UNIVERSITY OF CINCINNATI

______, 20 _____

I,______, hereby submit this as part of the requirements for the degree of:

______in: ______It is entitled: ______

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ADOLESZENZ, VERANTWORTUNG UND POETOLOGISCHES KONZEPT: ERKLÄRUNGSMODELLE ZUR MOTIVATION JUGENDLICHER ANGEHÖRIGER DER NATIONALSOZIALISTISCHEN IN DER JUGENDLITERATUR DER NACHKRIEGSZEIT

A dissertation submitted to the

Division of Research and Advanced Studies of the University of Cincinnati

in partial fulfillment of the requirements for the degree of

DOCTORATE OF PHILOSOPHY (Ph. D.)

in the Department of Germanic Languages and Literatures of the College of Arts and Sciences

2003

by

Dirk Wendtorf

M.A., University of Cincinnati, 1998 B.A. (equivalent), Universität des Saarlands, Germany, 1995 B.A. (equivalent), Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Germany, 1995

Commitee Chair: Todd Herzog, Assistant Professor, Department of Germanic Languages and Literatures, University of Cincinnati ABSTRACT

This present study examines how German authors, who participated in World

War II as adolescent members of the German Armed forces, attempt to convey their experience to a juvenile audience. Therefore, the attempt to elicit an answer to the following pivotal questions is the ultimate goal of this work:

1. How does the adolescent and later adult author portray his motivation to fight

as a juvenile for National Socialist Germany?

2. How does this portrayal coincide with the historical and sociological

development in post war Germany?

3. To what degree do the authors address the topic of individual responsibility in

the context of the developmental stage of adolescence?

4. What literary techniques do the authors employ in their attempt to convey

their concepts to the juvenile reader?

According to the authors of the 1940s and 50s, the success of the National

Socialist in manipulating juveniles to defend Germany until defeat is based on the particular cognitive and affectionate stage of adolescence.

In the mid 1960s, when the publication of World War II juvenile literature reaches its climax, the authors of this genre begin to incorporate the seductive side of the consolidation phase of the national socialist regime. In the course of a more intense accommodation of the presumptive reader the authors also introduce the topics of resistance and the Holocaust in their works. However, like their predecessors of the Adenauer-era, these writers refrain from a conclusive and definitive statement on personal responsibility for their involvement in the national socialist system.

The 1980s mark the commencement of a new and more far-reaching sensitivity of German society to the topic of national socialism, which is also reflected in the juvenile literary medium. The presentation of resistance within the military, civil disobedience, the ideological infiltration of the Wehrmacht as well as of the involvement of the German Armed Forces in the genocide are emphasized in juvenile literature. Subsequently, both the content and literary form of these works can be viewed as an expression of self-reproach of socio-ethical failure in the face of the national socialist scourge.

1 © Dirk C. Wendtorf 2003

All Rights Reserved

Danksagung

Zunächst gebührt mein großer Dank für die wissenschaftliche Betreuung dieser

Arbeit meinem Doktorvater, Todd Herzog, sowie den Professoren Jerry Glenn

und Thomas Sakmyster. Die in diesem Zusammenhang geführten konstruktiven

Diskussionen und erfahrenen Anregungen sowie die ermutigenden Worte haben

einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen dieser Arbeit geleistet.

Karl Obrath möchte ich auf das Herzlichste für seine Freundschaft sowie seine

offenen Worte und Ratschläge, die er für mich in privater und akademischer

Hinsicht gefunden hat, danken.

Meinen lieben Eltern, denen ich diese Arbeit widme, möchte ich auf diesem

Wege meine tiefe Dankbarkeit für das Verständnis sowie die selbstlose

Unterstützung, die sie mir auf diesem langen Weg gewährt haben, zum Ausdruck bringen.

Für den psychischen Halt und die vielfach bewiesene Freundschaft vor, während und nach dem Promotionsstudiengang gilt mein tiefer Dank meinen Freunden, insbesondere Aaron Krynicki, Cheryl Kinser, Erwin Budinsky, Glenn Kinser,

Hendrik Hendriks, Julia Schultze-Nahrup, Julia Horn, Kelly Stever, Lydia

Reuther, Natacha Zgainski, Pamela Gomez, Petra Nierzwicki, Rüdiger Gaza und

Sebastian Schaefer. Inhaltsverzeichnis

Einleitung S. 2

Kapitel 1: S. 29

Die Werke der Adenauer-Ära der 40er und 50er Jahre

Kapitel 2: S. 152

Das zeitgenössische Jugendbuch – Situation der Kinder- und

Jugendliteratur der 60 er und 70 er Jahre und Motivation der Autoren

Kapitel 3: S. 196

Wehrmacht und Holocaust – ein Tabu bröckelt. Die Frage nach der individuellen Verantwortung im Jugendbuch der 80er Jahre bis zur

Jahrtausendwende

Ausblick S. 249

Bibliografie S. 255

1 Einleitung

Kegelbahn. Zwei Männer sprachen miteinander. Nanu, Herr Studienrat, dunklen Anzug an. Trauerfall? Keineswegs, keineswegs. Feier gehabt. Jungens gehn an die Front. Kleine Rede gehalten. Sparta erinnert. Clausewitz zitiert. Paar Begriffe mitgegeben: Ehre, Vaterland. Hölderlin lesen lassen. Langemarck gedacht. Ergreifende Feier. Ganz ergreifend. Jungens haben gesungen: Gott der Eisen wachsen ließ. Augen leuchteten. Ergreifend. Ganz ergreifend. Mein Gott, Studienrat, hören Sie auf. Das ist ja gräßlich. Der Studienrat starrte die anderen entsetzt an. Er hatte beim Erzählen lauter kleine Kreuze auf das Papier gemacht. Lauter kleine Kreuze. Er stand auf und lachte. Nahm eine neue Kugel und ließ sie über die Bahn rollen. Es donnerte leise. Dann stürzte hinten die Kegel. Sie sahen aus wie kleine Männer.

Wolfgang Borchert. “Lesebuchgeschichten“

Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. Obwohl damit das “Tausendjährige Reich” bereits nach 12 Jahren zusammenbrach, waren und sind die psychologischen und physischen Auswirkungen dieser relativ kurzen nationalsozialistischen Herrschaft als ein wesentlicher Faktor im Denken und Handeln der Nachkriegsgeneration deutlich spürbar. Das Thema des Nationalsozialismus und des Zweiten

Weltkrieges hat mit zunehmender Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, insbesondere nach der Wiedervereinigung, wie auch in den europäischen

Nachbarländern, an deutlicher Brisanz gewonnen. Betrachtet man die Geschichte der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur, so lässt sich konstatieren, dass eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Geschehen erst mit dem

Beginn der 60er Jahre einsetzt. Hakenkreuzschmierereien, Schändungen von 2 jüdischen Friedhöfen, der Prozess des ehemaligen SS-Obersturmbannführers

Adolf Eichmann, der ehemaliger Leiter des Judenreferats im Reichssicherheits- hauptamt, in Israel sowie mehrere Kriegsverbrecherprozesse in der jungen

Republik zwingen die deutsche Bevölkerung, auch im juristischen Sinne, zu einer differenzierteren Bewertung des Dritten Reiches und der eigenen Verantwortung zu kommen.1

Spätestens seit dem 8. Mai 1995, dem 50. Jahrestag der deutschen Kapitulation, ergießt sich eine wahre Flut von Spielfilmen, Dokumentarsendungen, Reportagen und Büchern, die die nationalsozialistische Herrschaft und den Zweiten Weltkrieg thematisieren, nicht nur über das deutsche Publikum, sondern auch über eine globale Zuhörer- und Zuseherschaft.

Die öffentliche Diskussion über Schuld und Verantwortung der Deutschen, die dem NS-Regime dienten, fand, und dieses bringt uns in das zweite

Nachkriegsjahrzehnt zurück, einen ersten Höhepunkt in den Auschwitz-Prozessen im Jahre 1961, die die Besatzung des berüchtigten Vernichtungslager zur

Rechenschaft zogen. Diese Diskussion zog sich, u.a. angeregt durch die sukzessive Aufdeckung der national-sozialistischen Vergangenheit bundesrepublikanischer Politiker2, über die 70er und 80er Jahre hin und fand, wie bereits erwähnt Mitte der 90er Jahre einen neuen Höhepunkt. Dieses war nicht

1 vgl. Otto. 61 2 Man denke hier an die Affäre Filbringer, baden-würtembergischer Ministerpräsident, der 1981 zum Rücktritt gezwungen wurde, als bekannt wurde, dass dieser in seiner Funktion als Richter in der noch nach der Kapitulation Todesurteile an Deserteuren hatte vollstrecken lassen. Siegfried Lenz nimmt dieses Thema für seine Erzählung Ein Kriegsende zum Anlass. 3 zuletzt dem Erscheinen von Daniel Jonah Goldhagens umstrittenem Werk Hitler’s

Willing Executioners: Ordinary Germans and the Holocaust im Jahre 1996, wie auch der Wehrmachtsausstellung, die im Jahre 1997 eröffnet wurde, und die die

Kriegsverbrechen der Wehrmacht dokumentierte, zu verdanken.3

Unter der fast unüberschaubaren Menge von Publikationen, die den Zweiten

Weltkrieg und das NS-Regime thematisieren, nehmen Autobiografien,

Tagebücher und fiktionale Literatur von Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, und die sich mit dem Geschehenen sowie der eigenen Rolle auseinander setzten, auseinander zusetzen versuchten, oder vorgeben, einer solchen Intention zu folgen, einen wesentlichen Anteil ein.4

Innerhalb dieser Gruppe von persönlichen Erfahrungsberichten ehemaliger

Kriegsteilnehmer fallen wiederum, und dieses gilt insbesondere ab der Mitte der

3 Diesen Ereignissen wird im Rahmen der (Kinder- und Jugend-)Literatur der 90er Jahre ein näheres Augenmerk zuteil. 4 Eine Zählung der in deutscher Sprache publizierten Autobiografien, Tagebücher und autobiografischer Romane, die den Zweiten Weltkrieg thematisieren, zeigen annähernd folgende Verteilung im Hinblick auf die Jahre der Publikation.

70 60 50 40 30 insgesamt 20 1990-2002 10 0 1949- 1960- 1981- 1959 1980 2002 . Diese Angaben wurden durch Auswertung der OLCL Worldcat Bibliografie, des Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) sowie des Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schriftums (GV) eruiert. 4 90er Jahre, die Werke einer Anzahl von Autoren der Jahrgänge 1925-19295, die sich mit den Erlebnissen jugendlicher Angehörige der Wehrmacht, Waffen-SS oder der jugendlichen Kriegsdienstverpflichteten beschäftigten, zahlenmäßig ins

Gewicht.

Dieses nicht nachlassende Interesse an der Zeit des Dritten Reiches und seiner

Organisationen, des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges und dem

Holocaust geht mit der immer wieder verbalisierten Frage einher, wie es den

Nationalsozialisten möglich war, die Macht zu erobern, durchzusetzen und zu befestigen, welches sich wiederum in der Propagierung einer Vielzahl von

Ideologemen6 manifestiert. Bestimmend in der Diskussion zeigte sich nicht nur die

Frage nach Schuld und Verantwortung auf nationaler bzw. kollektiver Ebene, sondern gerade auf individueller Ebene, die die politische Debatte seit den 90er

Jahren maßgeblich bestimmt.

Doch wer waren die individuellen Täter? Traf es zu, dass, wie Klaus Rehbein es formulierte, „[a]lle Deutschen, sofern sie nicht im Widerstand waren, [....] aus der

Sicht der Opfer Täter [waren], und die Wehrmacht allzumal“?7

Dieses war zweifelsohne eine Definition aus der Perspektive der Opfer, der

Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes. Doch wie war es um die

Bestimmung der eigenen Position durch die „Täter“ bestellt, der zehn Millionen

5 Alleine in den Jahren 1990-2000 wurden 25 Bücher publiziert, die man dieser Kategorie zurechnen kann. 6 vgl. hierzu Wippermann 7 Ortmeyer. S. 587 5 deutschen Soldaten, die in den Jahren 1945 bis 1956 aus deutscher, englischer,

U.S. amerikanischer und sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, und die sich wohlmöglich gar nicht als Täter, sondern eher als Opfer verstanden?

Hatten sie nicht als Soldaten gemäß ihrem Eid ihr Leben für Deutschland riskiert, riskieren müssen und die Entbehrungen der Kriegsgefangenschaft auf sich nehmen müssen? In Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den U.S.A. wurden die Heimkehrer als Helden gefeiert. Hatten sie, die deutschen Soldaten der Wehrmacht, nicht auch nur wie ihre Kameraden auf alliierter Seite ihre Pflicht getan? Wurde ihnen nicht sogar von Bundeskanzler Adenauer und dem

U.S.-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower die Bestätigung zuteil, ehrenvoll gekämpft zu haben und nichts mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu tun zu haben? Waren sie nicht selbst auch Opfer des Nationalsozialismus?

Erschien schon die Frage nach der Täterschaft des erwachsenen Angehörigen der

Wehrmacht problematisch, so gestaltet es sich umso schwieriger eine befriedigende Antwort auf die Rolle jugendlichen Soldaten zu finden. Kann man

überhaupt von einer Täterschaft der Jugend im Nationalsozialismus sprechen, eine Frage, die auch der Theologe Heinz Schreckenberg stellt?

Ist etwa ein Mann wie Roman Herzog (*5.4.1934), bei Kriegsende 11

Jahre alt, ein Täter? Was ist mit dem spätgeborenen Helmut Kohl

(*3.4.1930)? Was mit Hitlerjungen und Luftwaffenhelfern wie Erich

Loest (*24.4.1926), Günter Grass (*16.10.1927) und Manfred

6 Rommel (*1928), was mit Soldaten wie Heinrich Böll (*1917), Helmut

Schmidt (*1918) und Richard von Weizäcker (*1920)?8

Traf es zu, dass, wie Grass es im Jahre 1995 ausführte, schon Jugendliche und auch Kinder zu Tätern wurden, dass sie der Hitlerjugend angehörten?

Dann habe ich an der Frankfurter Universität über „Schreiben

nach Auschwitz“ geredet, auch aus persönlichem Antrieb. Mit

dem Älterwerden wächst die Scham über das, was ich bis zu

meinem siebzehnten Jahr mitgegrölt, mitgemacht habe [...].9

Verbunden mit der Diskussion der Täterschaft erscheint es auch legitim, die Frage nach der individuellen Schuld des Täters zu stellen, einer Schuld vornehmlich im moralisch-ethischen aber auch im juristischen Sinne.10

Im deutschen Recht setzt der juristische Begriff die Fähigkeit des Täters voraus, das Unrecht seiner Tat einzusehen und demnach zu handeln.

Bezeichnenderweise sind Jugendliche bzw. Kinder unter 14 Jahren nach dem deutschen Recht nicht schuldfähig11, da bei ihnen durch den Gesetzgeber angenommen wird, dass sie noch nicht die Reife zur Einsicht in das Unrecht einer

Tat besitzen.

8 Schreckenberg. S. 422 9 Grass. „Ich will mich nicht auf die Bank der Sieger setzen.“ 10 Zur Definitionsfrage politischer, krimineller, moralischer und metaphysischer Schuld vgl. Karl Jaspers. Die Schuldfrage

7 Schreckenberg übernimmt genau dieses Konzept, um zu einer differenzierten

Bewertung der Schuldfähigkeit der Jugendlichen und Erwachsenen zu kommen:

Es ist zu unterscheiden einerseits zwischen jungen Pimpfen

ohne Durchblick, die kaum begriffen, was vorging und welche

Rolle sie in dem Geschehen spielten, und andererseits den HJ-

Führern, welche die Jungen marschieren und ihre Lieder singen

ließen. Während bei jenen die Einsichts- und damit Schuldfähig-

keit gegen Null ging, mussten die Führer spätestens bei

Kriegsbeginn erkennen können, wohin die Reise ging. Ähnlich

das Verhältnis junger Soldat und General: Die Reichsjugend-

führung in Berlin und die Generalität trifft [...] ein gerütteltes Maß

an Mitschuld.12

Doch konnten die Jugendlichen, wie Schreckenberg es formulierte, „schon von ihrem Alter her in der Regel nicht ‚Täter’ sein, weil sie keine Gewalt über andere hatten und noch nicht Funktionsträger in politischer oder militärischer

Verantwortung Entscheidungen zu treffen hatten“?13

Die Suche nach einer mögliche Antwort auf die Frage nach der Form der

Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik und dem Umgang mit kollektiver und individueller Verantwortung und Schuld, insbesondere, was den

11 Vgl. § 19 StGB 12 Schreckenberg. S. 423

8 jugendlichen Kriegsteilnehmer betrifft, soll uns zu einem kurzen Überblick über eine Auswahl der zum Thema „Vergangenheitsbewältigung“ in der

Geschichtswissenschaft erschienen Forschungsliteratur führen, die eine Relevanz für unsere Untersuchung haben.

Michael Kohlstrucks im Jahre 1997 unter dem Titel Zwischen Erinnerung und

Geschichte. Der Nationalsozialismus und die jungen Deutschen erschienene

Arbeit beschäftigt sich unter Verwendung offener Interviews mit der Frage, welche

Signifikanz das Thema Nationalsozialismus für junge Deutsche heutzutage hat und offeriert eine aufschlussreiche Synopsis zur Terminologie

„Vergangenheitsbewältigung“:

Die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland wird als Aus-

einandersetzung mit „der Schuldfrage“ verstanden. Sie be-

schäftigt sich mit dem Problem einer historischen Schuld, die den

Deutschen nach dem Ende des NS von den Opfern und den

Siegern zugeschrieben wurde oder die sie sich selbst zuschrieben.

Der Grund der kollektiven Schuldzuschreibung ist die Zerstörung der

Elementaren sittlichen und rechtlichen Ordnung. Die

Vergangenheitsbewältigung in Deutschland ist demnach die

Beschäftigung mit dem historischen Nationalsozialismus unter der

Voraussetzung von Schuldzuschreibung an die Deutschen.14

13 Schreckenberg. S. 422 14 Kohlstruck. S. 22-23 9

Kohlstruck zeigt gerade im Hinblick auf die junge Generation von Deutschen, dass es bei der Beschäftigung dieses Personenkreises mit dem Nationalsozialismus

„um diese historische Phase und ihre heutige Bedeutung geht, [...] Fragen der geschichtlichen Einordnung, des historischen Verstehens und des geschichtlichen

Lernens im Vordergrund [stehen].“15 Es ist ebenfalls sehr aufschlussreich, und wir werden auf dieses Phänomen zurückkommen, dass Kohlstruck in seinen

Interviews konstatiert, dass die heutigen Jugendlichen keine

Schuldzuschreibungen an die Generation derjenigen, die in den Jahren

1933-1945 volljährig wurden und die auch der Großteil der im Rahmen dieser

Arbeit vorgestellten Jugendschriftsteller angehört, vornehmen. Im

Zusammenhang mit dem Historikerstreit16 geht der Geschichtswissenschaftler

15 Kohlstruck. S. 23 16 Der Historikerstreit wurde 1985 und 1986 durch zwei Aufsätze ausgelöst. Einer hiervon stammt aus der Feder des Historikers Martin Broszat, der für eine “Historizierung des Nationalsozialismus”, die Bewertung des Dritten Reiches mit den normalen Maßstäben der Geschichtswissenschaft anstelle einer emotionsgeladenen Singularisierung und Dämonisierung der nationalsozialistischen Herrschaft plädiert. Die Zeitepoche des Dritten Reiches sollte nach der Forderung Broszats in den Gesamtverlauf der deutschen Geschichte reintegriert werden. Der im Juni 1986 unter dem Titel “Vergangenheit, die nicht vergehen will” von Ernst Nolte erschienene Artikel hitzte die Debatte noch um ein Weiteres an. Nolte beklagt in seinem Aufsatz, dass die nationalsozialistische Vergangenheit, wie andere geschichtliche Epochen, nicht das “Bedrängende” verliere, sondern im Gegenteil, als Schrecken die Gegenwart dominiert und damit eine komplexe und revidierte Sichtweise aus der geschichtlichen Perspektive negiert werde. Nolte kritisiert in diesem Zusammenhang auch an der Geschichtswissenschaft, dass sie in ihrer Betrachtung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen außer Acht ließe, dass bereits in der Literatur der frühen 20er Jahre im Zusammenhang mit der russischen Revolution das Thema Genozid ausführlich behandelt wurde und wirft die Frage auf, ob Hitler sich nicht als vermeintlich potentielles Opfer der 10 und Harvard Professor Charles A. Maier mit seinem 1998 erschienenen Buch

Unmasterable Past. History, Holocaust and German National Identity den Fragen nach, wie sich nationale Identität bildet, inwiefern Begriffe, wie kollektive

Verantwortung entstehen, wie sich einzigartige historische Ereignisse und Figuren vergleichen und historisieren lassen und ob die Geschichte Identifikationsmuster anbieten und Identität stiften soll und dürfte. Vor dem Hintergrund des in den 80er

Jahren in der Bundesrepublik vorherrschenden Geschichtsbewusstseins kreist seine Untersuchung um einen wesentlichen Punkt, der im Zusammenhang mit den behandelten Jugendbüchern der 80 und 90er Jahre von uns kurz angesprochen werden wird und der einen Kernpunkt des Historikerstreits ausmacht: Erscheint es legitim, die Singularität nationalsozialistischer Verbrechen aus ihrem historischen

Kontext zu erklären oder führt, wie Maier befürchtet, der Versuch der

Relativierung des Nationalsozialismus, nicht jedoch die Historisierung, wie Broszat sie betreibt, zwangläufig zu einer Entsorgung der Vergangenheit?

Jeffrey Herf geht es in seiner 1999 unter dem Titel erschienenen Studie Divided

Memory: The Nazi past in the Two Germanys um eine Interpretation des

Nationalsozialismus durch seine Gegner vom Ende der zwanziger Jahre bis zur

Wiedervereinigung. Herf leistet mit seinem Werk insbesondere einen wesentlichen

Bolschewiki gesehen hat und der “rote Terror”, der “Archipel Gulag” nicht Vorläufer des Völkermordes der Nationalsozialisten war. Die beiden wesentlichen Punkte des Historikerstreites sind somit die Frage, ob der Mord an den Juden singulär war oder ob es geschichtliche Vorläufer gab und ob die Geschichtswissenschaft eine gesellschaftliche bzw. politische Funktion hat, ob sie nur das pluralistische Meinungsbild reflektiert oder gar identitätsfördernd wirkend dürfe (vgl. Wippermann).

11 Beitrag zu der Diskussion über den Mangel an Vergangenheitsbewältigung der

Adenauer-Ära, die sich auch, wie wir sehen werden, in der Literatur dieser Epoche reflektiert, indem er zeigt, wie Adenauer, im Gegensatz zu SPD Politikern seiner

Zeit, trotz des Postulats einer kollektiven Erinnerung und Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus, eine Amnestie und Integration ehemaliger Nationalsozialisten verfolgte.

Auch Axel Schildt unterstützt in seinem 1995 unter dem Titel „Moderne Zeiten.“

Freizeit, Massenmedien und ,Zeitgeist’ in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre erschienenen Buch die von Herf über den restaurativen Charakter der

Adenauer-Ära getroffene Aussage. Schildt zeigt vor der insbesondere seit Beginn der 80er Jahre in der Bundesrepublik einsetzenden nostalgischen Verklärung der

50er Jahre wie das Lebensgefühl sowie die in diesem Zeitraum vorherrschende

öffentliche Meinung starke Ähnlichen mit den dreißiger Jahren aufwies und das

Ende einer gesellschaftlichen Epoche ausmachte, die nach dem ersten Weltkrieg begann. Diesen Strukturbruch zwischen Werken der Adenauer-Ära und den nachfolgenden Jahrzehnten wird uns im Zusammenhang mit den Jugendbüchern noch intensiv beschäftigen.

Vornehmlich mit der Situation der Jugend beschäftigt sich Karl-Heinz Füssl in seinem 1994 erschienenen Werk Die Umerziehung der Deutschen. Jugend und

Schule unter den Siegermächten.

Füssl wartet mit der interessanten Erkenntnis auf, warum eine

Vergangenheitsbewältigung unter den Jugendlichen in der ersten Nachkriegszeit nicht stattfand, aus welchem Grunde die für die Jugendlichen konzipierten

12 ‚re-education’ Programme der Alliierten scheiterten, und welche

Orientierungslosigkeit die deutsche Jugend nach dem Zusammenbruch des

Dritten Reiches auszeichnete.

Füssl hebt in seiner Studie den Absolutheitsgrad hervor, mit dem die Jugendlichen die nationalsozialistische Ideologie internalisiert und in ihren Alltag integriert hatten. Der Versuch der freien Jugendarbeit, einer Umerziehung, die keinerlei geschichtliche Vorläufer in der deutschen Geschichte hatte, im Sinne einer freiheitlich-demokratischen Werteordnung, stieß bei den deutschen Jugendlichen auf Widerstand, der zum einen seinen Ursprung in einer Aversion gegen politisches Engagement hatte und auf der anderen Seite mit der Unfähigkeit zusammenhing, sich von apologetischen Rechtfertigungsversuchen und von der autoritären Erziehungstradition zu befreien, die U.S. Amerikaner nicht als Besatzer zu betrachten und mit ihrem den Deutschen befremdlich erscheinenden

Pragmatismus zurechtzukommen.

Überdies führten Personaldefizite, Probleme in der Zusammenarbeit der

Siegermächte und der ausbrechende Kalte Krieg, sowie finanzielle Gründe zu einem Scheitern dieses ‚re-education’ Programms. Wir werden in den von uns behandelten Werken einen Eindruck von dem Maße bekommen, in dem die

Jugendlichen durch den Nationalsozialismus indoktriniert wurde. Der Mangel an

‚re-education’ in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, mit einer Möglichkeit für den Jugendlichen das Durchlebte, z.B. in einem Jugendheim mit anderen

Jugendlichen und Erziehern, zu diskutieren und zu verarbeiten, wird uns mit dem seit der Adenauer-Ära zum Ausdruck kommenden Bedürfnis der

13 Jugendbuchautoren, schriftstellerisch tätig zu werden, seiner Stimme Gehör zu verschaffen, beschäftigen.

Von besonderer Relevanz für die Betrachtung der sich um die Schuldfrage nationalsozialistischer Kriegsverbrecher sowie der Angehörigen der Wehrmacht drehende gesellschaftlichen Diskussion ist die von dem Hamburger

Politikwissenschaftler Peter Reichel im Jahre 2001 unter dem Titel

Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Auseinandersetzung mit der

NS-Diktatur von 1945 bis heute erschienenen Studie.

Reichel beschäftigt sich vor dem Hintergrund der Geschichte der Strafverfolgung der nationalsozialistischen Täter in der Bundesrepublik schwerpunktmäßig mit der

Frage, wie in der Nachkriegszeit der Mythos von der sauberen Wehrmacht entstehen konnte, ein Thema, welches uns im Zusammengang mit der Reflexion des Konzepts der Wehrmacht in unserer Jugendliteratur beschäftigen wird.

Eine Annäherung an die Beantwortung der Frage nach der Täterschaft und Schuld jugendlicher Wehrmachtsangehöriger sowie der damit verbundenen Suche nach den Argumenten, die dieser Personenkreis anführte, für das nationalsozialistische

Deutschland zu kämpfen, führt uns unweigerlich zu der Notwendigkeit der indirekten Befragung der Betroffenen, d.h. der Suche nach Schriften, in denen die betroffenen Jugendlichen den Versuch unternehmen, ihre Situation zu erklären.

Dieses wiederum führt uns zu der Gattung der Autobiografie, des autobiografischen Romans, des Tagebuchs aber auch in den Bereich des fiktionalen Romans.

14 Um uns der Frage nach der Reflexion einer wie auch immer gearteten

Vergangenheitsbewältigung in den Werken der Autoren, die den Krieg miterlebt haben, anzunähern, wollen wir zunächst einen Blick auf die Forschungsliteratur werfen, die sich mit der Literatur der Nachkriegszeit beschäftigt, die die Situation des Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg thematisiert. Für unsere

Untersuchung ist es von besonderer Relevanz zu bestimmen, ob und möglicherweise welchen Beitrag Literaturwissenschaftler zur Beantwortung der

Frage leisten, wie ehemalige Kriegsteilnehmer in ihren Werken die eigene

Motivation, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, darstellen und ob sie sich einer individuellen Verantwortung bewusst sind.17

Im Zentrum der Forschungsliteratur im Nachkriegsdeutschland steht zweifelsohne das terminologisch weitgesteckte Genre des Kriegsromans. Ausschließlich Hans

Wagener differenziert jedoch, wie wir gleich sehen werden, explizit in seinem

Artikel zwischen Tagebüchern und Erinnerungen auf der einen sowie Romanen auf der anderen Seite.

Anders verhält es sich mit dem 1977 unter dem Titel „Soldaten zwischen

Gehorsam und Gewissen. Kriegsromane und -tagebücher“ erschienen Artikel von

17 Es sei hier nur kurz erwähnt, dass die Untersuchung der eigenen Lebensgeschichte des Autors, wie sie uns in der Autobiografie, dem autobiografischen Roman oder dem Tagebuch, welches den Anspruch erhebt, das Leben des Autors zu thematisieren, begegnet, am ehesten Rückschlüsse auf die Motivation eben dieses Autors, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, zulässt. Zweifelsohne lassen sich jedoch auch zuweilen durch die Untersuchung eines rein fiktionalen Werkes eines Autors Erkenntnisse über sein soldatisches Selbstverständnis gewinnen. Zur Problematik der Gattung Autobiografie vergleiche Wagner-Engelhaaf. S. 48ff.

15 Hans Wagener. Zum einen unternimmt Wagener formell eine Unterteilung in

Kriegsromane und „subjektive Dokumente“, i.e. Tagebücher und Berichte, in denen die Autoren ihre persönliche Lebensgeschichte niederschreiben.

Insgesamt behandelt Wagener über 20 Kriegsromane der 50er bis 70er Jahre sowie vier ‚subjektive’ Werke: Peter Bamms ‚Bericht’ Die unsichtbare Flagge

(1952), Curt Hochhoffs Russisches Tagebuch“ (1952), Erich Kubys Mein Krieg

(1975), sowie Hermann Lenz’ Neue Zeit (1975).

Im Hinblick auf die untersuchten Werke der 50er und 60er Jahre stellt Wagener fest, dass die Frage nach der Motivation von den Autoren stets mit dem Verweis auf das Gehorsamsgebot beantwortet wird, die Protagonisten in den Werken und damit die Autoren zwischen Krieg und Nationalsozialismus differenzieren und eine individuelle Verantwortung negiert wird, ein Umstand der, wie wir noch sehen werden, Parallelen zu den Werken in unserer Untersuchung aufweist.

Ausschließlich in dem Werk von Kuby, bezeichnenderweise ein Buch aus den

70er Jahren, sieht Wagener Ansätze einer subjektiven Verantwortung: „Trotz seiner inneren Distanz fühlt sich Kuby [...] für das Dritte Reich mitverantwortlich

[...]. Selbst braves Soldatentum ist nach Kubys Ansicht >>kriminelle

Komplizenschaft [...]<<.“18 In Lenz’ Roman sieht Wagener Parallelen zu dem

Geschichtsfatalismus der 50er Jahre.

Jost Hermand liefert 1979 in seinem Artikel „Darstellung des Zweiten Weltkrieg

[...]“ einen sehr wertvollen Beitrag zur Behandlung dieses Themas vornehmlich in der fiktionalen Literatur bis zum Ende der 50er Jahre, wobei er in seiner

16 Betrachtung sowohl Werke von ‚kanonisierten’ Autoren, wie z. B. Böll, Grass,

Brecht und Zuckmayer, als auch die von Trivialliteraten, wie Kirst und Konsalik, aber auch apologetische Schriftsteller, wie Dwinger, anspricht.

Hermand zieht das Fazit, dass sich nach der ökonomischen Eingliederung der

Kriegsheimkehrer in den 50er Jahre mit der Integration der Bundesrepublik

Deutschland in das westliche Bündnissystem und der sich ankündigende kalte

Krieg ein neues Selbstgefühl unter den Deutschen breit macht, welches die

Literatur, die sich durch ein Ausweichen in das Private, Innerliche oder Religiöse nach der vernichtend empfundenen Niederlage auszeichnete und Ausdruck der

Orientierungslosigkeit war, in den Hintergrund treten lässt. Reaktionäre

Tendenzen, gepaart mit einer unter religiösen Vorzeichen geführten antikommunistischen Rechtfertigung des Krieges, die objektive Heroisierung desselben, die Instrumentalisierung des Vertriebenenschicksals der Deutschen aus dem Osten, sowie die propagierte Trennung des Soldatentums vom

Nationalsozialismus führen so zu einem „neufaschistischen Revanchismus“19 und zu einem gereinigten Bild des Soldaten, wie es sich insbesondere in der apologetischen Kriegliteratur, den „Erinnerungsbüchern“ und Landserheften, manifestiert.

Als Gegenströmung hierzu verweist Hermand auf die antimilitaristischen „Romane der Härte“20 der 50er Jahre, die seiner Auffassung nach zwar keine

Faschismustheorie offerieren, aber durch die plastische Schilderung der

18 Wagener. S. 255 19 Hermand. S. 36

17 Kriegsgräuel, i.e. „so viel Grauen wie nur möglich auf engstem Raum“21 unter dem

Motto ‚Nie wieder Krieg’ abschrecken wollen. Diese realistische Schilderung des

Krieges wird uns im Zusammenhang mit der Jugendliteratur der 50er Jahre erneut begegnen.

Hermand hebt eine zweite Methodik der kritischen Darstellung des Zweiten

Weltkrieges hervor, die des Lächerlichmachens. Hier steht, so Jost, das

Militärleben mit seinen grotesken, mitunter ,witzigen’ Zügen im Mittelpunkt, wobei allerdings die Grausamkeit des Krieges sowie Faschismus und die Schulddebatte ausgespart werden. Das Thema Humor wird uns im Zusammenhang mit der

Jugendliteratur der 90er Jahre noch näher beschäftigen.

Hermands Artikel bietet einen interessanten Ansatz, insbesondere was die in den

50er Jahren vorherrschende Produktionsästhetik betrifft. Da jedoch, wie Hermand richtig anführt, sich die von ihm behandelten Werke nicht oder nur oberflächlich mit dem Faschismus und dem eigenen Engagement auseinander setzen, bleiben

Themen wie die eigene Motivation zur Teilnahme am Krieg und die damit verbundene Frage nach Schuld im Dunkeln.

Eine der interessanteren Untersuchungen ist auch die von Jochen Pfeifer 1981 unter dem Titel Der Deutsche Kriegsroman 1945-1960 publizierte Studie. Pfeifer wertet von den im Zeitraum 1945 bis 1960 etwa 100 erschienenen Kriegsromanen

54 Werke von apologetischen Schriftstellern, wie z. B. Edwin Erich Dwinger22 über

20 Hermand. S. 36 21 Hermand. S. 36 22 Dwinger war seit 1933 Mitglied der Peußischen Akademie der Künste, Reichskultursenator und im 2. Weltkrieg SS-Obersturmführer (Sonderführer) an 18 Trivialliteraten wie Kirst und Konsalik bis hin zu renommierten Autoren, wie Böll,

Andersch und Kolbenhoff aus. Als Auswahlkriterium orientiert sich Pfeifer an der

Bekanntheit von Autor oder Werk und von positiven Kritiken.23Die Autoren der untersuchten Werke haben überdies gemein, dass sie alle als Angehörige der

Wehrmacht, und in einem Fall der Waffen-SS, am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, und zwar vom Mannschaftsdienstgrad, wie z.B. Heinrich

Böll, bis zum Offizier, wie z. B. Ernst Jünger, vom NS-Führungsoffizier, wie z. B.

Hans Hellmut Kirst, bis zum Wehrmachtsdeserteur, wie z.B. Alfred Andersch.

Pfeifer unternimmt mit seiner Arbeit, wie er selbst postuliert, den Versuch „Anteil und Art der Vergangenheitsbewältigung in der Literatur zu untersuchen, um selbst einen kleinen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit zu leisten.“24 Als wesentliches für unsere Untersuchung verwertbaren Ergebnis lässt sich feststellen, dass, obwohl Pfeifer im Zusammenhang mit den untersuchten Werken konstatiert, dass das „Soldatische unter Anklage“ steht, sich die Romane nach

Pfeifer durch folgende Charakteristika auszeichnen: Neben der Trennung von

Krieg und Nationalsozialismus erfolgt, meist durch die Einnahme einer sogenannten „Obergefreitenperspektive“ die Vermeidung des Gewissens- konfliktes und der Schuldproblematik.25 Dieses erfolgt unter Verweis auf die ausschließliche Verantwortlichkeit der Führung des Dritten Reiches, insbesondere der der Wehrmacht, sowie auf den blinden Gehorsam „ohne daß schlüssige

der Ostfront (vgl. Schoeps. S. 209 sowie Kürschners Deutscher Literatur- Kalender. S. 213). 23 Pfeifer. S. 7 24 Pfeifer. S. 6

19 Erklärungen dafür gesucht werden.“26 erscheint in keinem der Werke als Alternative, „zumal der Dienst im feindlichen Lager trotz allem Landesverrat bleibe.“27 Überdies verweist Pfeifer auf den Umstand, dass die Einstellung der

Autoren zum Krieg und zum Nationalsozialismus altersabhängig ist. In diesem

Zusammenhang trifft er die interessante Aussage, dass die jüngeren Autoren im

Gegensatz zu den älteren Autoren, welche sich mit den „Problemen der Schuld und der persönlichen Verstrickung auseinander[setzen]“28, eher „die Sinnlosigkeit des Krieges [betonen] und weniger nach persönlicher Schuld [fragen].“29 Hier widerspricht Pfeifer seiner schon kurz angesprochenen These, dass in den von ihm untersuchten Werken die individuelle Schuldproblematik nicht diskutiert wird.

Bezeichnend ist jedoch, dass Pfeifer im Hinblick auf die in den Kriegsromanen zum Ausdruck kommende Einstellung gegenüber dem Krieg von einer

Kategorisierung nach dem Erscheinungsjahr zugunsten des Geburtsjahres der

Autoren Abstand nimmt, eine Entscheidung die, wie wir sehen werden, für die von uns behandelten Werke nicht so zu übernehmen ist.

Leider versäumen es Nahrgang, Wagner, Zabel und Pfeifer gerade die in dem

Zeitraum von 1945-1960 erschienenen Autobiografien bzw. autobiografischen

Romane ehemaliger Generale und Admirale der Wehrmacht bzw. hoher Führer der Waffen-SS, wie z. B. die Werke von Heinz Guderian, Felix Steiner, Erich von

Manstein, Karl Dönitz, in ihre Betrachtung miteinzubeziehen, Personen, von

25 vgl. Pfeifer. S. 193 26 Pfeifer. S. 193-194 27 Pfeifer. S. 193 28 Pfeifer. S. 198

20 denen man sich gerade eine Aussage hinsichtlich der Verantwortlichkeit und

Motivation des Soldaten, der hier zugleich als Autor fungiert, versprechen könnte.

Die 1984 von Waltraud Amberger unter dem Titel Männer, Krieger, Abenteurer.

Der Entwurf des Soldatischen Mannes in Kriegsromanen über den Zweiten

Weltkrieg erschienene Arbeit beschäftigt sich mit 13 Romanen aus der

Nachkriegszeit, die bereits von Pfeifer und Wagener behandelt wurden, und trifft keinerlei verwertbare Aussagen zu der uns beschäftigenden Motivations – und

Schuldfrage. Sie sei daher nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Zu der seit den

80er Jahren in der Bundesrepublik erschienenen Kriegsliteratur, die ihren

Höhepunkt wie bereits erwähnt, Mitte der 90er Jahre findet, ist bis dato keine umfassende Untersuchung erschienen.30

29 Pfeifer. S. 198 30 In der DDR waren Werke von Autoren, die sich mit der eigenen Vergangenheit als Angehöriger der Wehrmacht auseinandersetzten und nicht pädagogische Literatur des antifaschistischen Widerstandes waren, aus politischen Gründen nicht erwünscht (vgl. Emmerich. S. 131ff.): Von Theodor W. Adorno stammt das Wort: >>Die authen- tischen Künstler der Gegenwart sind die, in deren Werken das geäußerte Grauen [der Naziverbrechen, W.E.] nachzittert.“ Es fragt sich, ob auch nur ein literarischer Text aus der DDR nam- haft zu machen ist, der diesem hohen Anspruch gerecht würde [...]. Vermutlich stand vor allem der antifaschistische Gründungsmythos der DDR im Wege, dem ideologische Erwartungen and die >richtige< antifaschistische Literatur von vornherein inhärent waren [...]. Wer ihn [gemeint ist der offizielle ‚Antifaschismus’ als Staatsdoktrin und Vehikel kollektiver Sinn- und Identitätsstiftung in einem] für sich deklarierte resp. sich ihm anschloß, stand jetzt plötzlich auf der Seite der >>Sieger<< der Geschichte [...], auf der Seite der realen Macht. Dies war nicht unbedingt die beste Voraussetzung dafür, sich schutzlos und ohne Deutungsgewissheit den unermesslichen Leiderfahrungen, um die es hier ging, zu öffnen. So entsteht in der [...] DDR Literatur über Nazismus und Weltkrieg vor allem in zwei Perspektiven – und beide sind päda- 21 Im Rahmen einer offensichtlichen Signifikanz die dem Thema Jugend bei dem

Versuch der Erwachsenenliteratur, sich mit der Rolle des Kindersoldaten im

Zweiten Weltkrieg auseinander zusetzen, zukommt, stellt sich die Frage, in welcher literarischen Form dem zeitgenössischen Jugendlichen der

Nachkriegsjahre die Motivation seines damaligen Altersgenossen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen seit Kriegsende vermittelt wird.

Betrachten wir vor diesem Zusammenhang zunächst die Zahlen der autobiografisch motivierten zeitgenössischen Jugendliteratur, in denen die

Autoren das Kriegsgeschehen thematisieren. Hier zeigt sich ab Mitte der 60er

Jahre ein extremer Rückgang, der seinen Höhepunkt mit den 90er Jahren erreicht hat.31

Zwar verzeichnet die Kinder- und Jugendliteratur von den 40er bis in die 90er

Jahre eine deutliche Steigerung, was die Produktion zum Thema

gogischer Natur: Zum einen wird der Widerstand gegen das NS-Regime, zumal der kommunistische, idealisiert und heroisiert. Und zum zweiten werden „Wandlungen“ einstiger Nazis und Mitläufer vorgeführt [...] (Emmerich. S. 131) 31

7 6 5 4 Jugend- bücher mit 3 Thematik 2 "Kriegsge- 1 schehen" 0 1945- 1960- 1981- 1959 1980 2002

Diese Angaben wurden durch Auswertung der OLCL Worldcat Bibliografie, des Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) sowie des Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schriftums (GV) eruiert. 22 Nationalsozialismus betrifft32, auch wird in einem Fünftel aller in diesem Zeitraum erschienenen Kinder- und Jugendbücher der Zweite Weltkrieg thematisiert.33 Es kommt sogar im Zeitraum von 1991-1998 zu einer Steigerung der Produktion in diesem Themenbereich34, doch findet unter dem Themenkomplex Krieg die

Erfahrung jugendlicher Protagonisten, die am Krieg als Wehrmachtssoldaten,

Angehörige der Waffen-SS oder als Kriegsdienstverpflichtete teilnahmen, kaum

Aufmerksamkeit durch die Jugendbuchautoren.35

Ein Blick auf die zum Thema „Jugendliche Kriegsteilnehmer“ in der Kinder- und

Jugendliteratur sowie in der Erwachsenenliteratur erschienene

Forschungsliteratur in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit erweist sich als enttäuschend. Eine Untersuchung zu diesem Aspekt in der Erwachsenliteratur ist bis zum heutigen Tage nicht nachweisbar. Es ist Heinz Schreckenberger und seinem 2001 erschienen Werk Erziehung, Lebenswelt und Kriegseinsatz der

32 vgl. Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 467 33 Lange kommt auf folgende prozentuale Verteilung der Themen der in dem Zeitraum 1946-1998 erschienenen Kinder- und Jugendbücher. Am intensivsten wurde Nachkriegszeit/Flucht/Vertreibung mit 24%, Judenverfolgung mit 23.9%, Krieg mit 20.7%, Widerstand mit 20.1%, Veränderung im Alltag mit 9%, Sachbücher mit 8.4%, Jugenderziehung und Jugendverbände mit 7.1%, Neonazis mit 5.8%, das “Dritte Reich” vom Ausland aus gesehen mit 4.2%, das Ende der Weimarer Republik sowie die Emigration mit jeweils 3.3% aufgearbeitet. (Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 465) 34 vgl. Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 468 35 Übernimmt man die Zahl von G. Lange nach der im Zeitraum von 1946-1998 174 intentionale Kinder-und Jugendbücher das Thema “Krieg” aufarbeiten, so stellt die Anzahl der Bücher, die die Situation eines jugendlichen Protagonisten als Soldaten oder Kriegsdienstverpflichteten darstellen, mit 10 Büchern gerade einmal 5.7% dar. Im Vergleich der zwischen 1981 und 1998 zu diesem Thema publizierten KJL existieren zwei Bücher, die sich der Situation des Kindersoldaten annehmen.

23 deutschen Jugend unter Hitler zu verdanken, dass wir wenigstens über einen

Überblick über die lebensgeschichtlichen Texte, d.h. Autobiografien, autobiografische Romane, Tagebücher, oral history, von Angehörigen der

HJ-Generation betreffend die Jahre 1933-1945 erhalten, obwohl auch seine

Aufzählung nicht als vollständig zu bezeichnen ist.

Zwar existieren eine Vielzahl von Untersuchungen zur allgemeinen Darstellungen des Dritten Reiches in der Kinder- und Jugendliteratur der Bundesrepublik

Deutschland, wie z. B. ein von Ernst Cloer und seiner Mitarbeiter sowie von Malte

Dahrendorf verfasstes Werk, welches sich schwerpunktmäßig mit der

Gegenstandsangemessenheit und literarischen Gestaltung des Themas Drittes

Reich im Hinblick auf den jugendlichen Rezipienten beschäftigt. Aber auch in den von Cloer und Dahrendorf angesprochenen Werken wird der Zweite Weltkrieg, sofern er denn angesprochen wird, vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des durch ihn hervorgerufenen Leidens im zivilen Bereich betrachtet. Auf die besondere Problematik des ‚Kindersoldaten’ geht jedoch keine dieser

Untersuchungen dezidiert ein.

Auch bei dem 1962 von Hans Werner Richter unter dem vielversprechenden Titel

„Der Krieg im Jugendbuch“ erschienene Artikel, handelt es sich nicht um eine

Auseinandersetzung mit der Darstellung des Zweiten Weltkrieges im Jugendbuch, sondern ausschließlich um eine Kategorisierung verschiedener Kinder- und

Jugendbücher im Hinblick auf die Bedeutung, die der Krieg als handlungsstrukturierendes Element aufweist.

24 Wie wir erkennen, stellt sich schon die Forschungslage im Hinblick auf die

Vergangenheitsbewältigung erwachsener Kriegsteilnehmer in der deutschen

Nachkriegsliteratur unbefriedigend dar. Dieses trifft umso mehr auf die Literatur der jugendlichen Kriegsteilnehmer zu. Im Bereich der Jugendliteratur stellt sich die

Situation noch dramatischer dar. Bis heute existiert keine wissenschaftliche

Aufarbeitung, wie die Autoren, die als Jugendliche am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, dem jugendlichen Rezipienten ihre eigene Position durch literarische Aufbreitung und Gestaltung zu vermitteln versuchen.

Ziel dieser Dissertation ist es daher, sich mit der Frage auseinander zusetzten, wie in der Kinder- und Jugendliteratur der Nachkriegszeit

1. adoleszente und später erwachsene Autoren vor dem Hintergrund der historischen und soziologischen Entwicklung in der Bundesrepublik ihre

Motivation, als Jugendlicher für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, porträtieren,

2. ob und in welchem Maße die Autoren die Problematik individueller

Verantwortung vor dem Hintergrund der Adoleszenz und existierender

Handlungsspielräume thematisieren sowie

3. in welcher Form die Autoren versuchen, dem jugendlichen Rezipienten diese

Konzepte poetologisch zu vermitteln.

Zunächst gilt es jedoch, einige Bemerkungen über die Signifikanz der Rolle, die den Jugendlichen in der nationalsozialistischen Kriegsmaschinerie zukam, zu treffen sowie einen Eindruck zu gewinnen, in welchem politischen Umfeld die jugendlichen Kriegsteilnehmer agierten.

25

Die Jugendlichen und der nationalsozialistische Krieg – ein historischer

Abriss

Schon mit der Organisation der Hitlerjugend als Körperschaft des öffentlichen

Rechts am 01.12.1933 und der damit verbundenen faktischen Erhebung derselben zur Staatsjugend, sowie spätestens mit der 193636 erfolgten zwangsweisen Erfassung aller deutschen Kinder- und Jugendlichen im Alter von

10-18 Jahren in derselben ließen die Nationalsozialisten seit ihrer Machtergreifung keine Zweifel daran, dass die Vorbereitung des Kindes bzw. des Jugendlichen auf seine Rolle als Soldat im kommenden Krieg die wesentlichste Aufgabe des nationalsozialistischen Staates und seiner Institutionen darstellte. Wehrerziehung bzw. paramilitärische Ausbildung, körperliche Ertüchtigung und Unterricht in nationalsozialistischer Weltanschauung stellten, wie wir noch eingehender im

Zusammenhang mit den behandelten Werken sehen werden, die Kernpunkte der

Erziehung des Jugendlichen im Rahmen der Hitlerjugend zum Kriegsdienst dar.

Mit Beginn des englischen Flächenbombardements auf deutsche Städte ab dem

Frühjahr 1942 und der sich spätestens seit der Kapitulation der 6. Armee unter

Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad am 2. Februar 1943 abzeichnenden

Wende im Krieg, werden die Jugendlichen zunächst als Flakhelfer37

36 vgl. Gesetz über die Hitler-Jugend vom 1. Dezember 1936 (RGBl I, S. 993) samt der Ersten und Zeiten Durchführungsverordnung vom 25. März 1939 (RGBl I, 709.710) 37 Luftwaffenhelfer (bzw. Marinehelfer als Helfer bei der Küstenflak) waren keine 26 eingezogen38, um 120.000 Soldaten der Flak für den Kampf an der Ostfront freizustellen.

Andere Kriegshilfsdienstleistungen der Hitlerjungen beinhalteten den

Luftschutzeinsatz, Einsatz nach Bombenangriffen, den Einsatz der Jahrgänge

1929-1930 im September 1944 als “Fronthelfer” beim Bau von Schanzanlagen an den Grenzen des Reiches.39 Dazu trat der eigentlich Kriegseinsatz der

Jugendlichen, der von den in dieser Untersuchung behandelten autobiografischen

Werken thematisiert wird. Hierunter fallen der Einsatz der Hitlerjungen im

Volkssturm, als “Werwolf”40 oder als Angehörige der Wehrmacht oder der

Soldaten im rechtlichen Sinne, dem zufolge kam ihnen kein Kombattanten-Status zu. Sie unterstanden der HJ-Disziplinarordnung und wurden ohne Ausbildungen direkt in die Kampfbatterien geschickt. Der Schulunterricht sollte am Ort der Flakbatterie fortgeführt werden, welches in Wirklichkeit nicht oder nur recht unregelmäßig erfolgte. Somit hatte der Luftwaffenhelfer verschiedene Identitäten wie Harald Scholz ausführte: “Das totalitäre Wunschdenken ging auf die Erzeugung ‘Humunculus’ hin, der zugleich Soldat, Schüler und Hitler-Junge war. Natürlich identifizierten sich die Jugendlichen mit der ihnen angebotenen Erwachsenenrolle, wollten Soldaten sein und waren aus der Sicht der Führung nur Menschenmaterial” (Harald Scholtz. Zitiert nach: Schreckenberg. S. 400). Die Gesamtzahl der im Kriegsjahr 1944 eingesetzten Luftwaffenhelfer betrug etwa 200.000 (vgl. Schreckenberg. S. 399). 38 Am 26. Januar 1943 erfolgte mit der “Anordnung über den Kriegshilfseinsatz der deutschen Jugend in der ” die Einberufung 15-jähriger Jungen zum Einsatz als Flakhelfer. Ab Dezember 1943 erfolgte die Einberufung des Jahrgangs 1928 (vgl. Schreckenberg. S. 399). 39 vgl. Schreckenberg. S. 399-402 (vgl. Thematisierung dieses Aspekts in dem Werk von Everwyn) 40 Der “Werwolf" war eine von den Nationalsozialisten zu Kriegsende organisierte Freischärlerbewegung, deren Mitglieder, die vornehmlich HJ-Angehörige waren, Sabotageakte gegen die Alliierten verüben sollten (vgl. Biddiscombe. S. 59ff.) 27 Waffen-SS, insbesondere in der im Juli 1943 aus jungen Freiwilligen aufgestellten

12. SS-Panzerdivision ‚Hitler-Jugend.’41

Wie wichtig die Jugendlichen als Menschenmaterial für den nationalsozialistischen

Krieg waren, lässt sich u.a. aus einer Statistik über die Schichtung des Feldheeres nach Geburtsjahrgängen mit Stand 15.12.1943 entnehmen. Der letzte Jahrgang, der 1943 zur Wehrmacht einberufen wurde, war der Geburtsjahrgang 1925.

Betrachten wir die Gesamtstärke der kriegsverwendungsfähigen Soldaten des

Feldheeres von 3.826.958 Mann, so entfallen etwa 1.000 Mann auf den Jahrgang

1927 (Freiwilligenmeldungen), ca. 18.000 Mann auf den Jahrgang 1926, 98.000

Mann auf den Jahrgang 1925, 189.000 Mann auf den Jahrgang 1924, 150.000

Mann auf den Jahrgang 1923 und 148.000 Mann auf den Jahrgang 1922. Dieses bedeutet, dass etwa 10% der kriegsverwendungsfähigen Angehörigen des

Feldheeres aus Jugendlichen zwischen 16 und 21 Jahren bestand.42

41 vgl. ebd. 403-406 42 vgl. Kroener. S. 977 28

Kapitel 1: Die Werke der Adenauer-Ära der 40er und 50er Jahre

Die Auswahl der zugänglichen autobiografisch motivierten Literatur der

Adenauer-Ära, die von vornehmlich noch Jugendlichen in den späten 40er und

50er Jahren geschrieben worden ist und in denen sie ihre als jugendliche

Wehrmachtsangehörige im Krieg gemachten Erfahrungen literarisch verarbeiten, beschränkt sich auf folgende nachstehend aufgeführten Werke und

Schriftsteller:43

Claus Hubalek (Jahrgang 1926) thematisiert in seinem Tagebuch Unsre jungen

Jahre. Tagebuch eines Zwanzigjährigen (1947) seine eigenen gegen Kriegsende als Flakhelfer und später als Infanterist an der Ostfront gemachten Erfahrungen, wo er das Grauen des Krieges in einem unvorstellbaren Maße erlebt.

Helmut Altner (Jahrgang 1926) beschreibt in seinem Werk Totentanz Berlin.

Tagebuch eines 18jährigen. (1947) seine eigene Situation als

Wehrmachtsangehöriger in dem apokalyptischen Endkampf in Berlin Ende April

1945.

Dieter Meichsner (Jahrgang 1928) verarbeitet in seiner Autobiografie Versucht’s noch mal mit uns (1948) die Erfahrungen eines 19-jährigen Angehörigen der

Hitlerjugend, der als “Werwolf” in der Sowjetunion und später im Raum Berlin

43 Sowohl die Sichtung der als auch der Zugriff auf die Werke diese Zeitepoche gestalteten sich als nicht unproblematisch und waren nur durch die Konsultierung verschiedener Bibliografien, u.a. dem Gesamtverzeichnis deutschsprachigen Schriftums (GV), sowie verschiedener Antiquariate möglich. 29 eingesetzt wird, und den Partisanenkampf gegen die Sowjets auch nach dem

Kriegsende fortsetzen soll.

Heinrich Böll, der 1917 geboren wurde und somit schon aufgrund seines Alters aus dem Rahmen der eigentlichen Untersuchung fällt, fungiert im Rahmen dieser

Untersuchung mit seiner Kurzgeschichte44 Wanderer, kommst du nach Spa

(1959), dem einzigen explizit fiktional konzipiertem Text, als ein kanonisches

Vergleichsmuster und als Manifestation eines literaturtheoretischen Ansatzes der ersten Nachkriegszeit. Böll schildert in der besagten Kurzgeschichte aus der Sicht des Protagonisten die Eindrücke eines jugendlichen Soldaten, der schwerverwundet in seine alte Schule, die zu einem Feldlazarett umfunktioniert wurde, gebracht wird.

Unter dem Pseudonym Manfred Gregor beschreibt der Tölzer Manfred

Dorfmeister (Jg. 1929) in seinem autobiografischen Roman Die Brücke (1958)45 das Schicksal einer Gruppe von Gymnasiasten, die in den letzen Wochen des zweiten Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen und ohne Ausbildung zur

Verteidigung einer strategisch unbedeutenden Brücke eingesetzt werden, und diese fanatisch und bis zum letzten Mann gegen die anrückenden

U.S.-amerikanischen Streitkräfte verteidigen. Die eigenen Erfahrungen Gregors

44 Es erscheint sehr problematisch, die Kurzgeschichte als autobiografisch Fiktion oder gar als Autobiografie zu kategorisieren. Selbstverständlich motivieren die eigenen Lebenserfahrungen den Autor in der Wahl und Gestaltung des literarischen Stoffes. Die grundsätzliche Frage in wie weit autobiografische Texte fiktionale Charakteristika aufweisen, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Es sei auf das Werk von Martina Wagner-Egelhaaf Autobiografie verwiesen. 45 In 1959 entstand unter der Regie von Bernhard Wicki (1919-2000) nach der

30 als 16-jähriger Soldat an der Heimatfront im Jahre 1945 bilden offensichtlich die

Vorlage für diesen Roman.46

Die literarische Situation der späten 40er und 50er Jahre aus produktions- und rezeptionsästhetischer Sicht

Es ist als Vorbedingung für das generelle Verständnis der Diskussion um die poetologische Form der von uns betrachteten Werke der Adenauer-Ära unabdingbar, einen Blick auf die Produktions- und Rezeptionsästhetik und damit auf den literarischen Zeitgeist der unmittelbaren Nachkriegsperiode zu werfen.

Betrachten wir die in dieser Zeit für Erwachsene konzipierte Literatur, so ist wohl die Aussage zutreffend, dass es bei dem Großteil der Bevölkerung die als eines der ersten Themen in der Literatur gestellte “Frage nach der moralischen Schuld bzw. Mitschuld der deutschen an den in ihrem Namen begangenen Verbrechen

[…] trotz der Teilnahme der besten deutschen Autoren an dieser Diskussion […] ein Tabu gewesen”47 ist.

Als offenbarer Widerspruch muss es dann erscheinen, dass, wie der

Literaturwissenschaftler Eberhard Mannack ausführt, poetische Texte von ehemaligen Kriegsteilnehmern, “die sich mit dem Nationalsozialismus

Vorlage des Buches eine Filmversion. 46 vgl. Gregor. S. 230 47 Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. III/2. S. 388 31 auseinandersetzen […] in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine breite Resonanz

[fanden].”48

Der Schlüssel lag offenbar in dem offensichtlichen Mangel an einer genuinen und kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in diesen autobiografischen Texten der “Kriegsteilnehmer niederer Ränge”:

Von dieser Perspektive aus gelangte man zur oft ein-

drucksvollen Darstellung der Oberfläche, vernachlässigte

zugleich aber wesentliche Aspekte in bezug auf die Phänomene

Faschismus und Krieg als dessen notwendige Folge. Die Kri-

tiker vermißten vor allem Erklärungsversuche oder Theoriean-

sätze zur Entstehung des Faschismus oder befürchteten sogar

eine nostalgische Rezeption der auf Desillusionierung angelegten

Texte.49

So scheint es, dass die Leserschaft der Adenauer-Ära trotz einer grundsätzlichen

Verweigerung gegenüber einer konstruktiven Auseinandersetzung mit dem

Geschehenen das dringende Verlangen nach einer “akzeptablen”

Faschismustheorie verspürte, die das Vergangene erklärte oder besser, rechtfertigte. Dass jedoch nur affirmative Theorien Gehör fanden, die das

Selbstverständnis des präsumtiven Lesers als Opfer des Nationalsozialismus

48 Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 375 49 Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 375 32 bestätigte und die Herrschaft der Nationalsozialisten als Naturkatastrophe, dem der Einzelne hilflos gegenüber gestanden habe, porträtierte, scheint außer Frage zu stehen: “Der historische Kontext begünstigte den Verzicht auf

Erklärungsversuche zugusten einer von Absurdität und Dämonie umfassend geprägten Weltdeutung mit der Verteuflung des einst vergötterten Führers.”50

Eine Betrachtung der Rezeptionsästhetik und –kritik rückt diese Texte in den

Bereich der apologetischen Literatur, wie sie sich im Bereich der Trivialliteratur in den seit der Adenauer-Ära erscheinenden ‘Landser-Romanen’51 manifestiert:

Die Fülle der Verlage, die [...] alle nur denkbaren Formen an

apologetischer Kriegsliteratur publizierten, ist geradezu über-

wältigend. Da wären erst einmal die vielen >>Erinnerungsbücher<<

(von General Kurt Meyer, genannt >>Panzer-Meyer<<, Ritterkreuz-

träger Günter Fraschka, Fallschirmjägermajor Hans-Joachim Korten

50 Ebd. S. 375-376 51 Im Rahmen der seit 1953 in der BR Deutschland erscheinenenden Kriegsromane ist die im Bastei-Verlag erschienene Reihe “Der Landser” zu erwähnen, der ein weiteres Beispiel für die Tendenz des ehemaligen Soldaten, sich als Opfer des Nationalsozialismus zu sehen, ein Ansatz der eine Identifikation durch die Deutschen der Nachkriegsgesellschaft suggerierte:

In ihr [dem Landser – Amerkung des Autors] wird die deutsche Wehrmacht aus den politischen Zusammenhängen der national- sozialistischen Diktatur herausgelöst und damit indirekt von aller Mitschuld freigesprochen. Der Krieg erscheint als Schickal, seine Ursachen und Ziele liegen außerhalb kritischer Reflexion. Die hervorgehobenen soldatischen Tugenden wie Pflicherfüllung, Gehorsam, Opferbereitschaft signalisieren die Bereitschaft, etwas mit sich geschehen zu lassen (Nusser. S. 85).

33 und andere). Ebenso uferlos ist die Zahl der Berichte und Romane

über bestimmte Waffengattungen, Divisionen und Spezialeinheiten,

deren Kampf mit nostalgisch glühenden Farben ausgemalt wird [...].

Doch die größte Wirkung, vor allem auf die lesende Jugend, ging von

den Serienprodukten dieser Verlage aus. Man denke an die Schild-

Hefte, die ihrer Aufmachung der früheren Kriegsbücherei der deut-

schen Jugend glichen, die Marine-Bücher, die überall verbreiteten

Soldatengeschichten und die bekannte Reihe Der Landser. Am

einflußreichsten war wohl die Landser-Serie, von der zwischen 1957

und 1963 380 Nummern herauskamen.52

Auf der produktionsästhetischen Seite vertraten Autoren und Philosophen, wie

Theodor Adorno, Erich Kahler und Erich Franzen53, in den späten 40er und frühen

50er Jahren die Position einer neuen Subjektivität und meinten in der Krise des

Romans gerade vor dem Hintergrund der zuvor erlebten Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes das Ende des allmächtigen Erzählers zu erblicken.

Diese Annahme resultierte in erster Linie auf einem veränderten Gefühl der

Wirklichkeit gegenüber, welches ein Großteil der Intelligenz der

Nachkriegssituation besaß:

52 Hermand. S. 34 53 vgl. Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 288 34 Komplexität und Undurchschaubarkeit der Wirklichkeit,

Kollektivierungstendenzen als Folgeerscheinung von

Industrialisierung und Technisierung, eine damit verbundene

Auflösung der Person, Standardisierung und Gleichlauf in der

verwalteten Welt, Verdinglichung der menschlichen

Beziehungen, universale Entfremdung und Selbstentfremdung,

Verlust konsensfähiger Wertsysteme. 54

Nichtsdestotrotz erscheint es schwierig, eine schlüssige, universal gültige

Literaturtheorie der späten 40er und 50er Jahre zu entwickeln, geschweige denn, die Thesen von Adorno et al. als eine solche zu propagieren. Unter den verschiedenen literarischen Strömungen gilt es noch den sogenannten Kahlschlag in der unmittelbaren Nachkriegsliteratur herauszuheben, ein Programm welches die Sprache und Literatur von den Überbleibseln der nationalsozialistischen

Herrschaft reinigen und den bewussten Willen der Literatur und Sprache zur

Wahrheit bekunden sollte. Nichtsdestotrotz war die Forderung nach einem absoluten Neubeginn, einer Stunde “Null” in der deutschen Literatur nicht durchführbar und in den meisten Fällen knüpfte die Literatur an die Vorkriegszeit an und setzte die literarische Moderne fort.55

Letztlich kann man wohl nur eine in der Literaturzeitschrift Der Ruf und in Heinrich

Bölls Aufsatz “Bekenntnis zur Trümmerliteratur” zur Sprache kommende Position

54 Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 288f. 55 vgl. Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

35 als Arbeitsthese einer Literaturtheorie, deren Ansatz in einem Großteil der ersten

Nachkriegsliteratur reflektiert wird, ansehen. Diesem Konzept zufolge hatte die

Literatur die Aufgabe, dem Einzelnen seine Verantwortung für die nationalsozialistische Herrschaft und sein Verhalten während dieser Zeit vor

Augen zu führen und darauf hinzuwirken, dass ersterer seine Schuld und

Verantwortung anerkennt und für sein zukünftiges Leben Lehren aus dem

Geschehenen zieht.56

Dieses von der Gruppe 47 und seinen namhaftesten Vertretern, Andersch und

Hans Werner Richter propagierte Programm, stellte die Forderung nach der

Notwendigkeit eines enthüllenden Verismus nach dem Zweiten Weltkrieg auf und forderte, dass der Schriftsteller mit seiner Fähigkeit, “die Dinge durchsichtig”57 zu machen, zu einer neuen Wahrheit und “Wahrhaftigkeit” führen würde. Andersch geht mit dieser Ansicht einher, wenn er die Forderung an den Schriftsteller stellt, dass “Ereignisse und Zustände als sinnliche Gegenstände wahrzunehmen und diese Gegenstände ohne alle symbolischen, parabolischen oder allegorischen

Absichten zu zeigen [sind], als das real thing, das sie sind.”58Jean Paul Sartre, französischer Philosoph und enger Freund von Andersch, führt diese Idee weiter aus und betont die Signifikanz der Wortwahl im Rahmen dieser Enthüllung durch die Literatur. Die Aussage des Schriftstellers musste Sartre zufolge in einem derartigen Einklang mit der Wirklichkeit stehen, dass eine “reine

Bd. III/2. S. 414-418 56 vgl. Böll. “Bekenntnis zur Trümmerliteratur.” S. 31-35 57 Böll. “Bekenntnis zur Trümmerliteratur.” S. 34 58 Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 289 36 Übereinstimmung von Aussage und Wirklichkeit”59 zu konstatieren war. Die Folge war ein Erzählstil, der am besten durch den Begriff realistische Bestandsaufnahme zu charakterisieren wäre.60

Böll, Preisträger der Gruppe 47, weist mit seiner Forderung nach einem

“humanistische[n] Realismus”61 ähnliche Züge in seinem literarischen Konzept auf. In seinem “Bekenntnis zur Trümmerliteratur”, betont er den vorherrschenden

Unwillen der deutschen Bevölkerung sich mit dem Thema der national- sozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs retrospektiv auseinander zusetzen. Überdies stand es für Böll außer Zweifel, dass die Nachkriegs- gesellschaft dem Schriftsteller indirekte Vorwürfe machte, dass dieser den Krieg erlebt hatte und was noch schlimmer war, es wagte, sich gar darüber zu äußern.

Demzufolge sah es Böll auch als eine der wichtigsten und ehrenvollsten Aufgaben des Autors der Nachkriegszeit an, ein realistisches, und in Anlehnung an Sartre, ein humanistisches Bild der Welt zu zeichnen, Probleme für die Leserschaft transparent zu machen und eine umfassende Erklärung für soziale, politische und geschichtliche Phänomene zu offerieren:

Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Und in unserer schönen

Muttersprache hat sehen eine Bedeutung, die nicht mit optischen

Kategorien alleine zu erschöpfen ist: wer Augen hat, zu sehen, für

59 Hocke. zitiert nach: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 41 60 Wehdeking. S. 45-47 61 Böll. „Frankkfurter Vorlesungen (1964).“ zitiert nach: Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 289 37 den werden die Dinge durchsichtig – und es müsste ihnen möglich

werden, sie zu durchschauen, und man kann versuchen, sie

mittels Sprache zu durchschauen62.

Böll gibt seinem “humanistischen Realismus” beizeiten sogar eine deutlich radikalere Ausprägung, die ihn literaturwissenschaftlich in die Nähe der

Naturalismus, oder des “Realismus in Angriffsposition” 63, wie der

Literaturwissenschaftler Jost Hernand letzteren bezeichnet, rückt. Mit seinem

Versuch eine Veränderung der Gesellschaft zu bewirken, einen Punkt, den wir bereits angesprochen haben, betont Böll die sittliche Verpflichtung des

Schriftstellers, auch die Schattenseiten des Lebens um der Wahrheit willen realistisch darzustellen, wie dieses in seiner theoretischen Schrift “Bekenntnis zur

Trümmerliteratur” seinen Niederschlag findet:

Bald schrieb er [Charles Dickens] Romane, und in diesen Romanen

schrieb er über das, was seine Augen gesehen hatten: seine

Augen hatten in die Gefängnisse, in die Armenhäuser, in die

englischen Schulen hineingesehen, und was der junge Mann

gesehen hatte, war wenig erfreulich, aber er schrieb darüber und

das Merkwürdigste war: seine Bücher wurden gelesen.64

62 Böll. “Bekenntnis zur Trümmerliteratur.” S. 34 63 Metzler Literaturlexikon. S. 320

38 Heinrich Böll, Siegfried Lenz und Alfred Andersch weigern sich somit, den klassischen allmächtigen und allwissenden Erzähler abdanken zu lassen und führen somit die literarische Tradition der Moderne fort.

Inwiefern sich die jugendlichen Autoren und ihre Herausgeber von dieser von

Philosophen und Literaten geführte Debatte um die poetologische Form der

Literatur der ersten Nachkriegsjahre beeinflusst sehen und in welchem Grad sich diese angesprochenen literarischen Konzepte in der Jugendliteratur der

Adenauer-Ära manifestieren, soll uns in dem folgenden Abschnitt beschäftigen.

Die Bedeutung der Adoleszenz in den Texten der 40er und 50er Jahre:

Die Stimme der Herausgeber – ein Postulat der Kinder- und Jugendliteratur für die Nachkriegsgeneration

Interessanterweise sind es im Besonderen die Schriften von Jugendlichen65 oder gelegentlich, zum Zeitpunkt des Schreibens, jungen Erwachsenen, die unter der relativ geringen Zahl der Autobiografien, Tagebüchern, oder autobiografischen

Romanen, die die Zeit des Zweiten Weltkriegs thematisieren, qualitativ hervorstehen.66 Die meisten männlichen Deutschen, die Mitglieder der

64 Böll. “Bekenntnis zur Trümmerliteratur.” S. 32 65 Mit der Terminologie “Jugendlicher” im Rahmen dieser Arbeit beziehe ich mich schwerpunktmäßig auf die Altersgruppe von 14 – 18 Jahren. 66 Etwa 25% aller autobiografischen Romane, Tagebücher, und Autobiografien, die von 1945 bis heute publiziert wurden, fallen in den Zeitraum 1945-1959. Diese Information wurde durch Auswertung des Verzeichnis lieferbarer Bücher (VLB) and dem Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schriftums (GV) gewonnen. 39 Wehrmacht oder der Waffen-SS waren und nach längerer oder kürzerer

Kriegsgefangenschaft wieder nach Hause zurückkehrten, wurden im Rahmen des

“Wirtschaftswunders” schnell in den Arbeitsmarkt eingegliedert.67 Der Versuch, die eigene Vergangenheit zu bewältigen, war, wie Böll es ausdrückt, nicht wünschenswert und verzögerte sich wenigstens um einige Jahrzehnte. Erst mit den 60er Jahren kann man von einem ersten ernsthaften Versuch der ehemaligen

Kriegsteilnehmer wie auch von der bundesrepublikanischen Bevölkerung, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit kritisch und konstruktiv auseinander zusetzen, sprechen.68

Wo lassen sich nun mögliche Gründe dafür finden, dass diese Generation von

Kindersoldaten das Schweigen bricht, und was mag die Motivation der Verleger sein, diese düsteren Zeugnisse jugendlichen Kriegsteilnehmer auf einem

Büchermarkt, der sich nach den Schrecken des Krieges und dem darauffolgenden

Wirren der ersten Nachkriegszeit erst wieder im Aufbau befand und offensichtlich eher nach Unterhaltungsliteratur dürstete69, zu publizieren?

Zunächst ist die besondere Situation der Heimkehrer bzw. Kriegsüberlebenden zu berücksichtigen, zu der die Autoren wie auch der Großteil der Verfasser gehört haben mag. Wie bereits angesprochen erfuhren die Heimkehrer im Gegensatz zu den anderen Ländern, in denen sie als Helden gefeiert wurden in Deutschland kaum Beachtung. 70 Nichtsdestotrotz wurde von den Kriegsteilnehmern gerade

67 vgl. Overmans, S. 261 68 vgl. Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. S. 299f. 69 vgl. Nusser. S. 85ff. 70 Overmans. S. 261. 40 diese Phase ihres Lebens und nicht etwa die 40 Jahre Berufsleben oder die

Familie als prägendes Lebensereignis charakterisiert: „Das, was die Betroffenen hier erlebt und erlitten haben, hat [...] ihre Persönlichkeit verändert.“71

Konsequenterweise war das Mitteilungsbedürfnis eines Teils der Betroffenen trotz der hierfür im Nachkriegsdeutschland angetroffenen widrigen Umstände groß:

„Über ihre Erfahrungen konnten sie [die Kriegsheimkehrer – Anmerkung des

Autors] nur schwer mit Menschen reden, die nicht dasselbe erlebt hatten. Manche waren [...] verschlossener geworden.“72

Abgesehen von den für die Beantwortung dieser Frage in den Texten implizit enthaltenen Aussagen, die wir zu einem späteren Zeitpunkt behandeln, vermag uns bereits ein Blick auf die Vor- und Nachworte zu den in dieser Arbeit behandelten Texten auf eine weitere Spur auf der Suche nach einer möglichen

Antwort auf eine unserer eingangs gestellter Frage bringen, wie dem Rezipienten die Motivation des Jugendlichen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, präsentiert wird.

Es mag uns auf den ersten Blick erstaunen, dass es vornehmlich der Verleger, und nicht der Autor ist, der in den Vor- und Nachworten der Autobiografien, autobio- grafischen Romane oder Tagebüchern zu Worte kommt.

Den jungen Autoren, und dieses sind Hubalek, Meichsner, und Altner, bleibt es versagt, ihrer kritischen Stimme außerhalb der eigentlichen Erzählung Gehör zu verschaffen. Demzufolge sind ihre Aussagen in eine Rahmenkonstruktion des

71 Overmans. S. 262 72 Overmans. S. 260 41 Textes eingebettet, wobei der Verleger mit seiner Aussage den Rahmen schafft, stilistisch wie auch inhaltlich der Wertung eines Verlegers, der selbstbewusst seine Rolle mit der Begründung verteidigt, dass „die jüngste Generation zu dichterischer Aussage noch nicht reif ist.”73 Lediglich der Herausgeber von Helmut

Altners Totentanz Berlin erlaubt dem Autor, dem eigentlichen Tagebuch einen kurzen Lebenslauf voranzustellen.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Verleger somit bereit ist, Zugeständnisse auf der Ebene der literarischen Qualität zu Gunsten der Wahrung des

Authentizitätscharakters der Werke zu machen, ohne es allerdings zu versäumen, den Leser vehement auf diesen Opfergang in seinem Vor- oder Nachwort hinzuweisen.

So verleiht ebenfalls die Zwischenschaltung des Herausgebers zwischen Autor und Leser einen objektiveren Charakter, ein Anliegen, dass für die von dem

Verlag postulierte Objektivität des in den Werken Dargestellten von unschätzbarer

Relevanz ist.

Die Vor- und Nachworte der behandelten Werke sind somit als Indiz für die

Bedeutung zu werten, die die Herausgeber – und gleichermaßen die Verfasser - einem dokumentarischen, realistischen und authentischen Stil zumessen, womit erstere sich eindeutig als Vertreter des literarischen Zeitgeistes der späten 40er und 50er Jahre identifizieren.

Die Aussage des Verlegers von Dieter Meichners Roman Versucht’s noch mal mit uns verdeutlicht am deutlichsten diesen Trend und soll hier stellvertretend zitiert

73 Meichsner. S. 205 42 werden: „Er [der Jugendliche] kann beobachten, und er kann das Beobachtete fixieren […]. Was entstand, ist noch keine Literatur […] Aber es ist ein

Dokument.“74

Es scheint, als ob sowohl Autoren als auch Verleger neben der Schaffung einer realistischen Schilderung der Situation der Kindersoldaten und der Vermarktung derselben als solcher vornehmlich zwei weitere Ziele verfolgen:

Betrachten wir in diesem Zusammenhang das Vorwort des Herausgebers von

Claus Hubaleks Tagebuch Unsre jungen Jahre:

Es sind eigene Berichte dieser Jugend […] die Ideale hatte, an

die sie glaubte: heute, da sie zerbrochen sind, erscheint ihr die

Welt leer und öde, ohne Hoffnung und ohne Lösung [...]. Der

Tatsachenbericht [...] trägt vielleicht dazu bei, diese Jugend

mit ihrem Weltschmerz [...] zu verstehen.75

Mit diesen Zeilen lässt der Verfasser dieses Vorwortes den Leser die Hoffnungs- und Orientierungslosigkeit der Generation von Kindersoldaten erahnen.

Offensichtlich geht es ersterem, und selbstverständlich auch dem Autor, wie wir in der Folge noch sehen werden, darum, bereits zu Beginn der Lektüre beim Leser um Sympathie und Verständnis für die Motive zu werben, die den Jugendlichen

74 Meichsner. S. 205 75 Hubalek. S. 8 43 dazu ge- bzw. verführt haben, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen.

So klingt in Ludwig Renns Vorwort zu Claus Hubaleks Tagebuch Unsre jungen

Jahre bereits als Wurzel dieser Identitätskrise des Jugendlichen, das pathologische Misstrauen gegenüber der Welt der Erwachsenen an, welches uns als Motivationsfaktor für sein Schreiben noch später beschäftigen wird.

Ludwig Renn spricht auch die Ohnmacht der Jugendlichen angesichts des nationalsozialistischen Herrschaftsapparats an und bricht für diese Generation die

Lanze, wenn er im folgenden ausführt:

Hier [i.e. in dem Tagebuch] sieht man sehr bildhaft das Elend eines

jungen Menschen, der in den Krieg geworfen war und eine

Ahnung davon hatte, daß man etwas gegen ihn tun müßte, aber

nicht wusste, wie. Daß er nicht hinterher behauptet, damals

einen Ausweg gefunden zu haben, ist gut. Denn es ist ehrlich.76

Der Verleger von Dieter Meichsners Versucht’s noch mal mit uns hebt ebenfalls in seiner Nachrede den Aspekt der Hilflosigkeit der Jugendlichen im Angesicht nationalsozialistischer Verführungsmechanismen hervor und wirbt um

Verständnis für die Jugend, wenn er in einem psycholinguistischen Diskurs die

Toxikose und Korruption des Geistes durch das nationalsozialistische

44 Gedankengut mittels der Sprache anspricht: “Also lernte er [Meichsner] auch die

Sprache, und über die Sprache den Geist des Dritten Reichs. Nichts anders.”77

Manfred Gregor, Autor des Romans Die Brücke78 spricht auch die Jugend von jeglicher Verantwortung frei, wenn er den manipulierten Jugendlichen ausschließlich als Resultat des soziologischen Einflusses des NS-Regimes betrachtet: “Die Jugend ist nicht gut und nicht schlecht. Sie ist wie die Zeit, in der sie lebt […].”79

Die wohl expliziteste Aussage hinsichtlich einer Verantwortlichkeit des

Jugendlichen für seine Teilnahme am Zweiten Weltkrieg lässt sich in dem Vorwort zu Helmut Altners Tagebuch Totentanz Berlin nachweisen:

In diesem Buch schreibt einer, der den Krieg mit achtzehn Jahren

erlebte, fast nur Tatsachen auf. Bisweilen unternimmt er in diesem

Tagebuch politische und philosophische Streifzüge. Über seine An-

sichten kann man streiten. Dem Achtzehnjährigen kann man keinen

Vorwurf der Unreife machen. Die deutsche Jugend wurde “politisiert”.80

76 Hubalek. S. 7 77 Meichsner. S. 207 78 Interessanterweise ist Gregors Roman der einzige Text im Rahmen dieser Untersuchung, in dem sowohl das Vor- wie auch das Nachwort vom Autor verfasst wurden, eine Tatsache, die offensichtlich mit Gregors Lebensalter zum Zeitpunkt des Schreibens, er war Mitte 20, zusammenhängt. 79 Gregor. S. 228 80 Altner. S. 10 45 Wie wir deutlich gesehen haben, und diese bringt uns zu der eingangs gestellten

Frage nach der Thematisierung individueller Verantwortung durch die jugendlichen Autoren zurück, weisen die Herausgeber der im Rahmen dieser

Arbeit behandelten Schriften, ein Konzept individueller Verantwortung auf Seiten der Jugendlichen zurück, und zeichnen den adoleszenten Soldaten ausschließlich als Opfer der nationalsozialistischen Propagandamaschinerie. Dieses kann, wie wir im Folgenden sehen werden, als Vorgriff auf die in den Schriften der jugendlichen Autoren in diesem Zusammenhang zum Ausdruck kommenden

Aussage dienen.

Nach dieser ersten oberflächlichen Betrachtungen der Vor- und Nachworte der

Werke, stellt sich uns zwangsläufig die Frage, wer die vom Herausgeber angesprochene Leserschaft ist, bei wem um Verständnis und Nachsicht für die

Handlungsweisen der Jugendlichen geworben werden soll.

Die Verleger von Helmut Altners Totentanz Berlin and Claus Hubaleks Unsre jungen Jahre identifizieren explizit den Jugendlichen als Adressaten ihrer Werke:

“Diese Schrift ist von der Jugend für die Jugend geschrieben.”81

Diese Werke erfüllen mit dieser expliziten Aussage des Herausgebers somit auch das Charakteristikum der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur im Rahmen der nachstehenden Definition:82 “Schrifttum, das ausdrücklich für K[inder] und

81 Altner. S. 5 82 vgl. Ewers. S. 17 46 J[ugendliche] publiziert wird und diesen Adressaten-Bezug in Titel, Vorwort […] im

Text selbst deutlich macht (intentionale KJL).”83

Obwohl es bei Meichsner an einer expliziten Aussage des Herausgebers hinsichtlich seiner Zielleserschaft mangelt, lässt das jugendliche Alter des Autors sowie der im Rahmen der Handlung stattfindende mündliche Bericht seiner

Erfahrungen an eine etwa Gleichaltrige84 den Rückschluss zu, dass es sich bei diesem Werk auch um intentionale Kinder- bzw. Jugendliteratur handelt.

Die Werke von Böll und Gregor, beide schon deutlich von den Autoren im

Erwachsenenalter verfasst und somit auch nicht mehr der Vermittlerfunktion eines

Kommentars durch den Herausgeber bedürftig, sind, da nähere Angaben über den präsumtiven Rezipienten nicht vorlegen, als sanktionierte Kinder- und

Jugendliteratur zu sehen, zumal diese Schriften nicht zuletzt seit Ende der 50er

Jahre im Kanon von der “pädagogischen Fachöffentlichkeit” als intentionale

Jugendliteratur nachweisbar sind:85 “Was von diesen gesellschaftlich autorisierten

Instanzen [die sich in Sachen Kinder- und Jugendlektüre eine besondere Autorität zuschreiben und teils auch Autorität genießen] für geeignete Kinder- und

Jugendlektüre gehalten wird, ist als ein herausgehobener Anteil der intentionalen

Kinder- und Jugendliteratur anzusehen.”86

83 Metzler-Literatur-Lexikon. S. 236 84 Meichsner. S. 205 85 Signifikanterweiser ist das Werk Gregors (einschließlich der Filversion von Bernd Wicki) im Literaturkanon verschiedener deutscher, niederländischer und dänischer Gymnasien nachweisbar. Bölls Kurzgeschichte ist wesentlicher Bestandteil des Lehrplans Deutsch für die Oberstufe in verschienen deutschen und österreichischen Bundesländern. 86 Ewers S. 20 47 Doch aus den Vor- und Nachworten wird auch ersichtlich, dass sich die

Herausgeber mit der Publikation dieser Werke autobiografischen Charakters nicht nur an den jugendlichen Leser wenden, sondern auch den Erwachsenen ansprechen, wenn sie, i.e. die Herausgeber, mit der Publikation dieser Werke den

Konflikt der Generationen zu überbrücken versuchen. Den Herausgebern zufolge liegt der konkrete Ursprung dieses Generationskonfliktes in der von der älteren

Generation während der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten

Weltkrieges an den Tag gelegten Verhaltensmuster: “Erst wenn ältere und jüngere

Generation sich wieder verstehen, dann werden auch die Jungen wieder mit heißem Herzen an ihre Aufgaben herangehen […] Diese Schrift soll dazu beitragen, die Brücke des Verstehens und des Vertrauens wiederherzustellen.”87

Diese Tendenz ruft Reminiszenzen an die Gefühlslage der jungen Generation nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wach, die nach ihrer Heimkehr zum großen

Teil die ältere Generation anklagte. Die Erwachsenen in verantwortlichen

Stellungen, wie z.B. Lehrer, hatten, so das Argument der Jugendlichen, wissentlich und vorsätzlich ihre Stellung missbraucht und den geistigen und emotionalen unreifen Entwicklungsstand der jungen Generation ausgenutzt, um diese in enthusiastische Kriegsfreiwillige zu transformieren.

Bereits Erich Maria Remarque thematisiert in seinen Romanen vor dem

Hintergrund des Ersten Weltkriegs diese Zerstörung der Jugend und ihrer Ideale, das „schuldlos schuldig“ werden, das Töten-Müssen, um überleben zu können:88

87 Hubalek. S. 9 88 vgl. Remarque. S. 50 48

Was werden unsere Väter tun, wenn wir einmal aufstehen

und vor sie hintreten und Rechenschaft fordern? Was er-

warten sie von uns, wenn eine Zeit kommt, wo kein Krieg ist?

Jahre hindurch war unsere Beschäftigung Töten – es war unser

erster Beruf im Dasein. Unser Wissen vom Leben beschränkt sich

auf den Tod. Was soll danach geschehen? Und was soll aus uns

werden?89

Diese Schuldzuweisung an die ältere Generation wird auch, wie wir später sehen werden, von den Autoren in ihren Werken thematisiert.

Intratextuelle Erklärungsansätze

Bei der Beschäftigung mit den Vor- und Nachworten der in dieser Arbeit behandelten Texte der Adenauer-Ära haben wir erkannt, dass die Verleger mit ihrer Publikation offensichtlich zwei Ziele verfolgen: Zum einen wird in Anlehnung an die prävalente Literaturtheorie Böll’scher Provenienz die Forderung nach einem literarischen Realismus mit dem Versuch, soziologische und historische

Phänomene für den Leser transparent zu machen, verbunden. Da hier, wie wir gesehen haben, der Jugendliche als Rezipient im Vordergrund steht, ist es sicherlich zutreffend, anzunehmen, dass die von den Verlegern propagierte

49 Forderung nach einem literarischen Realismus auch als Rechtfertigung für eine

Simplizierung in sprachlicher Hinsicht, ein Phänomen, welches uns noch im

Zusammenhang mit dem Begriff der Akkomodation des jugendlichen Lesers zu einem späteren Zeitpunk beschäftigen wird, verstanden werden kann.

Zum anderen wird deutlich, dass die Herausgeber das jugendliche Alter der

Autoren zur Zeit ihrer Angehörigkeit zur Wehrmacht in dem Versuch betonen, bei der Beurteilung der im Zusammenhang mit dem Krieg von den Jugendlichen exponierten Verhaltensweisen der Jugendlichen durch den adoleszenten oder erwachsenen Leser, letzteren zur Berücksichtigung des Entwicklungsstandes und der mangelnde Mündigkeit des jugendlichen Kriegsteilnehmers bei einer möglichen Urteilsfindung zu animieren.

Ein wesentlicher Zug in der Darstellung der Jugendlichen in diesen Werken der

40er und 50er Jahre entstammt der Erkenntnis, dass die Adoleszenz ein unabhängiges und ein in sich geschlossenes Stadium in der Entwicklung des

Menschen darstellt, die sich deutlich von dem des Erwachsenseins unter- scheidet.90

Dieses bringt uns zu der eingangs aufgeworfenen Frage zurück, welche Faktoren unikal für den jugendlichen Kriegsteilnehmer in seiner Motivation sind, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, eine Frage, deren Beantwortung wir uns im nächsten Abschnitt nähern wollen.

89 Remarque. S. 237 90 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 39 50 Kognitive und evolutionelle Entwicklung als Motivationskomponente

Da die Herausgeber der im Rahmen dieser Arbeit berücksichtigten Werke nachweislich die Besonderheit des Entwicklungsstandes des Jugendlichen betonen und auch die Autoren die Handlungsweisen jugendlicher Soldaten literarisch gestalten, erscheint es gerade im Zusammenhang mit der uns beschäftigenden Frage, welche Motivationsfaktoren die Schriftsteller für die

Kriegsteilnahme der Jugendlichen anführen, unerlässlich, kurz auf die

Besonderheiten der Entwicklungsstufe der Adoleszenz einzugehen, ein

Unterfangen, welches zweifelsohne auch für die Jugendliteratur der späteren

Jahrzehnte eine hohe Relevanz besitzt.

Insbesondere scheint es von Interesse, kurz zu betrachten, welche Beweggründe des Jugendlichen, als Soldat am Krieg teilzunehmen, entwicklungsbedingt, d.h. mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Stadium der Adoleszenz erklärbar scheinen, und wie die Autoren diese entwicklungsbedingte

Prädisposition des Jugendlichen in Zusammenhang mit einer bewussten oder unbewussten Indoktrination und Manipulation durch das nationalsozialistische

Regime thematisieren. Im Hinblick auf den wissenschaftlichen Ansatz, das

Phänomen der Adoleszenz zu erklären, gibt es die Möglichkeit sich über die

Evolutionstheorie, ein Produkt der Biologie, oder der kognitiven

Entwicklungstheorie, einer Unterdisziplin der Psychologie zu nähern.

Glenn Weisfeld, Psychologe und Autor der Buches Evolutionary Principles of

Human Adolescence, auf den wir uns im Zusammenhang mit der

51 Evolutionstheorie91 stützen, zeigt hier die Problematik eines ausschließlich kognitiven Ansatzes, aber zugleich auch das Potential einer Komplementierung der beiden Theorien auf, ein Ansatz, der uns in unserer Betrachtung beschäftigen wird.

Theories of adolescent development that are grounded in cognitive

developmental theories have serious shortcomings, even though as

evolutionary theory they are helpful in describing individual and age

differences […]. An evolutionary theory centered on emotional

development may offer some advantages over these more traditional

theories of adolescent development […] in adopting an evolutionary

perspective, we need not to minimize the importance of learning and

culture or psychology. To the contrary, evolved and learned

behavioral tendencies usually conspire to guide the organism toward

91 Weisfeld zeigt diese Valenz des evolturionstheoretischen Ansatzes, wenn er wie folgt ausführt:

In recent years, many insights have been gained into the biological roots of human behavior (Segal et. al., 1997), and it is becoming increasingly difficult to ignore advances in the natural sciences, endocrinology, ethology, sociobiology, behavioral genetics, and physical anthropology. Many psychologists now recognize that human social behavior such as sex, aggression, pair bonding, altruism, and parental behavior are not simply products of human culture; they occur in other species as well […]. The unique contribution of the evolutionary approach to the study of behavior is its attention to the adaptive value, or biological function, of an evolved trait. Evolutionary analysis allows one to identify the „why” of specieswide traits (Weisfeld. S. 2-3).

52 the fulfillment of its biological needs. Shaped by genes and

experience, behavior tends to be adaptive for the individual during

the evolution of the species.92

Der Schweizer Kinderpsychologe und Pädagoge Jean Piaget, der sich als genetischer Epistemologe bezeichnete, entwickelte, obwohl nicht unumstritten, eine der nachweislich einflussreichsten Theorien über die besagte kognitive and affektive93 Entwicklung bei Jugendlichen, die wir hier als Arbeitsthese nutzen.94

Gerade vor dem Hintergrund, dass ein Großteil der hier untersuchten Werke aus den 60er Jahren stammt, ein Zeitraum in dem die Ideen Piagets florierten, lässt einen Blick auf seine Theorie überaus plausibel erscheinen.95

Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, die untersuchten Texte unter die

Theorien von Piaget oder Weisfeld zu subsumieren96. Nichtsdestotrotz können

92 Weisfeld. S. 32 93 Piaget betrachtet auch die kognitive Entwicklung im Stadium der formalen Operationen, zu dem die Adoleszenz zählt, ursächlich für die Entwicklung der Affekte (vgl. Wadsworth. S. 154). 94 vgl. Wadsworth. S.1 95 In Bezug auf die Popularität stellt eine Studie des Psychologen L’Abate fest, dass Piaget während der fünfziger und sechziger Jahre der in der Fachliteratur am meisten zitierte Autor ist. Eine 1970 von Wadsforth durchgeführte Studie kam zu dem selben Ergebnis. (zitiert nach: Wadsworth, S. 2) 96 Die Kritik an Piagets Theorien lässt sich stichpunktartig wie folgend zusammenfassen: Seine Theorien über die formalen Operationen wurden als zu simplistisch und als zu theoretisch bezeichnet. Weitere Studien belegen, dass ein Großteil der Jugendlichen und Erwachsenen nie das Stadium der formalen Denkoperation erreichen oder sich der formalen Denkoperationen nur in besonderen Situationen bedienen. Auch die Problematik der Schwierigkeit fortgeschrittene Denkoperationen empirisch auszuwerten und insgesamt zu 53 beide Theorien als Versuch gewertet werden, adoleszentes Verhalten konkludent zu erklären, ein Bestreben, das Piaget wie Weisfeld offensichtlich mit einem

Großteil der Autoren und Herausgebern der in dieser Arbeit behandelten Werken teilt. Demzufolge bietet es sich an, diese Theorien aus der Psychologie und der traditionellen Biologie als tertium comparationes im Rahmen dieser Untersuchung einzuführen, welches zum besseren Verständnis der Autoren und ihrer Aussage dienen mag.

Piagets Theorie soll uns nicht zuletzt hier aufgrund ihrer größeren Komplexität als

Grundlage der Diskussion dienen, wobei wir sie gerade in den Bereichen

Aggressions- und Gruppenverhalten des Jugendlichen und in Beziehung des letzteren zu Eltern und Gleichaltrigen mit den Ergebnissen der Evolutionstheorie, wie sie uns Weisfeld präsentiert, kontrastiert bzw. durch diese ergänzt werden soll.

In diesem Zusammenhang erscheint es hilfreich, zunächst einen Blick auf Piagets

Theorie über die Egozentrik als ständiger Begleiter der kognitiven Entwicklung während der Adoleszenz zu werfen.

Piaget betrachtet die Adoleszenz als separate Entwicklungsstufe, wobei die

Reifung mit anstehender Initiation in die Erwachsenenwelt und sexuelle

erforschen sowie die Vernachlässigung kulturübergreifender Faktoren, wurde gegen Piaget von seinen Kritikern ins Feld geführt. Piaget selbst räumte ein, dass die Fähigkeit das Stadium der formalen Operationen zu erreichen von Faktoren, wie Intelligenz, Wahrscheinlichkeit und Erfahrung abhängt (vgl. Egan). Es ist jedoch unbestreitbar, dass Piaget als einer der wichtigsten, noch immer meistzitiertesten und –rezipierten Entwicklungspsychologen dieses Jahr- hunderts gilt, der das grundlegende Gerüst der kognitiven und affektiven Entwicklungspsychologie legt, wie uns einer seiner Kritiker, James Rusell, 1999 bestätigt: „Piaget’s theory of cognitive development retains ist importance.“ (Russell. S. 247). 54 Bewusstseinswerdung eine wesentliche Rolle spielen. In seinem Aufsatz über

“Problems of Social Psychology of Childhood”, fasst Piaget die Besonderheiten dieses Entwicklungsabschnittes wie folgt zusammen:

From the point of view of integration into society […] adolescence

is essentially characterized by the fact that the individual no longer

considers himself a child […] he envisions becoming a member of

society, playing a role, and making a career […] The crisis of adoles-

cence […] includes factors at once intellectual and affective [...]

It is the advent of formal […] operations97 that permit the individual to

detach himself from the present […] and permits him to move into what is

possible and does not yet exist […] Affectively, the construction of a scale

of values allows him both to go beyond the restricted circle of his imme-

diate environment and to constitute the central axis of his “personality.”98

Piaget zieht den Schluss, dass diese beiden Faktoren, die formalen Operationen sowie der persönliche Wertemaßstab eine wesentliche Rolle bei der Befreiung der

97 Nach Wadsworth beginnt die kognitive Entwicklungsstufe der formalen Operationen mit 11 oder 12 Jahren und zeichnet sich durch die mentale Fähigkeit des Kindes aus, durch die Ausbildung des logischen Denk- und Argumentationsvermögens Probleme verschiedenster Art zu lösen. Dieses Stadium wird auch als “die Befreiung des Denkens” von direkten Erfahrungen, wie sie bei konkreten Operationen zu beobachten sind, bezeichnet. So sticht gerade in der Phase der formalen Operationen die Fähigkeit des Individuums zur hypothetisch-deduktiven Argumentation hervor (vgl. Wadsworth. S.115-142) 98 Piaget. The Psychology of Intelligence. S. 20-21 55 neuen Generation von der alten bedeutet.99 Die kognitive Entwicklung eines

Jugendlichen wird von einem Phänomen begleitet, dass Piaget als “Egozentrik” bezeichnet. Der Jugendliche, der von seiner neu gefundenen Macht, logische

Gedankengänge auszuführen, begeistert ist, wendet diese Fähigkeit gleichsam auf alle Lebenssituationen an, i.e. “what is logical in the eyes of the adolescent is always right, and what is illogical is always wrong.”100

Dieses bedeutet, dass der Jugendliche die Auffassung vertritt, dass sich die Welt stets dem logischen Schema nicht jedoch dem Schema der Realität unterwirft: „He

[der Jugendliche – Anmerkung des Autors] does not understand that the world is not always logically or rationally ordered, as he thinks it should be.“101

Diese Form der ‚Logik’, die dem erwachsenen Betrachter als abstrus erscheinen muss, entspringt den Träumen, eine glorreiche Zukunft dadurch zu gestalten, dass die Welt und die empirische Wirklichkeit durch Ideen transformiert wird.102

Dieser Umstand spielt eine wesentliche Rolle, wenn wir uns die Kongruenz der

Theorie von Piaget und die Unbedingtheit mit der einige der Jugendlichen, denen wir in den Werken begegnen, die nationalsozialistische Ideologie adaptieren, näher betrachten. Im Angesicht dieser neu erfahrenen “MachtfüIle” evaluiert der

Jugendliche sein Verhältnis zu der Erwachsenenwelt von neuem.

The adolescent […], thanks to his budding personality

99 vgl. Wadsworth. S. 135 100 vgl. Wadsworth. S. 137 101 Wadsworth. S. 164 102 Vgl. Inhelder und Piaget. S. 343 - 346 56 sees himself as equal to the elders, yet differently from them,

because of the new life stirring within him. He wants to surpass

and astound them by transforming the world. That is why the

adolescent’s system or life plans are at the same time filled with

generous sentiments and altruistic or mystically fervent projects and

with disquieting megalomania and conscious egocentricity.103

Diese Egozentrik koinzidiert im adoleszenten Entwicklungsstadium mit einer

Religiosität auf Seiten des Jugendlichen, die diesen, wie wir noch sehen werden, empfänglicher für die unreflektierte Akzeptanz politischer Doktrinen macht:

It is in general not until adolescence that real value is placed on integrating

religion with the life systems […] The adolescent’s religious feelings

are frequently colored to a greater or lesser extent by messianic pre-

occupations. The adolescent makes a pact with God, promising to serve

him without return, but by the same token, he counts on playing a decisive

role in the cause he has undertaken to defend.104

Im Zusammenhang mit der kognitiven Entwicklung des Jugendlichen ist es aufschlussreich, einen kurzen Exkurs in Piagets Theorie über adoleszente

Sexualität zu unternehmen, da diese eine gewisse Relevanz für das Verständnis

103 Piaget. Six Psychological Studies. S. 66 104 The Essential Piaget. S. 67 57 von Manfred Gregors Werk und, was uns wieder zu der eingangs gestellten Frage zurückbringt, der in diesem angesprochenen Motivation für den Durchhaltewillen des jugendlichen Soldaten hat. Liebe, so Piaget, scheint für den Jugendlichen die

Projektion eines Ideals in eine reale Person, oder “he loves in a void”105 wie Piaget es ausdrückt, darzustellen. Die Folge dieses konzeptualen Absolutheitscharakters der “Liebe” beim Jugendlichen ist zweifelsohne, dass sich eine Enttäuschung, z. B. eine Zurückweisung durch das glorifizierte Objekt der Liebe, besonders vernichtend auf die Psyche des Jugendlichen auswirkt.

Offensichtlich besitzt der Jugendliche seine eigene Methode in die

Erwachsenenwelt einzutreten und sich dort einzubringen. Dieses erfolgt Piaget zufolge durch: „imagination – so far does this hypothetic-deductive thinking depart from reality.”106

Im Rekurs auf unsere eingangs gestellte Frage nach der Bedeutung der

Adoleszenz im Zusammenhang mit dem Konzept der persönlichen Verantwortung und Motivation des Jugendlichen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, wollen wir unser Augenmerk darauf lenken, wie die Autoren die

Einzigartigkeit des kognitiven und affektiven adoleszenten Entwicklungsstadiums, welches von Piaget eingehend beschrieben wird, argumentativ in die literarische

Darstellung um Schuld und Motivation, einbringen. Es erscheint mehr als zweifelhaft, dass Herausgeber oder Autoren Kenntnisse der

Entwicklungspsychologie oder gar der Theorie Piagets besaßen. Dieses ist auch

105 Ebd. 106 Ebd. 58 für unsere Untersuchung irrelevant, da Piaget offensichtlich einen Großteil der

Erfahrungen, die die Autoren als Jugendliche gemacht haben und die die

Grundlage ihrer Werke bilden, als Zeichen des allgemeinen Entwicklungsstadiums in seinem theoretischen Korpus thematisiert. Dieses bedeutet, dass gewisse

Verhaltensweisen, die die jugendlichen Protagonisten in den behandelten Werken zu Tage legen, entwicklungsspezifisch sind und nicht im unbedingten

Zusammenhang von oder als Resultat der nationalsozialistischen Machtherrschaft und dem in der Folge stattfindenden Krieges zu sehen sind. Nichtsdestotrotz kommt diesen alterspezifischen kognitiven und affektiven Strukturen bei dem

Jugendlichen eine besondere Bedeutung vor dem Hintergrund des soziohistorischen Kontextes zu. Dabei soll uns u.a. Piagets Theorie, wie bereits angeführt, als Gerüst dienen, an dem wir die Theorien der Autoren erklären können.

Zunächst gilt es zu untersuchen, welche Gründe die Autoren für den Initialappeal des nationalsozialistischen Regimes anführten, den letzteres auf die Jugendlichen ausübte, und wie dieses durch das Entwicklungsstadium des Jugendlichen gefördert wird.

Des weiteren erscheint es notwendig, unser Augenmerk auf die zwei verschiedenen zeitlichen Stadien in der Einstellung des Jugendlichen zum nationalsozialistischen Regime und seiner Propagandamaschinerie zu lenken, und zwar bevor und nachdem erstere mit dem eigentlichen Kriegsgeschehen konfrontiert werden. Es stellt sich die Frage, ob und wenn ja, welcher Entwicklung wir beim Jugendlichen Zeuge werden, nachdem letzterer die Valenz der Aussagen

59 der nationalsozialistischen Propaganda mit den Erfahrungen des eigentlichen

Kriegsgeschehen vergleichen kann. Durchschaut der Jugendliche die Irreführung durch den Propagandaapparat, ist er bereit, Konsequenzen zu ziehen oder ist er nicht willig oder fähig, sich aus den Fängen der NS-Indoktrination zu befreien, sind

Fragen, denen wir in diesem Kontext nachgehen müssen.

Es erscheint unvermeidlich, dass wir im Rahmen dieser Fragestellung, was den

Jugendlichen zur Kriegsteilnahme motiviert hat, einen Großteil an

Übereinstimmung dieser Texte, die der gleichen literarischen Epoche angehören, finden werden.

Nichtsdestotrotz führt die von den Autoren in ihren Werken auf unterschiedliche

Weise erfolgte Schwerpunktbildung vor dem Hintergrund, die besagte Motivation des Jugendlichen zu erklären, zu einer graduell unterschiedlichen Herausstellung der verschiedenen Faktoren, die das Gesamtbild ausmachen. Auf diese

Unterschiede wird einzugehen sein.

Bevor wir uns mit der Beziehung von Adoleszenz und Krieg beschäftigen, ist es von Bedeutung das generelle Verhältnis des Jugendlichen zu der Gesellschaft, in der er sich befand, i.e. das Dritte Reich, kurz zu beleuchten. Obwohl der Zeitraum zwischen der Machtergreifung der Nationalsozialisten am 31. Januar 1933 und dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 selten expliziten

Eingang in die literarische Gestaltung der untersuchten Werke findet107, stellt gerade diese Zeitspanne den gesellschaftlichen Rahmen dar, in dem sich die

107 Wir werden uns mit der Signifikanz der Auswahl der erzählten Zeit durch den Autor zu einem späteren Zeitpunkt beschäftigen. 60 Sozialisation des Jugendlichen vollzieht und der eine wichtige Rolle vor dem

Hintergrund der Frage, was den Jugendlichen zur Kriegsteilnahme motiviert, zukommt.

Jugend, nationalsozialistische Ideologie und das Bildungswesen

Der Nationalsozialismus propagierte die Transformation der Gesellschaft, ein

Unterfangen an dem der Jugendliche aufgrund seiner sozialreformerischen

Neigung und Schwärmerei nur zu gerne teilhaben wollte.

Die NS-Ideologie selbst war in ihrem inhaltlichen Wesen dürftig und auf die

Verbreitung verschiedenster Feindbilder, vornehmlich in Form der jüdischen

Weltbevölkerung und der Kommunisten, einem verfälschten Sozialdarwinismus, abstruser Theorien der Rassen- und Vererbungslehre, Postulate eines aggressiven ganzdeutschen Nationalismus sowie einer aggressiven

Expansionspolitik, die sich in der Suche nach dem “Lebensraum im Osten” manifestierte, begrenzt.108

Da es den Nationalsozialisten an einem geschlossenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Programm mangelte, verlegten sie sich auf die

Glorifizierung des Kriegerkultes, propagierten Ideen der Herrenrasse, mystifizierten die deutsche Vergangenheit, Vaterland, Heimaterde, Volkstum und deutsche Bräuche und Sitten.109

108 vgl. Benz. S. 9 109 vgl. Benz. S. 9 61 Diese obskure Ideologie fiel offenbar bei den Jugendlichen, die sich, wie Piaget es ausdrückt, mit “altruistic or mystically fervent projects and with disquieting megalomania and conscious egocentricity”110 beschäftigen, auf fruchtbaren

Boden. So ist es nicht überraschend, dass Manfred Gregor in seinem Werk Die

Brücke, die Gedankenwelt von Ernst Scholten, einem seiner Protagonisten, wie folgend beschreibt:

Auf dem Bücherbord in seinem Zimmer fanden sich Spinoza,

Schopenhauer, Rilke und ein Band Nietzsche stand zwischen dem

zweiten und dritten Teil von Karl May Winnetou. Er las, aber er

war nicht imstande, alles Gelesene zu verdauen, und so war

es ein seltsames, irrlichterndes, abwegiges Weltbild, das in

Ernst Scholten zu wachsen begann.111

In diesem Zusammenhang müssen wir uns die Empfänglichkeit des Jugendlichen für einen unreflektierten und unkritischen Glauben, sowie sein kompromissloses, weil für ihn logisches, Beurteilungssystem, wie wir es bereits kurz angesprochen haben, in Erinnerung rufen.

In diesem Kontext ist es für uns von großer Bedeutung zu erkennen, durch welche

Mittel und in welchem Ausmaße die Nationalsozialisten die Erziehung und Bildung des Jugendlichen in ihrem Sinne zu instrumentalisieren suchten und auf welche

110 Piaget. „The Psychology of Intelligence.“ S. 68 111 Gregor. S. 26 62 Weise sie den Propagandaapparat zur Konstruktion des nationalsozialistischen

Weltbildes beim Jugendlichen applizierten.

Sowohl die Hitlerjugend als auch die Schule spielten eine wesentliche Rolle in dem

Versuch, Primär- und Sekundärsozialisation des Kindes und Jugendlichen aus dem Elternhaus heraus in die Institutionen des nationalsozialistischen Staates zu verlegen und somit den Einfluss der Eltern zu minimieren.112 Dem Toxin der nationalsozialistischen Indoktrination ausgesetzt, erschienen Kinder und

Jugendliche aufgrund ihrer Unreife das perfekte Ziel für die unreflektierte

Absorption nationalsozialistischen Gedankengutes zu sein. Es war der nachweisliche Versuch der Nationalsozialisten, eine neue Generation als pure

Inkarnation des nationalsozialistischen Menschen zu kreieren:

Diese Jugend, die lernt ja nichts anderes, als deutsch denken,

deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit 10 Jahren in unsere

Organisation hineinkommen und dort zum ersten Male überhaupt

frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre

später vom Jungvolk in die Hitlerjugend, dort behalten wir sie vier

Jahre, und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände

unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann

nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA

oder in die SS, in das NSKK usw. […]. Dann kommen sie in den

Arbeitsdienst und werden dort geschliffen […]. Und was dann […]

63 noch an Klassenbewußtsein oder Standesdünkel da oder da noch

vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur

weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei,

drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit

sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS,

usw., und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.113

Im besonderen Maße war es der zweifelhafte Verdienst der Hitlerjugend, den

Jugendlichen für seine Teilnahme an dem von den Nationalsozialisten von Anfang an geplanten Krieg zu konditionieren. Gemäß dem Gesetz über die Hitlerjugend vom 01.12.1936 war die gesamte deutsche Jugend im Reich in der Hitlerjugend zu erfassen.114 Dieser Umstand ließ der Hitlerjugend als eine offiziell mit der

Erziehung des Kindes und Jugendlichen beauftragten Institution neben der Schule die zentralste Bedeutung auf dem Bildungs- und Erziehungssektor des nationalsozialistischen Deutschlands zukommen. Die Mitglieder der Hitlerjugend, und hier war altersmäßig zwischen den Angehörigen des Deutschen Jungsvolks in der Hitlerjugend (10-14 Jahre) und der eigentlichen Hitlerjugend (14-18 Jahre) zu unterscheiden115, hatten im Rahmen ihrer Dienstleistung an verschiedenen

Veranstaltungen, wie Routinedienst, Sport, Ausflügen und Feiern teilzunehmen.

Im Zentrum all dieser Aktivitäten stand die Erziehung und Schulung im Sinne der

112 vgl. Schreckenberg. S 41f. 113 Hitler. „Rede in Reichenberg am 02.08.38“ 114 “Gesetz über die Hitlerjugend” 115 vgl. Schreckenberg. S. 211ff. 64 NS-Ideologie. Die 14- bis 18-jährigen Hitlerjungen erhielten überdies in

Vorbereitung auf den Wehrdienst paramilitärisches Training.116

Die Signifikanz des Einflusses der Hitlerjugend und der nationalsozialistischen

Schule auf die kognitive und affektive Entwicklung des Kindes und Jugendlichen wird von den Autoren, wie wir im Folgenden sehen werden, immer wieder in den

Werken betont und verdient deshalb unser besonderes Augenmerk.

Der fatale Glaube

Die Nationalsozialisten propagierten gleich einer Religion117, die mystische Einheit von Hitler, nationalsozialistischer Bewegung und deutschem Volk. Diese besagte

Einheit wurde durch eine Unzahl von Weihehandlungen, Demonstrationen und

Bekenntniskundgebungen heraufbeschworen und manifestiert. 118: “Gleich einer

Religion, bedurfte der Hitler-Glaube immer wieder der Bestätigung und der

Erneuerung in Ritualen [...].”119

Es sind im Besonderen die Werke von Altner, Hubalek und Meichsner, die die glühende Anhängerschaft, inbrünstige und gleichsam religiöse Verehrung von

Adolf Hitler als dem Künder einer neuen Ordnung durch die Jugendlichen, jedenfalls was die Anfangsphase des Krieges betrifft, betonen. Das offenkundlich expliziteste Beispiel finden wir in Helmut Altners Tagebuch Totentanz Berlin, in

116 vgl. Schreckenberg. S. 360ff. 117 vgl. Benz. S. 9 118 vgl. ebd. 119 Frei. S. 166 65 dem einer der Protagonisten zu Beginn der Handlung freimütig gesteht: “Und die

Jugend glaubt an Hitler wie an eine Offenbarung.”120

So erstaunt es auch nicht, dass selbst in der dunkelsten Stunde die Jugendlichen verzweifelt an der Hoffnung, dass das nationalsozialistische Regime siegreich aus dem Krieg hervorgehen wird, festhält. In Altners Totentanz Berlin wird dieses

Konzept von der irrationalen Hoffnung auf den Sieg Deutschlands anhand der

Reaktion der jugendlichen Protagonisten beim Auftauchen eines Flugzeuges der deutschen Luftwaffe am 10. April 1945, d.h. weniger als ein Monat vor der

Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, exemplifiziert: “Über uns fliegen mit dröhnenden Motoren […] deutsche Bomber in großer Höhe nach Osten. Wir haben also noch Flugzeuge. Es gibt uns neue Hoffnung.“121

In Claus Hubaleks Tagebuch Unsere jungen Jahre ist es ebenfalls dieser Glaube an die Unbesiegbarkeit Deutschlands und an den Nationalsozialismus, der einige

Soldaten während der letzten Kriegsmonate auf dem Weg an die Ostfront trotz der sehr unwahrscheinlichen Überlebenschancen ruhig schlafen lässt: “Sie [die anderen Soldaten – Anmerkung des Autors] können schlafen. Sie wissen, warum sie heute Nacht an die Front fahren. Sie glauben, und deshalb können sie schlafen. Alle glauben.”122

Nichtsdestotrotz entwickeln beinahe alle Protagonisten in den behandelten

Werken angesichts der erfahrenen Realität des Krieges Zweifel an der Valenz der nationalsozialistischen Doktrin: “Und langsam begann sich in unseren Hirnen der

120 Altner. S. 26 121 Altner. S. 45

66 Gedanke zu formen, daß das, was wir gelernt hatten, was unser Evangelium war, falsch war. Falsch sein mußte.“123

Diese Zweifel resultieren nicht, wie man vermuten mag, in einer geistigen

Befreiung des Jugendlichen von dem nationalsozialistischen Gedankengut, sondern in einem verzweifelten Klammern an das letztere. Es stellt sich die Frage, wie ein derartiges Verhalten zu erklären ist.

Der Ich-Erzähler in Dieter Meichsners Werk Versucht’s noch mal mit uns porträtiert, und dieses erinnert uns an die Theorie Piagets über adoleszente

Egozentrik, in einer sehr anschaulichen Weise die irrationale und bedingungslose

Komponente im Glauben eines jugendlichen Protagonisten an den

Nationalsozialismus, die sich bis zum Kriegsende manifestierte: “Dann ging es immer rückwärts, immer rückwärts, und ihre Bomber kamen. Fest glaubte ich noch an den Sieg, anders durfte es nicht enden [Hervorhebung durch den Autor].”124

Selbst noch zwei Tage bevor die Rote Armee Berlin besetzt, zögert der

Protagonist in Meichsners Buch, nationalsozialistische Regalien zu vernichten, welches auch hier als Beispiel für den noch vorhandenen absurden Glauben des

Jugendlichen zu werten ist, dass Deutschland den Krieg doch noch gewinnen könnte:

Unsere Fahnen mußten weg, dachte ich […]. Aber sollten

wir sie vergraben? Es hatte doch alles keinen Zweck mehr,

122 Hubalek. S. 38 123 Hubalek. S. 43

67 warum nicht verbrennen? Dann aber regte sich plötzlich doch

wieder eine verrückte Hoffnung, die Hoffnung, daß noch nicht

alles aus sei, obwohl die Fensterscheiben leise klirrten, wenn

die schweren russischen Granaten in den Vororten einschlugen

[…].125

Offensichtlich trägt die irreführende Propaganda des nationalsozialistischen

Regimes, gepaart mit der verzweifelten Hoffnung des Jugendlichen auf einen deutschen Sieg, wesentlich dazu bei, dass der Jugendliche willens ist, bis zum bitteren Ende zu kämpfen, obwohl kaum mehr von Enthusiasmus auf Seiten des

Jugendlichen im Hinblick auf die Ausübung seines Kriegerhandwerks die Rede sein kann. In dem Tagebuch Totentanz Berlin wird der Protagonist am 19. April

1945 in einem Stadtteil von Berlin Zeuge eines Großangriffes der

Sowjetstreitkräfte, der zur Desintegration innerhalb der sich dort befindenden

Wehrmachtseinheiten führt und dem Protagonisten die Unmittelbarkeit der deutschen Niederlage bedrohlich vor Augen führt: “Auf der Straße rennen Landser nach hinten, kommen über die Felder von überallher. Ist alles verloren?”126 Aber es bedarf ausschließlich der Ansprache eines Regimentskommandeurs, um den

Jugendlichen wieder in seinem Glauben an den Sieg der Wehrmacht zu bestärken:

124 Meichsner. S. 87 125 Meichsner. S. 133

68 Der Bataillonsführer […] spricht zu uns: ’Haltet noch 24

Stunden aus, Kameraden, […] Hitler hat einen Tagesbefehl

herausgegeben.’ Haltet noch 24 Stunden aus, dann kommt die

Wende des Krieges! […] Wunderwaffen werden kommen, Ge-

schütze und Panzer zu Tausenden werden ausgeladen […]

Tausende von Engländern und Amerikanern sind freiwillig in

unsere Reihen getreten, um den Bolschewisten den Garaus zu

machen […] Churchill ist in Berlin und verhandelt mit mir.’ Wir

werden siegen! [Hervorhebung durch den Autor].”127

In diesem Zusammenhang ist es gerade das Konzept des Wunders, welches der

Jugendliche anführt, um seinen unbedingten Glauben an den Sieg Deutschlands, und damit indirekt an das Fortbestehen der nationalsozialistischen Herrschaft, vor sich und anderen zu rechtfertigen: “Manchmal denke ich, es passiert doch noch etwas ganz Tolles. Wir setzen irgendeine neue Waffe ein oder verbünden uns mit dem Amerikaner oder so etwas. Aber daß alles aus sein soll […].”128 Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu den Theorien Piagets über die mangelnde

Verankerung der Jugendlichen in der Realität, einen Punkt, den wir bereits eingangs angesprochen haben. Dieses Festhalten an dem Glauben an der deutschen Unbesiegbarkeit und dem Fortbestand des Nationalsozialismus und dem darin zum Ausdruck kommenden vorsätzlichen Verschließen der Augen vor

126 Ebd. S. 66 127 Hubalek. S. 67

69 der Realität, bewahrten den Jugendlichen vor der schmerzlichen Erfahrung in den für ihn grausamen Abgrund der Realität blicken zu müssen, wie sich dieses in

Dieter Meichsners Buch zeigt: “Und noch ehe ich den Mund öffnen konnte, um ihm zu sagen, daß ich einfach glaubte, weil ich nicht in den furchtbaren Abgrund eines

Zusammenbruches sehen wollte […].”129

Wir erkennen, dass die Anziehungskraft, die der Nationalsozialismus für viele

Jugendliche besaß, auf einer signifikanten Reflektion des kognitiven und affektiven Entwicklungsstandes des Jugendlichen in der nationalsozialistischen

“Ideologie” basiert. Schüsselbegriffe aus dem adoleszenten Entwicklungsstadium wie narzisstisches Persönlichkeitsbild, Profilierungsbedürfnis, Absolutheitsgrad der Ideologeme, Bedürfnis nach Neuordnung, romantische Schwärmerei und unreflektierter Glauben finden sich in der NS-Ideologie wieder oder werden von dieser maßgeblich gefördert.

So erscheint es denn auch für den Jugendlichen schwer, sich diesem Glauben an den Nationalsozialismus vollends zu entziehen, nachdem sich dieser infolge vorsätzlicher Manipulationen durch das Regime und die entwicklungs- psychologische Prädisposition des Jugendlichen einmal gefestigt hat.

Überdies implementierten die nationalsozialistischen Organisationen, angefangen mit dem Jungvolk, das Konzept des unbedingten Gehorsams in dem Kind bzw. späteren Jugendlichen, eine Taktik, die den Jugendlichen auf seine spätere

128 Meichsner. S. 98 129 Meichsner. S. 10 70 Existenz als willfähriges Instrument in den Händen der nationalsozialistischen

Wehrmacht vorbereiten sollte.130

130 In diesem Zusammenhang sei auf ein zu Beginn der 60 Jahre von dem damaligen Doktoranten der Psychologie Stanley Milgram durchgeführtes Experiment verwiesen, welches, obwohl moralisch fragwürdig, sehr Interessante Ergebnisse im Hinblick auf Autoritätsgläubigkeit von Individuen unter Ausschaltung moralischer Bedenken lieferte. Ausschlaggebend für die Untersuchung war die Frage, inwieweit das von nationalsozialistischen Funktionsträgern bei ihrer Verteidung ins ins Feld geführte Argument des Befehlsnotstands Valenz besaß. Thomas Blass fasst die Bedeutung dieses sozialpsychologischen Experiments wie folgt zusammen: Milgram's research; like Freud's, did lead to profound revisions in some of the fundamental assumptions about human nature. Indeed, by the fall of 1963, the results of Milgram's research were making headlines. He found that an average, presumably normal group of New Haven, Connecticut, residents would readily inflict very painful and perhaps even harmful electric shocks on innocent victims.The subjects believed they were part of an experiment supposedly dealing with the relationship between punishment and learning. An experimenter – who used no coercive powers beyond a stern aura of mechanical and vacant-eyed efficiency – instructed participants to shock a learner by pressing a lever on a machine each time the learner made a mistake on a word-matching task. Each subsequent error led to an increase in the intensity of the shock in 15-volt increments, from 15 to 450 volts. In actuality, the shock box was a well-crafted prop and the learner an actor who did not actually get shocked. The result: A majority of the subjects continued to obey to the end – believing they were delivering 450 volt shocks – simply because the experimenter commanded them to. Although subjects were told about the deception afterward, the experience was a very real and powerful one for them during the laboratory hour itself. That year, the headline of an article in the October 26 issue of The New York Times blared, „Sixty-five Percent in Test Blindly Obey 71 Der Wortlaut des Eides, welcher von allen Angehörigen der Wehrmacht zu leisten war, und die nachfolgende Erläuterung mögen uns einen Begriff davon geben, welches Maß an Loyalität von dem Soldaten, d.h. auch dem Jugendlichen, gefordert wurde und wie dieses Konzept in die nationalsozialistische Erziehung des Jugendlichen Einzug gehalten hat:

Die Eidesformel lautet: ‘Ich schwöre bei Gott diesen

Heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches

und Volkes, , dem Obersten Befehlshaber der

Wehrmacht unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat

bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.

Der Eid bildet den religiösen Unterbau der soldatischen Berufs-

Order to Inflict Pain.“ A week later the St. Louis Post-Dispatch also informed its readers about the experiments – in an editorial lambasting Milgram and Yale for the ordeal they put their subjects through. That article marked the beginning of an enduring ethical controversy stirred up by the experiments that sometimes overshadowed the substance of the findings. Those groundbreaking and controversial experiments have had – and continue to have – long-lasting significance. They demonstrated with jarring clarity that ordinary individuals could be induced to act destructively even in the absence of physical coercion, and humans need not be innately evil or aberrant to act in ways that are reprehensible and inhumane. While we would like to believe that when confronted with a moral dilemma we will act as our conscience dictates, Milgram's obedience experiments teach us that in a concrete situation with powerful social constraints, our moral sense can easily be trampled (Blass. S. 68-69).

72 ethik. Er ist das wirksamste Mittel, um dem sittlichen Willen des

Mannes zur Erfüllung seiner Pflichten die stärksten Antriebe zu

geben.131

So genügt in Manfred Gregors Roman Die Brücke der Umstand, dass ein General den Befehl zu der Verteidigung einer Brücke gibt, die zu verteidigen ein objektiv sinnloses Unterfangen darstellt, da erstere von keinerlei strategischer Bedeutung ist132, um Scholten, einen Protagonisten für jegliche logischen Argumente, die von einem Zivilisten vorgebracht werden und dem Zweck dienen, die Jugendlichen zur

Aufgabe zu bewegen, unempfänglich zu machen: “Vom Osten her betrat ein

Zivilist die Brücke und ging zu den Buben hin: ‘Was wollt denn ihr noch hier? […]

Geht nach Hause […]. Wir haben den Krieg verloren!’ […] Scholten und Horber ließen den Mann ruhig sprechen […]. ‘Die Brücke wird verteidigt, Befehl vom

General!’ […].”133

Auch in Helmut Altners Werk treffen wir das Phänomen an, dass Soldaten aller

Altersstufen trotz der offensichtlichen Desintegration der Wehrmacht und dem unmittelbar bevorstehenden Sieg der Alliierten, wie einem Automatismus folgend, weiter ihre Pflicht tun:

Kompanien rücken vorbei. Wild zusammengewürfelt. Alle

131 Altrichter. S. 9 132 Die Tatsache, dass selbst die Protagonisten diesen Umstand erkennen, wird an ihrem kritischen Verhalten deutlich, als sie an der Brücke eingesetzt werden.

73 sind auf der Autobahn aufgefangen worden, neu formiert und

zusammengestellt. Zivilisten und Soldaten, Kinder

zwischen Greisen. Meist ohne Waffen […], immer noch die

Pflicht und den Befehl als oberstes Gesetz anerkennend […].134

Selbst in der Endapokalypse des Krieges sind es offensichtlich immer noch der Eid und der unbedingte Gehorsam, die die einzig überdauernden, gültigen und scheinbar feststehenden Werte darstellen, an denen eine Orientierung in einer

Welt noch möglich scheint, in der in den Augen des Soldaten offenbar jegliche anderen Werte verlorengegangen oder entwertet worden sind135:

“Trotz allem dünkt uns eiserner Gehorsam ein Strohhalm, an dem wir uns aufrichten, um nicht ganz zu zerbrechen.”136

Da sich, wie bereits eingangs betont, die Autoren in ihren Werken auf die

Fronterlebnisse der Jugendlichen bzw. auf die unmittelbar davor liegenden

Geschehnisse konzentrieren und die Kindheit bzw. Jugend im

133 Gregor. S. 49 134 Altner. S. 78 135 Es sei hier kurz darauf hingewiesen, dass noch nach Kriegsende deutsche Deserteure und Befehlsverweigerer von deutschen Kriegsgerichten unter Aufsicht der britischen Gewahrsamsmacht zum Tode veurteilt und hingerichtet wurden. Dieses geschah zu einem Zeitpunkt, als aus einem derartigen Verhalten der schuldigen Soldaten kein Nachteil für die Wehrmacht abzuleiten war, da diese zwar noch de jure aber nicht mehr de facto bestand. Diese grausame Sanktionierung des Verhaltens der Deserteure legt den Schluss nahe, dass die Gehorsamspflicht des Soldaten als absolutes indisputables und unangreifbares Konzept propagiert wurde, dass sich selbst angesichts der Realität, die im faktischen Widerspruch zu diesem Konzept stand, seine Valenz behielt. Siegfried Lenz hat sich dieses Themas in seiner Erzählung Ein Kriegsende angenommen.

74 nationalsozialistischen Deutschland nicht oder nur sehr marginal thematisieren, erscheint es natürlich problematisch, eine konklusive Aussage über den Grad der

Identifizierung der Jugendlichen mit den einzelnen Aspekten der nationalsozialistischen Ideologie zu treffen. Gerade der Aspekt des Zweiten

Weltkrieges als eugenetischer Vernichtungsfeldzug gegen das Judentum und die

Einstellung der Jugendlichen zu diesem Aspekt des Krieges, wenn er denn als solcher von den jugendlichen Autoren wahrgenommen wurde, soll kurz behandelt werden.

In den Werken von Altner, Hubalek, Meichsner und Böll finden wir in keiner Weise

Beispiele dafür, dass es in das Bewusstsein des Jugendlichen gelangt ist, dass es sich bei dem Zweiten Weltkrieg um einen Rassenkrieg137 handelte. Werden

Soldaten der Sowjetarmee erwähnt, so erscheinen sie stets als kollektive Macht nicht in der Rolle als individuelle “Untermenschen”, sondern als Kriegsgegner, denen Respekt gezollt wird.138

Ausschließlich in Manfred Gregors Roman Die Brücke thematisiert der Autor die frühere Jugend und Kindheit der Protagonisten und ermöglicht so dem Leser einen

Einblick in die Problematik des Glaubens der Jugendlichen an die eugenetische und anti-semitische Komponente der NS-Ideologie. Walter Forst, Sohn eines

SA-Standartenführers139, und späterer fanatischer Verteidiger der Brücke, zeigt sich systemkritisch, als er die Anweisung seines Vaters ignoriert, nicht mehr mit

136 Altner. S. 88 137 vgl. Frei. S. 7 138 vgl. Meichner. S. 136ff. 139 Ein SA-Standartenführer ist mit einem hohen Stabsoffizier (Oberst) in der

75 einem Freund jüdischen Glaubens zu spielen140 and warnt aus Abneigung gegen die NSDAP einen systemkritischen Lehrer vor einer Verschwörung gegen ihn:

Eines Tages war Forst zu ihm gekommen: >> Da ist etwas

im Gang, Herr Professor. Man will sie zum Barras schicken.

Irgendein Bonze ist verschnupft.<< Stern sah Forst fragend

An: >> Warum erzählst du mir das, Walter? << >> Ich kann

Schweinereien nicht leiden […] << Forst grinste.141 (176)

In Gregors Roman spricht der Autor vor allem den unbedingten Glauben an militärische Disziplin, nicht jedoch an die nationalsozialistische Ideologie, an.

Erstere kristallisiert sich, deutlich von der ideologischen Komponente getrennt, als eine der wesentlichen Motivationsfaktoren für die Aufnahme und Fortführung des

Kampfes der jugendlichen Protagonisten gegen die U.S. Soldaten heraus.

Selbst nachdem alle bis auf zwei der Protagonisten bei dem Versuch, die Brücke zu verteidigen, ums Leben gekommen sind, wirkt der magische Fluch des Befehls bei beiden Überlebenden noch lange fort:

Sie [Scholten and Forst] blickten noch einmal auf die Straße

[…] dann sagte Scholten:”>>Gehn wir!<< >>Und was ist mit

unserem Befehl?<< Forsts Stimme klang betreten. >>Ich

Wehrmacht vergleichbar. 140 vgl. Gregor. S. 39

76 scheiße auf den Befehl<<, sagte Scholten […]. Wir sollten diese

Brücke halten, und wir haben sie gehalten. Vier von uns sind

gefallen, also?<< […] Und Scholten dachte an den General.

Wie ist das jetzt, fragte er sich, haben wir jetzt den Befehl erfüllt

oder nicht?142

In der Kurzgeschichte Wanderer, kommst du nach Spa…, dem einzigen explizit fiktionalen Text im Rahmen unserer Untersuchung, entwirft Böll sehr kunstvoll das

Bild eines Jugendlichen, dessen Naivität und Leichtgläubigkeit durch den

Nationalsozialismus schamlos ausgebeutet wird. Wie wir bereits kurz angesprochen haben, erscheint die intendierte Aussage von Böll aufgrund ihrer artistischen Verwendung von Symbolik und intertextuelle Referenzen weniger explizit als die der anderen Werke, die wir behandeln. Böll identifiziert die Schule als die Institution, die durch Perversion des Bildungsauftrages und Verrat der humanistischen Ideale an die Nationalsozialisten, den Thanatos für das Vaterland im Jugendlichen weckt.143

Selbst als der Protagonist in Wanderer, kommst du nach Spa… die Erkenntnis gewinnt, dass er seinen Kriegsverletzungen erlegen wird, ist er immer noch der festen Überzeugung, dass sein Opfer einem höheren Zweck dient, obwohl ihm

(noch) nicht klar ist, worin genau dieser Sinn liegt: “würde mein Name auch darauf stehen, eingehauen in Stein, und im Schulkalender würde hinter meinem Namen

141 Gregor. S. 176 142 Gregor. S. 180

77 stehen – ‘zog von der Schule ins Feld und fiel für . . . ‘ aber ich wußte noch nicht wofür […].”144

In der Folge wollen wir uns weiteren Faktoren, die die Jugendlichen in den Augen der Autoren als ideales Ziel der Indoktrination durch die nationalsozialistische

Ideologie erscheinen lassen, zuwenden.

Abenteuer und Krieg

Wir erinnern uns, dass Piaget im Zusammenhang mit dem Bestreben des

Jugendlichen, die Welt zu transformieren, dessen Hang zum Abenteuer und die

Energie, die in diesem Zusammenhang beim Jugendlichen freigesetzt wird, betont. Auch Weisfeld verweist in seinem evolutionstheoretischen Ansatz auf die

Abenteuerlust des Jugendlichen, die im Zusammenhang mit einer

Selbstüberschätzung und Risikofreude einhergeht.145 So lässt sich eine ungebrochenen Abenteuerlust bei den adoleszenten Protagonisten gerade zu dem Zeitpunkt konstatieren, an dem sie noch nicht der Realität des Krieges exponiert waren. In Dieter Meichsners Text Versucht’s noch mal mit uns wird die romantische Vorstellung, die der Jugendliche vom Krieg besitzt, und dessen

Bestreben, der Langenweile des grauen Alltags eines Jugendlichen zu entfliehen, evident:

143 vgl. Sander. S. 48-9 144 Böll. Wanderer, kommst du nach Spa ... S. 160

78 Daran, wie die Eltern weinten, als der Führer vor dem

Reichstag sprach und sagte, es gibt Krieg, kann ich mich

noch gut erinnern. Ich war erstaunt gewesen. Krieg war

doch etwas Großes, etwas Heroisches. Wir konnten’s denen

doch endlich zeigen. Und die Schule war für ein Wochenende

ausgefallen.146

In Helmut Altners Totentanz Berlin wird dem präsumtiven Leser die Rolle der

Schule deutlich, die dieses Konzept vom Krieg als Abenteuer beim Jugendlichen maßgeblich und vorsätzlich förderte, wie anhand der Äußerung des Ich-Erzählers deutlich wird:

In der Schule erzählt der Lehrer vom Krieg. Es muß schön sein. Wir

lesen alle Sonnabende drei Stunden lang aus Kriegsbüchern vor.

Ich habe Angst, daß der Krieg bald aus sei und wir nicht mehr

mitmachen können.147

Auch Böll kritisiert in seiner Erzählung scharf die Rolle der Schule im Dritten Reich als willfährige Schmiede des Nationalsozialismus, die in dem Jugendlichen den

Glauben weckt, dass es “dulce et decorum est pro patria mori”. So lässt das folgende Zitat, vom Protagonisten im Wanderer, kommst du nach Spa… nach der

145 vgl. Weisfeld. S. 174ff. 146 Meichsner. S. 86

79 Ankunft im Feldlazarett und kurz vor seinem Tode gesprochen, eindeutige

Rückschlüsse auf das in unseren Augen pervertierte und romantisierte Bild zu, dass der Jugendliche vom Krieg besitzt:

Mein Gott, wie beruhigend war die Artillerie, wie gemütlich:

Dunkel und rauh, ein sanftes, fast feines Orgeln. Irgendwie

vornehm. Ich finde die Artillerie hat etwas Vornehmes, auch

wenn sie schießt. Es hört sich so anständig an, richtig nach

Krieg in den Bilderbüchern […].148

Böll geht in seiner Erzählung im Gegensatz zu den anderen Autoren noch einen

Schritt weiter. Auch noch nach der Teilnahme an den Kampfhandlung hat der

Krieg bei dem Protagonisten noch nicht seinen romantischen Reiz verloren.149

Manfred Gregors Werk zeigt wie die Jugendlichen trotz der unmittelbar bevorstehenden Kampfhandlungen den Ernst der Situation, in der sie sich befinden, negieren und Krieg weiterhin als ein Kinderspiel porträtieren:

>>Mensch, glaubt mir’s doch, das wird noch höllisch

interessant!<< Scholten: >>Klar, Mensch, gleich spielen

wir Indianer […] Freunde, Stallgefährten, wir wollen den

147 Altner. S. 146 148 Böll. Wanderer, kommst du nach Spa... S. 160 149 Die Art der Glorifizierung des Krieges durch den Protagonisten bei Böll lässt Reminiszenzen an Ernst Jüngers Roman In Stahlgewittern wach werden. 80 Worten unseres weisen Häuptlings lauschen; Winnetou

soll entscheiden.150

Dieter Meichsner lässt seinen jugendlichen Ich-Erzähler, der sich auf seinen

Einsatz als “Werwolf” vorbereitet, im Zusammenhang mit dem adoleszenten

Abenteuerdrang folgende Worte finden:

Wir waren noch Jungen genug, um gepackt zu sein von der

Romantik der Höhlen in den Trümmern, vom Sprengstoff, vom

Kampf im feindlichen Hinterland. Von einer Romantik, wie wir

sie erwarteten, vom Guerillakrieg, wie wir ihn uns vorstellten.151

Demzufolge erscheint es nicht verwunderlich, dass die Jugendlichen diese romantischen Vorstellungen in der Phase vor der eigentlichen Kampfhandlung genüsslich ausleben, wie dieses in der Filmversion152 von Manfred Gregors

Roman Die Brücke deutlich wird, als einer der Protagonisten, der sich in einem

Baum, in welchem die Jugendlichen vor ihrer Zeit in der Wehrmacht in einem

Baumhaus spielten, positionieren will, um ein besseres Schussfeld zu haben.

Manfred Gregor enthüllt dem Leser immer wieder diese “abenteuerliche”

150 Gregor. S. 21 151 Meichsner. S. 13 152 Die Filmversion von Gregors Roman entstand 1959, ein Jahr nach dem Erscheinen des Buches. Wir greifen hier nur vereinzelt auf den Inhalt des Filmes zurück, und zwar auf Stellen, die für unsere Untersuchung wertvolle Beispiele offerieren. 81 Vorstellung vom Krieg, wie sie die Jugendlichen internalisiert haben, und liefert ein sehr treffendes Beispiel, als er seine adoleszenten Protagonisten um Waffen streiten lässt als stritten sie um Spielzeuge:

Forst war begeistert, genauso hatte er sich das vorgestellt.

Er nahm zwei Panzerfäuste und trug sie unter den Brücken-

bogen, kam wieder und holte die nächsten zwei und so fort –

als er auch noch die beiden von der Brücke in sein Versteck

herunterholen wollte, protestierten die anderen, und Horber

krähte: ‘Laß uns mal auch noch was da […].’153

Angesichts der Schrecken der Kampfhandlung verblasst das romantische Bild vom Krieg, welches die Nationalsozialisten propagierten und das der Jugendliche nicht zuletzt aufgrund seines Entwicklungsstandes enthusiastisch adaptierte, beim adoleszenten Soldaten sehr schnell und das wahre Gesicht des Krieges offenbart sich dem Protagonisten. Ohne Ausnahme zeichnen die Autoren in einer apokalyptischen Vision die destruktive und dehumanisierende Macht des Krieges, ein Szenario, dem der Jugendliche schutzlos ausgeliefert zu sein scheint.

Die folgenden beiden Textausschnitte zeigen in repräsentativer Weise, auf welche

Art die Autoren literarisch den Versuch gestalten, die Schrecken des Krieges mit den Mitteln der Sprache realistisch darzustellen. In Hubaleks Unsre Jungen Jahre ist es der Ich-Erzähler, ein Flaksoldat, der den fürchterlichen Anblick der in Folge

82 eines alliierten Luftangriffs grausam verstümmelten Leichen seiner Kameraden beschreibt:

Ein ungeheures Krachen reißt mir fast den Stahlhelm vom Kopf […]

Hier stand das Geschütz. Es ist aus dem Zementsockel gerissen. Das

Rohr hängt zur Erde herab […] Zwei Kanoniere liegen am Boden. Ich

sehe genauer hin. In meinem Hals steigt es hoch. Ich erbreche mich […]

Der Schädel des einen Kanonier ist oberhalb der Stirn wie abgesägt. –

Der andere sieht aus, als schreie er. Sein Oberkiefer ist hochgerissen, die

untere Mundpartie fehlt. Auf dem Übermantel schwimmt eine braunrote

Lache.154

Heinrich Böll offeriert in seiner Kurzgeschichte ebenfalls ein plastisches Beispiel vom Schrecken des Krieges, als er seinen Protagonisten, einen jugendlichen

Soldaten, der schwerverwundet in ein Feldlazarett gebracht wird, die Schwere und

Art seiner Verletzungen erkennen lässt:

Ich wollte mich aufstützen, aber ich konnte es nicht: ich blickte an mir

herab und nun sah ich es: sie hatten mich ausgewickelt, und ich hatte keine

Arme mehr, auch kein rechtes Bein mehr, und ich fiel ganz plötzlich nach

hinten, weil ich mich nicht aufstützen konnte; ich schrie […].155

153 Gregor. S. 67 154 Hubalek. S. 26-27. 83

So erkennen die Jugendlichen in den Werken in dem Augenblick, in dem sie an

Kampfhandlungen teilnehmen müssen oder wenigsten Augenzeuge derselben werden, dass Krieg mit Abenteuer, das romantische Elemente trägt, nichts gemein hat und, wie Helmut Altner es in seinem Werk ausdrückte, “das Bild von einem

‘fröhlichen Krieg’ zerstob.”156

Kontrastieren wir die verschiedenen Texte miteinander, so lässt sich konstatieren, dass insbesondere Manfred Gregor die Aspekte “Abenteuerdrang” und

“Heroismus”, wie wir später sehen werden, in der Gleichung betont, die den

Jugendlichen zu seiner Kriegsteilnahme letztendlich (ver)führten. Ein Grund hierfür ist das offenkundige Interesse Gregors an einem Psycho- und Soziogramm des Jugendlichen, welches Informationen über seine Existenz und Entwicklung vor dem Krieg beinhaltet.

In den Werken Totentanz Berlin und Unsre jungen Jahre richten die Autoren nur wenig Aufmerksamkeit auf das Phänomen der adoleszenten Abenteuerlust als

Motivationsfaktor für die Kriegsteilnahme des Jugendlichen. Zu diesem Umstand trägt wesentlich das Bestreben der Autoren bei, längere Reflektionen über die

Vorkriegsexistenz des Jugendlichen oder Kindes zu vermeiden. Dadurch, dass sich der jugendliche Protagonist beinahe unmittelbar nach Einsatz der Narration bereits in der eigentlichen Kriegssituation befindet, wird die beim Jugendlichen

155 Böll. Wanderer, kommst du nach Spa ... S. 164 156 Altner. S. 125 84 möglicherweise noch vorhandene Vorstellung vom Krieg als Abenteuer geradewegs ad absurdum geführt.

Heroismus

In engem Zusammenhang mit dem Abenteuerdrang des Jugendlichen steht seine

Auffassung von Heldentum. Wie Piaget es definiert, wird der Jugendliche in dem

Entwicklungsstadium der Adoleszenz stark durch megalomanische und narzisstische Phantasien beeinflusst, die ihren Ursprung in der adoleszenten

Egozentrik haben. Jugendliche befinden sich nach Piaget auf der ständigen Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft und dürsten nach Anerkennung durch die

Erwachsenenwelt aber auch durch ihre Altersgenossen.

Die Nationalsozialisten machten sich seit der Machtergreifung 1933, aber insbesondere seit dem Beginn des Krieges, diesen menschlichen Narzissmus, der besonders bei den Jugendlichen aufgrund ihres psychologischen

Entwicklungsstandes stark ausgeprägt war, zunutze, indem sie versuchten, das

Individuum durch Uniformen, Orden und Ehrenzeichen zu betören. Erklärtes Ziel dieser Strategie war es, die Deutschen, alt und jung, in einer permanenten

Ekstase zu halten und so die Unterstützung des NS-Regimes durch das Volk zu sichern: “Fahnen, Standarten, Uniformen, Orden und Ehrenzeichen, die es vermochten die Sinne [des Einzelnen] zu betören.” 157

157 Benz. S. 13 85 Die Sucht nach sichtbaren Auszeichnungen als Weg, das eigene Selbstbildnis zu kreieren und zu kultivieren, und endlich von der Erwachsenenwelt Anerkennung gezollt zu bekommen, ist für viele Jugendliche ein wesentlicher Grund, den Kampf und somit die Möglichkeit der Auszeichnung als Form der Befriedigung des narzisstischen Bedürfnisses aktiv zu suchen:

Wir machen gerade Pause, als der Leutnant mit einem

Hauptmann, der den Arm voller Panzervernichtungsabzeichen hat,

erscheint […]. In glühenden Farben schilderte er, wie die Männer

seiner Division […] mit Panzerfäusten Dutzende von russischen

Panzern vernichten. Für jeden Panzer gibt es ein Panzervernich-

tungsabzeichen, und bei 4 erledigten Panzern das Ritterkreuz […]

als er geendet hat, fragt er, wer sich melden würde. Alle erklimmen

die Böschung.158

Diese Schwäche, insbesondere der Jugendlichen, wurde von den nationalsozialistischen Machthabern bei der Aktivierung von Menschenreserven für ihren eugentischen Krieg berechnend ins Kalkül gezogen. Aus diesem Grunde treffen wir in den Werken der Autoren Orden und Ehrenzeichen als zentrales

Thema immer wieder an: “Drüben stürmte ein junger Leutnant aus der Baracke.

Das deutsche Kreuz in Gold glänzte auf seiner Brust, und er trug noch andere

158 Altner. S. 53 86 Orden.”159 Insbesondere eine Auszeichnung wird im Zusammenhang mit der

Ordenssucht der Jugendlichen von allen Autoren schwerpunktmäßig thematisiert: das von den Jugendlichen höchstbegehrte Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes:

[…] auch von den einzelnen Heldentaten einzelner Männer

sprachen sie, die Panzer geknackt hatten und mit Ritterkreuzen

ausgezeichnet worden waren. Das könnte ich doch auch, flüsterte

meine Schwester. Im stillen hoffte sie [...] ich würde mit dem Ritter-

kreuz auf Urlaub kommen […] Alle Freundinnen würden sie be-

neiden.160

Dieses von den Nationalsozialisten inszenierte und propagierte Heldentum wurde in den Augen der Jugendlichen durch die grausame Kriegswirklichkeit schnell ad absurdum geführt. Die Autoren exemplifizieren diesen Umstand in ihren Werken, wenn z.B. selbst ein Ritterkreuzträger, Angehöriger des Kriegeradels, vor den anrückenden Soldaten flieht, wie dieses in der Filmversion von Manfred Gregors

Roman gezeigt wird, oder als Deserteur von einem Standgericht aufgehängt wird, wie Dieter Meichsner es in seinem Buch Versuch’s noch mal mit uns beschreibt:

Der eine war Offizier. Er hing ein wenig höher […]

Auf seiner Brust pendelte ein Schild […]:’ Er – war - zu –

159 Meichsner. S. 22 160 Meichsner. S. 89 87 feige – Frauen – und – Kinder – zu verteidigen […]’ Aber

er hat doch das Ritterkreuz, wunderte ich mich […].161

Trotz der Erkenntnis der Absurdität des nationalsozialistischen Heldenpathos durch viele Jugendliche, vermögen Schule und Hitlerjugend den adoleszenten

Protagonisten in seinem romantisch-idealistischen Konzept vom Heldentum so zu bestärken, dass dieser, in Verkennung der Realität, bereit ist freiwillig sein Leben zu opfern.

So weigert sich Siegi Bernhard, einer der jugendlichen Handlungsträger in

Manfred Gregors Roman Die Brücke, in dem verzweifelten Versuch, Mut zu beweisen, Deckung vor einem anreifenden alliierten Tiefflieger zu nehmen, ein

Versäumnis, das der Protagonist mit dem Leben bezahlt:

Leg dich hin du Idiot! Hämmerte sein Gehirn. Leg dich endlich

hin! Siegi Bernhard aber hörte nicht auf sein Gehirn. Vor seinen

Augen stand wie ein Bild die Erdspalte und der Ritter Curtius.

>> Er war ein Held<<, hörte er sich selbst sagen, ein Held …

ein Held…!”162

161 Meichsner. S. 178 162 Gregor. S. 59 88 In Bölls Kurzgeschichte Wanderer kommst du nach Spa… hofft die Hauptfigur noch angesichts ihres Todes, dass ihr Namen als Held auf dem Kriegerdenkmal verewigt wird:

Dann dachte ich daran, wieviel Namen wohl auf dem

Kriegerdenkmal stehen würden, wenn sie es wieder

einweihten, mit einem noch größeren Eisernen Kreuz

darauf und einem noch größeren steinernen Lorbeerkranz,

und plötzlich wußte ich es: wenn ich wirklich in meiner

alten Schule war, würde mein Name auch darauf stehen,

eingehauen in Stein, und im Schulkalender würde hinter

meinem Namen stehen: ‘zog von der Schule ins Feld und

fiel für …’163

Wiederum sind es besonders Böll and Gregor, die, und sie erreichen dieses in erzähltechnisch unterschiedlicher Weise, in ihren Werken dem bei den

Jugendlichen anzutreffenden Heldenkonzept, wie es sich vor der eigentlichen

Teilnahme des Jugendlichen an Kampfhandlungen darstellt, bevorzugt thematisieren. Zum einen hängt dieses sicher, wie wir bereits kurz angedeutet haben, mit dem Interesse der beiden Autoren an der Entwicklung des

Jugendlichen vor dem Kriege und ihren Erfahrung vor dem Eintritt in die eigentliche Kriegssituation zusammen. Altners und Meichsners Texte hingegen

89 konzentrieren sich auf die zunehmende Realisierung des Jugendlichen, dass das von den nationalsozialistischen Machthabern propagierte Heldenkonzept angesichts der Realität keinerlei Wahrheitsgehalt mehr besitzt. So handelt es sich in Meichsners Werk Versucht’s noch mal mit uns bezeichnenderweise um die

Schwester des Ich-Erzählers, eine Protagonistin, die die Schrecken des Krieges nicht an ihrer eigenen Haut erfahren hatte und die unkritisch das von den

Nationalsozialisten verbreitete Konzept des Ritterkreuzträgers als bewundernswerter Held übernimmt.164 Zu diesem Zeitpunkt sind die männlichen

Protagonisten schon durch ihre Erfahrungen mit der Grausamkeit des Krieges desillusioniert.

Nichtsdestotrotz erscheint es für den Großteil der Protagonisten in den Werken von Altner und Meichsner unmöglich, sich vollständig von der Faszination zu lösen, die Orden, Ehrenzeichen und Uniformen als visuelle Manifestation des

Heldenstatus auf sie ausüben, wie die wiederholten Referenzen in den Texten belegen.165 Ausschließlich in Claus Hubaleks Unsre jungen Jahre versucht keiner der Protagonisten sich als “Held” zu beweisen, sondern treten ihren unfreiwilligen

Dienst bei der Wehrmacht schon in einem Zustand der vollen Ernüchterung und

Illusionslosigkeit an.

Es erscheint im Zusammenhang mit dem Konzept des adoleszenten Heroismus und seiner Korruption durch den Nationalsozialismus und seine Vertreter

163 Böll. Wanderer, kommst du nach Spa... S. 160 164 vgl. Meichsner. S. 36 165 Die nachstehenden Textabschnitte mögen als Beispiel für das Phänomen dienen: Meichsner: S. 22, 78, 89; Altner: S. 50, 53 90 unerlässlich auch einen näheren Blick auf das Verhältnis des Jugendlichen zu

Erwachsenen und älteren Jugendlichen zu werfen.

Das Übertrumpfen der älteren Generation

Wie wir bereits im Rahmen unserer kurzen Diskussion der Theorie Piagets gesehen haben, hegt der Jugendliche den brennenden Wunsch die Erwachsenen auf möglichst vielen Gebieten leistungsmäßig zu übertreffen.

Die Nationalsozialisten waren sich dieses Umstandes sehr bewusst und versuchten, die verschiedenen Generationen gegeneinander auszuspielen.166

Sie nutzten das auf den Seiten der Jugendlichen vorhandene

Überlegenheitsgefühl schamlos für ihre Zwecke aus, indem sie den Jugendlichen, gerade gegen Kriegsende, suggerierten, dass diese die letzte und einzige

Hoffnung waren, den Krieg zu gewinnen. Damit implizieren die Nationalsozialisten, jedenfalls muss es den Jugendlichen so scheinen, dass letzterer einen höheren

Platz in der Sozialhierarchie als die Erwachsenen einnehmen. Das Streben der

Jugendlichen nach sozialer Gleichberechtigung mit den Erwachsenen erscheint mehr als erfüllt.

So erfährt die Entscheidung der Jugendlichen, die Brücke in Manfred Gregors

Roman um jeden Preis zu halten, durch das Lob eines Generals, der den Sieg

Deutschlands durch den Mut der Jugendlichen als wieder greifbar propagiert, ihre

Legitimation und Bestätigung:

91

Sie haben hier sieben prachtvolle Kerle. Ein paar tausend mehr von

der Sorte und wir könnten den Krieg noch gewinnen […] Die Sechzehn-

jährigen bekamen jetzt rote Köpfe, vor Stolz und vor Aufregung. Sie

würden die Brücke halten.167

In dem Tagebuch Totentanz Berlin spricht ein anderer hochrangiger Offizier, ein

Oberst und Regimentskommandeur von der Unverzichtbarkeit des jugendlichen

Wehrmachtssoldaten für den Sieg Deutschlands: “Als er [der Oberst – Anmerkung des Autors] hört, daß keiner älter als 17 Jahre ist, sagt er erfreut: ‘Jahrgang 28 ist

Deutschlands letzte Rettung! Euer Führer hofft auf Euch!’ […].“168

Die aus propagandistischen Gründen von den Nationalsozialisten gegenüber den

Jugendlichen betriebene Suggestion des kämpferischen Vermögens führt zu einer

Überschätzung der eigenen Wichtigkeit auf Seiten der Jugendlichen:

Jämmerliche Feiglinge! Die wollen doch was von uns, wenn sie uns

hier ausbilden. Die geben uns doch die Uniformen und Karabiner

nicht zum Türmen! Kinder, die wollen doch was wissen von uns.169

166 vgl. Lewis. S. 125ff. 167 Gregor. S. 40 168 Hubalek. S. 37 169 Gregor. S. 22 92 Die jugendlichen Protagonisten, die hocherfreut sind, dass ihnen letztendlich die

Chance geboten wird, die Erwachsenen zu übertrumpfen, nehmen diese

Möglichkeit, sich zu profilieren, begierig wahr, wie das Zitat aus Dieter Meichsners

Werk explizit belegt:

Warum wollten die Jungen weitermachen? […] Sie glaubten, sie

könnten durch ihr Opfer einen Zusammenbruch aufhalten. Alle

die Jungen, das Gerippe der zerbröckelnden Wehrmacht, alle

die noch mitmachten, ohne daß SS oder sie

an die Front zwang [...].170

Das wohl eindrucksvollste Beispiel der Aura der Unbesiegbarkeit, mit der sich die

Jugendlichen vermeintlicherweise umgeben, wird von Dieter Meichsner geboten, der das Erscheinen der 12. SS-Panzer-Division ‚Hitlerjugend’171 auf dem

Schlachtfeld beschreibt. Über diese SS-Division urteilt die britische

Geschichtswissenschaftlerin Brenda Lewis wie folgt: „This SS-Division […] meant to exemplify the brand of sacrifice and fighting spirit that ‘total war’ would require

[…] which was the principle on which the Hitler Youth had always operated and

170 Meichsner. S. 70 171 Wahrscheinlich im Januar 1943 schlug der Reichsjugendführer Axmann Himmler vor, eine vollständige Division aus Hitlerjungen des Jahrganges 1926 zu formen. Himmler, der die Möglichkeit sah seine Privatamee auf Kosten der Wehrmacht auzudehnen, trug diese Idee Hitler vor, der sofort die Aufstellung einer Waffen-SS Division aus Angehörigen der Hilerjugend genehmigte (vgl. Klönne. S. 42) 93 apart from the Waffen-SS, no other body was more suited to turn principle into practice.“172

Das Durchschnittsalter der Angehörigen dieser Division lag bei 17 Jahren, ihre

Kommandeure waren gerade einmal 33 bzw. 34 Jahre alt, als sie das Kommando

übernahmen.173

Meichsner lässt seinen Ich-Erzähler während der letzten Kriegstage in Berlin auf einige Angehörige dieser berühmt-berüchtigten Division treffen, welche ihm tiefe

Ehrfurcht einflößen:

Am Ärmel des Sturmführers […] sah ich ein schwarzes

Band. „Hitlerjugend“ stand darauf in silbernen Buchstaben.

Das waren also welche von der Division, von der man

Wunderdinge gehört hatte. Sie galt als die beste und zuver-

lässigste Einheit in der sich auflösenden Wehrmacht. Das sind

also die Besten, dachte ich.174

Offensichtlich verführt auch die Existenz dieser Division sowie der legendäre Ruf, den sie genoss, zu einer Fehleinschätzung auf Seiten des Protagonisten, was seine eigene Wichtigkeit für den Gewinn des Krieges betrifft:

172 Lewis. S. 133 173 Fritz Witt und Kurt Meyer, beide SS-Brigadeführer (vergleichbar mit Generalmajoren in der Wehrmacht) (vgl. Lewis. S. 28) 174 Meichsner. S. 158 94 „Machts gut, vorn,“ sagten sie [die Soldaten der Waffen-SS Division

Hitlerjugend - Anmerkungen des Autors] […]. Auch der Sturmführer

war noch ein ganz junger Kerl. Er hatte das Ritterkreuz. Das sind

unsere Besten. Dachte ich, und sah in die Gesichter der Jungen. Ob

sie viel älter waren als ich?175

Die Tatsache, dass viele jugendliche Protagonisten Zeuge der Desertion erwachsener Soldaten jeglichen Dienstgrades sowie anderer hoher

Parteimitglieder werden, steigert die Verachtung, die ein Großteil der

Jugendlichen für die Erwachsenen übrig haben und bestärkt erstere in dem

Glauben, dass sie wirklich Deutschlands letzte Hoffnung sind:

Links biegt die Straße nach Brandenburg ab. Nach dem Westen.

Lange Reihen von schwerbeladenen und prunkvollen schweben-

den Wagen mit Generälen, Hoheitsträgern und Gauleitern sowie

hohen Reichsbeamten reisen nach dem rettenden Loch […] Die

Ratten verlassen das sinkende Schiff […]. 176

Dieses geht sogar so weit, dass den Jugendlichen vereinzelt jeglicher Respekt für die ältere Generation gänzlich abhanden kommt:

175 Meichsner. S. 159 176 Altner. S. 82 95 Sie [die Angehörigen der SS-Division “Hitlerjugend” – Anmerkung

des Autors] standen ruhig, ein paar lachten über die Landser in

verblichenen Uniformen […] Einer der Jungen rief: “Wo habt

Ihr denn eure Flinten gelassen?” Die Alten hörten es nicht, sie

liefen weiter […] Die Jungen feuerten. Sie schossen aufs Pflas-

ter, nicht in die Landser, aber die Straße war plötzlich leer, die

Alten rannten. Die Jungen lachten.177

Wiederum ist es in erster Linie Manfred Gregor, der dem Leser durch die dezidierte Darstellung der Entwicklung des Jugendlichen einen Einblick in den

Generationskonflikt ermöglicht, welcher wiederum die Motivation des

Jugendlichen zu kämpfen, beeinflusst. So stellt Gregor in der Filmversion seines

Romans den Konflikt des jugendlichen Protagonisten Karl Horber mit seinem

Vater dar. Karl Horber verliebt sich in Barbara, eine 22-jährige Friseurin, die sein verwitweter Vater in seinem Salon einstellte. Als Karl entdeckt, dass sein Vater eine Beziehung zu Barbara unterhält, gerät er in eine verbale Auseinandersetzung mit letzterem, welche für Karl zeitlich mit dem Erhalt des Einberufungsbefehls zusammenfällt. Der Konflikt spitzt sich zu, als Karl Horbers Vater seinem Sohn aufgrund dessen Verhaltens wütende Vorhaltungen macht und die Bemerkung fallen lässt, dass er, d.h. Karl, in den Kindergarten gehöre, und letzterer daraufhin sofort in die Kaserne verschwindet. Als Karl während der Verteidigung der Brücke einem U.S. Soldaten begegnet, der eine gleichlautende Bemerkung macht, i.e.

96 dass Karl in einen Kindergarten gehöre, eröffnet Karl hasserfüllt das Feuer auf den

Amerikaner und tötet diesen. Das Bedürfnis des Jugendlichen, von der älteren

Generation ernstgenommen zu werden, ist, wie wir in diesem Fall sehen, in

Einzelfällen so stark, dass es mit dem Versuch einhergeht, die Erwachsenen um jeden Preis zu übertrumpfen und diesen zu verdeutlichen, dass sie, i.e. die

Jugendlichen, ernst zu nehmen sind.

Weisfeld bestätigt aus evolutionstheoretischer Sicht die Existenz eines derartigen

Generationskonflikts, insbesondere, wenn er vor dem Hintergrund der Beziehung

Eltern-Kind von einer Abkopplung und emotionalen Distanzierung spricht.178

Nichtsdestotrotz treffen wir in den Werken von Böll und Gregor auf Beispiele, die auf eine größere Harmonie zwischen den Generationen schließen lassen. Hier gibt es einige Protagonisten, die den Entwicklungsstand des Jugendlichen nicht manipulativ missbrauchen und dem letzteren nicht feindlich gegenüberstehen. In

Bölls Kurzgeschichte ist es der Hausmeister Birgerler, der einzige Reminiszent von Humanität in der apokalyptischen Welt des Todes, wie Gabriele Sander in ihrem Artikel ausführt: “Das letze Wort des Sterbenden ist die Bitte um Milch, gerichtet an den Hausmeister Birgerler, der für Jungen menschliche Wärme und elementare Nächstenliebe im Sinne christlicher Ethik verkörpert – ein Gegenbild zur mörderischen Inhumanität der Zeit!”179 In Manfred Gregors Text Die Brücke begegnen wir zwei erwachsenen Protagonisten, die alles daransetzen, das sinnlose Opfern der Jugendliche während der letzten Kriegsmonate zu verhindern.

177 Ebd. S. 158 178 vgl. Weisfeld. S. 284f.

97 Es handelt sich hierbei um Leutnant Fröhlich und Unteroffizier Heilmann. Fröhlich erteilt Heilmann in klarer Missachtung seines soldatischen Eides den Befehl, sich mit den Jugendlichen bei erster Möglichkeit in Gefangenschaft zu begeben, welches Heilmann verspricht: ”Jawoll, Herr Leutnant, ich habe völlig verstanden.”180 Es wird für den Leser offenkundig, dass dieser Offizier und

Unteroffizier in Gregors Roman versuchen, den Jugendlichen vor sich selbst und seinem abstrusen Heldenkonzept zu schützen. Um diese fürsorgliche Kontrolle

über den jugendlichen Soldaten ausüben zu können, muss Fröhlich zu manipulativen Techniken greifen, die sich in dem Augenblick als fatal erweisen, als die Jugendlichen ihrer militärischen Vorgesetzten beraubt werden und allein auf sich gestellt sind:

Verdrossen sprangen die sieben [Jungen] von der Rampe des

Wagens auf die Straße. Leutnant Fröhlich: >> Die Brücke ist

ein strategisch wichtiger Punkt! Ihr haltet die Brücke besetzt.

Unteroffizier Heilmann hat hier das Kommando!<< Dann leise zu

Heilmann: >>Sowie der Zauber hier losgeht, haut ihr ab!

Sie sind mir dafür verantwortlich, klar?<<181

Kameradschaft und zwischenmenschliche Beziehungen

179 Sander. S. 51 180 Gregor. S. 40

98 Wie wir gesehen haben, vermögen es viele adoleszente Protagonisten nicht, tiefgehende zwischenmenschliche Beziehungen zu Erwachsenen aufzubauen.

Der Grund für das Versagen der generationsüberschreitenden Kommunikation ist sowohl in dem affektiven und kognitiven Entwicklungsstand wie auch in dem

Verhaltensmuster des Erwachsenen zur Zeit des Krieges, wie wir es bereits im vorangehenden Abschnitt behandelt haben, zu suchen.

Bei seinem Versuch, den Widersprüchen und Täuschungen der Erwachsenwelt zu entgehen, zieht sich der Jugendliche konsequenterweise in den Bereich logischer

Denkoperationen zurück, wo er meint, dem Erfahrenen einen Sinn geben zu können. Dieses ist der modus operandi in der Welt seiner Altersgenossen, in welcher sich der Jugendliche verstanden fühlt und in der die Teilnehmer einen impliziten Verhaltenskodex befolgen.

Wie wir bereits in den vorangegangenen Abschnitten erkannt haben ist der Drang der Jugendlichen nach Anerkennung und ihr Wettbewerbsverhalten untereinander und den Erwachsenen gegenüber ist als Ausdruck des Glaubenssystems der

Jugendlichen zu werten und basiert auf der adoleszenten Egozentrik.

Weisfelds Annäherung aus evolotionstheoretischer Sicht kommt, wenn sie auch auf einem ganz anderen Ansatz beruht, zu einem ähnlichen Schluss, wenn er feststellt, dass sich mit der Pubertät und dem damit verbundenen Anstieg an

181 Gregor. S. 25

99 Testosteron sowie anderen Androgenen, das Aggressionsverhalten182 aber auch das Wettbewerbsverhalten183 deutlich steigern.

Weisfeld sieht den Grund für diese Phänomene nicht in der kognitiven

Entwicklung, sondern in den mit der Pubertät einsetzenden biologischen

Veränderungen, die den Jugendlichen, da er zunächst über keinen Partner des anderen Geschlechts verfügt, dazu zwingen, sich gegenüber seinen

Altersgenossen durchzusetzen, um in den „breeding pool“ zu gelangen.184

Aber auch Weisfeld sieht in dem Rückzug des Jugendlichen in eine Gruppe neben dem biologischen Bedürfnis des Menschen nach Geborgenheit, auch den

Ausdruck der Konfrontation mit dem Feind: “Solidarity is also enhanced by the presence of a common adversary, goal, or plight.“185

Dieser Kodex der adoleszenten Welt verlangt u.a. von den Jugendlichen keinerlei

Schwäche gegenüber den Erwachsenen oder Gleichaltrigen einzugestehen, welches uns an das bereits angesprochene Konzept des Wettbewerbs der

Jugendlichen untereinander erinnert. So verwundert es nicht, dass nach Aussage des Erzählers in Manfred Gregors Roman Die Brücke keiner der Protagonisten bereit ist, vor seinen Kameraden offen zuzugeben, dass er Angst vor dem

Ungewissen, i.e. vor Krieg und möglicherweise Tod, hat: “Und die sieben Jungen

182 vgl. Weisfeld. S. 173 183 vgl. Weisfeld. S. 212f. 184 vgl. Weisfeld. S. 209f. 185 Weisfeld. S. 227 100 hatten Angst, keiner hätte es in diesem Augenblick zugegeben, kein einziger. Aber es war so.”186

Nichtsdestotrotz ist es zugleich ausschließlich der adoleszente Altersgenosse, der dem jugendlichen Protagonisten als Person des Vertrauens dient.

Claus Hubaleks Werk Unsre jungen Jahre liefert in seinem Tagebuch ein anschauliches Beispiel für dieses Verhalten, als er die Handlungsweise der adoleszenten Protagonisten beschreibt, die ein Flugblatt aufheben, das von einem alliierten Flugzeug abgeworfen wurde. Trotz der gegenüber den Vorgesetzen erstatteten Meldung, dass alle Flugblätter abgegeben worden seien, behalten die

Jugendlichen ein Exemplar und diskutieren dessen Inhalt untereinander, wodurch sie sich in Lebensgefahr bringen:187

Leise lesen wir: „Kampf für SS und Naziführer. – Verlängerung

des Lebens der Kriegsbrandstifter. – Aufgabe eines sinnlosen

Krieges.” Enttäuscht sehen wir auf. „Ach”, sagte ich müde, „das

gleiche schreiben wir auch.” „Was hast du denn erwartet?“ Kurt

blickt mich fragend an […]188

Weisfeld sieht in diesen entwicklungsbedingten Ähnlichkeiten der

Persönlichkeiten innerhalb der Gruppe, wie sie z. B. beim Teilen eines

186 Gregor. S. 29 187 Das Lesen oder Diskutieren von allierter Propaganda erfüllte nach dem Strafgesetzbuch des Dritten Reichs den Tatbestand der , welche mit dem Tode bestraft wurde.

101 Geheimnisses bestehen, eine Stärkung des Gruppencharakters: „Any means of enhancing similarity will increase the group coherence and solidarity.“189

Als bei den ersten jugendlichen Protagonisten Zweifel an ihrem eigenen Glauben am Nationalsozialismus aufkommen, sind es die Altersgenossen, denen sie sich zuerst anvertrauen. So findet bezeichnenderweise gegen Ende der Handlung von

Hubaleks Tagebuch eine Diskussion über den möglicherweise verbrecherischen

Charakter des NS-Regimes und die eigene Verwicklung nur innerhalb der Gruppe der Altersgenossen statt: “Warum willst du den aufhören, es geht doch weiter,

Mensch! Begreif’ doch, es geht weiter, es ist noch nicht alles zu Ende […]. Wir saßen wieder stumm, schließlich fragte ich: ‘Ob wirklich alles gut war und anständig? Was war denn ‘alles’ überhaupt für dich?’.”190

Der Umstand, dass die Jugendlichen aufgrund ihres Entwicklungsstandes eine eigene von der Erwachsenwelt deutlich abgesetzte Lebensphilosophie vertreten, zeigt sich in den behandelten Werken u.a. in der Bildung einer tiefen und bedeutsamen Freund- bzw. Kameradschaft der Jugendlichen untereinander. Es entsteht, wie in Gregors Werk exemplifiziert, sogar eine Art der Gruppendynamik, in der der Jugendliche seinen Willen dem der Gruppe unterwirft und umgekehrt eine vermeintliche Sicherheit erhält, die aus der Gewissheit entstammt, Mitglied einer Gruppe von Gleichaltrigen zu sein. So stellt sich, nachdem der erste der

Gruppe gefallen ist, den Protagonisten in Gregors Roman die Frage, ob sie den

Kampf fortsetzen oder einfach nach Hause gehen sollten. Zweifelsohne handelt es

188 Hubalek. S. 122 189 Weisfeld. S. 226

102 sich hier wiederum um die Gruppendynamik, die die Jugendlichen dazu veranlasst, auszuharren:

Scholten spürte, mit dem Tod des kleinen Bernhard war

noch einmal die Entscheidung aufgeworfen worden, ob sie

hierbleiben oder still nach hause gehen sollten. Und er wußte,

für fünf von ihnen war dieses Zuhause wichtig […] >> Haut doch

ab<<, sagte er immer wieder, >>macht euren Leuten keinen

Kummer! << […] Jürgen Borchart sagte Scholten seine Meinung:

>>Entweder wir gehen alle, dann ist das in Ordnung, oder es geht

keiner, dann ist das auch in Ordnung […].191

Folglich sind auch viele Protagonisten in den behandelten Texten bereit, ihr Leben für das eines Freundes einzusetzen, wie das folgende Beispiel aus Manfred

Gregors Roman belegt: “Ob er wohl daran denkt, daß die Kiste voll Sprengstoff ist, und was passiert, wenn sie ihm zufällig ein Ding da reinsetzen? Aber Albert Mutz dachte nicht daran. Er erkannte gar nicht, daß auch er in Gefahr war, er wollte nur

Scholten decken […].”192

Dieses Gefühl der Kameradschaft wie auch eines in der Gruppe der

Altersgenossen angetroffenen Überbleibsel an Humanität und Normalität angesichts des Zusammenbruchs des Dritten Reiches und der

190 Ebd. S. 201f. 191 Gregor. S. 64

103 nationalsozialistischen Gesellschaft bringt die Jugendlichen dazu, den Kampf in der und für das Überleben dieser Gemeinschaft fortzusetzen. So verwundert es auch nicht, dass, wenn der Verlust eines jugendlichen Kameraden von den adoleszenten Protagonisten erfahren wird, diese, vor dem Hintergrund der direkten Bedrohung der eigenen Existenz, der Dezimierung der Gruppe sowie des

Wegfalls einer der wenigen Konstanten im Leben des Jugendlichen, den Kampf zu einer persönlichen Angelegenheit werden lassen und dem Feind mit abgrundtiefem Hass begegnen.

In Hubaleks Tagebuch Unsre jungen Jahre wird deutlich, mit welchem Fanatismus ein Protagonist auf den Tod eines guten Freundes reagiert:

Kurt ist tot. Ich sehe in seine Augen. Der Regen näßt sie.

Es ist, als ob die toten Augen weinen. Sie haben ihn tot

geschossen […]. Und plötzlich hasse ich die dort drüben, die

Kurt getötet haben. Hasse das Gewehr, aus dem der Schuß

fiel, den Schützen, der ihn abgab […] Unter der Zeltplane

hervor nehme ich die Maschinenpistole. Schiebe langsam

das Magazine ein, lade durch, entsichere. Mit brennenden

Augen starre ich nach vorn. Dort liegen die, die Kurt töteten.

Ich kann sie nicht sehen. Aber mein Finger krümmt sich durch,

die Schüsse hämmern.193

192 Ebd. S. 217 193 Hubalek. S. 51 104

Auch in Manfred Gregors Roman Die Brücke evoziert der Tod des jüngsten

Gruppenmitglieds durch Feindeinwirkung den unkontrollierbaren Hass aller

Gruppenmitglieder, insbesondere den von Ernst Scholten:

Die Leidenschaftlichkeit und der Haß, deren dieser Sechszehn-

jährige fähig war […] sie brannten jetzt unverhüllt in dem spitzen,

gelblichen Gesicht […]. Der Krieg war in Minutenschnelle vom

Indianerspiel zur ganz persönlichen Angelegenheit von Ernst

Scholten geworden […]. Er würde solange warten, bis ein Mensch

von der anderen Seite es wagen würde, diese Brücke zu betre-

ten […]. Er würde ganz genau auf diesen Menschen zielen,

solange bis ein Verfehlen nicht mehr möglich war […], er würde auf

ihn ein hämmern, so lange, bis dieser Mensch zu Boden gehen

würde […]. Und dann würde er sagen: >> Siehst du, Hosenmatz

[Spitzname des gefallenen Freundes – Anmerkung des Autors]

das war der erste. Ich schenke ihn dir.<<194

Weisfeld begründet ein derartiges Verhalten aus evolutionstheoretischer Sicht wie folgt:

Similarily, the loss of a companion sometimes triggers moralistic

105 anger that results in acts of heroism by his comrades. For this

reason, the military has learned to mold soldiers into small,

face to face combat units whose members remain closely attached,

often for life. There is usually a strong ethic not to let down one’s

buddies. This feeling of solidarity is typically essential if the combat

unit is to be effective.195

Zweifelsohne waren die Nationalsozialisten dieser Gruppendynamik gewahr und erkannten den Wert der Kameradschaft, um die Kampfmoral der Jugendlichen aufrechtzuerhalten oder zu steigern. So erstaunt es uns nicht, dass in dem

Augenblick, in dem einer der Protagonisten in Helmut Altners Werk von seiner

Gruppe getrennt wird und sich den Selbstvorwurf der Desertion macht, er sich an den Kameradschaftsbegriffs erinnert, der für ihn einen wesentlichen Grund dafür darstellt, seinen Befehl weiter auszuführen:

Wo hatte ich nur etwas Ähnliches gelesen? Da hatte auch

einer seine Kameraden im Stich gelassen […]. “Jungvolkjungen

sind Kameraden“, flüsterte ich vor mich hin […] Wann hatte

ich das gesprochen? Als ich zum erstenmal die Uniform ange-

habt hatte. Ein ganz kleiner Stift war ich noch, aber ich hatte

die Formel nachsprechen müssen – sind Kameraden. Ich hatte

194 Gregor. S. 63 195 Weisfeld. S. 228 106 mir nichts dabei gedacht, das war doch selbstverständlich. Bei

einem Geländespiel mit anderen Fähnlein hatte mich Klaus heraus-

geprügelt, drei oder vier hatten schon über mir gelegen.196

Die Angst vor Sanktionen

Der deutsche Historiker Norbert Frei schrieb über die Philosophie des Dritten

Reiches: “Die Alltagssituation im Dritten Reich war bestimmt durch die ständige

Gleichzeitigkeit, nicht durch die Alternative, von Lockung und Zwang, Verführung, und Verbrechen, Angeboten zur Integration und Drohung mit Terror.”197 Diese

Aussage traf sicher nicht nur auf die zivile Gesellschaft im Dritten Reich, sondern noch in viel verstärkterem Maße auf die Angehörigen der Wehrmacht zu. Zu der

Lockung mit Orden, Ehrenzeichen und Beförderungen trat gleichzeitig die

Drohung der Nationalsozialisten mit drakonischen Strafen für Deserteure,

Feiglinge, Wehrkraftzersetzer oder andere Regimekritiker in den Reihen der

Wehrmacht, wobei der Terror gegen Wehrmachtsangehörige vor dem

Hintergrund, dass das NS-Regime mit allen Mitteln versuchte, die Soldaten zur

196 Meichsner. S. 47 197 Frei. S. 167 107 Fortführung des Kampfes gegen die Alliierten zu bewegen, zu Kriegsende seinen

Höhepunkt198 erreichte. Altner legt hiervon in seinem Werk Zeugnis ab:

Auf dem Bahnhof ist reger Verkehr […] An allen Ecken sind Plakate

befestigt. Warnungen, die Truppe zu verlassen, andernfalls Stand-

gericht […]. SS und Feldpolizei kontrollieren die Ausweise. Wir

erhalten unsere Soldbücher und dürfen den Bahnsteig ver-

lassen. Vor dem Bahnhof sind zerstörte Häuser, Ruinen […] der

vormals so blühende Ort […] wurde zu […] einem Flammen-

meer […]. Ein junges Mädchen bietet mir Zivilkleider ihres Bruders

an und will mich verstecken. Doch ich habe nicht den Mut dazu.199

Offensichtlich stellt auch die in den Werken von den Protagonisten angesprochene

“Angst vor der Feldgendarmerie”200 wie auch vor dem Kriegsgericht201einen der

198 vgl. Frei. S. 66f. 199 Altner. S. 30 200 Meichsner. S. 144 201 Im Zusammenhang mit der von vielen der Protagonisten geäußerten Angst vor einem Kriegsgerichtsverfahren und einem im Falle der Desertion zu erwartenen Todesurteil sei hier auf das 1997 erschienene Werk des Geschichtswissen- schaftlers Martin Schnackenberg verwiesen, der sich neben einer generellen Betrachtung der Wehrmachtsjustiz mit den Motiven von - deserteuren und den Folgen, die sie im Falle ihrer Ergreifung zu erwarten hatten, beschäftigt. Bei einer Zahl von mehr als 100000 Fahnenflüchtigen geht Schnackenberg unter Berufung auf Quellen von 35000 Urteilen wegen Fahnenflucht, davon 22750 Todesurteilen, aus, von denen ungefähr 15000 vollstreckt wurden (vgl. Schnackenberg. S 19-20). Dieses führt Schnackenberg zu dem Urteil, dass „die Militärjustiz der Wehrmacht [...] weit mehr Menschen zum Tode [verurteilte] als dies die zivile Justiz, beispielweise der Volks- gerichtshof und die Sondergerichte, getan haben (Schnackenberg. S. 21-22)“. 108 wesentlichen Motivationsfaktoren bei Soldaten aller Alterstufen dar, den Kampf bis zum Letzen fortzusetzen. Demzufolge erscheint es nur plausibel, dass einer der

Charaktere in Manfred Gregors Roman Die Brücke, als er vor der Entscheidung steht, ob er den Kampf fortsetzen oder desertieren soll, sich für das seiner Ansicht nach kleinere von beiden Übeln entscheidet: “’Kinder, wenn wir gehen, dann sind wir desertiert, und als Deserteure werden wir erschossen! Bleiben wir da, werden wir vielleicht auch erschossen! Sicherer ist, wir bleiben da. Gehen können wir immer noch!’”202

Bereits von Beginn ihres Dienstes in der Wehrmacht an werden die Protagonisten, und dieses reflektiert sich insbesondere in den Werken von Meichsner und Altner, mit grausamen Beispielen, wie das nationalsozialistische Regime Disloyalität

“honoriert”, konfrontiert:

Ein Zivilist hängt gefesselt an einem Pfahl. Um seinen Hals

laufen rote elektrische Kabel, die tief in das Fleisch eingeschnitten

haben. Das Gesicht ist blau. Die Augen hängen tief in ihren

Höhlen. Um seinen Hals hängt ein […] Schild […]. Mit roter Schrift

steht darauf in zittrigen Zügen: „Ich, Otto Meyer, war zu feige, für

Frau und Kind zu kämpfen. Deshalb hänge ich hier. Ich bin ein

Schweinehund […].203

202 Gregor. S. 63 203 Altner. S. 87 109 Die Nationalsozialisten verfolgten vorsätzlich diese Abschreckungstaktik, um den

Jugendlichen einzuschüchtern und abzuhärten, wie wir es im Werke von Dieter

Meichsner sehen: “Wir marschierten Richtung Schießstand. Der Feldwebel erklärte uns, daß heute Hinrichtungen stattfinden, denen wir zusehen müssen. Auf

Befehl des Kompanie-Chefs Stichler. ‘Um unsere Nerven zu stärken,’ bemerkte er lachend.“204

Nur Manfred Gregor lässt in seinem Werk die Gruppe von Jugendlichen die

Erfahrung machen, dass Desertion nicht notwendigerweise von Vertretern des

Regimes sanktioniert wird und zeigt damit indirekt die Möglichkeit des erfolgreichen Widerstandes auf:

Der alte Mann […] stellte sich […] in Positur und rief: >>Ich

geh’ nach Hause!<< […] Dann sagte er noch: >> Der Befehl,

die Brücke zu halten, ist undurchführbar!<< Und nach einer

kleinen Pause nochmals: >>Ich gehe!<< […] Dann lehnte

er seinen Karabiner sorgfältig an die steinerne Brüstung und

ging mit schnellen kurzen Schritten weg. Damit war der Anfang

gemacht. Einer nach dem anderen stellten die Alten die Waffen

an die Mauer und gingen […]. Unteroffizier Heilmann sah dem

Abmarsch zu, ohne mit der Wimper zu zucken […]. Er war rat-

los. Du mußt etwas tun, Heilmann, du kannst sie nicht einfach

gehen lassen, das ist Meuterei! Die Gedanken jagten sich in

204 Meichsner. S. 20 110 seinem Schädel, aber Heilmann rührte keinen Finger.205

Doch die jugendlichen Protagonisten folgen nicht dem Beispiel der älteren

Soldaten, sondern sehen sich durch dieses Verhalten der desertierenden

Erwachsenen in die Lage versetzt, ihre Loyalität dem Regime gegenüber zu demonstrieren:

Als der letzte der zehn gegangen war, drehte sich Heilmann zu den

Buben um und war überrascht, mit wieviel Eifer und Verehrung sie

ihn anstarrten […]. Heilmann war in ihren Augen zum Held

geworden. Gerade, weil er die Alten hatte gehen lassen. Auf sie

sollte er sich verlassen können, schworen die Buben.206

In der Filmversion des Romans zeigen sich die Jugendlichen regelrecht dankbar, dass die alten Soldaten die Brücke verlassen, da sich letztere in den Augen der

Jugendlichen als Hindernis im Kampf herausgestellt hätten. Wir sind bereits im vorangehenden Abschnitt auf das Thema des Überlegenheitsgefühls der

Jugendlichen eingehend eingegangen.

In den Schriften von Hubalek, Altner und Meichsner spielt auch die Angst der

Protagonisten vor der Rache der Roten Armee im Falle ihres Sieges eine große

Rolle. In dem Tagebuch Totentanz Berlin zeigt sich diese Ungewissheit über das

205 Gregor. S. 33 206 Altner. S. 37 111 eigene Schicksal, als sich ein jugendlicher Soldat den Sowjetstreitkräften ergibt:

“Die Russen laufen verstreut zwischen uns umher. In uns allen ist die bange

Frage: ‘Was nun? Werden wir umgebracht, wie es uns erzählt worden war?”207

Folglich spielt die Angst vor ernsten Sanktionen, sei es durch die Wehrmacht oder die Rote Armee, eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die Beantwortung der

Frage, warum die Jugendlichen weiterkämpften, selbst wenn andere Parameter, wie der unbedingte Glaube an den Sieg Deutschlands, leicht ins Wanken gerät.

Doch die Autoren zeigen auch auf, wie die Nationalsozialisten versuchten, über ihre Einschüchterungsversuche hinaus, den Jugendlichen in eine grausame

Kriegsmaschine zu transformieren, welches wir im nächsten Abschnitt näher betrachten wollen.

Desensibilisierung und Hass

Der Terror, den das nationalsozialistische Regime gegen die jugendlichen

Soldaten ausübt, ist Teil der nationalsozialistischen Erziehung, die sich von der

Schule über die Hitlerjugend bis in die Wehrmacht erstreckt.208 Das Regime limitierte jedoch die Rolle des Jugendlichen nicht auf die eines Rezipienten oder gar Opfers des Terrors, sondern die nationalsozialistische Erziehung zielte bewusst darauf ab, den Jugendlichen zu desensibilisieren und ihn von frühester

207 Altner. S. 244 208 Vgl. hierzu: Schreckenberg S. 17ff. 112 Kindheit zum Herold des nationalsozialistischen Glaubensbekenntnisses in der

Welt zu machen:

Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muß weggehämmert

werden. Es wird eine Jugend heranwachsen, vor der sich die

Welt erschrecken wird. Eine gewalttätige, herrische,

unerschrockene, grausame Jugend will ich. Schmerzen muß

sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr

sein. Das freie, herrliche Raubtier muß erst wieder aus ihren

Augen blitzen. Stark und schön will ich meine Jugend. Ich werde

sie in allen Leibesübungen ausbilden lassen. So merze ich die

Tausende von Jahren der menschlichen Domestikation aus.

Ich will keine intellektuelle Erziehung. Mit Wissen verderbe ich mir

die Jugend. Aber Beherrschung müssen sie lernen. Sie sollen mir

in den schwierigsten Proben die Todesfurcht besiegen lernen. Das

ist die Stufe der heroischen Jugend. Aus ihr wächst die Stufe des

Gottmenschen.209

Die hier behandelten Autoren machen in ihren Werken deutlich, dass die

Nationalsozialisten durch diese Erziehung versuchten, den Jugendlichen mit den

Schrecken des Krieges vertraut zu machen und somit die Wahrscheinlichkeit eines möglichen Traumas, welches ansonsten bei dem ersten Kampfeinsatz des

113 Jugendlichen eintreten könnte, von vornherein auszuschließen oder als unwahrscheinlich erscheinen zu lassen.210

Zum Beispiel werden die adoleszenten Protagonisten in Altners Tagebuch

Totentanz Berlin dazu abkommandiert, einer standrechtlichen Erschießung beizuwohnen, um ihre Nerven zu stärken.211

Die militärische Ausbildung, der die Jugendlichen unterworfen werden, und die ihren Anfang in der paramilitärischen Ausbildung der Hitlerjugend findet und in der

Grundausbildung bei der Wehrmacht kulminiert, trägt ihren maßgeblichen Teil zur

Desensibilisierung des Jugendlichen und der Förderung von Hass und

Aggressionen bei demselben bei, wie dieses z. B. anhand Hubaleks Werk deutlich wird:

Hauptwachtmeister John steht in seinen blanken Offiziers-

stiefeln auf dem Exerzierplatz. Die Trillerpfeife im Mund, die rechte

Hand in der Tasche. Ein Pfiff heißt Hinlegen, der zweite Aufstehen.

209 Rauschning. S. 237 210 Aus diesem Grund wurde die Ausbildung der Angehörigen der Waffen-SS Division “Hitlerjugend” nicht auf dem Kasernenhof sondern unter simulierten Kriegsbedingungen mit echter Munition durchgeführt (vgl. Lewis. S. 135). Als sehr aufschlussreich erweisen sich in diesem Zusammenhang die nachstehende aufgeführte Überlegung Hitlers zu der Alliierten Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg: “Demgegenüber war die Kriegs- propaganda der Engländer und Amerikaner psychologisch richtig. Indem sie dem eigenen Volke den Deutschen als Barbaren und Hunnen vorstellte, bereitete sie den einzelnen Soldaten schon auf die Schrecken des Krieges vor und half so mit, ihn vor Enttäuschungen zu bewahren. Die entsetzlichste Waffe […] stärkte ebenso den Glauben an die Richtigkeit der Behauptungen seiner Regierung, wie sie andererseits Wut und Haß gegen den verruchten Feind steigerte.” (Hitler. S. 199)

114 Eineinhalb Stunden bereits. Der Stahlhelm schlägt mir jedesmal ins

Genick. Das Band würgt am Kinn.[…]. In Johns […] Gesicht steht

ein Grinsen. Wir stolpern, schwitzen, keuchen um ihn herum […]

Ich glaube, ich könnte den [John] mit den blanken Stiefeln

erdrosseln […]. […] Rehmann geht schweigend seitwärts. Er

erbricht und legt sich lang in den Sand.212

So ist es nur verständlich, dass der Ich-Erzähler in Dieter Meichners autobiografischem Roman Versucht’s noch mal mit uns davor Angst hat, bei seinem Einsatz als “Werwolf” nicht die geforderte psychische und damit auch physische Härte demonstrieren zu können: “Ich hatte Angst, daß ich einmal weich werden könnte, gerade wenn es darauf ankommen könnte, gerade wenn es darauf ankam, brutal und rücksichtslos zu sein.”213

In Helmut Altners Tagebuch Totentanz Berlin beschreibt der Ich-Erzähler eindrucksvoll, wie 58 Kinder zu gefühlslosen Kriegsmaschinen erzogen wurden:

Als wir vor zwei Wochen […] dieses Tor verließen, waren wir

150 Mann. Kinder, die in die Zukunft sahen […]. Heute kehren wir

zurück. Wir sind noch 58 Mann. Doch wir sind keine Menschen

mehr […] Gespenstige Hüllen. Wir wurden empfindungslos gegen

211 Altner. S. 20 212 Hubalek. S. 17 213 Meichsner. S. 16 115 jede Not der Kreatur. Gegen Mensch und Tier.214

Ein weiteres Beispiel der Brutalität mit der einige jugendliche Protagonisten den

Krieg führen und die mitunter als Resultat ihrer Erziehung und Indoktrination gesehen werden kann, liefert uns Manfred Gregors Roman: “Karl Horber schoß mit dem Maschinengewehr wie ein Verrückter. Brüllte aus vollem Hals, mit verzerrtem Gesicht, und schoß, schoß auf die Soldaten an den Hausmauern.”215

In diesem Zusammenhang erscheint es sinnvoll, auf die von Weisfeld angesprochene evolutionstheoretisch verankerte Prädisposition des männlichen

Jugendlichen zur Aggression anzusprechen. Es stellt sich die Frage, ob sich bei den Autoren Ansätze für die Auffassung finden lassen, dass die physiologischen

Begleiterscheinungen der Adoleszenz, welche sich durch die massive Produktion von Testeron, einem Steroidhormon, sowie anderer Androgene beim

Jugendlichen auszeichnet, zu einer erhöhten Aggression und Kampfbereitschaft führt.

Nur Manfred Gregor beschäftigt sich ausdrücklich in seinem Werk mit diesem

Aspekt. Indem er sein Augenmerk auf die Kindheit und frühe Jugend der

Protagonisten lenkt, zeigt er aggressive Charakterzüge einiger Protagonisten auf, die sich bereits während ihrer Kindheit manifestiert haben und in einzelnen Fällen sogar an Sadismus grenzen, die aber nicht der Desensibilisierung durch den nationalsozialistischen Erziehungsapparat zuzuschreiben sind:

214 Altner. S. 88 215 Gregor. S. 94 116

Aber so sehr er seine Mutter liebte und es ihr auch zeigte, sie

stellte mit Sorgen fest, wie sich der Junge in Sekundenschnelle

vom netten Buben in einen kleinen Satan verwandelte […] Walter

Forst konnte stundenlang durch den großen Garten beim Haus

Pirschen und aus nächster Nähe mit seinem Luftgewehr auf Vögel

schießen. Wenn dann die Schar aufflog, während ein kleiner, ge-

fiederter Körper zu Boden taumelte und dort verendete, trat ein

gefährlicher Glanz in seine Augen.216

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es insbesondere Gregor gelingt, dem präsumtiven Leser plausibel zu zeigen, wie das aggressive Verhalten des

Jugendlichen, obwohl es zu Hause sanktioniert wird, von den Nationalsozialisten als kämpferische Tugend gefördert wird und im Krieg nicht nur ungehemmt ausgelebt werden kann sondern nach nationalsozialistischem Konzept ausgelebt werden soll, wie wir bereits in einem anderen Zusammenhang gesehen haben.

Die Suche nach Alternativen und Fatalismus

Wie wir in den vorangegangenen Abschnitten gesehen haben, zeigen alle Autoren in ihren Schriften, wie den Jugendlichen der Krieg als anstrebenswerter Zustand, und nach Kriegsausbruch als notwendiger Status quo bis zum Endsieg

117 Deutschlands, durch die Nationalsozialisten präsentiert wurde. Für den

Jugendlichen scheint so das Leben mit seinen Erfahrungen auf Krieg und Tod limitiert zu sein, wie wir anhand des folgenden Beispiels, das aus Claus Hubaleks

Tagebuch stammt, erkennen:

“Weißt du”, sagt Kurt […]. “Ich muß oft an die Schule zurück-

denken […] Wir haben Gedichte gelernt, und man starb immer

in diesen Gedichten, man starb für irgend etwas, für Gott oder

für diesen König oder für […], ja, meistens starb man für das

Vaterland. Und in Geschichte haben wir immerzu von Schlach-

ten, Kriegen und vom Sterben gehört. Immer nur vom Sterben,

und immer starb man fürs Vaterland.“217

Mit dem unmittelbar bevorstehenden Ende des Krieges und der Eskalation der

Kriegsgräuel, dessen Zeuge der adoleszente Soldat wird, manifestiert sich im

Jugendlichen der Wunsch, diesem Inferno zu entkommen. Walter Forst, vormals einer der Jugendlichen in Manfred Gregors Roman, die enthusiastisch den Krieg gefeiert hatten, zeigt diese Kriegsmüdigkeit, nachdem mehrere seiner Freunde bei einem Angriff der Amerikaner gefallen sind: “Ringsherum krachte es. Walter Forst

216 Gregor. S. 167 217 Hubalek. S. 42 118 merkte plötzlich, daß er unsäglich müde war. Wäre der Kampf hier bloß vorbei, dachte er.”218

Auf Seiten des Jugendlichen existieren jedoch keine festen Pläne, wie er sich diesem Krieg entziehen kann, ein Umstand der, wie wir später sehen, von entscheidender Bedeutung ist. Wie bereits angesprochen, mag ein Grund für die

Abwesenheit jeglicher Überlegungen dieser Art auf Seiten des Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt in der Angst vor einer möglichen Sanktion, i.e. Kriegsgericht und

Hinrichtung, liegen.

Die Folge ist, dass eine Anzahl der jugendlichen Soldaten aus Frustration, nicht einen anderen Ausweg aus der Apokalypse gefunden zu haben, den Wunsch

äußern, zu sterben.

Diese Einstellung tritt in Helmut Altners Tagebuch Versucht’s noch mal mit uns zu

Tage, in dem ein Protagonist, trotzdem er einen Angriff überlebt hat, die Toten um ihr Schicksal beneidet:

Die Not der vergangenen Stunden, die Qual unserer Herzen

ist längst verschüttet unter dem Mantel einer bleiernen

Müdigkeit […] Der Leutnant kommt zu jedem von uns und gibt uns

unsere Soldbücher zurück. Aber nicht alle, denen er sie am Mit-

tag abnahm sind nun hier. Unser Häuflein ist wieder zusammen-

geschmolzen […] Doch uns, die wir zurückblieben, dünkt es

eine Strafe, nicht ein Wunder. Wir sind Verdammte, die nie

218 Gregor. S. 101 119 Ruhe finden sollen […] Die an der Schwelle des Todes stehen

und sie doch nie überschreiten dürfen.219

Bei Dieter Meichsner ist es ein Angehöriger der Hitlerjugend, der, nachdem er die

Hölle des Krieges erlebt hat, seinen Lebenswillen verloren hat: “’Macht, was ihr wollt,’ sagte Helmut müde. ‘Leben, was ist das schon, ein Krampf nur noch. Was habe ich schon davon?’”220

Vornehmlich beobachten wir jedoch in den behandelten Werken auf Seiten der jugendlichen Protagonisten auch angesichts der Schrecken des Krieges eine unersättliche Lebensgier: Eine der Hauptfiguren in Claus Hubaleks Werk drückt diesen verzweifelten Überlebenswillen im Angesicht eines amerikanischen

Angriffes aus:

Von den Amerikanern her lebt das Feuer auf. Über unseren

Köpfen mischen sich die Maschinengewehrgarben […] Aber plötz-

lich liebe ich mein Leben, mein junges, ungelebtes Leben. Die

Erde, auf der ich liege, ist das Leben […]. Ich möchte in diese Erde

hineinkriechen, in ihren Schutz. Ich klammere mich an sie […] Ich

will leben, um jeden Preis leben, weil ich nicht weiß, was Leben

ist.221

219 Altner. S. 129 220 Meichsner. S. 201

120 Dieser fanatische Lebensdurst wird noch durch die Vorstellung des Jugendlichen verstärkt, dass ein Leben im Frieden eine neue, unbekannte, aufregende und positive Erfahrung ist, wie dieses von dem Ich-Erzähler in Claus Hubaleks Werk bekannt wird:

“Warum kann man denn nicht leben, immer nur vom Leben lernen,

vom Leben hören und sagen?” „Kurt, ich weiß es nicht, und wir alle

wissen ja nicht, was Leben ist. Vielleicht dürfen wir nicht so leben,

wie du dir das vorstellst. Was stellst du dir denn unter Leben vor?“

[…] „Vielleicht, daß man froh ist zu leben […]. Wenn alles um einen

herum lebt, lebt und froh darüber ist.“222

Wir spüren in diesen Werken das drängende Bedürfnis der adoleszenten

Protagonisten, eine fröhliche und unbeschwerte “normale” Jugend zu verbringen, eine Erfahrung, die ihnen von den Nationalsozialisten und den von ihn begonnenen Krieg vorenthalten wurde.

In Dieter Meichsners Roman Versucht’s nochmal mit uns schafft es eine Gruppe von jugendlichen Protagonisten, kurzfristig der schrecklichen Realität des Krieges zu entfliehen und die Unbekümmertheit einer Jugend zu genießen:

Wir aßen und legten uns nieder […] eine sorglose, freie

221 Hubalek. S. 46 222 Ebd. S. 43 121 Jugend, wie wir sie nie erlebt hatten, für ein paar Stunden war sie

da. Wir starrten in den Himmel. Einmal kitzelte Ulli den Jochen mit

einem Grashalm im Ohr und Jochen schimpfte: „Hör doch auf, du

Kindskopf.“223

Doch geben eine Anzahl der Protagonisten in den hier vorgestellten Werken der festen Überzeugung Ausdruck, dass eine friedvolle Existenz nach dem Ende des

Krieges illusionär sei. Überdies scheint es für meisten Handlungsfiguren fest zu stehen, dass ihre Existenz zwangsläufig der Vernichtung anheim fallen muss. Nur so lässt sich zum Beispiel das Zögern vieler jugendlicher Protagonisten erklären,

Familienbande aufrechtzuerhalten oder wieder zu knüpfen, da letztere als Kontakt zum wahren Leben einen möglicherweise dauerhaften Abschied schwer und schmerzvoll machen. Dieter Meichsner thematisiert diese Problematik in seinem

Buch Versucht’s noch mal mit uns, wo ein Protagonist mit den immer wieder auftauschenden Gefühlen von Hoffnung und Liebe kämpft, obwohl er sich psychologisch von seinem (zivilen) Leben, und damit von seiner Familie und

Menschen, die ihm etwas bedeuten, lösen will:

Der Tod hatte mir einen letzten Urlaub gegeben, aber nur, daß

ich lernte, wie ich am besten würde zerstören, vernichten, töten

können, ehe auch ich zur Hölle fuhr […] Ich war früher einmal mit

223 Meichsner. S. 119 122 ihr [einer Freundin – Anmerkung des Autors] zusammengegangen,

nun saß ich hier und sehnte mich nach ihr […] Ich fürchtete, es

würde mich wieder an das Leben binden. Ich hatte mich losgerissen,

und es schien alles einfach. Nur sich nicht wieder an etwas

binden.224

Wie wir gesehen haben, sind keine der jugendlichen Protagonisten in den untersuchten Werken in der Lage, Konsequenzen aus ihren Überlegungen zu ihrer

Kriegsteilnahme zu ziehen und Initiativen zur Veränderung der Existenz in Form von Desertion, Kapitulation, oder Widerstand gegen das Regime zu unternehmen.

Anstelle dessen fallen die meisten Protagonisten auf die ihnen vom nationalsozialistischen System indoktrinierten “Tugenden”, wie unbedingter

Gehorsam, zurück. Hier soll ein Auszug aus Helmut Altners Totentanz Berlin zur

Verdeutlichung dienen:

Wir waren Kinder, als wir in die Marschreihen eingereiht wurden […]

wir wurden zu Maschinen. Jeder von uns war ein gut

funktionierender Teil eines Uhrwerks, dessen Räder ineinander

griffen […] wie Marionetten an einem Faden wurden wir

herumgezogen […] willenlos […] Wir waren zu Herdentieren

geworden, ohne eigenen Willen und Gedanken.225

224 Ebd. S. 19 225 Altner. S. 151 123

Dieses fatalistische Verhalten begegnet uns auch in Manfred Gregors Roman Die

Brücke. Hier wandert der letzte Überlebende der Gruppe von Jugendlichen, die die Brücke gegen die anrückenden Amerikaner verteidigt haben, einfach “durch das Inferno aus Krachen, Dröhnen, blitzendem Feuerschein und qualmendem

Rauch […] er wanderte durch die Hölle als sei er gefeit. Er spürte keine Angst mehr und keine Bedrohung.”226

Dieser Glaube an Prädetermination, wie er von den meisten jugendlichen

Wehrmachtsangehörigen in den Werken zur Schau gestellt wird, fällt mit der

Desintegration der adoleszenten Persönlichkeit sowie der Desensibilisierung als

Mensch zusammen. Ein derartiger Prozess wird von Helmut Altner in seinem Werk umfassend dargestellt, als ein Protagonist darüber reflektiert, warum er den

Kampf fortführt:

Bitterkeit, Enttäuschung und Einsamkeit sind uns geworden. Nun

sind wir armselige, von den Stürmen dieser Zeit zersetzte Men-

schenbündel […] Und wenn wir uns fragen, warum wir nicht

Schluß machen mit all unserer Not und Qual, dann stehen wir und

wissen keine Antwort! Sind wir solch eine stumpfe Masse

geworden, die nicht mehr fähig ist, sich gegen ein „Geschick“

aufzulehnen […] Ja, das ist wohl der Grund, daß wir es nicht

wagen, die Menschen, die über uns wie Dämonen herrschen,

124 einfach zu beseitigen, um frei zu sein […]. Aber wir wissen ja nicht

einmal was Freiheit ist.227

Dieses Unvermögen des Jugendlichen, sich von dem Joch des

Nationalsozialismus zu befreien, ist den Autoren zufolge der Schlüssel zur

Beantwortung der Frage, warum die jugendlichen Protagonisten entschlossen sind, gegen einen überlegenen Gegner bis zum bitteren Ende zu kämpfen.

Böll, Hubalek und Meichsner sehen die Gründe für dieses Versagen des

Jugendlichen, selbstständig zu handeln, in der erfolgreichen Manipulation desselben durch das nationalsozialistische Regime, welches den kognitiven und affektiven Entwicklungsstand des Heranwachsenden vorsätzlich ausnutzt.

Somit zeichnen die Autoren ein Bild, demzufolge die Entscheidung der jugendlichen Protagonisten, den Kampf selbst in aussichtsloser Lage fortzusetzen, auf dem irrationalen Glauben an den Sieg Deutschlands, an unbedingten Gehorsam und auf der allgemeinen Unfähigkeit und Unwilligkeit, sich kritisch mit den Scheinwerten des NS-Regimes auseinander zusetzten, basiert.

Eine Diskussion der Protagonisten, welche zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem die Rote Armee bereits Berlin besetzt hat, und das Leben in der sowjetisch besetzten Zone (SBZ) sich zu ordnen beginnt und das den Schluss des Werkes von Dieter Meichsners Versucht’s noch mal mit uns bildet, vermittelt das wohl

226 Gregor. S. 224 227 Altner. S. 153 125 eindrucksvollste Bild von der geistigen Verfassung der Jugendlichen, wie sie uns in den Werken der Autoren begegnet:

„Mensch, Jochen,“ setzte ich an, „glaubst du wirklich, daß alles

Schwindel war, wofür wir kämpfen wollten?“ Da antwortete er nicht.

Vielleicht wagte er das furchtbare „ja“ noch nicht aussprechen […].

Wir haben es vermieden, noch einmal jene Frage zu stellen.228

Poetologische Darstellung

Nachdem wir uns nun eingehend mit dem Problem beschäftigt haben, wie der

Inhalt der diskutierten Werke Rückschlüsse auf die Erklärungsansätze der

Autoren hinsichtlich der Motivation jugendlicher Kriegsteilnehmer zulässt, erscheint es notwendig, der Frage nachzugehen, welche Rolle die von den

Autoren verwendete Erzähltechnik, gerade auch im Hinblick auf das Postulat der

Jugendliteratur, in diesem Zusammenhang spielt. Es ist von offensichtlicher

Relevanz für unsere Fragestellung zu untersuchen, mit welchen Mitteln die

Autoren dem Leser mittels der verwendeten Struktur und Erzähltechnik die

Motivation der Jugendlichen für den adoleszenten Leser transparent machen.

Das wohl schillerndste Beispiel liefert Manfred Gregor in seinem Roman Die

Brücke. Der Roman, der in 18 nummerierte Erzählabschnitte unterteilt ist, wird in unregelmäßigen Abschnitten von Passagen unterbrochen, die qualitativ und

126 quantitativ variieren und interessanterweise stets vor dem Tod des jeweiligen jugendlichen Protagonisten eingeschoben sind. Rolf Tauscher zufolge dienen diese Ergänzungen folgendem Zweck:

Sie sollen zumeist Leerstellen ‚auffüllen‘, die der Autor in der

fiktiven Gegenwart des Erzählten empfindet oder für den Leser

relevant vermutet, es werden aber z. T. zumeist Leerstellen auch

inkonsequent mit den Sequenzen verbunden und von ihnen ab-

gesetzt, so daß sich insgesamt eine gewisse Diffusion der

Narration ergibt229.

Tauscher verkennt eindeutig mit diesem Erklärungsansatz die Signifikanz dieser

Abschnitte. Manfred Gregor benutzt diese Erzählstruktur intentional um ein möglichst genaues Psycho- und Soziogramm der Jugendlichen zu entwerfen.

Gregor beleuchtet gerade in diesen Abschnitten Verhaltensmuster aus der

Kindheit der Protagonisten, die schließlich das Verhalten der Jugendlichen im

Kampf motivieren. Wir sind auf diese Verhaltensweisen bereits in den vorangegangenen Abschnitten eingegangen. Siegi Bernhards

Profilierungsneurose, Scholtens „irrlichterndes, abwegiges Weltbild“230, Jürgen

Borcharts Ehrgeiz und Junkermentalität, Karl Hobers Prahlerei und Eifersucht,

Klaus Hagers Einsamkeit und Sehnsucht nach Integration, Walter Forsts

228 Meichsner. S. 202 229 Tauscher. S. 284

127 sadistische Prädisposition und Albert Mutz‘ Loyalitätsgefühl sind Beispiele für kindliche bzw. jugendliche Verhaltensmuster, die nicht unbedingt als pathogen einzustufen sind, aber doch als ein wesentlicher Grund für die militante

Verhaltsweise der jugendlichen Protagonisten zu werten sind.

Die Wahl der personalen Erzählsituation Stanzelscher Prägung, die

„abschnittsweise z. B. durch das mimetische Element ‚Dialog‘ zur auktorialen tendiert“231, unterstützt das Anliegen des Autors. Die personale Erzählform, zeichnet sich durch das „Zurücktreten des Erzählers […], das Vorherrschen szenischer Gestaltung, des Dialogs, der erlebten Rede und der

Bewußtseinsspiegelung, und nicht zuletzt [durch] die Fixierung des point of view der Darstellung im Bewußtsein der Romangestalt“232 aus. Jochen Vogt spricht in diesem Zusammenhang von einer „subjektiv-psychologischen Technik“, welche

„die innere Wahrnehmung der Perspektivfigur für Gedanken, Gefühle, besonders

Erinnerungen“233 öffnet. Diese Erzählsituation lässt die Introspektion der Roman- charaktere für den Leser transparent werden: eine unerlässliche Methodik um den

Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt der Romanfiguren einzuweihen.

Vereinzelt verwendet Gregor die auktoriale Erzählsituation, deren „Blickwinkel grundsätzlich weder raum-zeitlich noch (psycho-)logisch eingeschränkt“234 ist. Ziel ist es, in den Rückblicken auf das Leben der einzelnen Protagonisten, welche die

Handlungskette sequenzieren, Kommentare über den affektiven und kognitiven

230 Gregor. S. 88 231 Tauscher. S. 284. 232 Stanzel. S. 42f. 233 Vogt. S. 54

128 Entwicklungsstand des jugendlichen Handlungsträgers, welche der Introspektion des jeweiligen Protagonisten verwehrt sind, für den Leser hervorzuheben. Als

Beispiel diene hier die Beschreibung von Klaus Hagers Gemütszustand durch den

Autor: „Die Schwierigkeiten seines Alters äußerten sich in jener seelischen

Überempfindlichkeit, in jenem süchtigen Sich-fort-tragen-lassen, wenn irgendetwas Bewegendes auf ihn eindrängte.“235 Auch fügt Gregor gelegentliche

Kommentare, die auf einen auktorialen Erzähler schließen lassen, in die aktuelle

Handlungsebene ein, was dazu dient, dem Leser das Psychogramm des

Protagonisten wiederholt in Erinnerung zu rufen, so wie sich dieses in der

Charakterisierung des Protagonisten Scholten manifestiert: „Und Scholten, den zynischen, sarkastischen Sechszehnjährigen fröstelte es unter dem

Brückenbogen […].“236

Heinrich Böll, Dieter Meichsner, Claus Hubalek und Helmut Altner entscheiden sich für das narrative Medium eines Ich-Erzählers. Die Gründe für diese Wahl liegen auf der Hand. Wie wir bereits eingangs angesprochen haben, geht es

Meichsner, Hubalek und Altner darum, ein möglichst wirklichkeitstreues Bild des

Geschehenen zu schaffen. Begriffe wie „Dokument“ (Meichsner),

„Tagebuchblätter“ (Altner) oder „Tagebuch“ (Hubalek), die wir im Untertitel, Vor- oder Nachwort der untersuchten Werke finden, künden von diesem

Authentizitätsstreben der Autoren. So erscheint es kaum verwunderlich, dass der

Literaturissenschaftler Jochen Vogt in seiner Definition der Ich-Erzählsituation die

234 Vogt. S 64 235 Gregor. S. 148

129 Abwesenheit spezifischer Elemente fiktionalen Erzählens konstatiert237:

„Tatsächlich lehnt sich die Ich-Erzählung […] relativ eng an bestimmte nichtfiktionale Gebrauchsformen der Literatur an: die Autobiografie oder die

Memoiren, das Tagebuch oder den Brief.“238 Es erscheint im Zusammenhang mit unserer Untersuchung wesentlich, uns kurz die wesentlichen Charakteristika der

Ich-Erzählsituation ins Gedächtnis zu rufen:

Der Ich-Erzähler steht nicht außerhalb oder über der Welt, die er

erzählend aufbaut, er steht […] in ihr, als Figur unter Figuren. Er

erzählt […] lediglich die „eigensten“ Erlebnisse, oder doch Vor-

gänge, die er miterlebt, beobachtet bzw. sonst auf plausible

Weise erfahren hat. Unmittelbarkeit und Authentizität werden er-

kauft durch eine starke Eingrenzung des Blickfeldes.239

Die Autoren versuchen somit mittels der Ich-Erzählsituation den Rezipienten in die

Rolle des Protagonisten schlüpfen zu lassen, um ersterem begreiflich zu machen, wie sich die Wirklichkeit für den Jugendlichen darstellte und welche

Entscheidungen er aufgrund dieses Realitätsverständnisses traf.

Bölls Verwendung der Ich-Erzählsituation dient einem ähnlichen Zweck. Obwohl seine Erzählung einen explizit fiktiven Charakter trägt, benutzt auch er die

236 Gregor. S. 68 237 vgl. Vogt. S. 68 238 Vogt. S. 69 239 Vogt. S. 67 130 Ich-Erzählsituation, um den Leser in die Welt des Protagonisten einzuführen. Hier steht jedoch die Reise des sich im Fieberwahn befindenden sterbenden

Protagonisten zum Operationssaal in seiner ehemalige Schule, welche zum

Feldlazarett umfunktioniert wurde, im Mittelpunkt. Der Leser erlebt durch die

Augen des Jugendlichen dessen regressive Initiationsreise, dessen Ziel nicht mehr die Vorbereitung auf das Leben, sondern auf den Tod ist.240 Diese Reise, die die physische Bewegung des Körpers des Protagonisten durch die Schule mit seiner Bewusstseinsreise synchronisiert, lässt den Jugendlichen vieler symbolträchtiger Gegenstände, wie z. B. dem Epitaph „Wanderer, kommst du nach Sparta“ auf der Tafel, „ein Bild des Dornausziehers“, „eine Nachbildung des

Parthenonfrieses in Gips“ oder die Ahnengalerie „vom Großen Kurfürsten bis

Hitler“ ansichtig werden. Wie bereits im Zusammenhang mit der Indoktrination der

Jugendlichen durch das NS-Bildungssystem angesprochen sollen diese Symbole die „Pervertierung des Bildungsauftrages der Schule und der Preisgabe humanistischer Ideale an das NS-Regime“241 veranschaulichen. Die Bedeutung der Symbolik bleibt jedoch dem jugendlichen Protagonisten, trotz einer apokalyptischen Vorahnung, verschlossen:

Zwar dämmert dem Jungen allmählich, daß die Schule für ihn

zum Ort des Sterbens geworden ist, doch glaubt er in seiner

Naivität noch, dass man seinen Namen auf einem Kriegerdenk-

240 vgl. Heinrich Böll. S. 324 241 Sander. S. 48-49 131 mal verewigen werde.242

Er lebt, wie die Helden in den Werken von Meichsner, Altner, Gregor und Hubalek in seiner eigenen beschränkten Gedanken- und Gefühlswelt. Es bleibt dem Leser

überlassen, aus den Symbolen den Rückschluss auf die Korruption und

Verformung des Jugendlichen durch das NS-Regime herzuleiten.

Abschließend erscheint es angebracht, noch einige Bemerkungen hinsichtlich der

Bedeutung der Personenrede und Bewusstseinsdarstellung243 in den Werken für unsere Untersuchung zu machen.

Das Streben des Autors nach Authentizität und Unmittelbarkeit, und der damit einhergehenden Offenlegung der Motivation der Jugendlichen, schlägt sich auch in der Form der in den Werken gewählten Personenrede und

Bewusstseinsdarstellung nieder. Die Verfasser der untersuchten Werke verwenden u.a. mit Vorliebe die Erzähltechnik der erlebten Rede, wie z. B. Altner, oder des inneren Monologs, wie Meichsner und Hubalek. Ziel beider

Erzähltechniken ist es, den „Bewußtseinszustand einer Person unmittelbar wiederzugeben […] [und],“ im Falle des inneren Monologs „jene hörerlose und nicht ausgesprochene Rede, durch die eine Figur ihre Innersten, dem

Unbewußten am nächsten liegenden Gedanken vor jeder logischen Verbindung – also in ihrem Urzustand – ausdrückt.“244

242 Sander. S. 50 243 Die Einführung dieser Kategorie erfolgt in Anlehnung an die von Jochen Vogt in seinem Werk Aspekte erzählender Prosa gewählte Einteilung. 244 Larbaud. zitiert nach: Vogt. S. 180 132 Im Zusammenhang mit diesem Versuch durch die Erzähltechnik des inneren

Monologs oder der erzählten Rede das (Un-)Bewusstsein des Protagonisten für den Leser transparent werden zu lassen, erscheint es hilfreich, kurz auf die anzutreffenden sprachlichen Besonderheiten der Werke, die dem gleichen Ziele dienen, einzugehen. So wurde von uns bereits das Mimesis-Bestreben der

Autoren, wie sich dieses im Inhalt der Werke sowie in der literarischen Gestaltung reflektiert, konstatiert.

Wir erinnern uns des Begriffes ‚Kahlschlag-Literatur’, wie dieser eingangs im

Zusammenhang mit der Gruppe 47 erwähnt wurde: „Kahlschlag bez[eichnet] […] neben dem >>Willen zur Wahrheit<<, zur >>Auseinandersetzung mit den

Widersachern des Geistes<< zugleich eine Tendenz zur Sprachreinigung, zur stil[istischen] Kargheit.“245 Wolfdietrich Schnurre präzisiert diesen Zweifel an der

Objektivität der Sprache nach ihrer Korruption durch die nationalsozialistischen

Machthaber246: „Nicht einmal die Sprache war mehr zu gebrauchen […] die

245 Metzler-Literatur-Lexikon. S. 231 246 In diesem Zusammenhang sei auf das Werk Viktor Klemperers hingewiesen, der in seinem LTI. Notizbuch eines Philologen eine der wohl besten psycholinguistischen Chrakerisierungen der nationalsozialistischen Sprache liefert:

Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatismus könne 133 Nazijahre und die Kriegsjahre hatten sie unrein gemacht. Sie mußte erst mühsam wieder Wort für Wort abgeklopft werden […] Die neue Sprache, die so entstand, war nicht schön. Sie wirkte keuchend und kahl.<<“247

Diese von sich selbst gereinigte Sprache sehen wir bei allen Autoren.

An einigen Stellen haben wir das Gefühl, und wir haben dieses an den

Textbeispielen aus den behandelten Werken gesehen, dass die Sprache nicht mehr ausreicht, um die apokalyptischen Visionen des Krieges zu beschreiben.

Es ist offensichtlich, dass sich die Autoren, um dem Leser die Motivation, die den

Jugendlichen dazu veranlasst hat, in der Wehrmacht zu kämpfen, plausibel nahebringen, gezwungen sehen, erzähltechnisch alle Register zu ziehen, um dem

Rezipienten Eingang in die Gedanken- und Gefühlswelt des jugendlichen

Protagonisten zu gewähren.

Diese Form des „neuen Realismus“ oder „Kahlschlags“ wird den Autoren, wie im

Falle Gregors, welcher neben Bölls Wanderer, kommst du nach Spa… das wohl literarisch anspruchsvollste Werk dieser Zeitperiode geschrieben hat, aufgrund der „Kompaktheit des Erzählten“248 und dem „einfache[n] Kompositionsprinzip“249

man kein Held sein […] Die nazistische Sprache […] ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in allem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar […] (S. 22-23) 247 Schnurre. zitiert nach: Metzler Literatur-Lexikon. S. 231 248 Tauscher. S. 285 249 ebd. 134 von Literaturkritikern unserer Zeit als Mangel an „literarischem Ehrgeiz“250 ausgelegt, ein Vorwurf, den die Verfasser der Vor- bzw. Nachworte der Werke von

Gregor, Meichsner, Hubalek und Altner nicht nur nicht entkräften, sondern dem sie expressis verbis zustimmen.

Wir werden auf den Bereich der Erzählsituation im Zusammenhang mit der

Jugendliteratur späterer Jahrzehnte zurückkommen.

Die Werke der Adenauer-Ära: Die Diskussion um ihre Stellung als zeitgeschichtliche Kinder- und Jugendliteratur

Wie wir eingangs erwähnt haben, verstehen die Autoren Hubalek und Altner ihre

Werke als explizit intentionale Jugendliteratur, die Autoren Meichsner, Böll und

Gregor wenigstens als implizit intentionale oder intendierte Kinder- und

Jugendliteratur. Zugleich scheinen aber neben den Jugendlichen auch die

Erwachsenen als präsumtive Leser in Betracht zu kommen, wie z.B. das Thema der von den Autoren und Herausgebern angesprochenen Versöhnung der

Generationen suggeriert.

Betrachten wir zunächst die Definition des zeitgeschichtliche Jugendbuches, wie sie uns von Günter Lange präsentiert wird und welche uns im Zusammenhang mit den Werken der 60er und 70er Jahre noch weiter beschäftigen wird:

250 Tauscher. S. 286 135 Dass die zeitgeschichtliche KJL [Kinder- und Jugendliteratur –

Anmerkung des Autors] eine intentionale Literatur ist,

hat Konsequenzen für ihre Einschätzung und kritische Bewertung,

denn es ergibt sich das Problem, dass diese KJL das Thema

Nationalsozialismus notwendigerweise in einer anderen Form

behandelt, als es die Erwachsenenliteratur tut. Der kindliche

oder jugendliche Leser besitzt nicht die Voraussetzungen, um

die historischen Sachverhalte adäquat zu erfassen. Aus diesem

Grund müssen die Autoren exemplarisch vorgehen, Reduktionen

vornehmen, den historischen Gegenstand dem kindlichen und

jugendlichen Fassungsvermögen anpassen.251

Nach diesem Postulat in Sachen Jugendliteratur wollen wir kurz untersuchen in- wiefern eine Akkommodation des jugendlichen Lesers durch die Autoren der

Werke der Adenauer-Ära intentional erfolgt und in wiefern diese als Jugendbücher definiert werden können.

Das von der schwedischen Jugendliteraturforscherin Göte Klingberg entwickelte und von Hans-Heino Ewers adaptierte Differenzierungssystem bezüglich Kind- und Jugendgemäßheit stellt verschiedene Kategorien auf, die die Akkommodation des jugendlichen Rezipienten indizieren.

Klingberg versteht unter der Kind- und Jugendgemäßheit auf paratextueller

Ebene, der sogenannten paratextuellen Akkommodation, eine “mit Rücksicht auf

136 den präsumtiven Leser vorgenommene[...] Abweichung von allgemeinliterarischen Konventionen im Bereich des Paratextes […] (Titelgebung,

Einbandgestaltung, Illustration, Typographie etc.).”252 Bei den behandelten

Werken der Adenauer-Ära lässt sich eine solche intentionale Herbeiführung der

Kinder- und Jugendgemäßheit durch besondere paratextuelle Mittel im Peritext, wie Einband, Illustrationen oder Typografie nicht konstatieren. Ausschließlich

Claus Hubalek verwendet in seinem Tagebuch Illustrationen, wobei es sich hierbei um expressionistische Kreidezeichnungen der Umrisse leidender

Wehrmachtssoldaten handelt, denen eine Kind- oder Jugendgemäßheit nicht unbedingt unterstellt werden kann.

Kind- und Jugendgemäßheit in sprachlicher und stilistischer Sicht, die sprachliche und stilistische Akkommodation, sind “die mit Blick auf die jeweilige

Sprachkompetenz des präsumptiven Lesers im voraus genommenen

Einschränkungen der dem Autor zur Verfügung stehenden sprachlichen

Ausdrucksmittel.”253 Zwar lassen sich in allen Werken Einschränkungen im

Bereich der Morphologie, Syntax und Semantik, die der sprachlichen Kompetenz des Jugendlichen offensichtlich entgegenkommt, erkennen, doch ist nicht abschließend zu klären, ob es sich hierbei nicht vielmehr um Charakteristika der propagierten Kahlschlagliteratur oder der Sprachkompetenz der jugendlichen

Autoren handelt, als um eine intentional auf den jugendlichen präsumptiven Leser abgezielte sprachliche und stilistische Akkommodation.

251 Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 487 252 Ewers. S. 210

137 Unter Kind- und Jugendgemäßheit in formaler und gattungsmäßiger Hinsicht versteht Ewers “die Gesamtheit der mit Blick auf den präsumptiven Leser und dessen begrenzte Fassungskraft vorgenommenen Modifikation der allgemeinliterarischen Bauformen und Darstellungstechniken [… ].”254 Es stellt sich hier die Frage, ob die Autoren die Handlungsstruktur oder das

Figurenensemble im Hinblick auf das Rezeptionsvermögen des jugendlichen

Lesers in der Gestaltung des Textes berücksichtigen. Wir müssen hier bereits auf die im Zusammenhang mit der sprachlichen und stilistischen Akkomomodation getroffenen Feststellung verweisen.

Kindgemäßheit in stofflicher und inhaltlicher Sicht, eine weiteren Kategorie nach

Klingberg, bedeutet die “ mit Blick auf den präsumptiven Leser vorgenommene

Modifikation des allgemeinliterarischen Stoffrepertoires”, wobei die “Veränderung

überlieferter oder die Schaffung neuer stofflicher Komplexe”255 erfolgen kann.

Inhaltliche Akkommodation hingegen fordert die “von den allgemeinliterarischen

Konventionen abweichende kinder- und jugendliterarischen Weisen der

Inhaltsgestaltung.”256 Hinsichtlich der stofflichen und inhaltlichen Akkomodation der behandelten Werke der späten 40er und 50er Jahre lässt sich die Aussage treffen, dass der Stoff der behandelten Bücher in keinerlei Weise als ausschließlich jugendspezifisch zu bezeichnen ist, wie dieses z.B. der Fall bei

Sagen, Tierdichtungen, Gespenster- und Abenteuergeschichten wäre. Zudem sei

253 Ewers. S. 211 254 Ewers. S. 215 255 Ewers. S. 217 256 Ewers. S. 220 138 kurz auf die bereits angesprochene sehr plastische Schilderung der Kriegsgräuel in den behandelten Werken hingewiesen, die natürlich, wie Günter Lange berechtigt anführt, die Frage aufwirft: “Was ist dem jungen Leser zumutbar?”257

Wenden wir uns nun dem für unsere Untersuchung wesentliche bedeutsameren

Aspekt der Kinder- und Jugendgemäßheit in thematischer Hinsicht zu, die “mit

Rücksicht auf den präsumptiven Leser vorgenommene Erweiterung des allgemeinliterarischen Themenspektrums.”258 Hier steht die Frage nach der

Relevanz des Themas für Kinder- und Jugendliche, welche der Autor dem Sujet aufgrund religiöser, ideologischer, politisch-propagandischer oder erzieherischer

Überzeugung attribuierte, im Mittelpunkt. Die Nähe des Themas zum präsumptiven Leser und seiner Lebenswelt ist hier von zentraler Bedeutung.259 So lässt sich sicherlich mit Recht behaupten, dass sich die Situation des Jugendlichen als Kindersoldat im Zweiten Weltkrieg als ein für Kinder und Jugendliche signifikantes Thema darstellt, welches gerade vor dem Hintergrund einer

Erziehung des Jugendlichen der Nachkriegszeit zu einem kritischen, aufgeklärten und mündigen Staatsbürger, der die Tragik kriegerischer Konflikte und den

Schrecken der nationalsozialistischer Gewaltherrschaft erkennt, von immanenter

Bedeutung ist.

Wenn wir von Kinder- und Jugendgemäßheit in normativer Hinsicht sprechen, so stellt sich zwangsläufig die Frage, “ob und in welchem Maße die in einem literarischen Werk definitiv geltenden Normen mit den Wertungen der

257 Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 487 258 Ewers. S. 224

139 präsumptiven Leser konform gehen.”260 Wie wir bereits gesehen haben, betonen die Herausgeber der behandelten Werke, und Böll und Gregor fallen bekannterweise mit ihren Werken aus diesem Rahmen heraus, den Umstand, dass es sich bei den autobiografischen Romanen, Autobiografien und

Tagebüchern um unzensierte authentische Darstellungen der persönlichen

Erfahrungen von Jugendlichen handelt. Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu dem von Ewers aufgestelltem Postulat, demzufolge ein wesentlicher Zug der normativen Akkommodation eine Sichtweise bzw. Wertungsposition durch den

Autor bedingt, “in dem kindliche und jugendliche Erlebnisweisen und

Wertungsstandpunkte ungehemmt, unzensiert und unretouchiert zur Geltung gebracht werden.”261

Wie wir gesehen haben, weisen die behandelten Werke Charakteristika von

Kinder- und Jugendbüchern auf und sie richten sich an die präsumptive

Leserschaft der Jugendlichen (“intentionale Jugendliteratur”) aber auch an die

Erwachsenen; zugleich erkennen wir auch die Mängel an einer Kinder- und

Jugendgemäßheit in verschiedenen der angesprochenen Kategorien.

Inwiefern sich jedoch diese Werke thematisch nicht nur von der

Erwachsenenliteratur sondern auch von der traditionellen Kinder- und

Jugendliteratur der Adenauer-Ära unterscheiden soll uns folgender Überblick über die Kinder- und Jugendliteratur der späten 40er und 50er Jahre zeigen.

259 vgl. Ewers. S. 222 260 Ewers. S. 225 261 Ewers. S. 227 140 Die ersten Nachkriegsjahre waren, auch was die Kinder- und Jugendliteratur betraf, durch den “tabula-rasa-Stand im Vierzonendeutschland des Jahres

1945”262 gekennzeichnet. Die literarische Situation wurde bei Kinder- und

Jugendliteratur wie auch bei Erwachsenenliteratur von der Kontrolle durch die

Alliierten Mächte bestimmt. So kam es bei der Suche nach einem neuen Typ von

Kinder- und Jugendliteratur in erster Linie zu einer rigorosen Abkehr von

Gewaltdarstellungen und Ideologieverherrlichungen im Kampf gegen die jugendgefährdende Literatur der nationalsozialistischen Zeit.263 Zu diesem Zweck wurde eigens eine Gesetzesreihe von den Alliierten erlassen, die eine

Weiterverbreitung oder neues Aufkommen der als „Schmutz“ und „Schund“ bezeichneten Literatur verhindern sollte.264

Man versuchte nun die Kindheit und Jugend als einen eigenständigen und gleichwertigen Bereich in der Entwicklung des Menschen anzusehen, welches sich gerade in den Theorien Piagets reflektiert, und postulierte das Recht des

Kindes bzw. Jugendlichen, diesen Abschnitt bewusst als solchen zu durchleben.

Erich Kästner zitierte 1952 die Worte des Literaturhistorikers Paul Hazard, der die

Forderung aufstellte, dass “die Jugend nicht zur Vorstufe fürs Erwachsenensein degradiert [...], sondern als absoluter Wert erkannt und anerkannt werde.”265

Gleichermaßen wendet sich Faber du Faure 1948 gegen das “sich-gleich-machen wollen den Großen, zu frühes Erwachen der Triebe oder des zersetzenden

262 Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 215 263 vgl. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 299f. 264 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 215 265 vgl. Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. S. 39 141 Verstandes.”266 Alle denkerischen Ansätze sollten aus der Sicht des Kindes konzipiert werden267, da “diese kindliche Perspektive nicht verschleiert, sondern geradezu die Veränderungen und Widersprüche der damaligen Zeit aufdeckt.”268

Es ist offensichtlich, dass die Jugendbuchautoren mit dem Medium Kinder- und

Jugendbuch eine positive erzieherische Beeinflussung auf die Kinder und

Jugendlichen der Nachkriegsgeneration, die durch die nationalsozialistische

Indoktrination wie auch durch den Krieg ihrer Ideale, Hoffnungen und ethischen

Werte beraubt schienen, dahingehend auszuüben versuchte, dass die Zukunft als nicht-bedrohlich und wieder lebenswert erscheinen sollte. Man suchte in Abkehr von Büchern mit militaristischem, imperialistischem oder gar nationalsozialistischem Gehalt269 unter Zuhilfenahme ausländischer

Jugendschriftsteller eine neue weltanschaulich “neutrale” Generation von Kinder- und Jugendliteratur zu schaffen, die durch ein intaktes bzw. zu heilendes Weltbild neue Hoffnung und Ideale für die durch Nationalsozialismus und Krieg geschädigten Kinder und Jugendlichen bringen sollte. 270 Letztere bedurften nach

Einschätzung der Kinder- und Jugendliteraten einer solchen literarischen

Projektion der “heilen Welt”271, um dem grundlegenden Misstrauen, unter dem die

266 vgl. Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. S. 38 267 vgl. Dierks. S. 257 268 Otto. S. 140 269 vgl. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 299 270 vgl. Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur. S. 529 und Dierks. S. 219 271 Nach Wild kam “[d]er Kinderliteratur und ihren Autoren […] Werner Bergengruens Formulierung von der >>heilen Welt<< gelegen. Dieser Titel war vom Autor selbst metaphysisch gemeint gewesen, er wurde jedoch restaurativ mißverstanden.” (Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 299) 142 Kinder und Jugendlichen nach dem Inferno des Krieges litten, entgegenzuwirken

und Orientierung zu offerieren272:

Vor allem aber breitete sich die später diffamierte heile Welt im

Kinderbuch aus. Vorindustrielle ländliche Idyllen wurden da gemalt,

wie sie längst nicht mehr vorhanden waren. Die Sehnsucht nach

einem konfliktfreien Zustand, rückwärtsgewandt, […] und

realitätsfremd, schlug sich in den Kinderbüchern der ersten

Nachkriegsjahre nieder. Bloß keine Problem- und Schockliteratur.273

Aber auch der Kampf gegen Nihilismus und Lethargie, typische Auswirkungen der starken seelischen Verletzungen, war das erklärte Ziel.274 Dabei versuchte man

mit dem durch die U.S. Amerikaner initiierten sogenannten

“re-education-programs”, dessen grundsätzliches Versagen Füssl in seiner

eingangs angesprochenen Studie thematisiert, eine (Um)erziehung insbesondere

der Jugendlichen zu persönlicher Verantwortung, einem hoffnungsvollen Blick in

die Zukunft, moralischer Aufrüstung sowie zur Bereitschaft zum Aufbau und zur

Teilnahme an der neu entstandenen Demokratie zu führen.275 John Barfaut, lange

Jahre Redakteur der Zeitung Jugendschrift-Warte, Organ der Lehrerschaft für die

Kinderbuchkritik, schrieb demzufolge 1949: “[U]nser Weg in die Zukunft muß

272 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 53 273 „Tausend Bücher über das Tausendjährige Reich.“ – In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.09.1995 274 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 527

143 durch drei Ideen gekenzeichnet sein: Den Friedensgedanken, den demokratischen und den sozialen Gedanken […].”276 Als mehr auf den

Friedensgedanken als auf die politische Aufklärung bedacht erwiesen sich die

Thesen des Frankfurter Lehrers und Jugendschriftstellers Wilhelm Fronenmann, der den Krieg schon als vergessen ansieht und es vorzieht, die “göttliche

Unbefangenheit der Jugend”277 zu feiern. In der Kinder- und Jugendliteratur manifestierte sich so ein Trend zur Darstellung des naiven, einfachen Lebens:278

Am Inhalt und Intention des Mädchenbuchs lässt sich – wie in

keinem anderen Genre der Kinder- und Jugendliteratur – ablesen,

was diejenigen im Sinn hatten, die das ‚gute Jugendbuch’

propagierten: Entsexualisierte Atmosphäre, positive Heldinnen,

kein offener Schluß, Hinwirkung auf ‚Vertrauen’ sind die uner-

läßlichen Bedingungen des ‚guten’ Mädchenbuchs.279

Charakereigenschaften der Protagonisten, wie „lustig” und „fröhlich”, sowie die

Tugenden „Ordnung”, „Friedfertigkeit” und „Sauberkeit” wurden von den

Jugendbuchautoren und –autorinnen in ihren Darstellungen bevorzugt.280

275 vgl. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 299 276 Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 301 277 vgl. Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 301 278 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 53 279 Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 64 280 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 84 144 Mit heroischen Zügen wurden die „Helfer der Menschheit”281 und „Helden der

Menschlichkeit”282 gezeichnet, ihre Schwächen konnten, wie wir sehen werden, erst in den 70er und 80er Jahren mitbeschrieben werden.283

So versuchten die traditionellen Jugendschriftsteller ab 1945 zunächst in

Anknüpfung an „Vorbilder, Zeitgeschmack und Stile vor 1933” und an Werke des

19. Jahrhunderts in einer trivialen Mischung aus Unterhaltung und Belehrung.284

Typisch waren Neuauflagen von Defoes Robinson Crusoe (1949), Swifts Gullivers

Reisen (1949) oder Scheffels Ekkehard (1949). Eine Auflockerung brachten

Autoren wie Erich Kästner (1899-1974), James Krüss (1926-1997) oder Otfried

Preussler (*1923), die mittels ihrer Bücher versuchten, moralische und soziale

Verantwortung beim jugendlichen Leser zu wecken.285 Das Ausmaß dieser

Bemühungen war enorm, wenn man die jährliche Statistik des Börsenvereins des deutschen Buchhandels betrachtet. Der Anteil des Jugendschrifttums an den gesamten Neuerscheinungen betrug im Schnitt der Jahre 1946-1959 6,4 Prozent; das sind 16605 Titel, gemessen an der Armut der Zeit, eine sehr beträchtliche

Zahl.286

281 Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 124 282 Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 100 283 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 124 284 vgl. Dierks. S. 217 285 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 133f. und S. 144 286 vgl. Dierks. S. 215 f. 145 Eine Auseinandersetzung mit den traumatischen Erlebnissen des Zweiten

Weltkriegs fand dabei im Kinder- und Jugendbuch jedoch noch nicht statt287, ein

Grund, warum heute oft von „Behütungspädagogik”288 gesprochen wird:

Es ist nicht verwunderlich, daß die Auseinandersetzung mit

Faschismus, Krieg und Holocaust im Kinder- und Jugendbuch

erst in den 60er Jahren einsetzte. Zu den Verdrängungsab-

sichten und –mechanismen in der Gesellschaft […] kamen Tra-

ditionsmuster der Kinderliteratur hinzu. Es muß nicht unterstellt

werden, Eltern fürchteten die bohrenden, durch eine Lektüre

angestoßenen Fragen der jungen Generation; sie waren vielmehr

überzeugt davon, daß Kinderliteratur aus leserpsychologischen

Gründen seine fest umrissene Thematik behalten müsse: Krieg

und Ausrottung […] seien zu bedrängend bzw. zu abstrakt, als

daß Kinder mit ihnen behelligt werden dürfen.289

Fazit

Nachdem wir die Manifestation der in der deutschen Literatur der 40er und 50er

Jahre die von Literaten und Philosophen vertretenen Forderungen nach einem humanistischen Realismus sowie einem sprachlichen ‚Kahlschlag’, die mit dem

287 vgl. Otto. S. 173 288 Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 43 289 Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 334 146 Postulat nach einer realistischen Bestandaufnahme einhergingen, auch in den

Werken der Jugendbuchautoren nachgewiesen haben, welche u.a. auch als

Versuch der Autoren gewertet werden können, die Werke sprachlich auf den jugendlichen Leser abzustimmen, rückt die Frage nach der Bedeutung der

Adoleszenz im Hinblick auf ihre Motivation und Schuld ihrer Teilnahme am Krieg in den Vordergrund.

Schon die sich in den Vor- bzw. Nachworten der behandelten Werke Gehör verschaffende Stimme der Herausgeber wirbt um Verständnis für die Motive der

Jugendlichen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen und konstatieren, wobei sie jegliche subjektive Verantwortung der jugendlichen

Wehrmachtsangehörigen zurückweisen, dass die Jugendlichen aufgrund ihres adoleszenten Entwicklungsstadiums keinen Ausweg aus ihrer Lage gesehen haben, durch den Nationalsozialismus korrumpiert und verführt wurden und somit nur Produkte der Zeit gewesen seien.

Die literarische Gestaltung der behandelten Werke lässt uns die Schriften von

Hubalek, Altner, Meichsner und Gregor der Kategorie der intentionalen Kinder- und Jugendliteratur in Anlehnung an das besprochene Modell der kinder- und jugendliterarischen Akkomodation nach Klingbert und Ewers zuordnen. Doch wie wir aus den Vorworten der Verfasser erkannt haben, richten sich diese Bücher nicht nur an die Jugendlichen, sondern auch in dem Versuch den durch den Krieg verschärften Generationskonflikt zu verstehen und zu lösen, an den erwachsenen

Rezipienten.

Die Theorie des Schweizer Kinderpsychologen Jean Piaget sowie der

147 evolutionstheoretische Ansatz Glenn Weisfelds, die uns im Rahmen unserer

Untersuchung einen Einblick in die Einzigartigkeit des Entwicklungsstadiums des

Jugendlichen offerieren, erweisen sich hilfreich, wenn es zum einen darum geht, zu bestimmen, wie die Jugendbuchautoren den Initialappeal, den das Dritte Reich auf den Jugendlichen ausübte, in ihren Werken erklären, sowie zum anderen dem

Rezipienten verständlich zu machen versuchen, wie die Nationalsozialisten den jugendlichen Kriegsteilnehmer dazu brachten, gemäß seinem Eide bis zum letzten

Augenblick für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen.

Die Autoren zeigen uns, wie das Wesen der nationalsozialistischen Ideologie beim

Jugendlichen aufgrund seines kognitiven und affektiven Entwicklungsstadiums auf fruchtbaren Boden fiel und wie zugleich das Kind und später der Jugendliche durch Minimierung bzw. Ausschaltung des Elternhauses zum idealen Ziel für die

Indoktrination der Nationalsozialisten wurde.

So zeigen auch die Jugendschriftsteller den kausalen Zusammenhang zwischen der adoleszenten narzisstischen Persönlichkeit, der jugendlich romantischen

Schwärmerei, mit dem Glauben an die von den Nationalsozialisten propagierte neue Ordnung auf. Der Umstand, dass es sich bei dem Zweiten Weltkrieg um einen eugenetischen Vernichtungskrieg handelt, gelangt nicht in das Bewusstsein der jugendlichen Handlungsfiguren. Trotz der im Laufe des Krieges beim

Jugendlichen aufkommendem Zweifel an der Validität der NS-Propaganda sind die adoleszenten Kriegsteilnehmer aufgrund ihres Entwicklungsstandes psychisch nicht in der Lage, der Realität ins Auge zu blicken. Vielmehr erheben sie internalisierte Begriffe, wie Disziplin und Gehorsam, zu zeitlosen und

148 pseudoreligiösen Geboten, und klammern sich fanatisch an den Glauben, dass

Deutschland doch noch siegen werde.

Die Motivation der Jugendlichen, Soldat in der Wehrmacht zu werden, basiert nach Aussage der Autoren u.a. auch auf der entwicklungspsychologisch bedingten Lust auf Abenteuer, dem Drang, dem grauen Alltag und dem Elternhaus zu entfliehen, sowie auf der für die Adoleszenz typische romantische Vorstellung vom Kriege, die von den NS-Erziehern unter dem Konzept „dulce et decorum est pro patria mori“ gefördert wird.

So wird auch das Konzept der Jugendlichen von Heldentum durch die

Nationalsozialisten vorsätzlich mit einem Appell an die narzisstische Komponente in der Persönlichkeit des Jugendlichen ausgenutzt.

Entwicklungsbedingt erscheint ebenfalls das Bestreben des Adoleszenten zu sein, die Erwachsenen zu übertreffen, welches sich auf Seiten des Jugendlichen durch

Selbstüberschätzung, ein Mythos der Unbesiegbarkeit sowie Verachtung für die

ältere Generation manifestiert.

Aus Mangel an tiefermenschlichen Beziehungen mit Erwachsenen ziehen sich die jugendlichen Protagonisten in die Welt der Gleichaltrigen zurück. Folglich führt der

Verlust eines Freundes durch Feindeinwirkung, und dieses zeigen die Autoren in ihren Werken, auf Seiten des jugendlichen Soldaten zu einer Steigerung des

Hasses auf den Gegner und somit zu einer Erhöhung der Kampfmoral. Auch werden Gedanken an Desertion, wie wir gesehen haben. mit dem Verweis darauf, dass man Kameraden im Stich lasse, von den Protagonisten verworfen.

Als weiteren Grund für die Motivation der Jugendlichen, selbst noch im Angesicht

149 der unmittelbar bevorstehenden Niederlage, den Kampf fortzusetzen, machen die

Autoren auch die Angst vor Sanktionen, entweder durch das nationalsozialistische

Regime oder durch den Feind, verantwortlich.

Durch Desensibilisierung wird der Jugendliche, so die Autoren, von den nationalsozialistischen Machthaben zur Kriegsmaschine instrumentalisiert. Mit der

Verschärfung des Krieges zeigen die Autoren, wie der jugendliche Soldat zwischen der Suche nach einem möglichen Ausweg, dem Glauben an

Prädetermination, der mit einem Todeswunsch einhergeht, und Lebensgier hin und her gerissen wird. Doch erscheint ihm letztendlich das Konzept einer friedvollen Existenz illusionär. Der Jugendliche wird in den Werken als konditionierte und instrumentalisierte Marionette des nationalsozialistischen

Regimes gezeichnet, dessen Lebenserfahrung auf Krieg und Drittes Reich limitiert scheint, und er, nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Indoktrination, gepaart mit dem kognitiven und affektiven Entwicklungsstadium, in dem er sich befindet, nicht in der Lage ist, persönliche Verantwortung zu übernehmen oder eigenständig zu handeln.

Wir erkennen auch, wie die Autoren bewusst verschiedene Erzählformen verwenden, um dem Rezipienten die Konzepte der Motivation und individuelle

Verantwortung näher zu bringen.

Das Gros der Erzähler wählt den Ich-Erzähler, um dem Leser ein authentisches und unmittelbares Bild der Gedanken und Gefühle zu vermitteln, und den

Rezipienten durch ihre Augen die Ereignisse nacherleben zu lassen.

Obwohl die Bücher sowohl durch ihre literarische Gestaltung als auch aufgrund

150 ihres Inhaltes den jugendlichen Leser nicht im besonderen Maße akkomodieren und nicht in die Reihe der unter dem Begriff der ‚Behütungspädagogik’ traditionellen Jugendliteratur der 40er und 50er Jahre zuzuordnen sind, sehen wir hier erste Zeugnisse eines Versuchs, sich mit der nationalsozialistischen

Vergangenheit und der eigenen Rolle auseinander zusetzen. Allerdings wird in keinem der Werke die Problematik persönlicher Verantwortung angesprochen. Die

Protagonisten erscheinen als Opfer des nationalsozialistischen Regimes. Wo sich

Handlungsspielräume, wie z. B. Beispiel die Möglichkeit zur Desertion auftun, werden diese mit dem Verweis auf Sanktionen und Orientierungslosigkeit aufgrund des jugendlichen Alters und Kameradschaft verworfen.

151 Kapitel 2: Das zeitgenössische Jugendbuch – Situation der Kinder- und

Jugendliteratur und der Autoren in den 60er und 70er Jahren

Die Entführung, Verurteilung und Hinrichtung (letztere geschah am 31.5.1962) des ehemaligen Leiters des Judenreferats im Reichssicherheitshauptamt,

SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, die Eröffnung der Prozesse gegen 21 der ehemaligen Bewacher des Konzentrationslagers Auschwitz in Frankfurt am

Main am 20. Dezember 1963, die Uraufführung von Rolf Hochhuths “christlichem

Trauerspiel” Der Stellvertreter an der freien Volksbühne in Berlin am 20. Februar

1963, die Verkündung der Urteile im Auschwitz Prozess am 19. August 1965 sowie die Freilassung des ehemaligen Rüstungsministers des Dritten Reiches,

Albert Speer, und des vormaligen Reichsjugendführers, Baldur von Schirach, aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau am 1. Oktober 1966 verdeutlichen als

Eckdaten, wie sich die nationalsozialistische Vergangenheit in den 60er Jahren wieder in das Bewusstsein der deutschen Bevölkerung drängt.

Doch setzt auch insgesamt mit Beginn der 60er Jahre in der Bundesrepublik die

Moderne, und damit eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und mentale

Veränderung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft ein, die auch ihre

Auswirkungen auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit hat.

So datiert Alex Schild den Beginn dieses Strukturbruchs auf das Jahr 1957, in dem, obwohl die Adenauer-Regierung ihren Höhepunkt erreicht, sich der

Machtwechsel zur SPD abzeichnet, mit der Schaffung des freien Sonnabends sich eine neue Form der Freizeitgestaltung ergibt, die Auslandsreisen der

152 Bundesbürger zunehmen, das Fernsehmedium das Radio ablöst, kurzum mit der neue gewonnenen Freiheit auch eine Veränderung der öffentlichen Meinung sowie erste tiefergehende Verstehensbemühungen der nationalsozialistischen

Vergangenheit, welche sich allerdings erst in den späteren 60er Jahren vollständig entwickelten.290

Mit Beginn der 60er Jahre erfolgt so auch behutsam die Vergangenheits- bewältigung in der deutschen Literatur. So erscheinen 1959 Die Blechtrommel von

Günter Grass und Billard um halbzehn von Heinrich Böll, 1961 Grass’ Katz und

Maus. Alle diese Werke thematisieren u.a. die Situation der Jugend im Dritten

Reich.

Hakenkreuzschmierereien und die Schändungen jüdischer Friedhöfe291, ein erstarkender Neonazismus, sowie die Erinnerungen an die eigene Zeit im Krieg als Jugendlicher rufen ehemalige Kindersoldaten auf den Plan, mittels des

Mediums Jugendbuch die jüngere Generation, der das unmittelbare Erlebnis des

Schreckens der nationalsozialistischen Herrschaft sowie des Krieges erspart geblieben waren, vor den Gefahren des Nationalsozialismus zu warnen: “Sie wollten selbstkritisch aus der Vergangenheit für die Gegenwart, die

Bundesrepublik, lernen und dies an die jüngere Generation weitergeben.”292

Im Gegensatz zur Erwachsenenliteratur findet die

290 vgl. Schreckenberg. S. 421 291 Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 463 292 Otto. S. 89 153 sogenannte >Hitlerwelle< in der zweiten Hälfte der 70er Jahre,

Ausdruck neonazistischer Strömungen, aber auch erfolgreicher

Kommerzialisierung der NS-Thematik, […] in der Kinder- und

Jugendliteratur keinen Niederschlag, weder in der Zahl noch in der

veränderten Qualität der Veröffentlichungen.293

Diese Autoren, die sich von den nationalsozialistischen Machthabern um ihre

Jugend betrogen fühlten, hatten erlebt, wie gerade in der Adenauer-Ära ein Mantel des Schweigens über die Welt der traumatischen Ereignisse gelegt wurde. Doch ging es auch um die Bewältigung der eigenen Vergangenheit des Schriftstellers.

In der Niederschrift der persönlichen Erlebnisse aus Kindheit und Jugend sahen viele Kriegsteilnehmer auch die Möglichkeit, sich durch schriftstellerische

Distanz auf einer weniger emotionalen Ebene mit dem Erfahrenen auseinander zusetzen, um so zu einer Verarbeitung des Geschehens zu kommen, eine retrospektive Positionsbestimmung vorzunehmen, und, falls denn irgendwie möglich, einen inneren Frieden mit sich zu schließen.

So verwundert es auch nicht, dass das Leben der Autoren sehr starke Parallelen zu dem Leben der Protagonisten in den Jugendbüchern aufweist. Die

Lebensabschnitte Dietrich Seifferts gleichen bis ins Detail denen seines Helden

Kisselbach: Nationalpolitische Lehranstalt Naumburg an der Saale ab 1935, von

293 Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 334 154 1942 bis 1946 Kriegsmarine und Einsatz auf einem Minenräumer, erst unter deutschem, später unter britischem Kommando.294

Ähnliches gilt auch für Hans Peter Richter, der u.a. den Verlust eines Armes in seinen Werken verarbeitet.295 Auch hier sehen wir wieder eine deutliche Parallele zu den behandelten Werken der Adenauer-Ära, die ebenfalls stark autobiografisch motiviert sind.

Die enorme psychische Relevanz der Verarbeitung des Erlebten durch das

Schreiben kommt auch durch den Umstand zum Ausdruck, dass sich nur wenige

Jugendbuchautoren, die den Krieg miterlebt haben, nochmals schriftstellerisch zu

Wort melden, nachdem sie ihre persönlichen Erfahrungen in einem literarischen

Werk als Zeugnis abgelegt haben. So sind Lebenslauf, Werdegang und Schicksal einer Vielzahl dieser Autoren der Nachkriegszeit bereits wieder in Vergessenheit geraten oder nur mit großer Mühe nachzuvollziehen.296

Nach dem Abarbeiten ihrer seelischen Last und dem Versuch die eigenen Rolle, die diese im nationalsozialistischen Krieg gespielt haben, aufzuarbeiten, haben sich die meisten Jugendbuchautoren, die ihre Kriegserlebnisse thematisierten, wieder in den ‘Alltag’ ihres eigentlichen ‘Berufes’ entlassen.297

Es erscheint nachvollziehbar, dass nur eine relativ geringe Zahl des durch den

Krieg beeinflussten Personenkreises eine innere Befriedigung durch das

Schreiben erlangen konnte und würde, da die Begabung, Erlebtes in ädaquate

294 vgl. Otto. S. 141 und Lebenslauf Dietrich Seifferts, der freundlicherweise vom Georg Bitter Verlag in Recklinghausen zur Verfügung gestellt wurde 295 vgl. Lexikon der Jugendliteratur. S. 176 296 vgl. Otto. S. 86

155 Worte zu fassen, nicht jedem gegeben war. So war es die Intention vieler Autoren, auch den Altersgenossen, die ihren Schrei nicht selbst schreibend äußern konnten, die Möglichkeit zu einer erneuten, differenzierten inneren Beschäftigung mit dem Erlebten und vielfach Verdrängten, zu verschaffen. Die Lektüre dient also auch oft dem erwachsenen Rezipienten als Form einer psychologischen Aufbau- und Verarbeitungshilfe.

Eine weitere Hilfe in ihrem selbst adaptierten Aufklärungsauftrag erfuhren die

Jugendbuchautoren, als mit Beginn der 60er Jahre in der deutschen Öffentlichkeit eine offenere Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus und dem national- sozialistischer Krieg möglich war298, was dem Jugendbuchautor die Chance gab, bei der jungen Nachkriegsgeneration um Verständnis für die Ideologisierung und

Handlungsweise der deutschen Bevölkerung aller Generation während der nationalsozialistischen Herrschaft zu werben. Die Kinder und Jugendlichen begegneten nicht länger einer Mauer des Schweigens, die schützend vor der Zeit aufgebaut wurde, an die man nicht mehr erinnert werden wollte, sondern hatten nun die Möglichkeit, sich, soweit dieses überhaupt literarisch möglich war, ein

‚eigenes’ Bild von der nationalsozialistischen Herrschaft und den Beweggründen, die den Jugendlichen dazu bewegten, am Krieg teilzunehmen, zu machen. Das unzureichende, lücken- bzw. fehlerhafte Wissen der Jugend über die jüngste

297 vgl. Otto. S. 89 298 vgl. Schreckenberg. S. 421 156 Vergangenheit konnte endlich revidiert und ergänzt, sowie eine Mauer von

Halbwissen und Unwahrheiten durchbrochen werden.299

So war es auch zum ersten Male seit Kriegsende für diese Jugendbuchautoren, die die Kriegsschrecken am eigenen Leibe erfahren hatten, möglich, die

Faszination, die das Dritte Reich bis zu Beginn des Krieges insbesondere auf die

Kinder und Jugendlichen ausübte, sowie die Wirkungsweise der nationalsozialistischen Indoktrination und somit die ideologische Vergiftung einer

Generation mit der Aussageintention darzustellen, dass es dem Jugendlichen unmöglich war, sich dem omnipräsenten Regime zu entziehen oder gar

Widerstand zu leisten. Die Jugendschriftsteller vermochten nun auch durch die

Schilderung der vermeintlich positiven Seiten des NS-Staates, die ein Großteil der

Deutschen, und auch die Jugendlichen, wie bereits angesprochen, zumindest während der Konsolidierungsphase des Dritten Reiches empfunden hatten, in ihren Werken Platz einzuräumen, ohne beim Publikum den Eindruck zu hinterlassen, dass hier ein vermeintlich rechtsradikaler oder -extremer Autor am

Werke sei. Diese Entwicklung schuf einen Gegenpol zu der bislang vorherrschenden “Schwarzmalerei”300 bei der Darstellung des

Nationalsozialismus301 und trug so zu einer wesentlich differenzierteren

Sichtweise dieser Zeit bei, wie der Kritiker Werner Ross zutreffend feststellt: “Ich finde, man sollte die Wahrheit sagen und vertragen können, auch die, daß der

299 vgl. Otto. S. 89 300 Dierks. S. 259 301 Würde der Nationalsozialismus in den Jugendbüchern ausschließlich oder auch nur anfänglich mit seinem wahren Gesicht gezeigt werden, so wäre es

157 Nazismus eine Schokoladenseite hatte, auf deren Glanz (fast) ein ganzes Volk hereinfiel.”302

Dieses half den nachfolgenden Generationen bei ihrem Verständnis, wie ein ganzes Volk der nationalsozialistischen Verführungskunst erliegen konnte und somit die Entstehung und zwölfjährige Dauer der NS-Herrschaft ermöglichte:

Wenn die Jugendlichen erwarten, daß ein solcher Vorgang

geschichtlicher Vergewaltigung mit einem deutlichen Ein-

schnitt beginnt, dann werden sie vergebens warten; sie werden

sich in Sicherheit wiegen, Vorzeichen übersehen und unbemerkt

in das Geschehen hineingleiten […]. Ereignisse von weltgeschicht-

licher Bedeutung fangen nicht mit fettgedruckten Überschriften

an wie die entsprechenden Abschnitte in den Geschichtsbüchern.

nicht [sic!] einmal Kriege beginnen so […]. Nicht aus der Tatsache,

daß wir blind und dumm in das Grauen hineingerannt sind, lernt die

Jugend aufmerken und denken. Nur unsere Erfahrungen können

ihr helfen. Und zu diesen Erfahrungen gehört, daß wird den Ver-

lockungen erlegen sind, daß es den meisten an Mut gefehlt hat,

aufzubegehren, als sie erkannten, wohin sie gelenkt wurden.

Wenn wir glauben eine solche sachliche Darstellung unserer

jüngsten Vergangenheit nicht verantworten zu können, dann

ungemein schwieriger die Leserbarriere des Jugendlichen zu überwinden. 302 Ross 158 dürfen wir der Jugend keine zeitgeschichtlichen Jugendbücher

zumuten, und wir dürfen nicht hoffen, daß sie einer kommenden

Versuchung widersteht.303

Interessanterweise leisteten die erwachsenen Soldaten der älteren Jahrgänge

1902 bis 1918 und noch stärker die der Jahre 1887 bis 1902, die die Hauptlast des

Krieges zu tragen hatten, kaum einen Beitrag zur literarischen Aufarbeitung des

Geschehenen. So war auf der einen Seite ein besonders hoher Anteil dieser

Jahrgänge, insbesondere der nun Vierzig- und Fünfzigjährigen, die schon den ersten Weltkrieg als Jugendliche miterleben und nun als Väter ihre Söhne wiederum in den Krieg ziehen lassen mussten, das Bedürfnis nach einem

Neubeginn, der mit einem Schlussstrich unter die nationalsozialistische

Vergangenheit einhergeht, immanent.304 Demzufolge ist die bei dieser Gruppe anzutreffenden Bereitschaft zum schnellen Vergessen und zur Verleugnung der

Vergangenheit305 aus der Perspektive der Betroffenen nur allzu gut zu verstehen.

Der Gedanken der Bewahrung der Erfahrung wurde vornehmlich von der

Generation der Jahrgänge 1919 bis 1932 geboren.

303 Richter. Zeitgeschichte im Jugendbuch. S. 7 304 vgl. Otto. S. 83f.

159 Die behandelten Werke – ein kurzer Abriss

Bei den ersten Publikationen autobiografischer Jugendliteratur auf dem bundesrepublikanischen Buchmarkt, die in den 60er Jahren erschienen und die

Situation jugendlicher Angehöriger der Wehrmacht thematisierten, handelt es sich um Hans Peter Richters Wir waren dabei. Richter, studierter Psychologe und

Soziologe des Jahrgangs 1925, berichtet in diesem tagebuchartig verfassten

Jugendbuch von dem Werdegang dreier Freunde, die als Kinder und Jugendliche die nationalsozialistische Diktatur in den Jahren 1933 bis 1943 in der Hitlerjugend und später in der Wehrmacht erleben. Sein zweites Werk, Die Zeit der jungen

Soldaten, welches im Jahre 1967 erschien, ist ebenfalls eine autobiografische

Erzählung, in der sich der 18jährige mit seinen Freunden freiwillig zum

Kriegsdienst meldet. In einer skizzenartigen Reportage zeigt der Autor “kurze

Szenen […] Momentaufnahmen, die wie ein kurz aufleuchtendes Licht Menschen und ihre Schicksale einen Augenblick klar umreißen und erhellen, und einfach zeigen, wie es zuging in der Heimat und an der Front.”306

Dietrich Seiffert, Jahrgang 1924 und Lehrer, zeigt in seinem Jugendbuch Einer war

Kisselbach die Kindheit und Jugend des Hans Joachim Kisselbach und zwei seiner Freunde in der Nationalpolitischen Lehranstalt und schließlich in der

Wehrmacht, wie sie sich von 1933 bis 1945 gestaltete.

305 vgl. Otto. S. 173 306 Ruf 160

Erzählsituation

In Anlehnung an die bereits im Zusammenhang mit den behandelten Werken der

Adenauer-Ära angesprochenen Akkomodation des jugendlichen Lesers, ist es eine Forderung an den Jugendbuchautor, und als solche sehen sich Richter und

Seiffert zweifelsohne, zur Vermittlung seines Anliegens, der Förderung eines kritischen Bewusstseins beim Leser, wie auch zur Verwirklichung der sekundärsozialisatorischen Intention drei pädagogische Aufgaben im Hinblick auf eine sprachliche, stilistische, formale, gattungsmäßige, stoffliche, inhaltliche, thematische sowie normative Anpassung an den jugendlichen Leser zu erfüllen307: die des Vereinfachens, des Veranschaulichens und des

Akzentuierens.308

Gerade dem Bereich der formalen und gattungsmäßigen Akkommodation ist vor dem Hintergrund unserer Fragestellung besonderes Augenmerk zu schenken, da wir hier erkennen, wie die in dieser Untersuchung vorgestellten

Jugendbuchautoren der 60er und 70er Jahre gezielte literarische Mittel einsetzen, um die Motivation des Kindersoldaten für den jugendlichen Rezipienten der

Nachkriegsgeneration transparent erscheinen zu lassen. Hierbei ist nun zunächst ein Blick auf die in den Werken verwandte Erzählsituation aufschlussreich.

307 vgl. Ewers. S. 20ff. 308 vgl. Zwischen Trümmern und Wohlstand. S. 44 161 Folgt man der klassischen Kategorisierung der Erzählsituation nach Stanzel, so wählt Hans Peter Richter für seine beiden Erzählungen die Ich-Erzählsituation, wohingegen Dietrich Seiffert die personale (figurale) Erzählsituation vorzieht.

Diese grundsätzliche Feststellung muss, wie wir später sehen, in ihrem

Absolutheitsgrad eingeschränkt werden.

In der von Richter gewählten Ich-Erzählsituation gehört “der Erzähler zur Welt der

Romancharaktere”, der “das Geschehen [selbst] erlebt, miterlebt oder beobachtet

[…]”309 hat. Die Biografie des Autors ist, im Falle Richters, größtenteils mit der des

Ich-Erzählers identisch, wie der Schriftsteller explizit bestätigt: “Ich berichte, wie ich jene Zeit erlebt und gesehen habe – mehr nicht. Ich war dabei […].”310 Hier kommt der dokumentarische und authentische Anspruch, welchem wir bereits bei den Autoren Hubalek, Meichsner und Altner begegnet sind, die alle bezeichnenderweise auch die Ich-Erzählsituation in ihren Werken verwenden, wieder zum Vorschein.

Somit ist auch bei Richter davon auszugehen, dass eine durch den präsumptiven

Leser erfolgte Gleichsetzung der Person des Autors mit der des Protagonisten durch ersteren erwünscht ist. Die Erfahrungen des Ich-Erzählers erscheinen dem

Jugendlichen in dieser Erzählsituation ungleich unmittelbarer und authentischer, ersterer ist nicht nur Augenzeuge des Geschehens sondern, was den Aspekt der

Frage nach der Motivation des jugendlichen Soldaten angeht, auch leibhaftige

Figur, Akteur der ‘fiktiven’ Welt.

309 Stanzel. S. 16 310 Richter. Wir waren dabei. S. 8 162 Jedoch haben bei Hans Peter Richter offensichtlich didaktische Überlegungen den

Ausschlag für seine Entscheidung gegeben, in Einzelfällen von der klassischen

Definition im Stanzelschen Sinne abzuweichen. Zwar schildert Richter, und geht damit mit der Definition Stangels konform, im Rahmen dieser Erzählsituation die

Vergangenheit des Ich-Erzählers. Nicht vorhanden jedoch ist die Spannung zwischen dem erzählenden und dem erlebenden Ich311, d.h. zwischen dem Ich, das einst bestimmte Situationen erlebte, und dem Ich, das über das Geschehen zu einem späteren Zeitpunkt berichtet. Sowohl das erzählende als auch das erlebende Ich verfügen in den Werken Richters über keine Introspektionsfähigkeit, die unabdingbare Voraussetzung für eine Wertung des Gegenwärtigen wie auch eine Bewältigung und Aufarbeitung des Vergangenen wäre.

Dadurch, dass der Erzähler sein früheres Verhalten nicht kritisch aus der Distanz reflektiert und er gegenüber seiner zur Zeit des Nationalsozialismus und des nationalsozialistischen Krieges demonstrierten Handlungsweise nicht als geläuterter Erzähler, wie sich dieses in der Wahl eines auktorialen Erzählers niederschlagen könnte, erscheint, wird dem Leser kein “Bewertungsmaßstab”312 an die Hand gegeben, der eine explizite Erklärung zur Motivation des jugendlichen

Kriegsteilnehmers anbietet. Diese Nicht-Existenz des Spannung zwischen erzählendem und erlebendem Ich schlägt sich auch in den Werken von Hubalek und Altner der Adenauer Ära nieder. Meichsner hingegen kommentiert die

311 Nach Stanzel handelt es sich bei dem Wechselspiel zwischen erzählendem und erlebendem Ich um ein wichtiges Kriterium, das die Bedeutung der Ich-Erzählsituation ausmacht (vgl. Stanzel. S. 71f.). 312 Cloer. S. 146 163 Erfahrungen des erlebenden Ichs aus der Perspektive des geläuterten Erzählers und konfrontiert den Jugendlichen direkt mit einer Wertung in Sachen Moral, was mitunter dem Jugendlichen als Bevormundung erscheint und rezeptions- theoretisch in der Nicht-Lektüre des Buchs resultieren mag.313

Der Eindruck, dass der Ich-Erzähler in den untersuchten Werken der 60er und

70er Jahre aus der Perspektive des jugendlichen erlebenden Ich erzählt, wird noch durch die in den Büchern erfolgten Einschränkungen im Bereich der

Morphologie und durch die Simplifikation die Syntax verstärkt.314 Diese sprachliche und stilistische Akkommodation des Jugendlichen erfolgt insbesondere durch die Verwendung von einfachen und prägnant konzipierten parataktischen Sätzen. Um die Authentizität der Sprache des erlebenden

Jugendlichen zu wahren, spielt insbesondere die Verwendung von Fachtermini für

NS-Organisationen und Funktionen im Wortschatz des jugendlichen

Protagonisten eine entscheidende Rolle. Da diese jedoch dem zeitgenössischen

Rezipienten nicht unbedingt geläufig sind, greifen Autor oder Verleger auf die

Verwendung eines Glossars zurück, das im Anhang der Werke aufgeführt ist.

Es stellt sich die Frage, warum Richter den Typus der Ich-Erzählsituation wählt und aus welchem Grund er, den wir ja mit dem Ich-Erzähler gleichgesetzt haben, nicht von der Möglichkeit Gebrauch macht, das damalige Geschehen aus der

Sicht des geläuterten Schriftstellers retrospektiv zu evaluieren.

313 vgl. Cloer. S. 12 314 vgl. Ewers. S. 211 164 Zunächst erscheint das, was der Ich-Erzähler aufgrund seiner auf die nähere

Umgebung beschränkte Perspektive berichtet, unmittelbarer und somit authentischer. Desweiteren wird mit einer derartigen Einschränkung der

Erzählperspektive auf das einzelne Ich vom Schriftsteller deutlich gemacht, dass es diesem um das Individuum, um das Schicksal des Einzelnen und nicht um das einer amorphen Menschenmasse geht. Diese “Form der Erzählung aus dem

Blickwinkel des ‘kleinen Mannes‘“315, in diesem Falle des adoleszenten Soldaten, eröffnet eine erste Möglichkeit des präsumptiven Lesers, sich mit der Romanfigur zu identifizieren.

Indem Richter dem jugendlichen Rezipienten eine Figur offeriert, mit der sich letzterer schon aufgrund seines Alters identifizieren kann, oder, wenn dieses nicht möglich ist, wenigstens mit letzterem mitzufühlen vermag, folgt er seiner Absicht, den jugendlichen Leser in die ‘fiktive’ Welt des nationalsozialistischen Krieges mit hineinzuziehen und ihn das Schicksal des Protagonisten im wahrsten Sinne des

Wortes miterleben und teilen zu lassen.316 Eine derartige literarische Gestaltung soll dem jugendlichen Leser ermöglichen, die Gründe des Protagonisten für seine

Handlungsweise aus der Perspektive desselben unmittelbar zu erfahren.

Viele Charakteristika, die wir im Zusammenhang mit der Ich-Erzählsituation herausgearbeitet haben, insbesondere was die Schilderung des Geschehens aus der Erlebnisperspektive des betroffenen Jugendlichen angeht, lassen sich auch im

315 Dahrendorf. „Das zeitgeschichtliche Jugendbuch.“ S. 134 316 vgl. Krüger. S. 200 165 Rahmen der personalen Erzählsituation nachweisen, wie sie uns im Werk von

Dietrich Seiffert begegnet.

Hier fehlt der Erzähler als Medium zwischen Autor und dem jugendlichen Leser.

Letzterem wird somit vom Autor der Eindruck vermittelt, er befinde sich direkt auf dem Schauplatz der Handlung und beobachte das Geschehen mit den Augen der anwesenden Romanfigur.317

Der Vorteil dieser Erzählsituation im Zusammenhang mit der Darstellung des

Krieges und der in ihm agierenden Personen liegt auf der Hand. Durch den

Rückzug des Erzählers, der dem Leser keinerlei Hilfestellung anbietet, wie dieses z.B. in Form einer Warnung denkbar wäre, und die sich durch die szenische

Gestaltung der Handlung, welche sich u.a. im Dialog, Monolog und der erlebten

Rede manifestiert, wird beim präsumptiven Leser eine “intensive Illusion von

Wirklichkeit”318 evoziert. Dieses literarische Erzeugen von der Realität des Krieges vor den Augen des aoleszenten Lesers ist insbesondere deshalb wichtig, da der

Jugendliche in der Bundesrepublik keine Erfahrungen auf dem Gebiet besitzt.

Letzterer hat keinen Krieg miterlebt und so stellt das Jugendbuch eine der wenigen

Quellen dar, die den Jugendlichen ‘objektiv’319 über den Krieg und seine Facetten informiert.320 Dieses ist nach Ansicht der Autoren eine wesentliche

Grundbedingung für den präsumptiven Leser, um die Handlungsweise seines

317 vgl. Stanzel. S. 43f. 318 Vogt. S. 54 319 In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass der verantwortliche Jugendbuchautor einen expliziten Erziehungsauftrag erfüllt. 320 vgl. Richter. „Der Krieg im Jugendbuch.“ S. 195ff. 166 Altersgenossens, der in der Wehrmacht oder Waffen-SS kämpfte, vor dem damaligen Hintergrund verstehen zu können.

Aufgrund der Tatsache, dass in den behandelten Büchern von Seiffert und Richter neben Einzelpersonen auch kleine Gruppen von Jugendlichen Handlungsträger sind, aus deren Blickwinkel im Rahmen der personalen Erzählsituation das

Geschehen geschildert wird, lässt sich ein Perspektivwechsel zwischen den einzelnen Protagonisten konstatieren: die multiperspektivistische personale

Erzählsituation. Ziel dieser Erzählsituation ist es, dem Leser neben der

Außenansicht auch die Innenansicht, und damit die Motivation, möglichst vieler an der Handlung beteiligten Figuren näher zu bringen.

Diese “unredigierte Spiegelung erlebter Innenwelt”321 wie auch der muliperspektivistische Blickwinkel zeigen, dass bei der personalen Erzählsituation ebenfalls das Individuum im Zentrum der Handlung steht.

Es ist auch festzustellen, dass weder der Erzähler in der Ich-Erzählsituation, den wir in den behandelten Büchern aufgrund seiner Biografie mit dem Autor gleichgesetzt haben, noch der fiktive Protagonist, durch dessen Augen der präsumptive Leser das Geschehen wahrnimmt, das Erlebte kommentieren.

Dieser Eindruck des Nicht-Kommentars wird noch durch die Struktur der Texte verstärkt.

Die Erzählungen in den Jugendbüchern von Seiffert und Richter, die uns in Form kleiner Handlungseinheiten präsentiert werden, welche ein weiteres Zeichen für die formale Akkomodation des jugendlichen Rezipienten sind, brechen jeweils an

167 dem Punkt ab, an dem der Leser aufgrund des Beschriebenen entweder eine

Reaktion des Beobachters oder des Beteiligten erwartet, wie sie uns z.B. in der

Literatur der 40er und 50er Jahre in der Form von Plattitüden begegnet.

Es stellt sich somit die Frage, warum die Autoren dem Jugendlichen keine gleichwie geartete Wertung der Geschehnisse anbietet und ob dieses Ausdruck des Umstandes ist, dass der Jugendbuchschriftsteller seine eigene Vergangenheit noch nicht oder nur unzureichend bewältigt hat.

Dieses ist sicher ein Erklärungsansatz, doch es geht dem Jugendbuchautor offensichtlich um mehr. Der Autor will die Mündigkeit des jungen Menschen fördern, möchte es diesem, nach vorsichtiger Führung, überlassen, über das

Beschriebene und damit auch über die Beweggründe der Protagonisten für ihre

Handlungsweisen selbstständig zu urteilen. Die Schriftsteller versuchen zu vermeiden, dem jugendlichen Leser eine Schwarz-Weiß-Schablone mit den binären Urteilsmöglichkeiten ‘gut’ oder ‘schlecht’ anzubieten, wie sie, die Autoren, dieses selbst in der Zeit des Nationalsozialismus oktroyiert bekommen haben.

Überdies spielt das Misstrauen der Autoren gegenüber der Richtigkeit des menschlichen Urteils im Zusammenhang mit der literarischen Gestaltung eine wichtige Rolle.

In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft hatten sich die

Jugendbuchautoren in ihrem damaligen Entwicklungsstand ein Urteil über das

Geschehen gebildet, welches sie spätestens zum Ende des Krieges revidieren mussten.

321 vgl. Stanzel. S. 48 168

Personenkonstellation und Motivationsfaktoren

Im Bereich der formalen und gattungsmäßigen Akkommodation des jugendlichen

Lesers und dem damit von ihnen verfolgten Ziels, dem präsumptiven jugendlichen

Rezipienten ihre Motivation für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, plausibel zu machen, gehen Seiffert und Richter noch einen Schritt weiter.

So treten neben die jeweils durch die Autoren gezeichneten individuellen

Charakterzüge der Handlungsfiguren in den behandelten Werken bei allen

Protagonisten einige Grundverhaltensweisen und Denkmuster hervor, die die jeweilige Romanfigur kennzeichnen und ihr Verhalten bestimmen. Dieses hat insbesondere Richter einige Kritik eingebracht, die jedoch aufgrund der durch die

Autoren beabsichtigten Exemplifizierung als ungerechtfertigt anzusehen ist:322

Richters Menschen sind keine Menschen, sondern Schemen.

Die kleinen Handlungsträger der Handlung [gemeint ist hier der

Roman Wir waren dabei – Anmerkung des Autors] – der

“mitlaufende” Erzähler, die “rechtschaffende” Führernatur Heinz und

der Hitlerjunge wider Willen Günther - fügen sich so eindeutig in

322 Interessanterweise ist es Richters und nicht Seifferts Werk, dass als einzige Werk der 60er und 70er immer noch auf dem deutschen Buchmarkt erscheint,und zwar mittlerweile in 17. Auflage. Hierauf werden wir noch im Zusammenhang mit der Literatur späterer Jahrzehnte zurückkommen. 169 die Handlung, daß sie völlig von ihr abhängen, von ihr nur

getragen werden und als lebende Wesen nicht existieren.

Es fehlt die Differenzierung, jede Ausweitung in die verschiedenen

Bereiche menschlichen Denkens und Erlebens. So einseitig-un-

kompliziert sind auch kleine Jungen nicht.323

In den Werken von Richter und Seiffert treffen wir, wie in dem folgenden Abschnitt deutlich wird, auf verschiedene Einstellungen der adoleszenten Protagonisten gegenüber dem nationalsozialistischen Regime, die Rückschlüsse auf die

Motivation der Jugendlichen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, zulassen, und die in drei verschiedene Kategorien einzuteilen sind: die des Oppositionellen, die des Mitläufers und die des fanatischen Anhängers der

NS-Ideologie. Eine Sonderstellung hierbei nimmt Richters Buch Die Zeit der jungen Soldaten ein, welches aufgrund seiner literarischen Form, eine

“skizzenartigenReportage”,324 einen Einblick in die Motive des Protagonisten erschwert. Hierauf wird gesondert einzugehen sein.

Der Oppositionelle

Dieser Protagonist zeichnet sich zumeist durch einige spezifische Eigenschaften aus, die diesen zunächst davor bewahrten, der vollen Beeinflussung durch die

323 Starkmann. 324 Richter. Zeit der jungen Soldaten. Buchrückentext. 170 Ideologie des NS-Regimes ausgesetzt zu werden, und die bereits in der

Vorkriegszeit Ursache für Repressalien durch die nationalsozialistischen

Machthaber und ihre Organe sind. Diese Ausgrenzung spüren die Betroffenen zumeist am eigenen Leib. Eine wichtige Komponente im Zusammenhang mit der durch das und innerhalb des nationalsozialistischen Regime(s) erfolgte(n)

Stigmatisierung bildet der familiäre Hintergrund, die häusliche Erziehung oder die

Religionszugehörigkeit der Protagonisten. In Dietrich Seifferts Buch Einer war

Kisselbach ist es der Protagonist Rosenberg, der jüdischer Abstammung ist und aus diesem Grunde aus der Nationalpolitischen Lehranstalt (Napola) entlassen wird: “Der Alei [Anstaltsleiter – Anmerkung des Autors] schritt die Front ab und blieb vor Rosenberg stehen. >>Hier haben wir den überführten Lump, den Gauner, der sein jüdisches Blut vertuschen wollte<<.”325 In Hans Peter Richters Roman Wir waren dabei handelt es sich bei der Oppositionellenfigur um den Protagonisten

Günther, dessen Vater Kommunist und aktiver Gegner des Regimes seit der

Machtergreifung ist. Durch die Erziehung aus dem Elternhaus vorgeprägt, zeichnet sich der Protagonist nicht durch systemkonformes Verhalten aus und wird, wie sich dieses durch den Nichtbeitritt zur Hitlerjugend manifestiert, das Ziel von Kritik und Demütigung durch systemkonforme Vertreter:

Er [der Schulleiter - Anmerkung des Autors] wies auf Günthers

Klasse. >>Wie wird dieses einheitliche Bild einer Klasse gestört

325 Seiffert. S. 66

171 durch einen, einen einzigen, der sich noch nicht bereit gefunden hat,

sich unserem überragenden Führer anzuschließen […]. Ich schäme

mich!<< rief er mit klagender Stimme. Günther stand hinter

der Klasse und hielt den Kopf zu Boden gesenkt. Man sah wie die

anderen von ihm abrückten.326

Dieser Personenkreis fällt bereits in der Vorkriegszeit durch systemkritische

Äußerungen auf, hinterfragt die NS-Ideologie, wie z. B. der Protagonist Rosenberg in Dietrich Seifferts Roman, der die Absurdität der Rassenlehre durchschaut327, oder zeigt zivilcouragiertes Verhalten, wie Günther, der einen angegriffenen jüdischen Freund verbal verteidigt: “>> Ihr feigen Hunde!<< gellte es auf einmal durch die Kranstraße. >> Günther!<<”328

Es ist dieser Personenkreis, der wahre Werte, wie Humanität vorlebt und Ideale, wie z.B. Verantwortungsbereitschaft, die für die Nationalsozialisten nur

Lippenbekenntnisse sind, als Teil des individuellen Wertesystems verkörpert und eine für einen Jugendlichen beachtliche Introspektionsfähigkeit an den Tag legt:

Als wir drei allein waren, fragte Günther: >>Warum hast du das

getan, Heinz? Du weißt doch, wie ich über all das denke: Ich bin kein

richtiger Hitlerjunge – und ich bin erst recht kein richtiger Führer.<<

[…] Da legte Heinz beide Hände auf Günthers Schultern […]. >> [….]

326 Seiffert. S. 66 327 vgl. Seiffert. S. 63

172 Die brauchen einen Führer, der auch verantwortet, was er

befiehlt.”329

Der Aspekt, dass ein nichtsystemkonformes Verhalten dem nationalsozialis- tischen Regime gegenüber unweigerlich in Sanktionen gegen den Protagonisten oder seine Angehörigen resultiert, hat uns schon als Motivationsfaktor in den

Werken der späten 40er und 50er Jahre beschäftigt und führt in der Literatur der

60er und 70er Jahre selbst die Personengruppe der Oppositionellen dazu, sich den Machthabern nicht vollständig zu verweigern. So protestiert der Protagonist

Günther ausschließlich verbal gegen seine Mitgliedschaft in der Hitlerjugend, und tritt dieser erst 1936 bei, als dieses Pflicht wird. Eine Verweigerung dieser

Dienstpflicht erfolgt jedoch nicht, obwohl er mutig seine persönliche Überzeugung gegenüber den Vertretern des Regimes bekundet:

Und Günther erklärte laut: >>Wir haben keinen Grund, uns

zu freuen, denn wir sind nur hier, weil wir müssen!<< […].

Schließlich sprach der Fähnleinführer die Neuen einzeln an.

Und er fragte Günther: >>Du hast Mut bewiesen vorhin auf

dem Antreteplatz. Nun beantworte mir bitte eine Frage: Warum

bist du nicht früher zu uns ins Jungvolk gekommen?<< Zögernd

erhob sich Günther, dann schaute er den Fähnleinführer voll an

328 Seiffert. S. 42 329 Richter. Wir waren dabei. S. 102-103 173 und sagte ruhig: >>Ihr habt meinen Vater eingesperrt, weil er

gegen Hitler ist.<<330

Auch Rosenberg, Protagonist jüdischer Abstammung in Seifferts Roman Einer war

Kisselbach verweigert sich dem Regime nicht, nachdem er aufgrund seines

“nicht-arischen” Abstammungsnachweises aus der Nationalpolitischen

Lehranstalt ausgeschlossen wurde. Er besucht in München ein Gymnasium und unterwirft sich abermals dem Mechanismus der Ahnenforschung: “Rosenbergs

Lächeln verschwand. >>[…] Aber ich habe es auch geschafft, ich meine das

Abitur. In München hat die Ahnenforschung bei den Großeltern aufgehört!<<”331

Die Demonstration von Systemkonformität und die Freiwilligenmeldung wird, wie an einem Beispiel in Richters Roman Zeit der jungen Soldaten deutlich wird, auch durch die Angst vor Repressalien gegen Familienangehörige getragen:

>>Ich habe mich freiwillig gemeldet<<, sagte der Älteste

unter uns […]. >>Und was hast du davon?<< fragte der

Mißtrauische. >>Willst du deine Mutter allein lassen?<<

Der Gefragte schüttelte den Kopf. >>Keine Sorge! An der

Mutter eines Sohnes vergreifen sie sich nicht. Sobald ich

Uniform trage, lassen sie meine Mutter in Ruhe, glaub’ mir.

Ich werde Soldat – und dann ist alles in Ordnung!<< […]

330 Richter. Wir waren dabei. S. 54-55 331 Seiffert. S. 118 174 Flüsternd antwortete der: >>Er ist doch Halbjude!<<”332

Wie wir bereits schon im Zusammenhang mit den Werken der Adenauer-Ära angesprochen haben, scheint die Anpassung, auch regimekritischer Jugendlicher, an das Dritte Reich auf einer erfolgreichen Indoktrination und Sozialisation durch die NSDAP.333 Bekanntermaßen hielten die Nationalsozialisten die Bevölkerung durch die Gleichzeitigkeit von Terror und Verführung in ihrem Bann. Diesen

Einflüssen sind natürlich auch die oppositionellen Jugendlichen ausgesetzt.

Vergegenwärtigen wir uns die Lage dieser Protagonisten. Zum einen sind sie verpflichtet, der Hitlerjugend beizutreten, wenn sie keine Nachteile erleiden wollen.

Zum anderen müssen sie erleben, wie ihr gesamter Freundeskreis durch die

NS-Organisationen, sei es die HJ oder später der Reichsarbeitsdienst, Wehrmacht oder Waffen-SS, absorbiert werden und dadurch die Gefahr der sozialen Isolation droht. Dieser Umstand beschäftigte schon die Autoren der Adenauer-Ära und wurde von uns in dem Abschnitt “Kameradschaft und zwischenmenschliche

Beziehungen” behandelt. Nur so ist die Freiwilligenmeldung des Protagonisten

Günther zu verstehen, der, nachdem er trotz seiner ideologischen Bedenken eine

Führerposition bei der Hitlerjugend akzeptiert hat,334 dem Beispiel seiner Freunde folgt: “>>Jawohl, Herr Oberstabsarzt<<, meldete sich Günther, >>wir möchten beide zur gleichen Einheit eingezogen werden.<< >>Gleicher Wohnort, gleiche

332 Richter. Zeit der jungen Soldaten. S. 12 333 vgl. Cloer. S. 257 334 vgl. Richter. Wir waren dabei. S. 102-103 175 Waffengattung, gleicher Ersatztruppenteil<<, brummte der dicke Stabsfeldwebel im Hintergrund.”335

Auch Rosenberg, regimekritischer Protagonist jüdischer Abstammung entzieht sich nicht der Wehrpflicht, sondern versieht als Richtkanonier im Atlantikwall seinen Dienst in der Wehrmacht.336

Trotzdem bleibt die kritische Einstellung zum NS-Regime deutlichstes

Charakteristikum dieser Personengruppe. So ist es auch nicht verwunderlich, dass mit Fortgang des Krieges und der den Protagonisten immer deutlicher werdenden

Sinnlosigkeit desselben aus dieser Gruppe der Gedanke an Desertion entspringt, wie Seiffert dieses am Beispiel des Protagonisten Rosenberg zeigt, der mit dem

Gedanken spielt, Fahnenflucht zu begehen und bei einer französischen Familie unterzutauchen: “Rosenberg kaute weiter. >>Ich bleibe hier<<, sagte er schließlich. >>Und damit du klar siehst: Am liebsten würde ich hier untertauchen.

Für immer. Ist ja doch alles im Eimer.”337

Den Mut, diese Ankündigung wahrzumachen und sich der nationalsozialistischen

Wehrmacht dauernd zu entziehen, findet der Protagonist jedoch nicht. Ein Verweis seines Freundes Kisselbach auf die drohenden Sanktionen, mangelnde

Kameradschaft in seiner Handlungsweise, sowie Kisselbachs Entschluss, seiner

Pflicht nachzukommen, bewegen Rosenberg dazu, nicht allein zurück zubleiben und zu seiner Einheit zurück zukehren: “>>Du<<, sagte Shatterhand [Spitzname von Kisselbach – Anmerkung des Autors] verzweifelt, >>willst du, daß sie dich und

335 Richter. Wir waren dabei. S. 136 336 vgl. Seiffert. S. 117f.

176 mich verdonnern? Kriegsgericht? ?<< Jetzt erhob sich Rosenberg

[…]. Im Eilschritt liefen beide den Weg zurück.”338

Wie stark die Macht des nationalsozialistischen Regimes und wie hilflos gerade der junge Mensch diesem System ausgeliefert ist, wird an der Tatsache offenbar, dass keiner der regimefeindlich eingestellten Protagonisten letztendlich den Mut zum offenen Widerstand findet, ein Phänomen, dass uns schon aus den diskutierten Werken der Adenauer-Ära wohl bekannt ist.

Die Opportunisten

Dieser Personengruppen wenden die Kinder- und Jugendbuchautoren der behandelten Werke ein besonderes Augenmerk zu. Dieses mag an der Tatsache liegen, das der Großteil der deutschen Bevölkerung im Dritten Reich aufgrund ihres Verhaltens zu dieser Kategorie von Personen, deren egoistische

Handlungen nicht von eindeutigen, übergeordneten sittlichen Prinzipien bestimmt wird, sondern sich exklusiv nach der Gunst des Augenblicks und der Sicherung des Vorteils richten.339

Die Frage, ob es sich bei dem von dem Jugendlichen an den Tag gelegten

Opportunismus um eine Manifestation des kognitiven und affektiven adoleszenten

Entwicklungsstandes handelt und ob der Jugendliche sich dessen überhaupt

337 Seiffert. S. 213 338 Seiffert. S. 213 339 vgl. Brockhaus Enzyklopädie. Bd. 13. S. 761 177 bewusst und damit verantwortlich ist, wurde bereits im Zusammenhang mit der

Theorie Piagets angesprochen und wird anschließend weiter erörtert werden.

Die Jugendbuchautoren Seiffert und Richter betonen die Signifikanz dieser

Personengruppe, indem sie die Hauptfiguren in ihren Romanen als Opportunisten zeichnen.

In der Zeit vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist das Interesse dieser Personengruppe, und dieses setzt sie eindeutig von den fanatischen

Anhängern des Nationalsozialismus ab – für die sich langsam entwickelnde

Strömung noch nicht geweckt.340 Erst mit der Machtübernahme im Jahre 1933 und mit der zunehmend perfektionierten Technik von Verführung und Terror erfolgt zusammen mit der Familie, zwar zögerlich und teilweise kritisch, die sukzessive

Anpassung des Kindes bzw. Jugendlichen an neue Denkweisen und Ideale, zumal sich der Einzelner von dieser Art des Verhaltens eindeutige Vorteile erhofft und diese Hoffnungen auch größtenteils honoriert wurden. Punktuelle Zweifel am

Regime, die vornehmlich von Erwachsenen im Umfeld des jugendlichen

Protagonisten geäußert werden, erscheinen angesichts der Inaussichtstellung von manifesten Vorteilen bei Konformität mit dem System (“Mutter überlegte […].

>>Schade, daß Vater nicht in der SA ist, dann würde er die Stelle kriegen<<, meinte sie.”341) gepaart mit der Bedingungslosigkeit des jugendlichen Glaubens, der uns bei Piaget begegnet und Einzug in die behandelten Werke der

Adenauer-Ära gehalten hat und einen unreflektierten Einzug der NS-Ideologie in

340 vgl. Heberle. S. 442 341 Seiffert. S. 11 178 das Wertesystem des Jugendlichen ermöglicht, sekundär: “>>Adolf Hitler ist für

Gerechtigkeit. Vater wird Bürovorsteher.”342

Motivation für die Freiwilligenmeldung ist neben der ideologischen Beeinflussung, und auch dieses zeigt thematische Parallelen zu den untersuchten Werken der späten 40er und 50er Jahre, der Gruppenzwang durch Freunde und

Altersgenossen, die sich auch freiwillig melden, die Aussicht, dem eigenen

Selbstdarstellungsbedürfnis, und auch dieses erinnert uns wiederum an Piagets

Theorie, zu entsprechen, wie dieses z.B. durch das Einschlagen der

Offizieranwärterlaufbahn erreicht werden kann. Richter thematisiert anhand eines

Protagonisten in seinem Roman Die Zeit der jungen Soldaten diesen von den

Nationalsozialisten wohl kalkulierten Appell an den adoleszenten Narzissmus der in Kombination mit der Angst vor der Stigmatisierung durch die Altersgenossen auftritt: >>Aber alle anderen dürfen sich freiwillig melden, sobald sie siebzehn sind<<, erklärte ich, >> die glauben, ich sei zu feig.<< […] >>Ich möchte Offizier werden, und dazu muß ich mich freiwillig melden!<<”343

Auch werden von Seiffert und Richter in ihren Werken weitere Motivationsfaktoren für die Bereitschaft der Jugendlichen, am Krieg teilzunehmen, thematisiert, die uns bereits im Zusammenhang mit den behandelten Büchern der Adenauer-Ära begegnet sind und auf die wir nur kurz eingehen wollen.

So beschäftigen sich auch Seiffert und Richter in ihren Werken mit der

Abenteuerlust, dem adoleszenten Narzissmus sowie der naiven und fatalen

342 Seiffert. S. 11 343 Richter. Zeit der jungen Soldaten. S. 217 179 Vorstellungen beim jugendlichen Protagonisten von Heldentum, Kampf, und

Krieg, wie er sich insbesondere in der Zeit vor der Teilnahme an letzterem manifestiert:

Sobald ich siebzehn Jahre alt bin, werde ich mich freiwillig

melden. . .<< [...]. >>Bis wir alt genug sind<<, unterbrach ihn der

Dicke, >>ist der Krieg zu Ende. – Und ich möchte so gern zur

Luftwaffe.<< [...] Der Dicke ließ sich nicht stören: >>Die Flieger

haben bessere Verpflegung und sie tragen auch schönere

Uniformen. – Was glaubt ihr, mit einem Sturzkampfbomber werde

ich mich huiih auf London herabstürzen und…<

mit der er den Sturz nachahmte und schaute uns unschlüssig an.

>>Was gibt es in London Wichtiges zu zerstören?<<, fragte er […].

>>Meinetwegen!<<, beschied der Dicke. >>Zuerst Westminster und

beim zweiten Anflug die Docks. Den Tommies sollen die Brocken um

die Ohren fliegen […] Ich werde Generalstabsoffizier. General-

stabsoffiziere befördert man schneller zum General […] Was meint

ihr, wie die Mädchen sich umgucken, wenn ich mit roten Streifen an

den Hosenbeinen, roten Aufschlägen am Mantel, goldenen

Knöpfen344 […] und am Kragen baumelt das Ritterkreuz.<<345

344 Der Protagonist spielt hier auf die äußerliche Kenntlichmachung der Uniform der Generale der Wehrmacht an der an. Angehörige dieser Dienstgradgruppe trugen Vorstöße und Besatzstreifen von hochrotem Tuch an den Beinkleidern sowie goldene Knöpfe zur Uniform. Das Brustklappenfutter der Mäntel dieser 180

In diesem Zusammenhang sei kurz auf die Anfang 1961 von Günter Grass erschienen Novelle Katz und Maus verwiesen, in der Grass anhand seines

Protagonisten Mahlke den Zusammenhang zwischen Pubertät, Identitätssuche und der durch die Nationalsozialisten angebotene Ideologie der Maskulinität, wie er uns bereits schon bei Piaget kennengelernt haben, thematisiert. 346Mahlke, der einem kleinbürgerlichen Milieu entstammt, versucht im Umfeld von Religion und

Nationalsozialismus, mit den physischen und psychischen Veränderungen der

Pubertät und der sich damit entwickelnden Sexualität, die Mahlke u.a. mit einem

übergroßen Adamsapfel ausgestattet hat, fertig zu werden, welches in der fanatisch männliche Leitbilder durch den Protagonisten resultiert. Dieser Konflikt kulminiert in der Besessenheit Mahlkes, das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes verliehen zu bekommen, welches, als Möglichkeit, den Adamsapfel zu verdecken, als Symbol eines ungelösten Ich-Konflikts und einer verfehlten Selbstfindung, die ihre Ursachen in den gesellschaftlichen Bedingungen, insbesondere in der nationalsozialistischen Ideologie, zu werten ist.

Ich drängte hinter Mahlke. Er schwitzte und sein Zucker-

haarwasser stand in verklebten Spießen um den zerstörten Mittel-

Dienstgradgruppe war ebenfalls in rot gehalten (vgl. Hettler. S. 15, S. 20 u. S. 47) 345 Richter. Wir waren dabei. S. 92 346 vgl. Dahne 181 scheitel. Noch nie, selbst in der Turnhalle, hatte ich Mahlke

schwitzen sehen [...] Ruhig und wehleidig, als wollte er von

den langwierigen Gebrechen seiner Tante erzählen, kam die

Stimme: >>Jetzt müssen sie schon Vierzig runterholen, wenn

sie das Ding [gemeint ist das Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes –

Anmerkung des Autors] haben wollen. Ganz zu Anfang und als sie

in Frankreich und im Norden fertig waren, bekamen sie es schon,

sobald sie Zwanzig waren – wenn das so weitergeht?>>347

Bei Richter und Seiffert steht ebenfalls die Desensibilisierung der jugendlichen

Soldaten durch die nationalsozialistischen Machthaber thematisch im

Vordergrund:

Unser Reitlehrer [ein Feldwebel – Anmerkung des Autors] grinste

nur, als er meinen Tischnachbarn in der vorgetäuschten Reithose

erblickte; er teilte ihm das gefürchtetste und unbändigste Pferd zu

[…] Allmählich färbte sich das, was von der weißen Unterhose zu

sehen war, rot […]. Stöhnend wälzte sich der Blutverschmierte von

seinem Tier.”348

347 Grass. Katz und Maus. S. 52 348 Richter. Die Zeit der jungen Soldaten. S. 44 182 Letzteres führt dann zu einem entsprechenden Verhalten beim Protagonisten, wie

Seiffert anhand der Schikane von Untergebenen durch den Protagonisten zeigt:

“Vor aller Augen ließ ich die Soldaten Gewehrübungen machen, laufen, Knie beugen, kriechen . . . Länger als eine Stunde.349

Zwar stellen sich bei dieser Gruppe von Protagonisten durch die unmittelbare

Konfrontation mit dem Grauen und der Unmenschlichkeit des Krieges, und dieses erinnert uns an die jugendlichen Schriften aus der Adenauer Ära, sowie durch

Diskussion mit den Gegnern des Regimes, ein neuer Aspekt in der Kinder- und

Jugendliteratur der 60er und 70er Jahre auf den wir gleich eingehen, wie auch durch die ständig präsente Todesangst Zweifel am Nationalsozialismus und seinem Krieg ein: “Wenn der Führer nicht wäre, würde es vielleicht doch bald

Frieden geben und er brauchte nicht noch irgendwo abzusaufen, jetzt fünf Minuten vor zwölf […]. Der Führer war ein Stein, der im Wege lag und weggeräumt werden mußte.”350 Zu einer selbstständigen Gewissensentscheidung kommt es jedoch nicht oder das zivilcouragierte Verhalten bleibt, wie anhand des Protagonisten

Kisselbach deutlich wird, im Ansatz stecken: “Shatterhand trommelte gegen die

Fensterscheibe, so laut, daß es über den See schallte. Der Franzose [ein flüchtiger ‘Fremdarbeiter’ – Anmerkung des Autors] machte auf dem Absatz kehrt und tauchte im Nebel unter.”351

Die Jugendbuchautoren konfrontieren den opportunistischen adoleszenten

Protagonisten mit einer Vielzahl von Ereignissen, die eine Gewissens-

349 Seiffert. S. 90 350 Seiffert. S. 142

183 entscheidung verlangen und den Ausbruch aus überholten Verhaltensweisen fordern, die aber von diesem Personenkreis nicht in die Tat umgesetzt werden können. Dieses ist letztendlich auch bei den regimefeindlichen Protagonisten, wie

Seifferts Rosenberg und Richters Günther, letztendlich der Fall. Hierüber hinaus, und dieses setzt den opportunistischen Protagonisten von dem regimekritischen ab, zeichnet sich diese Personengruppe gerade durch ihre Unfähigkeit aus, selbstständig zu denken, eigene Entscheidungen unabhängig von dem Urteil anderer oder der allgemein anerkannten Meinung zu fällen, aus: “>>Hat man euch den Heldenfimmel in der Hitlerjugend eingeimpft?<< erkundigte er [der

Oberstabsarzt – Anmerkung des Autors] sich. Wir wußten keine Antwort

[Hervorhebung durch den Autor].”352

Die Gefahr, die gerade von diesem Personenkreis ausgeht, ist nicht zu unterschätzen, erfüllen sie doch alle Aufgaben, die ihnen vom System

überantwortet wurden, mehr oder minder widerspruchslos. Obwohl es ihnen an hundertprozentiger Überzeugung fehlt, gelangen sie nicht zu dem Entschluss, sich abzuwenden, und erfüllen bis zuletzt ihrer Pflicht. Die Angst vor dem

Zusammenbruch und dem Unbekannten, das Kameradschaftsgefühl,

Profilierungssucht sowie eine tiefe Orientierungslosigkeit, Themen, die uns bereits in den diskutierten Werken der Adenauer-Ära begegnet sind,353 treiben so auch

Kisselbach, den Titelhelden in Dietrich Seifferts Jugendroman, dazu, den Kampf bis zum bitteren Ende fortzusetzen: “Shatterhand sah ihre Waffen. In der Ecke lag

351 Seifert. S. 142 352 Richter. Wir waren dabei. S. 136

184 ein MG 42. Er war elektrisiert. >>Wenn ihr das nicht mehr braucht<<, sagte er, >> wir haben dafür noch Verwendung. <>Du bist wohl wahnsinnig!<< >>Kriegstreiber!<<.”354

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass das Gros der von Altner,

Hubalek, Meichsner und auch Böll in den behandelten Werken der Adenauer gezeichneten Protagonisten, Eigenschaften und Verhaltensmuster dieser opportunistischen Jugendlichen zeigen.

Die fanatischen Anhänger

Bei dieser Gruppe von Protagonisten trifft die nationalsozialistische Ideologie vom allerersten Moment an auf fruchtbaren Boden. Schon vor der Machtergreifung ist die gesamte Familie des Protagonisten Anhänger der NSDAP und stellt folglich die eigene Arbeitskraft ganz in den Dienst der neuen Machthaber. So hat Dietrich

Seifferts Roman Einer war Kisselbach der Vater des Protagonisten Georg, der sich in der Folge als fanatischer Anhänger des nationalsozialistischen Regimes erweist, die Dienststellung eines NS-Ortsbauernführer inne,355 in Hans Peter

Richters Wir waren dabei ist es der Protagonist Heinz, dessen Vater als

Ortsgruppenleiter der NSDAP fungiert.356 Auf diese Weise ist bereits durch den familiären Hintergrund eine Primärsozialisation der Protagonisten im Sinne des

353 vgl. Seiffert. S. 138ff. 354 Seiffert. S. 154 355 Seiffert. S. 25 356 Richter. Wir waren dabei. S. 30 185 Nationalsozialismus gewährt. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten werden natürlich die Meriten des Vaters aus der “Kampfzeit” honoriert. Selbst die

Konfrontation mit dem Schrecken des Krieges bewegt bei diesen Protagonisten nicht zu einem Nach- oder Umdenken, was die Einstellung zum NS-Regime angeht, sondern festigt nur das Bild vom grausamen Feind, den es in einem

Schicksalskampf zu vernichten gilt:

Patzigs Augen schossen Blitze. >>Deutschland kann nicht besiegt

werden<<, rief er, >>[…] Männer […] werden sich in Zukunft auf den

Feind werfen. Und Pardon kennen die nicht. Sollen sie kommen, die

Angloamerikaner, sollen sie die Invasion machen. Wir werden sie ins

Meer treiben, Dünkirchen wird dagegen verblassen.<<357

Auch der Protagonist aus Richters Roman stößt in das gleiche Horn: “Die Brüder da drüben, elend sollen sie verhungern; den Dreck vom Boden sollen sie fressen.

Die Polacken haben wird viel zu gut behandelt […].”358

Diese Töne sind uns aus den Werken der Adenauer-Ära noch gut bekannt, auch wenn sie in dieser Schärfe nicht von den Protagonisten, sondern eher von den erwachsenen Vertretern des Regimes verwendet werden. Neu jedoch im Bereich dieser Kinder- und Jugendliteratur der 70er Jahre ist der Aspekt von Ansätzen nationalsozialistischer Rassenideologie als Motivationsfaktor bei jugendlichen

357 Seiffert. S. 128 358 Richter. Wir waren dabei. S. 102 186 Protagonisten für die freiwillige Teilnahme am eugenetischen Krieg. So schildert

Dietrich Seiffert wie sich Patzig schon als Jugendlichen despektierlich über slawische und jüdische Menschen auslässt: ”>>Ein Untermensch!<< sagte Patzig.

Seit dem Rußlandfeldzug waren alle Russen für ihn Untermenschen.”359

Konsequenterweise bestimmt diese Denkweise auch das Handeln dieses

Protagonisten im Krieg und wenn Patzig von der “Dezimierung Minderrassiger” spricht, lässt sich leicht erahnen, dass er den Krieg als notwendigen eugenetischen Feldzug für den Erhalt des “germanischen Rasse” versteht:

>>Nun hör endlich auf mit Rosenberg<<, rief Patzig, >>bei dem

stimmt’s doch blutlich nicht. Mann, reiß dich los von Volks- und

Rassefeinden!<< […] >>nur eine Elite kann das Großgermanische

Reich schaffen […]. Ein Reich nordischer Menschen, geschaffen

durch Auslese und Dezimierung Minderrassiger.<<360

Doch leider bleiben auch bei Seiffert die Hintergründe für die Entwicklung dieses

Protagonisten im Dunkeln, der ja bis zu seinem Eintritt in die Waffen-SS den gleichen Werdegang wie sein Freund Kisselbach, den wir als opportunistischen

Protagonisten identifiziert haben, durchläuft. Dieses verweist nur auf eine mögliche unterschiedliche Primärsozialisation im Elternhaus, wobei auch dieser

Erklärungsansatz unbefriedigend bleiben muss.

359 Seiffert. S. 100 360 Seiffert. S. 128 187 Die Literatur der 60er und 70er Jahre – Versuch eines Fazits

Die Generation der adoleszenten Weltkriegsteilnehmer haben jetzt fast zwei

Jahrzehnte Abstand zum Erlebten und damit Zeit gehabt, über das Geschehen zu reflektieren und sich die Frage nach der eigenen Motivation für die Teilnahme am nationalsozialistischen Krieg zu stellen und über die in diesem Zusammenhang auftauchenden Problematik der individuellen Schuld zu reflektieren.

In der Mitte der 60er Jahre erreicht die Publikation von Jugendbüchern mit dem

Thema ,Kriegsgeschehen’ ihren Höhepunkt, die Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Literatur, insbesondere aber im Jugendbuch, hat einen Anfang gemacht. Es ist den Schriftstellern nun auch möglich, dem Jugendlichen, getragen von dem Bestreben, den Phänomenen, die die nationalsozialistische Herrschaft möglich gemacht haben, die ‚Schokoladenseiten’ des Regimes zu präsentieren.

Wie wir erkannt haben, zeichnen sich die Werken von Seiffert und Richter bei einigen Übereinstimmungen mit den Werken der Adenauer-Ära, insbesondere was die Erzählsituation betrifft, zunächst durch eine dezidiert intensivere

Akkommodation des präsumptiven Lesers in nahezu allen der von Klingbert/Ebert entwickelten Kategorien aus. Dieser Umstand ist von dem Versuch getragen, die

Leserbarriere zum adoleszenten Rezipienten abzubauen. Allerdings heben sich gerade die Werke von Richter dadurch hervor, dass sie dem Jugendlichen, und dieses setzt sie von den Autoren der Adenauer-Ära ab, aus Misstrauen an der eigenen Urteilskraft, keinen Wertemaßstab anbieten.

188 Im Hinblick auf die Beantwortung der Frage, was die Jugendlichen motivierte, am nationalsozialistischen Krieg teilzunehmen, können die Autoren der 60er und 70er

Jahre im Vergleich zu ihren Vorgängern aus der Adenauer-Ära mit keinen neuen

Erkenntnisse aufwarten. Auch hier sind es vornehmlich Abenteuerlust, der adoleszente Narzismus sowie die naiven und fatalen Vorstellung des

Jugendlichen von Heldentum, Kampf und Krieg, sowie die Angst vor Sanktionen, die ihn der Autoren zufolge zum willfährigen Instrument nationalsozialistischer

Expansionspolitik werden ließ.

Doch sind es gerade zwei Themen, die, und dieses hängt mit dem Beginn einer in der Bundesrepublik stattfindenden Vergangenheitsbewältigung zusammen, in den

Werken der 60er und 70er Jahre eine stärkere Aufmerksamkeit erfahren:

Widerstand im System und der Holocaust.

Erinnern wir uns nochmals an den 20. Februar 1963, als an der Freien Volksbühne in Berlin unter der Regie von Erwin Piscator das ‚christliche’ Trauerspiel Der

Stellvertreter aufgeführt wird und vergegenwärtigen wir uns anhand folgenden

Textausschnitts, das aus dem Gespräch zwischen einem Juden namens

Jacobsen und dem SS-Obersturmführer Gerstein, das in dem Vernichtungslager

Auschwitz stattfindet, den Grundkonflikt:

JACOBSON: Dann fingieren Sie doch auch einen Auftrag -

die da, das Mädchen oder mich oder irgendeinen

von uns herauszuholen!

GERSTEIN: Sie wissen, Jacobson, ich kann das nicht. Ich bin

189 Leutnant, nichts weiter. Mein Leben ist in diesem

Augenblick mehr gefährdet als Ihres – Jacobsen!

JACOBSEN: (sieht weg)

Verzeihung – Sie tragen die gleiche Uniform.

GERSTEIN: Wie hätte ich sonst kommen können? Dieser Rock –

daß ich ihn nicht mehr los werde, ist meine Abzahlung

der Schuld die auf uns allen lastet. Unser

Widerstand…

JACOBSON: Widerstand? – Warum, Gerstein, reicht es nicht

einmal dazu, die Schienen nach Auschwitz

aufzureißen. Wo bleibt den euer Widerstand?

[…] Oder sind sie immer noch – Einzelgänger?

Wie lebt ihr den überhaupt – und wißt doch,

was hier geschieht, Tag um Tag […] Ihr lebt,

ihr eßt, ihr macht Kinder – und wißt doch alle

von den Lagern […] Ach Gerstein, ich will sie

nicht anklagen, weiß Gott, daß ich noch lebe,

danke ich ja Ihnen . . .361

Erwin Piscator präzisiert diese moralische Forderung nach Widerstand, insbesondere auch den innerhalb des nationalsozialistischen Systems, wenn er im

Zusammenhang mit dem Werk Hochhuths feststellt:

190

Dieses Stück ist ein Geschichts-Drama im Schillerschen

Sinne. Es sieht, wie das Drama Schillers, den Menschen

als Handelnden, der im Handeln <>

einer Idee ist: frei in der Erfüllung dieser Idee, frei in der

Einsicht in die Notwendigkeit <>, das heißt:

sittlichen, menschenwürdigen Handelns. Von dieser Freiheit,

die jeder besitzt, die jeder besaß auch unter dem Nazi-

Regime, müssen wir ausgehen, wenn wir unsere Ver-

gangenheit bewältigen wollen. Diese Freiheit leugnen hieße

auch: die Schuld leugnen, die jeder auf sich genommen hat,

der seine Freiheit nicht dazu nutze, sich gegen die

Unmenschlichkeit zu entscheiden.362

Doch sind die in den Werken agierenden Protagonisten mit opportunistischen

Züge oder “Widerständler”, wie wir gesehen haben, offenkundlich nicht in der

Lage, erfolgreichen Widerstand zu leisten. Seiffert und Richter zeigen anhand ihrer Protagonisten deutlich, dass Widerstand, sei es an der Front oder in der

Heimat, von Erwachsenen oder Jugendlichen, Zivilisten oder Soldaten sinnlos, da tödlich war. Aber es werden von den Autoren auch wiederholt kleinere

Widerstandsaktionen der literarischen Akteure beschrieben, sei es der

361 Hochhuth. S. 356 362 Hochhuth. S, 10 191 Widerspruchsversuch Kisselbachs in Seifferts Roman Einer war Kisselbach gegen die Teilnahme an einem Erschießungskommando363 oder Günthers verbaler

Angriff auf das Regime364 in Richters Buch Wir waren dabei.

Auch der “Protagonist” Gerstein365, “dessen Name die israelische Gemeinde auf den Denkstein für den Faschismus setzte”366 folgt bezeichnenderweise nicht der suizidalen Form des Widerstandes, wie sie von dem Jesuitenpfarrers Riccardo

Fontano praktiziert wird.367 Die Angst vor dem Verlust des eigenen Lebens ist hier wohl der Faktor, warum der Widerstand von den Protagonisten, die wir als

Oppositionelle oder Opportunisten kategorisiert haben, nicht bis zur letzten

Konsequenz durchgeführt wurde.

Hier tritt nun die Thematisierung der NS-Rassepolitik und Ideologie durch die besagten Autoren in unser Blickfeld.

In einer Rezension von Dietrich Seifferts Roman führt Martin H. Ludwig diesbezüglich aus:

Doch bei aller Linientreue bleibt Kisselbach immer “Mensch.”

Im Bereich seiner privaten Umgebung gewinnt die NS-Ideologie

keinen Einfluß, ja hier kann Kisselbach sogar Bekannte gegen

363 vgl. Seiffert. S. 126f. 364 vgl. Richter. Wir waren dabei. S. 58f. 365 Bei Kurt Gerstein handelte es sich, ohne dieses weiter ausführen zu müssen, um eine historische Person 366 Hochhuth. S. 28 367 Man mag in diesem Zusammenhang argumentieren, dass Gerstein versuchte, um jeden Preis zu überleben, um Zeugnis über die Grausamkeiten der Nationalsozialisten Zeugnis ablegen zu können. 192 übereifrige Nazis beschützen.368

Und es ist nicht nur die Mutter seiner Freundin, die Kisselbach, nachdem diese einen ausländischen abgehört hat, vor dem Konzentrationslager rettet:

Shatterhand faßte den Bürgermeister noch fester ins Auge.

>>Meine Kameraden, die zum größten Teil in der Waffen-SS

ihre Pflicht tun, und ich, wir können uns deshalb ein Urteil

bilden, wer ein Volksfeind ist und wer nicht. Frau Reimers

jedenfalls ist eine aufrechte Deutsche. Dafür verbürge ich mich

als Nationalsozialist und als Soldat.<<369

Insbesondere sind es rassisch Verfolgte, denen die Unterstützung der opportunistischen Hauptfiguren zuteil wird. So besteht der Ich-Erzähler in Wir waren dabei u.a. darauf, weiter bei einem Juden zu kaufen, dessen Geschäft bereits boykottiert wird und wird dafür misshandelt370, Kisselbach setzt sich wiederholt für seinen Freund Rosenberg, der jüdischer Abstammung ist, ein.371

Martin H. Ludwig stellt diesbezüglich die “Gretchenfrage”:

368 Ludwig 369 Seiffert. S. 139 370 Richter. Wir waren dabei. S. 87-88 371 Seiffert. S. 126 193 Liegt in diesem Verhalten das Problem einer verführten Jugend?

Kann man im privaten Bereich Mensch bleiben und in den großen

Dingen des Lebens, Handelns und der Gemeinschaft die Doktrin

der allmächtigen Staatsgewalt so sehr bejahen, daß Ereignisse,

die die Staatslehre ins Wanken bringen könnten, gar nicht richtig

wahrgenommen werden? – Dietrich Seiffert hat ein Tabu

angerührt.372

Inwieweit Kisselbach die nationalsozialistische Doktrin bejaht, haben wir bereits ausführlich behandelt. Die Frage, die sich stellt, ist, ob Seiffert und auch Richter mit dem Thema der “Humanität im Kleinen” wirklich einen Tabubereich anrühren oder ihre Integrität als Mensch bewahren wollen und eine genuine Humanität als

Motivation ihres Handelns propagieren, nachdem sie im Widerstand versagt haben.

Eine dezidierte und konkludente Antwort auf die Frage nach der Akzeptanz persönlicher Verantwortung für das eigene Engagement erhalten wir, wie in den behandelten Werken der Adenauer-Ära auch bei Seiffert und Richter nicht.

Ließ schon, wie die Autoren der Jugendbücher ausführen, der omnipräsente

Zwang des Nationalsozialismus keinen Freiraum für Widerstand von überzeugten

Gegnern des NS-Regimes, so konnte es de facto beinahe keinen

Handlungsspielraum geben.

194

Wie lässt sich die hier manifestierende stark defensive Position der Autoren im

Hinblick auf die Frage nach persönlicher Verantwortung und der Existenz von

Handlungsspielräumen erklären? Der Umstand, dass sowohl Richter und Seiffert, anders als die Autoren in den Werken der Adenauer-Ära373, trotz ihres jugendlichen Alters, wie die Protagonisten in ihren Werken, junge Offiziere in der

Wehrmacht waren, die nachweislich Verantwortung trugen und nicht automatisch

Verantwortung auf Vorgesetzte und die Führung von Partei, Wehrmacht oder

Staat abwälzen konnten, mag ein Ansatz zu der Beantwortung dieser Frage sein.

372 Ludwig

195 Kapitel 3: Wehrmacht und Holocaust – ein Tabu bröckelt. Die Frage nach der individuellen Verantwortung im Jugendbuch der 80er Jahre bis zur

Jahrtausendwende

Mit dem Ende der 70er und Beginn der 80er Jahre wird die ein neues und intensiveres Kapitel der nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung in der

Bundesrepublik eingeläutet. Es erscheint im Rahmen der Untersuchung unerlässlich, auf die Form dieser Entwicklung detailliert einzugehen, da in der

Folge auch die Haltung und Motivation des ehemaligen Angehörigen des deutschen Wehrmacht, und hierzu gehören zweifelsohne unsere Kindersoldaten, durch die nationale und internationale Öffentlichkeit eine kritische Neubewertung erfährt. Diese Entwicklung tangiert zweifelsohne auch das Selbstverständnis des ehemaligen Kriegsteilnehmers und die durch diesen durchgeführte Bewertung der eigenen Rolle.

Den Auslöser für diese intensive Neubeschäftigung mit der nationalsozialistischen

Vergangenheit erreicht den Zuschauer durch das Fernsehmedium. Vom 22. bis

27. Januar 1979 strahlte das Dritte Programm des Deutschen Fernsehens den amerikanischen Fernsehfilm “Holocaust” in vier Teilen aus, der die

Judenverfolgung – und vernichtung während der nationalsozialistischen

Herrschaft anhand des Werdegangs zweier Familien, der jüdischen Familie Weiss und der des Juristen und späteren SS-Obersturmbannführers Dorf, exemplifiziert.

373 Böll, Altner, Gregor und Hubalek waren Mannschaftsdienstgrade, Meichsner Angehöriger der Hitlerjugend in untergeorneter Funktion. 196 Die Tatsache, dass etwa 20 Millionen Deutsche die Serie gebannt verfolgen und sich etwa 30000 Deutsche aktive an einer im Anschluss an die Serie durchgeführten Fernsehdiskussion telefonisch beteiligen, lässt darauf schließen, dass trotzdem der

Film bei einzelnen Details historisch ungenau ist und obwohl schon

eine beträchtliche Anzahl von Büchern, Theaterstücken und

Dokumentationen den Genozid eines ganzen Volkes durch die

Nationalsozialisten angeprangert hat, […] es erstmals der

amerikanischen TV-Serie [gelingt], auf breiter Ebene Emotionen

freizumachen und damit Blockaden zu durchbrechen, welche

die Deutschen vor ihrer Vergangenheit errichtet haben.374

Insbesondere ist es die Schilderung des individuellen Schicksals beider Familien, die, ohne die Gesamtsituation des Holocausts zu vernachlässigen, eine

Identifizierung durch den Zuschauer ermöglicht und das Unfassbare fassbar macht.375 Gerade diese Personalisierung wird uns im Werk von Hans-Georg

Noack noch weiter beschäftigen.

Das Urteil im Majdanek-Prozess am 19. April 1979, der Besuch des U.S.

Präsidenten auf dem Friedhof in Bitburg376 im Mai 1985, das Auffinden der

374 vgl. Chronik der Deutschen. S. 1101 375 vgl. ebd. 376 Der Eklat, der dem Bitburg Besuch folgt, lag in der Tatsache begründet, dass auch 49 Angehörige der ehemaligen Waffen-SS auf dem Friedhof beigesetzt 197 ehemaligen KZ-Arztes Mengele im Juni des gleichen Jahres, die von der Flick

Gruppe im Januar 1986 beschlossene Entschädigungsleistungen für jüdische

Zwangsarbeiter halten, die Wahl Walheims zum österreichischen

Bundespräsidenten und Jörg Haiders zum Parteivorsitzenden der FPÖ, sowie der

Tod des ehemaligen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß im August 1987 intensivieren die Diskussion um die nationalsozialistische Vergangenheit in der

Bundesrepublik der 80er Jahre.

Mit der Wiedervereinigung im Jahre 1990 wurde der neue deutsche Staat von einer Flut gewaltsamen fremdenfeindlicher und antisemitischer Aktionen

überflutet, die erschreckend zeigte, wie wenig die nationalsozialistische

Vergangenheit von der Bevölkerung aufgearbeitet war und die ihren Höhepunkt in den vier folgenden Aktionen fanden:

1. in Hoyerswerda im September 1991 […], wo Skinheads, unterstützt

von einem Teil der Bevölkerung der Stadt, ein Heim für Arbeitsmi-

granten angriffen und in Brand setzten, in dem ungefähr 150 Mozam-

bikaner und Vietnamesen untergebracht waren;

2. in Rostock, Mecklenburg-Vorpommern, wo im August 1992 drei Nächte

lang Rechtsextremisten, unterstützt von mehr als 500 Einheimischen,

eine Unterkunft von Asylbewerbern […] zerstörten.

waren.

198 3. in Mölln, Schleswig-Holstein, wo am 23. November 1992 eine kri-

minelle Brandstiftung den Tod dreier Personen türkischer Herkunft zur

Folge hatte;

4. im Mai 1993 in derselben Stadt, wo Brandbomben auf das Haus einer

türkischen Familie geworfen wurden und den Tod von fünf Personen

verursachten, darunter eine Frau und zwei Kinder.377

Zudem setzt, wie wir bereits eingangs angesprochen haben, eine wahre Flut von

Autobiografien von ehemaligen Soldaten, die als Jugendliche in der Wehrmacht oder der Waffen-SS am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, ein, die Mitte der

90er Jahre ihren Höhepunkt erreicht. Schon ein Blick auf einen Auszug der Titel ab

Mitte der 90er Jahre lässt den Verdacht einer größtenteils apologetischen

Tendenz in diesen Werken aufkommen. Die Geschichte dieser Werke, in denen sich die jetzt meist hoch betagten Senioren an ihre Jugend als Soldat im Zweiten

Weltkrieg erinnern, muss noch geschrieben werden.

So erscheint 1991, und dieses kann nur eine begrenzte Auswahl aus der

Gesamtzahl der Werke sein, das Buch von FH Holl (Jg. 1927) unter dem Titel

Hitler(’s) Junge, nein, danke. 1993 veröffentlicht Uwe Störjohann (Jg. 1925) seinen Erlebnisbericht Hauptsache Überleben sowie Friedrich Buchholz’ (Jg.

1925) seiner unter dem Titel Gefangen und dennoch frei erscheinende

Autobiografie.

377 Glèlè-Ahanhanzo. „Bericht des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen anlässlich seines Besuchs in der BR Deutschland vom 18. – 27. September

199 1994 kommen Otto Messners (Jg. 1926) Erzählung Aber ich lebe noch sowie Paul

Feltes (Jg. 1926) Schrift Eine Jugendzeit in Krieg und Not auf den deutschen

Büchermarkt. 1996 wendet sich Günter Führling (Jg. 1925) mit seinem Buch

Endkampf an der Oderfront, welches es immerhin bis heute auf zwei Auflagen bringt, gefolgt von Fritz Ottenheimers (Jg. 1925) Werk Wie hat das geschehen können? an die Leserschaft. 1998 wird Kurt Abels (Jg. 1928) Werk Ein Held war ich nicht: als Kind und Jugendlicher in Hitlers Krieg, gefolgt von Wolfgang von

Buchs (Jg. 1928) Opus Wir Kindersoldaten publiziert. Das Jahr 1999 offeriert dem

Leser u.a. Siegfried Kaiser-Albers (Jg. 1925) Gefahr aus dem Dunkel:

Erinnerungen eines unangepassten Soldaten sowie Friedrich Juchters (Jg. 1927)

Formeln, Fahnen, Flakgeschütze: eine deutsche Jugend zwischen Schule und

Kriegsdienst (1934-1947). Im Jahre 2000 erscheint Herbert Brunnegger (Jg. 1923)

Saat in den Sturm: ein Soldat der Waffen-SS berichtet.

Eine ganz neue Qualität der Diskussion um die nationalsozialistische

Vergangenheit wird jedoch mit der Eröffnung der Ausstellung “Vernichtungskrieg.

Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944” durch das Hamburger Institut für

Sozialforschung und dessen Leiter Jan Philipp Reemtsma im Jahre 1995 erreicht, die bis 1999 in 33 Städten in Deutschland und Österreich gezeigt wurde, und deren Eröffnung mit dem 50. Jahrestag der deutschen

Kapitulation zusammenfiel.378

1995.“ 378 Die Ausstellung wurde 1999 nach starker Kritik von Historiken an der Akkuratesse der in der Ausstellung verwendenten Exponate sowie der dierauf basierenden Aussage zurückgezogen, überarbeitet und im November 2001 in 200 Zum ersten Mal wird der Versuch unternommen, den Zusammenhang zwischen der Wehrmacht, insbesondere vor dem Hintergrund des Russlandfeldzugs

1941-1943, und dem Holocaust umfassend im Nachkriegsdeutschland zu dokumentieren. Doch Reetsma intendiert, noch ein Stück weiter zugehen, und ruft hierdurch Reminiszenzen an Goldhagen wach, ein Historiker, auf den wir in der

Folge noch kurz eingehen werden. Reetsma wirft in der neuen

Wehrmachtsausstellung vermehrt die Frage nach “Handlungsspielräumen” auf und versucht mit diesem Thema, dem der letzte Teil der Ausstellung gewidmet ist, zu zeigen, dass es dem Wehrmachtsangehörigen sehr wohl möglich war, Befehle völkerrechtswidriger Natur nicht auszuführen, ohne dass dieses sanktioniert wurde:

Reemtsma: Sie [die Ausstellung] beschäftigt sich

[…] mit Handlungsmöglichkeiten und Handlungszielen der

der Organisation Wehrmacht […] Und sie zeigt, was sich

[aus der Aussetzung des geltenden Kriegsrechts und bestimmter

Traditionen] […] ergab – in unterschiedlichen Dimensionen des

Verbrechens: Völkermord, Ernährungskrieg, Deportationen […].

Man verlässt die Ausstellung durch einen Raum, der “Handlungs-

spielräume” heißt und unterschiedliches, zum Teil krass gegen-

sätzliches Verhalten von Wehrmachtsangehörigen thematisiert […]

einer neuen Fassung wieder eröffnet.

201 Wir haben den Weg gewählt, den Besuchern acht Geschichten

vorzuführen. Zum Beispiel die eines Befehls und dreier Reaktionen

hierauf. Es erging ein Befehl and drei Kompanieführer in Weiß-

russland, die jüdische Bevölkerung in ihrem jeweilen Quartiersort

wegen Partisanentätigkeit zu exekutieren. Einer befolgt diesen

Befehl, ohne zu fragen. Ein zweiter hat Zweifel, bittet um Befehls-

bestätigung und führt dann aus. Und da ist da der dritte. Er wider-

setzt sich: die jüdische Bevölkerung habe gar keinen Bezug zu

Partisanen, es gebe da nur Greise, Frauen und Kinder. Der Befehl

wird wiederholt, er weigert sich. Damit ist die Sache beendet […].

Der Mann wurde nicht, wie es die noch immer populäre Legende

über solche Fälle will, an die Wand gestellt.379

Hier sah sich der ehemalige Wehrmachtssoldat plötzlich in der öffentlichen

Diskussion mit dem Vorwurf konfrontiert, Mitglied einer verbrecherischen

Organisation gewesen zu sein, die durch ihr Verhalten maßgeblich am Genozid mitgewirkt hätten. Das “Opferselbstbild”, das “Entlastungsmuster in der deutschen

Nachkriegsgesellschaft”, welches “selbstversöhnliche, idealisierende und heroische Ansichten vom Krieg”380 propagierte, geriet ins Wanken.

Der Zusammenhang zwischen der Wehrmacht und dem Nationalsozialismus wird von einem Großteil der Bevölkerung, insbesondere den Kriegsteilnehmern, negiert

379Augstein 380 Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.” 202 oder idealisiert, obwohl die Verbindung zwischen dem Krieg, dem

Nationalsozialismus und dem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden von der

Wehrmachtsführung offen propagiert wurde:

Dass der Oberbefehlshaber des Heeres, von Brauchitsch, im

Dezember 1938 in einem Erlass über Offizierserziehung erklärt

hatte, “Wehrmacht und Nationalsozialismus sind desselben

geistigen Stammes. Sie werden weiter Großes für die Nation

leisten, wenn sie dem Vorbild und der Lehre des Führers folgen”

erwähnt die Denkschrift [gemeint ist die am 10.11.1945 von den

ehemaligen deutschen Generalen im Zusammenhang mit dem

Prozess vor dem Internationalen Militärtribunal verfasste Denkschrift

– Anmerkung des Autors] so wenig wie die des General-

feldmarschalls von Manstein, in der es heißt: “Für die Notwendig-

keit der harten Sühne am Judentum, dem geistigen Träger des bol-

schewistischen Terrors, muss der Soldat Verständnis aufbringen.”381

Angeheizt wurde dieses Debatte um die schuldhafte Verstrickung aller Deutschen durch das Erscheinen des Buches des amerikanischen Historikers Daniel Jonah

Goldhagen Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, welches 1996 auf dem deutschen Buchmarkt erschien.

381 Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.” 203 Goldhagen untersucht in seinem stark umstrittenen Werk382 die Motive der Täter des Holocaust, indem er ihr Verhalten beobachtet und interpretiert:

Sein [Goldhagens Anmerkung des Autors] Ergebnis lautet: Die Täter

handelten aus innerer Überzeugung, die auf einem spezifischen

Antisemtismus basierte. Von der Motivation der Täter, die der Autor

als “gewöhnliche Deutsche” charakterisiert und deshalb als

repräsentativ für die deutsche Gesellschaft ansieht, schließt

Goldhagen im zweiten Schritt auf die Mentalität der damaligen

Deutschen insgesamt. Seine zentrale These lautet: Die Deutschen

waren über Generationen kulturell und kognitiv von einem

“eleminatorischen Antisemitismus geprägt, der auf die Ausgrenzung,

Ausschaltung und letztendlich Auslöschung der Juden zielte. Nach

Ansicht des Autors war der Holocaust der konsequente Höhepunkt

dieses spezifisch deutschen Judenhasses.383

Es geht hier nicht darum und würde auch den Rahmen der Untersuchung sprengen die Diskussion über die sich bereits vor der Veröffentlichung des Buches

382 Eine eindrucksvolle Synopsis der Kritikpunkte an Goldhagens These vom eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen findet sich bei Schreckenberg. S. 425f. 383 Kött. S. 21-22 204 in der bundesrepublikanischen Gesellschaft stattfindenden Diskussion um

Kollektivschuld und Nationalcharakter der Deutschen nachzuverfolgen.384

Ein Aspekt verdient jedoch im Zusammenhang mit dem bereits im

Zusammenhang mit der Wehrmachtsaustellung diskutierten “Handlungs- spielraum” unser Augenmerk. Goldhagen thematisiert wie Reemtsma und der amerikanische Historiker Browning385 die Wahlmöglichkeiten und individuelle

Verantwortung auch unmaßgeblicher Handlungsträger des nationalsozialistischen

Regimes:

A particularly noteworthy refusal to kill was that of one of the

battalion’s officers Lieutenant Heinz Buchmann. Beginning

with the killing in Józefów, he led the escort of the so-called

able-bodied Jews to a “work camp” near Lublin. Everyone

in the battalion knew that this lieutenant avoided killing duty.

His wish not to participate in the killings was so accepted in

the hierarchy of command that his company commander

circumvented him when killing operations were at had, and gave

orders directly to the lieutenant’s subordinates.386

384 Hier sei auf das ausgezeichnete Werk von Martin Kött verwiesen, welches sich mit dieser Diskussion beschäftigt. 385 Browning. S. 208-247 386 Goldhagen. S. 220 205 Blicken wir unter diesem Aspekt noch einmal kurz auf die in dieser Arbeit behandelten Werke zurück. Einzig und allein in einem Werk von Hans Peter

Richter und in Dietrich Seifferts Jugendroman lassen sich antisemitische und rassistische Gründe als Motivationsfaktoren für das Handeln einiger jugendlicher

Protagonisten erahnen.

Wie konnte sich das Bild von einer “sauberen Wehrmacht”, die von dem Holocaust relativ lange unbelastet blieb, in der bundesrepublikanischen Gesellschaft bilden?

Schon der letzte Wehrmachtsbericht vom 9. Mai 1945 schuf den Grundstein für eine Legendbildung von der durch den Nationalsozialismus unbefleckter

Wehrmacht, wenn die Leistungen und Opfer des deutschen Soldaten gerühmt werden und ihm bescheinigt, dass er seine Waffen “aufrecht und stolz aus der

Hand”387 legen kann.

Zu der durch die Kriegsgegner “wegen ihrer Professionalität und Effizienz” erfolgten Bewunderung und dem nach dem Krieg ausgesprochenen Lob für die

Wehrmacht führten schon die im Rahmen der Nürnberger Prozesse angeklagten

Generale, unter ihnen der ehemalige Generalfeldmarschall Walther von

Brauchitsch, in ihrer Verteidigung, die Legendenbildung von der “sauberen

Wehrmacht” weiter, indem sie sich zur Selbstentlastung, wie andere Hoheitsträger des Dritten Reiches:

hinter den vorgeblich unpolitischen Charakter ihrer

wissenschaftlichen, technischen oder künstlerischen Kompetenz

206 zurück[zogen] und […] auf ihre Ohnmacht gegenüber politischer

Indienstnahme, aber auch auf die Aussichtslosigkeit und

Lebensgefahr, falls sie sich verweigert hätten, [verwiesen].388

Dieser durch die Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse erfolgte Freispruch der Generalstabs und des Oberkommandos der Wehrmacht von dem Vorwurf eine verbrecherische Organisation zu sein389, welches wohl den nachhaltigsten Grund für das Entstehen eines politisch unbelasteten Bildes der Wehrmacht darstellt, sowie zwei von dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer in den Jahren 1951 und

1952 vor dem getätigten Aussage, in denen er von der “Ehre der früheren deutschen Wehrmacht” spricht, unterstützen dieses Bild.390

So differenziert auch der damalige Nato-Oberbefehlshaber in Europa, General

Dwight D. Eisenhower 1951 in einer öffentlichen Erklärung zwischen “deutschen

Soldaten und Offizieren als solchen” und “Hitler und seiner kriminellen Gruppe”, wobei der “deutsche Soldat als solcher” seine “Ehre” nicht verloren habe.391

Durch die Begnadigungen der durch alliierte Militärgerichte verurteilte

“Kriegsverbrecher”, die Einstellung von den an deutschen Gerichten anhängige

387 Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.” 388 Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.” 389 Diese Beurteilung hielt die Richter jedoch nicht davon ab, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass “die Generale in großem Maße verantwortlich gewesen seien ‘für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen seien [...]” und dass die “Wehrmacht […] an ‘all diesen Verbrechen teilgenommen’ oder schweigend zugestimmt [habe].” (Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.”) 390 Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.” 391 Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.” 207 Verfahren gegen diesen Personenkreis, sowie durch das Heimkehrergesetz und

Bundesversorgungsgesetz erfolgte de facto und de jure in den 50er Jahren die soziale und juristische Rehabilitierung von Wehrmachtsangehörigen.392

Doch auch auf literarischem Gebiet erfolgte die Legendenbildung, wie die

Memoiren von ehemaligen Generalen der Wehrmacht oder Waffen-SS auch die bereits angesprochene apologetische Schriften, wie die Landserhefte, bestätigen.

Auf Seiten der Erwachsenenliteratur führte dieser Angriff auf die Ehre des deutschen Soldaten seit Mitte der 90er Jahre, wie wir eingangs gesehen haben, zu einer wahren Flut von im Gehalt wesentlich apologetischen Autobiografien ehemaliger Soldaten, wobei etwa die Hälfte von ehemaligen Angehörigen der

Wehrmacht oder Waffen-SS verfasst wurde, die an dem Krieg als adoleszente

Soldaten teilnahmen.

Somit drängt sich die Frage auf, welche Folgen diese mit Ende der 70er Jahre einsetzende Aktualisierung der Thematik Wehrmacht im Nationalsozialismus und

Widerstand für die Kinder- und Jugendliteratur hatte. Der seit Beginn der 80er

Jahre erkennbare Anstieg der Jugendbücher die Krieg, Widerstand gegen den

Nationalsozialismus und die Jugendverfolgung thematisieren, sind Ausdruck einer zunehmenden Sensibilisierung in diesem Bereich, wobei eine wesentliche

Rolle auch gespielt haben mag, dass “seit Anfang der 80er Jahre bedeutende

Kinder- und Jugendbücher zum Thema Nationalsozialismus, vor allem aber auch

392 vgl. Reichel. “Der deutsche Soldat hat seine Ehre nicht verloren.”

208 zur Judenverfolgung den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielten und daher

öffentlichkeitswirksam waren.”393

Allerdings ist die Frage nach der Motivation der Jugendbuchautoren, sich dieses

Themas anzunehmen, sehr interessant, da letztere offensichtlich nicht durch das

Rezeptionsverhalten der jugendlichen Leser bestimmt ist:

Keine andere Epoche wird zwischen 1979 und 1989 in der

Kinderliteratur berücksichtigt wie die des Nationalsozialismus […].

Dieses Phänomen korrespondiert u.a. mit den […] Jahrestagen

der nationalsozialistischen Machtergreifung und der Progromnacht.

Gleichzeit belegen die Sinus-Studie Wir sollten wieder einen

Führer haben…Über die rechtsextreme Einstellungen der

Deutschen (1981) und der Einzug rechtsradikaler Abgeordneter in

Kommunal- oder Landesparlamente (1989) die Kontinuität

faschistoider Denk- und Verhaltensweisen. Die große Anzahl

kinderliterarischer NS-Darstellungen ist jedoch […] erstaunlich […],

weil das Dritte Reich kein Thema ist, das die potentiellen Leserinnen

und Leser unmittelbar interessiert. Denn Kinder- und

Jugendliche lernen diese Epoche heute nur noch durch die

Vermittlung von Schule und Medien und allenfalls in der für sie

selbst scheinbar belanglosen Erinnerung der Älteren an eine ferne

Vergangenheit kennen. Daher ist die Ursache für die

393 Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur. S. 467 209 Veröffentlichung zahlreicher Kinderbücher über das Dritte Reich

eher bei den Autorinnen und Autoren zu suchen, die sich aus

eigener Erfahrung oder aus Betroffenheit über die Verharmlosung

des Nationalsozialismus bemühen, ihn für die Jüngeren literarisch

aufzuarbeiten, um inhumanen und antidemokratischen Strömungen

entgegenzuwirken [Hervorhebung durch den Autor].394

Wie tragen nun die ehemaligen Kindersoldaten dieser veränderten historischen

Situation in ihren Werken Rechnung?

Zunächst fällt auf, dass trotz eines Anstiegs der Jugendbücher ab den 80er

Jahren, die sich allgemein mit dem Thema “Krieg” beschäftigen, die Anzahl der

Bücher, die sich explizit mit der Schilderung der Fronterlebnisse von ehemaligen jugendlichen Angehörigen der Wehrmacht in den Jahren 1939-1945 befassen, nur marginal sind. Dieses lässt sich durch den sich ab den 80er Jahren im Jugendbuch festzustellenden Trend zu einer Suche nach den Ursachen des Krieges erklären, für deren Verständnis nach Meinung des Gros der Jugendbuchautoren dem adoleszenten Leser gerade der Prozess der Machtergreifung und –konsolidierung durch die Nationalsozialisten, also die Zeit von 1933-1939, für den adoleszenten

Leser verständlich gemacht werden sollten. Erste Ansätze haben wir bereits in dem Buch von Dietrich Seiffert in den 70er Jahren gesehen So verwundert es auch nicht, dass als einziges Buch aus den 60er Jahren das Werk von Hans-Peter

Richter im Jahre 2002 in seiner 17. Auflage auf dem Buchmarkt erscheint, da hier

394 Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 361 210 stärker als in den anderen behandelten Werken der Zeitraum von der

Machtergreifung bis zum Kriegsausbruch thematisiert wird.

Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu dem von Martin Broszat aufgestellten

Postulat, das den eingangs erwähnten Historikerstreits auslöste, die Zeit des

Nationalsozialismus und insbesondere des Genozids sozialgeschichtlich im Epochenzusammenhang zu betrachten.

Wir wollen im Folgenden untersuchen, wie Noack in seinem Jugendbuch vor dem

Hintergrund der wiederauflebenden Debatte um die nationalsozialistische

Vergangenheit und der in diesem Zusammenhang verstärkt auftauchenden Frage nach Handlungsspielräume, Aspekte, wie persönliche Motivation, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, behandelt.

Noacks Jugendbuch Die Webers – eine kritische Diskussion des

Handlungsspielraum des Jugendlichen

Hans-Georg Noack, 1926 in Burg auf Fehmann geboren, nahm wie die Meichsner,

Hubalek, Altner, Richter und Seiffert am Krieg als jugendlicher Soldat teil bis er

1944 in belgische Kriegsgefangenschaft geriet.395

Im Gegensatz zu seinen Autorenkollegen etabliert sich Noack jedoch dauerhaft seit den 50er Jahren als Jugendbuchautor, wobei sein Themenspektrum nicht auf den Nationalsozialismus beschränkt ist. In den 45 Jahren seiner

395 Zitiert nach dem biografischen Abriss von Hans-Georg Noack, der mir dankenswerterweise vom Ravensburger Verlag zur Verfügung gestellt wurde 211 jugendschriftstellerischen Tätigkeit verfasst er 28 Bücher, die eine Gesamtauflage von 4,2 Millionen ausmachen und die in englischer, französischer, spanischer, schwedischer, dänischer, norwegischer, katalanischer und russischer Sprache erschienen sind. Noack wurde u.a. dreimal mit dem Deutschen

Jugendliteraturpreis und dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet:396

Noack trug erheblich dazu bei, die Jugendliteratur der Bundes-

republik Deutschland aus ihrer Vermeidung politischer und

zeitgeschichtlicher Themen herauszuführen (z. B. “Hautfarbe

Nebensache”, 1960). Damit zog er Schlußfolgerungen aus

seinen Erfahrungen im Dritten Reich. Er forderte in vielen

seiner Bücher die Leser und Leserinnen dazu auf, am po-

litischen Leben aktiv teilzunehmen.

Gleichzeitig setzte er sich mit der NS-Vergangenheit und Fragen

der Schuld und Mitverantwortung auseinander. Er faßt seine

Schriftstellerei offen als „pädagogischen Beruf” auf und möchte

aufklärerisch wirken.397

396 vgl. Lexikon Deutsch. S. 210 397 www.goethe.de/os/hon/naz/denoa/htm 212 Noacks Jugendbuch Die Webers – eine deutsche Familie 1932-1945 erschien erstmals 1980398, wurde 1999 wieder aufgelegt, und schildert die nationalsozialistische Machtergreifung sowie den Krieg aus der Sicht des

Ehepaars Webers und seiner zwei Kinder, wobei der Vater Sozialdemokrat ist und für den Widerstand arbeitet, sein Sohn Karl-Heinz hingegen schon früh zum

überzeugten Hitlerjungen wird.

Zunächst ist es bezeichnend, und dieses setzt Noacks Buch schon einleitend von den Werken der vorangegangenen Epochen ab, dass sich der Autor nicht darauf beruft, dass sich das Dargestellte mit dem persönlich Erlebten deckt, wie dieses bei Hubalek, Altner, Meichsner und Richter der Fall ist, oder wenigstens der

Werdegang des Protagonisten eine verblüffende Ähnlichkeit mit der des Autors aufweist, wie dieses im Fall der Schriftsteller Gregor, Richter und Seiffert nachweisbar ist. Hier lässt sich Noack eine Hintertür offen, mit deren Hilfe er dem

Jugendlichen zwar nicht unbedingt offenbart, wie er, Noack, sich tatsächlich verhalten hat, aber wie man, und hier ist der jugendliche Soldat der damaligen Zeit gemeint, sich hätte verhalten können. Es handelt sich somit nicht um ein

“autobiografisches Dokument”, sondern, wie Noack betont, um eine “Geschichte”, die bewusst keine Aussage über den fiktiven oder realen Charakter des Erzählten trifft.

Wenden wir uns jedoch zunächst dem Bereich der formalen und gattungsmäßigen

Besonderheiten in der Akkomodation des jugendlichen Lesers zu:

398 Der erste Entwurf dieses Buches erschien im Jahre 1962 unter den Titel Stern über der Mauer. 213 Noack wählt für seinen Roman die auktoriale Erzählsituation, die es ihm ermöglicht, dem adoleszenten Rezipienten die Innen- und Außenwelt der

Personen zu zeigen, ihm moralische Probleme zu erläutern und somit die

Leserperspektive zu bestimmen:399

Das ist die Geschichte einer Familie. Ich hoffe, sie wird den

Leser zum Nachdenken anregen. Tut sie es nicht, so habe ich

mein Ziel nicht erreicht […]. Die Geschichte soll uns […] nicht

zum Verurteilen [veranlassen]. Allzu häufig werfen wir anderen

die Fehler vor, die zu begehen wir selbst keine Gelegenheit

hatten. Die Geschichte soll uns helfen, die Gegenwart klarer zu

zu sehen. Und sie soll uns lehren, wachsam zu sein.400

Doch anders als die von uns behandelten Jugendbuchautoren der vorangegangen

Epochen versucht Noack das Phänomen des nationalsozialistischen Krieges umfassend in seiner Komplexität darzustellen: “Niemand lebt für sich allein und außerhalb seiner Zeit. Jeder von uns unterliegt dem Einfluss des politischen und gesellschaftlichen Geschehens seiner Epoche. Das galt gestern und es gilt noch heute.”401 Die Handlung, die gegen Ende des Jahres 1932 einsetzt, ist in Kapitel unterteilt, die mit den Daten wesentlicher Ereignisse auf der politischen oder militärischen Ebene überschrieben sind, und neben der Handlungsdatierung mit

399 Metzler-Literatur-Lexikon. S. 32-33 400 Noack. S. 5

214 zu Kapitelbeginn einer kurzen Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse des jeweiligen Jahres versehen sind, um dem Jugendlichen Hintergrundwissen zu offerieren. Schon mit dem Beginn der Handlung im Jahre 1932 wird das Postulat

Noacks nach einer umfassenden Darstellung der Situation des Individuums im

Nationalsozialismus deutlich. So kommt es ihm nicht nur darauf an, als erster im

Rahmen dieser Untersuchung behandelten Jugendschriftsteller Faktoren, wie

Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Versailler Vertrag und mangelnde Identifizierung der Deutschen mit der Weimarer Republik402, die zur Machtergreifung der

Nationalsozialisten führten, darzustellen, sondern auch, und dieses ist neu, die

Situation, Handlungsmöglichkeiten und Handlungsweisen des adoleszenten

Soldaten kritischer und vor dem Hintergrund des Holocausts literarisch zu gestalten. So ist es für Noack auch nur aus der Perspektive des auktorialen

Erzählers möglich, dem Jugendlichen die Handlungsweise der Protagonisten im komplexen Interaktionsmodell Krieg und Nationalsozialismus zu verdeutlichen.

Bewertungsmuster müssen dem Jugendlichen, und hier setzt sich Noack deutlich von Seiffert ab, als Hilfestellung angeboten werden, da ersterer nach Noacks

Einschätzung noch nicht über den notwendigen Erfahrungsschatz und

Beurteilungsfähigkeiten verfügt.

Wir begegnen, wie in den Werken der 60er und 70er Jahre, auch bei Noack den

Personengruppen des Mitläufers, des Oppositionellen und des fanatischen

Angehörigen des Nationalsozialismus. In der Familie Weber ist es Karl-Heinz,

401 Noack. S. 5 402 vgl. Noack. S. 7-15 215 dessen Werdegang von Noack von der Hitlerjugend zur Wehrmacht nachgezeichnet wird und der zunächst der Kategorie “fanatischer Anhänger” zuzuordnen ist.

So zeigen sich bei Karl Heinz in der Abkopplung von der Familie die Folgen der

Indoktrination durch die Nationalsozialisten. Noack zeigt hier den begrenzten

Einfluss der Sozialisation des Jugendlichen durch das Elternhaus:

aber es war als wüchse er aus der Familie hinaus, je mehr er in die

Hitler-Jugend hineinwuchs. Der Zwölfjährige wurde dem Bild immer

fremder, das seine Eltern sich von ihm nach gemacht hatten. Er

brachte Gedanken mit heim, die ihnen unglaublich erschienen, und

hatte für die Einwände seines Vaters nur geringschätziges Lächeln

übrig.403

Trotz physischer Anstrengung sieht er den Dienst in der Hitlerjugend als

„persönliche Herausforderung”404, welche auch der Befriedigung des narzisstischen Selbstdarstellungsbedürfnis dient: “Erst kürzlich hatte sie [die

Mutter Anmerkung des Autors] beobachtet, wie er vor dem Spiegel gestanden und versucht hatte, der grünen Führerschnur von der Schulter zur Brusttasche einen recht gefällige Schwung zu geben […]. Er achtete auf sein Äußeres, und Schuhe

403 Noack. S. 45 404 vgl. Noack. S. 97-98 216 und Koppel blitzten nur so.”405 Auch zeigt sich bei Karl-Heinz, wie bei den

Protagonisten in den anderen von uns behandelten Werken, eine romantische

Auffassung von Krieg und Tod406 sowie der bedingungslose Glaube an den

Nationalsozialismus: “»Ich bin Jungvolkführer und ich habe nichts für Leute übrig, die gegen den Führer sind […. Der Führer hat immer recht. « [Hervorhebung durch den Autor.”407

Wie weit Karl-Heinz bereits das nationalsozialistische Gedankengut internalisiert hat, wird deutlich, als er seinen Vater bei der Herstellung illegaler Flugblätter

überrascht, und letzteren nur deshalb nicht anzeigt, weil er für sich persönliche

Nachteile erwartet: “Solchen Wisch musste man abgebe. Aber dann musste man auch erkläre, woher er stammte. Und er konnte doch nicht sagen: »Hier, das habe ich in unserer Bodenkammer gefunden. Mein Vater zieht die Dinger ab.« Er hätte sich ja schämen müssen [Hervorhebung durch den Autor].”408

Doch der Protagonist Karl-Heinz zeigt als literarische Figur interessante Parallelen zu dem Protagonisten Patzik im Werke von Dietrich Seiffert auf, da sich auch dieser durch die unreflektierte Adaption der nationalsozialistischen

Rassenideologie auszeichnet, wie sich dieses in einem Gespräch zwischen

Karl-Heinz und seinem Vater manifestiert: “»Nachdem jetzt mit den Juden

405 Noack. S. 128 406 Noack. S. 99 407 Noack. S. 130 408 Noack. S. 106 217 aufgeräumt worden ist, kommen auch andere Reaktionäre an die Reihe […] Du hast doch oft genug erzählt, dass er ein Judenfreund ist […].«”409

Im Gegensatz zu den anderen im Rahmen dieser Untersuchung behandelten

Werken thematisiert Noack mit dem Fokus auf dem Protagonisten Karl-Heinz die

Verbrechen der Wehrmacht und demonstriert dem adoleszenten Rezipienten auf diese Weise, wie sich der Handlungsspielraum für den jugendlichen

Handlungsträger als Angehöriger der Wehrmacht darstellte.

Bei der Bewachung von Lkws in Polen stellt Karl-Heinz einen zwölfjährigen polnischen Jungen, der offensichtlich aus Hunger Brot aus den Beständen der

Wehrmacht stehlen wollte: “»Pan, Soldat, Hunger!« Eine Kinderstimme voller

Angst […]»Nix Partisan, Pan, Soldat … Hunger … Brot … Nix schießen«. Die

Angst ließ die Worte sprudeln.”410

Karl-Heinz spürt für einen Augenblick Mitleid mit dem Jungen und ist unentschlossen, wie er handeln soll:

Karl-Heinz war ärgerlich, weil es ihm nicht gelingen wollte,

einen Entschluss zu fassen. Alles war klar: Der Junge hatte

Brot zu stehlen versucht […] Der Lastwagen hatte Munition

geladen. Umso schlimmer! Was gab es da zu überlegen?

Der Befehl war eindeutig, und ein Soldat hat keine andere

409 Noack. S. 129 410 Noack. S. 210 218 andere Aufgabe, als Befehle gewissenhaft auszuführen.411

Doch abgesehen von dem bei dem Protagonisten noch besonders ausgeprägten

Konzepts des unbedingten Gehorsams sind es egoistische Motive, die den

Ausschlag dafür geben, dass Karl-Heinz den Jungen an den Wachvorgesetzen ausliefert, und nicht, wie ein Obergefreiter vorschlägt, laufen lässt: die Angst vor

Repressalien und Karrierenachteilen in der Wehrmacht:

Noch einmal schwankte Karl-Heinz. Aber dann fiel ihm

ein, dass sein Wachvergehen jetzt einen Mitwisser hatte.

Der Obergefreite brauchte nur ein unvorsichtiges Wort zu

sagen, dann war es aus mit der Beförderung zum Unteroffizier

und mit dem Reserveoffizierslehrgang. Vielleicht war dann über-

haupt alles aus. Der Kompaniechef war scharf, und es kam ihm

sicher nicht darauf an, einen kleinen Gefreiten wegen

Wachvergehens vor das Kriegsgericht zu bringen.412

Aber hier irrt der adoleszente Protagonist. Der Kompaniechef legt wider Erwarten ein sehr humanes Verhalten im Umgang mit dem jungen Gefangenen an den Tag, was die Frage für den Rezipienten aufwirft, ob Karl-Heinz den kleinen Jungen doch nicht hätte laufen lassen können: “Vielleicht war der Kompanieführer doch

411 Noack. S. 211 412 Noack. S. 212 219 nicht so scharf, wie man meinte […]. Er bekam sogar heraus, dass der kindliche

Gefangene Zbigenew hieß und im nächsten Monat dreizehn Jahre alt wurde.”413

Als der kleine polnische Junge von der Wehrmacht als vermeintlicher Partisan exekutiert wird, versucht Karl-Heinz sich, offensichtlich vergebens, einzureden, dass er selbst keinen Handlungsspielraum gehabt und dass ein Befehlsnotstand bestanden habe, was aber misslingt: “Er hätte sich gern davon überzeugt, dass er nicht anders handeln konnte. Was sollte wohl aus einem Heer werden, in dem jeder Gefreite meint selbst entscheiden zu dürfen?”414

Doch unser Protagonist erfährt noch mehr von dem wahren Gesicht des nationalsozialististischen Deutschlands und auch dieses ist ein Novum im

Vergleich zu den behandelten Büchern der vorangegangenen Jahrzehnte.

Karl-Heinz wird 1944 in einer Kaserne in der Nähe des Konzentrationslagers

Buchenwald Zeuge der unmenschlichen Behandlung der Insassen, welches in ihm die Vorahnung des Holocausts aufkommen lässt:

Karl-Heinz legte die Stirn gegen die Fensterscheibe und

sah die stumme Menschenmenge vorüberkriechen. Welches

Schicksal denen bestimmt, die dort gingen, konnte kaum

zweifelhaft sein. Das Konzentrationslager Bergen-Belsen war

nicht groß. Unmöglich konnte es alle die Menschen aufnehmen,

die in voll gestopften Viehtransportwagen aus östlichen Lagern an-

413 Noack. S. 213 414 Noack. S. 214 220 kamen und dann hier entlanggetrieben wurden.415

Hier setzt jetzt der Prozess eines langsamen Umdenkens bei dem Protagonisten vom fanatischen Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie zum Kritiker ein:

Karl-Heinz Weber, Unteroffizier und Reserveoffiziersanwärter,

sah tausend Menschen, deren Leben nur noch nach Stunden zählte.

Und jeder erinnerte ihn an einen kleinen polnischen Jungen, der

Zbignew hieß und von dem er manchmal träumte.

Nach solchen Träumen schämte er sich, wenn er daran dachte,

dass er bald Offizier sein würde. Aber was taugt schon eine Scham,

die keine Taten weckt.416

Doch diese Tat sollte folgen. Karl-Heinz Weber befehligt im Frühjahr 1945 als frischgebackener Leutnant eine Gruppe von Volkssturmangehörigen, die vornehmlich aus alten Männern und Kindern besteht, und zur Verteidigung eines

“unwichtigen nordwestdeutschen Städtchens”417gegen amerikanische Panzer eingesetzt werden soll. Ein sinnloser und selbstmörderischer Einsatz, wie auch

Karl-Heinz erkennt:

Der Alte dort mit der verstümmelten Hand, der Junge mit den

415 Noack. S. 225 416 Noack. S. 226

221 ernsten Augen, der Kriegsverletzte – wozu standen sie hier?

Um zwei Schüsse aus der Panzerfaust abzugeben, mit der sie

noch nicht einmal umzugehen verstanden! War es nicht vielmehr

so, dass sie sich nach ein paar Kommandoworten in Marsch

setzen sollten auf ein einziges Ziel zu: auf den Tod? »Ohne Tritt

Marsch – zum Sterben?« Und der Leutnant Karl-Heinz Weber

würde vor ihnen hermarschieren oder neben ihnen herschlendern

wie die SS-Bewacher der Todeszüge in das Lager

Bergen-Belsen.418

Der Protagonist zeichnet sich nicht nur durch seine Introspektionsfähigkeit aus, er ist auch in der Lage, indem er eine Parallele zwischen seinem Verhalten und dem der KZ Wachmannschaften zieht, dem jugendlichen Rezipienten den verbrecherischen Charakter aller nationalsozialistischer Organisationen, sei es

Wehrmacht oder SS, zu zeigen und seinen Handlungsspielraum ohne Rücksicht auf persönliche Konsequenzen zu bewahren:

Da straffte er [Karl-Heinz - Anmerkung des Autors] sich, hob den

Kopf und sagte ruhig: »Geben Sie die Panzerfäuste wieder ab.

Gehen Sie nach Hause. Sie sind entlassen.« […] Der Mann mit dem

zerschossenen Knie kam herangehumpelt. »[…] Ich weiß, dass

417 Noack. S. 236 418 Noack. S. 236 222 Sie es gut meinen – aber Sie kommen doch vor ein Kriegs-

gericht. Man wird sie aufhängen, Herr Leutnant.« »Das ist

meine Sache. « Der Gefreite meldete: »Alles aufgeladen!«

»Kommen Sie mit?« »Wohin?« »In Gefangenschaft. Zum Ami. Sie

brauchen nicht. Sie können mich auch festnehmen. Dazu sind sie

sogar verpflichtet. Was ich Ihnen rate ist Fahnenflucht […] Mir ist

eben aufgefallen, dass ich mich nicht dazu eigne, Menschen auf die

Schlachtbank zu führen.«419

Diese Aussage setzt Noacks Werk deutlich von den in dieser Untersuchung behandelten Werken ab. Die Motivationsfaktoren, die den Jugendlichen zur freiwilligen Kriegsteilnahme animierten, werden in sehr ähnlichem Muster wie in den Schriften der vorangegangenen Generationen geschildert. Neu ist jedoch, dass die Erfahrungen, die von dem Jugendlichen Protagonisten im Krieg, und hierzu gehört gerade der eugentische Aspekt der nationalsozialistischen

Kriegsführung, gemacht werden, nicht nur den Anstoß zum Nachdenken geben, sondern gerade, dass Handlungsspielräume erkannt und genutzt werden. Die

Angst um das eigene Leben tritt zurück, der Selbstvorwurf, nicht früher gehandelt zu haben, bleibt: “Zu spät, dachte er [Karl-Keinz – Anmerkung des Autors]. Der kleine Pole könnte heute noch leben.”420

419 Noack. S. 239 420 Noack. S. 240 223 Noack durchbricht mit seinem Werk das in der Kinder- und Jugendliteratur bis dato vorherrschende Konzept der Omnipotenz des Nationalsozialismus, welche die

Rolle des adoleszenten Kriegsteilnehmer ausschließlich auf die des Opfers beschränkt.

Zweifelsohne idealisiert Noack hier die Handlungsweise seines Protagonisten, der sich vom fanatischen Anhänger, von einem Saulus, zu einem Widerständler, einem Paulus, wandelt. Noack hatte während seiner Zeit als adoleszenter Soldat selbst hatte keinen Widerstand gegen das Regime geleistet,421 welches auch durch sein Vorwort reflektiert wird: “Die Geschichte soll uns zum Nachdenken veranlassen, nicht zum Verurteilen.”422

In diesem Zusammenhang sei auf einen Film und die dazugehörige Autobiografie verwiesen, welches zwar per definitionem nicht in die Reihe der von uns behandelten Werk aufgenommen werden kann, aber einen höchst interessanten

Beitrag zu unserer Diskussion über Motivation Jugendlicher, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, sowie hinsichtlich der Korruption des Jugendlichen durch das nationalsozialistische Regime leistet

Es handelt sich hierbei um den 1991 unter der Regie von Agnieszka Holland erschienenen Film Europa Europa, der die wahre Geschichte des jüdischen

Jungen Solomon Perel erzählt, der den Holocaust nur durch die Verbergung seiner wahren Identität in den Reihen seiner Feinde, d.h. in Hitlerjugend und

Wehrmacht, überlebt. Im gleichen Jahr schrieb Perel seine Autobiografie, die im

421 Noack geriet 1944 in Kriegsgefangenschaft 422 Noack. S. 5 224 Französischen ebenfalls unter dem Titel Europa, Europa erschien und zwei Jahre später als deutsche Übersetzung unter dem Titel Ich war Hitlerjunge Salomon in

Deutschland publiziert wurde.

Nach einer odysseegleichen Flucht aus Deutschland nach Polen wird Perel von

Angehörigen der deutschen Wehrmacht gestellt und läuft Gefahr, als Jude identifiziert und damit hingerichtet zu werden:423

Man flüsterte einander zu, dass die Wehrmacht Juden und

Politkommissare der Roten Armee nicht, wie nach dem

Kriegsrecht üblich, in Gefangenlager brächte, sondern sie

in den nächstgelegenen Wald trieb und dort erschießen

würde [...]. Der Mann mit dem Koppel schrie mich an

>>Hände hoch!<< Ich war an die Reihe gekommen. Ein

paar Sekunden lang, vielleicht die letzten meines Lebens,

dachte ich an Vater und Mutter [...] an meinen unbändigen

Lebenswillen [Hervorhebung durch den Autor].424

Diese Angst vor dem Tode führen dazu, dass sich Perel als Volksdeutscher aus ausgibt, seiner Hinrichtung entgeht und zunächst als ‚Hilfswilliger’, i.e.

423 Es ist aufschlussreich, dass in Perels Autobiografie Wehrmachtssoldaten und nicht etwa Angehörige des Sicherheitsdienstes (SD) oder der Polizei Erschießungen an Juden durchführen, ein Aspekt, der uns schon im Zusammenhang mit der Reetsma-Austellung und der in ihr thematisierten Beteilung der Wehrmacht am Holocaust beschäftigt hat. 424 Perel. S. 26 225 Dolmetscher, in die Reihen der Wehrmacht eingegliedert wird. Dieser

Selbsterhaltungstrieb, allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen, begegnete uns schon als Argument der Autoren für systemkonformes Verhalten in den anderen von uns besprochenen Werken. Hier war die Ursache der Lebensgefahr jedoch nicht, wie bei Perel in der Zugehörigkeit einer Glaubensgemeinschaft zu sehen, sondern basierte auf der individuellen Entscheidung den von den

Jugendlichen allerdings in verschiedenem Maße empfundenen

Handlungsspielraum zum Widerstand zu nutzen und damit Sanktionen gegen das eigene Leben bewusst in Kauf zu nehmen. Gerade bei Noack kommt diesem

Handlungsspielraum, wie wir gesehen haben, eine bedeutsame Rolle zu.

Bei Perel erweist sich dieser Selbsterhaltungstrieb so stark, dass er mit der eigenen Identität konfligiert:

Und wenn ich jetzt da bin und diese Geschichte erzählen kann, so

nur, weil ich gelernt hatte, mich wie sie aufzuführen und ohne Zögern

meine Nazirolle zu spielen. Ich habe mich ganz und gar meinem

Selbsterhaltungstrieb überlassen [...]. Mein wahres >>Ich<<

verdrängte ich nach und nach. Es konnte vorkommen, dass ich

sogar >>vergaß<<, dass ich Jude war.425

Diese Transformation zum nationalsozialistischen Krieger wird allerdings noch durch weitere, uns bereits bekannte Faktoren jenseits des Selbsterhaltungstriebes

226 beeinflusst, die wenigstens zu einer partiellen Identifizierung des Jugendlichen mit dem nationalsozialistischen Regime und damit zu dessen Motivation, dieses zu verteidigen, maßgeblich beitragen. Gerade hier ist es sehr interessant festzustellen, dass den Manipulationstechniken des Dritten Reiches selbst bei einem Jugendlichen, der allen Grund hat, das nationalsozialistische Regime aus tiefstem Herzen zu verabscheuen, zu einem nicht unerheblichen Maße Erfolg beschieden ist.

Zum einen ist es der jugendliche Narzissmus, das Wesen der Uniform, die eine

Attraktivität und Identifizierungsmöglichkeit mit dem Regime bietet und überdies das eigene Selbstdarstellungsbedürfnis befriedigt, wie wir ihn u.a. in Noacks Werk kennengelernt haben:

Nur – er [Karl-Heinz – Anmerkung des Autors] wurde dabei vielleicht

ein wenig eitel. Erst kurz hatte sie [die Mutter – Anmerkung des

Autors] beobachtet, wie er vor dem Spiegel gestanden und versucht

hatte, der grünen Führerschnur einen recht gefälligen Schwung zu

geben [...]. Er achtete auf sein Äußeres, und Schule und Koppel

blitzten nur so.426

Aber auch bei Perel verfehlte die Paraphenalia des Dritten Reiches nicht ihre

Wirkung: „Beladen mit Sachen, die Eigentum des Dritten Reiches waren, kehrte

425 Perel. S. 62 426Noack. S. 128 227 ich in mein Zimmer zurück [...]. Brennende Neugier trieb mich, sofort in meine

Uniform zu schlüpfen. Ich wollte mich im Spiegel betrachten, wollte ich Jupp begrüßen, den Neuling in der Hitlerjugend begrüßen, den Neuling in der

Hitlerjungend.“427 Peter Schulman tituliert diesen Narzismus als Narzismus des

Schreckens: “Il [Perel – Anmerkung des Autors] se transforme en une variante de

Narcisse où le miroir tue non parce que le spectateur est moureux de ce qu’il voit mais parce qu’il en est terrifié.“428 Doch lässt ein Blick auf die Verhaltensweise

Perels erkennen, dass er das Tragen seiner HJ-Uniform auch deutlich positive

Züge abgewinnen kann :

Gedankenversunken meinen Erinnerungen hingegeben wie ich

war, hätte ich beinahe ein anmutiges junges Mädchen übersehen,

das neben mir stehen blieb. Sie schaute erstaunt meine schwarze

Uniform an, ein verführerisches Lächeln auf den Lippen [...] Mein

plötzlicher Hochmut und die Tatsache, daß ich mich vor diesem

Mädchen in die Brust werfen konnte, machten mir etwas warm ums

Herz.429

427 Perel. S. 78-108 428 Schulman. S. 22

228 Jedoch bleibt es auch bei Perel nicht bei der äußeren Anpassung an seine Feinde, er beginnt auch, deren Gedankengut zu internalisieren:

Ich dachte: >>Natürlich, alles Nazi-Vokabular!<< Ich wusste in

diesem Moment nicht, dass ich diesselben Begriffe in den folgenden

drei Jahren lernen und lehren würde....<< [...]

Aber auch ich fühlte, wie ich mich allmählich in den

Schlingen dieser vollkommenen >>Wissenschaft<< verfing, zu-

mindestens was manche Aspekte betraf. So leuchtete mir schließ-

lich ein, daß ein höherstehendes Volk ein Recht auf Oberherr-

schaft habe, oder dass man erbkranken Nachwuchs durch das

Fortpflanzungsverbot, das man den Schwachen auferlegte, zu

verhindern versuchte, damit ein gesundes, tüchtiges Volk heran-

wachsen könne. Daß ich dieser Ideologie anhing, rief in mir weder

Zweifel noch Erstaunen hervor. Salomon entschwand Jupp [die

„arische“ Hälfte – Anmerkung des Autors] zunehmend aus dem

Gedächtnis [Hervorhebung durch den Autor].430

Bis zu welchem Maße diese Indoktrination ihre Früchte bei Perel trägt, mag an dem folgenden Textauszug deutlich werden:

429 Perel. S. 159-160 430 Perel. S. 105 229 In diesen Hallen trafen wir [Perel und seine ‚Kameraden’ –

Anmerkung des Autors] auch auf holländische, belgische,

und französische >>Gastarbeiter<<, ebenso auf Zwangs-

arbeiter, die vor allem aus Polen kamen [...]. Weder die

einen noch die anderen fanden unsere Beachtung. Wie wir

ja überhaupt alles verachteten, was >>fremd<< schien

[Hervorhebung durch den Autor].431

Doch auch die Sehnsucht nach menschlicher Wärme, nach Freundschaft, eine von den Soldaten gemeinsam empfundene Verbundenheit mit dem Schicksal, insbesondere wie sich diese in der Frontkameradschaft manifestiert, zeigt, dass ein wesentlicher Anteil der Motivation für den Jugendlichen und sicherlich auch für den erwachsenen Soldaten, in den Reihen der Wehrmacht zu verbleiben und weiterzukämpfen, mit den persönlichen Bindungen zusammenhängt. Dieses

Konzept, welches wir schon im Zusammenhang mit der von Erich Maria

Remarques Werk Im Westen nichts Neues angesprochen haben, ist uns in seiner besonderen Bedeutung für den regimekritischen Jugendlichen erstmals in

Verbindung mit der literarischen Gestaltung der Gruppe der oppositionellen adoleszenten Protagonisten in den Werken der 60er und 70er Jahre begegnet und manifestiert sich auch in Perels Verhalten:

Es war mir ein besonderes Bedürfnis, auf irgendeine Weise mit

230 diesen Männern, die ja eigentlich meine Todfeinde hätten sein

müssen, in Verbindung bleiben; uns hatten die Fäden eines gemein-

samen Schicksals zusammengehalten. Ihre ständige Sorge um mein

Wohlergehen und die Gefahr, gemeinsam und auf ewig in fremder

Erde zu ruhen, verbanden mich mit ihnen. Vor allem aber hatte sich

Salomon inzwischen in Josef, den Hitlerjungen, verwandelt [...]

Ich haßte dieses Regime und lehnte es völlig ab, bewahrte diesen

Männern aber meine Zuneigung. Diesseits meiner inbrünstigen

Gebete um ihre prompte Niederlage [...] empfand ich eine Art

merkwürdige Anhänglichkeit [...]. 432

So verwundert es dann auch nicht, dass Perel sich, wie alle anderen Hitlerjungen, im Angesicht des Zusammenbruchs Deutschlands beim Volkssturm meldet, um wiederum dem Dritten Reich als Soldat zu dienen: „Wir schlossen uns dem

Volkssturm an [...]. Endlich bekamen wir eine Waffe in die Hand [...]. Meine

Erfahrung brachte mir die Ernennung zum Zugführer ein.“433

Signifikanterweise lässt schon die durch Perel verwandte erste Person Plural eine

Identifizierung mit den anderen Hitlerjungen erahnen und, obwohl Perel mit dem

Vorsatz ernst macht, nicht gegen den ‚Feind’ zu kämpfen, desertiert er nicht, sondern lässt sich mit seinen nicht-jüdischen ,Kameraden’ widerstandslos von den

Alliierten gefangen nehmen: „Aber warum kroch ich nicht aus meiner Schale

431 Perel. S. 109 432 Perel. S. 90-91

231 heraus bei dem neuen Wind, der wehte? Trübsinnig blieb ich hocken, verwirrt und ohnmächtig. Ich weiß nicht, welche seelische Verfassung mich damals daran gehindert hat, aufzustehen und das Weite zu suchen.“434

Die unter der Regie von Agnieszka Holland entstandene Filmversion nimmt ein etwas dramatischeres Ende. Perel nutzt hier seinen Handlungsspielraum aus und desertiert bewusst von seiner Einheit, wobei er von den ,Kameraden’ bei dem

Versuch, zu den Russen überzulaufen, unter Beschuss genommen wird. Doch ist davon auszugehen, dass Perel in seinen Memoiren eine authentische

Beschreibung der Geschehnisse liefert und dass die bewusste

Widerstandshandlung, wie im Falle von Noack, der auch selbst keinen Widerstand geleistet hat, seinen Protagonisten aber diesen Akt ausführen lässt, nur als Fiktion weiterlebt.

Somit zeigt Perel im Zusammenhang mit der von uns eingangs gestellten Frage, wie die Autoren der behandelten Werke die Motivation der Jugendlichen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, porträtieren, deutlich die

Schwierigkeiten der Realisierung eines nicht-systemkonformen Verhaltens.

Anders ausgedrückt: Wenn es schon dem jüdischen Jugendlichen nicht möglich war, sich der nationalsozialistischen Indoktrination oder gruppendynamischen

Prozessen zu widersetzen, wie viel schwerer musste es dann für einen durchschnittlichen deutschen nicht-jüdischen Jugendlichen sein, seinen

Handlungsspielraum als Wehrmachtssoldat zu erkennen oder zu nutzen?

433 Perel. S. 176 434 Perel. S. 176 232 Einen vollkommen anderen Ansatz in der literarischen Gestaltung des Aspektes

Motivation des Jugendlichen unternimmt der Autor Klas Ewert Everyn, Jahrgang

1930, der als Hitlerjunge und 14-jähriger Soldat am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte, mit seinem Jugendbuch Damals, da war richtig was los, welches 1996 auf dem deutschen Buchmarkt erschien.

Everwyn erhielt für seine historischen Jugendroman Der Kleine Tambour und der große Krieg (1987) sowie für sein Werk Für fremde Kaiser und kein Vaterland

(1986) den Jugendliteraturpreis. In der Erwachsenenliteratur wurde er durch den

Roman Der Dormagener Störfall (1996) bekannt.

“L’enfance- la figure de la pureté et de l’imagination” ein neuer Weg in der

Produktionssästhetik

Jetzt war er tot, und er lag auf dem Rücken im Stroh,

damit wir ihn nicht sehen konnten, den zerfetzten

Rücken, zerfetzt von zwölf Schuß aus einem doppel-

läufigen Maschinengewehr. Den hatte man ihm nicht mehr

ausziehen können, wie es Ihnen mit der zerfetzten Winter-

bluse geglückt war. Ich sagte zu Herbert: >>Ob wohl alle

Toten so komisch aussehen wie Manni?<<

>>Nee<<, sagte er, >>glaub ich nicht. Manni ist schon’ne

Nummer für sich. Wenn der sich jetzt sehen könnte, würde

233 er sich auch komisch finden.<<435

Nach der Lektüre dieses Ausschnitts aus Everwyns Jugendbuch Damals, da war richtig was los, der die Diskussion zweier jugendlicher Wehrmachtsangehöriger beim Anblick ihres tödlich verunglückten Kameraden wiedergibt, drängt sich nicht nur die Frage danach, ob der Autor den ernsthaften Versuch unternimmt, als

Motivation der Jugendlichen, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, Infantilität zu propagieren, sondern auch nach der Legitimität der

Verwendung humoristischer Mittel im Zusammenhang mit der Behandlung des

Themas Nationalsozialismus oder gar des Holocausts auf. Erinnern wir uns zunächst an den Beginn dieser Entwicklung, die 1940 mit Charlie Chaplins The

Great Dictator, einer Persiflage auf die nationalsozialistische Diktator, einsetzte und mit Ernst Lubitschs Film To Be or Not To Be 1942 ihre Fortsetzung fand.436 So flimmerte seit 1965 die Slapstick-Fernsehserie “Hogan Heroes”, in Deutschland unter dem Namen “Ein Käfig voller Helden“ bekannt, über amerikanische und deutsche Bildschirme.

Im STALAG 13, einem deutschen Kriegsgefangenenlager unter der Leitung des unterbemittelten deutschen Oberst Klinck und des bajuvarischen Feldwebels

Schultz, machen die Alliierten Kriegsgefangenen die deutschen “Bewacher” lächerlich und üben die tatsächliche Kontrolle über das Kriegsgefangenenlager aus, wobei ihre Hauptbeschäftigung Ausbruchsversuche und Sabotageakte sind,

435 Ewerwyn. S. 24 436 vgl. „Sein oder unverfroren sein. Alais Resnais verfilmt ‘On connâit la chanson.” 234 die von den Deutschen selbstverständlich nicht durchschaut werden. Auch die eingangs von Jost Hermand erwähnten schwankhaften, pikarischen oder grotesken Darstellungen des Zweiten Weltkriegs in der deutschen Literatur der

50er Jahre, bei denen Krieg und die nationalsozialistische Herrschaft an der

Peripherie der Handlung bleiben, fallen in diese Kategorie :“Was dominiert, ist die

Typik des Kasernenhofes, während von >>Schuld<< kaum gesprochen wird.“437

In den 90er Jahren wird diese Entwicklung, allerdings unter anderen Vorzeichen, fortgeführt. 1997 feiert der italienischen Regisseurs Roberto Benigni mit seinem

Film La vita e bella, auf dessen Höhepunkt ein Vater seinem kleinen Sohn versucht, den Aufenthalt im Konzentrationslager als eine Art Spiel zu vermitteln und so vor dem Zugriff der tödlichen Realität zu bewahren, einen großen Erfolg auf europäischen sowie ein Jahr später auf amerikanischen Leinwänden,438 und erhält hierfür den Großen Preis der Jury in Cannes sowie mehrere Ehrungen in

Israel.439

Benigni rührt aber noch an einem anderen Tabu: Nicht nur wagt er sich an die

Darstellung des Holocausts mit Mitteln des literarischen Humors, ein bis dato unerhörtes Unterfangen, sondern er fügt auch noch das Entwicklungsstadium der

Kindheit bzw. Jugend in diese Gleichung ein.

Wir haben hier in zwei Werke von Autoren, die aus vollkommen unterschiedlichen

Blickwinkeln und Beweggründen gleiche Konzepte, wie kindliche Naivität, Humor,

Unschuld und Phantasie vor dem Hintergrund des Dritten Reiches thematisieren.

437 Hermand. S. 37 438 vgl. “Mit Humor der Vernichtung entgegen.”

235 Dieser Kontrast soll uns bei der Beantwortung der Frage dienlich sein, auf welche

Weise Everwyn dem jugendlichen Rezipienten, die Motivation seiner sich in den

Reihen der Wehrmacht befindlichen Altersgenossen, für das nationalsozialistische

Deutschland zu kämpfen, literarisch zu vermitteln versucht.

Betrachten wir zunächst jedoch zwei Rezensionen zu Benignis Film etwas näher.

In der französischen Zeitung La Tribune heißt es hierzu:

Comment dire, en effet, la Shoah aujourd’hui, après Lanzmann,

Renais, Spielberg et Primo Levi? Benigni en a fait une fable, un jeu

d’enfants, irréel, tragique, et bouleversant. Est-ce la raison pour

laquelle l’entreprise surprend? ‘Sans doute,’ répond Pascal

Merigeau dans le Nouvel Observateur: parce que c’est une comédie,

la vie est belle proposée d’oublier l’Holocaust et d’évacuer le

traumatisme […] Jorge Semprun reconnaît […]

Que le film de Benigni est toujours sur le fil de rasoir, mais que

le pari est réussi.’ Il n’y a pas […] une seule image qui puisse

être utilisée par les révisionnistes. Le film montre bien l’épuisement

des déportés, les brutalités des SS et laisse deviner l’extermination.

Mais la trouvaille, c’est la présence de l’enfant. Son innocence

[Hervorhebung durch den Autor]. 440

439 vgl. Gregoria 440 “La vita e bella.” 236 Das Gräuel des Holocausts vergessen machen, das Trauma ausblenden und das

Kind mit dem Mittel des Humors und der Phantasie vor dem Grauen bewahren –

Roberto Benigni spezifiziert diese Bedeutung des Spiels in Verbindung mit der

Unschuld eines Kindes in einem Interview mit Marie Noelle Tranchant:

[Benigni] Le grand poète Mandelstam dit cela: dans les lieux des

pires, évoquer les choses les plus hautes.

[Tranchant] Pour vous, c’est l’enfance?

[Benigni] Oui, l’enfance est la plus grande chose du monde parce

que c’est la figure de la pureté et de l’imagination, les deux choses

essentielles à sauver. Dans le film, il y a l’enfant, mais moi aussi,

son père, je suis un enfant, parce que je lui fais traverser toute l’

horreur avec son propre langage, qui est celui de jeu [Heraushebung

durch Autor]. Je suis un enfant parce que je crois à la liberté, à la joie

de vivre, à l’innocence. Plusieurs psychoanalystes m’ont dit que

c’était la première fois qu’ils voyaient représenter le ‘modèle’ du

père.

[Tranchant] Et ce dénouement de conte merveilleux, ou le miracle

s’accompli, que représente-t-il pour vous ?

237 [Benigni] La réalité. Ce n’est pas une fantaisie, pas une invention

abstraite, mais le conséquence même de l’histoire: l’amour et

l’imagination nous sauvent.441

Benigni beschreibt hier die Kindheit als Zeit der Unschuld, der Naivität, die es mittels eines Appells an die Phantasie des Kindes auch in der Zeit des Grauens zu bewahren gilt. Mittels der Vorstellungskraft bewältigt das Kind den Schrecken der

Shoah als Spiel, als Nicht-Realität. Bei Benigni ist es der Vater, der mittels der

Sprache diesen Schrecken, die Wirklichkeit für den Sohn in ein Spiel zu transformieren.

Somit erweisen sich Unschuld und Naivität als Schutzmechanismen, mit denen, laut Benigni, das Kind den damaligen Zeitereignissen begegnet, begegnen muss, um nicht psychischen Schaden zu nehmen, wobei uns die literarische Darstellung dieses Vorgangs – aus der Erwachsenenperspektive – befremdlich erscheinen muss.

Die Verwendung eines sehr ähnlichen Ansatzes durch Everwyn in seinem Werk gestaltet sich als sehr problematisch und muss, wie wir sehen werden, zum

Widerspruch herausfordern.

Zum einen ist es sicherlich der sehr diffizil, grundsätzlich die Situation eines

Kindes im Konzentrationslager mit der eines Adoleszenten in der Hitlerjugend oder der Wehrmacht zu vergleichen. Gerade dieses jedoch versucht Everwyn, da sein

Werk eindeutige Parallelen zu Beningnis Film, insbesondere was den

441 Everwyn. S. 8 238 Entwicklungsstand der Protagonisten, und die damit verbundene Aussage über die mögliche Rezeptionsmethodik des Kindes bzw. Jugendlichen hinsichtlich des

Erlebten angeht. So ist das erste Kapitel von Ewerwyns Jugendbuch signifikanter als “Unsere Spiele” überschrieben. Es ist offensichtlich, dass der Ich-Erzähler die

Kriegsrealität, insbesondere was den Handlungszeitraum vor seinem Eintritt in die

Wehrmacht angeht, als ein Spiel wahr nimmt, welches sich auch sprachlich durch die von dem Erzähler in auffällige Wiederholung verwandten Begriffes “Spiel” und seiner Synonyme und Hyponyme, wie auch von Begriffen die den “Spielcharakter” des Krieges betonen, manifestiert:

Das waren unsere Spiele. Sie waren alle gleich und liefen

darauf hinaus, den Tätigkeiten der Soldaten möglichst

ähnlich zu sein […] Einmal war Fliegeralarm, und es schien

als würden alle Erwachsenen verrückt. Es passierte rein gar

nichts, aber ich mußte in den Luftschutzkeller […] Ich hätte sie [die

Volksgasmaske – Anmerkung des Autors] gern einmal aufgesetzt,

den ich bekam sie sonst nicht zum Spielen […]. Im Winter

spielten wir noch einige Male Fliegeralarm, und nie war was

los […]. Da war ein Feldwebel, und er erzählte meinen Eltern,

Polen sei ein Kinderspiel gewesen, nun ginge der Tanz in Polen

los. Der Krieg war allem Augenschein nach eine lustige Sache,

aber für mich hatte er immer noch nicht stattgefunden. Wir spielten

239 jetzt viel mehr als sonst das Soldatenspiel […]. Sie [die

Erwachsenen – Anmerkung des Autors] lächelten […]. Das gab

unserem Spiel mächtigen Auftrieb, und wir versteigen uns zu immer

gewagteren Aktionen: saßen zuweilen in Bomberflugzeugen,

sprangen mit dem Fallschirm ab, gerieten in Gefangenschaft und

entflohen ihr bald wieder […]. Unser Krieg, wie wir ihn aufzogen,

der war schon in Ordnung, der ließ sich gut führen. Wie langweilig

mußte dagegen der der Erwachsenen sein, von dem wir überhaupt

nichts mehr hörten. Er ging uns ja auch gar nichts an

[Hervorhebungen durch Autor].442

Everwyn zufolge spielten die Erwachsenen offensichtlich ihr eigenes Spiel, einen

“seltsamen Krieg”443, der so gar nicht in das Konzept des Kindes oder

Jugendlichen passen wollte und an dem letzterer scheinbar auch nicht beteiligt war. So ruft der Verlust eines Freundes durch einen Schießunfall, wie wir anhand des eingangs angeführten Zitats gesehen haben, bei den jugendlichen

Protagonisten nur humorige Reminiszenzen an den Verstorbenen hervor, die jeglichen Ernst, wie dieser von uns, i.e. dem erwachsenen Rezipienten, in dieser

Situation erwartet werden würde, vermissen lässt. Der Tod scheint für die

Jugendlichen nicht Teil der Realität zu sein, geschweige denn, einen abschreckenden Charakter zu besitzen. Der Verstorbene, Manni, scheint somit in

442 Everwyn. S. 7-9 443 Everwyn. S. 8 240 der Vorstellung der adoleszenten Handlungsträger auch in der Gegenwart noch präsent zu sein: “Wenn der [gemeint ist Manni – Anmerkung des Autors] sich jetzt sehen könnte, würde er sich auch komisch finden.”444

Dadurch, dass der Autor die Spannung zwischen erlebenden und erzählenden Ich aufhebt, ein Phänomen, das uns schon aus den behandelten Werken der vorangehenden Epochen bekannt ist, wird dem präsumtiven Leser das

Geschehen aus der Perspektive des jugendlichen erlebenden Ichs näher gebracht.

Man ist hier versucht anzunehmen, dass Everwyn hier das Postulat aufstellt, dass sich der Jugendliche selbst zum Schutz des eigenen Psyche vor der Realität sich, bewusst oder unbewusst vehement die aus seiner Kinderwelt entstammende

Naivität bewahrt und diese in den Krieg ‚hinüberrettet“, eine Zeit, in der diese

Unschuld durch die nationalsozialistischen Machthaber pervertiert wird. Hierfür spricht, dass der adoleszente Handlungsträger den Leser schon eingangs, wie wir gesehen haben, mit einer feststehenden durchaus positiven Vorstellung vom Krieg konfrontiert, einem Konzept, dem sich die Realität offenbar unterzuordnen hat.

Dieses erinnert uns wiederum an Piagets Theorie von der Egozentrik jugendlichen

Denkens: “Man hörte keine Kanonen, keine Maschinengewehre, keine Flugzeuge

[…] Vielleicht existierte er […] nur in den Köpfen der Erwachsenen.”445

Wird der Jugendliche von den Erwachsenen vorsätzlich in seinen naiven

Vorstellungen des Kriegs als Spiel unterstützt, und zwar nicht, um den

444 Everwyn. S. 24 445 Everwyn. S. 8 241 Jugendlichen, wie in Benignis Film zu schützen, sondern zu manipulieren und für den Krieg zu konditionieren, wie folgendes Textbeispiel suggeriert?

Wir spielten jetzt viel mehr als sonst das Soldatenspiel. Es hatte

nun auch endlich Einzug in unsere Straße gehalten, und wir lagen

alle Tage in den Hinterhöfen und beschossen uns gegenseitig mit

den Holzknüppeln, die unsere Maschinengewehr waren. Ihr Rattern

war im ganzen Häuserblock zu hören. Von den Balkonen aus sahen

uns die Erwachsenen zu. Sie lächelten, und einer meinte, das

machten wir schon ganz prima, wir würden bestimmt einmal gute

Soldaten.446

Eine derartige Vermutung lässt sich nicht von der Hand weisen, insbesondere wenn wir uns weitere sehr kindliche und spielerisch dominierte Verhalten des jugendlichen Hitlerjungen und später Soldaten angesichts des Krieges in

Everwyns Werk vergegenwärtigen, welches von den Erwachsenen unterstützt wird, wie folgendes Beispiel zeigt:

Ich freute mich über den Auftrag, das Reinigungsmaterial für

die Gewehre zu holen [...]. Als ich ging, schenkte er [ein Unter-

offizier – Anmerkung des Autors] einen Apfel, und ich setzte mich

auf den Leiterwagen, nahm die Deichsel zwischen die Beine und

242 ließ das Gefährt den Berg hinabrollen. Dabei aß ich den Apfel.447

Everwyn lässt keinerlei Zweifel daran, dass er den Jugendlichen eindeutig und ausschließlich in der Rolle des Opfers sieht:

Dort in der Gegend würde wohl Schluß sein: Gefangenschaft

oder etwas ähnliches. Ich dachte nicht darüber nach; in all

den zurückliegenden Jahren war uns das Denken abhanden

gekommen, mitunter sogar verboten worden. (>>Überlaßt

das Denken den Pferden, die haben einen größeren Kopf.<<)

Irgendwie würde es der Oberfeldwebel schon richten [Hervor-

hebung durch Autor].448

Unter Herausstellung der Unreife des Jugendlichen in Verbindung mit einem lapidaren Kommentar über die erfolgreiche Indoktrination des durch das

NS-Regime, versucht Everwyn den adoleszenten Soldaten als unselbstständiges, unkritisches und unmündiges Individuum darzustellen. Der Jugendliche scheint auf die Führung des Erwachsenen, des ‚Spielleiters’, angewiesen zu sein, ein

Konzept, dem Piagets Theorie von der kognitiven und affektiven Entwicklung in der Adoleszenz, in der sich der Jugendliche gerade durch den Versuch der

Abkopplung von den Erwachsenen auszeichnet, eindeutig widerspricht. Hier wird

446 Everwyn. S. 8 447 Everwyn. S. 19

243 der Versuch Everwyns deutlich, den adoleszenten Soldaten ausschließlich als verblendetes Opfer des Nationalsozialismus und verführten Spielball der

Erwachsenenwelt zu zeichnen. So erfolgt selbst die gegen Ende der Handlung erfolgte Desertion, die jegliche Legitimation aus dem von Everwyn gezeichneten

Psychogramm des Protagonisten vermissen lässt, nur aufgrund der Aufforderung eines (erwachsenen) Vorgesetzten:

Irgendwie würde es der Oberfeldwebel schon richten.

Er hielt mich auf der Dorfstraße an und fragte: >> Wohnst

Du nicht hier irgendwo in der Gegend?<<

>>Jawohl, Herr Oberfeldwebel.<<

>>Dann hau ab.<< [...] >> Jawohl, Herr Oberfeldwebel.<<449

Zum einen ist es sehr kontrovers, das Vorhandensein einer kindlichen Naivität unkritisch auch bei einem Jugendlichen anzunehmen, wie dieses bei Everwyns

Protagonist, spätestens beim Eintritt in die Wehrmacht der Fall ist.450

Everwyn setzt sich, und dieses unterscheidet ihn von den Autoren der vorangehenden Jahrzehnte, nicht kritisch mit weiteren Faktoren, die einen

Erklärungsansatz für die Motivation der Jugendlichen, am Krieg teilzunehmen,

448 Everwyn. S. 38 449 Everwyn. S. 38 450 Selbst wenn wir Everwyn in diesem Punkte folgen würden, so stellt sich die Frage, ob das Kind bzw. der Jugendliche nicht das Bedürfnis hat, hinter den

244 anbieten könnten, auseinander, sondern vermeidet entweder gänzlich, diese zu erwähnen oder beschränkt sich in seiner Darstellung auf die ausschließlich oberflächliche Andeutung weitere Beweggründe des Jugendlichen, wie Angst451 und Abenteuerlust452, um seine eigene Argumentation nicht zu gefährden oder gar zu widerlegen. Everwyn scheint offenbar nicht daran interessiert, dem zeitgenössischen jugendlichen Leser einen umfassenden Erklärungsansatz für das Verhalten des adoleszenten Soldaten während des Nationalsozialismus aufzuzeigen, wie dieses Noack verfolgt und wie wir es, in anderer Form, in der

Literatur der späten 40er und 50er Jahre gesehen haben.

Der Protagonist entledigt sich seiner Uniform wie einer Haut und sein Leben setzt sich fort, als wenn nichts geschehen wäre.453 Erklärungsansätze und ein

Verständnis, wie es zum eigenen Engagement hat kommen können, bleiben ausgespart:

Ich mußte nur noch aus den verdammten Uniformklamotten heraus.

Das sahen auch die Leute ein und so […] schlüpfte

ich in etwas abgetragene zivile [Kleider], die man mir brachte.

Danach sah ich tatsächlich wie ein fünfzehnjähriger Junge aus […]

Ich fühlte mich wie befreit. Ich hatte auch keine Angst […].Für

Vorhang des Spiels zu blicken. 451 vgl. Everwyn. S. 40 452 vgl. Everwyn. S.30 453 So nimmt auch im Buch von Ewerwyn die Zeit des Nationalsozialismus nur eine relative kleine Stellung ein, wohingegen der Schwerpunkt auf dem Leben im Nachkriegsdeutschland liegt. 245 mich war das alles wie ein großes Abenteuer.454

Everwyn liefert mit seinem ‚Jugendbuch: ein Meisterwerk apologetischer Literatur, wobei er alle Register zieht, um beim Rezipienten den Eindruck zu erwecken, dass es für ihn, den jugendlichen Wehrmachtssoldaten, keinerlei Handlungsspielraum gab. Dies kulmiliert in einer präventive Verteidigung gegen jeglichen mögliche

Frage nach persönlicher Verantwortung und dem damit verbundenen

Schuldvorwurf: Wir waren zu jung, zu erkennen, dass das, was wir machten, falsch war, wir haben unser Naivität angenommen, dass es sich um ein von den

Erwachsenen inszeniertes Spiel, ein Abenteuer handelte, in dem wir nur die

Figuren waren.

Fazit

Wie wir gesehen haben wird mit Ende der 70er Jahre ein neues Kapitel der nationalsozialistischen Vergangenheitsbewältigung eingeleitet. Die 1979 in

Deutschland ausgestrahlte amerikanische Fernsehserie Holocaust sowie das im gleichen Jahr erfolgte Urteil im Majdanek Prozess lassen die öffentliche

Diskussion über die nationalsozialistische Herrschaft wieder aufleben.

Mit der Wiedervereinigung und den in der Folge stattfindenden ausländerfeindlichen Anschlägen wird deutlich, dass die Vergangenheit in der

Bundesrepublik noch nicht erfolgreich ‚bewältigt’ wurde. Zeichen hierfür ist auch

454 Everwyn. S. 32 246 die wahre Flut in ihrem Inhalt größtenteils apologetische ,Erinnerungsliteratur’ ehemaliger Kriegsteilnehmer, die mit Beginn der 90er Jahre den deutschen

Büchermarkt überschwemmt. Mit der 1995 eröffnenden Wehrmachtsaustellung und dem im darauffolgenden Jahr auf dem deutschen Buchmark erscheinendem

Werk Hitler’s Willing Executioner des amerikanischen Historikers Daniel Jonah

Goldhagen wird überdies die Debatte um die Verwicklung der Wehrmacht in den

Holocaust sowie über individuelle Handlungsräume eröffnet, wobei hierbei auch das bis dato in der bundesrepublikanischen Gesellschaft verbreitete Bild von der

‚sauberen’ Wehrmacht zur Diskussion gestellt wurde.

Es zeigt sich, dass diese Sensibilisierung gegenüber dem Thema

Nationalsozialismus auch in der Kinder- und Jugendliteratur mit Beginn der 80er

Jahre seine Reflexion findet, wobei gerade die Themen Krieg, Widerstand und

Judenverfolgung im Vordergrund stehen. Wir haben festgestellt, dass der Grund für diesen Anstieg weniger im Leseinteresse der Jugendlichen besteht als in der

Intention der Jugendbuchautoren die nationalsozialistische Vergangenheit literarisch aufzuarbeiten, wobei Bücher, die die Teilnahme des Jugendlichen als

Angehöriger der Wehrmacht thematisieren, aufgrund einer verständlichen

Favorisierung der Beschäftigung mit dem Aufstieg, Beginn sowie der

Konsolidierungsphase des Dritten Reiches, kaum verlegt werden.

Diese Tendenz manifestiert sich, wie wir gesehen haben auch in Noacks Werk, welches, neben der Schilderung des eigentlichen Kriegseinsatzes der

Jugendlichen, die Protagonisten die Ereignisse der Jahre 1932-1939 durchleben lässt.

247 Schon mit der Wahl des auktorialen Erzählers setzt sich Noack in dem Versuch, dem jugendlichen Leser Bewertungsmuster an die Hand zu geben und diesem die

Zusammenhänge zwischen Nationalsozialismus, Wehrmacht und Holocaust zu erklären, von den behandelten Jugendbuchautoren der 60er und 70er Jahre ab.

Die von Noack unternommene Einteilung der Protagonisten in verschiedene

Gruppen, i. e. Mitläufer, Oppositioneller, Fanatiker, sowie die von ihm für die

Teilnahme der Jugendlichen am Kampf für das nationalsozialistische Deutschland angeführten Argumente, wie erfolgreiche Indoktrination, jugendlicher Narzissmus, oder das beim Jugendlichen vorherrschende romantisches Konzept des Kriegs, sind uns schon aus den Werken der vorangegangenen Jahrzehnten bekannt. Neu hingegen ist die von Noack im Zusammenhang mit der Hauptfigur thematisierte

Verbrechen der Wehrmacht sowie der sich für diesen eröffnende

Handlungsspielraum, die Möglichkeit zum Widerstand, die dieser Protagonist dann auch schließlich unter Gefährdung seines Lebens wahrnimmt. Ein in diesem

Zusammenhang unternommener Exkurs über Solomon Perels Autobiografie

Europa, Europa sowie die unter der Regie von Agnieszka Holland entstandene gleichnamige Filmversion zeigt uns aber auch zugleich, wie schwer es für einen

Jugendlichen sein musste, sich von der nationalsozialistischen Indoktrination und der Gruppendynamik zu entziehen, diesen besagten Handlungsspielraum zu erkennen oder ihn gar zu nutzen.

Einen vollkommenen anderen Ansatz verfolgt Klas Evert Everwyn, der mit seinem

Werk Damals, da war richtig was los ein Dependant zur der erwähnten apologetische ‚Erinnerungsberichte’ der Erwachsenenliteratur schafft. Everwyn

248 vermeidet geschickt mit der Argumentation, dass sein Protagonist, den Krieg als

Spiel und Abenteuer wahrnimmt, jegliche tiefere Analyse von Motivationsfaktoren, die den Jugendlichen dazu veranlasst haben könnten, für das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen. Dem Erwachsen kommt in diesem

Modell, in dem der Jugendliche in seiner vermeintlichen Unmündigkeit und Naivität als verführtes Opfer von Everwyn porträtiert wird, die Rolle eines Spielleiters zu.

Die Konsequenz dieser Darstellungsweise ist, dass Everwyn jegliche individuelle

Verantwortung des Jugendlichen negiert und ihn damit vor einem wie auch immer gearteten Schuldvorwurf freispricht.

Ausblick

Wie wir gerade im Zusammenhang mit der Diskussion um die Jugendbücher der neuesten Zeit gesehen haben, betrachten es die Jugendbuchautoren und

Jugendbuchkritiker als ihre Aufgabe und Verpflichtung, das Thema des Dritten

Reiches auch in der „künftigen Kinderliteratur“ zu thematisieren, um „Vergangenes vor dem Vergessen zu bewahren und so zu präsentieren, dass das Interesse der

Jüngeren geweckt wird, damit diese ähnliche Entwicklungen erkennen und verhindern können.“455

Die Problematik liegt jedoch in der Tatsache, dass ab Beginn der 80er Jahre wie

Ursula Kirchhoff feststellt, „das Dritte Reich kein Thema [mehr] ist, das die potentiellen Leserinnen und Leser unmittelbar interessiert.“456\

455Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 364 456 Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. S. 361 249 Ewers beschreibt diesen Themen- und Formenwandel wie folgt:

Man darf wohl mit Blick auf die jüngste Kinderliteratur-

entwicklung als ganzer von einer Lockerung der strengen

kinderliterarischen Grundsätze der 70er und frühen 80er Jahre

sprechen – eine zugegebenermaßen zweischneidige

Angelegenheit! [...] es ist die allzu unbedachte Rückkehr zu den

heilen Kinderbuchwelten der 50er und 60er Jahre [...]. Die hier

angesprochene Lockerung hat aber auch etwas Befreiendes an

sich: Für die 70er und frühen 80er Jahre waren zweifelsohne eine

Bevorzugung, wenn nicht gar Verabsolutierung ernster, problem-

beladener Kinderliteratur charakteristisch, wobei heitere bzw.

komische Formen verdächtigt und an den Rand gedrängt wurden

[...]. Die späten 60er und die 70er Jahre waren eine Zeit der Kon-

frontation, der heftigen Auseinandersetzungen, eine Zeit nicht

zuletzt der erbitterten Generationskonflikte [...]. Kennzeichnend für

die 80er Jahre ist demgegenüber eine Entdramatisierung des Ge-

nerationenkonfliktes, die nicht zuletzt daraus resultiert, dass wir

es jetzt mit einer ‚neuen’ älteren bzw. Eltern- und

Lehrergenerationen zu tun haben [...]. Die Kinderliteratur hat auf

250 diesen kulturellen Wandel mit einer Wiederentdeckung literarischer

Komik und komischer Literaturgattungen reagiert.457

Zugleich gerät aber, wir gesehen haben, nicht zuletzt durch die

Wehrmachtsaustellung das Bild von der sauberen Wehrmacht in der öffentlichen

Diskussion ins Wanken und die ehemaligen Kriegsteilnehmer sehen sich in

Erklärungsnot was das eigene Engagement angeht, wie das Erscheinen eines

Großteils der apologetischen Erlebnisliteratur suggeriert.

Das Dilemma des Jugendbuchautors ist zweifältig.

Zum einen ist die Zahl der Jugendbücher, die sich mit der Rolle der Jugendlichen als Angehörige der Wehrmacht auseinander setzen sowie das Interesse der

Verlage, Jugendbücher mit einem derartigen Themenschwerpunkt zu publizieren, rückläufig, welches mit dem schwindenen Interesse des jugendlichen Rezipienten an einem in immer weitere Ferne rückenden Abschnitt deutscher Geschichte zusammenhängt, wie Ewers feststellt: “Doch recht bald wird der neuen

Kinderliteratur gewahr, dass das Aufklärungsbedürfnis der Kinder sich in erster

Linie auf Probleme und Strukturen der eigenen Lebenswelt bezieht.“

Zum anderen ist der Autor mit der Problematik konfrontiert dem jugendlichen

Rezipienten eine Antwort auf die Frage nach der persönlichen Verantwortung der adoleszenten Kriegsteilnehmer zu offerieren. Zwar beschäftigen sich unsere

Autoren, wie wir gesehen haben, eingehend mir den verschiedenen Motiven der

457 Ewers. „Veränderte kindliche Lebenswelten ...“. S. 37

251 Jugendlichen, am nationalsozialistischen Krieg teilzunehmen und zeigen auf, wie gerade das Entwicklungsstadium der Adoleszenz den Jugendlichen, Gegner wie

Anhänger, für die nationalsozialistische Indoktrination so empfänglich macht, doch wird spätestens mit der Jugendliteratur der 70er Jahre dem jugendlichen Leser deutlich, dass ein persönlicher Handlungsspielraum für den Wehrmachts- angehörigen bestanden hat.

Doch stellt sich die Frage, ob man dem jugendlichen Kriegsteilnehmer einen wirklichen Vorwurf machen kann, nicht Widerstand gegen das Regime geleistet zu haben, und welche Erwartungshorizonte von dem jugendlichen Rezipienten in diesem Zusammenhang aufgestellt werden.

Erinnern wir uns an Salomon Perel, der als Jude den Zweiten Weltkrieg nur dadurch überlebt, dass er die Identität, und dieses beinhaltet, wie Perel selbst zugibt, nicht nur das äußere Erscheinungsbild sondern auch oder gerade die

Adoption des Gedankenguts, seiner Peiniger annimmt: „,Also spielte ich meine

Rolle als Hitlerjunge nicht. Ich wurde ein Hitlerjunge.’ [...].“

Wenn schon ein 16jähriger, der allen Grund hatte, die nationalsozialistische

Doktrin, der seine eigene Ausrottung propagierte, zu verabscheuen, gerade dieser

Ideologie erlag und sie unterstützte, wie konnte da dem nicht-jüdischen

Jugendlichen aus seiner Untätigkeit ein Vorwurf gemacht werden?

Zweifelsohne gab es, wie es der Historiker Martin Schnackenberg in seiner

Untersuchung über Wehrmachtsdeserteure eindeutig im 2. Weltkrieg feststellt458,

458 Leider versäumt es, Schnackenberg die Anzahl der Deserteure nach Geburtsjahrgängen aufzuschlüsseln. 252 eine nicht unerhebliche Anzahl jugendliche Kriegsteilnehmer, die die gleichen

Erfahrungen wie die Protagonisten in den behandelten Werken machten, deren politische oder antimilitaristische Motivation oder Überlebenswille sich jedoch dazu veranlasstem sich dem Wehrdienst zu entziehen und sich entschlossen oder in einer anderen Form Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime zu leisten.

Wurde den wirklich die Frage nach der persönlichen Rechtfertigung des

Wehrmachtsangehörigen durch den heutigen Jugendlichen gestellt, oder war es nicht eher der Jugendbuchautor selbst, der sich immer noch ein sozial-ethisches

Verfehlen und den eigenen Mangel an Zivilcourage angesichts seines systemkonformen Verhaltens vorwarf?

Michael Kohlstruck suggeriert letzteres, wenn er dieses „Fehlen“ einer

Schuldzuschreibung der Dritten Generation, der Jugendlichen der 80er und 90er

Jahre, an die Erste Generation, die der Kriegsteilnehmer thematisiert und sie wie folgt begründet:

Einmal ist der Altersabstand zur Ersten Generation in der Regel

doppelt so groß wie zur Zweiten. Damit drängt sich [...] der Eindruck

auf, dass es zwischen zeitgleich lebenden Altersgruppen

Unterschiede in der Lebens- und Geschichtserfahrung gibt, denen

man mit moralischen Werturteilen aus der Perspektive der Gegen-

wart nicht gerecht wird. Für einen 20jährigen repräsentiert ein

70jähriger sinnfällig eine andere Generation und mit ihr eine ka-

253 tegorial fremde Geschichtserfahrung.459

Geht des dem jugendlichen Rezipienten nicht, wie der französische Journalist

Vernet in der Analogie zu der 68er Vergangenheit heutiger bundesrepublika- nischer Politiker postuliert, um folgende Forderung an die Kriegsteilnehmer?

[A]ssumer sa propre historie, ne pas chercher à se justifier, mais ne

pas se renier [Hervorhebung durch den Autor].460

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