weltweit ist im Jahr 2008 abermals leicht angestiegen. Insgesamt gab es 2008 allerdings immer noch rund 7.000 Priester weniger als 30 Jahre zuvor. Das neue Päpstliche Jahrbuch 2010 belegt zwar, dass die Kirche in den Ländern Europas im Vergleich zu den übrigen Erdteilen noch immer die meisten Kleriker – 47 Prozent – hat, im christlichen Abendland allerdings auch die größten Einbrüche hin- nehmen muss. Die Entwicklungslinien lassen grundlegende kontinentale Gewichtsverschiebungen in absehba- rer Zukunft erwarten

Europas Seminare werden leerer teilung in absehbarer Zukunft grund- den Trend der zurückliegenden Jahre: in weniger erfreuliches Bild zeich- legend ändern könnte. In Europa bleiben immer mehr Zim- Enen die statistischen Angaben im In Afrika drängten nach den An- mer in den Seminaren leer, in Afrika neuen „Annuario Pontificio 2010“, gaben 3,6 Prozent mehr junge Män- und Asien strebt hingegen eine stetig für die katholische Kirche in Europa: ner in die Priesterseminare. Asien wachsende Zahl junger Katholiken Mit 47,1 Prozent zählt das christliche und Ozeanien verzeichneten im Jah- das Priesteramt an. Abendland laut Päpstlichem Jahrbuch resvergleich 2008/2007 sogar einen In der Römischen Kleruskongre- zwar weiterhin mit Abstand die meis- Zuwachs um 4,4 bzw. 6,5 Prozent. gation zeigt man sich mit der Ent- ten Priester vor Nord- und Südameri- In Amerika blieb die Zahl der Prie- wicklung der Priesterzahlen insgesamt ka (30 Prozent), Asien (13,2 Prozent), steramtskandidaten zumindest nahe- durchaus zufrieden. In Europa gebe es Afrika (8,7 Prozent) und Australien/ zu konstant. Nur in Europa nahm sie zumindest in Italien und Polen noch Ozeanien (1,2 Prozent). Ein Blick auf um 4,3 Prozent ab. Weltweit stieg die immer erfreulich viele Neupriester. In die Entwicklungskurve der geistli- Zahl der Priesteramtskandidaten um anderen Staaten wie etwa Frankreich chen Berufungen zeigt jedoch, dass 1,1 Prozent auf rund 117.000. Die- sehen Mitarbeiter der Kongregation sich diese kontinentale Gewichtsver- se Angaben bestätigen weitgehend immerhin Anzeichen für eine Trend-

38 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 RELIGION UND GESELLSCHAFT wende. Von einer „Priesterknappheit“ nicht grundlegend verschlechtert. Al- als 800.000 um 7,8 Prozent auf knapp wollen sie jedenfalls auch in jenen lerdings gestalte sich die Seelsorge 740.000 im Jahr 2008 gesunken. Die Ländern nicht sprechen, in denen die schwieriger, weil die Priester für im- Unterschiede zwischen den Kontinen- Zahl der Kleriker in den letzten Jahr- mer größere Gebiete zuständig seien. ten fallen hier noch drastischer aus: zehnten gesunken ist. Dieser Rück- Einem Minus von 17,6 bzw. 12,9 Pro- gang entspreche den schrumpfenden Weniger als 740.000 Nonnen zent in Europa und Amerika steht ein Gemeinden: Es gibt weniger Priester, Besorgniserregend stellt sich die Zuwachs um 21,2 Prozent in Afrika aber auch weniger Gläubige. Das Be- Lage bei den Ordensfrauen dar. Seit und um 16,4 Prozent in Asien gegen- treuungsverhältnis habe sich demnach dem Jahr 2000 ist ihre Zahl von mehr über. (KNA-ID 09/2010)

Kirche und Gesellschaft Mann und Macht – was man(n) damit macht Bericht von der Haupttagung der Gemeinschaft Katholischer Männer Deutschlands (GKMD)

VON PAUL A. SCHULZ ätten die „Lehman-Sisters“ es Grandiosität und Mythen – Handers gemacht? In den letzten Motoren für gerechtes und soziales Monaten war zuweilen zu hören, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise, von Handeln deren Auswirkungen wir alle betrof- er bekannte Schweizer Psycho- fen sind, (wesentlich) von Männern Dloge Allan Guggenbühl2 war gemacht sei und – hätten Frauen das eingeladen, mit einem Vortrag zum Sagen gehabt – es womöglich ganz an- Thema „Grandiosität und Mythen – ders gekommen wäre. Klar scheint auf Motoren für gerechtes und soziales jeden Fall zu sein: Hinter dem Zusam- Handeln“ in das Innenleben von Män- menbruch von Banken und Firmen nern einzuführen. Prof. Dr. Guggen- seit der zweiten Jahreshälfte 2008 ste- bühl vertrat die These, dass in Stu- hen auch hochspekulative Geschäfte, dien das Bild des heutigen Mannes die der Gier und Selbstüberschätzung fast immer mit negativen Termini be- von Männern entspringen. in Banken und Firmenzentralen sit- schrieben werde. Dadurch müsse sich Bei der diesjährigen Haupttagung zen. Was treibt Manager und Börsen- in der Gesellschaft ein zwanghaftes der Gemeinschaft Katholischer Män- spekulanten eigentlich zu ihrem Tun (pathologisches) Gefühl der Unvoll- ner Deutschlands (GKMD) vom 20. an? Was treibt Männer insgesamt an, kommenheit einstellen: „Der Mann bis 22. April im Bonifatiushaus in zu schlechten wie zu guten Taten? – als Fehlgriff der Natur“ beeinflusse Fulda haben sich die Männer – Ver- Antworten gaben: unwillkürlich das Selbstwertgefühl treter aus katholischen Verbänden1 – der Schweizer Psychologe Allan von Männern. Das Männliche habe in und Pastoralstellen der Diözesen, die Guggenbühl mit dem Vortrag unserer Gesellschaft in nie gekann- sich mit Männerseelsorge und kirch- „Grandiosität und Mythen – Mo- ter Weise eine Abwertung erfahren, licher Männerarbeit befassen, – mit toren für gerechtes und soziales 2 Prof. Dr. Allan Guggenbühl, diplomier- Ursachen, Auswirkungen und Akteu- Handeln“, ter analytischer Psychotherapeut, Kin- ren der Wirtschafts- und Finanzkri- – der Moraltheologe und Sozialethi- der- und Jugendpsychologe, Seminar- lehrer für Psychologie und Pädagogik se beschäftigen. Dabei richteten sie ker Peter Schallenberg mit seinen im Kindergarten- und Hortseminar des den Blick besonders auf die Männer, Ausführungen zum Thema „Die Kantons Zürich, Leiter der Psychothera- die an den entscheidenden Stellen katholische Soziallehre – die Ant- piegruppen für Kinder und Jugendliche wort auf die Wirtschafts- und Fi- bei der Erziehungsberatung des Kantons 1 Die GKS ist als kirchlicher Verband, Bern, Publikationen zu Gewalt und der Männerarbeit leistet, Mitglied in nanzkrise“, Aggression unter Kindern, männlicher der GKMD. Delegierte der GKS bei der – der Männerbischof Erzbischof Dr. Identität (Männer, Mächte, Mythen). − Haupttagung waren die Ehrenbundes- Ludwig Schick, Bamberg, in sei- Buch zum Thema: Allan Guggenbühl: vorsitzenden Oberst a.D. Karl-Jürgen ner Predigt zum Tagungsthema Kleine Machos in der Krise. Wie Eltern Klein, a.D. Paul Schulz und Lehrer Jungen besser verstehen. und a.D. Heinrich Dorn- „Mann und Macht – was man(n) Herder (Freiburg, Basel, Wien) 2006. dorf. damit macht“. 192 Seiten.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 39 RELIGION UND GESELLSCHAFT die auch die Jungen nicht unberührt egoistischen Beweggründen des Ein- ausmache. Das Gute sei zu befragen lasse – im Gegenteil: Das Image der zelnen (Grandiosität) und den kollek- nach dem Warum – das Schöne ver- Jungen habe sich in den letzten Jahr- tiven, gesellschaftlichen Mythen (in stehe sich von selbst: „Eine Person zehnten dramatisch verschlechtert, unserem Kulturkreis: Verpflichtung ist als Abbild Gottes schön und Gott sie gelten als unruhig, gewalttätig und zum Gemeinwohl) suchen und finden, ist schön“, erläuterte Schallenberg. tendenziell rechtsradikal. Das männ- meint Prof. Guggenbühl. Gerechtigkeit sei die Herstellung liche Geschlecht habe das Nachse- eines Minimums an guten Lebens- hen, so Guggenbühl, und befinde sich möglichkeiten. So könne der Staat in puncto Schul- und Berufslaufbahn Die katholische Soziallehre – zwar Gerechtigkeit zusichern und so- inzwischen auf der Verliererstraße. die Antwort auf die Wirtschafts- mit zwar für Zufriedenheit, nicht je- Die Folgen würde unsere auf techni- und Finanzkrise doch für Glückseligkeit sorgen. Ge- sche Innovation angewiesene Gesell- rechtigkeit sei gleichsam ein notwen- schaft zu spüren bekommen, wenn diger Grundwasserspiegel. Um aber die Wirtschaftsentwicklung durch ei- Schwimmen zu können, sei ein Mehr nen beträchtlichen Mangel an qualifi- nötig, nämlich die Liebenswürdigkeit zierten Technikern, Ingenieuren und des Menschen, die sich aus der un- Naturwissenschaftlern empfindlich bedingten Liebe Gottes über den Tod gebremst werde. hinaus ergebe und in der, wie Prof. Heute ziele die Schulpädagogik Schallenberg ausführte, das höchste darauf ab, so der Psychologe, Ge- Glück des Menschen und sein letztes schlechterunterschiede zu egalisie- Ziel bestehe. ren. Dies laufe darauf hinaus, dass In einem weiteren Schritt erläu- Jungen Sanktionen erhalten, wenn terte Schallenberg die vier Grundprin- sie typisches Jungenverhalten (Toben, zipien der christlichen Soziallehre: Vorlautsein, Prahlen, Unberechenbar- Personalität – Solidarität – Subsidi- keit, Risikobereitschaft, Widerstand arität – Gemeinwohl. Damit schlug gegen (weibliches) Lehrpersonal ) zei- n einem zweiten Vortrag des Theo- er den Bogen von den Vorstellungen gen. Während die Schule Mädchenför- Ilogen und Sozialethikers Peter der griechischen Philosophie zur mo- derung, beispielsweise im Fach Ma- Schallenberg3 ging es dann um die dernen Wirtschaftsethik. Zunächst thematik und in technischen Fächern, Frage nach der Ethik in der (sozialen) aber klärte er einen weit verbreiteten mit besonderer Entschlossenheit und Marktwirtschaft und um das, was von Irrtum auf: Der Begriff des Kapita- Energie betreibe, würde die Schuld kirchlicher Seite für eine gesunde, lismus gründe nicht auf Karl Marx, an den schlechten Schulleistungen lebensförderliche Wirtschaft geleis- wie vielfach vermutet werde, sondern der Jungen diesen selbst aufgebürdet. tet werden kann. Ausgangspunkt der stamme von einem Bettelmönch, dem Auch würden Mädchen ihre Gefühle Überlegungen des Referenten war Franziskaner Bernhardin von Siena († in eine Beziehungssprache umset- die Aussage, bei der katholischen 1444). Dieser wusste bereits im 15. zen, dagegen steuerten Jungen ihre Soziallehre handle es sich nicht um Jahrhundert zwischen Gelddarlehen Gefühle vielmehr über Aktionen und eine „Sonderoffenbarung“, sondern zu Konsumzwecken und solchen zu die Hinwendung zur Sache (vor allem um eine Erkenntnisse, welche sich Produktivzwecken zu unterschieden. zivilisatorische Errungenschaften wie aus dem christlichen Menschenbild Bernhardin gestand für Letzteres ei- Autos, Lokomotiven oder Computer). und dem Nachdenken darüber erge- nen „mäßigen Zins“ von ca. 5 Prozent Während es sich bei solchen techni- ben, was gut, schön und gerecht sei. zu. Die „Capitalisti“ waren die Besit- schen Objekten aus weiblicher Sicht Denn den Menschen zeichne aus, dass zer vieler Schafe, also die Reichen, um bloße Gebrauchsgegenstände han- bei ihm das Menschengemäße nicht welche die weniger gut betuchten Mit- dele, hätten sie für Jungen eine seeli- einfach wie beim Tier von Natur aus bürger durch Ausleihen unterstütz- sche Bedeutung. Sie würden nicht sel- geschehe, sondern aus Vernunft. So ten. Nach diesem Gedanken, der auf ten zu einem Symbol für den mensch- strebe jeder Mensch – wie bereits dem Prinzip der Gerechtigkeit beruht, lichen Gestaltungswillen, für die He- die griechische Philosophie erkann- kam der Vortragende zu dem abschlie- rausforderung der Unterwerfung der te – nach dem Guten, Schönen und ßenden Urteil: „Der Kapitalismus ist ungebändigten Kräfte der Natur durch Gerechten. Das Schöne meinte für nicht unmoralisch.“ Allerdings müss- den Menschen. Guggenbühl mach- den Griechen, das was wir heute als ten „aktuelle Anlässe genutzt werden, te geltend, dass dieses „grandiose Würde (dignitas) bezeichnen und was um das soziale System zu verbessern“. Denken“ der Jungen eine Ressour- unsere unveräußerlichen Grundwerte Das System der (Wirtschafts- und Fi- ce darstelle, indem es Energien und nanz-) Gerechtigkeit sei so weiter zu 3 Prof. Dr. Peter Schallenberg, Inhaber Fantasien freisetze. Dahinter stecke des Lehrstuhls für Moraltheologie und entwickeln, dass verhindert werden auch eine Sehnsucht nach Anschluss Ethik an der Theol. Fakultät Pader- könne, wenn Einzelne sich ungerecht an eine der großen Geschichten oder born und seit April 2010 Leiter der und zu Lasten anderer bereichern. Mythen unserer Gesellschaft. Die Ge- Katholischen Sozialwissenschaftlichen An diesem Punkt ging der Vortrag Zentralstelle in Mönchengladbach. sellschaft müsse allerdings einen Aus- Forschungsschwerpunkt u.a. Ethik der noch auf die unterschiedlichen und gleich zwischen den individuellen, Sozialen Marktwirtschaft. schwer in Einklang zu bringenden

40 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 RELIGION UND GESELLSCHAFT

Wirtschaftsmodelle ein: Während sich möchte zehn schlaglichtartige Thesen Europa zur sozialen Marktwirtschaft dazu aufstellen, die zum Diskutieren (mit länderweise unterschiedlicher und Weiterdenken anregen sollen. Ausprägung) bekenne, würden die an- gelsächsischen Staaten, insbesondere 1. Macht wahrnehmen und die USA, das durch Calvins Prädesti- anerkennen nationslehre geprägte individualisti- Eine der ersten Gefahren, Macht sche Wirtschaftsmodell bevorzugen. zu missbrauchen, Machtmiss- Prof. Dr. Schallenberg war es in brauch zuzulassen oder zu er- seinem Vortrag gelungen, schwieri- leiden, ist: Macht nicht anerken- ge philosophische Fragen mit ein- nen und nicht benennen. Jeder fachen, humorvollen und plausiblen Mensch hat Macht, als Ehemann, Beispielen zu erläutern. Ergänzend als Vater, im Beruf und durch den und abschließend ein Zitat aus der Beruf, besonders als Lehrer, Pfar- Sozialenzyklika „Centesimus annus“ keine „Eintagsfliege“ sein, sondern rer, Arzt, im Pflege- und Bera- von Papst Johannes Paul II. aus dem muss Dauerthema werden. tungsberuf, als Beamter und Po- Jahr 1991: Die Missbrauchsfälle in den Kir- litiker. Jeder Erwachsene, jeder „Die Kirche anerkennt die berech- chen, in den Familien, in Internaten, körperlich Gesunde und Starke, tigte Funktion des Gewinnes als In- Schulen, Sportvereinen etc. machen jeder Wissende und Intelligente, dikator für den guten Zustand und dieses Thema drängend wichtig. 80 jeder Autofahrer mit seinem PS- Betrieb des Unternehmens. Wenn ein und mehr Prozent der Täter in den starken Wagen hat anderen ge- Unternehmen mit Gewinn produziert, Missbrauchsskandalen sind Männer, genüber Macht! bedeutet das, dass die Produktions- 80 Prozent der Opfer sind Frauen. Wer sagt, er habe keine Macht, faktoren sachgemäß eingesetzt und Bei der Aufarbeitung und Analyse lügt und verschleiert, bewusst die menschlichen Bedürfnisse gebüh- der Missbrauchsfälle wird neben der oder unbewusst. Die eigene Macht rend erfüllt werden. Doch der Gewinn Krankheit „Pädophilie“ und einer verneinen oder verschleiern ist ist nicht das einzige Anzeichen für den fehlentwickelten, unterentwickelten eine erste und gefährliche Ge- Zustand des Unternehmens …, denn oder unreifen Sexualität immer wie- fahrenquelle, Macht zu miss- Zweck des Unternehmens ist nicht bloß der das Thema „Macht und Macht- brauchen. „Bucklige Demut ist die Gewinnerzeugung, sondern auch missbrauch“ genannt. Sexueller Miss- falsch“. Durch „serviles dienen“ die Verwirklichung als Gemeinschaft brauch und Machtmissbrauch hängen und „sich andienern“ Macht über von Menschen, die auf verschiedene zusammen! andere zu gewinnen suchen, ist Weise die Erfüllung ihrer grundle- Aber nicht nur beim „sexuellen pervers. genden Bedürfnisse anstreben und zu- Missbrauch“, sondern auch bei Prü- Auf der anderen Seite gehört dazu gleich eine besondere Gruppe im Dienst gelstrafen und anderen so genannten die Macht des Anderen/der Ande- der Gesamtgesellschaft bilden. Der Ge- „Erziehungsmaßnahmen“ spielt das ren zu erkennen und wahrzuneh- winn ist ein Regulator des Unterneh- Thema „Mann und Macht“ eine große men. Wer die Macht des Anderen mens, aber nicht der einzige. Hinzu Rolle. Nicht nur früher, auch in un- nicht sieht, läuft Gefahr durch kommen andere menschliche und mo- serer Zeit erleben wir diesbezüglich dessen Machtmissbrauch Scha- ralische Faktoren, die auf lange Sicht neue gravierende Probleme, z.B. im den zu erleiden. Macht anderer gesehen ebenso entscheidend sind für Fall Dominik Brunner in München, zu erkennen, muss von Kindheit das Leben des Unternehmens.“ (Cen- bei den Neonazis, bei Zwangspros- an gelehrt und gelernt werden. tesimus annus 35,3) titution oder Mobbing. Auch beim Bankencrash des letzten Jahres, bei 2. Macht (recht verstanden) Betriebsschließungen oder –verle- ist in sich gut Mann und Macht – was man(n) gungen mit Kündigungen wird öfter Das Hauptwort „Macht“ und das damit macht als eine Ursache „Macht und Macht- Tätigkeitswort „machen“ haben missbrauch“ genannt. Aus diesen vie- den gleichen Ursprung. Macht PREDIGT VON ERZBISCHOF DR. LUD- len Gründen ist es wichtig, dass wir ergibt sich aus Können, Willen WIG SCHICK, BAMBERG uns in der Männerarbeit mit diesem und Verwirklichen. Thema intensiv befassen. „Mann und Mit Macht soll und kann man Gu- ann und Macht – was man(n) Macht – was man(n) damit macht“ soll tes machen. Im Lateinischen steht „Mdamit macht“. Als wir dieses einen Topplatz in der Männerarbeit al- für Macht das Hauptwort „Potes- Thema für die diesjährige Hauptta- ler Diözesen, in Männervereinen und tas“, das vom Tuwort „potere“, gung der katholischen Männerarbeit -gemeinschaften bekommt. können/vermögen, abgeleitet ist. formulierten, hatte es längst nicht die Ich kann jetzt nur ein paar An- Macht ist Potenzial, das gut einge- Brisanz, die es derzeit hat. merkungen bezüglich Macht und setzt werden kann und muss. Des- „Mann und Macht“ ist ein Thema, Machtmissbrauch machen und dazu, halb muss Macht in den verschie- das unbedingt auf die Tagesordnung wie Macht ausgeübt und Machtmiss- denen Bereichen des Menschen der Männerarbeit muss. Es darf auch brauch verhindert werden muss. Ich und seines Wirkens auch ausge-

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 41 RELIGION UND GESELLSCHAFT

baut oder entfaltet werden, damit logische Wende“ feststellen. Im Wir haben ihnen mit unseren Po- sie den Mitmenschen und dem Galaterbrief beschreibt er selbst, tenzialen zu dienen! Gemeinwohl bestmöglich dient. dass er „aus Treue zum jüdischen Gesetz“ und „mit dem größten Ei- 9. Macht muss ermächtigen 3. Macht muss regelmäßig fer … für die Überlieferung mei- Jesus sagt heute im Evangelium: überprüft werden ner Väter“ ein Verfolger der Kir- Keiner darf zugrunde gehen. Die Das geschieht in verschiedenen che war (vgl. Gal 1,14). Dann of- regelmäßige Überprüfung der ei- Bereichen auf unterschiedliche fenbarte Gott ihm „seinen Sohn“, genen Machtausübung ist wichtig. Weise, z.B. durch Revision und damit er ihn unter den Heiden Tue ich es für andere oder tue ich Evaluation, durch Qualifizierun- verkünde (vgl. Gal 1,15ff). Paulus es für mich selbst? Macht wird gen und Begutachtungen. Wahlen wendet sich von den Institutionen nur dann im christlichen Sinn und funktionierende demokra- des Alten Bundes zu den Perso- ausgeübt, wenn sie dem Nächs- tische Strukturen sind wichtige nen, d. h. zu Christus und wie ER ten zum Nutzen wird. Es darf nie Maßgaben für den rechten Ge- zu den Menschen.) Christen üben darum gehen, die eigene Position brauch von Macht und Gegen- ihre Macht aus, um Menschen zu zu stärken, sondern Macht muss mittel gegen Machtmissbrauch. fördern, nicht, um sie in ein Sys- der Ermächtigung der anderen, Grundsätzlich muss es eine Kul- tem zu zwängen oder Institutionen besonders der Kleinen im Sinn tur des Hinschauens und der zu erhalten. Sie achten dabei die des Evangeliums, dienen. Achtsamkeit geben. Freiheit des Menschen und lassen Eine Gefahrenquelle des Macht- ihn entscheiden. 10. Macht und Gottesglaube missbrauchs liegt auch darin, Der Glaube an Gott bewahrt vor dass Personen zu lange „an der 7. Männer und Frauen Machtmissbrauch. Er verkün- Macht sind“. Ämter sollten öfter In den Schöpfungsberichten sind det: Über allen Mächtigen steht und regelmäßig gewechselt wer- die Gleichberechtigung und Ein- der „Allmächtige“! Vor dem ge- den. Wenn Menschen zu lange in heit von Frau und Mann grundge- rechten Gott wird jeder Macht- einem Amt sind, entstehen Seil- legt. Die Herrschaft von Männern gebrauch und jeder Machtmiss- schaften oder es wird nach dem über Frauen ist von Übel, weil sie brauch verantwortet werden müs- Prinzip „eine Hand wäscht die oft mit Gewaltausübung und Un- sen. Das sollten wir Christen nie andere“ gehandelt. terdrückung verbunden ist. Star- vergessen und es allen anderen ke Frauen sind Korrektive für die sagen. 4. Macht muss in ein Werte- Männer. Sie helfen, dass Männer Das schließt ein, dass jeder und Tugendsystem eingebaut ihre Potenziale gut gebrauchen. Machtmissbrauch auch in unse- sein rer Welt von Polizei und den ir- Es sind vor allem die vier Kar- 8. Nähe und Distanz dischen Gerichten geahndet wer- dinaltugenden zu beachten: Ge- Wenn Nähe und Distanz nicht den soll. rechtigkeit, Klugheit, Tapferkeit gelingt, ist Gefahr von Macht- und Maß; es muss die Goldene missbrauch in Verzug. Wenn ein Liebe Brüder, wir müssen uns mit Regel, „Was ihr von anderen er- Lehrer der Kumpel seiner Schü- dem Thema „Mann und Macht“ in- wartet, das tut ebenso auch ih- ler sein will, muss die Ampel auf tensiv befassen, damit wir den Men- nen“ (Lk 6,31; vgl. Mt 7,12) und rot gehen. Wenn ein Priester kei- schen dienen! „Mann und Macht – das Gebot der Nächstenliebe be- ne Freunde auf Augenhöhe hat was man(n) damit macht“ – das darf achtet werden. und die Ministranten und Jugend- nicht nur das Thema dieser Tagung lichen seine Freunde nennt, ist sein, sondern muss zum Dauerthema 5. Macht und Ehrlichkeit das problematisch. Ich bin aller- unserer Männerarbeit werden. Be- hängen engstens zusammen gisch gegen Ausdrücke „meine fassen Sie sich in Ihrer alltäglichen Missbrauch und Lüge bilden Jugend“, „meine Pfarrei“, „meine Arbeit mit den 10 Thesen; um Gottes oft ein Unheilspaar. Offenheit Diözese“. Sie sind nicht „unser“. und der Menschen willen – Amen. und Wahrhaftigkeit verhindern Machtmissbrauch.

6. Menschenorientiert nicht Vatikanklinik an adulter Stammzellforschung beteiligt institutionenfixiert Der Vatikan unterstützt mit Nachdruck ein neues internationales Projekt adul- Eine weitere Gefahrenquelle für ter Stammzellen-Forschung. Wie die US-katholische Nachrichtenagentur Ca- Machtmissbrauch ist die Fixie- tholic News Service (CNS) meldet, fließen jedoch keine finanziellen Mittel von rung auf Institutionen: meine Par- vatikanischer Seite an die Forscher. Für das Projekt, das von der medizinischen tei, meine Kirche, mein Staat, bis Fakultät der University of Maryland im US-amerikanischen Baltimore geleitet hin zu meine Familie. Christliche wird, wurde ein Konsortium von Wissenschaftlern aus verschiedenen italieni- Machtausübung ist immer men- schen Gesundheitseinrichtungen zusammengestellt, darunter auch Forscher von schenorientiert. (Bei Paulus kann der vatikanischen Bambino-Gesù-Klinik in Rom. (ZENIT) man die christliche „anthropo-

42 AUFTRAGAUFTRAG 278 • JJUNIUNI 20100 RELIGION UND GESELLSCHAFT

Militärpfarramt Bonn Probleme der Bioethik Betrachtungen auf der Grundlage der Sozialenzyklika Caritas in Veritate

ber dieses Thema referierte Prof. eines menschlichen Geschöpfes er- land in Altenheime ins benachbarte ÜDr. Manfred Spieker1 am Diens- klärt wird, die in dem zwischen der Deutschland. tag, den 9. März 2010 im geistlichen Empfängnis und Geburt liegenden Gegen Ende seines Vortrages ging Forum auf der Hardthöhe in Bonn. Be- Anfangsstadium seiner Existenz statt- Prof. Spieker auch auf die assistierte gonnen wurde der Vortragsabend mit findet. In kurzen Rückblicken über Reproduktion ein. Hier sei die Linie einer Eucharistiefeier, zu dem sich die Freigabe der Abtreibung durch der Kirche genauso gradlinig wie bei ca. 50 Personen versammelt hatten. die Reformen der entsprechenden Pa- den vorigen Themen, führte Spieker Um in das Thema einzuführen, stellte ragraphen des Strafgesetzbuches, den aus. Auch wenn es unbequem sei, in Prof. Spieker zuerst die in der Enzyk- Konflikt um den Beratungsschein und der heutigen Zeit so etwas zu sagen: lika angesprochene Ethik des Lebens die Pro Life Bewegung in den Verei- der eheliche Liebesakt in seiner leib- und Sozialethik an ausgewählten Stel- nigten Staaten, schloss Prof. Spieker seelischen Einheit bleibe der einzig len vor. Dass beide Themenbereiche seine Ausführungen über das Prob- legitime Ort, der der menschlichen eng miteinander verbunden sind, leh- lemfeld Abtreibung ab. Fortpflanzung würdig sei, beschrieb re schon die Sozialenzyklika „Huma- nae Vitae“ von Papst Paul VI, führte der Sozialwissenschaftler aus. Aber so wie die Caritas in Veritate (CiV) nur verkürzt und damit verzerrt als Globalisierungsenzyklika dargestellt werde, haben die Menschen Humanae vita nur als Enzyklika in Erinnerung, in der Paul VI. über Empfängnisver- hütung gesprochen hätte. In der Enzy- klika CiV Ziffer 74 und 75 greife Be- nedikt XVI. die Kultur des Todes auf und in dem der Papst von dem Versuch spreche, das Töten gesellschaftsfähig zu machen, ziele er nicht auf das Ver- brechen ab, sondern auf Abtreibung Blick in den Vortragssaal während der Begrüßung des Redners, der am und Euthanasie, den klassischen Pro- linken Bildrand zu sehen ist. blemfeldern der Bioethik. Damit leitete Prof. Spieker zu der Über die Einstellung der Kirche Spieker die Haltung der Kirche. Die Problematik der Abtreibung über. Er zur Fragestellung der Euthanasie Probleme der embryonalen Stammzel- führte aus, dass in der gesamten Kir- gebe es genügend historische Bei- lenforschung, der Präimplantations- chengeschichte die Abtreibung als spiele, gab der Vortragende mit dem diagnostik und des Klonens brach- Mord und abscheuliches Verbrechen Beispiel des Kardinals Graf Galen te der Redner kurz auf den Punkt: verworfen würde. Als Tatstrafe ziehe dem Publikum vor. Aber auch die Keine Therapie – und sei sie noch so sie automatisch die Exkommunizie- Problematik der Wachkoma Patienten phantastisch – könne es rechtferti- rung nach sich, ohne dass ein geson- sprach Prof. Spieker an. Eine Freiga- gen, einen unschuldigen Embryo zu dertes Urteil gefällt werden müsse, be der aktiven Sterbehilfe durch Me- töten. Unterlassungsgebote (z.B. das erklärte der Sozialwissenschaftler und diziner führe unweigerlich zu einem Tötungsverbot) hätten im Konfliktfall zitierte den Katechismus der Katholi- desaströsen Vertrauensverlust in das immer den Vorrang vor den Hilfsge- schen Kirche, in dem die Abtreibung Pflegepersonal, sagte der Referent boten. Dies bedeute, das Verbot, Un- als beabsichtigte und direkte Tötung und sprach als Beispiel die Credo- schuldige zu töten, hat immer Vorrang Card in den Niederlanden an. Mit vor dem Tugendgebot, den Kranken zu 1 Prof. Dr. Manfred Spieker ist Sozialwis- der „CREDO CARD“ – „Maak mij helfen. In einer anschließend teilwei- senschaftler und Professor für Christ- liche Sozialwissenschaften an der Uni- niet dood, Doktor“ – wenden sich in se emotional geprägten Diskussion, versität Osnabrück. Von 1995 bis 2001 Holland zunehmend Patienten gegen stand Prof. Spieker den Fragenden war er darüber hinaus Beobachter des lebensverkürzende Maßnahmen, die noch Rede und Antwort, wobei er sei- Heiligen Stuhls im Lenkungsausschuss gegen ihren Willen angeordnet wer- ne Standpunkte mit anderen Beispie- für Sozialpolitik des Europarates sowie bei Konferenzen der Sozialminister des den. Aus Angst vor dem ungewollten len immer wieder veranschaulichte. Europarates Tod gehen ältere Menschen in Hol- (Text und Bild: Reinhold Gradl)

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 43 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Zeitgeschichte − 50 Jahre Bundeswehr Dr. Helmut Kohl, der sechste Bundeskanzler und die Bundeswehr – Vater der militärischen Multinationalität – Teil I 1

VON DIETER KILIAN

n keiner Amtszeit eines Bundes- Deutschlands – reichten sich auf dem daten waren zweiunddreißig … jün- kanzlers gab es für die Bundes- Soldatenfriedhof in Bitburg die ehe- ger als fünfundzwanzig Jahre. … Es Iwehr zahlreichere herausragende maligen Kriegsgegner und Generale ist wahr, dass die Verstrickungen un- und militärgeschichtlich einmalige Ereignisse als in jener von Helmut Kohl. Dazu zählen die ersten Ausland- seinsätze, die Übernahme der NVA, die Aufstellung erster multinationa- ler Verbände und die runden Jubiläen 1985 und 1995. Aber auch von Unglü- cken blieb die Armee nicht verschont. Eines der schwersten ereignete sich am 3. Oktober 1983 auf der Schieß- bahn 8 des Truppenübungsplatzes Münsingen. Bei einem Übungsschie- ßen der in Neuburg stationierten Hei- matschutzbrigade 56 unter Oberst Eberhard Fuhr (* 1935; später Bri- gadegeneral) wurden bei der Detona- tion zweier 120 mm Mörsergranaten in unmittelbarer Nähe der Zuschau- ertribüne zwei Offiziere getötet und 24 zum Teil schwer verletzt.2 Kanzler Kohl sprach den Hinterbliebenen und den Angehörigen der Verletzten seine Bild 2: Bundeskanzler Helmut Kohl unter Soldaten des PzGrenBtl 12 Anteilnahme aus. beim Mittagessen am 13. November 1985 auf dem TrÜbPlatz Bergen- In der ersten Hälfte 1985 kam es Hohne nach einem Vorbeimarsch zum 30. Jahrestag der Gründung der wegen einer Gedenkfeier zu heftigen Bundeswehr. Diskussionen, die bis in die USA hin- überschwappten. Am 5. Mai 1985 – a.D. Johannes Steinhoff (1913-1994) serer …Geschichte schon für die, die dem 40. Jahrestag der Kapitulation und Ex-US-General Mathew B. Ridg- dabei waren, schwer begreiflich sind. way (1895-1993) in Anwesenheit von …Ich denke, uns steht ein Urteil … 1 Teil 1 des Beitrag in: AUFTRAG Nr. Kanzler Kohl und US-Präsident Re- oder gar eine Verurteilung nicht zu.“ 3 277/März 2010, S. 43-53. 2 Oberst Wolfgang Pohl (* 1932; agan die Hand als Zeichen der Ver- Diese versöhnliche, zutiefst christli- Korpsnachschubkommandeur 2) und söhnung. Die 5-minütige Zeremonie che Haltung steht aber in eklatantem Oberstleutnant Siegfried Niklaus (* wurde zum Stein des Anstoßes, weil Gegensatz zum heutigen Trend der 1938) vom Stab des II. Korps in Ulm. auf dem Friedhof auch einige An- Pauschalverdammung. Ausgerech- Der CSU-Bundestagsabgeordnete Dr. Fritz Wittmann (* 1933) verlor ein Bein. gehörige der Waffen-SS beigesetzt net Günter Grass (* 1927), der sei- Bei dem Gerichtsverfahren in Tübingen sind. Kohl und Präsident Reagan blie- nen freiwilligen Dienst in der SS jah- 1984 wurde der Kompaniechef freige- ben trotz massiver Proteste in den relang verschwiegen hatte, war einer sprochen. Der mitangeklagte Sicher- heitsoffi zier, ein Oberfeldwebel, erhielt USA und in Deutschland standhaft. der schärfsten Kritiker. eine Freiheitsstrafe auf Bewährung und Kohl schreibt: „Ich ließ …die Na- eine Geldstrafe. men … notieren. Von den … SS-Sol- 3 Kohl, Helmut Erinnerungen 1982-1990.

44 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Am 13. November 1985 beging doch negative Bilder von freudigen lom-Pädagogen, zum Parlamentari- die Bundeswehr ihren 30. Geburtstag Zechern im Fernsehen. Doch gleich schen Staatssekretär4 auf der Hardt- mit einem Feldbiwak auf dem Trup- nach dem Eintreffen der Gäste fragte höhe wollte Kohl, wie er es Generalin- penübungsplatz Bergen-Hohne. Mit Wirtschaftsminister Dr. Martin Bange- spekteur Altenburg gegenüber einmal Bundeskanzler Kohl und dem nie- mann (* 1934): „Gibt es hier denn kei- ausdrückte, „der Bundeswehr bewei- dersächsischen Ministerpräsidenten nen Schnaps?“ Kohl: „Noch nichts ge- sen, wie sehr er zu ihr steht, in dem Ernst Albrecht (* 1930) kam fast das schafft und schon saufen? Herr Oberst- er einen der ihren zum Staatssekretär ganze Bundeskabinett in die Heide. , was haben Sie anzubieten?“ beruft.“ Was Kohl nicht wissen konn- Unter den militärischen Besuchern Vorausblickende Kommandeure wie te: Altenburg und Würzbach kannten waren u.a. Generalinspekteur Wolf- Schick waren – Divisionsbefehl hin sich aus gemeinsamer Zeit im Divisi- gang Altenburg, Heeresinspekteur oder her – darauf vorbereitet. Und onsstab in Neumünster, wo sich bei- Henning von Sandrart (* 1933; spä- so erschien ein Soldat mit Gläsern de – Altenburg als G 1-Stabsoffizier ter General) und Divisionskomman- und einer Flasche Schnaps. Als auf Würzbachs Vorgesetzter – in gegensei- deur (* 1936; später der Feld-Damentoilette ein goldenes tiger Abneigung verbunden wussten. General), sowie Brigadegeneral Peter Armband gefunden wurde, wandte Zwar waren zwei Jahrzehnte ins Land Rückbrodt (1938-2003) und Oberst sich der Soldat am Lautsprecher an gegangen, aber die gegenseitige Dis- Istvan Csoboth (* 1936), die Kom- mandeure der Brigaden 2 und 1. Den Auftakt bildete ein „Schießen verbun- dener Waffen“ auf der Schießbahn 9, das Oberstleutnant Harald Gossing (* 1943; später Oberst), der Kom- mandeur des Panzerbataillons 23 aus Braunschweig, leitete. Dann folgten ein Vorbeimarsch und ein Überflug, an dem 220 Panzer, über 300 Radfahr- zeuge und 104 Luftfahrzeuge teilnah- men. Als sich der Lärm der Motoren gelegt hatte, mischte sich der Kanz- ler unter die Soldaten des Panzergre- nadierbataillons 12 aus Osterode im Harz (Bild 2) . Major Trust, der Chef der Stabs- und Versorgungskompa- nie, und sein Koch wurden wegen der Erbsensuppe gelobt. Dem Bataillons- kommandeur, Oberstleut nant Walter Conze (* 1940; später Oberst), verriet der Kanzler einen bislang „noch un- bekannten“ Grundsatz der Menschen- führung: „Die Männer müssen das Ge- fühl haben, dass sich ihre Vorgesetz- ten um sie kümmern!“ Danach fand Bild 3: Feldbiwak des PzBtl 14 auf dem TrÜbPlatz Bergen-Hohne (v.l.: ein Feldappell von 3.500 Soldaten Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, Bundeskanzler Helmut aus sieben NATO-Armeen statt. Kohl Kohl, BtlKdr Oberstleutnant Hans-Joachim Schick. sagte: „Wir wollen diesen Geburtstag nicht feiern, ohne denen ein ehrendes den „Herrn Bundeskanzler und die tanz war geblieben. Nunmehr rangier- Gedenken zu widmen, die in Ausübung verehrten Gäste“. Kohl versicherte la- te Würzbach nicht nur protokollarisch ihres Dienstes ihr Leben gaben: 2.000 chend, dass er kein solches Schmuck- vor dem Generalinspekteur. Soldaten waren es in 30 Jahren, die stück trage. Mit einem Empfang und Dankur- im Friedensdienst für unser Vaterland 1985 wurde das erste Weißbuch kunden für ihre humanitäre Hilfe im den Tod fanden.“ „Zur Lage und Entwicklung der Bun- Sudan und Äthiopien ehrte der Kanz- Fröstelnd im eisigen Wind ver- deswehr“ während Kohls Regierungs- ler am 15. November 1985 die Trans- nahmen die Soldaten und die 700 zeit herausgegeben; das zweite folgte portflieger der Luftwaffe unter Gene- Gäste diese Zahl. Dann folgte das 1994. In beiden Vorworten betonte der ralmajor Hubert Marquitan (* 1937). Gästebiwak, organisiert vom Hil- Kanzler die Bedeutung der Bundes- 4 Würzbach, Oberstleutnant der Reserve, desheimer Panzerbataillon 14 unter wehr für die Wahrung des Friedens. war 1957 in die Bundeswehr eingetreten Oberstleutnant Hans-Joachim Schick Mit der Ernennung von Peter und wurde Berufssoldat. Nach seinem (* 1939) (Bild 3) . Die Division hat- Kurt Würzbach (* 1937; Spitzname Ausscheiden studierte er Pädagogik, So- ziologie und Psychologie und engagierte te befohlen, keinen Alkohol anzu- „PKW“), eines vormaligen Infante- sich in der CDU. Von 1982 bis 1988 war bieten, fürchteten die Vorgesetzten rie- und späteren Dip- er Staatssekretär im BMVg.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 45 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Mitte März 1986 flog der Kanz- Kohl – in hautenger Panzer-Kombi sagte Kohl, wie gut sich die deutsch- ler mit Verteidigungsminister Man- mit Haube und Kopfhörern – schoss chinesischen Beziehungen entwickelt fred Wörner und Heeresinspekteur mit dem „Leo“ von Feldwebel Hel- hätten. von Sandrart zum NATO-Truppen- mut Gumprecht, dem Zugführer des übungsplatz Grafenwöhr in der Ober- III. Zuges der 3. Kompanie des Pan- m Jahre 1987 fielen die Entschei- pfalz, wo er vom US-Verteidigungs- zerbataillons 24. Wie nicht anders Idungen für die Verstärkung der mi- minister Caspar Weinberger (1917- zu erwarten, trafen beide das Ziel. litärischen Zusammenarbeit zwischen 2006) empfangen wurde. Er nahm Den Abschluss bildete ein Gefechts- Frankreich und Deutschland. Im Juni an einer Waffenschau teil, in der u.a. der amerikanische M 1-Panzer und das Schlachtflugzeug A-10 vorgestellt wurden. Hauptgrund der Kurzreise aber war ein Gespräch über die deut- sche Haltung zur umstrittenen „Stra- tegic Defense Initiative“ (SDI). Im April 1986 wurde ein Gesetz zur Verbesserung der Wehrgerechtig- keit verabschiedet. Wegen der gebur- tenschwachen Jahrgänge sollte die Wehrpflicht vom Juli 1989 an von 15 auf 18 Monate erhöht werden; die Umsetzung unterblieb aber wegen der sicherheitspolitischen Umwälzungen in Europa. Am 3. Juli 1986 stattete der Kanz- ler – begleitet von Minister Wörner und Luftwaffeninspekteur Eberhard Eimler – der Luftwaffe einen Besuch Bild 4: Am Rande der Deutsch-Französischen Heeresübung „Kecker Spatz“ ab. Zunächst ließ sich Kohl beim sprechen Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Staatspräsident Jagdbombergeschwader 34 „Allgäu“ Francois Mitterrand mit Bundeswehrsoldaten. in Memmingen unter Oberst Jürgen Stehli als Kommodore in das Waffen- schießen auf der Schießbahn 9 mit 1987 stellte Kanzler Kohl erstmals das system „Phantom“ einweisen. Dann dem Panzerbataillon 24 aus Braun- Konzept eines gemeinsamen deutsch- stellte ihm die 3. Staffel der Flugab- schweig unter Oberstleutnant Rüdi- französischen Großverbandes vor und wehrraketengruppe 34 aus dem ober- ger Graeger (* 1947; später Oberst) griff damit eine Adenauersche Idee bayerischen Scheyern unter Batterie- und seiner 3. Kompanie unter der Lei- auf. Während der 50. deutsch-franzö- chef Major Reiter und Oberstleutnant tung von Hauptmann Spier. Auf briti- sischen Konsultationen im November Bernhard Hecker, dem Kommodore scher Seite nahmen die C-Squadron 1987 in Karlsruhe stimmte der fran- der FlaRak-Gruppe, in Meßstetten auf der Royal Hussars unter der Leitung zösische Staatspräsident dem Projekt der Schwäbischen Alb die Leistungs- ihres Squadron Leaders, Major W. R. zu. Anlässlich der Feierlichkeiten fähigkeit der Flugabwehr vor. MacDonald, sowie die No. 652 Squa- zum 25. Jahrestag des Elysée-Ver- Am 17. September 1986 trafen dron des Army Air Corps daran teil, trages wurden am 22. Januar 1988 sich Kohl und die britische Premi- letztere mit „Gazelle“- und „Lynx“- zwei Protokolle zu diesem Vertrag erministerin Margret Thatcher (* Hubschraubern. Generalmajor Helge unterzeichnet, von denen eines den 1925) bei der 7. Armoured Brigade Hansen, der Kommandeur der 1. Pan- deutsch-französischen Verteidigungs- unter Brigadier Christopher Wallace zerdivision, und Brigadegeneral Peter und Sicherheitsrat ins Leben rief6 Nur (* 1943; später ) im Rückbrodt, der Kommandeur der Pan- ein Jahr später wurde sie in Form der niedersächsischen Fallingbostel. Da- zerbrigade 2, begleiteten die Gäste. Deutsch-Französischen Brigade in nach wohnten die beiden Regierungs- Eine zehntägige Reise des Bun- Böblingen (heute Mülhausen) umge- chefs auf dem Militärflugplatz Faß- deskanzlers nach China und Nepal setzt. Während der 59. deutsch-fran- berg einer Flugvorführung bei und im Juli 1987 begann am 12. Juli mit zösischen Konsultationen in La Ro- flogen dann zu einem „Wettschießen“ einem Besuch auf dem Schulschiff chelle am 22. Mai 1992 fiel der end- auf dem Truppenübungsplatz Bergen- „Deutschland“ 5 unter Kapitän zur See gültige Beschluss zur Aufstellung des Hohne: Jeder feuerte einen Schuss mit Franz-Hermann Köhler in Shanghai. Eurokorps in Straßburg. Nachdem in dem „nationalen Aushängeschild“: Die „Deutschland“ lag dort als erstes den fünfziger Jahren die Pläne einer Frau Thatcher – in der Luke eines Schiff der Bundesmarine seit 1949 vor europäischen Verteidigungsgemein- Challenger-Panzers – ähnelte, wie Anker. Ihr Besuch in Shanghai zeige, schaft (EVG) gescheitert waren, wur- der „Daily Telegraph“ schrieb, mit de ein halbes Jahrhundert später der 5 Im Mai 1963 in und am 28.06.1990 Kostüm, Kopftuch und Motorradbril- außer Dienst gestellt, wurde das Schiff 6 Der Bundestag stimmte den Protokollen le „Lawrence of Arabia“. Kanzler 1994 im indischen Alang verschrottet. mit Gesetz vom 20. Dezember 1988 zu.

46 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Kern einer europäischen Verteidigung von Stauffenberg lud Kanzler Kohl und sprach zu den frisch beförderten geschaffen. Der neue Großverband, am 12. November 1987 zu einer Ge- Leutnanten. dem sich zwischenzeitlich Belgien, denkveranstaltung ins Palais Schaum- Am 10. September 1988 besuchte Spanien und Luxemburg angeschlos- burg, seinen Bonner Amtssitz, ein, an Kohl in Begleitung von Generalleut- sen haben, wurde zum Symbol dauer- der u.a. auch Generalmajor a.D. Bert- nant von Ondarza die Heeresübung, hafter Aussöhnung und Markenzei- hold Schenk Graf von Stauffenberg die unter dem Namen „Landesvertei- chen militärischer Zusammenarbeit, (* 1934), einer der Söhne des Wider- digung 88“ – erstmals vom Territorial- die auch für andere Regionen bei- standskämpfers, teilnahm. kommandos Süd unter Generalmajor spielhaft sein könnten: „Ich rechnete das Eurokorps zu den Entscheidungen, die sich weit ins nächste Jahrhundert hinein auswirken würden.“ 7 Vom 21. bis zum 24. September 1987 wurde in Süddeutschland die Heeresübung „Kecker Spatz - Moi- neau Hardi“ vom II. Korps unter Ge- neralleutnant Werner Lange (* 1929) durchgeführt. Das Besondere dieser Übung war, dass es sich nicht um eine NATO-Übung, sondern um ein rein deutsch-französisches Manöver han- delte. Die Übungstruppe Blau bestand aus der 1. Gebirgsdivision und der schnellen französischen Eingreiftrup- pe „Force d´Action Rapide“ (FAR)8. Übungstruppe ROT waren die 4. Pan- zergrenadierdivision und die Heimat- schutzbrigade 56. Der Leitungs- und Schiedsrichterdienst wurde von der 10. Panzerdivision und der 1. Luft- landedivision gestellt. Insgesamt wa- ren rund 75.000 Soldaten (55.000 Deutsche und 20.000 Franzosen) mit 17.000 Radfahrzeugen, 2.200 Ketten- fahrzeuge sowie 480 Hubschrauber im Einsatz. Erstmals übte die FAR Bild 5: Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte) besucht am 10.09.1988 die mit der 4. (FR) Luftbeweglichen Di- Heeresübung „Landesverteidigung ´88“ im rheinhessischen Hamm (2.v.r. vision, der 9.(FR) Panzerdivision und Heeresinspekteur GenLt Henning von Ondarza, r. BefH WBK IV, Mainz, der 9. (FR) Marine-Infanteriedivision Generalmajor Roland Oppermann). gemeinsam mit deutschen Verbän- den. Am 24. September führten das Auf der 25. Wehrkunde-Tagung Gerhard Brugmann (* 1930) angelegt Panzerbataillon 244 aus Murnau un- in München sprach der Kanzler am – in Rheinland-Pfalz zwischen Mainz, ter Oberstleutnant Josef Kowalski (* 6. Februar 1988 zum Thema „Grund- Idar-Oberstein und Worms vom 2. 1946; später Oberst) und die FAR dem sätze und Kernprobleme der Sicher- bis 14. September 1988 durchgeführt französischen Staatspräsidenten und heit in Europa“. In Anwesenheit des wurde. Einen ganzen Tag fuhr der In- dem deutschen Bundeskanzler Ge- Kanzlers wurde der scheidende Ver- spekteur im Wagen des Kanzlers mit. fechtsausschnitte vor.9 (Bild 4) Das teidigungsminister Manfred Wörner 60.000 Soldaten, mit Masse Reser- Panzerbataillon 284 aus Dornstadt am Abend des 18. Mai 1988 auf der visten, waren an der Übung beteiligt, unter Oberstleutnant Siegfried Weber Bonner Hardthöhe mit einem Großen darunter das Wehrbereichskommando (* 1941; später Oberst) war für den Zapfenstreich geehrt, an dem auch (WBK) IV in Mainz mit Generalmajor Gäste- und Pressestab verantwortlich Amtsnachfolger Prof. Scholz teilnahm. Roland Oppermann (* 1933), dem Be- und stellte die Ehrenkompanie beim fehlshaber und das WBK V in Stutt- Empfang der Staatsgäste. m 1. Juli 1988 besuchte Kohl – gart unter Generalmajor Frank Schild Aus Anlass des 80. Geburtstages Abegleitet von Ministerpräsident (* 1931) (Bild 5) Anders als bei den von Oberst i.G. Claus Schenk Graf Ernst Albrecht, Verteidigungsminister bisherigen Heeresübungen gab es we- Prof. Dr. iur. und Hee- gen des breiten Aufgabenspektrums 7 Kohl, Helmut Erinnerungen 1990-1994, resinspekteur Henning von Ondarza – des Territorialheeres keinen inein- S. 40. 8 1984 gegründet und 1999 aufgelöst. die Offizierschule des Heeres in Han- andergreifenden Übungsablauf, son- 9 s.a.: Kohl, Helmut: Erinnerungen 1982- nover unter Brigadegeneral Ernst Lis- dern nur einzelne Übungsausschnit- 1990, S. 594 f. sinna (* 1934; später Generalmajor) te. So wurde z.B. unter den Augen des

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 47 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Bundeskanzlers der Flussübergang dere auch im Verhältnis von Ost und elementarer Baustein des Vertrauens im rheinhessischen Hamm nördlich West, tun sich auf.“ zwischen den Völkern. von Mannheim vom Pionierkomman- do 850 geleitet und dem Schwimmbrü- in weiterer Schritt auf diesem wurden die Weichen für ckenbataillon 850, den „Auerbacher EWege zur Aussöhnung zwischen 1990den künftigen Umfang Pionieren“ aus Darmstadt-Eberstadt ehemaligen Feinden war der erste der Streitkräfte gestellt. Wichtige Fra- durchgeführt. In einer Gefechtsübung Besuch eines amtierenden General- gen der sicherheitspolitischen Aus- wurde im Raum Kaiserslautern – Al- inspekteurs in Moskau, der im Mai richtung Deutschlands, so u.a. die zey mit der Heimatschutzbrigade 54 1989 durch Admiral Dieter Wel- Stärke der Bundeswehr, waren noch aus Trier unter Oberst August Be- lershoff erfolgte. Nur elf Monate spä- nicht entschieden. Der militärische nischke (* 1938; später Brigadege- ter – im November 1989 – bewahr- Sachverstand war bei der Vorberei- neral) als Übungstruppe der Angriff heiten sich Kohls Worte. Durch seine tung der „Zwei-plus-Vier-Gespräche“ einer Heimatschutzbrigade gegen von Vertrauen geprägten Gespräche eingeflossen: So hatte Generalmajor durchgebrochenen Feind im Rück- mit Michail Gorbatschow trug Kohl (* 1939), der Stabs- wärtigen Korpsgebiet dargestellt. – so am 12. Juni 1989 – sowohl zu abteilungsleiter III im Führungsstab Am 13. Dezember 1988 sprach einer engeren Zusammenarbeit der der Streitkräfte (Fü S III), am 2. Ap- der Kanzler im Congress Centrum Kriegsgräberbetreuung beider Staa- ril 1990 an einer Besprechung beim in Würzburg zu den Kommandeuren ten10 als auch zur späteren Rehabili- Kanzler – zusammen mit Außenmi- der Bundeswehr auf ihrer 30. Ta- tation ehemaliger deutscher Kriegs- nister Hans-Dietrich Genscher, Ver- gung unter der Leitung von General- gefangener bei, die unter Stalin pau- teidigungsminister Gerhard Stolten- inspekteur ; nach schal verurteilt worden waren. Eine berg, Kanzleramtsminister Rudolf 1984 war es sein zweiter Besuch. Das der Gesten der Vertrauensbildung Seiters, Außen-Staatssekretär Dieter Motto „Herausforderung und Wan- war auch der gemeinsame Besuch von Kastrup und Ministerialdirektor Horst del“ war beinahe eine Vorhersage. Kohl und Gorbatschow auf dem rus- Teltschik – teilgenommen.11 Auch bei Der Kanzler verstand seine Teilnah- sischen Soldatenfriedhof in Stuken- den Gesprächen Kohls mit Generalse- me als Ausdruck des Dankes an die brock bei Paderborn im Juni 1989, kretär Gorbatschow am 13. Juni 1989 Armee, deren Dienst „nicht immer wo etwa 65.000 Russen ihre letzte in Bonn und mit dem US-Präsidenten und überall die Würdigung erfährt, Ruhe fanden. Das Ende des Kalten in Washington am 17. Mai 1990 war die ihm nach meiner festen Überzeu- Krieges war eingeläutet, und zugleich Naumann anwesend.12 Ein weiteres gung gebührt. … Ohne das Bündnis, brachte das letzte Jahrzehnt des 20. Abstimmungsgespräch folgte am 5. ohne den Dienst der Bundeswehr im Jahrhunderts für die Bundeswehr eine Juni 1990 zwischen Teltschik und Bündnis, sähe heute, 1988, die politi- Fülle neuer Herausforderungen. Ne- Naumann, in dem die Kriterien der sche Landschaft in Europa anders aus ben der Auflösung der NVA und den Obergrenzen der Bundeswehr (zwi- – ….“ Der Kanzler kritisierte, dass Auslandseinsätzen war es die neue schen 380.000 und 420.000 Mann) die sicherheitspolitische Diskussion Struktur der Multinationalität. Sie diskutiert wurden; die Wehrpflicht „durch ein sinkendes Bedrohungsbe- hatte mit der Aufstellung der deutsch- sollte auf 12 Monate abgesenkt wer- wusstsein gekennzeichnet“ sei: „Die französischen Brigade zunächst zag- den.13 Am 3. Juli schließlich fand ein Bundeswehr stellt in unserer … Si- haft, aber richtungweisend noch vor Ministergespräch beim Kanzler statt, cherheitsvorsorge den entscheidenden dem Zusammenbruch des Ostblocks an dem – neben Genscher, Stolten- Faktor dar. … Die Bundeswehr hat begonnen und wurde dann beschleu- berg, Seiters, Kastrup und Teltschik daher auch ein Recht auf angemes- nigt: 1992 das „Allied Rapid and Re- – wiederum auch Generalmajor Nau- sene Selbstdarstellung in der Öffent- action Corps“ (ARRC), 1993 das ame- mann teilnahm.14 Dennoch war die lichkeit.“ Kohl bekräftigte den Willen rikanisch-deutsche und das deutsch- deutsche Linie nicht klar: Kohl woll- zur Zusammenarbeit mit Osteuropa amerikanische Korps, 1995 folgten te 400.000 Soldaten, Genscher hin- und zur Stärkung des „europäischen das deutsch-niederländische Korps gegen glaubte, es seien höchstens Pfeilers“ der Sicherheitspolitik, je- und das Eurokorps. Erst nach Kohls 350.000 Mann durchsetzbar, eine un- doch ohne die NATO durch autonome Amtszeit wurde das Korps Nordwest einige Verhandlungsposition.15 Die europäische Sicherheitsstrukturen (deutsch-dänisch-polnisch) 1999 in Verhandlungen am 15. Juli 1990 in zu ersetzen. In diesem Zusammen- Dienst gestellt. Die immer stärker ver- Moskau brachten zunächst kein Er- hang wies er auf die Bedeutung der zahnte Struktur im Bündnis ist – was gebnis – im Gegenteil. Gorbatschow deutsch-französischen Zusammen- bisweilen übersehen wird – auch ein arbeit als Motor hin. Die Vorberei- 11 Teltschik, Horst: 329 Tage, S. 190 tungen zur Aufstellung der deutsch- 10 So stellte Moskau Unterlagen über einen 12 Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes französischen Brigade in Böblingen Teil der ca. 300.000 in der Sowjetunion gestorbenen deutschen Kriegsgefange- 1989/90, S. 299 bzw. S. 1126. waren angelaufen. „Wir wollen lang- nen zur Verfügung und das Rote Kreuz 13 Teltschik, Horst: a.a.O., S. 258. fristig die Trennung in Europa und im Gegenzug die Listen von 330.000 so- 14 Teltschik, Horst: a.a.O., S. 294 f. ihre … Folgen für die Menschen über- wjetischen Bürgern, die in Deutschland 15 Darstellung dieses innerministeriellen winden. …Wir leben in einer Zeit des gestorben und begraben sind. Überdies Streits zwischen AA und BMVg in: wurden weitere Soldatenfriedhöfe durch „Deutsche Einheit“ Sonderedition aus Umbruchs … Neue Möglichkeiten in die sowjetische Regierung für Besuche den Akten des Bundeskanzleramtes der internationalen Politik, insbeson- freigegeben. 1989/90, S. 110 ff.

48 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE behauptete, beide Außenminister hät- len. Eine breite internationale Al- seinsatzes zustehen. Zwar hat sich ten sich bereits auf unter 300.000 Sol- lianz formte sich, um dessen Pläne das Bundesverfassungsgericht dazu daten geeinigt. Kohl: „Wieder musste notfalls auch militärisch zu durch- grundsätzlich geäußert, doch bis heu- ich zur Kenntnis nehmen, dass Gen- kreuzen. Deutschland leistete logis- te währt die Diskussion um die Aus- scher selbstherrlich mit Zahlen operiert tische Unterstützung und verlegte im gestaltung.21 Problematisch wird es hatte, die nicht akzeptabel waren.“ 16 Januar 1991 16 Alpha-Jets in die Tür- vor allem, wenn das Parlament auch Die Wende kam am 16. Juli in kei. Doch mehr sollte es nicht sein. bei operativen Fragen mitbestimmen der Heimat Gorbatschows, dem Dorf Zwar hatte Kanzler Kohl im Vorfeld möchte. Die im Frieden beim Vertei- Archys im Kaukasus. Dort stimmte er des 2. Golfkrieges u.a. auch den Rat digungsminister verankerte Befehls- der von Kohl vorgeschlagenen Ober- des Inspekteurs des Heeres von Ond- und Kommandogewalt wird immer grenze der Bundeswehr von 370.000 arza eingeholt, der für eine Beteili- mehr zu einer leeren Hülle. Soldaten zu. Die Armee des geeinten gung der Bundeswehr votierte. „Das 1991 war Kohl – nach 1984 und Deutschlands musste danach von weit Heer könne in wenigen Wochen eine 1988 – zum dritten Mal als Kanz- über 600.000 Mann (Bundeswehr: ca. Brigade aus Freiwilligen stellen“. 18 ler bei einer Kommandeurtagung der 495.000 Mann und NVA: 180.000 Eine Nichtteilnahme hingegen hät- Bundeswehr zu Gast. Auf der 32. Ta- Mann) um fast die Hälfte schrumpfen. te keine große politische Wirkung, gung unter Generalinspekteur Dieter Bei den Wiener Verhandlungen über kostete aber viel Geld. Tatsächlich Wellershoff sprach er Anfang März die Abrüstung konventioneller Streit- kompensierte die Bundesregierung im Bonner „Maritim“-Hotel erstmals kräfte in Europa (VKSE) verpflichte- ihre Nicht-Teilnahme nicht nur mit nach der Wiedervereinigung zur mili- ten sich die Deutschen zudem, auch 17 Milliarden DM19, sondern leistete tärischen Spitze der Streitkräfte. Kohl beim schweren Wehrmaterial Höchst- hinter den Kulissen auch massive mi- sagte, es gäbe in der deutschen Ge- grenzen einzuhalten. litärische Unterstützung.20 Die Alliier- sellschaft eine „Tendenz zum Jam- Mit der vollzogenen Wiederver- ten hingegen betrachteten dies – wie mern“, und als „Spiegelbild“ dieser einigung am 3. Oktober 1990 wur- von Ondarza vorhergesagt – nicht als Gesellschaft erscheine ihm auch die den die NATO-Dokumente „General echte Hilfe. Die deutsche Abstinenz Bundeswehr bisweilen etwas „larmo- Defence Plan“ (GDP) und die Alar- wurde vor allem von Außenminister yant“. Ob er denn aus seiner Sicht mierungs- und Aufmarschpläne au- Genscher stets mit dem Hinweis auf ein „Psychogramm der Bundeswehr“ ßer Kraft gesetzt. Offiziere der Bun- das Grundgesetz abgelehnt. Dabei war zeichnen könne, bat Flottillenadmiral deswehr übernahmen das Kommando die Diskussion schon seit langem in Ulrich Hundt (* 1937), der Chef des über alle Verbände der NVA. Die Fra- Gange. Bereits am 23. Oktober 1987 Zentrums Innere Führung, den Kanz- ge, ob ein wiedervereintes Deutsch- hatte Horst Teltschik, der außenpoli- ler; dieser antwortete, er werde „doch land Mitglied der NATO bleiben solle, tische Berater des Kanzlers, in einem niemanden auf die Couch zwingen, der wurde zunächst kontrovers diskutiert. Interview in der „Wirtschaftswoche“ da nicht hin will“. Als Generalinspek- Ein Vorschlag war, dass die Bundes- geäußert: „Es gibt längst eine Diskus- teur Wellershoff die Veranstaltung mit wehr im Westen der NATO unterstellt sion unter den Experten, nach der die dem Appell: „Stehen Sie auf von der bleiben solle, die im Osten nicht. Mi- Interpretation des Grundgesetzes viel Couch!“ beendete, rief Kohl: „Stehen nister Stoltenberg – beraten durch mehr Möglichkeiten zulässt, als im Sie nicht auf von der Couch, sondern Admiral Wellershoff (GenInsp), Ge- Augenblick dargestellt wird. Aber es legen Sie sich gar nicht erst hin.“ neralleutnant Schönbohm (Bfh BwK- ist sicherlich bequemer, sich an eine Ende Juli 1991 kehrten die sterb- do Ost) und Generalmajor Naumann Auslegung zu halten.“ lichen Überreste des Königs Friedrich (STAL FüS III/Militärpolitik) – setz- Teltschik schwebte ein Verbund des Großen nach jahrzehntelangem te sich, unterstützt durch das Votum mit NATO, UNO, EG und WEU vor. Exil in Marburg und auf der Burg Ho- des Kanzlers, durch. Für Kohl stand Und tatsächlich erfolgten die ersten henzollern in die Gruft des Ehrenhofes der Abbau der „Invasionsfähigkeit“17 beiden Einsätze die Bundeswehr im von Sanssouci zurück. Helmut Kohl der Sowjetunion – der Begriff war Mit- Rahmen von UN-Missionen: 1992 nahm als Privatmann und Freund der te der 80er Jahre geprägt worden im Kambodscha und 1993 Somalia. In Familie Hohenzollern an der mitter- Zentrum; sie wäre „das A und O der dieser Zeit entstand der innenpoli- nächtlichen Beisetzung teil. Verhandlungen“. tische Streit darüber, welche Befug- Die erste außenpolitische Bewäh- nisse dem Parlament bei der Planung 21 Das BVerfG billigte am 23.06.1993 den rungsprobe für das gerade am Anfang und Durchführung eines Ausland- Bundeswehreinsatz in Somalia unter der Bedingung, dass der Bundestag diesen seiner Wiedervereinigung stehende 18 Brief vom August 2009 an den Verfas- mit einfa-cher Mehrheit beschließt. Am Deutschland kam bereits im Sommer ser. 28.07.1993 verabschiedete der Bundes- 1990: Der irakische Diktator Sad- 19 s.a. Ruhfus, Jürgen: aufwärts, S. 403 f. tag das Auslandsverwendungsgesetz, dam Hussein (1937-2006) hatte das 20 So stellt die Bundeswehr z.B. Material das rückwirkend zum 01.07.1993 in und Transportleistungen im Wert von Kraft trat. Im Juli 1994 bestätigte das kleine Nachbarland Kuwait überfal- drei Milliarden Mark zur Verfügung BVerfG die Zustimmungspfl icht des und gewährte Überfl ugrechte und die Bundestages zu Auslandseinsätzen. 16 Kohl, Helmut: Erinnerungen 1990- Nutzung von Militärbasen. Deutschland Die gesetzliche Grundlage wurde erst 1994, S. 170. wurde zur wichtigsten logistischen am 18.03.2005 verabschiedet („Gesetz 17 Deutsche Einheit Dokumente, Sondere- Drehscheibe der Alliierten. Die Luft- über die parlamentarische Beteiligung dition aus den Akten des Bundeskanz- waffe fl og mehr als 8.000 „Transall“- bei der Entschei-dung über den Einsatz leramtes 1989/90, S. 289. Flugstunden. bewaffneter Streitkräfte im Ausland“).

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 49 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Im Dezember 1991 besuchte Han- eine angemessene militärische Vor- einem „Puma“-Hubschrauber des nelore Kohl Kinder von Soldaten der sorge „weder überflüssig noch zweit- Bundesgrenzschutzes auf die Insel Roten Armee in Perleberg anläss- rangig“. Deutschland könne sich auf Borkum weiter. lich einer deutsch-russischen Weih- Dauer nicht der Pflicht entziehen, an Im Oktober 1992 machte Kohl ei- nachtsfeier. Operationen zur Wahrung und Wie- nen Zwischenstopp beim Marineflie- Kanzler Kohl empfing am 27. Ja- derherstellung des Weltfriedens und gergeschwader (MFG 1) in Jagel un- nuar 1992 die Chefs der Generalstä- der internationalen Sicherheit teil- ter Kapitän z.S. Wolfgang Kalähne (* be der WEU-Mitgliedstaaten in Bonn. zunehmen. Bei seinem Plädoyer für 1945; später Flottillenadmiral); neun Jahre zuvor hatte er den Verband zum ersten Mal besucht.

m 21. Juli 1993 stattete der Bun- Adeskanzler erstmals dem Korps- und Territorialkommandos Ost in Potsdam unter Generalleutnant Wer- ner von Scheven (* 1937) einen Be- such ab; es war sein erster Besuch bei der Bundeswehr in den neuen Bundesländern (Bild 6) . Auf dem Truppenübungsplatz in Klietz – nörd- lich von Rathenow – beobachtete der Kanzler eine Gefechtsübung. Kohl sprach mit Soldaten und lobte deren Arbeit: „Dieser Vorgang ist ohne jedes Beispiel in der modernen Geschichte. … In solcher Weise leistet die Bundes- wehr einen wichtigen Dienst zum Zu- sammenwachsen beider Teile unseres Vaterlandes. … Ich bin sicher, dass die Leistung der Streitkräfte auch im Bild 6: Bundeskanzler Helmut Kohl besucht am 21.07.1988 das Korps/ Rückblick später als eines der erfolg- TerrKdo Ost. Befehlshaber GenLt Werner von Scheven (l.) stellt dem Kanzler reichsten, vielleicht das erfolgreichste die Offiziere und Beamten des Kommandos vor. Hier begrüßt Kohl Pionier- Kapitel des deutschen Einigungspro- Oberst Clauditz (r.). zesses dastehen wird.“ 22

Er betonte seinen Willen, auf dem den Einsatz der Bundeswehr außer- ährend der humanitäre Sani- Weg zur Europäischen Politischen halb des Bündnisgebiets räumte Kohl Wtätseinsatz UNTAC.23 in Süd- Gemeinschaft voranzuschreiten und allerdings ein, dass er die erforderli- ostasien trotz des ersten Opfers unter dankte General Naumann, dass er che breite Mehrheit noch nicht sehe. den deutschen Soldaten erfolgreich „unter dem Dach der gegenwärtigen General Naumann hatte gefordert, war, konnte dies für die Operation in deutschen Präsidentschaft mit seiner bei diesen Einsätzen nicht zu ver- Ostafrika kaum behauptet werden. Einladung … die Initiative zu diesem schweigen, „dass der Soldat in letzter Im April 1992 war die Hilfsmission Treffen ergriffen“ hätte. „Jugoslawien Konsequenz ein Kämpfer ist“. Dies sei UNOSOM eingerichtet worden, um ist … ein Beispiel, wie sehr der Blick die Eigenschaft, die den Soldaten von die Hungersnot in dem vom Bürger- zurück … den Blick nach vorn – auf allen anderen Berufen unterscheide. krieg geschundenen Land zu mindern. das Zusammenwachsen Europas – ver- Erst beim Afghanistaneinsatz Jahre Generalinspekteur Naumann forcierte stellen kann.“ später sollte sich diese Vorhersage den Einsatz. Von Ende August 1992 bewahrheiten. bis Ende März 1993 versorgten Bun- m 12. Mai 1992 nahm der Kanz- Am 26. August 1992 wurde beim deswehr-Transportflugzeuge von ei- Aler – nach 1984, 1988 und 1991 Jagdgeschwader 71 in Wittmund der nem Lufttransportstützpunkt in Kenia – zum vierten Mal an einer Kom- „rote Teppich“ ausgerollt. Um 13.16 aus in einer Luftbrücke die somali- mandeurtagung der Bundeswehr teil. Uhr landete die „German Air-Force sche Bevölkerung mit Nahrungsmit- Auf der 33. Tagung – erstmals un- 606“ mit Bundeskanzler Kohl an 22 Scheven, Werner von: Die Bundeswehr ter Generalinspekteur Klaus Nau- Bord, und 25 Minuten später traf die und der Aufbau Ost, in: Vom Kalten mann – sprach der Kanzler in der Maschine des französischen Staats- Krieg zur deutschen Einheit, S. 500. neuen Leipziger Messe über die Auf- präsidenten Mitterand ein. Die Staats- 23 „United Nations Transitional Authority gaben der Bundeswehr im vereinten männer wurden vom Geschwader- in Cambodia (= Übergangsverwal- Deutschland. Trotz der grundlegend kommodore, Oberst Heinz-Gerd No- tung der UN in Kambodscha) auf der Grundlage der UN-Resolution 745 verbesserten sicherheitspolitischen wak, begrüßt. Nach einem kurzem vom 28.02.1992; die Mission fand von Lage Deutschlands und Europas sei Gespräch flogen beide Politiker mit Februar bis September 1992 statt.

50 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE teln. Ende 1992 bot der Kanzler dem ten Nationen (VN)24 unterstützte diese heit beigestanden, und sie taten dies UN-Generalsekretär eine deutsche auch logistisch und half, die diversen weiterhin.“ 27 Beteiligung an UNOSOM durch deut- Embargos gegen Serbien, Montenegro Den Namen des in Kambodscha sche Logistiktruppen an. Der Bundes- und die „Republica Srpska“25 durch- erschossenen Feldwebels Alexander tag beschloss am 21. April 1993 eine zusetzen. Arndt (1967-1993) erwähnte Kohl na- deutsche Beteiligung an UNOSOM II Im August 1993 begann die per- mentlich. Doch zu einem Einsatz der („Continue Hope“); die SPD lehnte sonell kleine Beobachtermission Bundeswehr auf dem Balkan äußerte den Einsatz ab. Das Vorauskommando UNOMIG (UN Observer Mission in sich der Kanzler in einem Interview verlegte am 12. Mai 1993 in die soma- Georgia) der Bundeswehr26 mit dem mit der „Süddeutschen Zeitung“ An- lische Stadt Belet Huen. Die Bundes- der Waffenstillstand zwischen Ge- fang April noch zurückhaltend: „In wehr betrat Neuland. Personell wurde orgien und der abchasischen Regie- diesem Teil Europas ist die Erinne- der deutsche Unterstützungsverband rung kontrolliert wurde. Im Oktober rung an den Zweiten Weltkrieg beson- – ein Nachschub- und Transportba- 2001 kam Oberstabsarzt Dieter Eiß- ders präsent. Deshalb muss man sich taillon, verstärkt durch Fernmelder, ing (1969-2001) beim Abschuss ei- die Frage stellen, inwieweit überhaupt Pioniere, Sanitäter und zwei Siche- nes Hubschraubers im Kaukasus ums deutsche Hilfe, welcher Art auch im- rungskompanien – mit Zeit- und Be- Leben. Erst 16 Jahre später, am 16. mer, wirklich willkommen ist.“ rufssoldaten aus über 200 Verbänden Juni 2009, war diese Mission abge- Wenige Wochen später, am 12. zusammengestellt; von einem homo- schlossen. Juli 1994, gab das Bundesverfas- genen Truppenkörper konnte keine Im Dezember 1993 besuchte der sungsgericht seine Grundsatzent- Rede sein. Die Aufstellung war impro- Kanzler – zusammen mit US-Präsi- scheidung zu Auslandseinsätzen der visiertes Flickwerk. Die Ausrüstung dent Bill Clinton (* 1946) – Truppen Bundeswehr bekannt und bestätigte, war nicht für die Wüste konzipiert, der 1. US-Panzerdivision „Old Iron- dass die Bundesregierung die Bundes- und auf einen Bürgerkrieg war man sides“ unter Generalmajor William wehr zu Friedensmissionen bis hin zu taktisch nicht vorbereitet. Die Ent- G. Carter III. (* 1944; später Gene- Kampfeinsätzen im Rahmen der UNO sendung erfolgte in zwei Kontingen- ralleutnant) auf dem Truppenübungs- und der NATO einsetzen kann, wenn ten. Das erste bestand aus 1.725 Sol- platz Baumholder. das Parlament mit einfacher Mehrheit daten der Luftlandebrigade 26 unter zustimmt.28 Damit war die Zeit mili- Oberst Helmut Harff (* 1939; später m 18. April 1994 empfing Kohl tärischer Enthaltsamkeit vorüber. Mit Brigadegeneral); Leitverband des 2. Aim Palais Schaumburg in Bonn seinem Beschluss vom 30. Juni 1995 Kontingents (1.300 Soldaten) war die 180 Bundeswehrsoldaten und deren gab der Deutsche Bundestag grünes Gebirgsjägerbrigade 23 unter Oberst Angehörige, um stellvertretend al- Licht für den Einsatz deutscher Trup- Holger Kammerhoff (* 1945; später len, die bei den verschiedenen UNO- pen: Luftwaffen-Tornados im italieni- Generalleutnant). Da aber die indi- Missionen wie z.B. in Somalia, der schen Piacenza unter Brigadegeneral sche Brigade, die logistisch unter- Kurdenhilfe im Irak, in Kambodscha Walter Jertz (* 1945; später General- stützt werden sollte, nicht zum Einsatz und an Bord der AWACS-Flugzeuge leutnant) und Sanitäter in Split – zur kam, entfiel auch die Notwendigkeit bei der Überwachung der Adria im Unterstützung einer britisch-französi- einer deutschen Beteiligung. Einsatz waren, Dank und Anerken- schen Bosnien-Eingreiftruppe („Ra- Die nächste, weit härtere Bewäh- nung der Bundesregierung auszuspre- pid Reaction Force“ – RRF).29 Am rungsprobe folgte nur wenig später vor chen. Der Kanzler sagte, er halte die 6. Dezember stimmte der Bundestag der europäischen Haustür. Im letzten Bundeswehr für unverzichtbar, um auch einer deutschen Beteiligung an Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bra- „künftigen Generationen ein Leben der NATO-Friedenstruppe für Bos- chen auf dem Balkan jahrhunderte- in Frieden, Freiheit und Wohlstand nien und Herzegowina zu. Der Kanz- alte Spannungen, unter Titos strenger zu ermöglichen“. Die Beteiligung an ler warnte vor übereiltem Engage- Hand nur mühsam kaschiert, wieder Maßnahmen zur Sicherung des Welt- auf. Mitteleuropa war nun, anders friedens sei eine zentrale Frage der 27 Kohl, Helmut: Erinnerungen 1990- als bei Somalia, direkt berührt. Zwar Außenpolitik, „denn auch unsere Ver- 1994, S. 649. 28 In einer Gefahrenlage darf die Bundes- hatte der Kanzler versprochen, „aus bündeten hatten uns in der Vergangen- regierung die Bundeswehr auch ohne Gründen der geschichtlichen Erfah- vorherige Zustimmung einsetzen, muss rung keine deutschen Soldaten“ nach 24 Oberbefehlshaber UNPROFOR: diese allerdings nachträglich einholen. Ex-Jugoslawien zu schicken, doch Französ. General Philippe Morillon Eine Gefahrenlage liegt vor, wenn die (1992/93); belg. General Francis Wehr- oder Bündnisfähigkeit Deutsch- auch hier war es nur eine innerdeut- Briquemont (1993/94); brit. General Sir lands beeinträchtigt oder das Leben sche Diskussion, deren angebliche Michael Rose (1994/95) brit. General deutscher Soldaten oder Staatsbürger Rationalität im Ausland auf wenige Sir Rupert Smith (1995). gefährdet würden. Verständnis stieß. Im Juli 1992 be- 25 Resolutionen Nr. 757 vom 30.05.1992, 29 Als Reaktion auf die Demütigung des 787 vom 27.11.1992, 820 vom Westens, vor allem Frankreichs, z.B. gann der Einsatz der Bundeswehr auf 17.04.1993 und 941 vom 23.09.1994 durch das Anketten von ca. 370 französ. dem Balkan. Zunächst beteiligte sie (Handels- Öl, Luft-fahrt- und Wirt- Soldaten als Geiseln an potentiellen sich an der Luftbrücke für das einge- schaftsembargo). Zielen. Die RRF bestand aus einer schlossene Sarajewo im Rahmen der 26 Die Stärke schwankte; sie betrug z.B. brit Brigade mit 5.500 und einer franz. Ende März 2008 129 Soldaten, 16 Poli- Brigade mit 4.000 Soldaten, so-wie 180 UNPROFOR-Mission („United Na- zisten, 105 Zivilisten und 208 Ortskräf- niederländische Marines. Ihr oblag vor tions Protection Force“) der Verein- te, gestellt von 26 Nationen. allem der Schutz der UNPROFOR.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 51 BLICK IN DIE GESCHICHTE ment. „Der Spiegel“ zitierte seine Klängen eines von einem russischen Kirchbach (* 1941; später General) Mahnung an die militärische Führung Musikkorps gespielten Trauermar- und das Panzerbataillon 413 in der mit den Worten: „Die Herren, die mit sches betraten Jelzin und Kohl das Ferdinand-von-Schill-Kaserne in Tor- Gold ausgestattet sind, sollten sich sowjetische Ehrenmal im Treptower gelow unter Oberstleutnant Friedrich zurückhalten.“30 Park und legten zwei Kränze nieder. Roth. Oberst Ernst Lutz (* 1946; spä- Doch dann forcierte die Erobe- Vorbei an deutschen und russischen ter Generalmajor) war Kommandeur rung der bosnischen Schutzzone Sre- Ehrenwachen stiegen sie die Stufen der vorgesetzten Panzerbrigade 41 brenica im Juli 1995 durch die Ser- empor – vorbei an der zweieinhalb „Vorpommern“. Nach dem Empfang ben, verbunden mit der Ohnmacht Meter hohen roten Granitfigur „Mut- mit militärischen Ehren beobachte- und Hilflosigkeit der UN-Blauhelme ter Heimat“ – und betraten das Mau- te Kohl eine Gefechtsübung auf dem während des folgenden Massakers, soleum unter dem riesigen Standbild Truppenübungsplatz Jägerbrück, be- die Entscheidung. Ab Januar 1996 des jungen Sowjetsoldaten mit dem suchte ein Biwak und nahm an einem beteiligten sich 4.000 deutsche Sol- geretteten Berliner Kind auf dem Arm. staatsbürgerlichen Unterricht unter daten aller Teilstreitkräfte an IFOR Etwa 1.500 Soldaten der 6. motori- dem Motto „40 Jahre Bundeswehr – („Implementation Force“). Sie setz- sierten Garde-Schützen-Brigade und Fünf Jahre Armee der Einheit“ teil. te unter dem Kommando der NATO des deutschen Wachbataillons waren Der Kanzler betonte erneut den gro- das Friedensabkommen von Dayton aufmarschiert. In seiner kurzen An- ßen Beitrag der Bundeswehr für das durch. Es war ein neues Terrain, und sprache dankte der Kanzler den rus- Zusammenwachsen Deutschlands und so wurde die Truppe auf dem Balkan sischen Truppen und versprach, den stellte der Armee der Einheit eine behutsam an politisch kurzer Leine „in Deutschland gefallenen Kamera- Höchstnote aus. Auf die Frage nach geführt. Ein deutscher General als den ehrendes Andenken“ zu bewah- dem Sinn eines nur zehnmonatigen „German Representative“ – mit einem ren. „Wir verneigen uns vor den vielen Grundwehrdienstes angesichts einer eher diffusen Auftrag und marginaler Millionen Toten, die dieser entsetzli- hoch technisierten Armee antworte- personeller und materieller Ausstat- che Krieg Ihr Land kostete. Wir wollen te Kohl, er hätte seine Zustimmung tung – überwachte die politischen und dürfen dies alles nicht vergessen.“ „nicht gerade mit Begeisterung“ ge- Vorgaben. Die Soldaten wurden außer- Oberstleutnant Hans-Joachim Jung geben, sich aber den politischen Re- halb von Bosnien und Herzegowinas (* 1941) hatte das Abschiedslied der alitäten stellen müssen und bekann- stationiert, durften sich aber zur Er- russischen Streitkräfte „Lebe wohl te offen, dass er dies nicht für opti- füllung ihrer Aufgaben zeitweilig dort Deutschland“ ins Deutsche übersetzt. mal hielte. aufhalten. Ihre Aufgaben bestanden „Auf Frieden, Freundschaft und Ver- Die Feierlichkeiten zum 40. Ge- in der sanitätsdienstlichen Versor- trauen sollten wir unsere Zukunft bau- burtstag der Bundeswehr waren über gung, Pionier- und Transportaufga- en“, heißt es darin. das ganze 2. Halbjahr verteilt – im ben, Luftunterstützung sowie Über- Wenige Tage später, am 8. Sep- Vorfeld das übliche Parteiengezänk, wachungsaufgaben in der Adria. Mit tember 1994, folgte der Abschied der Beispiele einer immer noch mangel- der Mandatserweiterung von IFOR zu westalliierten Truppen in einer Feier- haften Integration der Bundeswehr in SFOR (Stabilisation Force) Ende 1996 stunde im Berliner Schauspielhaus, die Gesellschaft. Der Vorschlag des wurde das deutsche Kontingent auch bei der auch die Garnisonskomman- Regierenden Bürgermeisters Eber- in Bosnien-Herzegowina stationiert. deure Brigadier David de Gonville hard Diepgen, die öffentliche Ver- Bromhead (* 1944) (Großbritannien), eidigung 1995 auf dem Gendarmen- er Abzug der alliierten Truppen Brigadegeneral Jean Brullard (* 1938) markt oder den Pariser Platz in Ber- Daus Ostdeutschland fand getrennt (Frankreich) und US-Generalmajor lin durchzuführen, stieß auf heftigen statt. Am 31. August 1994 – einem Walter H. Yates (* 1941) anwesend Protest. Und so kippte Minister Rühe strahlend schönen Spätsommertag – waren. Klassische Musik umrahmte das Vorhaben aus Sicherheitsgründen erfolgte in Berlin zunächst die Ab- die Reden von Kohl, Mitterrand, des und entschied, das Gelöbnis am 23. schiedsparade der russischen Solda- britischen Premierministers Major Mai in der Julius-Leber-Kaserne in ten. Kanzler Kohl und Russlands Prä- und des US-Außenministers Christo- Wedding abzuhalten. Die Deutsche sident Boris Jelzin legten am Mahn- pher. Den Höhepunkt der Abzugsfei- Post lehnte die Herausgabe einer Son- mal der Neuen Wache Kränze nieder. erlichkeiten bildete der Große Zap- dermarke zu diesem Anlass ab, wäre Nach einem Staatsakt im Schauspiel- fenstreich auf dem Pariser Platz vor doch bereits die Gedenkmarke zum haus nahmen beide auf dem Gendar- dem Brandenburger Tor. 30. Geburtstag der Bundeswehr ein menmarkt die offizielle Abmeldung Ladenhüter gewesen. der letzten von ursprünglich mehr als undeskanzler Kohl besuchte am Am 30. August 1995 landete 500.000 ehemals sowjetischen Solda- B12. Juli 1995 zusammen mit dem Kohl, begleitet u.a. vom Gruppenlei- ten durch den Oberkommandierenden Ministerpräsidenten von Mecklen- ter 23 des Kanzleramtes, Oberst i.G. der Westgruppe der Truppen, General burg-Vorpommern Dr. Berndt Seite (* Sude und weiteren hochrangigen Gäs- Matwej Burlakow (* 1939), entgegen. 1940) und dem Inspekteur des Heeres ten, in der Lützow-Kaserne in Müns- 49 Jahre und drei Monate sowjetischer den Stab des Wehr- ter-Handorf, in der auch die Heeres- Besatzung waren vorüber. Unter den bereichskommandos VIII /14. Panzer- unteroffizierschule I (HUS I)31 unter grenadierdivision in Neubrandenburg 31 Die HUS I war – aus dem PzGrenBtl 30 „Der Spiegel“ vom 20. Juni 1995. unter Generalmajor Hans-Peter von 193 aufgestellt – am 1. April 1990

52 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Oberstleutnant Jürgen Arndt (* 1944; schenrufe des Grünen-Abgeordneten und dessen Gattin Hillary bei einem später Oberst) stationiert war. Der Fischer und späteren Außenministers Besuch der 1. US-Panzerdivision „Old Kanzler wurde vom Leiter des Schul- entgegnete Kohl: „Sie … haben ge- Ironsides“ unter Generalmajor Wil- stabes, Oberstleutnant Jürgen Kain, gen die Freiheit der Bundesrepublik liam L. Nash auf dem Truppenübungs- begrüßt und trug sich in das Gäste- Deutschland demonstriert. … Leute platz Baumholder. Die Division ver- buch der HUS I ein (Bild 7) . Dann Ihres Schlages haben gestern und heu- legte zwei Tage später im Rahmen der nahm der Kohl am Aufstellungsappell des neuen Deutsch-Niederländischen Korps teil. Der niederländische Gene- ralleutnant Ruurd Reitsma (* 1942) meldete als Kommandierender Gene- ral vor dem Schloss zu Münster dem niederländischen Ministerpräsiden- ten Wim Kok (* 1938) und dem Bun- deskanzler die Einsatzbereitschaft des neuen Korps. Es besteht aus einem in- tegrierten deutsch-niederländischem Korpsstab sowie aus deutschen und niederländischen Verbänden; erster Stellvertreter wurde der deutsche Ge- neralmajor Dr. Günter Freiherr von Steinaecker (* 1938). Der Große Zapfenstreich am 26. Oktober 1995 in Anwesenheit von Bundespräsident Herzog und Bun- deskanzler Kohl wurde erneut Anlass zum Parteienstreit. Der Kanzler wollte Bild 7: Bundeskanzler Kohl trägt sich in das Gästebuch der das Fest im Bonner Hofgarten zeleb- Heeresunteroffizierschule I in Handorf ein (l. Kdr HUS I Oberstleutnant rieren, wo 1966 die Bundeswehr Ade- Jürgen Arndt, r. Leiter Schulstab Oberstleutnant Jürgen Kain). nauers 90. Geburtstag ebenfalls mit einem Zapfenstreich gefeiert hatte. te keinen Beitrag zur Freiheit geleistet Operation „Joint Endeavour“ nach Doch die Universitätsleitung zögerte, und werden dies sicherlich auch mor- Bosnien. sah sie doch ihren Rasen in Gefahr.32 gen nicht tun. … Sie sind und bleiben In den Reihen der Grünen galt es als ein Trittbrettfahrer der Geschichte, kein m Februar 1996 plädierte Bundes- „schreckliche militärische Zeremo- Gestalter.“ Ikanzler Kohl auf der Münchner Si- nie“, der man sich durch Nichtan- Am 30. November 1995 meldete cherheitskonferenz leidenschaftlich wesenheit entziehen sollte.33 Diesem der erste Kommandierende General für die Beibehaltung der Wehrpflicht: Rat folgte der SPD-Vorsitzende und des Eurokorps, Generalleutnant Hel- „Die Wehrpflicht ist und bleibt Aus- spätere Verteidigungsminister Rudolf mut Willmann (* 1940; 1996 bis 2001 druck der Bürgerverantwortung in ei- Scharping und nahm nicht teil. Inspekteur des Heeres), die Einsatz- ner freiheitlich demokratischen Grund- Am 27. Oktober 1995 gab Bun- bereitschaft seines multinationalen ordnung. … Aber ich bin dafür, dass deskanzler Kohl während der 65. Sit- Großverbandes, in dem inzwischen bei uns Offiziere und Soldaten aus al- zung des Deutschen Bundestages eine deutsche, französische, belgische, len gesellschaftlichen Schichten her- Regierungserklärung zum Thema „40 spanische und luxemburgische Sol- vorgehen. Dies ist nur über die Wehr- Jahre Bundeswehr – 5 Jahre Armee daten dienen. pflicht möglich.“ der Einheit“ ab. Dabei machte er u.a. Während seines China-Besuches Am 17. April 1996 begrüßte Kohl die Aussage: „Die Verweigerung des Im November 1995 stattete Kohl auf in Begleitung von Verteidigungsminis- Wehrdienstes aus Gewissensgründen ist eigenen Wunsch Einheiten der chi- ter Volker Rühe und Heeresinspek- die Ausnahme. Ich sage dies so, weil nesischen Volksarmee einen Besuch teur Willmann 162 Soldaten des 1. es manche im Lande gibt, die dies an- ab. Die 196. Infanteriedivision34, eine Kontingents GECONIFOR, die unter dersherum haben möchten.“ Auf Zwi- Autostunde von Peking entfernt in der Führung von Brigadegeneral Fried- Kaserne Yang Chun, war dafür ausge- rich Riechmann (* 1941; später Gene- eröffnet und 2003 außer Dienst gestellt wählt worden. ralleutnant) aus dem Einsatz im ehe- worden. Die HUS II war in Weiden, die HUS III in Lahnstein stationiert. Am 2. Dezember 1995 begleitete maligen Jugoslawien zurückkehrten 32 Weniger zögerlich war man 1981 Kanzler Kohl – zum zweiten Mal nach und 200 Angehörige, auf dem Flug- gewesen, als sich am 10.Oktober rund 1993 – den US-Präsidenten Clinton platz Köln-Wahn. In seiner Anspra- 300.000 Menschen im Bonner Hofgar- che sagte der Kanzler: „Sie haben al- ten versammelten, um gegen die NATO- 34 Am 26. Mai 1960 besuchte Field- len Grund, ... stolz auf Ihre Arbeit zu Nachrüstung zu demonstrieren. Marshal Bernard Lord Montgomery als 33 Vgl. Pressespiegel der Bundeswehr vom erster Ausländer diese Division, die sein. … Durch Ihren Einsatz haben 26.10.1995. 1998 zur Brigade umstrukturiert wurde. Sie ganz wesentlich dazu beigetragen,

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 53 BLICK IN DIE GESCHICHTE dass der Frieden für die Menschen in mit einem Dank an die Ehefrauen der an. Nur mit seinem Geschenk, einem dieser leidgeprüften Region ein Stück Soldaten: „Wer mit einem Soldaten Schlüsselanhänger mit Bundesadler nähergerückt ist.“ verheiratet ist, muss im Alltag vieles und eingravierter Unterschrift, lag ertragen. Das fängt schon damit an, Kohl daneben. Die Soldaten hätten nter dem Namen „Operation Li- dass Soldaten, die etwa in Uniform sich lieber Telefonkarten gewünscht, Ubelle“ ordnete Kanzler Kohl am zum Gottesdienst gehen, Diffamierun- wie sie US-Präsident Bill Clinton am 14. März 1997 die Evakuierung von gen ausgesetzt sind und es reicht bis Vortag den US-Truppen mitgebracht 1.000 Personen aus Tirana an. Dabei zu umstrittenen Gerichtsurteilen, die hatte. Doch das zusätzliche Päckchen kam es auf dem alten Flughafens La- auch aus meiner Sicht völlig inakzep- mit einer Flasche Wein, Süßigkei- brak im Nordwesten von Tirana zwi- tabel sind.“ ten und Kuchen glich den Missgriff schen 15.40 Uhr und 16.09 Uhr erst- Kohl bezeichnete die Bundeswehr wieder aus. Beim Mittagessen erin- mals in der Geschichte der Bundes- als Erfolgsgeschichte, als „eine Armee nerte Kohl an das Motto seines Pfar- wehr zu einem kurzen, 29 Minuten erster Klasse“ und zählte stichwortar- rers „Kurze Predigt, lange Würste“ dauernden Feuergefecht, bei dem Si- tig deren Verdienste auf. Hinsicht- und hielt sich daran. In seiner kur- cherungskräfte der deutschen SFOR- lich der Jahrtausendwende sagte er, zen Ansprache sagte er, „wir werden Truppe unter Oberst Henning Glawatz es gehe nunmehr darum, Deutsch- mit der Bundeswehr solange hier in (* 1949; später Brigadegeneral) 188 land auf die Herausforderungen des Bosnien-Herzegowina bleiben, wie es Schüsse abgefeuerten, wie die späte- 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Da- notwendig ist.“ re Buchführung ergab. Die Rettungs- bei ging er auch auf die politischen In seiner letzten Sylvesteranspra- operation von 104 deutschen und aus- Vorgaben und Ziele deutscher Außen- che sagte Bundeskanzler Kohl am 31. ländischen Zivilisten mit sechs CH- und Sicherheitspolitik ein. Oberstes Dezember 1997: „Ich denke an unse- 53 Hubschraubern glückte, niemand Ziel bleibe die Wahrung und Förde- re Soldaten und die vielen Helfer, die wurde verletzt. rung des Friedens und die Sicherung bis zur Erschöpfung im Oderbruch ge- Fünfzig Jahre nach dem verhee- der Zukunft. Die Bundeswehr spiele arbeitet haben. An die Soldaten, die renden Hochwasser an der Oder im dabei eine wichtige Rolle. Dann leg- unter Gefahr für ihr eigenes Leben in März 1947 stand der Fluss im Juli te der Kanzler erneut ein Bekennt- Bosnien-Herzegowina mithelfen, den 1997 sechs bis sieben Meter über nis zur Wehrpflicht ab: Diese werde Frieden zu sichern.“ Landhöhe. Nur der Deich trennte die bleiben, „solange ich Verantwortung Fluten von der Tiefebene des Oder- in diesem Land habe, egal, was ande- m 7. Februar 1998 sprach der bruchs. Als Wasser durchsickerte, und re Länder in Europa tun“. Die Wehr- AKanzler in München auf der 34. bei Hohenwutzen der Deich an eini- pflicht sei „eine Quelle der ständigen Münchner Sicherheitskonferenz:35 gen Stellen abbrach, wurde das Oder- Erneuerung“ für die Streitkräfte und „Unsere Bundeswehr hat als Wehr- bruch evakuiert. Tausende von Solda- „eine Klammer von Gesellschaft und pflichtarmee ihren festen Platz im Ge- ten und zivile Helfer stemmten sich Armee“. Kohl verurteilte die rechts- füge unserer Republik. Abschaffung gegen die Naturgewalten. Wie durch extremistischen Vorfälle in Hammel- der Wehrpflicht, gesellschaftliche Iso- ein Wunder gewannen sie. Kanzler burg und Schneeberg, nahm die Bun- lierung der Soldaten oder massive Re- Kohl machte sich am 29. Juli ein Bild deswehr aber zugleich vor pauschaler duzierung unserer Streitkräfte bis hin von der Lage im Krisengebiet. Auf Diffamierung in Schutz. zu ihrer gänzlichen Abschaffung sind dem Flugplatz Neuhardenberg, dem Am Morgen des 23. Dezembers völlig inakzeptable Forderungen, die zentralem Sandsacklager- und Um- 1997 traf ein gut gelaunter Kanzler von der großen Mehrheit unseres Volkes schlagplatz, besuchte er Soldaten. Der in Begleitung von Minister Rühe im nicht geteilt werden.“ Zu Recht wies Kommandeur der 14. Panzergrena- trüb-nebeligen Sarajewo ein, um den Kohl auf die Erfolge in seiner Amts- dierdivision aus Neubrandenburg, Ge- Soldaten für ihren Friedenseinsatz zu zeit bei der Truppenreduzierung hin: neralmajor Hans-Peter von Kirchbach danken. Es war Kohls erster Besuch „Ich habe zu Beginn meiner Amts- (* 1941; Generalinspekteur von 1999 bei den SFOR-Soldaten auf dem Bal- zeit … erklärt: ‚Frieden schaffen mit bis 2000), dirigierte die Verteidigungs- kan, die u.a. vom Panzeraufklärungs- immer weniger Waffen!’ … Auf dem front, und wurde vom Kanzler, der ihn bataillon 6 aus Eutin unter Oberstleut- Höhepunkt der Nachrüstungsdebatte von einem Besuch in Neubrandenburg nant Jörg Lohmann (* 1955; später hätte auch ich mir nicht träumen las- 1995 bereits kannte, als „General aus Oberst) gestellt wurden. Im Feldlager sen, wie weit wir in wenigen Jahren dem Bilderbuch“ bezeichnet. Rajlovac besichtigte er im Beisein kommen könnten.“ So wurden z. B. Am 3. November 1997 sprach von Brigadegeneral Bernd Müller (* die nuklearen Kurz- und Mittelstre- Kohl auf der 36. Kommandeurtagung 1945), dem Kommandeur GECONS- ckenwaffen in Europa abgebaut, der der Bundeswehr im Berliner Estrel- FOR und zugleich Kommandeur der Nichtverbreitungsvertrag unbefristet Hotel unter Generalinspekteur Hart- Luftlandebrigade 31, die verschie- verlängert, ein umfassender nuklearer mut Bagger. Es war das fünfte und denen Arbeitsbereiche, vom Lazarett Teststopp vereinbart, und der Vertrag letzte Mal, dass er in seiner Amtszeit über den Sicherungskonvoi bis hin zu über das Verbot chemischer Waffen bei der militärischen Führungsspit- den Transporthubschraubern. Kohls trat in Kraft. ze zu Gast war. Er sprach über „Die direkte Art – er begrüßte alle Solda- 35 Von 1999 bis 2008 wurde die Tagung Bundeswehr 1997- Bilanzen und Per- ten per Handschlag und erkundigte von Kohls ehemaligem außenpolitischen spektiven“ und begann seine Rede sich auch nach Privatem – kam gut Berater Teltschik geleitet.

54 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Bei der Wahl zum 14. Deutschen eine der außergewöhnlichsten Stunden des brandenburgischen Innenminis- Bundestag am 27. September 1998 meines Lebens, die mich tief bewegt. … ters Jörg Schönbohm einen „persön- verlor die christlich-liberale Koalition Für mich ist der Große Zapfenstreich lichen Fehler“ bei der Wiederverei- ihre Mehrheit. Am 12. Oktober stimm- ein altes, traditionsreiches Zeremoni- nigung ein: Er habe sich nicht genug te das Kabinett Kohl – in Anwesenheit ell, in dem sich ein Teil deutscher Ge- um die Stellung der NVA-Soldaten von Nachfolger Gerhard Schröder und schichte widerspiegelt.“ 39 gekümmert. den künftigen Ministern Joschka Fi- Für die Serenade hatte Kohl sich Mit einem Festakt im Beisein von scher und – in einer drei Stücke gewünscht: Beethovens Bundeskanzler a.D. Kohl wurde am letzten Amtshandlung den Luftschlä- Ode „An die Freude“, den Choral von 23. November 2006 durch den Bun- gen gegen Rest-Jugoslawien zu.36 Im Leuthen „Nun danket alle Gott“ und desminister der Verteidigung Franz Josef Jung und Heeresinspekteur Hans Otto Budde (* 1948; Inspek- teur seit März 2004)) am Ehrenmal des Deutschen Heeres in Koblenz eine Stele eingeweiht, die an die ums Le- ben gekommenen Soldaten des Hee- res erinnern soll. In seiner Gedenkan- sprache mahnte Kohl – sich selbst zu einer Generation zählend, „die noch die volle Wucht des Schreckens des Krieges erlebte“ – die kommenden Generationen, „alles zu tun, dass kei- ne neuen Soldatenfriedhöfe angelegt werden müssen“. Am 20. Juli 2007 war Kohl Ehren- gast beim Feierlichen Gelöbnis von 450 Rekruten der 2., 4. und 8. Kom- panie des Wachbataillons der Bun- deswehr unter Oberstleutnant Frank Schuster im Berliner Bendlerblock. Bild 8: Am 63. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler vom 20. Juli Als erster Altkanzler würdigte er in 1944 hält Altkanzler Kohl die Ansprache zum Feierlichen Gelöbnis von 450 einer bewegenden Rede den militä- Rekruten des Wachbataillons im Innenhof des Bendlerblocks in Berlin. rischen Widerstand um Stauffenberg sowie die Studenten um die Geschwis- September 1998 hatte Kohl für ein zuletzt den Reitermarsch des Großen ter Scholl und Georg Elser (Bild 8) . Eingreifen der NATO plädiert, auch Kurfürsten. Abschiedsstimmung am Er sagte, seine Generation sei vom wenn kein VN-Mandat vorläge.37 Ende einer Ära: Schauer fegten über Wunsch angetrieben worden, nach Am 17. Oktober 1998 verabschie- den Platz, löschten einzelne Fackeln der Erfahrung zweier Weltkriege alle dete die Bundeswehr Bundeskanzler und trieben Funken und Blätter über Feindschaften mit den Nachbarlän- Kohl vor der Kulisse des alten Kaiser- den Asphalt. Ein halbes Jahr spä- dern zu überwinden. Er erklärt den domes zu Speyer mit einem Großen ter, am 20. April 1999, wurde Kohl Rekruten, es sei Aufgabe auch ihrer Zapfenstreich. Dazu äußerte Kohl: auf dem Paradeplatz des Pentagon in Generation, die politische Union Eu- „Es war eine schöne Idee von Volker Washington vom US-Verteidigungsmi- ropas zu vollenden. Rühe, mich vor dem Dom zu Speyer von nister William S. Cohen(* 1940) mit „Wenn wir von der Zukunft der Bundeswehr zu verabschieden.“ 38 militärischen Ehren verabschiedet. Europas reden, so ist es vor allem Das schwere Pionierbataillon 330 das Europa Ihrer Generation. unter Oberstleutnant Ulrich W. Berg- uch nach seinem Ausscheiden Es ist Ihr Jahrhundert.“ mann hatte die Feier vorbereitet. Mi- Ariss Kohls Beziehung zum Mili- nister Rühe und Generalinspekteur tär nicht ab. Als Sohn Peter im Jahre Literatur: Bagger begleiteten den Kanzler. Nach 2001 die türkische Unternehmertoch- – Beckh, Dr. Emil, Oberst a.D., Das dem „Jäger aus Kurpfalz“ meldete ter Elif Sözen heiratete, bat Helmut Reserve-Feldartillerie-Regiment der Kommandeur des Wachbatail- Kohl – an Stelle von Hochzeitgeschen- Nr. 6 im Weltkrieg 1914/1918, lons, Oberstleutnant Uwe Pomplun, ken – um eine Spende für die Stiftung Band 92 der Erinnerungsblätter dem Ehrengast. Zeitgleich setzte Re- „Mehmetcik Vakfi“, die kriegsver- deutscher Regimenter Kgl. bay- gen ein. Während der Rede versagte sehrte Soldaten betreut. rische Armee Verlag Max Schick, dem Kanzler kurz die Stimme: „Es ist Am 15. September 2004 räum- München 21940 te Altkanzler Kohl in einer Rede im – Clough, Patricia, Helmut Kohl. 36 BT-Drucksache 13/11469. 37 FAZ vom 24.09.1998. Klub am See in Strausberg im Beisein Ein Porträt der Macht, dtv pre- 38 Kohl, Helmut: Mein Tagebuch 1998- mium, München 1998 2000, S. 26. Kohl, Helmut: a.a.O., S. 26 f.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 55 BLICK IN DIE GESCHICHTE

– Dreher, Klaus, Helmut Kohl. Le- – Kohl, Helmut, Erinnerungen 1990 – Ruhfus, Jürgen, aufwärts, Erlebnis ben mit Macht, DVA Stuttgart -1994, Band 3, Droemer Verlag, und Erinnerungen eines diploma- 1998 München 2007 tischen Zeitzeugen 1955 bis 1992, – Deutsche Einheit, Sonderedition – Kohl, Helmut, Mein Tagebuch EOS-Verlag, Sankt Ottilien 2006 aus den Akten des Bundeskanz- 1998-2000, Droemersche Ver- – Schmidt, Helmut, Weggefährten, leramtes 1989/90, Dokumente zur lagsanstalt, München 2000 Erinnerungen und Reflexionen, Deutschlandpolitik Deutsche Ein- – Kohl, Helmut, Der Kurs der CDU. Siedler Verlag, Berlin 1996 heit, R. Oldenbourg Verlag, Mün- Reden und Beiträge des Bundes- – Schmidt, Helmut, Menschen und chen 1998 vorsitzenden 1973-1993, hrsg. Mächte, Siedler Verlag, Berlin – Elger, Hans-Otto, Einmalig, Hub- von und Gerd Lang- 1987 schraubertransportgeschwader 64 guth, DVA Stuttgart 1993 – Teltschik, Horst, 329 Tage, Innen- 1966-1993, Ziese Verlag, Olden- – Kollmann, Walter; Loch, Herbert, ansichten der Einigung, Siedler burg 1993 Das Kgl. Bayer. 5. Feld-Artille- Verlag, Berlin 1991 – Geschichte des ehemaligen Kö- rie-Regiment König-Alfons XI. niglich bayerischen 12. Feldartil- von Spanien, Erinnerungsblätter Besonderer Dank gilt den Herren lerie-Regiments Standort Landau deutscher Regimenter, Band 45, Oberst a.D. Jürgen Arndt, General in der Pfalz, Knorr & Hirth GmbH, Verlag Bayerisches Kriegsarchiv, a.D. Henning von Ondarza und dem München 1935 München 1926 Bilderdienst des Bundespresse- und – Kohl, Helmut, Erinnerungen 1930 – Kujacinski, Dona & Kohl, Peter, Informationsamtes (BPA) der Bun- -1982, Band 1, Droemer Verlag Hannelore Kohl. Ihr Leben, Dro- desregierung München 2004 emer Verlag, München 2002 – Kohl, Helmut, Erinnerungen 1982 – Reichardt, Jürgen, Hardthöhe Bildnachweis: -1990, Band 2, Droemer Verlag, Bonn. Im Strudel einer Affäre, Os- – BPA (1, 4-18), Privatarchiv OTL München 2005 ning Verlag, Bielefeld Bonn 2008 a.D. Schick (3), unbekannt (2)

Vor 100 Jahren: Am Ursprung der Christenheit Die Dormitio-Kirche in Jerusalem feiert 100-jähriges Bestehen

VON GABI FRÖHLICH (KNA)

ie gehört fest zum Stadtbild Jeru- Der Name Dormitio – lateinisch Diese Moschee war auch der salems: die markante Silhouette für „Entschlafen“ – verweist auf die Grund, warum Wilhelm II. 1898 bei Sder Dormitio-Kirche auf dem Zi- alte Tradition, nach der auf dem Zi- seinem Staatsbesuch im damals noch onsberg. Gut vorstellbar, wie sich da- onsberg die Gottesmutter Maria im verschlafenen Jerusalem den im Ober- mals 726 Pilger aus Deutschland der Kreis der Jünger Jesu starb. Gleich geschoss gelegenen Abendmahlssaal Heiligen Stadt näherten und mit vor links daneben liegt jener Ort, an dem nicht für die Katholiken zurückerwer- Rührung erstickter Stimme den Hym- die christliche Tradition das letzte ben konnte. Stattdessen „schenkte“ nus anstimmten „Ave Sion, du herrli- Abendmahl Jesu und die Herabkunft ihm der türkische Sultan das Nach- cher Berg“. So geschehen laut Pilger- des Heiligen Geistes am Pfingsttag bargrundstück. Der Deutsche Ver- bericht am 10. April 1910 – dem Tag verortet. Forscher gehen davon aus, ein vom Heiligen Land musste al- der feierlichen Weihe der Dormitio. dass hier bereits im ersten nachchrist- lerdings 120.000 „goldene Napole- Genau 100 Jahre später wurde mit ei- lichen Jahrhundert eine Synagogen- on“ für die Unkosten hinblättern, als nem Festgottesdienst an das damalige Kirche gestanden haben könnte. Si- der Kaiser den deutschen Katholiken Ereignis erinnert. Heute wie damals cher ist, dass der Zionsberg im 5. Jh. das Gelände „mit wahrer kaiserlicher stand der Messfeier der Lateinische von der großen Basilika „Hagia Ma- Huld“ überließ – ein echtes Vermö- Patriarch von Jerusalem vor. Zwischen ria“ überbaut war. In der Folgezeit gen. Sicher ist jedoch, dass ohne die den Ehrengästen saß Prinzessin Ma- wurde diese Kirche mehrfach zerstört geschickte Diplomatie des protestan- rie-Louise von Preußen, die Urenke- und wieder aufgebaut. Nach Vertrei- tischen Kaisers die Katholiken keine lin von Kaiser Wilhelm II. Denn er bung der Franziskaner 1551 errich- Aussicht auf den Besitz des privile- war es, der zunächst den deutschen teten die Osmanen eine Moschee auf gierten Orts gehabt hätten. Unter der Lutheranern und dann den deutschen dem Gelände, wo sie seit dem 12. Jh. Regie des Kölner Diözesanbaumeis- Katholiken ein geistliches Zentrum in das Grab Davids verehrten. ters Heinrich Renard entstand dort der Heiligen Stadt sicherte. ein Kirchenrundbau samt angrenzen-

56 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE

Der neoromanische Zentralbau der Kirche „Dormitio Beatae Mariae Virginis“ mit dem schwarzen Kegeldach und dem daneben stehenden hohen Glockenturm auf dem Berg Zion. An der Stelle des Gebäudes am linken Bildrand gleich unterhalb der Dormition stand nach christlicher Tradition das oftmals um- und überbaute Haus der Eltern des Evangelisten Markus. Im Erdgeschoss des heute 2-stöckigen Gebäudes ist der Saal der Fußwaschung. In einem hinteren Raum (der Apsis einer Synagogenkirche aus dem 2. Jh. steht das Kenotaph Davids (leeres Grabmal, im 16. Jh. von Moslems hier aufgestellt). Im Obergeschoss, dem „Obergemach“ der dem Benediktiner-Kloster. Der frei gekrieg 1967 lag die Abtei im Feuer Evangelien, liegt der eindrucksvolle, stehende Glockenturm musste soweit der Kriegsparteien – Erfahrungen, frühgotische Abendmahlssaal. zurückgesetzt werden, dass der Schat- die die Gemeinschaft bis heute prä- (Foto: PS) ten nicht auf die benachbarte „Da- gen. Das Gebet und den Einsatz für vids-Moschee“ fallen konnte. Nach Frieden und Versöhnung sehen die aus: Juden, Christen und Muslime in zehn Jahren Bauzeit konnte die Kirche Mönche nach wie vor als ihren wich- der Heiligen Stadt hätten eines ge- 1910 in Anwesenheit politischer Pro- tigsten Auftrag: „Wir sind nur eine meinsam, zitiert er einen Rabbiner: minenz feierlich eingeweiht werden. winzige Minderheit“, betont Abt Be- „die Sprache des Glaubens“. Wäh- Wechselvolle Jahrzehnte folg- nedikt Lindemann – „aber an expo- rend im Nahen Osten politisch dar- ten für die Mönche aus Beuron, die nierter Stelle: Unsere Kirche ist von um gerungen werde, „Sprachlosigkeit sich bei der Dormitio ansiedelten. allen Seiten zu sehen“. Die Gabe wer- zu überwinden“, sei diese gemeinsa- Sie erlebten mehrfache Ausweisung de so zur Aufgabe. Botschafter Harald me Sprache ein „kostbarer Schatz“. oder Internierung während der bei- Kindermann drückt als Vertreter der Ein Ort des Dialogs in dieser Spra- den Weltkriege und des israelisch- deutschen Regierung beim Jubiläum che will die Dormitio auch in Zukunft arabischen Kriegs 1948. Im Sechsta- seine Wertschätzung für das Anliegen sein. (KNA)

Vor 1.100 Jahren: Cluny – religiöses Zentrum des Mittelalters – feiert den 1.100 Jahrestag seiner Abteigründung Ehemalige Benediktinerabtei und Reformkloster gilt als eine „Geburtsstätte der europäischen Idee“1

inst war es die gewaltigste Kir- in den Himmel, wo im 12. Jahrhun- Und dennoch steht der Name die- che der Welt. Doch von der frü- dert der Glanz Gottes wohnte. Von ser heute eher ländlich-verschlafenen Eheren Größe zeugt im burgun- der größten Kirche der Christenheit Stadt für eines der einflussreichsten dischen Cluny nur noch wenig. Zu- – erst der Neubau des römischen Pe- religiösen Zentren des Mittelalters meist ragen nur Mauerstümpfe stumm tersdoms im 16. Jahrhundert sollte sie und für wichtige kirchliche Reformen. 1 Quelle des 1. Teils: Korrespondentenbe- überbieten – blieben lediglich weni- Vor 1.100 Jahren – im Jahr 910 – wur- richt von Christoph Strack im KNA- ge Bauteile und einsame Säulenfun- de das Benediktinerkloster gegründet. Basisdienst vom 13.04.2010) damente. Und schon seit dem vorigen Herbst bis

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 57 BLICK IN DIE GESCHICHTE

das herausragende nationale Gestüt. Dann noch eine postmoderne Fußgän- gerzone, ohne große Überraschungen – und trotzdem ist das alles irgendwie reizvoll. Vom immer noch gepflegten Bahnhof fährt schon seit Jahrzehn- ten kein Zug mehr ab. Stattdessen dient die Trasse heute Touristen als Radweg. Zum Jubiläumsjahr haben Regi- on und Land zudem Geld in die Hand genommen. Die seit den 1980er Jah- ren laufenden Restaurierungsarbeiten wurden intensiviert, allein 18 Milli- onen Euro flossen in die Pflege der zum Weltkulturerbe zählenden Abtei. Nebenbei bekam die Kunsthochschu- le, die sich in ihren Resten befindet, einige bemerkenswert moderne und doch stilvoll eingepasste Gebäude. Trotz aller Bemühungen kommen Jahr für Jahr nur gut 100.000 Besu- cher in die Ruine der Abtei. Nicht selten gehören zu den Tagesgästen Gruppen von – vielfach deutschen – Jugendlichen aus dem wenige Ki- lometer weiter nördlich gelegenen Abb. 1: Die Kirche der ehemaligen Benediktinerabtei Cluny Ill, 1088-1130. Taizé, das längst zu einer geistlichen oben: Grundriss, Gesamtlänge des Baus 187,31 m; eingerahmt, der heute Metropole der Moderne geworden ist noch erhaltene Teil des südl. Querschiffes mit Weihwasserturm. und damit an alte Wurzeln anknüpft. unten: Rekonstruktionsbild: fünfschiffiges Langhaus, doppeltes Querhaus, Auch die Brüder von Taizé sind im Chorumgang mit Kapellenkranz, dreischiffige Vorhalle, acht Türme. Laufe des Jahres mit einem Gebet am ( )Standort und Blickrichtung auf dem Foto Seite 59 Festjahr beteiligt. ( )südl. Querschiff mit Weihwasserturm Schon im vorigen Sommer gab es eine gemeinsame Esstafel quer durch Ende 2010 feiert die Kommune die- 1088 begann der Bau der gewal- die Stadt. Nun reihen sich Ausstellun- sen Jahrestag. „Im 10. Jahrhundert tigen Abteikirche (Abb. 1), die heu- gen und Gedenkaktionen in immer war Cluny eine der Geburtsstätten der tige Besucher anhand von Computer- dichter werdender Folge aneinander. europäischen Idee“, sagt Bürgermeis- simulationen immerhin wieder erah- Ende Juni steht ein sechstägiges „Fest ter Jean-Luc Delpeuch. 1.100 Jahre nen können. Denn was heute wie der der Erbauer“ an, im September folgen später könne die Kraft, die von hier immer noch großartige Vierungsturm fünf Tage „Ganz Europa in Cluny“. ausgegangen sei, Europa auf der Su- einer Kirche wirkt, war tatsächlich Bürgermeister Delpeuch hofft darauf, che nach Einheit wieder inspirieren. nur das südliche Querschiff des ge- dass die Feiern den Bewohnern der Seinen Ausgang nahm die Be- samten Gotteshauses s. (Abb. 2) . In Region „neuen Elan“ geben. Denn nediktinerabtei von Cluny im Sep- seinen Blütezeiten maß der Bau 187 es gehe eben nicht allein um einen tember 910 mit der Schenkung eines Meter – das entspricht der Länge von nostalgischen Rückblick. Gutshofs durch Herzog Wilhelm von mehr als anderthalb Fußballfeldern. Aquitanien an Abt Benno von Baume, Heute finden sich auf Teilen dieser Die Bedeutung von Cluny2 dem er damit die Gründung eines Re- Fläche Parkplätze oder Wohn- und n seinem lesenswerten, informa- formklosters ermöglichen wollte. Die Geschäftshäuser. Denn ab dem 15. Itiven Buch über Burgund widmet entstehende Abtei entwickelte sich Jahrhundert verblasste der Glanz von Hans Domke unter der Überschrift im Laufe von 200 Jahren zum geistli- Cluny, Ende des 18. Jahrhunderts er- „Das Imperium der Mönche“ der ehe- chen Zentrum der Christenheit. Cluny losch er. Die Abteikirche wurde in den maligen Benediktinerabtei mehrere stand für glanzvolle Zeiten von Archi- Wirren der Französischen Revolution Kapitel. Er meint: „Man darf wirklich tektur und Kunst, für geistliche Im- verkauft, über Jahrzehnte diente sie pulse, die auf ganz Europa ausstrahl- als Steinbruch. 2 Quelle Teil 2: Beitrag o. Verf. (ver- ten. Dieser „Hauptstadt eines Klos- Cluny heute – das ist eine Klein- mutlich Heinrich Havermann) aus terreichs“ unterstanden über 10.000 stadt im Stile französischer Dutzend- der Dokumentation „Wallfahrt in Frankreich. Leitungsseminar 1994 des Mönche in mehr als 1.200 Klöstern ware: Knapp 5.000 Einwohner, ein Laienapostolats in der Militärseelsorge“, auf dem gesamten Kontinent. Fast-Food-Restaurant, einige Cafés, in: AUFTRG 218/Juli 1995, S. 105-110.

58 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE sagen, dass hier, wo der geheiligte Bereich begann, und die Schritte zu- dringlicher Krämer oder Bettler an- hielten, das Herz von Burgund schlug. Für ein Zeitalter lang sogar das Herz des Abendlandes ...“.3 Nach dem Untergang des Karolin- gerreiches hatte sich im 10. Jahrhun- dert in seinem ehemals ostfränkischen Teil unter den sächsischen Kaisern die Zentralgewalt so festigen können, dass von außen drohende Gefahren abgewehrt werden konnten und eine straffe, Reformen wohl gesinnte Kir- chenherrschaft ausgeübt wurde. Die in der karolingischen Epoche sehr veräußerlichte und heruntergekom- mene Kirche bedurfte nämlich einer Umorientierung. Heinrich II., der letzte der Sach- senkaiser (1002-1024), zum Beispiel hielt enge Verbindungen zu den ver- schiedenen Mönchsorden, darunter auch zu den Cluniazensern. Er un- terstützte vor allem die strengen Re- formbewegungen, zu denen in seinem unmittelbaren Herrschaftsbereich vor allem die Gruppen der Benediktiner- klöster gehörten, die sich der asketi- schen Richtung des lothringischen Klosters von Gorze angeschlossen hatten und mit dieser Abtei eine Ge- betsgemeinschaft eingegangen waren, ohne dabei jedoch die eigene Selbst- ständigkeit bzw. die alten Beziehun- Abb. 2: Reste des ehemaligen Benediktinerkloster St-Pierre-et-St-Paul in gen zum Ortsbischof oder Stifter auf- Cluny. Blick durch die Reste des Eingangsportals der dritten Kirche auf den zugeben. 62 m hohen oktogonalen Turm des südl. Querschiffes (Tour de I‘Eau Bénite, In Frankreich, dem Westfranken Weihwasserturm). Nach Gründung im Jahr 910 bestand das Kloster 880 der Karolinger, waren in den Plünde- Jahre lang. 1790 wurde die Abtei aufgehoben und acht Jahre später wegen rungen heidnischer Scharen wie der der hohen Unterhaltskosten an ein Abbruchunternehmen verkauft. Bis auf die Normannen und Sarazenen, aber auch südlichen Querhäuser wurde die Anlage abgerissen. Erst 1913 begannen in den gewalttätigen Machtkämpfen Grabungen, denen die heutigen Kenntnisse über Cluny weitgehend zu einheimischer Adeliger die politi- verdanken sind. (PS) schen Ordnungen wie die klösterli- chen Zentren viel nachhaltiger getrof- sches Jagdhaus Cluny den Mönchen. denn viele Brüder und Neffen der fen worden als im ehemals ostfränki- Seinem Seelenheil zuliebe gab er die- streitbaren adeligen Herren wie der schen Reichsteil. Die Adelsschicht, ses Hauskloster frei und unterstellte machtbewussten Bischöfe gingen aus die dabei war Macht und Land an es direkt dem Papst. Der war weit weg Glaubenseifer und voller Tatendrang sich zu reißen, war zwar roh und un- und zu dieser Zeit ohne großen Ein- in dieses Kloster. Sie wollten in sei- geistig, aber fromm –zumindest aber- fluss. Von neuem war in einer chaoti- ner Mönchsgemeinschaft den pfingst- gläubisch. Die Herren mochten wohl schen Umwelt eine benediktinische lichen Urzustand der Kirche wieder- selber nicht beten, legten aber wert Zone geistlicher Freiheit geschaffen, finden, die gegenwärtige Verwirrung darauf, dass andere für ihr Seelenheil die zwar von den umliegenden riva- überwinden und den endzeitlichen beteten. So dachte gewiss auch Herzog lisierenden Adligen und den nicht Frieden vorwegnehmen. Einen Wan- Wilhelm von Aquitanien. Nachdem er minder habsüchtigen Ortsbischöfen del konnten sie nicht in ekstatischer die Klöster ringsum geplündert hatte, eifersüchtig beobachtet, aber letztlich Versenkung, sondern nur im Blick auf schenkte er um 910 sein bei Macon im nicht angetastet wurde. Dieses Klos- die leidenden Zeitgenossen bewirken. Tal der Grosne gelegenes burgundi- ter Cluny blieb nicht so selbstgenüg- Hans Domke hält die hier beginnen- 3 vgl. H. Domke, „Burgund“, 9. Aufl age, sam und weltfern wie es das auf dem de Reform von Cluny für eine säku- München 1991, S. 122. Monte Cassino einmal gewesen war; lare Größe, die in gewisser Weise bis

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 59 BLICK IN DIE GESCHICHTE heute andauere. Er sagt dazu weiter: sein, wenn die irdische Musik schon ebenso frommen wie mächtigen Ab- „… ‚Mystique‘ nennen die Franzosen so herrlich klingt“.6 tei. Die rasch wachsende Zahl der solche Erneuerungen gern, die eine Im Psalmodieren und Zelebrieren Mönche zwang zu ihrer Aussendung, Abkehr von der Verflachung des Le- ging für die Mönche der Tag dahin. keineswegs zur Mission unter den bens bewirken und aufs neue in die Keine halbe Stunde verblieb ihnen für Laien, sondern zur Gründung neuer Tiefe des Daseins loten. Aber das ein privates geistliches oder geselliges Töchterklöster. Nach hundert Jahren deutsche Wort Verinnerlichung, das Gespräch. In ihr Gebet schlossen sie waren es 65, im Spätmittelalter über unsere Nachbarn jenseits des Rhei- nicht nur die Stifter ein, auch nicht 1.000 Klöster, die dem Abt von Cluny nes so oft missfällt, trifft es weitaus nur alle Lebenden, sondern sogar alle unterstanden. besser. …“ 4 Verstorbenen. So war denn Cluny der Eine Eigentümlichkeit dieser Der adlige Eifer der Klosterinsas- Ort, von dem aus sich in der Kirche cluniazensischen Kongregation ver- sen wandte sich nun nicht, der Re- das Fest Allerseelen durchsetzte. Hil- langte, dass die Weihe sämtlicher Pro- gel des hl. Benedikt entsprechend, fe für die Umwelt, für Arme und Pil- fessen, wo immer sie ihr Noviziat ab- der groben Handarbeit zu, auch der ger, leistete die Abtei durch großzügi- leisteten, in Cluny stattfand. das war zielstrebigen Gelehrsamkeit nicht. Selbstverständlich blieben Schwei- gen, Arbeit und Gebet das benedikti- nische Ordensgut auch ihre wesentli- chen Lebensäußerungen. Doch Cluny brach mit dem Gleichgewicht von Meditation und Arbeit. An Stelle der inbrünstigen, kurzen Anrufung Got- tes, die der Abt von Monte Cassino empfohlen hatte, setzte die burgun- dische Abtei das Ideal einer Epoche, die an die Wirksamkeit langer Ge- meinschaftsgebete glaubte und ih- nen einen Wert an sich beimaß. Mit der Intensivierung des Chorgebetes, mit der Entfaltung der Liturgie wuchs der Wunsch nach Ausgestaltung des Chorgesangs, dem man seither große Aufmerksamkeit widmete. Das Psalm- odieren bekam sein eigenes Gewicht, Die Abtei von Cluny im Jubiläumsjahr während der „Gala Arts et Métiers die Zahl der Gottesdienste vermehrte Photographie“ (Foto: Patrick Giraud, aus www.wikipedia.org) sich, die Zeremonien wurden reicher. Von den Cluniazensern sind Sprü- ge Almosen und gastfreie Bewirtung. bei den Umständen des Reisens je- che überliefert, die ihre wieder ent- Seit 981 zogen die Mönche, die nicht ner Tage ein kostspieliges und ge- deckte Weltabgewandtheit begründen. missionieren mochten, die Laien in fährliches Unterfangen. Allerdings Zeitkritisch hatte schon ihr zweiter ihre Kirchen und bauten sie größer, erklärt diese Maßnahme vieles, das Abt Odo (926-942) mit einem Rück- als sie für die Mönchsgemeinschaft uns die sonst lockere Verbindung zwi- blick auf seine in der Welt den Un- hätten sein müssen. Laienbrüder sorg- schen den Klöstern der Kongregati- frieden stiftenden Adelsgenossen ten im Kloster selbst für den Unter- on nicht verstehen lässt. Die Weihe festgestellt: „Nicht die Natur hat die halt und nahmen dienend an den Ver- der Mönche gab dem Abt nicht nur Adeligen hervorgebracht, sondern die diensten der geistlichen Herren teil. die Gelegenheit, sämtliche priester- gewaltsame Aneignung der Macht.“ Reliquienkult und Heiligenverehrung lichen Angehörigen der Kongrega- 5 Odilo (994-1049), der fünfte Abt sprachen die Laien erst recht an und tion kennen zulernen und dadurch in Cluny, der 1014 an Heinrichs II. veranlassten sie zu Wallfahrten. Vom über den Zustand der Klöster infor- Kaiserkrönung in Rom teilnahmt klösterlichen Frieden angetan, ließen miert zu werden. Sie schuf auch bei schreibt: „Lasst uns dieses trügeri- sich viele Laien dazu bewegen, ihre dem Mönch das Bewusstsein, einer sche und hinfällige Leben fliehen adligen Fehden im „Gottesfrieden“ über die Ländergrenzen hinwegge- und zu jenem, das wahr und dauerhaft einzuschränken. Adliger Wirkungs- henden, weltumfassenden geistigen ist, sehnsüchtig eilen“. In der Musik wille war es wohl, der die Cluniazen- Macht anzugehören, deren Zentrum – erkannten die Mönche eine Vorah- ser bald veranlasste, auch verrottete Cluny – in Burgund für sie ein neues nung von der himmlischen Seligkeit: Klöster der Umgebung zu reformieren, Jerusalem oder Rom war. Ein solches „Wie gewaltig und betörend muss die und diese unterstellten sich gern der Bewusstsein hat gewiss dazu beigetra- Harmonie im himmlischen Vaterland gen, dass Außenstehende dem clunia- 6 vgl. A. Nitschke, „Frühe christliche Reiche“, in: WELTGESCHICHTE, Bd. zensischen Mönchstum eine außeror- 4 ebd. S. 125. V, hrsg. von G. Mann und A. Nitschke, dentliche Bedeutung zuerkannten. Da 5 ebd. S.159. Gütersloh 1979, S. 354 f. gab es eine Gemeinschaft überregio-

60 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BLICK IN DIE GESCHICHTE naler Prägung, deren Angehörige nach kein Tun, das auf eine indifferente 12. Jahrhundert hinein sind die Äbte Gesichtspunkten lebten, die sich dem Haltung zu den Problemen schließen von Cluny immer wieder persönlich in Einfluss politischer Macht entzogen. lassen dürfte. Er meint: „ vielmehr of- Spanien gewesen, um Klöster an der Die Freiheit von weltlicher wie bi- fenbart sich hier eine Fertigkeit, die Wallfahrtsstraße nach Santiago anzu- schöflicher Gewalt versetzte Cluny in fast alle frühen Äbte Clunys bekunden legen und so die Widerstandskraft der die Lage, sich eine eigene geistliche sollten. Sie haben sich stets viel mehr Spanier im Kampf mit einem kulturell Herrschaft zu schaffen, ein theokra- als Sachwalter ihres geistlichen Amtes hoch überlegenen Gegner zu stärken. tisches „Reich von Cluny“. Erstaun- gefühlt, statt in die Politik einzugrei- Umgekehrt kamen auch die Spa- lich lange entzog es sich dem Sog der fen, als es die Geschichtsschreibung nier nach Cluny. 1095 weihte der Bi- Verweltlichung, weil es große Äbte be- in Deutschland verzeichnet. Tatsäch- schof Dalmatius von Compostela in saß, wahre Heilige, aber auch starke lich war es so, dass jede cluniazen- der im Bau befindlichen großen St. Männer mit innerer Freiheit. Sie wa- sisch reformierte Abtei einen Hort des Peter und Paul-Kirche den Altar des ren schnell einflussreich geworden Friedens und der inneren Sauberkeit hl. Jakobus – ein höchst demonstrati- und wurden Berater der Mächtigs- darstellte, und es bleibt das histori- ver Akt. In Cluny war es, wo Papst Ca- ten, doch nutzten sie ihre Macht nur sche Verdienst der Äbte von Cluny, lixtus II. (1119-1124) die erzbischöf- für den Frieden auf Erden, damit das dem Okzident ein neues Wertbewusst- liche Würde dem Wiederhersteller der Reich Christi komme sein geschenkt zu haben...“8 Kathedrale von Compostela, dem Bi- Die Bedeutung der Abtei von Unter dem zweiten der großen schof Diego Gelmirez verlieh. Pierre Cluny war vor allem auch eine Folge Äbte entstand in Europa eine Bewe- de Roda, Bischof Pamplona, der eine des energischen Wirkens ihrer Äbte. gung, die noch immer lebendig ist: der neuen Kapellen des Chorumgangs Aus der Reihe dieser Äbte ragen der die Wallfahrtsbewegung zum Grab der neuen Kathedrale von Santiago vierte, fünfte und sechste hervor. 150 des Apostels Jakob nach Compostela. de Compostela geweiht hatte, musste Jahre lang wurde die Entwicklung der Ausgerechnet an Abt Odilo richteten nach Cluny kommen, um dort die St Abtei allein von diesen drei Männern die kastilischen Könige einen Hilfe- Gabrielskapelle zu weihen. Die Be- gelenkt: ruf. Das besondere Anliegen dieses ziehungen über die Pyrenäen hinweg – Majolus (954-994), eine glänzen- von Gestalt kleinen, aber von seiner waren rege. Die von den schwarzen de Erscheinung, ein guter Kan- Wirkung her großen Mannes wurde Mönchen damals organisierte und be- zelredner, gewandt im Umgang dann die Befreiung Spaniens vom treute Wallfahrtsstraße hat uns eine mit Fürsten wie Päpsten und als Islam. Von 1024 an trieb Cluny die der schönsten Hinterlassenschaften Berater selbst im Kaiserhaus ge- Reorganisation des Klosters von San der romanischen Epoche beschert – schätzt; Juan de la Pefia in Aragonien. Bald die zahlreichen Wallfahrts- und An- –Od ilo (994-1048), ein fruchtba- dehnte Odilo die Reformtätigkeit auf dachtskirchen, die mit ihren üppig rer Schriftsteller, Staatsmann und Bitten König Sanchez des Großen, gestalteten Portalen, regelrechten Friedensstifter; Ferdinand I. und Alphons VI. auf Na- Schauwänden, noch heute einem Pil- – Hugo (1048-1109) – Stütze der varra, Kastilien und Leon aus. Bis ins ger die Herrlichkeit Gottes, die Sünd- Päpste im Investiturstreit, Pate haftigkeit der Welt und den Wert der Kaiser Heinrichs IV. und Vermitt- 8 vgl. H. Domke, a.a.O. S.161. Überwindung einprägen sollen. ❏ ler von Canossa, der große Bau- herr und Repräsentant der glän- zendsten Epoche Clunys. Der Historiker Gerd Tellenbach schreibt über diese Äbte: „In ihrer Kurznachrichten Zeit kommt es für die kirchliche Ent- wicklung darauf an, dass die Ideale strenger christlicher Lebensführung, Großflughafen mit Kapelle der Hingabe an den Sakramenten dienst, die Achtung vor den kirchli- er neue Großflughafen Berlin Brandenburg International (BBI) er- chen Ordnungen, des betenden Ein- Dhält nun doch eine christliche Kapelle. Nach anfänglicher Ableh- stehens des Christen für seine Mit- nung entspreche das Flughafen-Management nun dem Wunsch der bei- christen in weiten Kreisen durch- den großen Kirchen, bestätigte der Leiter des Katholischen Büros Berlin- dringen. Und dieses ist es, worin die Brandenburg, Tobias Przytarski, am Mittwoch auf Anfrage. Beide Seiten Cluniazenser vorangingen.“ 7 Hans bereiteten nun eine Ausschreibung vor. Die Kapelle soll bis zur Flugha- Domke sieht in der diplomatischen feneröffnung Ende 2011 fertig gestellt werden. Aktivität der Äbte von Cluny, vor al- Das BBI-Management wollte zunächst nur einen allgemeinen „Raum lem in der Vermittlertätigkeit Hugos der Stille“. Es sah dafür 120 Quadratmeter in „exklusiver Lage“ im Ter- zwischen Heinrich IV. und Gregor VII. minal auf Ebene 2 vor. Die Kirchen beharrten jedoch auf einer Kapelle. Die vorgesehene Fläche soll nun für einen „Raum der Stille“ und einen 7 zit. bei R. Vocke, „Cluny und Gorze unverkennbar christlichen Andachtsraum geteilt werden. Eine ähnliche und ihre Reformen“ in: DEUTSCHE Lösung gibt es auch im Münchner Flughafen. (KNA) GESCHICHTE, Bd. I, Teil 11, hrsg. von H. Pleticha, Gütersloh 1983, S. 80.

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 61 KIRCHE UNTER SOLDATEN

Kirche unter Soldaten / Personalia: der Militär-Kathedrale bestattet. Die Totenmesse feier- ten der Apostolische Nuntius in Polen, Erzbischof Jo- zef Kowalczyk, der polnische Primas, Erzbischof Hen- Tragischer Verlust der Polnischen ryk Muszynski, sowie die Erzbischöfe Kazimierz Nycz (Warschau) und Slawoj Leszek Glodz (Danzig), der Plos- Militärseelsorge kis Vorgänger als Militärbischof war. Mirons letzte Ru- hestätte ist ein orthodoxes Kloster im Nordosten Polens. ie Katholische Militär- (PS nach: KMBA u. Feldordinariat Warschau) Dseelsorge in Deutsch- land zeigt sich tief betrof- fen von dem Flugzeugab- sturz am 10.April in Smo- Kurzporträt: lensk, bei der mit dem pol- nischen Präsidenten Lech Hanna-Renate Laurien Kaczynski zahlreiche füh- rende Persönlichkeiten m April 1996 bei der 36. ums Leben gekommen sind. IWoche der Begegnung auf Unter den Opfern befand Schloss Hirschberg hatte sich der 2004 von Papst Hanna-Renate Laurin vor Johannes Paul II. zum Ka- der Bundeskonferenz der tholischen Militärbischof in Polen ernannte Gene- GKS einen beachteten Vor- ralmajor Prof. Dr. Tadeusz Ploski (54). Dieser war, trag zum Thema „Gegen die seit er im Jahr 1992 nach Warschau zum Feldordinariat Gleichgültigkeit und Unsi- delegiert wurde, in besonderer Weise mit der deutschen cherheit der Christen“ ge- Militärseelsorge verbunden und durch zahlreiche Be- halten. Am 12. März starb suche auch mit vielen Militärpfarrern vertraut. Ein be- die gebürtige Danzigerin, sonderer Höhepunkt in den guten Beziehungen war die engagierte Katholikin und alljährliche Wallfahrt der erfolgreiche Politiker mit 81 polnischen Soldaten nach Jahren in Berlin. Mit ihr ver- Tschenstochau, an der im- abschiedet sich auch eine besondere Repräsentantin der mer auch Soldaten der Bun- Liaison von Glauben und Politik, die für die alte Bundes- deswehr teilnahmen. republik charakteristisch gewesen ist. Wegen ihrer Durch- Zusammen mit dem setzungskraft und ihres Auftretens wurde ihr der Spitz- polnischen Militärbischof name „Hanna-Granate“ zuteil. Sie brauchte keine Frau- fand auch sein Sekretär enquote und keinen katholischen Arbeitskreis, um sich und Vize-Kanzler der mili- in ihrer Partei der CDU oder in ihrer Kirche Gehör und tärbischöflichen Kurie, der Einfluss zu verschaffen. Die Hauptstadt war lange auch Militärgeistliche Oberst- ihre politische Wirkungsstätte. In der geteilten Stadt war leutnant Jan Kazimierz sie Schulsenatorin, zuvor hatte Helmut Kohl (CDU) sie in Osinski , den Tod. die Politik geholt. Unter Bernhard Vogel (CDU) wurde sie Weiterhin verstarben Ministerin in Rheinland-Pfalz. Ein „krönender Schluss- bei der Flugzeugkatastrophe der Erzbischof der Pol- stein“ war 1991 ihre Wahl zur Präsidentin des Berliner nisch-Orthodoxen Kirche Miron Chodakowski , der Abgeordnetenhauses. Regierende Bürgermeisterin ist sie zugleich das Amt des orthodoxen Militärbischofs trotz vielfältiger Unterstützung nie geworden. wahrnahm, und der Evangelisch-lutherische Militär- Die gelernte Lehrerin, die mit 24 Jahren zum Katholi- pfarrer Adam Pilch. zismus konvertierte, lebte unverheiratet und hatte das Ge- Polen nahm einen Tag nach dem Begräbnis sei- lübde der Ganzhingabe abgelegt. Sie war 36 Jahre lang von nes Präsidentenpaares am 1967 bis 2004 Mitglied im Zentralkomitee der deutschen 19. April Abschied von Katholiken. Von 1975 bis 1997 leitete sie die Kulturpoli- den beiden Militärbischö- tischen Kommissionen des ZdK. Zum Erfolg der Würzbur- fen Tadeusz Plosk und Mi- ger Synode hat sie als deren Vizepräsidentin maßgeblich ron Chodakowski. Vertei- beigetragen. (KNA/PS; Foto: F. Brockmeier) digungsminister Bogdan Kilch verlieh beiden Geist- osef Rommerskirchen, langjähriger CDU-Bundestagsab- lichen bei getrennten Trau- Jgeordneter und Mitbegründer des Bundes der Deutschen erfeiern in Warschau post- Katholischen Jugend (BDKJ), ist am 16. März im Alter von hum militärische Orden, 94 Jahren gestorben. Rommerskirchen, der von 1937 bis die er Familienangehörigen 1945 als Soldat in der Wehrmacht gedient hatte, zuletzt übergab. Ploski und Osin- als Major, wurde im März 1947 unmittelbar nach seiner ski wurden in der Krypta Entlassung aus französischer Kriegsgefangenschaft zum

62 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 KIRCHE UNTER SOLDATEN ersten Bundesführer des BDKJ gewählt. Dieses Amt hatte Obmann der FDP im Verteidigungsausschuss und damit er bis 1952 inne. In dieser Funktion setze sich Rommer- auch Chefaufklärer der Liberalen bei den parlamentari- skirchen ein für eine engagierte Mitgestaltung beim Auf- schen Untersuchungen zur Kundus-Affäre. Er ist der elfte bau der freiheitlichen Demokratie aus christlichem Geist Wehrbeauftragte. Noch vor seiner Wahl hatte Königshaus gerade auch durch die katholisch Jugend. Hierzu gehörte bemängelt, dass die Politik die Soldaten bislang „mög- auch die Befürwortung der Wiederbewaffnung Deutsch- licherweise nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit lands in den 1950er Jahren unter der Voraussetzung, dass betrachtet“ habe. Im ZDF-Morgenmagazin bezeichnete die Verteidigung der Freiheit in europäischer Solidarität er das neue Amt als „Hilfsorgan des Parlaments“; es sei zur Wahrung der Menschenrechte und unter Beachtung der nicht dessen Vormund. „Der Wehrbeauftragte wird das Sittlichkeit nach Gottes Gebot zur Pflicht erhoben werde umsetzen und bearbeiten, was die Politik, was das Parla- („Elmstein-Erklärung des ment vorgibt.“ Deshalb könne er auch nicht sagen, ob die Deutschen Bundesjugend- Wehrpflicht in seiner Amtszeit abgeschafft werde. ringes vom 24.04.1952). - Unter Bezug auf eine Äußerung von Bundespräsi- Die GKS hat diese Ausein- dent Horst Köhler sprach Königshaus zudem von einem andersetzung um die Legiti- „freundlichen Desinteresse an der Bundeswehr“ in der mation von Streitkräften und Gesellschaft. Die Soldaten bräuchten aber das Gefühl, des Soldatenberufes, wie sie dass sie auch Anerkennung finden. Königshaus ist Ober- von katholischen Politikern leutnant der Reserve; sein Vorgänger hatte den Wehrdienst wie Rommerskirchen u.a. verweigert und war der erste Beauftragte, der Zivildienst bereits in den 50er Jahren geleistet hatte. Vor der Wahl hatte Bundestagspräsident im BDKJ aufgegriffen wur- Robbe unter dem Applaus des ganzen de, bis zum heutigen Tag Hauses für seine Arbeit gedankt. Er habe einen wesentli- fortgesetzt. (PS) chen Beitrag zur parlamentarischen Kontrolle der Bundes- wehr als Parlamentsarmee geleistet. Robbe sei wichtiger euer belgischer Militärbischof: Andre-Joseph Leo- Ansprechpartner für den Bundestag und ganz besonders Nnard wurde am 27. Februar in sein Amt als neuer Erz- für die Soldatinnen und Soldaten gewesen. bischof der mit 1,6 Millionen Katholiken größten und der (PS nach KNA; Foto: wikipedia, common use) einzigen zweisprachigen Diözese, dem belgischen Haupt- stadt-Erzbistum Mechelen-Brüssel, eingeführt und am sel- ben Tag auch zum Militärbischof ernannt. Der 70-Jährige ist in beiden Ämtern Nachfolger von Kardinal Godfried Danneels (76) und hat im April auch dessen Aufgabe als Kurznachrichten Vorsitzender der Belgischen Bischofskonferenz übernom- men. (KNA-ID 13-14) In der Kirche bleiben Königshaus neuer und den Mund aufmachen

Wehrbeauftragter atholiken sollten nach Überzeugung der TV- KJournalistin Maria von Welser (63) trotz der des Bundestages Fälle sexuellen Missbrauchs ihre Kirche nicht verlassen. „Gerade in schwierigen Zeiten sollte er FDP-Abgeordnete man an Bord bleiben“, sagte die Direktorin des DHellmut Königshaus NDR-Landesfunkhauses Hamburg am Freitag,den (59) ist neuer Wehrbeauf- 07.05. auf Anfrage in Hamburg. tragtert des Bundestages. Die Missbrauchsfälle seien schrecklich, be- Das Parlament wählte am tonte sie. Aber sie habe kein Verständnis, wenn 25.2 März den gebürtigen Menschen jetzt der Kirche den Rücken kehrten. Berliner mit 375 von 579 Entweder hätten sie dies schon länger vor und abgegebenen Stimmen zum Nachfolger des Sozialdemokra- nutzen die Missbrauchsfälle als Vorwand, „oder ten Reinhold Robbe (55); erforderlich waren 312 Stimmen. aber sie sind keine Kämpfer“. Gerade jetzt müsse Schon im Vorfeld hatte die SPD-Fraktion signalisiert, dass man dabei bleiben, „den Mund aufmachen“ und es auch aus ihren Reihen Unterstützung für Königshaus klar und deutlich zum Beispiel für den Wegfall geben werde. Das Katholische Militärbischofsamt sprach des Zölibats und die Zulassung von Frauen zum von einer „guten Entscheidung“; der Jurist und frühere Of- Priesteramt eintreten. Sie selbst denke nicht im fizier habe ein Ohr für die Anliegen der Militärseelsorge. Entferntesten daran, die katholische Kirche zu ver- Der Liberale scheidet mit der jetzigen Wahl aus dem lassen. Von Welser trat 2000 vom evangelischen Parlament, dem er seit 2004 angehörte. Königshaus hat zum katholischen Glauben über. (KNA) sich vor allem als Mitglied mehrerer Untersuchungsaus- schüsse profiliert. Seit der letzten Bundestagswahl ist er

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 63 AUS BEREICHEN, STANDORTEN UND GKS

Bereich Süd erwachsene Christen zu ermöglichen. Jugendliche und Er- Dekanatsarbeitskonferenz I/2010 wachsene empfangen bei der Firmung die sieben Gaben des Hl. Geistes, wie die Apostel zu Pfingsten in Jerusalem. In der katholischen Kirche ist sie die Vollendung der Tau- ie Dekanatsarbeitskonferenz (DAK) I/2010 des Ka- fe und bildet zusammen mit der Taufe und der Euchari- Dtholischen Militärdekanats München, Dienstaufsicht- stie die „drei Sakramente der christlichen Initiation. Die bezirk Bayern und Baden-Württemberg, fand vom 26.03. Eucharistie lässt sich in Worten weder beschreiben noch bis 28.03.2010 im Kolping-Familienhotel in Lambach erklären. Alle Worte sind „Stückwerk“. Am ehesten nä- statt. Der Lamer Winkel ist eine Region im nördlichen hern sich die Worte „Quelle und Höhepunkt des ganzen Bayerischen Wald zwischen den Bergen Hoher Bogen, christlichen Lebens“ diesem „Geheimnis des Glaubens“. Osser, Arber und Kaitersberg; politisch gehört dieses Ge- Pfarrer Winner schilderte dies aus reicher Erfahrung biet zum Landkreis Cham und befindet sich im Regie- als Seelsorger sehr eindrucksvoll und für die Delegierten rungsbezirk Oberpfalz. Dieses ehemals abgeschiedene auch nachvollziehbar. Er ging auch darauf ein dass es zur- Tal gehört zu den landschaftlich schönsten im gesam- zeit in einigen Bistümern eine Debatte gebe um das Alter ten Bayerischen Wald und wurde in den letzten Jahr- für die Spendung des jeweiligen Sakraments. Die lebhafte zehnten touristisch stark erschlossen. Im Lamer Win- Diskussion zeigte, dass mit dem Thema das Interesse vie- ler geweckt wurde. Danach tagen die Pfarrgemeinderäte zu Fragestellungen aus dem Vorstand KR für die 50. Wo- che der Begegnung und wählen hierzu ihre Delegierten. Die Delegierten der GKS tagten ebenfalls: Der Bereichsvorsitzende der GKS Süd, OStFw Peter Strauß eröffnete die Konferenz und begrüßte MD Bartmann und Frau PR´in Reusch. Weiter begrüßte er die GKS Kreis- vorsitzenden Freyung und den designierten Nachfolger für den Kreis München, namentlich HptFw Walter Söldner und HptFw Franz-Xaver Kreuzer, die zum ersten Mal an der Bereichskonferenz teilnahmen. Ganz besonders begrüßte er Oberstlt. Christoph Auer, der neben seinen vielfälti- Gemeinsam auf dem Weg von der Palmbuschweihe zur gen Aufgaben in der GKS den Weg nach Lambach antrat, Hauskapelle und dem Gottesdienst. Bei den Zelebranten um in seiner Funktion als Vorsitzender der Arbeitsgrup- rechts im Bild Msgr. Reinhold Bartmann, Leitender pe „Neue Ordnung“ den Anwesenden Hintergründe, Zu- Katholischer Militärdekan Bereich Süd. sammenhänge und Abhängigkeiten des hier vorliegenden Entwurfes zu erläutern. kel liegen die Gemeinden Lohberg, Lam und Arrach, MD Bartmann gab zu verstehen, dass die GKS ein Ver- die zusammen eine attraktive Urlaubsregion bilden, die band sei, der mit der Militärseelsorge harmoniere. Danach sich besonders bei Familien großer Beliebtheit erfreut. benannte er Frau PR´in. Reusch zum geistlichen Beirat MD Msgr Reinhold Bartmann begrüßte alle TeilnehmerIn- der GKS Süd. MD Bartmann dankte den Tagungsteilneh- nen und ihre Familien sowie die Kinderbetreuung zur DAK mern für Ihre Bemühungen um die GKS und Ihr Engage- I/2010. Zusammen mit den Delegierten begrüßte er auch ment in der Militärseelsorge, besonders aber bei dem Be- alle Mandatsträger und besonders den Referenten Pfarrer reichsvorsitzenden OStFw Strauß für seine durchdachte Norbert Winner, Neumarkt/Opf. Arbeit zum Wohle der GKS. Danach erfolgten im Plenum Pfarrer Winner referierte zum Thema: „Sakramente Kurzberichte aus den Diözesanräten und dem Landesko- – Zeichen des Lebens unter der besonderen Berücksich- mitee der Katholiken Bayerns. MD Bartmann bat alle Ver- tigung der Initiationssakramente“ (Taufe-Eucharistie- treter in diesen Gremien bei den Zusammenkünften aktiv Firmung). die Anliegen der Soldaten und deren Familien zu vertre- Die Taufe gehört mit der Firmung und der Euchari- ten, um so auch in diesen Ausschüssen ein Bewusstsein stie zu den Initiationssakramenten. D.h. durch die Taufe, für die Situation (Sorgen / Nöte) der Soldaten zu wecken. dem Eingangstor der Kirche, wird der Getaufte in die Ge- Der Palmsonntag begann mit der Palmbüschelwei- meinschaft der Kirche aufgenommen, er wird Glied des he und der anschließenden Prozession zur Hauskapelle Leibes Christi. Die Taufe geschieht durch Untertauchen (siehe Bild). Dort wurde der feierliche Gottesdienst, ge- oder durch Übergießen mit Wasser auf den Namen des meinsam vom Hausgeistlichen mit MD Bartmann und MD Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes. Durch die Sal- Hutter zelebriert. bung mit geweihtem Chrisam tragen sie den Namen Jesu Am Ende des Gottesdienstes dankte MD Bartmann Christi = Christen. den Teilnehmern und besonders seinen Mit-Zelebranten. Beim Sakrament der Firmung geht es um mehr, als ein Beim darauf folgenden Empfang sprach er seinen Dank äußerliches Fest in die Gemeinschaft der katholischen Kir- denjenigen aus, die für einen reibungslosen Ablauf dieser che. Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen spielt in DAK gesorgt hatten. Ebenso bedankte sich MD Bartmann jeder Kultur und Religion eine große Rolle. Daher sollen bei allen, die sich während dieser Tage „am Rande“ enga- bei der Vorbereitung zur Firmung Glaube, Hoffnung und giert haben. Dies gilt besonders für die Kinderbetreuung. Liebe besser erkannt werden, um ein geglücktes Leben als (Text: Georg-Peter Schneeberger, Bild: Herbert Krauß)

64 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 AUS BEREICHEN, STANDORTEN UND GKS

Bereich West Die in der Diskussion erörterten Grundlagen fanden sich im Grundsatzpapier zum Selbstverständnis der Dekanats- Dekanatsarbeitskonferenz arbeitskonferenz wieder, das einstimmig verabschiedet wurde und als Aufgabenbeschreibung zukünftiger Kon- in Vallendar ferenzen gelten soll. Nicht nur die Delegierten, auch die Familienange- om 5. bis 7. März 2010 führte das Militärdekanat hörigen nutzten den Samstag, um sich inhaltlich mit ver- VMainz seine erste Dekanatsarbeitskonferenz durch. schiedenen Themen, entlang des Mottos „Gottes Schöpfung Wie bereits in den vergangenen Jahren, wurde diese im bewahren – damit alle leben können“ zu beschäftigen. So Frühjahr stattfindende Arbeitskonferenz als Familienwo- fertigen die Kinder beispielsweise afrikanische Fußbälle chenende gestaltet. Mehr als 30 Vertreter der einzelnen aus Papier und Schnur um dabei festzustellen, dass man Mitarbeiterkreise, der Pfarrgemeinderäte und der Kreise auch mit einfachen Dingen zufrieden und glücklich sein der Gemeinschaft Katholischer Soldaten aus den zugeord- kann. Auch der abschließende Gottesdienst am Sonntag neten Standorten des Militärdekanats Mainz hatten sich, wurde unter diesem Motto von allen Teilnehmern gestal- größtenteils mit Familie, in der Bildungsstätte Marienland tet und bildete einen stimmungsvollen Abschluss des des Schönstatt Ordens in Vallendar eingefunden. Wochenendes. Wurde der Freitagabend hauptsächlich zum gegensei- (Text und Foto: Andreas Quirin) tigen kennen lernen und wenigen organisatorischen Dingen genutzt, so stand der Samstag im Zeichen der inhaltlichen Arbeit. Neben dem Bericht des Leitenden Militärdekans, Msgr. Rainer Schnettker zur Lage der Militärseelsorge im Militärdekanat Mainz und der Aussprache dazu, standen Militärpfarramt Bonn die Berichte aus dem Katholikenrat und der Bericht des Vorsitzenden West der Gemeinschaft Katholischer Sol- Familienwochenende daten, Oberstleutnant Albert Hecht, auf der Agenda. Die Wahl der Delegierten für die Woche der Begegnung run- in Lennestadt dete das Programm des Vormittags ab. Ein Highlight erwartete die Teilnehmer am Nachmit- ür das Wochenende 16. bis 18. April 2010 hatte das tag. Mit Schwester Irmgard aus dem Katholischen Mili- FKatholische Militärpfarramt Bonn zu einem Familien- tärbischofsamt stand eine Kennerin der Laienarbeit in der wochenende im „Landhotel Klaukenhof“ in Lennestadt- Kirche unter Soldaten als Referentin zum Thema „Das Burbecke eingeladen. Bei gutem Wetter begaben sich 40 Selbstverständnis der Dekanatsarbeitskonferenz – Enga- Teilnehmer in das Sauerland, um sich dort mit Hilfe der gement und Mitarbeit des katholischen Laienapostolates Diplomsozialpädagogin Martina Müller (Katholische Ar- in der Militärseelsorge“ zur Verfügung. Mit ihren Erfah- beitsgemeinschaft für Soldatenbetreuung) mit dem Thema rungen als langjährige Vorsitzende eines zivilen Pfarrge- „Eltern – Kind – Beziehungen in berufsbedingten Abwe- senheitszeiten“ zu beschäftigen. Die Familien und deren Angehörigen sollten sich auf berufsbedingte Abwesenhei- ten vorbereiten, denn sehr schnell wurde allen Beteiligten klar, dass die Begriffe Wochenendpendler und Ausland- seinsätze nicht nur Schlagworte sind, sondern jeden von ihnen treffen könnten. Im Rahmen der Arbeitseinheiten galt es Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten, um damit in- nerhalb der Familie als Lebensgemeinschaft umzugehen und die Abwesenheit eines Elternteiles für die Kinder zu erleichtern. Am Samstagnachmittag ging es mit einem Planwagen durch das Sauerland und bei Kaffe und Kuchen konnte man die am Vormittag erarbeiteten Lösungsansätze vertiefen und diskutieren. Für die Kinder wurde eine Waldbauern- Bei den Beratungen v.l.n.r.: MilPfr Stephan van gaudi durchgeführt, bei der jeder unter Spaß und Freud, Dongen, MD Msgr Rainer Schnettker, OTL Ralf Richard, begleitet von viel Sonnenschein, seine Geschicklichkeit Schwester Irmgard, OSF Joachim Lensch, Frau Tanja unter Beweis stellen konnte. Am Abend wurde gemeinsam Limmer eine Eucharistiefeier in der Burbecker Kappelle gefeiert. Auch der Sonntag ließ keine Wünsche offen. Nach meinderates konnte sie die Zuhörer davon überzeugen, dem Frühstück stand ein Wortgottesdienst an und eine dass es sich lohnt, trotz mancher Niederlage und Enttäu- abschließende Arbeitseinheit rundete dieses schöne Wo- schung in der Militärseelsorge mitzuarbeiten. Angeregt chenende ab. Alle Teilnehmer waren sich einig: Das Land- durch diesen Vortrag konnten in der Diskussion zahlrei- hotel „Klaukenhof“ sowie das interessante Programm ha- che Grundsätze für eine gedeihliche Zusammenarbeit ben Appetit auf mehr gemacht. zwischen Laien und Hauptamtlichen aufgezeigt werden. (Text: Andreas Preuss)

AUFTRAG 278 • JUNI 2010 65 BUCHBESPRECHUNGEN

Buchbesprechung: Kreuzzug gegen das Reich des Mahdi mit einem Vorwort des Übersetzers Georg Brunold

as 2008 im Eichborn Verlag he- di und die militärische Lage am Nil, gegenüber dem geschlagenen Gegner Drausgegebene Buch „Kreuzzug bevor er die Vorbereitungen und den hat ermangeln lassen. Diese Einschät- gegen das Reich des Mahdi“ ist eine Feldzug der britischen Armee unter zung teilte der junge Churchill schon Neuauflage des 1899 erschienenen, Lord Horatio Kitchener zur Wieder- in der Originalausgabe seinen Lesern zweiten Buches von Winston Spencer eroberung des Sudan schildert. Nach mit, die Zeitgenossen konnten aber Churchill (*30.11.1874, †24.01.1965, Ende der Schlachtenschilderungen dieser Entstehung des politischen Is- britischer Premierminister von lam nicht die Sprengkraft Mai 1940 bis Juli 1945 und von zuordnen, die jene Bewe- Oktober 1951 bis April 1955), gung hundert Jahre später welches den britisch-ägypti- bekommen sollte. Ob es schen Feldzug beschreibt, in daran lag, dass die christ- dem der Sudan unter britische liche Welt damals wesent- Kontrolle gebracht wurde. Vor- lich geschlossener auftrat geschaltet ist dem Buch ein Ka- und im alltäglichen Leben pitel des Übersetzers und Edi- deutlich präsenter war, als tors Georg Brunold, der sich zur heutigen, oberfläch- der Mühe unterzog, nicht nur lichen Welt? Der junge die Originalausgabe zu über- Churchill schrieb dieses setzen sondern auch die spä- sehr interessant und durch ter gekürzten und von Chur- seine politische Bedeu- chill selbst autorisierten Fas- tung zeitlose Werk nicht sungen zu vergleichen, um am nur, um seinen Lebensun- Ende dem deutschen Leser ein terhalt zu erdienen, son- Werk auf dem neuesten Stand dern er legte damit auch zugänglich zu machen. Von den eine Grundlage für sei- ursprünglich über 30 Karten ne später dann einsetzen- hat der Editor diejenigen bei- de politische Karriere, in behalten, die zum Verständnis der er der britischen Kro- unbedingt notwendig sind und ne in vielfältigen Positi- um die Schreibweise der betei- onen diente. Deshalb ist ligten Einheiten und der Stäm- es empfehlenswert, sich me zu vereinheitlichen. mit der Person Winston S. In seinem ausführlichen Churchill vor der Lektü- Vorwort geht Georg Brunold auf re dieses Buches vertraut die Person des jungen Chur- zu machen. Dabei sollte chills ein (er war bei Erscheinen man sich aber immer be- der Originalausgabe 23 Jahre wusst bleiben, dass diese alt) und erklärt aus dem Ge- Beschreibung des Feld- schehen gegen Ende des 19. zuges im Tal des Nils von Jahrhunderts die Entstehung einem jungen Offizier ge- des politischen Islam. Diese schrieben wurde, der alle Tatsache wird von Churchill Beziehungen nutzte, um zwar selbst in der Originalaus- überhaupt daran teilzu- gabe geschildert aber von der moder- geht der junge Churchill dazu über, nehmen. Fazit: ein interessantes, gut nen Gesellschaft erst später entdeckt aus der Sicht des „zur Wahrheit ver- lesbares Buch, das sehr empfehlens- werden. pflichteten Historikers“ die positiven wert ist. In seinem Originalbuch, das die- aber auch die negativen Seiten des (Bertram Bastian) ser Übersetzung zugrunde liegt, („The Feldzuges zu schildern. Scharf fällt River War. A Historical Account of the dazu ins Auge, dass er die Schändung Winston S. Churchill, Kreuzzug Reconquest of the Soudan“) beginnt des Grabmals des Mahdi als unver- gegen das Reich des Mahdi, Churchill mit allgemeinen Bemerkun- zeihlichen Fehler ansieht (entgegen ISBN 978-3-4996-1354-8, gen über die Entstehung dieses Auf- der Meinung seiner Zeitgenossen), da Eichborn Verlag, standes unter der Führung des Mah- es der britische Feldherr an Achtung 3. Ausgabe 2009

66 AUFTRAG 278 • JUNI 2010 BUCHBESPRECHUNGEN

Buchbesprechung: Winston Churchill Sebastian Haffner über den bedeutendsten Briten des 20. Jahrhunderts

inston Spencer Churchill zuz kritisieren. Davon ist auch Wist den meisten Deutschen in dem Buch „Kreuzzug gegen als der Mann bekannt, der Adolf das Reich des Mahdi“ die Rede. Hitler und dem Nationalsozialis- AberA Haffner geht weiter, schil- mus die Stirn geboten hat und dert die Laufbahn des Winston ihn besiegte, aber danach sofort Churchill, der ohne Bedenken von der britischen Bevölkerung vvon dem einen politischen La- abgewählt wurde. Mit Erstaunen ger ins andere wechselte, ohne nimmt man dann zur Kenntnis, seine Überzeugung, dem Land dass dieser Mann schon im ers- zzu dienen, zu opfern. ten Weltkrieg als Marineminister Diese kleine Biographie von gegen die Deutschen gekämpft Churchill hebt sich wohltuend hatte. War W. Churchill deshalb ab von den großen, umfangrei- ein Deutschenhasser? chen Werken, die über diesen Über diesen bedeutendsten bedeutendenb Staatsmann ge- Briten des 20. Jahrhunderts (Er- schrieben wurden. Leicht und gebnis einer Umfrage der briti- verständlichv geschrieben, schil- schen Tageszeitungen) schrieb dert sie den Premierminister, der Sebastian Haffner (renom- der in den 50er Jahren wieder mierter Publizist und Histori- VerantwortungV für Großbritan- ker, *27.12.1907 in Berlin, † nienn trug, als einen Mann von 02.01.1999 ebd.) in seiner be- nebenan,n mit seinen Stärken und kannten und lesenswerten Art Schwächen, mit seinen Zielen dieses kleine Büchlein, um die- undu auch mit dem Scheitern sei- sen Ausnahmepolitiker dem Pu- nern Ziele. Für das Verständnis blikum vorzustellen. Dabei trifft ffür seine jungen Werke ist die- man im Sohn des Lords Chur- ses kleine Büchlein fast eine chill auf einen Menschen, der Voraussetzung.V Gerade wenn in jungen Jahren schon gegen mman danach erkennen muss, jede Art der Bevormundung auftrat stehen. Seine Erfahrungen schrieb wie weitblickend Winston Churchill (sehr zum Leidwesen seiner Lehrer, er nieder, einmal um seinen Lebens- schon Ende des 19. Jahrhunderts die die damals alle Arten von Sanktionen unterhalt zu verdienen und zum an- Entstehung des politisch radikalen Is- gegen den jungen Rebellen verhäng- dern, um sich einem breiten Publikum lam geschildert hat. ten), der unter der Art seines Vaters bekannt zu machen, damit er dann (Bertram Bastian) litt, und um sich selbst zu beweisen, leichter in die Politik steigen konn- die Herausforderungen suchte. Ohne te. Denn das war sein erklärtes Ziel Sebastian Haffner, Scheu setzte der junge Churchill die schon in jungen Jahren. So nahm er Winston Churchill, Beziehungen seiner früh verwitweten als junger Leutnant an den Kriegszü- ISBN 978-3-499-61354-8, Mutter ein, um immer an den Brenn- gen des Lord Kitcheners teil, um die- Rowohlt Taschenbuch Verlag, punkten des damaligen Empire zu se danach politisch und militärisch 5. Auflage 2008

Redaktionsschluss für AUFTRAG 279 Freitag, 25. Juni 2010

AUFTRAGAUFTRAG278 278 • JJUNIUNI 2010 67 Impressum AUFTRAG ist das Organ der GEMEINSCHAFT KATHOLISCHER SOLDATEN (GKS) und erscheint viermal im Jahr. Hrsg.: GKS, Am Weidendamm 2, Das Kreuz der GKS 10117 Berlin Das »Kreuz der GKS« ist das Symbol www.katholische-soldaten.de der Gemeinschaft Katholischer Sol- Redaktion: verantwortlicher Redakteur daten. Vier Kreise als Symbol für die Bertram Bastian (BB), GKS-Kreise an der Basis formen in Paul Schulz (PS), Oberstlt a.D., Redakteur, einem größeren Kreis, der wiederum Klaus Brandt (bt), Oberstlt a.D., Redakteur die Gemeinschaft versinnbildlicht, ein Zuschriften: Redaktion AUFTRAG c/o Bertram Bastian, Kreuz, unter dem sich katholische Sol- Alter Heerweg 104, 53123 Bonn, daten versammeln. Tel: 0177-7054965, Fax: 0228-6199164, E-Mail: [email protected] Für unverlangte Einsendungen wird keine Haftung übernommen. Namensartikel werden allein vom Verfasser verantwortet. Nicht immer sind bei Nachdrucken die Inhaber von Rechten feststellbar oder erreichbar. In solchen Aus- nahmefällen verpfl ichtet sich der Herausgeber, nachträglich geltend gemachte rechtmäßige Ansprüche nach den üblichen Honorarsätzen Der Königsteiner Engel zu vergüten. Der »siebte Engel mit der siebten Posaune« Druck: Verlag Haus Altenberg GmbH, (Offb 11,15–19) ist der Bote der Hoff- Carl-Mosterts-Platz 1, 40477 Düsseldorf. Überweisungen und Spenden an: nung, der die uneingeschränkte Herrschaft GKS e.V. Berlin, Pax Bank eG Köln, Gottes ankündigt. Dieser apokalyptische BLZ: 370 601 93, Konto-Nr.: 1 017 495 018. Engel am Haus der Begegnung in Königstein/ Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Ts., dem Grün dungsort des Königsteiner Genehmigung der Redaktion und mit Quellenangabe. Nachbe stellung gegen Offi zier kreises (KOK), ist heute noch das eine Schutzgebühr von EUR 10,- an Tradi tionszeichen der GKS, das die katho- den ausliefernden Verlag. lische Laienarbeit in der Militärseelsorge seit mehr als 40 Jahren begleitet. ISSN 1866-0843