Eingereicht von Horst Pichler

Angefertigt am Institut für Kanonistik, Europäische Rechtsgeschichte und Religionsrecht

Erstbeurteiler / -beurteilerin Univ.Prof. DDr. Herbert Kalb

Die Entwicklung des Zweitbeurteiler/ -beurteilerin Univ.-Prof. Dr. Alois Birklbauer nationalsozialistischen Mitbetreuung Mag. Dr. Andreas Hölzl Militärstrafrechts von 1933 bis 1945 Oktober 2018

Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doktor der Rechtswissenschaften im Doktoratsstudium der Rechtswissenschaften

JOHANNES KEPLER UNIVERSITÄT LINZ Altenberger Straße 69 4040 Linz, Österreich www.jku.at DVR 0093696

EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Dissertation selbstständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Dissertation ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Wien, 22. Oktober 2018

Unterschrift

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Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis ...... 5 I. Einleitung ...... 9 II. Die Entwicklung des Militärstrafrechts bis zur Machtübernahme ...... 13 A. Grundzüge der Entwicklung des Militärstrafrechts in Deutschland bis Kriegsbeginn ...... 13 B. Grundzüge der Entwicklung des Militärstrafrechts in Österreich bis 1938 ...... 24 1. Das materielle Militärstrafrecht ...... 24 2. Das formelle Militärstrafrecht ...... 28 a) Das Ende der Militärgerichtsbarkeit in der Ersten Republik ...... 31 b) Militärgerichtsbarkeit im Ständestaat ...... 32 3. Der „Anschluss“ und seine Auswirkungen auf das Militärstrafrecht in Österreich ... 34 III. Entwicklung des materiellen Militärstrafrechts ...... 35 IV. Entwicklung des formellen Militärstrafrechts und Gerichtsorganisation ...... 47 V. Die Bilanz der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit ...... 67 A. Die Wehrmachtskriminalstatistik ...... 67 B. Die Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts ...... 75 1. Statistische Auswertung der Urteile des Reichskriegsgerichts ...... 75 2. Urteilspraxis des Reichskriegsgerichts ...... 80 a) Rechtsprechung bis 1939 ...... 80 b) Urteile wegen Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen ...... 86 c) Urteile wegen Hoch-, Landes- und Kriegsverrats ...... 93 d) Urteile wegen Widerstands in den besetzten Gebieten ...... 97 e) Urteile in Nacht- und Nebelverfahren ...... 99 f) Urteile gegen Österreicher ...... 105 g) Urteile gegen Generäle und Admiräle ...... 106 C. Rechtsprechung sonstiger Wehrmachtsgerichte ...... 109 1. Gericht der Wehrmachtskommandantur ...... 109 2. Zentralgericht des Heeres ...... 110 3. Standgerichte ...... 112 D. Rechtsprechung zu ausgewählten Delikten ...... 112 1. Fahnenflucht ...... 112 2. ...... 126 E. Urteile unter Anwendung des § 5a KSSVO und der Volksschädlingsverordnung ...... 137 F. Verfahren gegen ausgewählte Personengruppen ...... 141 1. Verfahren gegen Zivilpersonen ...... 141 a) Polen ...... 142

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b) Sowjetunion ...... 144 c) Frankreich ...... 149 d) Belgien und Nordfrankreich ...... 151 e) Niederlande ...... 152 f) Luxemburg ...... 153 g) Norwegen ...... 154 h) Dänemark ...... 154 i) Jugoslawien ...... 155 j) Griechenland ...... 157 k) Italien ...... 159 2. Verfahren gegen Kriegsgefangene ...... 161 VI. Strafvollzug ...... 169 A. Todesstrafe ...... 171 B. Sonderabteilungen ...... 173 C. Emslandlager ...... 177 D. Wehrmachtsgefängnisse ...... 178 E. Feldstrafgefangenenabteilungen ...... 182 F. Feldstraflager ...... 184 G. Bewährungstruppe 500 ...... 187 H. Bewährungstruppe 999 ...... 192 VII. Aufarbeitung nach Kriegsende ...... 197 VIII. Zusammenfassung ...... 203 Anhang ...... 205 Bildteil ...... 212 Quellenverzeichnis ...... 217 Der Autor ...... 226

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Abkürzungsverzeichnis

aA andere Ansicht AB Ausschussbericht Abs Absatz AHA Allgemeines Heeresamt AMA Allgemeines Marinehauptamt arg argumento (folgt aus) Art Artikel AT Allgemeiner Teil AWA Allgemeines Wehrmachtamt BArch (deutsches) Bundesarchiv BdE Befehlshaber des Ersatzheeres BDO Bund Deutscher Offiziere Bl Blatt, Blätter BlgBT Beilage zu den stenographischen Protokollen des österreichischen Bundestages BlgKonstNV Beilage zu den stenographischen Protokollen der Konstituierenden Nationalversammlung für Deutschösterreich BlgNR Beilage zu den stenographischen Protokollen des österreichischen Nationalrates BlgProvNV Beilage zu den stenographischen Protokollen der Provisorischen Nationalversammlung für Deutschösterreich BT Besonderer Teil bzw beziehungsweise cm Zentimeter dB des Beurlaubtenstandes dh das heißt DIZ Dokumentations- und Informationszentrum DÖW Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes dR der Reserve DVO Durchführungsverordnung f und der/die folgende ff und der/die folgenden FPÖ Freiheitliche Partei Österreichs GBlÖ Gesetzblatt für das Land Österreich (1938-1940) gem gemäß Geheime Staatspolizei GS Gesetzessammlung gvF garnisonsverwendungsfähig Feld gvH garnisonsverwendungsfähig Heimat GWKB Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin HDv Heeresdruckvorschrift HLS Senat für Hoch- und Landesverratssachen HM (Allgemeine) Heeresmitteilungen HR Heeresrechtsabteilung Hrsg Herausgeber HSSPF Höherer - und Polizeiführer HVBl Heeresverordnungsblatt idF in der Fassung

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idgF in der geltenden Fassung iG im Generalstab inkl inklusive iVm in Verbindung mit JRP Journal für Rechtspolitik (2006 ff) kA kraft Auftrags kg Kilogramm KHGnO Kriegsheeresgnadenordnung km Kilometer KonstNV Konstituierende Nationalversammlung für Deutschösterreich KPÖ Kommunistische Partei Österreichs KSSVO Kriegssonderstrafrechtsverordnung RGBl I 1939/147 KStVO Kriegsstrafverfahrensordnung RGBl I 1939/147 kv kriegsverwendungsfähig KZ Konzentrationslager leg cit legis citatae (der zitierten Vorschrift) LGS Landesgericht für Strafsachen lit litera (Buchstabe) LR Luftwaffenrechtsabteilung lt laut MA Magistratsabteilung mE meines Erachtens Mob Mobilmachungs- MR Marinerechtsabteilung MStGB Militärstrafgesetzbuch RGBl 1872/18 MStGO Militärstrafgerichtsordnung RGBl 1898/53 NKFD Nationalkomitee Freies Deutschland Nr Nummer NS nationalsozialistisch, Nationalsozialismus NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSF Nationalsozialistische Führung NSFO Nationalsozialistischer Führungsoffizier NSKK Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps ObdH Oberbefehlshaber des Heeres ObdL Oberbefehlshaber der ObdM Oberbefehlshaber der öBGBl österreichisches Bundesgesetzblatt öBT österreichischer öBVG österreichisches Bundesverfassungsgesetz öB-VG österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz öBGBl 1930/1 OKGR Oberstkriegsgerichtsrat OKH Oberkommando des Heeres OKL Oberkommando der Luftwaffe OKM Oberkommando der Kriegsmarine OKW Oberkommando der öMilStG österreichisches Militärstrafgesetz öBGBl 1970/344 öNR österreichischer Nationalrat öRGBl Reichsgesetzblatt für das Kaiserthum Österreich

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ORKA Oberreichskriegsanwalt öStGBl österreichisches Staatsgesetzblatt öStPO österreichische Strafprozessordnung öBGBl 1975/631 ÖVP Österreichische Volkspartei ProvNV Provisorische Nationalversammlung für Deutschösterreich RevL Revisionsliste RFSS Reichsführer der Schutzstaffel RGBl Reichsgesetzblatt RKA Reichskriegsanwaltschaft, Reichskriegsanwalt RKG RS Revolutionäre Sozialisten RSHA Reichssicherheitshauptamt RStGB Reichsstrafgesetzbuch RGBl 1871/24 RV Regierungsvorlage Rz Randzahl SA Sturmabteilung SBB - PK Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz SD Sicherheitsdienst sog sogenannt Sp Spalte SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands SPÖ Sozialistische Partei Österreichs SS Schutzstaffel SSPF Schutzstaffel- und Polizeiführer StPL Strafprozessliste ua unter anderem unb unbekannt US siehe USA USA United States of America (Vereinigte Staaten von Amerika) usw und so weiter va vor allem VfZ Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (1991) VGH Volksgerichtshof vgl vergleiche VO Verordnung VorlSR Vorlage des österreichischen Staatsrats VUA Vojenský ústřední archiv (Militärisches Zentralarchiv der Tschechischen Republik) WG Wehrgesetz RGBl 1935/52 WGnO Wehrmachtsgnadenordnung WK StGB Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch WK StPO Wiener Kommentar zur Strafprozessordnung WL Wiederaufnahmeliste WR Wehrmachtsrechtsabteilung Z Ziffer ZAL Zentralamt der Luftwaffe zB zum Beispiel zbV zur besonderen Verwendung ZdH Zentralgericht des Heeres

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ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (1992) ZMG Zeitschrift für Militärgeschichte (1962 ff) zT zum Teil ZWehrR Zeitschrift für Wehrrecht (1938 ff)

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I. Einleitung

Die vorliegende Dissertation beschäftigt sich mit der Entwicklung des nationalsozialistischen (NS) Militärstrafrechts von 1933 bis 1945 unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts. Dabei spannt die Arbeit einen weiten Bogen vom materiellen über das formelle Militärstrafrecht bis hin zum Strafvollzug. Zu guter Letzt wird auch die juristische Rehabilitierung der Opfer der NS Militärjustiz in Österreich behandelt, um diese Arbeit abzurunden. Eingeschränkt wird der Umfang der Arbeit dabei durch die Konzentration auf das militärische Strafrecht. Fragen des zivilen Strafrechts sowie der Sondergerichtsbarkeit der SS, der Polizei und des Volkssturms werden nicht bzw nur im für die vorliegende Arbeit notwendigen Maß behandelt. Bei der Frage der juristischen Rehabilitierung beschränkt sich diese Arbeit auf die strafrechtliche Rehabilitierung in Österreich. Parallele Entwicklungen in Deutschland werden hier ebenso wenig behandelt wie Maßnahmen in der Sozialgesetzgebung und in anderen Rechtsgebieten.

In der ursprünglichen Konzeption dieser Arbeit war auch die Beschäftigung mit dem Vollzug wehrmachtsgerichtlicher Urteile nicht geplant. Allerdings wurde im Zuge der Recherche rasch klar, dass eine Darstellung des NS Militärstrafrechts ohne Berücksichtigung des Strafvollzugs unter schwerwiegenden Mängeln litte, da nur unter Berücksichtigung der Bedingungen in den Straflagern, Wehrmachtsgefängnissen, Bewährungseinheiten und sonstigen Strafeinrichtungen die tatsächlichen Auswirkungen eines Urteils abgeschätzt werden können. Vermeintlich milde Urteile und Strafaussetzungen zur Bewährung verlieren rasch ihre Milde, wenn die Bedingungen des Strafvollzugs berücksichtigt werden. Wobei hier auch der Begriff des Strafvollzugs eigentlich unzutreffend ist, da zahlreiche Strafen im eigentlichen Sinne nicht vollzogen, sondern ausgesetzt wurden. Ein tatsächlicher Vollzug war, wie später noch näher ausgeführt wird, erst nach Ende des Krieges geplant.

Die dieser Arbeit zu Grunde liegende Forschungsfrage ist, wie sich bereits aus ihrem Titel ergibt, jene nach der Entwicklung des Militärstrafrechts in der Zeit des Nationalsozialismus. Welche wesentlichen Änderungen erfuhr das Militärstrafrecht unter den NS Machthabern? Inwieweit wurde es in die NS Ideologie und das totalitäre Regime integriert? Daraus ergaben sich zunächst die Hypothesen, dass erstens das Strafrecht, insbesondere die Strafdrohungen, im Lauf des Krieges verschärft wurde und zweitens der Einfluss der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und der NS Ideologie auf die Wehrmachtsjustiz im Lauf des Krieges zunahm.

Natürlich stellte sich auch die Frage, ob zu diesem Thema nicht schon genügend Publikationen vorlägen und welche neuen Aspekte in dieser Arbeit behandelt werden könnten. Tatsächlich ist der Nationalsozialismus wohl eine der am besten erforschten Epochen, und es liegt eine Vielzahl von Publikationen zu den verschiedensten Aspekten vor. Umso erstaunlicher ist es, dass gerade die Militärjustiz nach wie vor ein Schattendasein in der Forschung führt.

Unmittelbar nach Kriegsende beschäftigten sich va ehemalige Militärjuristen mit der Geschichte der Wehrmachtsjustiz. Die erste umfassende Darstellung zu diesem Themenkomplex wurde 1977 von Schweling/Schwinge veröffentlicht. Beide Autoren waren ehemalige Militärjuristen. Schwinge ist insofern von besonderer Bedeutung, weil er einen der wichtigsten Kommentare zum Militärstrafgesetzbuch (MStGB) veröffentlichte, der 1936 erstmals erschien und bis 1944 immerhin sechs Auflagen erlebte, und weil er in Wien ab 1. September 1940 bis Kriegsende als Professor an der Universität und ab 21. Jänner 1941 mehr als vier Jahre als Richter der Division 177 wirkte. An der Universität Wien fungierte er auch als Vorstand der Abteilung für Strafrecht. Darüber hinaus war er

22. Oktober 2018 Horst Pichler 9/226 ständiger Mitarbeiter der Zeitschrift für Wehrrecht (ZWehrR). In ihrem Werk zeichnen Schweling/Schwinge ein Bild der NS Militärjustiz, das die Urteilspraxis als geradezu mild darstellt und die Institution als Rückzugsort für Oppositionelle, die dem NS Regime kritisch gegenüberstanden, beschreibt. Alles in allem wird hier eine Rechtfertigung für das Handeln der NS Militärjustiz versucht und ihr Wirken entgegen den Tatsachen beschönigt.1 Erst ab 1987 erschienen Werke, die die NS Militärjustiz aus einem anderen Blickwinkel betrachteten. Hier sind va die Publikationen von Messerschmidt und Wüllner zu erwähnen.2 Daneben existiert eine Anzahl von Werken, die sich mit einzelnen Teilaspekten, zB Fahnenflucht, Zeugen Jehovas oder regionalgeschichtlichen Forschungen, beschäftigen. Für Österreich hat der Wiener Politikwissenschafter Manoschek mit seinen Mitarbeitern einen umfangreichen Forschungsbericht veröffentlicht. Alle diese Werke nähern sich dem Thema NS Militärjustiz allerdings aus einer historischen oder politikwissenschaftlichen Perspektive. Arbeiten aus juristischer Sicht fehlen bislang. Lediglich der Linzer Strafrechtsprofessor Moos hat dazu im Hinblick auf die Rehabilitierung der Opfer der NS Militärjustiz publiziert.3 Seine Arbeiten konzentrieren sich

1 vgl Archiv der Universität Wien, J PA 410; Archiv der Universität Wien, Senat S 304.1177; Bade, Die Akteure der Wehrmachtsjustiz – Gruppenbiografische Anmerkungen, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 75; Bade, Die Wehrmachtjustiz im Zweiten Weltkrieg: Forschungsüberblick und Perspektiven. Eine Einführung, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 7 ff; Baumann/Koch, Richter und Gerichtsherren, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 210; Eberlein, Das Marburger Militärgericht im Dienst des Nationalsozialismus, in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther (Hrsg), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht (1994) 19 f; Eberlein, Kontinuitäten nach 1945, in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther (Hrsg), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht (1994) 323 f; Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther, Einleitung, in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther (Hrsg), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht (1994) 11 f; Garbe, Der Marburger Militärjurist Prof. Erich Schwinge. Kommentator, Vollstrecker und Apologet nationalsozialistischen Kriegsrechtes, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 117 ff; Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“ Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 136; Haase, Deutsche Deserteure2 (1987) 42 ff; Haase, Das Reichskriegsgericht und der Widerstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Katalog zur Sonderausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Zusammenarbeit mit der Neuen Richtervereinigung (1993) 23 f; Haase, Fahnenflucht in der Deutschen Wehrmacht 1939 – 1945. Eine historische Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der vom Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin ausgesprochenen Todesurteile. (1986) 9; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (380 f); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1128 f); Kirschner, Vorwort, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 4; Kirschner, Wehrmachtjustiz in Marburg. Das Marburger Feldkriegsgericht 1939 – 1945 und die langen Schatten der Wehrmachtjustiz in Marburg nach 1945, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS- Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 99; Knippschild, „Für mich ist der Krieg aus“. Deserteure in der Deutschen Wehrmacht, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 127; Manoschek, Die Arbeit zweier Jahre – eine Einleitung, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 3; Messerschmidt/Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende (1987) 9 ff; Metzler, Ehrlos für immer? Die Rehabilitierung der Deserteure der Wehrmacht. Ein Vergleich von Deutschland und Österreich unter Berücksichtigung von Luxemburg (2007) 22 f; Metzler, „Soldaten, die einfach nicht im Gleichschritt marschiert sind …“ Zeitzeugeninterviews mit Überlebenden der NS- Militärgerichtsbarkeit, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 498; Moos, Die juristische Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz, in Kohlhofer/Moos (Hrsg), Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit – Rehabilitierung und Entschädigung (2003) 72 f; Schweling/Schwinge, Die deutsche Militärjustiz in der Zeit des Nationalsozialismus2 (1978) 1 ff; Walmrath, „Iustitia et disciplina“. Strafgerichtsbarkeit in der deutschen Kriegsmarine 1939-1945 (1998) 77 ff; Wette, Die Wehrmachtjuristen und ihre Opfer. Phasen der Aufarbeitung ihrer Geschichte, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 265; Wüllner, Die NS-Militärjustiz und das Elend der Geschichtsschreibung. Ein grundlegender Forschungsbericht2 (1997) 17 ff. 2 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 9; Baumann, „Wo sind die Deserteure?“ – Öffentliche Meinung und Debatten über Verurteilte der Wehrmachtsjustiz in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1998, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 281; Baumann/Koch, Richter, in Baumann/Koch 229; Haase, Deserteure2 42 f; Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1129); Kirschner, Vorwort, in Kirschner 4; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 3; Metzler, Rehabilitierung 23 ff; Metzler, Zeitzeugeninterviews, in Manoschek 498; Moos, Recht und Gerechtigkeit. Kriegsdienstverweigerung im Nationalsozialismus und die Zeugen Jehovas, in Kohlhofer (Hrsg), Gewissensfreiheit und Militärdienst (2000) 108; Moos in Kohlhofer/Moos 72; Pirker/Wenninger, Einleitung, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) XIII; Walmrath, Iustitia 80 f; Wette in Kirschner 271. 3 vgl Metzler, Rehabilitierung 24. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 10/226 dabei aber auf die österreichische Gesetzgebung nach 1945. Alle erwähnten Autoren werden auch in dieser Arbeit ausführlich zitiert.

Eine Herausforderung stellte auch die Quellenlage dar. Ein großer Teil der Unterlagen der Heeres- und Luftwaffengerichte wurde durch Kriegseinwirkungen oder bewusste Vernichtung vor der Niederlage zerstört. Ein relativ umfangreicher Bestand befindet sich allerdings im Österreichischen Staatsarchiv in Wien, wo rund 12.000 Akten von 27 Gerichten lagern. Beinahe die Hälfte dieser Akten stammt von der in Wien stationierten Division 177.4 Eine umfangreiche Aufarbeitung dieser Akten ist dem bereits erwähnten Wiener Professor am Institut für Staatswissenschaften Manoschek und seinen Mitarbeitern zu verdanken.5

Da sich diese Arbeit insbesondere mit der Judikatur des Reichskriegsgerichtes beschäftigt, wurden zur Bearbeitung des Themas auch die noch vorhandenen Unterlagen dieses Gerichts herangezogen. Der bei weitem größte Bestand befindet sich im Militärischen Zentralarchiv in Prag. Die dort vorhandenen Dokumente reichen von einzelnen Urteilen, über Schriftverkehr innerhalb des Reichskriegsgerichts (RKG) und mit anderen Dienststellen bis hin zu Personalakten, Rechnungen und dem Programm einer Weihnachtsfeier. Da der Bestand allerdings nicht katalogisiert ist - derzeit besteht nur ein handschriftliches vorläufiges Inventar, das großteils in tschechischer Sprache verfasst ist - konnte nicht gezielt nach relevanten Unterlagen gesucht werden. Jeder der vorhandenen Kartons musste so einzeln durchgesehen werden. Dabei fanden sich relevante Informationen oft an unvermuteter Stelle, zB ein Urteil in einem Ordner mit Tankrechnungen. Bei insgesamt sechs Aufenthalten in Prag wurden die dort vorhandenen Unterlagen gesichtet und relevante Schriftstücke eingescannt.Kleinere Bestände finden sich darüber hinaus noch im Deutschen Bundesarchiv an den Standorten Berlin, Freiburg und Koblenz. Im Gegensatz zu den Prager Dokumenten sind die Bestände des deutschen Bundesarchivs vollständig in einer Datenbank erfasst. So konnte bereits vorab gezielt nach Unterlagen des Reichskriegsgerichts gesucht werden. Bei je einem Besuch an den drei Standorten des Archivs wurden die entsprechenden Akten ebenfalls durchgesehen und relevante Teile durch das Bundesarchiv als Scan zur Verfügung gestellt. Bei der Arbeit mit diesen Unterlagen ist zu berücksichtigen, dass es sich um Dokumente handelt, die großteils von Angehörigen des Reichskriegsgerichts und nur in seltenen Fällen von den Angeklagten stammen. Außerdem hatten Angeklagte in einer Vernehmung und in der Hauptverhandlung naturgemäß großes Interesse daran, ein für sie günstiges Urteil zu erreichen. Somit ist davon auszugehen, dass Tatsachen, insbesondere über Tatmotive, in einem entsprechenden Licht dargestellt wurden. So wird ein wegen unerlaubter Entfernung oder Fahnenflucht Angeklagter nicht von Furcht vor dem Feind oder vor Bestrafung gesprochen haben, wissend dass dies als Strafschärfungsgrund ausgelegt würde.

Da während des Nationalsozialismus zahlreiche Erlässe und Verfügungen nicht in einem Reichs- gesetzblatt (RGBl) kundgemacht wurden, wurde in diesen Fällen auf Quellen aus den Archiven oder der Literatur zurückgegriffen. Urteile des Reichskriegsgerichts wurden grundsätzlich auf Basis der in den Archiven vorhandenen Originaldokumente beschrieben. In Einzelfällen bzw bei Urteilen anderer Wehrmachtsgerichte wurde aber ebenfalls auf die Literatur rekurriert.

Unter den zitierten Werken befinden sich auch jene der bereits erwähnten Autoren Schweling und Schwinge, die eine eindeutig apologetische Tendenz erkennen lassen, sowie Kommentare zum Militärstrafrecht aus der NS Zeit. Auch bei diesen Werken ist immer zu berücksichtigen, wes Geistes

4 vgl Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 12 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 138. 5 vgl Forster/Fritsche/Geldmacher, Erläuterungen zur Methodik, zu den Quellenbeständen und zur Datenbank, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 68 ff; Pirker/Wenninger in Pirker/Wenninger XIII. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 11/226

Kind sie sind. Sie werden hier zitiert, um zu zeigen, wie das NS Militärstrafrecht tatsächlich ausgelegt wurde, da die Normtexte auf den ersten Blick oft harmloser klingen als sie auf den zweiten tatsächlich sind. Zahlreiche Normen des NS Militärstrafrechts stammten noch aus der Zeit der Monarchie und der Weimarer Republik und waren daher a priori keine typisch nationalsozialistischen Bestimmungen. Das spezifisch nationalsozialistische Unrecht dieser Normen ergab sich aber durch ihre ideologische Aufladung und Auslegung im NS Sinne.

In einem Gespräch über das Thema dieser Dissertation wurde von einem Gesprächspartner angemerkt, dass ein Vergleich des NS Militärstrafrechts mit den Grundsätzen moderner rechtsstaatlicher Systeme unzulässig sei, da dadurch Äpfel mit Birnen verglichen würden. Vielmehr sollte man Vergleiche mit anderen totalitären Regimen wie der Sowjetunion ziehen. Tatsächlich soll die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg laut einer Aussage des russischen Präsidentenberaters Jakowlew am 27. April 2002 vor deutschen Militärhistorikern rund 150.000 Todesurteile gefällt haben.6 Dem stehen bis zu 50.000 Todesurteile der Wehrmachtsjustiz gegenüber. Auf den ersten Blick scheint das Argument also stichhaltig. Allerdings ist der Vergleich meines Erachtens dennoch unzulässig, da er nur dazu führen würde ein Unrecht durch ein anderes zu relativieren und zu rechtfertigen. Dagegen erscheint ein Vergleich mit demokratisch rechtsstaatlichen Ordnungen deutlich sinnvoller, weil nur so der volle Unrechtsgehalt des NS Rechts deutlich wird. Diese Diskrepanz zwischen NS Recht und Rechtsstaatlichkeit wurde auf Basis der Radbruchformel zur Grundlage der Aufhebung zahlreicher NS Urteile in Deutschland.

Das persönliche Interesse des Autors an der NS Militärjustiz entspringt einerseits einem allgemeinen juristischen und historischen Interesse und andererseits der Tätigkeit als Milizoffizier. Somit liegt diese Dissertation am Schnittpunkt dieser Interessensfelder.

Das Thema der Arbeit bringt es mit sich, dass hauptsächlich Männer betroffen sind. Frauen standen aber als Angeklagte ebenso vor NS Militärgerichten. In Fällen, in denen dies der Fall war, wird gesondert auf die beteiligten Frauen hingewiesen.

6 vgl Wette in Kirschner 263. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 12/226

II. Die Entwicklung des Militärstrafrechts bis zur Machtübernahme

A. Grundzüge der Entwicklung des Militärstrafrechts in Deutschland bis Kriegsbeginn

Das Militärstrafrecht zu Beginn der nationalsozialistischen Diktatur entstand nicht aus dem Nichts. Basis sowohl des materiellen als auch des formellen Militärstrafrechts war zunächst der Rechtsbestand der untergegangenen Weimarer Republik, der sich über Jahrhunderte aus den Rechten der deutschen Staaten entwickelt hatte. Dieser wurde nach der Machtergreifung an die nationalsozialistische Ideologie angepasst und für diese instrumentalisiert. Es lohnt sich daher zu Beginn ein kurzer Blick auf diese Vorgeschichte des NS Militärstrafrechts.

Die wesentliche Basis des deutschen Militärstrafrechts zu Beginn der NS Herrschaft bildete die Preußische Wehrordnung, die ein besonderes Verhältnis zwischen Staat, Verfassung und Militär normierte. Die Militärgerichtsordnung am Beginn des 19. Jahrhunderts stammte aus dem Jahr 1712.7 Die Rechtsprechung lag in den Händen von Auditeuren, die allerdings keine Richter waren, sondern als Militärbeamte den jeweiligen militärischen Kommandanten unterstanden. Seit 1726 mussten zumindest schwerwiegende Urteile auch gegen einfache Soldaten und Unteroffiziere dem König durch den Generalauditeur zur Bestätigung vorgelegt werden, allerdings wurde dies unter der Regierung Friedrichs II (1740 – 1786) wieder rückgängig gemacht und der Einfluss der Kommandeure stieg erneut. 1809 wurden zumindest sämtliche Zivilrechtssachen an die zivile Justiz übertragen, Strafsachen blieben weiterhin in der Verantwortung der Militärjustiz.8

Im Verfahren vor den Militärgerichten waren eigene Gerichte für Offiziere vorgesehen. Für Mannschaften und Unteroffiziere waren die Verteidigungsmöglichkeiten andererseits stark eingeschränkt. Die dominierende Rolle im Verfahren spielte der jeweilige Kommandeur als Gerichtsherr. Zu seinen Aufgaben zählten die Einberufung des Gerichtes, die Bestätigung oder Aufhebung von Urteilen und die Anordnung ihres Vollzugs. Gegen Mannschaften verhandelte ein Standgericht. Der Auditeur als einziger Jurist hatte allerdings lediglich beratende Funktion und diente als Berichterstatter. Die Rechtsprechung oblag juristischen Laien, die vom Kommandeur bestimmt wurden. Verhandlungen waren nicht öffentlich. Die 1845 erlassene Strafgerichtsordnung9 sah eine Verteidigung durch einen Soldaten nur bei Delikten vor, die mit mehr als zehnjähriger Freiheitsstrafe oder der Todesstrafe bedroht waren. Anklagebehörde und Gericht waren identisch. Rechtsmittel waren nach einer Bestätigung durch den Gerichtsherrn nicht vorgesehen.10

7 Friderici I, Königs in Preußen und Churfürstens zu Brandenburg, Kriegs-Gerichts-Ordnung. de an. 1712, in Corpus juris militaris novissimum, oder neuestes Kriegs-Recht. (1724) Sp 523-566; SBB - PK, Fm 9175. 8 vgl Allerhöchste Cabinets Ordre Wegen Aufhebung der Militair-Jurisdiktion in Civilsachen und Bestimmung des Militair- Gerichts-Standes in Kriminal- und Injurien-Sachen GS 1809/86, in Gesetzessammlung für die Königlichen Preußischen Staaten (1846) 847 ff; SBB - PK, 3630-1806/45; Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933-1945 (2005) 1 f; Reiter-Zatloukal, Militärgerichtsbarkeit und Staatsordnung. Zur Geschichte einer Sondergerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 6 ff. 9 vgl Strafgesetzbuch für das Preußische Heer GS 1845/2579, in Gesetzessammlung für die Königlichen Preußischen Staaten II5 (1875) 90 ff; SBB - PK, Gr 3930-2.1841-854<5>. 10 vgl Baumann/Koch, Die Geschichte der deutschen Militärjustiz 1871 - 1945, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 142; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 2; Reiter- Zatloukal in Pirker/Wenninger 7 ff; Walmrath, Iustitia 112 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 13/226

Nach 1848 schlug die Frankfurter Nationalversammlung vor, nur militärische Delikte in der Jurisdiktion der Militärgerichte zu belassen.11 Die ebenfalls vorgeschlagene Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlungen wurden vom Militär als Bedrohung der Disziplin empfunden. Während in Bayern 1869 eine Militärstrafprozessordnung12 eingeführt wurde, die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Verhandlung sowie eine unbeschränkte Verteidigung und eine Nichtigkeitsbeschwerde vorsah, behielt Preußen die Regelungen des Jahres 1845 bei. Trotz Kritik wurden die preußischen Bestimmungen 1867 für den Norddeutschen Bund übernommen.13 Oberster Gerichtsherr war der Monarch, die Militärjustiz stand außerhalb der allgemeinen Verfassung. Nach der Reichsgründung existierten in Deutschland drei Militärgerichtsordnungen für den Norddeutschen Bund, Bayern und Württemberg14. Am 1. Oktober 1900 trat eine erste allgemeingültige Militärstrafgerichtsordnung,15 die am 1. Dezember 1898 beschlossen worden war, in Kraft. Der Gerichtsherr blieb weiterhin bestimmend im Verfahren, und die Militärgerichte blieben auch weiterhin für nicht militärische Delikte zuständig, allerdings setzte die Bestätigung ein rechtskräftiges Urteil voraus, Militärjuristen wirkten an der Urteilsfindung mit und die Verhandlungen waren öffentlich und mündlich. Öffentlichkeit und Mündlichkeit konnten aber bei Gefährdung der Disziplin ausgeschlossen werden, und den Vorsitz führte weiterhin ein Offizier. Im Reichstag wurde häufig beklagt, dass Richter, die die Öffentlichkeit im Zweifel nicht ausschlossen, vorzeitig pensioniert wurden. Als Verteidiger waren weiterhin nur Offiziere und Militärbeamte vorgesehen. Rechtsanwälte mussten gesondert zugelassen werden. Andererseits sahen die neuen Regelungen mehrere Instanzen und Rechtsmittel vor. Neben Standgerichten und Kriegsgerichten gab es nun auch Oberkriegsgerichte und ein Reichsmilitärgericht.16

Im materiellen Strafrecht wurde als Folge einer Verurteilung die Ausstoßung aus dem Soldatenstand vorgesehen. Diese Straffolge der Wehrunwürdigkeit wurde auch von den Nationalsozialisten übernommen und führte zu Zuchthaus oder Einweisung in ein Lager. Obwohl die vorgesehenen Strafen in vielen Bereichen gesenkt wurden, blieb doch für viele Delikte weiterhin die Todesstrafe vorgesehen. Das 1845 geschaffene Strafgesetzbuch für das preußische Heer vereinheitlichte die Bestimmungen für Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften. Allerdings waren weiterhin einige Erleichterungen für Offiziere vorgesehen. So war als Strafe für Offiziere lange Zeit nur Festungsarrest, eine Form von Hausarrest, vorgesehen. Zuchthaus oder Gefängnis wurden für Offiziere erst ab 1872 eingeführt. Widersprach ein Befehl den Strafgesetzen, konnte dieser verweigert werden, allerdings nur wenn der Soldat wusste, dass der Befehl eine Straftat beinhaltete.17

Während die preußische Armee in feudalen Strukturen verhaftet blieb, kamen wesentliche Anstöße zur Modernisierung des Militärstrafrechts bis 1918 aus Bayern sowie durch den Druck der Öffentlichkeit und des Parlaments. Das Klassendenken der preußischen Wehrpflichtarmee war ein Resultat der Tradition als Militärstaat. Der Soldat schuldete nur dem König Gehorsam und Loyalität, nicht der Verfassung. Insbesondere im Hinblick auf die entstehende und erstarkende Sozialdemokratie, die als Umsturzpartei gesehen wurde, wurde die Armee als Schule der Nation betrachtet, um deren Geschlossenheit zu gewährleisten. Die wachsende Rivalität zwischen den Großmächten und die Expansionsbestrebungen des Deutschen Reichs schienen die Geschlossenheit der Nation und die Beseitigung innerer Störfaktoren zu erfordern. Die Versuche, die inneren Konflikte und die Sozialdemokratie auszuschalten, blieben aber, insbesondere in städtischen Ballungsräumen,

11 Wigard, Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main II (1848) 1005 f. 12 vgl Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1869/64. 13 vgl Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes 1867/13. 14 vgl Königlich Württembergisches Staats und Regierungsblatt 1818/69. 15 vgl RGBl 1898/53. 16 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 2 ff; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 11 ff; Walmrath, Iustitia 112 ff. 17 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 4 f; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 11 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 14/226 weitgehend erfolglos. Vertraut wurde auf den militärischen Geist, der durch lange Gewohnheit anerzogen werden sollte. Liberales, pazifistisches oder sozialistisches Gedankengut wurde abgelehnt. Der Militärjustiz wurden entsprechende politische Funktionen zugewiesen. Dementsprechend wurde auch ein Eid der Soldaten auf die Verfassung, die vom Liberalismus gefordert wurde, vom Militär seit 1848 konsequent abgelehnt. Mit einer selektiven Rekrutierungspraxis versuchte die Armee störende Elemente wie Sozialdemokraten und Liberale fernzuhalten. Dies führte zu einem Überhang von Rekruten aus ländlichen Gegenden in der preußischen Wehrpflichtigenarmee.18

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs traten die Gegensätze verstärkt hervor. Die Armee erkannte bei Einsätzen gegen Streikende, dass die Bekämpfung der Sozialdemokratie mit militärischen Mitteln nicht zu den gewünschten Ergebnissen führte. Da die SPD nicht nach einer Revolution strebte, kam es im Lauf der Zeit trotz Militarismuskritik der Partei zu einer Gewöhnung. Die Kritik richtete sich vor allem gegen die Misshandlung von Soldaten durch Vorgesetzte und die zuständige Militärjustiz. Die Verfolgung derartiger Taten war allerdings politisch unerwünscht. Über die Einleitung von Verfahren entschieden die Kommandeure als Gerichtsherrn. Falls dies geschah, wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die Differenzen zwischen Militär und Sozialdemokratie konnten zwar zu Beginn des Ersten Weltkriegs im sogenannten Burgfrieden in den Hintergrund gedrängt werden, allerdings traten sie noch vor dessen Ende wieder hervor und verstärkten sich nach der Kapitulation im Jahr 1918.19

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es in der Weimarer Republik zu politischen Unruhen, es entstanden sozialistische Rätebewegungen und die Dolchstoßlegende, die in Justiz und Militär die Überzeugung des Vorhandenseins eines inneren Feindes stärkten. Die Verantwortung für die Niederlage des Deutschen Reiches wurde nicht beim Militär, sondern bei Marxisten, Juden und Pazifisten gesucht. Der spätere Oberbefehlshaber des Heeres (ObdH) Werner Freiherr von Fritsch sah den Kampf gegen die Arbeiter und Juden als zentral an. Politische Morde wurden durch die Justiz in weiten Teilen nicht geahndet. Als bekannteste Beispiele hierfür stehen die Morde an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. So wurde der Offizier, der Rosa Luxemburg erschossen hatte, lediglich zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt. Die Angeklagten im Prozess wegen des Mordes an Karl Liebknecht wurden freigesprochen, weil sie behaupteten, Liebknecht auf der Flucht erschossen zu haben. Aufgrund der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges verfestigte sich bei den führenden Militärs die Überzeugung, dass eine allgemeine Wehr- und Arbeitspflicht notwendig sei, um das gesamte Volk zu mobilisieren. Weltanschauliche Differenzen wurden als gefährlich empfunden. Ziel war die Schaffung einer nationalistischen und militarisierten Gesellschaft, um für künftige Auseinandersetzungen gewappnet zu sein.20

In geheimen Rüstungsprogrammen war neben den Berufssoldaten eine starke Milizkomponente vorgesehen. Parallel zur Aufrüstung des Militärs entwickelten sich Wehrverbände wie der Stahlhelm und die Sturmabteilung (SA). Durch die Einbindung der Jugend in den Soldatenalltag sollten soziale Konflikte gelöst werden. Der politische und kulturelle Pluralismus der Weimarer Republik wurde zum Feindbild der konservativen Eliten, die der nationalistischen Propaganda erlagen. Strömungen, die sich gegen Demokratie, Republik und Pazifismus richteten, gewannen an Bedeutung. Konservative und Nationalisten wollten die Einheit der Nation auf Basis von Wehrbereitschaft und politischer

18 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 142; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 6 ff; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 13 ff. 19 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 8. 20 vgl Form, Wehrkraftzersetzung: Die Verfolgung des „Inneren Feindes“. Die Wandlung eines rein militärischen Straftatbestandes zu einer der schärfsten Waffen der politischen Justiz, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 58 f; Garbe, Abschreckungsjustiz im Dienst der Kriegsführung: Anfragen zu Struktur und Wirken der NS-Militärgerichtsbarkeit, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 27; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 135; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 8 f; Walmrath, Iustitia 151 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 15/226

Geschlossenheit herstellen. Dies ließ keinen Platz für sozialistische oder liberale Strömungen. Ein rigoroses Freund-Feind-Denken griff Platz. Auf der Grundlage der Dolchstoßlegende erschien es logisch, den inneren Feind, der sich der Aufrüstung entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrages in den Weg stellte, auszuschalten. Dass die Aufrüstung gegen Völkerrecht verstieß, spielte dabei keine Rolle.21

Die ging gemeinsam mit der Justiz gegen diese sogenannten inneren Feinde vor. Diese politische Instrumentalisierung der Justiz sollte später auch für die NS Militärjustiz beispielhaft sein. Nationalistische Morde wurden kaum verfolgt. Die Schwarze Reichswehr, paramilitärische Verbände, die teilweise von der Reichswehr gefördert wurden, konnte beinahe ungehindert agieren. Ihre Verbrechen wurden als Unterstützung der Reichswehr und damit des Wohles des Staates gesehen. Auch Hitler rechtfertigte die Morde an der SA-Führung unter Ernst Röhm als Staatsnotwehr. Die politische Justiz der Weimarer Republik bildete mit ihrem Freund-Feind-Denken und der Idee der Volksgemeinschaft und der Notwendigkeit, innere Feinde auszuschalten, eine wesentliche Basis für die spätere NS Justiz. Die Weimarer Justiz war großteils gegen die Republik eingestellt und verfolgte vor allem Angehörige des linken politischen Spektrums. So ergingen zwischen 1919 und 1925 rund 16.000 Verurteilungen wegen Hoch- und Landesverrats, während es zwischen 1882 und 1919 lediglich 159 waren. Für 22 politische Morde, die von linken Tätern begangen wurden, wurden insgesamt 38 Personen verurteilt, die durchschnittliche Haftdauer betrug 15 Jahre und es kam zu zehn Hinrichtungen. Dem gegenüber stehen 354 Morde durch rechte Täter, wobei nur 24 verurteilt wurden und die durchschnittliche Haftdauer vier Monate betrug, Hinrichtungen gab es keine.22

Besonders deutlich wird die politische Instrumentalisierung der Justiz in der Urteilsbegründung zum Weltbühneprozess gegen Karl von Ossietzky. Das Reichsgericht begründete das Urteil23 wegen Landesverrats unter anderem damit, dass Ossietzky auch Pazifist gewesen sei. Ossietzky hatte in einem Artikel in der Weltbühne den Aufbau einer deutschen Luftwaffe, der dem Versailler Vertrag widersprach, öffentlich gemacht. Pazifismus und Verfassungsfeindlichkeit wurden von Militär und Justiz gleichgesetzt. Dass der Versailler Vertrag selbst im Verfassungsrang stand und daher die Aufrüstung auch die Reichsverfassung verletzte, war nebensächlich. Auch ein Rechtsbruch des Staates durfte durch seine Bürger nicht angeprangert werden. Durch die Identität der Feindbilder kam es auch zu einer Annäherung der Reichswehr und der NSDAP. Antidemokratische Kräfte gewannen in der Weimarer Republik zunehmend an Bedeutung. Kritischer Journalismus und pazifistische Strömungen sollten unterdrückt und das Rüstungsprogramm weiterhin geheim gehalten werden. Ein 1932 beschlossenes Amnestiegesetz,24 das auch Landesverrat ohne Eigennutz miteinschloss, löste in der Reichswehr Empörung aus. Reichspräsident Hindenburg wies darauf hin, dass der Beschluss gegen seinen Willen gefasst worden sei. Pazifismus und ideeller Landesverrat wurden in der Reichswehr und nationalistischen Kreisen gleichgesetzt und abgelehnt.25

Ein Großteil des Offizierskorps sah das parlamentarische System als ungenügend an, um die nationale Frage zu lösen. Die NSDAP profitierte von der Verbindung von nationalen und sozialen Ideen, die sowohl demokratische als auch marxistische Einflüsse ablehnten. Gedanken des nationalen Bürgertums aus der Monarchie wurden weiterentwickelt. Nation, Staat und Macht wurden als eng miteinander verbunden und Voraussetzung für eine deutsche Weltpolitik betrachtet. Nation

21 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 135; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 10 f. 22 vgl Form in Pirker/Wenninger 58; Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 11 f; Riegler, „Der kleine Himmler von Wien“ und seine Helfer: Verbrechen der NS-Militärjustiz anhand des Fallbeispiels von Oberfeldrichter Karl Everts, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 165 f. 23 vgl Reichsgericht 23.11.1931, 7 J 35/29 - XII L 5/31. 24 vgl Gesetz über Straffreiheit RGBl I 1932/81. 25 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 12 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 16/226 wurde als gemeinsamer politischer Wille betrachtet. Der Internationalismus mit marxistisch- leninistischer Prägung wurde zum Feindbild. Deutschland sollte wieder eine Großmacht werden. Nationalistische Strömungen sollten reichsweit abgestimmt werden. Unter den Bedingungen der Rüstungsbeschränkungen durch den Versailler Vertrag und des gesellschaftlichen Pluralismus der Weimarer Republik war dieses Ziel aus Sicht der Nationalisten aber unerreichbar. Gegner waren Sozialisten, Pazifisten und Demokraten.26

Die völkische Idee gewann in der Weimarer Republik zunehmend an Anziehungskraft, während der Staat an sich an Bedeutung verlor. Das Ziel einer umfassenden Militarisierung des Volkes konnte die Reichswehr aber nur in Zusammenarbeit mit nationalistischen Wehrverbänden erreichen. Stahlhelm und SA gewannen an Bedeutung, verfolgten aber auch ihre eigenen Interessen unabhängig von der Reichswehr. Die geplante starke Milizarmee wäre ohne Unterstützung der SA nicht umsetzbar gewesen. Die gewünschte Mobilisierung der Massen gelang der Reichswehr alleine nicht. Auch diverse politische Maßnahmen wie die Errichtung eines Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung führten nicht zum Erfolg. Allerdings wurde die Reichswehr in eine Armee ohne Beteiligung der Arbeiterschaft umgewandelt. Bei der Personalauswahl hatte sie freie Hand, und Organisationen wie der Stahlhelm nahmen Einfluss auf die mit der Auswahl betrauten Kompaniekommandanten. So öffnete sich die Reichswehr nach rechts. Aus dem linken Spektrum kamen kaum Bewerber. Die Reichswehr wurde dort aufgrund ihrer Rolle beim Kapp-Putsch und anderen Auseinandersetzungen als Vertreterin einer alten, den Traditionen verpflichteten Ordnung gesehen und nicht als Armee der Republik und des Volkes.27

Die Militärgerichtsbarkeit wurde in der Weimarer Republik 1919 durch Art 106 der Reichsverfassung28 abgeschafft. Innerhalb der Armee wurden einige Rahmenbedingungen angepasst. Eine Verbesserung wurde im Beschwerderecht erreicht, in dem eine unbegründete Beschwerde oder unrichtige dienstliche Anschauung straffrei gestellt wurden. Allerdings wurden zahlreiche bisher im Kriminalstrafrecht geregelte Tatbestände in das Disziplinarrecht überführt und so die ordentliche Gerichtsbarkeit von der Ahndung dieser Taten ausgeschlossen. An ihre Stelle traten die militärischen Disziplinarvorgesetzten. Ziel der Obersten Heeresleitung war die Aufrechterhaltung der Mannszucht, also der Disziplin der Soldaten im Sinne der militärischen Führung. Die Strafbefugnisse der Kommandanten bis hin zu den Kompaniechefs war darüber hinaus äußerst umfangreich, bis hin zu mehrwöchigen Freiheitsstrafen. Um Auswüchse zu vermeiden, appellierte selbst der Chef der Heeresleitung an das Verantwortungsgefühl der Kommandanten.29

Das in der Weimarer Armee aufgebaute Bild vom inneren Feind zeigte bereits viele Parallelen zur NS Weltanschauung. Da die Soldaten zunächst aber ohnehin nach politischen Gesichtspunkten ausgewählt wurden, spielte dies bis zum Ausbau des Heeres keine größere Rolle. Dies sollte sich ab 1935 ändern. Für die Niederlage im Ersten Weltkrieg suchte die Armee Schuldige außerhalb der militärischen Führung und fand sie unter anderem in Juden, Sozialisten und ihrem Einfluss auf sog Drückeberger. Dadurch sei die Wehrkraft zersetzt und letztendlich der Krieg verloren worden. Viele Soldaten des Ersten Weltkriegs litten aufgrund ihrer Erfahrungen in den Schützengräben - Trommelfeuer, Giftgasangriffe usw - an psychischen Problemen. Die Militärpsychiater therapierten diese Soldaten häufig, indem sie sie zurück an die Front schickten. Drückeberger wurden als soziale

26 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 15. 27 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 16. 28 vgl RGBl 1919/152. 29 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 16 f; Rass/Quadflieg, Die Kriegsgerichtsbarkeit der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg: Strukturen, Handlungsweisen, Akteure, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 46. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 17/226

Schädlinge, ethisch minderwertig, antisozial und mit einer besonderen Neigung zur Simulation definiert. Diese ideologisch bedingten psychologischen Schlussfolgerungen der Militärpsychiater wirkten sich auch auf die juristische Beurteilung von Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung und Disziplinarvergehen im Zweiten Weltkrieg aus. Das Vokabular und die Klassifizierungen der Psychiatrie wurden von Militärjuristen in weiten Teilen übernommen. Therapieresistente Soldaten sollten aus der Armee entfernt werden. Die Einsicht in die militärische Lage an der Front verweigerten die Verantwortlichen aber. Die Militärpsychiatrie schuf so eine wissenschaftliche Begründung für die Dolchstoßlegende, nach der Minderwertige, Versager, Drückeberger und linke Intellektuelle für die Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich waren.30

Die Militärjustiz des Ersten Weltkrieges sah das Drückebergertum aber noch nicht als Fahnenflucht an. Dies und angeblich zu milde Urteile führten bereits in der Weimarer Republik zu Kritik, da nach Meinung nationaler Kreise ein härteres Durchgreifen der Justiz die Disziplin erhalten und so eine Fortsetzung des Krieges ermöglicht hätte. Paul von Hindenburg meldete als Generalstabschef des Feldheeres am 16. August 1918 an das Kriegsministerium, dass die Heeresjustiz ihren Aufgaben nicht gerecht werde. Dieser Kritik schlossen sich auch andere Offiziere und Untersuchungsausschüsse der Verfassungsgebenden Nationalversammlung und des Reichstags an. Die tatsächlichen Gründe der Niederlage wie die Überbeanspruchung der Soldaten und des Materials oder die materielle Überlegenheit des Gegners wurden ignoriert. Oberst Max Bauer,31 ein enger Mitarbeiter General Ludendorffs, nahm in seinen Erinnerungen die Zahl der Drückeberger und Fahnenflüchtigen im September 1918 mit eineinhalb Millionen an. Dies konnten weder die Kommandobehörden und noch weniger die Militärjustiz verhindern.32

Die Urteile der Militärjustiz waren im Ersten Weltkrieg verglichen mit dem Zweiten relativ mild, insbesondere bei Verfahren zu und unerlaubter Entfernung. Besonders geringe Strafen verhängten dabei bayrische Gerichte. Ein Großteil der Desertionsfälle wurde nur mit Strafen bis zu drei Jahren geahndet. Für das gesamte deutsche Feldheer wird eine Gesamtzahl von 35.000 bis 45.000 Fällen von Desertion und unerlaubter Entfernung angenommen. Während die bayrische Rechtsprechung noch liberale Tendenzen erkennen lässt, zeigte die Haltung der Obersten Heeresleitung bereits Ansätze einer härteren Bestrafung, wie sie im Zweiten Weltkrieg praktiziert werden sollte.33

30 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 144; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 17 ff; Messerschmidt, Das System Wehrmachtjustiz. Aufgaben und Wirken der deutschen Kriegsgerichte, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 35 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 128; Müller, Militärpsychiatrie vor Gericht, in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther (Hrsg), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht (1994) 165 ff; Schöngarth/Eberlein, Die Konstruktion des „asozialen Tätertyps“, in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther (Hrsg), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht (1994) 139; Walmrath, Iustitia 151 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 435 ff. 31 vgl Bauer, Der große Krieg in Feld und Heimat. Erinnerungen und Betrachtungen (1921) 232. 32 vgl Baumann/Koch, „… kommt es auf Einzelheiten insoweit auch nicht an“. Drei Fallstudien in zeitgenössischer und erinnerungspolitischer Perspektive, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 43 f; Eberlein, Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht, in Eberlein/Haase/Oleschinski (Hrsg), Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht (1999) 26; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 27; Friedrich, Nazi-Justiz 181 ff; Haase, Deserteure2 37; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 19 f; Riegler in Pirker/Wenninger 165 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 32 ff; Theis, „Das Ziel ist klar, ein 1918 wird das Ersatzheer nie erleben.“ – Die Wehrmachtjustiz der Ersatztruppen an der „Heimatfront“ während des Zweiten Weltkriegs, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 170 ff; Thomas, „Nur das ist für die Truppe Recht, was ihr nützt…“. Die Wehrmachtjustiz im Zweiten Weltkrieg, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 39; Walmrath, Iustitia 310. 33 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 20 f; Theis in Bade/Skowronski/Viebig 170 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 18/226

Ludendorff34 machte für die Niederlage in seinen Erinnerungen vor allem den zersetzenden Einfluss der Heimat und nicht die strategischen und operativen Fehlentscheidungen verantwortlich. Dieses Bild wurde von der Reichswehr übernommen. Derartige zersetzende Einflüsse sollten im Hinblick auf zukünftige Kriege eliminiert werden. Dies führte auch zur Kritik an der vorgeblich zu milden Militärjustiz, die im Ersten Weltkrieg nur 150 Todesurteile gefällt und 48 vollzogen hatte und nach Meinung der militärischen Führung nicht hart genug geurteilt hatte. Als Vergleich dienten die alliierten Gegner, die Briten vollzogen immerhin 346 Todesurteile, die Franzosen etwa ein Drittel von 2.000 gefällten Todesurteilen. Die Militärjustiz erhielt somit eine Mitschuld an der Niederlage und der Verbreitung von Sozialismus und Liberalismus. Deserteure und Drückeberger hätten an der Front eine deutsche Niederlage verhindern können. Für Hitler war die Mitschuld der Militärjustiz an der Niederlage ohne jeden Zweifel.35

Seit 1933 wurde das Rechtsdenken der neuen NS Machthaber auch in der Militärjustiz eingeführt. Die Fehler des Ersten Weltkriegs sollten nicht wiederholt werden, die Volks- und Wehrgemeinschaft sollte gefestigt werden. Die ideologisch bedingte Brandmarkung der Militärjustiz des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik zeigte Auswirkungen auf die 1934 wieder eingeführte Wehrmachtsjustiz des NS Staates. Viele Offiziere glaubten an einen Neuanfang und bessere Zeiten durch den Militarismus der neuen nationalsozialistischen Führung. Man erwartete sich eine Disziplinierung und Willenseinheit des Volkes, die im Ersten Weltkrieg nicht vorhanden war. Die Bevölkerung sollte bereits im Frieden für die Belastungen eines Krieges vorbereitet werden.36

Bis 1933 waren Soldaten nur dem Staat verpflichtet und sollten unpolitisch sein. Dies änderte sich mit der Machtübernahme Hitlers. Seine Politik zielte auf eine Stärkung des Wehrwillens und die Eliminierung marxistisch-pazifistischer Überzeugung und kam der Wehrmachtsführung entgegen. Die Lehren, die die Wehrmachtsführung aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatte, deckten sich mit der politischen Linie Hitlers. Zwar sollte die Wehrmacht weiterhin unpolitisch und überparteilich bleiben, allerdings erhielten diese Begriffe in der NS Diktion neue Bedeutungen. Überparteilich bedeutete, dass die Wehrmacht nicht in die Parteistrukturen der NSDAP eingegliedert wurde, aber den Führerstaat mittrug. Die im militärischen Bereich ähnlichen Zielsetzungen machten die Wehrmachtsführung zu einer Stütze des NS Systems. Es gab Zustimmung der Wehrmacht zur Abschaffung der parlamentarischen Demokratie, zur Aushöhlung der Weimarer Verfassung und zur Auflösung der Parteien, Gewerkschaften und anderer Organisationen, da diese als Hindernisse für den Aufbau eines wehrhaften Staates gesehen wurden. Konkurrenz bestand zu den Wehrverbänden der NSDAP, bis 1934 zur SA und danach zur SS, die das Waffenmonopol der Wehrmacht in Frage stellten. Durch die Demonstration weltanschaulicher Zuverlässigkeit und der Verpflichtung gegenüber dem autoritären Staat und der Volksgemeinschaft sollte die Position der Wehrmacht im NS Staat

34 vgl Ludendorff, Meine Kriegserinnrungen 1914 - 19189 (1926) 290 ff. 35 vgl Baumann/Koch, Einzelheiten, in Baumann/Koch 43 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 26 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 27; Friedrich, Nazi-Justiz 181 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 27; Haase, Deserteure2 37; Haase, Fahnenflucht 23 f; Haase, RKG 13 ff; Hautmann, Militärdienstverweigerung aus der Sicht des Historikers, in Kohlhofer (Hrsg), Gewissensfreiheit und Militärdienst (2000) 75; Kalmbach, Besatzungsgerichtsbarkeit und Besatzungsstrafrecht, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 26; Klausch, Die Geschichte der Bewährungsbataillone 999 unter besonderer Berücksichtigung des antifaschistischen Widerstandes (1987) 174; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 21; Oram, Armee, Staat, Bürger und Wehrpflicht: Die britische Militärjustiz bis nach dem Zweiten Weltkrieg, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 188; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 17 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 165 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 32 ff; Thomas in Haase/Paul 39; Vogel, Rede anlässlich der Eröffnung der Wanderausstellung „Was damals Recht war…“ in Marburg/Lahn am 25. Oktober 2009, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 16; Walmrath, Iustitia 310; Wette in Kirschner 264; Wüllner, NS-Militärjustiz2 435 ff. 36 vgl Friedrich, Nazi-Justiz 181 f; Garbe in Pirker/Wenninger 26 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 21 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 32 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 19/226 gesichert und gefestigt werden. Dadurch wurde die Wehrmacht allerdings nicht gestärkt, sondern wurde zu einem weiteren von vielen Machtzentren innerhalb des NS Staates. Jüdische Soldaten und Offiziere wurden aus der Wehrmacht ausgeschlossen und das gewaltsame Vorgehen der NS Führung gegen Parteien und Andersdenkende toleriert. Dafür wurde die Wehrmacht aufgerüstet, und der Austritt aus dem Völkerbund, außenpolitische Erfolge Hitlers und die Volksgemeinschaftsideologie wurden positiv bewertet.37

Zwischen Wehrmacht und NSDAP herrschte eine Arbeitsteilung. Die NSDAP übernahm die Volkserziehung mit Propaganda, Schulungen und einer vormilitärischen Ausbildung. Darüber hinaus ging sie rigoros gegen jene Gruppen vor, die eine Aufrüstung der Wehrmacht ablehnten. Sie hatte ein Monopol auf die politische Erziehung in Deutschland. Die Wehrmacht verlor dadurch zwar ihre alleinige Rolle als Erziehungsinstitution des Volkes, knüpfte aber an die Tätigkeit der Partei an, um einen politischen Soldaten im Sinne Hitlers heranzuziehen. Bereits 1934 propagierte der Reichswehrminister Werner von Blomberg die Notwendigkeit der geistigen Durchdringung mit den nationalsozialistischen Ideen. Die Soldaten sollten im nationalsozialistischen Denken erzogen werden. Die Wehrmacht stellte sich so in den Dienst der neuen Machthaber und sicherte sich ihre Position im NS Machtgefüge.38

Der politische Soldat sollte die NS Ideologie und die Ziele der Wehrmacht vereinen. Der spätere Oberbefehlshaber des Heeres von Fritsch wies 1933 seine Soldaten darauf hin, dass die NS Ideologie zum Träger des deutschen Geisteslebens geworden sei. Der ideale Soldat sollte den politischen Soldaten des Nationalsozialismus und den Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs in seiner idealistisch- ideologisch verbrämten Form vereinen. Hitler selbst wurde zum Idealtypus dieser Vereinigung von Frontkämpfer und Nationalsozialist stilisiert. Zwischen Wehrmacht und NSDAP sollte ein reger Austausch stattfinden. Als äußeres Zeichen dieser Symbiose von Wehrmacht und Partei kann die Teilnahme der Armee an den Reichsparteitagen gewertet werden. Vertieft wurde diese Symbiose noch, als Hitler nach dem Tod Hindenburgs die Ämter des Reichspräsidenten und Reichskanzlers in seiner Person vereinigte und damit auch zum Oberbefehlshaber der Wehrmacht wurde. Betroffen waren die Soldaten von dieser neuen ideologischen Ausrichtung der Wehrmacht zunächst durch den neuen Fahneneid. Anstelle des Treuegelöbnisses auf die Reichsverfassung und des Gehorsams gegenüber dem Reichspräsidenten trat nun der Schwur, Hitler persönlich Gehorsam zu leisten und jederzeit bereit zu sein, das Leben dafür einzusetzen. Anstelle konkreter Inhalte (Reichsverfassung) trat eine Fokussierung auf den unbedingten Gehorsam gegenüber der Person Hitler. Dies sollte in Kriegszeiten schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen. Der Wille des Führers war in der NS Wehrmacht das bestimmende Element.39

Der politische Soldat sollte der Volksgemeinschaft angehören, in der NS Ideologie verhaftet und überparteilich sein. Überparteilich bedeutete in diesem Zusammenhang, dass er keiner Parteiorganisation der NSDAP angehören sollte. Daran wurde von der Wehrmachtsführung auch nach der Ausschaltung der SA festgehalten.40 In § 26 Abs 1 WG41 wurde ausdrücklich festgehalten: „Die

37 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Haase, Deserteure2 39; Haase, Fahnenflucht 16; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 23 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 45; Walter, Die Kriegsdienstverweigerer in den Mühlen der NS- Militärgerichtsbarkeit, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 114 f. 38 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 25; Messerschmidt, Polierte Geschichtsbilder. Militärische Tradition als Vergangenheitsglättung, in Haase/Oleschinski (Hrsg), Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR- Strafvollzug2 (1998) 95. 39 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 145; Haase, Fahnenflucht 20 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 26 f. 40 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 145; Haase, Fahnenflucht 20 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 27 f. 41 RGBl 1935/52. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 20/226

Soldaten dürfen sich politisch nicht betätigen, die Zugehörigkeit zur NSDAP oder einer ihrer Gliederungen oder zu einem der ihr angeschlossenen Verbände ruht für die Dauer des aktiven Wehrdienstes.“ Dies wurde von Parteifunktionären häufig kritisiert, allerdings änderte diese Festschreibung der Überparteilichkeit nichts an der Einbindung der Wehrmacht in den Machtapparat des NS Regimes. Außerdem wurde die Distanz zu Parteiorganisationen bereits nach kurzer Zeit aufgeweicht. Einerseits musste die weltanschauliche Glaubwürdigkeit der Wehrmacht gewahrt werden, andererseits kamen 1935 nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht die neuen Soldaten verstärkt aus NS Jugendorganisationen. Nach dem Willen des Regimes sollte die Erziehung des neuen deutschen Menschen in der Wehrmacht ihre Vollendung finden. Auch wenn diese Ziele nie vollständig umgesetzt werden konnten, hatten sie doch Auswirkungen auf die Soldaten und führten insbesondere im Hinblick auf die spätere Rechtsprechung der Kriegsgerichte zu Konsequenzen in der Beurteilung von Straftatbeständen.42

Die NS Ideologie führte zwar einerseits zu einer Zurückdrängung des Standesdenkens innerhalb der Armee, da jeder Angehörige, unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung, Offizier werden konnte, allerdings wurden andererseits Verhaltensweisen, die nicht der NS Ideologie entsprachen, verfolgt. Derartiges Verhalten führte zum Vorwurf des Volksschädlings und Feindes der Gemeinschaft. Dies wirkte sich sowohl auf das Disziplinarwesen als auch auf die Militärjustiz aus. An die Stelle der Staatsidee, deren Wahrung in der Weimarer Republik das Ziel der Reichswehr war, trat der NS Führergedanke. Die Erziehungsarbeit innerhalb der Wehrmacht orientierte sich ab nun an den Zielsetzungen des Nationalsozialismus. In der ideologischen Erziehung wurde der Frontsoldat des Ersten Weltkrieges als Ideal der Volksgemeinschaft dargestellt. Die Niederlage war Folge eines moralischen Zusammenbruchs. Die beste Propaganda sah die Wehrmacht in einer Erziehung der Soldaten im Sinne des Nationalsozialismus und ihres Oberbefehlshabers. Die Lehrpläne der militärischen Schulen wurden dementsprechend umgestellt und an die Veröffentlichungen der NSDAP angepasst.43

Die Wehrmacht gestaltete auch das Verhältnis zwischen Offizier und Soldat um. Die gesellschaftlichen Voraussetzungen für den Zugang zum Offiziersberuf wurden gelockert. Jeder Deutsche, der als gesund an Körper, Charakter und Geist eingestuft wurde, konnte die Offizierslaufbahn einschlagen. Man erhoffte sich dadurch eine Verbesserung der Moral, da das Offizierskorps in der gesamten Bevölkerung verankert wurde. Der Dienst in der Wehrmacht wurde als Ehrendienst am deutschen Volk definiert. Eine unerschütterliche Kampfgemeinschaft zwischen Führer und Volk wurde propagiert.44

Nachdem 1935 die Wehrpflicht eingeführt worden war, strömten verstärkt junge Männer in die Wehrmacht, die aus Organisationen der NSDAP kamen. Blomberg infomierte den Stellvertreter des Führers Heß, dass 1934 von 518 eingestellten Offizieren 341 (65,8%) einer NS Organisation angehört hatten. Gemäß einer Statistik des Allgemeinen Heeresamtes (AHA) stammten von 182.842 Soldaten, die zwischen Oktober 1933 und Dezember 1934 aufgenommen wurden, die Hälfte aus der Hitlerjugend, 5% aus der SS, 2,8% aus dem Deutschen Luftsportverband und 1,2% aus dem NS Kraftfahrerkorps. In der Marine kamen im selben Zeitraum von 7.119 aufgenommenen Soldaten rund 61,4% aus NS Organisationen. Das Ziel Hitlers, eine durchgehende politische Erziehung vom

42 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 28; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 45. 43 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 29 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 435. 44 vgl Garbe, „Wenn der Wille nicht gebrochen werden könne…“ Die Prozessstrategie des Reichskriegsgerichtes in Verfahren gegen Zeugen Jehovas und andere religiös motivierte Kriegsdienstverweigerer, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 195; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 30. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 21/226

Kindesalter an bis zu Wehrmacht und Partei zu gewährleisten, um einen neuen deutschen Menschen zu schaffen, rückte damit näher. Aufstiegschancen in der Armee boten sich abgesehen von der Volksgemeinschaftsideologie auch durch die Aufrüstung und den damit verbundenen massiven Ausbau der Personalstärke der Wehrmacht. Da andere Organisationen verboten waren, wurden NS Gliederungen zu Auffangbecken für eine große Zahl von Menschen, die sich dadurch Vorteile erhofften. Vermeintliche soziale Errungenschaften wurden mit politischer Entmündigung, Zerstörung der Demokratie und Inhumanität erreicht. Der Gemeinschaftsgedanke wurde von der Wehrmacht akzeptiert, auch wenn er durch ständige Personalwechsel im Zuge des Ausbaus der Wehrmacht erschwert wurde.45

Misshandlungen von Soldaten durch Vorgesetzte unterlagen der richterlichen Kontrolle und konnten mit Gefängnis bestraft werden. Allerdings verfügten die Disziplinarvorgesetzten bereits auf Ebene der Kompaniechefs über weitreichende Strafbefugnisse wie Soldverwaltung und die Verhängung von Arrest bis zu zwei Wochen. Diese Strafrahmen vergrößerten sich mit jeder Hierarchieebene und lagen weit über jenen der Reichswehr. Den Verbesserungen in Bezug auf Aufstiegschancen und Misshandlungen durch Vorgesetzte stand die ideologische Beeinflussung der Soldaten gegenüber. Führerstaat und Rassepolitik waren wesentliche Inhalte, die die Wehrmachtsführung dem politischen Soldaten vermittelte. Die Inhalte waren grundsätzlich nicht anders als jene der NS Propaganda, aber der Soldat erlebte die weltanschauliche Übereinstimmung der Wehrmacht mit dem NS Staat. Mit der Übernahme der NS Ideologie wurden in der Wehrmacht auch die Verfolgung von Juden und Andersdenkenden und der Aufbau der Konzentrationslager (KZ) gerechtfertigt.46

Nach 1933 wurden Veröffentlichungen von Wehrmachtsangehörigen zensiert. Artikel mussten vor der Veröffentlichung vom Wehrmachtamt genehmigt werden. Die Veröffentlichungen von Wehrmachtsangehörigen gaben ab diesem Zeitpunkt daher nicht nur ihre eigene Meinung wieder, sondern entsprachen auch der offiziellen Linie der Armee. Bereits 1933 wurde in einem derartigen Artikel der Zusammenhang von Volk, Rasse und Staat propagiert. Rassenfremdes und -schädigendes müsse bekämpft werden. Das Ideal, um rassen- und weltanschaulich verwandte Menschen zu erhalten, war der totalitäre Staat. 1937 erschienen Richtlinien des Reichskriegsministeriums für den Unterricht in tagespolitischen Fragen, die sich mit Rassepolitik und der Judenfrage beschäftigten. Die offizielle Wehrmachtsführung übernahm also die Leitgedanken der NS Ideologie für die Schulung ihrer Soldaten. Die Judenfrage wurde als politische Aufgabe dargestellt, die keinen Platz für humanitäre Erwägungen ließ. Der politische Soldat musste somit die rassepolitischen Ziele des Nationalsozialismus unterstützen. Vertreter abweichender Meinungen wurden als Volksschädlinge klassifiziert und aus der Gesellschaft ausgestoßen.47

Die NS Rassepolitik übte auch Einfluss auf das tägliche Leben der Soldaten aus. So sollten Offiziere nur arische Frauen heiraten. Dies forderte der Chef der Heeresleitung bereits im Dezember 1934. In einer Heiratsordnung vom 1. März 193648 wurde festgelegt, dass eine Ehe von Wehrmachtsange- hörigen nur mit Frauen deutschen oder artverwandten Blutes eingegangen werden dürfe. In der zivilen Verwaltung ordnete der Reichsinnenminister an, dass die Abstammung von Ehefrauen vorläufig nicht geprüft werden sollte. Für die Wehrmacht stellte der Chef des Wehrmachtsamtes fest, dass diese Anordnung für die Wehrmacht nicht gelte. Nachdem 1936 das Wehrgesetz an das

45 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 145; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 31 f; Wüllner, NS- Militärjustiz2 435. 46 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 32 f. 47 vgl Haase, Fahnenflucht 20 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 33 f. 48 vgl HVBl 1936/364. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 22/226

Reichsbürgergesetz49 angepasst worden war, durften Juden keinen Wehrdienst mehr leisten und sog jüdische Mischlinge keine Vorgesetzten werden. Aber bereits davor waren jüdische Soldaten aus der Wehrmacht ausgeschlossen worden. Begründet wurde dies mangels einer anderen rechtlichen Grundlage mit mangelnder Befähigung. Der Ausschluss jüdischer Soldaten, Antisemitismus, Führerstaat und die Abschaffung der Demokratie kamen der Wehrmacht entgegen und fanden ihre Zustimmung. Da sich Hitler der Loyalität der Wehrmacht sicher war, mischte er sich kaum in die inneren Belange ein. Allerdings bildete die Rassenfrage eine Ausnahme. Die Führer der Wehrmacht sollten rein deutschen oder artverwandten Blutes sein. Die Wehrmacht sollte ihr Personal nach rassischen Gesichtspunkten auswählen und damit zu einer Erziehung und Auslese der besten Deutschen beitragen. Dieser Forderung Hitlers kam die Wehrmachtsführung nach. Die Rassenideologie wurde ein wesentliches Merkmal der Erziehung des politischen Soldaten und diente der Vorbereitung des Vernichtungskrieges. Rassegesundheit und Wehrkraft wurden als unauflöslich miteinander verknüpft. Nur die NS Rasselehre könne das deutsche Volk retten. Ansonsten drohe das deutsche Volk von fremdem Erbgut ausgelöscht zu werden. Der Kampf gegen fremde Rassen und sog Minderwertige war damit begründet. Rassenkrieg, Euthanasie und die Verfolgung der inneren Feinde waren die Folge.50

Nach dem Novemberpogrom 1938 führte das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) in seinen Richtlinien aus, dass die Juden ihren Kampf gegen andere Völker nicht heldenhaft sondern als Schmarotzer führten. Der Abwehrkampf der Deutschen dürfe daher von anderen Staaten nicht angegriffen werden. Erst wenn die Macht der Juden beseitigt sei, sei eine Verständigung zwischen den anderen Völkern möglich. Die von der NS Führung gesetzten Maßnahmen gegen Juden und Bolschewisten wurden vom OKW unterstützt. Es wurde ein Abwehrkampf gegen das Weltjudentum propagiert. Das Feindbild des Nationalsozialismus wurde auch für die Wehrmacht maßgebend. 1938 forderte der neue ObdH Walther von Brauchitsch die vollständige Einlassung der Wehrmacht auf das Weltbild des Nationalsozialismus. In der Reinheit der Weltanschauung sollte sich das Offizierskorps von niemandem übertreffen lassen. Der Offizier sollte in jeder Lage gemäß den Anschauungen der NS Ideologie handeln, auch wenn es keine gesetzlichen Grundlagen dafür gab. 1939 trat die Bekämpfung des Weltjudentums in den Fokus der Wehrmachtsführung. In einer Rede vor dem Reichstag am 30. Jänner 1939 forderte Hitler die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa in einem kommenden Krieg. Dies wurde von Admiral Raeder, dem Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (ObdM), in einer Rede zum Heldengedenktag 1939 aufgenommen. Er stellte auch fest, dass Wehrmacht und Partei in ihrer Haltung und ihrem Geist immer mehr zu einer Einheit geworden seien.51

In Zusammenhang mit dieser Erziehungspolitik und der Übernahme der Feindbilder Judentum und jüdischer Bolschewismus stand die Kriegspolitik Hitlers. Bereits im November 1937 informierte er die Wehrmachtsführung über das geplante Vorgehen gegen Österreich und die Tschechoslowakei. Die Soldaten wurden auf Ziele und Methoden des kommenden Krieges vorbereitet. Es war dabei von einem Weltanschauungskrieg gegen die von Juden und Freimaurern geführten Demokratien die Rede. Ein Sieg sei nur möglich, wenn man selbst von der NS Ideologie durchdrungen sei. Die Übereinstimmung von politischer und militärischer Führung sowie Neid und Hass der Deutschland umgebenden Mächte waren Grundgedanken der wehrpolitischen Erziehung. Der Soldat wurde zum weltanschaulichen Kämpfer stilisiert. Der bevorstehende Krieg wurde als Verteidigungskrieg gegen jüdisch dominierte Demokratien dargestellt. Die Einheit von Politik und Militär wurde als Garant eines

49 vgl RGBl I 1935/100. 50 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 34 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 435. 51 vgl Protokoll der 1. Sitzung des Reichstages am 30. Januar 1939 2 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 37 f; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 95. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 23/226 deutschen Sieges gesehen. Der Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes (AWA) im OKW führte aus, dass der Soldat durch seinen Eid nicht nur an die Person, sondern auch an das Werk des Führers und die Weltanschauung gebunden sei. Die Forderungen und Maßnahmen des Nationalsozialismus sollten vorbehaltlos unterstützt werden. Neben den militärischen trat ein politischer und weltanschaulicher Gehorsam des Soldaten. Dies führte zu tiefgreifenden Konsequenzen für die Soldaten während des Krieges, die insbesondere in der Militärgerichtsbarkeit zum Ausdruck kamen. Hitler selbst verkündete am 10. Februar 1939 vor Truppenoffizieren, dass die Zeit des liberal- bürgerlichen Politikverständnisses vorbei sei. Liberalismus, Demokratie und Marxismus seien Schuld am Niedergang des deutschen Volkes, das nun wieder aufgerichtet werden müsse. Dies könne nur geschehen, wenn anstelle des Individuums das Volk trete. Dieser Zielsetzung dürfe und könne sich der Soldat nicht entziehen. Der Soldat müsse sich mit dem Volk identifizieren und dessen Zielsetzungen mittragen. Der Offizier müsse daher nicht nur militärischer, sondern auch weltanschaulicher Führer sein. Der politische Soldat der NS Armee sollte einen Kampf um das Überleben der deutschen Volksgemeinschaft führen und sich zu diesem Zweck der Führung unterordnen. Anweisungen waren zu befolgen und nicht in Frage zu stellen.52

Die Lehren des Ersten Weltkriegs wurden von den Nationalsozialisten dahingehend interpretiert, dass Parteien und Ideologien durch die Volksgemeinschaft abgelöst werden mussten. Militär und politische Führung stimmten in der Identifikation ihrer Feinbilder im Wesentlichen überein. Die Abwehrmechanismen von Politik und Justiz hatten im Ersten Weltkrieg nach ihrer Meinung versagt. Erst der Nationalsozialismus hätte dies geändert, indem er Kommunisten, Sozialisten und Pazifisten entmachtete, ihre Organisationen auflöste und ihre Proponenten tötete, in Konzentrationslager oder ins Exil trieb. Die Stabilität der Volksgemeinschaft im Krieg blieb zunächst eine offene Frage. Schwächlinge, Verräter, Deserteure und Saboteure konnten eine Bedrohung darstellen. Daher ging das Regime auf allen Ebenen rigoros gegen sie vor. An der Konstruktion des inneren Feindes beteiligten sich auch die Wehrmachtsjustiz und die Rechtswissenschaften. Der innere Feind wurde von der Justiz ebenso behandelt wie der äußere. Die Strafdrohungen orientierten sich daher an den exzessiven Methoden der NS Kriegsführung.53

B. Grundzüge der Entwicklung des Militärstrafrechts in Österreich bis 1938

Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Ausrufung der Republik bestanden die Gesetze des Kaiserreichs weiter.54 Erst durch parlamentarische Prozesse der neuen Republik wurde die Rechtsordnung deren Bedürfnissen angepasst. Dies betraf sowohl das materielle als auch das formelle Militärstrafrecht. So stammte das Militärstrafgesetz zu Beginn der Ersten Republik noch aus dem Jahr 1855.55 1. Das materielle Militärstrafrecht Die erste wesentliche Änderung des aus der Monarchie übernommenen Militärstrafrechts erfolgte durch die Militärstrafgesetznovelle vom 5. Dezember 1918.56 Die wesentlichen Punkte dieser Novelle waren vor allem die Erhöhung der Betragsgrenzen bei Eigentumsdelikten, die Anpassung des

52 vgl Haase, Fahnenflucht 20 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 38 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 435. 53 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Haase, Deserteure2 39; Manoschek, Die nationalsozialistische Militärjustiz als Terrorinstrument gegen innere und äußere Gegner, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 17 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 40 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 32 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114 f. 54 vgl Lichtenwagner, Militärgerichtsbarkeit in Österreich im Wandel der Zeit, in Bezirksmuseum Josefstadt (Hrsg), 175 Jahre Gerichtsbarkeit in der Josefstadt (2014) 53. 55 vgl öRGBl 1855/19; AB 67 BlgProvNV 1; Hautmann in Kohlhofer 69; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 15 ff. 56 vgl öStGBl 1918/89; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 21 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 24/226

Strafrahmens bei Gemeingefährdung und gefährlicher Drohung, die Anpassung der Tatbestände für einen qualifizierten Diebstahl, insbesondere an Verwundeten, sowie die Erweiterung des Geltungsbereichs der allgemeinen Strafgesetze auf Heeresangehörige.57

Die Erhöhung der Betragsgrenzen diente vor allem der Anpassung an das allgemeine Strafgesetz, dessen Betragsgrenzen mit der so genannten Lex Ofner bereits 1910 angehoben wurden. Da die Lex Ofner ein rein österreichisches Gesetz war, während das Militärstrafrecht auch im ungarischen Teil der Habsburgermonarchie in Geltung stand, konnte die Novelle aufgrund von Bedenken der ungarischen Regierung nicht gleichzeitig für beide Gesetze umgesetzt werden. Eine Rechtsangleichung beider Gesetze war daher erst nach der Auflösung der Monarchie möglich.58

Die Bestimmungen zum Kameradendiebstahl wurden im Gesetz insoweit gemildert, als bisher jeder Kameradendiebstahl als Verbrechen eingestuft und nun bis zu einer Betragsgrenze von 100 Kronen lediglich als Vergehen behandelt wurde. Erst bei einem Wert der gestohlenen Sachen von über 100 Kronen oder bei einem besonders schweren Schaden für den Bestohlenen sollte nach der Novelle ein Kameradendiebstahl als Verbrechen gewertet werden.59

Eine wichtige Regelung der Militärstrafgesetznovelle 1918 war auch die Schaffung der Möglichkeit, Geldstrafen über Mannschaften zu verhängen. In der Monarchie war dies nicht möglich, weil Angehörige der Mannschaftsdienstgrade häufig vermögenslos waren. Nunmehr wurde diese Unterscheidung nicht mehr als nötig erachtet, und Geldstrafen, die bisher nur gegen Unteroffiziere und Offiziere anwendbar waren, wurden auch auf Mannschaften ausgedehnt.60

Ebenso wurde das Militärstrafrecht an die geänderte Wehrverfassung angepasst. Bisher konnten Sonderdelikte nur von Soldaten begangen werden, die einen Eid auf die Kriegsartikel abgelegt hatten. Diese Regelung war maßgeschneidert für das in der Monarchie vorherrschende Söldnerheer. Für das Wehrpflichtigenheer der Ersten Republik hingegen war diese Bestimmung unbrauchbar, da Soldaten sich nicht mehr freiwillig durch Vertrag zum Wehrdienst verpflichteten, sondern aufgrund eines Gesetzes einberufen wurden und den Wehrdienst ohne Wahlmöglichkeit verpflichtend zu leisten hatten. Um nun die Ahndung militärischer Sonderdelikte auch vor diesem Hintergrund gewährleisten zu können, wurde die Voraussetzung der Eidleistung aus dem Militärstrafrecht gestrichen.61

Die Militärstrafgesetznovelle 1918, mit der im Wesentlichen eine Anpassung an das zivile Strafrecht erreicht werden sollte, wurde schließlich von der Provisorischen Nationalversammlung ohne vorhergehende Debatte mit Zweidrittelmehrheit angenommen.62

Im Jahr 1919 folgte ein Gesetz über die Folgen militärgerichtlicher Verurteilungen.63 Sinn dieses Gesetzes war wiederum die Angleichung an das zivile Strafverfahren. Eine Reform des Gesetzes noch während der Monarchie scheiterte am österreichisch-ungarischen Dualismus. Dadurch konnten in der österreichischen Reichshälfte beschlossene Änderungen des zivilen Strafrechts nicht für das Militärstrafrecht wirksam werden.64

57 vgl VorlSR 19 BlgProvNV 1 ff; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 21 ff. 58 vgl AB 67 BlgProvNV 1 f. 59 vgl AB 67 BlgProvNV 2. 60 vgl AB 67 BlgProvNV 3. 61 vgl AB 67 BlgProvNV 3. 62 vgl Stenographisches Protokoll der 8. Sitzung ProvNV 284. 63 vgl öStGBl 1919/601. 64 vgl AB 589 BlgKonstNV 1. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 25/226

Einige Begünstigungen des zivilen gegenüber dem militärischen Strafrecht waren ein Wegfall der Beschränkung der bürgerlichen Handlungsfähigkeit bei einer Verurteilung wegen eines Verbrechens und eine Milderung der Folgen von Verurteilungen. Die dadurch in der neuen Republik entstandene Ungleichbehandlung von Staatsbürgern vor dem Gesetz wurde als unvereinbar mit einem demokratischen Staatswesen betrachtet.65

Die aus der Monarchie übernommenen Bestimmungen sahen grundsätzlich keine Tilgung von militärgerichtlichen Strafen vor. Einzige Ausnahme bildeten Verurteilungen durch Landwehrgerichte wegen ziviler Delikte. Mit der Einführung eines einheitlichen Militärstrafrechts und dem Wegfall der Unterteilung in Wehrmacht, Landwehr und Landsturm wurden die früher nur für die Landwehr geltenden Bestimmungen für alle militärgerichtlichen Verurteilungen übernommen. Eine Tilgung von Verurteilungen wegen militärischer Verbrechen war aber weiterhin nicht vorgesehen. Zwar wurde dies durch eine großzügige Gnadenpraxis gemildert, dennoch wollte man eine gesetzliche Regelung zur Tilgung militärischer Strafen zur Erhöhung der Rechtssicherheit.66

Weiterhin sollte eine Tilgung für jene militärischen Verbrechen ausgeschlossen bleiben, die zugleich auch im zivilen Strafrecht ein Verbrechen darstellten und von einer Tilgung ausgeschlossen waren, sowie bei schweren Verletzungen der staatsbürgerlichen Pflichten eines Wehrmannes. Verleitung und Hilfeleistung sollten nur dann begünstigt werden, wenn zugleich auch das Verbrechen, zu dem verleitet oder bei dem geholfen wurde, begünstigt war. Zivilisten waren dabei ebenso wie Soldaten zu behandeln.67

Der Justizausschuss der Konstituierenden Nationalversammlung schloss sich in seinen Ausführungen der Staatsregierung an und empfahl die Annahme des Gesetzesentwurfs, wobei nochmals betont wurde, dass vor allem eine Rechtsgleichheit zwischen Zivilisten und Soldaten erreicht werden sollte. In seinen Ausführungen nimmt der Ausschuss auch Bezug auf eine Ungleichbehandlung bezüglich Straftaten, die sich auf die Person des Kaisers beziehen, verweist allerdings gleichzeitig darauf, dass diese Bestimmungen aufgrund der geänderten staatsrechtlichen Gegebenheiten und des Gesetzes zum Schutz der Republik ohnehin obsolet geworden seien.68

Die Gesetzesvorlage wurde schließlich von der Konstituierenden Nationalversammlung ohne weitere Debatte mit einer Zweidrittelmehrheit angenommen.69

Eine weitere Novelle des Militärstrafrechts folgte bereits im Jahr 1920.70 Ziel dieser Novelle war wiederum eine Anpassung des Militärstrafrechts an die geänderten Erfordernisse der Republik und ihrer demokratischen Grundprinzipien. Dazu sollte vor allem das Notwehrrecht an das zivile Strafrecht angepasst werden. Bis zur Novelle verfügten Offiziere, Offiziersanwärter und militärische Wachen über ein sogenanntes Ehrennotwehrrecht, zu dem es im zivilen Strafrecht keine Parallelen gab. Nunmehr sollte dieses Ehrennotwehrrecht für eine bevorrechtete Personengruppe abgeschafft werden. Die Staatsregierung erkannte zwar die Ehre als notwehrfähiges Rechtsgut an, allerdings bewertete sie in ihren Überlegungen die demokratisch gebotene Gleichheit aller Staatsbürger höher als dieses Ehrennotwehrrecht.71

65 vgl AB 589 BlgKonstNV 1. 66 vgl RV 319 BlgKonstNV 5. 67 vgl RV 319 BlgKonstNV 5. 68 vgl AB 589 BlgKonstNV 1 f. 69 vgl Stenographisches Protokoll der 51. Sitzung KonstNV 1439. 70 vgl 2. Militärstrafgesetznovelle öStGBl 1920/34. 71 vgl RV 351 BlgKonstNV 5; AB 588 BlgKonstNV 1. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 26/226

Ein weiterer wichtiger Punkt der Novelle war die Erweiterung des Milderungsrechtes. Auch hierfür diente das zivile Strafrecht, das bereits 1918 dahingehend novelliert wurde, als Vorlage. Wichtigstes Ziel der neuen Regelungen war es, die verhängte Strafe an das individuelle Verschulden des Täters anzupassen. Nachdem bereits 1919 die Todesstrafe im ordentlichen Verfahren abgeschafft wurde, sollte nun auch im Militärstrafrecht die Todesstrafe durch lebenslange bzw zehn- bis zwanzigjährige Kerkerstrafe ersetzt werden.72

Der Justizausschuss der Konstituierenden Nationalversammlung erachtete die zweite Militärstrafgesetznovelle als notwendig, weil das Militärstrafrecht aufgrund seiner schweren Strafdrohungen auf Misstrauen in der Bevölkerung stieß. Er schloss sich der Staatsregierung dahingehend an, dass die bestehenden Regelungen mit einem modernen Rechtsempfinden nicht vereinbar seien, weil sie im Sinne des monarchischen Regimes nur darauf gerichtet waren dieses zu schützen. Daher übernahm der Justizausschuss die Gesetzesvorlage der Staatsregierung ohne Änderungen.73

In der Plenarsitzung der Konstituierenden Nationalversammlung wurde die zweite Militärstrafgesetz- novelle ohne weitere Diskussion angenommen.74

In einem weiteren Schritt wurde von der Staatsregierung ein Gesetz über die Unterstellung der aktiven Heeresangehörigen unter die allgemeinen Strafgesetze eingebracht. Das bisher gültige Militärstrafrecht hatte die Anwendung des zivilen Strafrechts auf Heeresangehörige ausgeschlossen und für diese ein geschlossenes Sonderstrafrechtssystem geschaffen. Viele Bestimmungen wurden aber aus dem zivilen Strafrecht übernommen. Da gleichzeitig auch die Militärgerichtsbarkeit abgeschafft werden sollte, hätten die zivilen Gerichte dann zwei nebeneinander bestehende Strafgesetze anzuwenden gehabt. Eine wesentliche Motivation für die Zusammenführung beider Gesetze war daher, eine Doppelbelastung der Gerichte zu verhindern. Lediglich tatsächliche Sonderbestimmungen, die aufgrund der besonderen Dienstpflichten nur auf Heeresangehörige anwendbar waren, sollten neben dem zivilen Strafrecht bestehen bleiben.75

Eine gänzliche Aufhebung des Militärstrafrechts wurde abgelehnt, da dadurch der strafrechtliche Schutz der Disziplin in der Armee nicht mehr gewährleistet wäre. Als beste Lösung wurde angedacht das Militärstrafrecht als Sonderstrafrecht lediglich auf Delikte zu beschränken, die sich gegen die Erfüllung militärischer Pflichten richteten. Bis zur Novellierung des als veraltet empfundenen zivilen Strafrechts wurde dies aber nicht als sinnvoll empfunden. Danach sollten nur die Bestimmungen über die Verletzung militärischer Dienst- und Standespflichten aufrechterhalten werden, während das übrige Militärstrafgesetz außer Kraft gesetzt werden sollte.76

Die Gesetzesvorlage wurde schließlich am 15. Juli 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen.77

Mit der Wehrgesetznovelle 192178 wurden schließlich sowohl das materielle als auch das formelle Militärstrafrecht nochmals geändert. Die Änderung der wehrrechtlichen Bestimmungen erfolgte va auf Anordnung des Botschafterrates der Siegermächte des Ersten Weltkriegs über den Interalliierten

72 vgl RV 351 BlgKonstNV 5f; AB 588 BlgKonstNV 2. 73 vgl AB 588 BlgKonstNV 1 f. 74 vgl Stenographisches Protokoll der 52. Sitzung KonstNV 1481. 75 vgl RV 854 BlgKonstNV 1 ff; AB 917 BlgKonstNV 1. 76 vgl AB 917 BlgKonstNV 1 f. 77 vgl öStGBl 1920/323; Stenographisches Protokoll der 95. Sitzung KonstNV 3101 ff; BArch, R 3001/22290, Bl 70. 78 vgl Wehrgesetznovelle 1921 öBGBl 1921/248. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 27/226

Heeresüberwachungsausschuss. Die dadurch notwendigen Änderungen des Militärstrafrechts waren allerdings rein formaler Natur und führten zu keinen inhaltlichen Anpassungen des Gesetzestextes. Inhaltlich war vor allem das Wehrgesetz von Anpassungen betroffen.79 Die notwendigen Änderungen wurden nach einer längeren Debatte schließlich vom Nationalrat beschlossen.80

Nach einer relativ langen Phase, in der das Militärstrafrecht der Ersten Republik unverändert Bestand hatte, erfolgte 1936 eine weitere Novellierung unter dem austrofaschistischen Regime des Ständestaates.81 Nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht durch das Dienstpflichtengesetz82 sollten die Strafbestimmungen des Militärstrafrechts, insbesondere hinsichtlich der Ehrenstrafen wie der Dienstentlassung, die gegenüber Wehrpflichtigen als kontraproduktiv empfunden wurde, den Erfordernissen der neuen Wehrpflichtigenarmee angepasst werden. Ganz im Gegenteil wurde die Strafe der Dienstentlassung sogar als möglicher Anreiz für Wehrpflichtige gesehen Straftaten zu begehen, um möglichst rasch wieder in ihr Zivilleben zurückkehren zu können. Daher sollten derartige Ehrenstrafen ausschließlich bei Berufssoldaten Anwendung finden. Eine Entlassung von Soldaten, die ihre Bundesdienstpflicht ableisteten, war nunmehr nur mehr aus militärischen Notwendigkeiten auf administrativem Weg vorgesehen.83

Darüber hinaus wurde darauf hingewiesen, dass der einzige Nachteil der dienstpflichtigen Soldaten aus ihrer Entlassung entstünde, der Verlust der Möglichkeit, in den öffentlichen Dienst aufgenommen zu werden, wäre. Diese Folge trat aber ohnehin bei jeder schweren Gesetzes- oder Dienstpflichtverletzung ein und war daher unabhängig von der Frage der Ehrenstrafen zu prüfen.84

Um einen Ausgleich für den Wegfall der Ehrenstrafen zu schaffen, war für dienstpflichtige Soldaten im Militärstrafrechtsänderungsgesetz 1936 ein Disziplinararrest von maximal 30 Tagen vorgesehen. Während des Disziplinararrests hatte sich der bestrafte Soldat ständig in der Arrestzelle aufzuhalten, erhielt keinen Ausgang und hatte so keinen Kontakt zu anderen Soldaten außer seinen Aufsehern. Dadurch unterschied sich der Disziplinararrest auch von der bis dahin schon vorgesehenen Disziplinarhaft, bei der der Bestrafte seine Dienstpflichten mit geringfügigen Einschränkungen dennoch wahrnehmen konnte und so auch Kontakt zu anderen Personen hatte. Zusätzlich verlängerte sich nach der Neuregelung die Präsenzdienstpflicht um die Dauer des Disziplinararrests.85

Der Gesetzesbeschluss wurde schließlich in der 25. Sitzung des Bundestages am 29. Oktober 1936 ohne weitere Diskussion beschlossen.86 2. Das formelle Militärstrafrecht Die erste Novelle des formellen Militärstrafrechts erfolgte durch die Militärstrafprozeßnovelle 1918.87 Diese Novelle wurde vom Staatsrat als Notstandsgesetz gewertet und sollte nur die notwendigsten Änderungen umfassen. Eine völlige Neugestaltung des Militärstrafprozesses sollte einer späteren Gesetzgebung überlassen werden. Hauptanliegen war eine Anpassung der aus der Monarchie stammenden Bestimmungen an die neuen staatsrechtlichen Verhältnisse. Die wesentlichen Bestimmungen der Novelle betrafen das Begnadigungsrecht und Personalfragen der Militärrichter.88

79 vgl RV 186 BlgNR 1. GP 9 ff. 80 vgl Stenographisches Protokoll der 35. Sitzung öNR 1381 ff. 81 vgl Militärstrafrechtsänderungsgesetz öBGBl 1936/364. 82 vgl Bundesdienstpflichtgesetz öBGBl 1936/102. 83 vgl RV 97/Ge BlgBT 3. 84 vgl Stenographisches Protokoll der 25. Sitzung öBT 339. 85 vgl RV 97/Ge BlgBT 3. 86 vgl Stenographisches Protokoll der 25. Sitzung öBT 338f. 87 vgl öStGBl 1918/137. 88 vgl VorlSR 20 BlgProvNV 7; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 21 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 28/226

Nach dem Untergang der Habsburgermonarchie und der damit einhergehenden Verkleinerung des österreichischen Heeres stand diesem Heer ein überdimensionierter Militärjustizapparat zur Verfügung. Um die Anzahl der Militärrichter nunmehr dem verkleinerten Personalstand des Heeres anzupassen, sollte die Möglichkeit geschaffen werden, diese an andere Dienststellen oder in den Ruhestand zu versetzen. Um diesen Eingriff in die richterlichen Privilegien der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit zu mildern, sollten die Militärrichter künftig in gleichwertigen Stellungen der zivilen Justiz oder der Staatsverwaltung Verwendung finden.89

Darüber hinaus wurden die Militärgerichte aus der Unterordnung unter einen militärischen Kommandanten herausgelöst und damit vom Truppendienst unabhängig. Kompetenzkonflikte wurden nunmehr von übergeordneten Gerichten und nicht mehr von militärischen Kommandanten entschieden. Anzumerken ist dazu, dass die Einflussmöglichkeit des Kommandanten auf die Militärgerichte seit ihrer Einführung umstritten war und durch die Novelle dieser Kritikpunkt ausgeräumt wurde.90

Verfügungen über den Beschuldigten wie die Anordnung ärztlicher Untersuchungen oder die Verhängung von Untersuchungshaft wurden in die Kompetenz der Gerichte übertragen. Die Einleitung der Strafverfolgung und die Anklageerhebung wurden einem Militäranwalt übertragen. Ebenso sollte sich die örtliche Zuständigkeit nach dem Garnisonsort des Beschuldigten richten und nicht mehr vom militärischen Kommandanten bestimmt werden. Das Tatortgericht war nur als subsidiärer Gerichtsstand vorgesehen.91

Ebenso wurden die Fristen für Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde von fünf auf acht Tage verlängert. Für die Berechnung der Fristen wurde nunmehr bestimmt, dass als Fristende der nächste Werktag gilt, wenn das Fristende sonst auf einen Sonn- oder Feiertage fiele. Schließlich wurden Rechtsmittel auch für das Feldverfahren eingeführt.92

Der Entwurf des Staatsrates wurde anschließend im Justizausschuss grundlegend überarbeitet. Insbesondere die Volkswehren wurden als Teil des Heeres der Militärgerichtsbarkeit unterstellt. Als Laienrichter bei Divisionsgerichten sollten nunmehr auch Soldaten mit einem Mannschaftsdienstgrad herangezogen werden können. Als Verteidiger sollten alle Rechtsanwälte zugelassen werden, nachdem in der Monarchie nur spezielle, in einer Liste erfasste Verteidiger vor Militärgerichten zugelassen waren.93

In der parlamentarischen Debatte wurde die Vorlage des Staatsrates und des Justizausschusses noch dahingehend abgeändert, dass auch im feld- und standgerichtlichen Verfahren eine Einflussnahme des militärischen Kommandanten ausgeschlossen wurde. Dies wurde vom Antragsteller dahingehend begründet, dass auch im standgerichtlichen Verfahren ebenso wie in der sonstigen Gerichtsbarkeit kein Kommandant nötig sei. Auch bei standrechtlichen Verfahren vor Zivilgerichten entschieden nur Richter. Mit dieser Änderung wurde die Militärstrafprozeßnovelle 1918 schließlich mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit angenommen.94

89 vgl VorlSR 20 BlgProvNV 7; AB 83 BlgProvNV 1. 90 vgl VorlSR 20 BlgProvNV 7; AB 83 BlgProvNV 2. 91 vgl AB 83 BlgProvNV 2. 92 vgl VorlSR 20 BlgProvNV 8; AB 83 BlgProvNV 3. 93 vgl AB 83 BlgProvNV 1 ff. 94 vgl Stenographisches Protokoll der 11. Sitzung ProvNV 375 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 29/226

In einer zur Militärstrafprozeßnovelle 1918 erlassenen Durchführungsverordnung (DVO)95 des Staatsamtes für Heerwesen wurde klargestellt, dass aufgrund einer erfolgten Umstrukturierung des Heeres die in der Monarchie übliche Trennung in Wehrmacht, Landwehr und Landsturm weggefallen ist und daher auch eine einheitliche Militärgerichtsbarkeit für alle bewaffneten Verbände bestand. Die Gendarmerie wurde allerdings der zivilen Gerichtsbarkeit unterstellt.

Der Militäranwalt nahm zu Beginn der Ersten Republik eine zentrale Rolle im Militärstrafprozess ein. Er war nunmehr selbst für alle Prozesshandlungen verantwortlich und nicht mehr einem militärischen Kommandanten untergeordnet.96

Die Militäranwälte konnten eigene Untersuchungen durchführen oder ein gerichtliches Untersuchungsverfahren beantragen. Ebenso war es ihre Kompetenz Anklage zu erheben. Über die Verhängung von Untersuchungshaft musste aber das Gericht entscheiden. Eine ungebührlich lange Untersuchungshaft und eine Verzögerung der Ermittlungen musste der Gerichtsleiter dem Vorgesetzten des Militäranwalts mitteilen. Eine Aufhebung der Untersuchungshaft war entweder auf Antrag des Militäranwalts oder nach einer Prüfung des weiteren Vorliegens eines Haftgrundes durch den Gerichtsleiter möglich. In letzterem Fall musste der Militäranwalt vor der Aufhebung der Haft aber gehört werden. Bei einem Wegfall der Haftgründe musste der Beschuldigte aus der Haft entlassen werden. Haftbefehle und Steckbriefe mussten durch den Gerichtsleiter ausgestellt werden.97

Ein Verteidiger konnte vom Gerichtsleiter für die Hauptverhandlung auch gegen den Willen des Angeklagten bestellt werden. Weitere Kompetenzen des Gerichtsleiters waren das Verhängen von Ordnungsstrafen, die Anordnung ärztlicher Untersuchungen, die Zustimmung zu Versetzungen und Beurlaubungen von Beschuldigten, die Vorlage von Akten an das Oberste Militärgericht bei Begnadigungsverfahren sowie die Anordnung, Unterbrechung und Aussetzung des Vollzugs von Strafen.98

Einige der früher dem militärischen Kommandanten zustehenden Befugnisse wurden auch dem Disziplinarvorgesetzten übertragen. Leichtere Delikte konnten auf Antrag des Militäranwalts auch im Disziplinarweg erledigt werden. Bei gerichtlich strafbaren Handlungen musste der Disziplinarvorgesetzte in diesem Fall eine Strafe verhängen. Bei reinen Disziplinarvergehen konnte der Vorgesetze auch von einer Bestrafung absehen. Der Umfang der Disziplinarstrafgewalt eines Kommandanten hing von seiner Stellung in der militärische Hierarchie ab. Wenn die Strafbefugnis eines Kommandanten nicht ausreichend war, konnte er eine Sache an den nächsthöheren Disziplinarvorgesetzten abgeben.99

Streitigkeiten über die Zuständigkeit zwischen Gerichten konnten nunmehr nur bis zur Erhebung der Anklage ausgetragen werden. Nach Anklageerhebung blieb das Gericht, bei dem die Anklage eingebracht wurde, für den Prozess zuständig. Bei Kompetenzkonflikten zwischen Militäranwälten entschied die übergeordnete Dienststelle.100

Die Leiter der Divisionsgerichte mussten eine Liste über alle in ihrem Bereich eingesetzten Truppen führen. Dieses Verzeichnis diente als Basis für die Auswahl der Laienrichter bei

95 vgl DVO Strafprozeßnovelle 1918 öStGBl 1919/9. 96 vgl AT lit b DVO Strafprozeßnovelle 1918. 97 vgl AT lit a Z 1 DVO Strafprozeßnovelle 1918. 98 vgl AT lit a Z 2 ff DVO Strafprozeßnovelle 1918. 99 vgl AT lit c DVO Strafprozeßnovelle 1918. 100 vgl BT Z 3 ff DVO Strafprozeßnovelle 1918. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 30/226

Militärgerichtsverfahren. Die militärischen Kommandanten mussten jeweils eine Liste mit Soldaten führen, die als Laienrichter geeignet waren. Ungeeignet als Laienrichter waren Personen unter 24 Jahren, Analphabeten, körperlich oder geistig beeinträchtigte Personen, Personen, die nicht im Besitz der bürgerlichen Rechte waren wie zB sogenannte Verschwender oder Personen in einem Konkursverfahren, strafgerichtlich Verurteilte oder Angeklagte bis zum Abschluss des Prozesses bzw der Haft sowie Personen, die aufgrund einer strafgerichtlichen Verurteilung nicht zum Gemeinderat wählbar waren. Alle anderen Soldaten wurden in drei Listen getrennt nach Rangklassen erfasst (Stabsoffiziere, Hauptleute, Mannschaften). Als Laienrichter wurden jeweils ein Stabsoffizier, ein Hauptmann und zwei Soldaten im Mannschaftsrang aus unterschiedlichen Einheiten bestellt.101

In erster Instanz entschieden im Militärstrafprozess Brigadegerichte, gegen deren Urteile Berufung bei einem Divisionsgericht eingereicht werden konnte. Deren Urteile konnten in letzter Instanz vor dem Obersten Militärgericht angefochten werden.102

Um ein vereinfachtes standgerichtliches Verfahren durführen zu können, war eine Ermächtigung des Staatsamts für Heerwesen erforderlich. Ein standgerichtlicher Beschluss, mit dem ein weiteres Verfahren ausgeschlossen wurde, war dem Angeklagten und dem Militäranwalt mitzuteilen. Letzterer konnte danach ein ordentliches Verfahren beantragen.103

a) Das Ende der Militärgerichtsbarkeit in der Ersten Republik

Bereits vor dem Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes (öB-VG) im Jahr 1920 wurde von der Staatsregierung eine Gesetzesvorlage betreffend die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit über die Heeresangehörigen im Frieden eingebracht. Diese sah in § 1 unter anderem vor, die Heeresangehörigen der zivilen Justiz zu unterwerfen und auch die prozessrechtlichen Vorschriften des zivilen Strafverfahrens auf das Verfahren wegen militärischer Delikte zu übertragen.104 Für Kriegszeiten sollten in einem späteren Gesetz in erster Instanz Feldgerichte eingerichtet werden können. Grundsätzlich sollten Militärangehörige vor den Strafgerichten Zivilpersonen gleichgestellt werden. Ausnahmen waren nur für militärische Sonderdelikte mit geringen Strafrahmen vorgesehen, deren Erledigung auch im Disziplinarwege erfolgen sollte. Sofern ein Disziplinarverfahren zulässig war, sollte es aber ein Gerichtsverfahren ersetzen. Eine neuerliche Strafverfolgung durch Gerichte wurde ausgeschlossen.105

Das Ermittlungsverfahren sollte zunächst von den militärischen Kommandanten anstelle der zivilen Sicherheitsbehörden geführt werden. Anzeigen sollten unverzüglich an das zuständige Gericht weitergeleitet werden, das weitere Ermittlungsschritte zu veranlassen hatte. Die militärischen Behörden sollten nur die unmittelbar notwendigen Handlungen setzen, um die Aufklärung des Sachverhalts und die Sicherung von Beweismaterial sicherzustellen. Darüber hinaus war die Befugnis der militärischen Behörden auf Militäranlagen und aktive Heeresangehörige beschränkt. Zivilpersonen durften außerhalb militärischer Anlagen nur festgenommen werden, wenn der Verdacht einer strafbaren Handlung und die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Festnahme vorlagen und zivile Sicherheitsbehörden nicht erreichbar waren.106

101 vgl BT Z 7 DVO Strafprozeßnovelle 1918. 102 vgl BT Z 21 DVO Strafprozeßnovelle 1918. 103 vgl BT Z 29 ff DVO Strafprozeßnovelle 1918. 104 vgl RV 853 BlgKonstNV 1. 105 vgl RV 853 BlgKonstNV 15 f. 106 vgl RV 853 BlgKonstNV 16 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 31/226

Die Gesetzesvorlage wurde schließlich am 15. Juli 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen.107

Ebenso wurde bereits in § 44 Abs 1 Wehrgesetz festgelegt, dass „die Strafgerichtsbarkeit über die Heeresangehörigen im Frieden [..] durch die bürgerlichen Strafgerichte ausgeübt“108 wird. Durch dieses am 18. März 1920 beschlossene neue Wehrgesetz wurde die Militärgerichtsbarkeit erstmalig aufgelöst und die Aburteilung militärischer Straftaten auf die zivilen Strafgerichte übertragen.

Einen wichtigen Meilenstein in der Entwicklung der jungen Republik bildete der Beschluss des öB-VG am 1. Oktober 1920.109 Für die Militärgerichtsbarkeit bedeutet dieses neue Verfassungsgesetz das Ende. Art 84 öB-VG lautet „Die Militärgerichtsbarkeit ist – außer in Kriegszeiten – aufgehoben.“110 Diese Bestimmung ist bis heute unverändert gültig. Die Aburteilung von Delikten nach dem Militärstrafrecht wurde mit dieser Bestimmung endgültig auf die zivilen Strafgerichte übertragen und durch die Eingliederung in die Bundesverfassung auch dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers entzogen. Nur für den Fall eines Krieges wurde die Möglichkeit bestehen gelassen Militärgerichte einzusetzen, um den besonderen Anforderungen eines Krieges gerecht werden zu können.111

Zum Zeitpunkt, als das öB-VG der Konstituierenden Nationalversammlung zur Beschlussfassung vorgelegt wurde, wurde auch festgestellt, dass ein sofortiges Inkrafttreten des gesamten öB-VG erst möglich sein werde, wenn die Neuorganisation der Verwaltung des Bundes und der Länder abgeschlossen wäre. Daher mussten jene Teile des öB-VG, welche bis zum Abschluss der Neuorganisation des Staates noch nicht umgesetzt werden konnten, bis dahin ausgesetzt werden. Die genauen Bestimmungen für diese Übergangszeit wurden in einem eigens geschaffenen Verfassungs- Überleitungsgesetz festgelegt.112

Sowohl das öB-VG als auch das Verfassungs-Überleitungsgesetz113 wurden ohne weitere Debatte im Plenum von der Konstituierenden Nationalversammlung am 1. Oktober 1920 mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Abgeordneten angenommen.114 Formale Änderungen erfolgten ebenso wie im Bereich des materiellen Militärstrafrechts durch die oben dargestellte Wehrgesetznovelle 1921.

b) Militärgerichtsbarkeit im Ständestaat

Die nächsten großen Anpassungen im Bereich der Militärgerichtsbarkeit erfolgten erst in der Zeit des Ständestaats. Unmittelbar nach einem gescheiterten nationalsozialistischen Putschversuch wurde am 26. Juli 1934 das Bundesverfassungsgesetz über die Einführung eines Militärgerichtshofs als Ausnahmegericht zur Aburteilung der mit dem Umsturzversuch vom 25. Juli 1934 im Zusammenhang stehenden strafbaren Handlungen115 verabschiedet. Dieses Gesetz wurde allerdings basierend auf der austrofaschistischen Verfassung nicht mehr von einem Parlament sondern von der Bundesregierung erlassen.116

107 vgl öStGBl 1920/321; Stenographisches Protokoll der 95. Sitzung KonstNV 3101 ff; BArch, R 3001/22290, Bl 70. 108 Wehrgesetz öStGBl 1920/122. 109 vgl öB-VG öStGBl 1920/450; öB-VG öBGBl 1920/1. 110 öB-VG öBGBl 1920/1 idgF. 111 vgl Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 22. 112 vgl AB 991 BlgKonstNV 6. 113 vgl Verfassungs-Überleitungsgesetz öStGBl 1920/451; Verfassungs-Überleitungsgesetz öBGBl 1920/2. 114 vgl Stenographisches Protokoll der 102. Sitzung KonstNV 3469 f. 115 vgl öBVG Militärgerichtshof öBGBl 1934/152; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 22 f. 116 vgl Präambel öBVG Militärgerichtshof; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 22 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 32/226

Der Militärgerichtshof war allerdings als Sondergericht konzipiert, dessen sachliche Zuständigkeit im Wesentlichen von zwei Faktoren abhing. Zum einen beschränkte sich seine sachliche Zuständigkeit gem § 1 Abs 2 öBVG Militärgerichtshof auf bestimmte Straftaten wie Hochverrat, Störung der öffentlichen Ruhe, Aufstand, Aufruhr, öffentliche Gewalttätigkeiten, Tötungsdelikte, schwere Körperverletzung, Brandstiftung, Raub, militärische Verbrechen und Verbrechen nach dem Sprengstoffgesetz. Zum anderen mussten diese Delikte gem § 1 Abs 1 öBVG Militärgerichtshof in Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Juliputsch verübt worden sein.117

Gem § 3 leg cit entschied der Militärgerichtshof in Senaten bestehend aus einem Richter als Verhandlungsleiter und drei Offizieren. Bestimmungen der zivilen Strafprozessordnung wurden bei Verfahren vor dem Militärgerichtshof nur zum Teil angewendet. Eine wesentliche Einschränkung war, dass zB gem § 15 leg cit ein Wiederaufnahmeantrag nur vom Staatsanwalt, nicht jedoch vom Beschuldigten gestellt werden konnte.

Bereits eine Woche nach seinem Inkrafttreten wurde das öBVG Militärgerichtshof am 3. August 1934 durch die Bundesregierung novelliert, wobei hier nur geringfügige Änderungen bezüglich des Ermittlungsverfahrens vorgenommen wurden.118 Aufgrund der Beschränkung des Militärgerichtshofs auf die Aburteilung von Verbrechen im Zusammenhang mit dem Juliputsch kann hier von einer temporär eingerichteten Militärgerichtsbarkeit im Ständestaat gesprochen werden.

Im Jahr 1935 erfolgte allerdings eine Militarisierung der Zivilgerichte durch den Erlass des Bundesgesetzes, womit bei den Schwurgerichten und den Schöffengerichten besondere Senate zur Verhandlung und Entscheidung über Anklagen in Militärsachen errichtet werden (Militärschöffengesetz).119 Die wesentliche in den §§ 1 ff enthaltene Neuerung dieses Gesetzes bestand darin, dass bei Prozessen über militärische Delikte nur Soldaten als Schöffen bzw Geschworene bei sonstiger Nichtigkeit zugelassen waren. Als Begründung führte die Bundesregierung an, dass zur Findung eines richtigen Urteils die Richter über militärische Erfahrung verfügen müssten, da sie nur so den besonderen Verhältnissen in der Armee gerecht werden könnten. Zu Beginn der Republik, als die Militärgerichtsbarkeit abgeschafft wurde, sei dies noch dadurch gewährleistet gewesen, dass beinahe alle Berufs- und Laienrichter als Soldaten gedient hätten. Nun sei dies aber nicht mehr der Fall.120

Auch Zivilpersonen konnten von einem Militärschöffengericht verurteilt werden, sofern sie an einem militärischen Verbrechen mitgewirkt hatten oder eine beliebige Straftat während eines Militärschöffenprozesses begangen hatten. Rein zivile Gerichte mussten Prozesse, sofern die Voraussetzungen gegeben waren, zwingend an ein Militärschöffengericht abgeben.121

Als Schöffen bzw Geschworene wurden, wenn sich zumindest ein Offizier oder Zivilist unter den Angeklagten befand, nur Offiziere herangezogen. Ansonsten wurden Unteroffiziere als Laienrichter berufen. Soldaten im Mannschaftsrang kamen als Schöffen nicht in Frage, weil sie regelmäßig nicht das geforderte Mindestalter von 40 Jahren hatten.122

117 vgl Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 22 f. 118 vgl Militärgerichtshofnovelle öBGBl 1934/175. 119 vgl Militärschöffengesetz öBGBl 1935/118; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 22 f. 120 vgl RV 10/Ge BlgBT 3; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 22 f. 121 vgl RV 10/Ge BlgBT 3. 122 vgl RV 10/Ge BlgBT 4. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 33/226

Das Militärschöffengesetz wurde entsprechend dem Antrag der Bundesregierung ohne weitere Debatte vom Bundestag beschlossen.123 3. Der „Anschluss“ und seine Auswirkungen auf das Militärstrafrecht in Österreich Nachdem das Militärstrafecht in der Ersten Republik zunächst an die neuen demokratischen Verhältnisse angepasst und danach im Ständestaat wieder zunehmend in den Dienst des autoritären Regimes gestellt wurde, bedingte der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich im März 1938 eine tiefgreifende Zäsur im Bereich des Militärstrafrechts. Im Gegensatz zu anderen Rechtsgebieten, in denen auch nach dem Anschluss noch altes österreichisches Recht im ehemaligen Staatsgebiet für längere Zeit in Geltung blieb,124 wurden das Wehrrecht und das Militärstrafrecht innerhalb kurzer Zeit durch die im Deutschen Reich bestehenden Bestimmungen abgelöst. Anstelle des österreichischen Militärstrafrechts trat das an die Erfordernisse der nationalsozialistischen Wehrmacht und Ideologie angepasste Militärstrafrecht des Deutschen Reichs.

Der Übergang vom österreichischen zum deutschen Militärstrafrecht wurde bereits unmittelbar nach dem Anschluss vollzogen. Dies lag insbesondere im Interesse der in Österreich stationierten Wehrmachtsteile, die ein unterschiedliches Strafrecht für deutsche und österreichische Soldaten, die gemeinsam in den Einheiten Dienst versehen sollten, vermeiden wollten. Bereits am 2. April 1938 fand dazu eine Besprechung im OKW statt, bei der sich die Vertreter des Reichsjustizministeriums, des österreichischen Justizministeriums und der WR allerdings noch nicht auf die Übernahme deutschen Rechts für österreichische Soldaten einigen konnten. Im August 1938 wurden schließlich das nationalsozialistische Militärstrafgesetzbuch (MStGB) und die Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) des Dritten Reichs auch in Österreich durch den Reichsstatthalter Seyß-Inquart kundgemacht und traten auch für das österreichische Gebiet in Kraft.125 Das bedeutete das nun wieder eigene Militärgerichte als Sondergerichte für die Aburteilung militärischer Straftaten zuständig waren. Auch Zivilisten konnten von Militärgerichten abgeurteilt werden, sofern sie Teil des Heeresgefolges waren oder sich ihre Straftaten gegen die nationalsozialistische Wehrmacht richteten.

Im Bereich des materiellen Militärstrafrechts führte der Anschluss zu einer massiven Ausweitung der militärischen Straftatbestände. Waren in der Ersten Republik die militärischen Strafbestimmungen an demokratischen Grundprinzipien ausgerichtet und das Militärstrafrecht als Annex zum allgemeinen Strafrecht auf einige wenige Delikte mit besonderem militärischen Charakter beschränkt, wurde nunmehr wieder ein eigenständiges Militärstrafgesetzbuch zur Anwendung gebracht, das umfangreiche Bestimmungen auch für allgemeine Delikte enthielt. Das allgemeine Strafrecht kam lediglich subsidiär zur Anwendung, wenn das MStGB keine entsprechend passenden Bestimmungen enthielt. Praktisch fühlbar wurde die neue Rechtsordnung für die nunmehr ehemaligen Österreicher durch die Urteile der Kriegsgerichte.

123 vgl Stenographisches Protokoll der 5. Sitzung öBT 37 f. 124 vgl zB das zivile österreichische Strafgesetzbuch. 125 vgl Kundmachung des Militärstrafgesetzbuchs und der Militärstrafgerichtsordnung GBlÖ 1938/337; RGBl I 1938/76; BArch, R 3001/22290, Bl 73 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 34/226

III. Entwicklung des materiellen Militärstrafrechts

Die hohe Bedeutung, die der NS Staat dem Militärstrafrecht beimaß, lässt sich schon aus dem Umfang der Militärstrafgesetze erkennen. Während das MStGB 1872, das von den Nationalsozialisten übernommen wurde und während der gesamten Zeit des Dritten Reiches in Geltung blieb, insgesamt 166 Paragraphe umfasste, davon 111 im besonderen Teil, umfasst das österreichische Militärstrafgesetz (öMilStG)126 lediglich 39 Paragraphe, wovon 32 auf den besonderen Teil entfallen. Der besondere Teil des MStGB umfasste bei der NS Machtübernahme Strafbestimmungen zu den Delikten Kriegsverrat127, Gefährdung der Kriegsmacht im Felde128, unerlaubte Entfernung und Fahnenflucht129, Selbstverstümmelung und Dienstentziehung durch Täuschung130, Dienstpflichtverletzung aus Furcht und Feigheit131, strafbare Handlungen gegen die Pflichten der militärischen Unterordnung132, Missbrauch der Dienstgewalt133, widerrechtliche Handlungen im Felde gegen Personen oder Eigentum134, sonstige Eigentumsdelikte135, sonstige Dienstpflichtverletzungen136 sowie Handlungen gegen die militärische Ordnung137. A priori rechtsstaatlich unbedenklich erscheinende Delikte des aus der Monarchie stammenden MStGB wurden durch die Konnotation der Normtexte mit NS Ideologie zu einer scharfen Waffe des Regimes. Ergänzt wurden diese Bestimmungen des MStGB durch die Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO)138, die sowohl neue Tatbestände in das Militärstrafrecht einführte, als auch bestehende Strafrahmen deutlich erweiterte. Insbesondere ist hier auf die §§ 5 und 5a KSSVO hinzuweisen, die in weiterer Folge noch genauer behandelt werden.139

Der Einfluss der NS Ideologie auf das Militärstrafrecht und die Tatsache, dass auch Personen, deren Handlungen auch aus heutiger Sicht als Straftaten anzusehen wären, als Opfer der NS Militärjustiz betrachtet werden müssen, zeigt sich deutlich bei einem Vergleich der für die einzelnen Delikte vorgesehenen Strafrahmen im NS und im heutigen österreichischen Militärstrafrecht. Bei letzterem wurden jeweils die Strafrahmen für Delikte während eines Einsatzes zur Landesverteidigung inkl. allfälliger Qualifikationen herangezogen.

126 vgl öMilStG öBGBl 1970/344. 127 vgl §§ 56 ff MStGB RGBl 1872/18. 128 vgl §§ 62 f MStGB. 129 vgl §§ 64 ff MStGB. 130 vgl §§ 81 ff MStGB. 131 vgl §§ 84 ff MStGB. 132 vgl §§ 89 ff MStGB. 133 vgl §§ 114 ff MStGB. 134 vgl §§ 127 ff MStGB. 135 vgl §§ 137 f MStGB. 136 vgl §§ 139 ff MStGB. 137 vgl §§ 146 ff MStGB. 138 vgl VO über das Inkrafttreten der KSSVO und der KStVO RGBl I 1939/147. 139 vgl Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlung der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse (1958) XIII f; Haase, RKG 12; Haase, „… dem Gebot der Stunde Rechnung tragen“. Torgau und das Reichskriegsgericht (1943-1945), in Haase/Oleschinski (Hrsg),Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD- Speziallager, DDR-Strafvollzug2 (1998) 46; Walter, „Schnelle Justiz – gute Justiz“? Die NS-Militärjustiz als Instrument des Terrors, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 28 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 35/226

Strafrahmen militärischer Delikte

Delikt gem öMilStG MStGB / KSSVO öMilStG Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls140 Gefängnis oder bis 3 Jahre Zuchthaus von unbestimmter Dauer oder Todesstrafe Unerlaubte Abwesenheit141 bis 10 Jahre bis 3 Jahre Gefängnis oder Festungshaft Desertion142 6 Monate 6 Monate bis 10 Jahre Gefängnis bis lebenslanges Zuchthaus oder Todesstrafe Herbeiführung der Dienstuntauglichkeit143 Gefängnis oder 6 Monate bis 10 Jahre Zuchthaus von unbestimmter Dauer oder Todesstrafe Dienstentziehung durch Täuschung144 Gefängnis oder 6 Monate bis 10 Jahre Zuchthaus von unbestimmter Dauer oder Todesstrafe Ungehorsam145 1 Woche bis 3 Jahre geschärfter Arrest bis 10 Jahre Gefängnis oder Festungshaft Schwerer Ungehorsam146 bis lebenslanges 6 Monate bis 10 Jahre Zuchthaus oder Todesstrafe Meuterei147 bis lebenslanges 5 bis 10 Jahre Zuchthaus oder Todesstrafe

140 vgl § 5 KSSVO; §§ 7 ff öMilStG. 141 vgl §§ 64 MStGB idF RGBl I 1940/181 iVm § 6 KSSVO; §§ 8 ff öMilStG. 142 vgl §§ 69 ff MStGB iVm § 6 iVm § 6 KSSVO; §§ 9 ff öMilStG. 143 vgl § 5 KSSVO; §§ 10 ff öMilStG. 144 vgl § 5 KSSVO; §§ 11 ff öMilStG. 145 vgl §§ 92 ff MStGB; §§ 12 ff öMilStG. 146 vgl §§ 92 ff MStGB; §§ 14 ff öMilStG. 147 vgl § 103 ff MStGB; §§ 18 f öMilStG. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 36/226

Delikt gem öMilStG MStGB / KSSVO öMilStG Gemeinschaftlicher Angriff auf Vorgesetzte148 1 Jahr Gefängnis 1 bis 10 Jahre bis lebenslanges Zuchthaus oder Todesstrafe Körperverletzung und tätlicher Angriff auf einen 6 Monate bis 3 Jahre Vorgesetzten149 Gefängnis oder Festungshaft bis lebenslanges Zuchthaus oder Todesstrafe Wachverfehlung150 14 Tage 6 Monate bis 10 Jahre geschärfter Arrest bis lebenslanges Zuchthaus oder Todesstrafe Preisgabe eines militärischen Geheimnisses151 Todesstrafe bis 10 Jahre Verstoß gegen Meldepflichten152 Arrest, 6 Monate bis 10 Jahre Festungshaft oder Gefängnis von unbestimmter Dauer Militärischer Diebstahl153 14 Tage bis 10 Jahre geschärfter Arrest bis 5 Jahre Gefängnis Beschädigung von Heeresgut154 bis 3 Jahre bis 3 Jahre Vernachlässigung der Obsorgepflicht155 Freiheitsstrafe von bis 3 Jahre unbestimmter Dauer Missbrauch der Dienststellung156 bis 2 Jahre bis 3 Jahre Festungshaft Entwürdigende Behandlung157 bis 5 Jahre bis 3 Jahre Gefängnis Unterdrücken von Eingaben158 bis 5 Jahre 6 Monate bis 1 Jahr Tabelle 1: Vergleich der Strafrahmen militärischer Delikte zwischen dem NS Militärstrafgesetz und der aktuellen österreichischen Rechtsordnung.

148 vgl Militärischer Aufruhr gem § 106 ff MStGB; §§ 20 f öMilStG. 149 vgl §§ 97 ff MStGB; §§ 22 ff öMilStG. 150 vgl § 141 MStGB; §§ 24 ff öMilStG. 151 vgl §§ 56 ff MStGB; §§ 26 ff öMilStG. 152 vgl § 139 MStGB; §§ 29 ff öMilStG. 153 vgl § 138 MStGB; §§ 31 ff öMilStG. 154 vgl § 137 ff MStGB; §§ 32 ff öMilStG. 155 vgl Verabsäumung der Aufsichtspflicht gem § 147 MStGB; § 33 öMilStG. 156 vgl §§ 114 ff MStGB; §§ 34 ff öMilStG. 157 vgl §§ 121 ff MStGB; §§ 35 ff öMilStG. 158 vgl § 117 MStGB; §§ 37 ff öMilStG. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 37/226

Hier ist darauf hinzuweisen, dass die Strafen unter Anwendung des § 5a KSSVO jederzeit überschritten werden konnten. Selbst für geringfügige Delikte war dadurch die Verhängung eines Todesurteils möglich.

Bereits unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde das Militärstrafrecht den Wünschen der neuen Machthaber angepasst. Insbesondere wurden Strafmilderungen, die in der Weimarer Republik eingeführt wurden, wieder rückgängig gemacht. Bereits 1934 wurde das MStGB angepasst.159 Landesverrat im Sinne des § 91 RStGB160 wurde als Kriegsverrat mit dem Tode bestraft, wenn der Verrat im Feld begangen wurde. Die Strafbarkeit wegen Landesverrats wurde auch auf Ausländer ausgedehnt, selbst wenn die entsprechende Tathandlung im Ausland begangen wurde. Häufig wurden die Täter nach der Besetzung des Landes durch die deutsche Wehrmacht abgeurteilt. Durch eine Verordnung161 wurden das Militärstrafgesetzbuch 1940 nochmals verändert und die Strafdrohungen verschärft. Allerdings wurde ein geplantes, völlig neues nationalsozialistisches Militärstrafgesetz trotz entsprechender Planungen während der Diktatur nicht verwirklicht.162

Auf das materielle Strafrecht hatte die NS Ideologie gravierende Auswirkungen. Gem der NS Rechtsauffassung hatte die Justiz entsprechend der NS Ideologie zu agieren. Oberstes Ziel war die Um- und Durchsetzung des Führerwillens. Grundlagen für dieses neue NS Rechtsdenken waren bereits in der Weimarer Republik gelegt worden. Die bereits zu dieser Zeit enge Verzahnung von politischer Justiz und Reichswehr zeigte sich ua in den Prozessen der Weimarer Justiz gegen Rosa Luxemburg und Carl von Ossietzky. In letzterem stellte das Reichsgericht163 fest, dass das Wohl des Reiches Vorrang vor der Verfassung habe, und beging damit selbst einen Verfassungsbruch. Die Justiz stellte sich damit schon vor 1933 über den Staat und seine Verfassung. Die NS Rechtsauffassung basierte auf dieser Vorstellung, dass der Richter über dem Gesetz stehe. Auch der Rechtspositivismus wurde abgelehnt. Das monarchistische Denken der Kaiserzeit wurde durch ein völkisches Denken ersetzt. Justiz und Rechtslehre wandten sich antiliberalen und antisozialistischen Vorstellungen zu. Es wurden die Lösung vom römischen Recht und die Schaffung eines volkstümlichen deutschen Rechts gefordert.164

Da sich das gesamte deutsche Recht der NS Ideologie unterordnen sollte, konnten auch KZ und Schutzhaft als rechtmäßige Formen zur Wahrung des Rechts legitimiert werden. Die Rechtswissenschaft übernahm das Freund-Feind-Denken des Nationalsozialismus. Die Verbrechenslehre suchte nach Merkmalen der Feinde des NS Staates und der Volksgemeinschaft. Täter gefährdeten in diesem Denken die Volksgemeinschaft. Die Militärjustiz sollte die Blut-, Opfer- und Schicksalsgemeinschaft der Deutschen schützen und die Widerstandskraft der Soldaten und der Bevölkerung erhalten und steigern. Diese Forderungen wurden von den Militärjuristen übernommen und führten zu gravierenden Folgen in der Rechtsprechungspraxis. Jede Gesetzesauslegung musste im NS Sinne erfolgen. Gesetze mussten den Bedürfnissen der NS Ideologie angepasst werden, auch wenn dabei der Zweckgedanke des Gesetzgebers überspannt wurde. Dies bezog sich vor allem auf den Gesetzgeber des Militärstrafgesetzbuches (MStGB) von 1872. Ein Prüfungsrecht für dieses

159 vgl RGBl I 1934/129; BArch, R 3001/22290, Bl 10 ff. 160 vgl Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich RGBl 1871/24. 161 vgl Verordnung über die Neufassung des Militärstrafgesetzbuchs RGBl I 1940/181. 162 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 16 ff; VUA, RKG K27 39/5/14; Absolon, Wehrmachtstrafrecht XIII; Garbe in Pirker/Wenninger 26 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 39; Walmrath, Iustitia 165 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 28 ff. 163 vgl Reichsgericht 23.11.1931, 7 J 35/29 - XII L 5/31. 164 vgl Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 51 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 42 ff; Putz, Reinhard Moos und sein Engagement für die Seligsprechung von Franz Jägerstätter. Eine notwendige Begegnung, in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau (Hrsg), Strafrecht und wertbezogenes Denken. Festgabe für Reinhard Moos zum 80. Geburtstag (2012) 108; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 48. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 38/226 vornationalsozialistische Recht, insbesondere jenes der Weimarer Republik, hatte das Reichsgericht mehrmals festgestellt. Für NS Gesetze galt dies allerdings nicht. Neben formelle Gesetze trat der Führerwille als oberste Rechtsquelle. Dieser war nicht überprüfbar und galt unabhängig von der Form seiner Kundmachung. Ein Gesetz wurde lediglich als vornehmste Form, den Führerwillen zum Ausdruck zu bringen, begriffen. Der Befehl, auch der mündliche, ersetzte das Recht. So konnten auch die politisch motivierten Morde an der SA-Führung unter Ernst Röhm als höchste Justiz gerechtfertigt werden. Äußerungen des Führers konnten auch formelle Gesetze ändern bzw deren Auslegung beeinflussen. Richter konnten zwar Gesetze auf Ihre NS Ideologiekonformität überprüfen, unterlagen aber selbst dem Führerwillen. Eine dem Rechtspositivismus immanente Gesetzesbindung existierte im Nationalsozialismus nicht mehr. Als neue Rechtsquellen fungierten der Führerwille, das Parteiprogramm der NSDAP und die NS Ideologie.165

Die Idee eines völkisch-deutschen Rechts wurde vom Reichsrechtsführer dahingehend interpretiert, dass nur ein Volksgenosse, der seine Pflichten gegenüber der Gemeinschaft erfüllt, Träger von Rechten sein könne. Volks- und Rechtsgemeinschaft wurden gleichgesetzt. Wer sich außerhalb der Volksgemeinschaft stellte, konnte auch keine Rechte mehr beanspruchen. Im Militärstrafrecht konnte die Rechtsfähigkeit durch sog Ehrenstrafen gemindert werden. Dadurch erlangte die Volksgemeinschaftsideologie in der Wehrmachtsjustiz besondere Bedeutung. Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit wurden zu den wesentlichen Merkmalen der Strafbarkeit. Der Chef der Wehrmachtsrechtsabteilung Lehmann wies die Militärjuristen vor Kriegsbeginn darauf hin, dass ihre Aufgabe die Erhaltung der Gemeinschaft mit den Mitteln des Rechts sei, nicht hingegen die Wahrheitsfindung per se. Von Vertretern der Kieler Rechtsschule wurde Verbrechen als ein Treuebruch an der Gemeinschaft und der Täter als Verräter an dieser verstanden. Die Marburger Rechtsschule forderte einen neuen, auf der Sozialschädlichkeit eines Verhaltens basierenden Schuldbegriff. In der Wehrmacht galten Gemeinschaftsgeist, Befehl und Gehorsam als Grundpfeiler der Erziehung. Daher wurden auch die NS Volksgemeinschaftsideologie und die darauf basierende Rechtsauffassung bereitwillig übernommen. Der NS Staat verband für die Wehrmacht die Volks- und die Wehrgemeinschaft zu einer Einheit. Die Wehrmachtsjustiz definierte sich über die herrschende Lehre und wollte einen neuerlichen Vorwurf des Versagens wie nach dem Ersten Weltkrieg vermeiden.166

Schon 1934 wurden die Bestimmungen für Hoch- und Landesverrat im Reichsstrafgesetzbuch (RStGB)167 an die neue Ideologie angepasst, um den Schutz des Staates zu verbessern. 1935 folgte eine Aufhebung des Analogieverbots im Strafrecht.168 Wenn kein passendes Gesetz vorhanden war und es für nötig erachtet wurde, der Gerechtigkeit nachzuhelfen, konnten ab nun ähnliche Gesetze zur Bildung von Analogien herangezogen werden. Der Chef WR Lehmann führte dazu aus, dass das Recht nicht der Wahrheitsfindung, sondern dem Erhalt der Gemeinschaft diene. Eine Handlung gegen den Geist der Gemeinschaft müsse daher strafverschärfend sein. Als höchstes Recht wurde der Wille des Führers betrachtet.169

165 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 147 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 45 f; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 53 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 27; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 100; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 42 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 48; Walmrath, Iustitia 112 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114 f. 166 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Haase, Deserteure2 39; Haase in Haase/Oleschinski2 45 f; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 17 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 54 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 27; Rauchhaupt, Die zivile Wehrgemeinschaft, ZWehrR 1942/43, 293; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 435. 167 vgl Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens RGBl I 1934/47. 168 vgl Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuchs RGBl I 1935/70. 169 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 27; Friedrich, Freispruch für die Nazi-Justiz. Die Urteile gegen NS-Richter seit 1948. Eine Dokumentation (1998) 28 ff; Gribbohm, „Geführte“ Strafjustiz – Reichsgericht und Kriegsstrafrecht im Zweiten 22. Oktober 2018 Horst Pichler 39/226

Gravierende Auswirkungen auf die Soldaten hatte die Einführung der KSSVO und der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO),170 die vor allem zu höheren Strafrahmen und geringeren Rechten im Verfahren führten. Bereits seit 1933 gab es Versuche das Strafrecht im nationalsozialistischen Sinn zu erneuern. 1934 kam es zu einem ersten Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch. Ein neues Wehrmachtsstrafgesetzbuch, dass das MStGB des Jahres 1872 ablösen sollte, sollte von einem Militärstrafrechtsausschuss, der Anfang 1935 vom Reichswehrminister eingesetzt wurde, erarbeitet werden. Die Ausarbeitung erfolgte in Abstimmung mit dem Wehrrechtsausschuss der Akademie für Deutsches Recht, in dem auch der Chef der Wehrmachtsrechtsabteilung (WR) Lehmann Mitglied war. Das Militärstrafrecht sollte an den Entwurf des allgemeinen Strafrechts angepasst werden. Die Grundlagen für den späteren § 5 KSSVO, der Wehrkraftzersetzung unter Strafe stellte, wurden damit bereits 1934 gelegt. Zunächst war im Entwurf Todesstrafe oder lebenslanges Zuchthaus vorgesehen. Dagegen gab es allerdings Kritik, ua vom Reichsjustizkommissar Hans Frank und vom preußischen Justizminister Hanns Kerrl. Der Entwurf schien die NS Ideologie nur ungenügend umzusetzen. Im Sommer 1938 wandte sich auch der Stellvertreter des Führers gegen einen raschen Beschluss des neuen Strafgesetzes. Trotz Drängens der Wehrmachtsführung wurde das neue Wehrmachtsstrafgesetz nicht beschlossen. Nachdem die Kriegsgefahr 1938 durch die Tschechoslowakeikrise deutlich angestiegen war, begann WR, die aus Sicht des OKH wesentlichen Teile des Entwurfs herauszuarbeiten und in Form der KSSVO zu erlassen, die allerdings nur als Notlösung bis zum Erlass des neuen Wehrmachtsstrafgesetzbuches gedacht war. Parallel wurde die KStVO erarbeitet, die das Kriegsstrafverfahren in wesentlichen Teilen umgestaltete. Beide Verordnungen wurden von Hitler am 17. August 1938 unterschrieben und traten am 26. August 1939 mit dem Angriff der Wehrmacht auf Polen in Kraft. Auch nach der Inkraftsetzung der KSSVO drängte die Wehrmacht weiterhin auf den Erlass eines vollständigen neuen Militärstrafrechts. Allerdings sollte dies bis Kriegsende nicht geschehen.171

Gleichzeitig wurde auch ein Gnadenerlass172 des Führers aus Anlass der Mobilmachung veröffentlicht. Durch diesen Erlass wurden alle noch nicht vollstreckten Geld-, Arrest- und Festungshaftstrafen sowie Gefängnisstrafen bis zu sechs Monaten erlassen. Ebenso wurden Reststrafen von bis zu drei Monaten Gefängnis erlassen. Haftstrafen bis zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis oder wegen Rauschtaten gem § 330a RStGB wurden zur Bewährung ausgesetzt. Ausgenommen von dieser Regelung waren allerdings Fahnenflucht, Selbstverstümmelung, Erregen von Missvergnügen

Weltkrieg (2009) 12; Kirschner, „Asoziale Volksschädlinge“ und „Alte Kämpfer“. Zu Handlungsmöglichkeiten der Wehrmachtrichter im Zweiten Weltkrieg, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 185; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 26 f; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114; Walmrath, Iustitia 139 f; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27 ff. 170 vgl VO über das Inkrafttreten der KSSVO und der KStVO RGBl I 1939/147. 171 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 145 ff; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 145; Bryant/Kirschner, Politik und Militärjustiz. Die Rolle der Kriegsgerichtsbarkeit in den USA und Deutschland im Vergleich, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 68; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 28 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 28 f; Form in Pirker/Wenninger 59 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 30 f; Garbe in Pirker/Wenninger 26 ff; Gribbohm, Das Reichskriegsgericht. Die Institution und ihre rechtliche Bewertung (2004) Rz 14; Haase, Deserteure2 39; Haase, RKG 11 ff; Klausch, Die Bewährungstruppe 500. Stellung und Funktion der Bewährungstruppe 500 im System von NS-Wehrrecht, NS-Militärjustiz und Wehrmachtstrafvollzug (1995) 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 70 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 38; Rass/Quadflieg in Kirschner 47; Riegler in Pirker/Wenninger 166; Scherer, Zur Kriegssonderstrafrechtsverordnung, ZWehrR 1939/40, 226; Skowronski, Die Vollstreckung wehrmachtgerichtlicher Todesurteile. Rechtsgrundlagen, Praxis und quantitative Dimension, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 183; Thomas in Haase/Paul 39; Walmrath, Iustitia 124 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 28 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 780 ff. 172 vgl Gnadenerlaß des Führers und Reichskanzlers für die Wehrmacht RGBl I 1939/156; Ausführungsbestimmungen zum Gnadenerlaß des Führers und Reichskanzlers für die Wehrmacht RGBl I 1939/156. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 40/226 und Meuterei.173 Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden so zusätzliche Soldaten für die Wehrmacht verfügbar.

Die KSSVO wurde ebenso wie die KStVO zunächst als Notbehelf bis zum Erlass eines neuen NS Militärstrafgesetzes gesehen. Die bestehenden Bestimmungen des MStGB sollten an die Kriegserfordernisse angepasst werden. Der persönliche Geltungsbereich der Militärstrafgesetze wurde gem § 1 KSSVO auf das Gefolge, Kriegsgefangene und ausländische Offiziere, der örtliche Geltungsbereich auf besetzte Gebiete und auf deutsche Kriegsgefangene im Ausland ausgedehnt. Darüber hinaus galten die Bestimmungen zu Spionage, Freischärlerei, Zuwiderhandlungen gegen die von Befehlshabern im besetzten Gebiet erlassenen Verordnungen und Werkraftzersetzung gem § 2 ff KSSVO gegenüber allen Personen. Auch Zivilisten fielen damit in den Anwendungsbereich der Militärstrafgesetze.174

Bedeutsam für die Rechtsprechung im Krieg wurde insbesondere § 5 KSSVO. Mit dieser Bestimmung wurden die der Wehrkraft neu geregelt und zahlreiche Bestimmungen des MStGB außer Kraft gesetzt. Dies betraf vor allem die Verleitung zur Fahnenflucht gem § 78 MStGB, Selbstverstümmelung gem § 81 MStGB, Dienstentziehung durch Täuschung gem § 82 MStGB und die Aufforderung zu Ungehorsam, Gehorsamsverweigerung oder Widersetzung gem § 99 MStGB. Der Strafrahmen wurde deutlich verschärft. Als Strafe sah § 5 KSSVO für alle Formen der Wehrkraftzersetzung grundsätzlich die Todesstrafe vor. Nur in minderschweren Fällen war eine Verurteilung zu Zuchthaus oder Gefängnis möglich. Zweck dieser Regelung war es, Auflösungstendenzen und Widerstände wie im Ersten Weltkrieg zu vermeiden. Für die Niederlage in diesem Krieg wurde die Schuld, wie bereits dargestellt, den Juden und Marxisten zugewiesen. Das NS Strafrecht richtete sich nun gegen dieses als Gemeinschaftsschädlinge bezeichnete Feindbild. § 5 KSSVO sollte dem Schutz der Wehrkraft dienen. Zersetzung der Wehrkraft wurde von der Reichskriegsanwaltschaft (RKA) als „Beeinträchtigung der totalen völkischen Einsatzbereitschaft zur Erringung des Endsieges“175 definiert. Mit der ersten ErgänzungsVO zur KSSVO vom 1. November 1939176, die kurz nach Kriegsbeginn verlautbart wurde, wurde unerlaubte Entfernung bereits bei Abwesenheit von mehr als einem Tag angenommen und mit Gefängnis oder Festungshaft bis zu zehn Jahren bestraft. Für Fahnenflucht wurde die Todesstrafe, lebenslanges oder zeitiges Zuchthaus vorgesehen.177

Mit der ersten ErgänzungsVO zur KSSVO wurde auch ein neuer § 5a in die KSSVO eingefügt. Mit dieser Bestimmung konnten die Gerichte wegen aller strafbaren Handlungen gegen die Manneszucht

173 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K31 39/8/4; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25. 174 vgl Erläuterungen zur KSSVO vom 17. August 1938 HDv 3/13; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 51 ff; RKG 6.5.1941, StPL (HLS) III 40/41; Reichskriegsgericht (Hrsg), Entscheidungen des Reichskriegsgerichts und des Wehrmachtdienststrafhofs II (1943) 93 ff; Scherer, Zur Kriegssonderstrafrechtsverordnung, ZWehrR 1939/40, 226. 175 Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 73. 176 vgl RGBl I 1939/218; BArch, R 3001/22290, Bl 248 ff; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25. 177 vgl Friedrich, Nazi-Justiz 30 f; Fritsche, „Meinen Mann hab ich gestellt!“ Geschlechtsidentitäten österreichischer Wehrmachtsdeserteure im Kontext des militärischen Männlichkeitsdiskurses der NS-Zeit, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 132 ff; Fritsche, „Goebbels ist ein großer Tepp“ - „Wehrkraftzersetzende“ Äußerungen in der Deutschen Wehrmacht, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 215 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 29 f; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 138 ff; Haase, Fahnenflucht 27 f; Haase, RKG 12 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 46; Klausch, 500 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 72 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 133; Moos in Kohlhofer 105 ff; Scherer, Zur Kriegssonderstrafrechtsverordnung, ZWehrR 1939/40, 226; Walmrath, Iustitia 171 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 115 f; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 39 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 498 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 41/226 oder das Gebot soldatischen Mutes den regelmäßigen Strafrahmen überschreiten und Strafen bis zu 15 Jahren Zuchthaus oder die Todesstrafe verhängen, sofern dies zur Aufrechterhaltung der Manneszucht oder der militärischen Sicherheit notwendig war. Durch die Unbestimmtheit dieser Norm konnten praktisch alle Straftaten mit der Todesstrafe geahndet werden. Im September 1941 wurde im 7. Mob-Sammelerlass178 bei Anwendung des § 5a KSSVO noch eine Begründung für die angenommene Gefährdung der Manneszucht eingefordert. Mit dem 11. Mob-Sammelerlass vom 10. August 1943179 wurde aber bereits eine Anwendung des § 5a KSSVO gefordert, wenn die Gefährdung in den persönlichen Verhältnissen des Täters oder den Umstände begründet sei. Konkrete Tatsachen, die die Annahme einer Gefährdung rechtfertigten, wurden nicht mehr gefordert. Diese Bestimmung sollte nach dem Willen von HR auch bei Diebstählen unter Kameraden angewendet werden, da dadurch die Manneszucht gefährdet werde. Die Grenzen des Tatbestandes wurden durch die vierte ErgänzungsVO zur KSSVO vom 31. März 1943180 ausgeweitet. Nunmehr konnte § 5a KSSVO auch angewendet werden, wenn die Tat einen besonders schweren Nachteil für die Kriegsführung oder die Sicherheit des Reiches zur Folge hatte und der regelmäßige Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden nicht genügte. Der Strafrahmen des § 5a KSSVO wurde auf zeitiges oder lebenslanges Zuchthaus erhöht. Die Todesstrafe blieb weiterhin vorgesehen. Neben das Erfordernis der Aufrechterhaltung der Manneszucht oder der militärischen Sicherheit trat nun das noch unbestimmtere Erfordernis, dass der normale Strafrahmen nach gesundem Volksempfinden nicht ausreiche. Der neue Strafrahmen konnte auch auf Taten angewendet werden, die vor Inkraftreten der vierten ErgänzungsVO begangen wurden. Das in modernen Rechtsstaaten geltenden Rückwirkungsverbot wurde dabei bewusst ignoriert. Die fünfte ErgänzungsVO zur KSSVO vom 5. Mai 1944181 dehnte die Strafdrohung auch auf fahrlässig begangene Taten aus, durch die ein schwerer Nachteil oder eine besonders ernste Gefahr für die Kriegsführung oder die Sicherheit des Reiches verursacht wurde.182

Mit der zweiten ErgänzungsVO zur KSSVO vom 27. Februar 1940183 wurden ab 16. März 1940 alle Angehörigen des Gefolges dem militärischen Strafrecht unterworfen, sofern dies der Chef OKW oder die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile anordneten. Für den Bereich des OKW erfolgte eine solche Anordnung zB am 3. Oktober 1940.184

Am 14. April 1940 erließ Hitler die Weisung, bei Fahnenflucht die Todesstrafe zu verhängen, wenn die Tat aus Angst vor persönlicher Gefahr begangen wurde oder die Strafe aus generalpräventiven Gründen zur Aufrechterhaltung der Manneszucht als erforderlich erachtet wurde. Insbesondere bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht, bei einem Fluchtversuch ins Ausland, bei erheblich vorbestraften Tätern oder, wenn während der Fahnenflucht weitere Verbrechen begangen wurden, sollte die Todesstrafe angewendet werden. Insbesondere die verbrecherische Betätigung wurde häufig zur Begründung für derartige Urteile, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Ansonsten war die Tat mit Zuchthaus zu ahnden, wenn die Begründung in jugendlicher

178 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K64 39/9/20. 179 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K64 39/9/20. 180 vgl RGBl I 1943/43; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K64 39/9/20. 181 vgl RGBl I 1944/22. 182 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K64 39/9/20; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 68 f; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 29; Garbe in Kirschner 117; Garbe in Pirker/Wenninger 32 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 176; Haase, RKG 38; Haase in Haase/Oleschinski2 46; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (388); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1131); Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 27; Klausch, 500 15; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 88 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 31; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 102 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 300 ff; Thomas in Haase/Paul 40 f; Walmrath, Iustitia 172 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 40 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 44 ff. 183 vgl RGBl I 1940/39; BArch, R 3001/22290, Bl 245 ff. 184 vgl VUA, RKG K8 39/2/12; VUA, RKG K19 39/3/42; VUA, RKG K44 39/11/10. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 42/226

Unerfahrenheit, schlechter dienstlicher Behandlung, schwierigen Familienverhältnissen oder sonstigen Gründen, die nicht als unehrenhaft galten, zu suchen war. Um die zahlreichen unbestimmten Gesetzesbegriffe auszulegen, erließ HR im Jänner 1942 im 8. Mob-Erlass Richtlinien. Eine verbrecherische Tätigkeit lag bereits vor, wenn der Täter einen starken verbrecherischen Willen gezeigt hatte. Die Todesstrafe sollte auch verhängt werden, wenn der Täter als asozialer Typ einzustufen war. Eine Flucht ins Ausland wurde bereits angenommen, wenn diese ernsthaft beabsichtigt wurde und Schritte zur Verwirklichung gesetzt wurden. Ein tatsächlich versuchter Grenzübertritt war nicht erforderlich. Auch diese Richtlinien enthielten somit eine Reihe unbestimmter Begriffe. Insbesondere der Anwendungsbereich des Versuchs wurde im Vergleich zur modernen Strafrechtsdogmatik deutlich weiter gefasst. Für die Kriegsmarine ging Großadmiral Karl Dönitz noch deutlich weiter und definierte Fahnenflucht als Treuebruch gegenüber dem Führer, der Heimat und den Kameraden. Fahnenflucht war demnach jedenfalls mit dem Tod zu bestrafen. Eine Ausnahme war nur möglich, wenn der Flüchtige sich innerhalb einer Woche freiwillig zurückmeldete.185

Die Rechtsprechung als Führungsmittel sollte in erster Linie der Umsetzung politischer Ziele dienen. Auf die Person und Motive eines Angeklagten sollte lt Admiral Warzecha nur begrenzt Rücksicht genommen werden. Ziel der Rechtsprechung sollte es sein, Nutzen für die Volksgemeinschaft zu stiften. Die Todesstrafe sollte nach Meinung Warzechas großzügig angewendet werden. Im Juni 1943 erlaubte MR auch den höheren Gerichtsherrn, in ihrem Bereich die Rechtsprechung durch Richtlinien zu steuern. Damit wurde eine bereits geübte Praxis auf eine formelle Grundlage gestellt. Im Heer wies Karl Sack im September 1943 darauf hin, dass auch jemand, der seinen Dienst hinter der Front verrichten wollte, aufgrund der militärischen Lage als fahnenflüchtig zu betrachten sei.186

Bereits am 21. Dezember 1939 informierte der Chef OKW die Befehlshaber der Wehrmachtsteile, den Befehlshaber des Ersatzheeres (BdE) und den Präsidenten des Reichskriegsgerichts über Hitlers Intention zur Anwendung des § 5a KSSVO. Für bestimmte schwere Verfehlungen sollte ausschließlich die Todesstrafe in Frage kommen. Dazu zählten Taten, die die Manneszucht gefährdeten oder aus Feigheit begangen wurden. Es müsse mit härtesten Mitteln durchgegriffen werden, um Ansätze von Feigheit bereits im Keim zu ersticken. Dies sei bereits am Beginn des Krieges nötig. Wenn an der Front die Besten stürben, könne es niemand verstehen, wenn Feiglinge und Saboteure in Zuchthäusern konserviert würden. Die Todesstrafe sollte abschrecken und so andere von der Begehung von Straftaten abhalten. Der Militärbefehlshaber Frankreich ließ im Juli 1944 alle Einheiten über die Neufassung des § 5a KSSVO durch die fünfte Ergänzungsverordnung informieren. Dabei stellte er klar, dass sich die Strafdrohung nicht nur gegen Soldaten richtete, sondern auch gegen das Heeresgefolge und Zivilpersonen.187

Die Steuerung des Justizwesens verfolgte das Ziel, die politische Zuverlässigkeit der Soldaten und insbesondere der Offiziere zu gewährleisten. Dazu diente va § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO, in dem die Wehrkraftzersetzung geregelt wurde. Neben der Unterdrückung und Beseitigung von Zweifeln am Endsieg und Kritik an den Methoden der Kriegsführung der politischen und militärischen Führung

185 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 611; VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K77 39/13; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 77 f; Fritsche in Pirker/Wenninger 131 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 138; Haase, Deserteure2 38; Haase, Fahnenflucht 29 f; Klausch, 999 217; Knippschild in Haase/Paul 127; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 86 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 102; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 185 f; Walmrath, Iustitia 168 f; beschönigend Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 170ff. 186 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 87 f; Walmrath, Iustitia 268 f. 187 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 257; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; Garbe in Pirker/Wenninger 29 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 219; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 114; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 40 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 588 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 43/226 sollte vor allem die NS konforme Einstellung der Soldaten sichergestellt werden. Im zweiten Mob- Sammelerlass, den HR an die Oberstkriegsgerichtsräte verteilte, wurde klargestellt, dass nach Auffassung des OKW gehässige Kritik an der NSDAP oder ihren Repräsentanten als Wehrkraftzersetzung zu behandeln war. Dabei wurde die Einheit der politischen und militärischen Führung betont. In einem Erfahrungsbericht über Bestätigungssachen vom September 1943 wurden von HR insbesondere staats- und wehrfeindliche Einstellung sowie eine asoziale Persönlichkeit als Erschwerungsgründe genannt. Der Schutz von den Nationalsozialisten als minderwertig bezeichneter Menschen wurde ausgeschlossen, auch wenn zugestanden wurde, dass diese im Einzelfall bemitleidenswert sein konnten. Man wollte ihnen keinen größeren Schutz als den sog volksbiologisch Wertvollen zukommen lassen. Hitlers Richtlinien für die Strafzumessung bei Fahnenflucht wurden dahingehend interpretiert, dass Furcht vor persönlicher Gefahr nicht nur an der Front möglich war, sondern auch vorlag, wenn ein Soldat in der Heimat nicht an die Front wollte. In den meisten Fällen führte die Feststellung der Furcht vor persönlicher Gefahr zur Verhängung der Todesstrafe durch die Kriegsgerichte.188

Zur Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung diente auch die Judikatur des RKG. § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO bedrohte all jene mit der Todesstrafe, die öffentlich versuchten, den Willen des deutschen oder eines verbündeten Volkes zur Selbstbehauptung zu untergraben. Am 27. Februar 1940 entschied das RKG, dass Öffentlichkeit bereits gegeben sei, wenn die Gefahr bestand, dass eine Äußerung nach außen dringen könnte. Damit erfüllten auch Äußerungen im privaten Umfeld den Begriff der Öffentlichkeit. Diese extensive Auslegung des Öffentlichkeitsbegriffs durch das RKG, wurde mit der zu milden Vorgangsweise der Militärjustiz im Ersten Weltkrieg und der daraus resultierenden Mitverantwortung für die Niederlage begründet. Lt OKW sollte § 5 KSSVO die Beeinträchtigung des Wehrwillens durch Beeinflussung eines unbestimmten Personenkreises verhindern, wobei eine einzige Person als unbestimmter Personenkreis zu betrachten war. Das Vorliegen eines minderschweren Falls sollte an den Interessen der kriegführenden Volksgemeinschaft gemessen werden. Diese Auslegung des § 5 KSSVO führte selbst innerhalb der NS Militärjustiz zu Diskussionen. Kritisch angemerkt wurde ua, dass die Grenzen zwischen öffentlich und privat aufgehoben wurden und der im Gesetz geforderte Zersetzungswille des Täters vom RKG nicht mehr berücksichtigt wurde. Die bewusste Akzeptanz der Möglichkeit einer zersetzenden Wirkung sollte lt RKG für die Anwendung des § 5 KSSVO genügen. Dieses Bewusstsein wurde aber allen Menschen unterstellt, wodurch diese Bestimmung nahezu universell anwendbar wurde. Marinekriegsgerichtsrat Gwinner schlug daher vor, den Begriff öffentlich aus dem Tatbestand zu streichen. Dennoch wurde die Auslegung des RKG bestimmend, um die Kriegsziele nicht zu gefährden. Die Zahl der Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung nahm aufgrund dieser extensiven Auslegung des § 5 KSSVO deutlich zu.189

188 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 275 ff; Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 29 ff; Haase, RKG 12; Klausch, 500 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 89; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 32 ff; Moos in Kohlhofer 105 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 166 ff; Walmrath, Iustitia 171 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 154 ff. 189 vgl RKG 27.2.1940, StPL (HLS) II 19/40; RKG 27.2.1940, StPL (HLS) III 29/40; RKG 2.4.1940, StPL (HLS) I 33/40; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 60 ff; BArch, R 3001/22290, Bl 634 f; Baumann/Koch, Einzelheiten, in Baumann/Koch 43 f; Dörner, „Der Krieg ist verloren!“ „Wehrkraftzersetzung“ und Denunziation in der Truppe, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 109 f; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 26; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 27; Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 181 ff; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 216; Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Gribbohm, RKG Rz 234 ff; Gribbohm, Strafjustiz 61 ff; Gwinner, Der Begriff der Öffentlichkeit in § 5 Abs. 1 Ziff. 1 KSSVO, ZWehrR 1942/43, 411; Haase, Deserteure2 37; Haase, RKG 12 ff; Hankel, Die Wehrmachtjustiz und ihre Aufarbeitung. Eine Geschichte von Verbrechen, Fehlern und Versäumnissen, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 302; Hornung, Denunziation als soziale Praxis. Eine Fallgeschichte aus der NS-Militärjustiz, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 100 f; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 26; Klausch, 500 15; Leverenz, Der Begriff der Öffentlichkeit in § 5 Abs. 1 Ziff. 1 KSSVO, ZWehrR 1942/43, 399; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 90 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 32 ff; Moos in Kohlhofer 105 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 22. Oktober 2018 Horst Pichler 44/226

Um die ideologische Kontrolle der Wehrmacht sicherzustellen, wurden Ende 1943 von Hitler, dem OKW und der Parteikanzlei der NSDAP Nationalsozialistische Führungsoffiziere (NSFO) auf allen Ebenen eingesetzt.190 Der Einfluss der NSFO auf die Wehrmachtsjustiz war va vom jeweiligen Kommandanten und Gerichtsherrn abhängig. Zumindest in der Luftwaffe erfolgte eine Einbindung der NSFO in die Rechtsprechung. Gem Erlass vom 30. September 1944 übertrug Göring im Falle seiner Verhinderung das Bestätigungs- und Aufhebungsrecht für Urteile dem Chef der personellen Rüstung und NS Führung (NSF) der Luftwaffe. Der Chef der Luftwaffenjustiz Hammerstein hatte noch im Juli 1943 versucht, die Vorgaben des RKG abzuschwächen, indem er anordnete, Äußerungen nur dann nach § 5 KSSVO zu beurteilen, wenn ihnen eine ausgesprochen wehrkraftzersetzende Tendenz zu Grunde lag. Im November 1944 ordnete allerdings der Chef der NSF der Luftwaffe an, dass jeder Zweifel am Führer oder am Endsieg mit dem Tode zu bestrafen sei. Als Beispiele wurden Behauptungen genannt, der Bolschewismus sei nicht so schlimm oder die westliche Demokratie könne in Erwägung gezogen werden. Der tatsächliche Eintritt einer zersetzenden Wirkung war nicht erforderlich. Auch Gespräche unter Ehepaaren waren danach öffentlich.191

In der zweiten Kriegshälfte wurden vom OKW und dem Chef des Heerespersonalamtes ausgewählte Urteile wegen Wehrkraftzersetzung veröffentlicht, um die Rechtsprechung weiter zu vereinheitlichen. Die Rechtsauffassung des OKW wurde mit diesen Belehrungsfällen allen Kommandeuren und Gerichten vorgeschrieben. Saboteure und Verräter stellten sich demnach außerhalb der Volksgemeinschaft und durften nicht geschont werden, solange an der Front sog Idealisten getötet wurden. Die Kontrolle der Rechtsprechung erfolgte in weiterer Folge durch die Vorlage von Tätigkeitsberichten und Kriegsgeschäftsnachweisungen an übergeordnete Dienststellen sowie durch die Gerichtsherrn.192

Je näher die deutsche Niederlage rückte, umso häufiger kam es zu Fällen von Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung und anderen Delikten. Die NS Führung versuchte diesen Tendenzen bis kurz vor Kriegsende durch zunehmend schärfere Gesetze und Befehle zu begegnen. Die Gerichte dienten dabei als wichtiges Disziplinierungsinstrument. Am 16. September 1944 befahl Hitler, jeden Häuserblock zur Festung auszubauen. Soldaten sollten bis zum Tod in ihren Stellungen bleiben und kämpfen. Jeder, der dies nicht tat, sollte getötet werden. Noch Ende Jänner 1945 erließ der Chef OKW Bestimmungen über das Verhalten von Offizier und Mann in Krisenzeiten. Gem diesen Bestimmungen sollte gegen Soldaten, die sich widersetzten, den Befehl zu kämpfen bei ungeordneten Rückzügen verweigerten, ihre Waffen zurückließen oder sonstige Anzeichen von Defaitismus zeigten, von der Waffe Gebrauch gemacht werden. Ob die jeweiligen Vorgesetzten dies umsetzten, musste an die Gerichtsherrn gemeldet werden. Da im Zusammenhang mit Fahnenflucht und unerlaubter Entfernung auch die Zahl der Urkundenfälschungen stark zunahm, erließ das OKW am 12. Februar 1945 einen Befehl zur Benutzung gefälschter Reisepapiere und zur Genehmigung von Dienst- und Urlaubsreisen unter vorgetäuschten Umständen.193 Demnach waren Soldaten, die mit gefälschten

165 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 178 ff; Walmrath, Iustitia 171 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 39 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 403 ff. 190 vgl Befehl des Führers für die nationalsozialistische Führung in der Wehrmacht und Befehl des Führers für die nationalsozialistische Führung im Heer, beide in Moll (Hrsg), „Führer-Erlasse“ 1939-1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung (1997) 381 ff. 191 vgl Dörner in Haase/Paul 110; Form in Pirker/Wenninger 62 f; Garbe in Pirker/Wenninger 29 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 91 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 159 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 68 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 543 ff. 192 vgl VUA, RKG K63 39/10/11; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 92 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 162 f; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114 f. 193 vgl VUA, RKG K40 39/10/14. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 45/226 oder fremden Papieren reisten, mit dem Tod zu bestrafen. Vorgesetzte, die Marschpapiere leichtfertig ausstellten und damit das Verlassen des Kampfgebietes ermöglichten, waren als Saboteure ebenfalls mit dem Tod zu bestrafen. Wurden sonstige einschränkende Bestimmungen missachtet, erfolgte die Verurteilung wegen Ungehorsams mit besonders schweren Folgen. Am 7. März 1945 befahlen Hitler und Himmler, dass jeder Soldat, der unverwundet in Kriegsgefangenschaft geriet und nicht nachweislich mit aller Kraft Widerstand geleistet hatte, seine Ehre verlor. Seine Angehörigen hafteten für den Soldaten. Geld oder sonstige Unterstützungen wurden verboten. Am 15. bzw 17. März 1945 folgten Befehle der Generalfeldmarschälle von Rundstedt und Model, wonach alle Soldaten in ihrem Befehlsbereich, die behaupteten, ihre Einheit verloren zu haben, durch Standgerichte zu verurteilen und hinzurichten seien. Ende März 1945 erließ Himmler den Befehl, alle männlichen Bewohner von Häusern, aus denen weiße Fahnen wehten, ab einem Alter von 13 Jahren zu erschießen. In einem Befehl vom 15. April 1945 forderte Hitler die Soldaten an der Ostfront auf, ihnen unbekannte Vorgesetzte, die einen Rückzugsbefehl erteilten, sofort festzunehmen und nötigenfalls zu erschießen.194

Nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 passten die Alliierten das deutsche Militärstrafrecht an. Bereits am 2. Mai 1945 wurden die KSSVO und die Erlasse Hitlers und der Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile bezüglich der Rechtsanwendung von der Alliierten Militärregierung mit Gesetz Nr 153 abgeschafft. Am 10. Mai 1945 verlautbarte das Oberkommando der Kriegsmarine (OKM), dass politische Straftaten nicht mehr existent seien. Fahnenflucht wurde aber nicht als Kriegsdelikt qualifiziert und war daher weiterhin strafbar. MStGB und KStVO behielten weiterhin ihre Gültigkeit. Das MStGB wurde erst am 20. August 1946 durch das alliierte Kontrollratsgesetz Nr 34 aufgehoben.195

194 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht 100; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 27 ff; Haase, Deserteure2 43; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 401 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 50 ff. 195 vgl Gribbohm, RKG Rz 12 f; Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1128); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 433 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 260 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 46/226

IV. Entwicklung des formellen Militärstrafrechts und Gerichtsorganisation

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Übergang von der Monarchie zur Weimarer Republik wurde die Militärgerichtsbarkeit in Deutschland mit Ausnahme von Kriegszeiten und an Bord von Kriegsschiffen gem Art 106 der Weimarer Reichsverfassung abgeschafft. Darauf basierend wurde am 17. August 1920 das Gesetz betreffend die Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit196 erlassen. Das Militärstrafgesetzbuch blieb allerdings unverändert bestehen. Lediglich die Rechtsprechung über Angehörige der Reichswehr ging ab Oktober 1920 auf die zivile Gerichtsbarkeit über. Mit Ausnahme der Bordgerichte auf Schiffen der Kriegsmarine wurden alle Militärgerichte inklusive des Reichsmilitärgerichts aufgelöst. Seine Funktion als oberste Instanz wurde nunmehr vom zivilen Reichsgericht übernommen. Für die militärische Führung besaß die eigene Sondergerichtsbarkeit aber eine herausragende Bedeutung. Die Sondergerichtsbarkeit sollte sicherstellen, dass militärische Strafmaßnahmen allein Sache der Kommandogewalt der militärischen Vorgesetzten blieben, ohne auf zivile Einflüsse Rücksicht nehmen zu müssen. Darüber hinaus wurde das bei zivilen Gerichten gültige Öffentlichkeitsprinzip als Bedrohung der militärischen Disziplin empfunden. Diese Standpunkte wurden Ende des 19. Jahrhunderts bei Diskussionen über Reformen der Militärgerichtsbarkeit deutlich. Die zivile Weimarer Justiz agierte aber ohnehin meist im Sinne der militärischen Führung. Kritik an der Reichswehr wurde äußerst ablehnend aufgenommen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 verstummte die Kritik allerdings ohnehin. Aus der NSDAP kamen lediglich Vorwürfe, die sich gegen das Standesdenken des Offizierskorps und dessen konservative Einstellung richteten.197

Die Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit ab 1. Jänner 1934 durch ein Gesetz vom 12. Mai 1933198 wurde als eine Rückkehr zu normalen Verhältnissen interpretiert, wodurch sich die Nationalsozialisten Sympathien unter den Offizieren erwarben. Die Militärjustiz wurde von den militärischen Befehlshabern als Führungsmittel betrachtet und wurde während der Zeit des Nationalsozialismus ebenso wie alle anderen Bereiche des öffentlichen Lebens für diesen instrumentalisiert. Die Justiz hatte die Kampfkraft der Truppe für den Krieg aufrechtzuerhalten und zu stärken. Der Chef WR Lehmann sah in Gesetzen die vornehmste Form des Führerbefehls. Im Zentrum der Betrachtungen standen das militärische Interesse und die Generalprävention, nicht die individuelle Schuld und die Spezialprävention. Die dominante Rolle innerhalb der Militärgerichtsbarkeit kam daher auch den militärischen Kommandanten als Gerichtsherrn und nicht ausgebildeten Juristen zu. Das gesatzte Recht trat hinter die militärischen Erfordernisse der Disziplin zurück. Grundlage war die Militärstrafgerichtsordnung (MStGO) aus dem Jahr 1898. Die Aufgaben des Reichsmilitärgerichts als oberster Instanz wurden bis zur Errichtung des Reichskriegsgerichts im Oktober 1936 weiterhin vom zivilen Reichsgericht übernommen.199

196 vgl RGBl I 1920/176. 197 vgl Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 67; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 26; Garbe in Pirker/Wenninger 25 f; Gribbohm, RKG Rz 8; Haase, Fahnenflucht 25; Lehmann, Über die Aufgaben des Rechtswahrers der Wehrmacht, ZWehrR 1939/40, 91; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 43; Rass/Quadflieg in Kirschner 46; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 20 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 1 ff; Thomas in Haase/Paul 39; Walmrath, Iustitia 116 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 541 ff. 198 vgl RGBl I 1933/50. 199 vgl Art II Erläuterungen zur KStVO HDv 3/13; Absolon, Wehrmachtstrafrecht XVI ff; Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 145; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 67; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 21 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 29 ff; Forster, Österreicherinnen und Österreicher vor dem Reichskriegsgericht, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 390; Friedrich, Nazi-Justiz 181 f; Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Gribbohm, RKG Rz 9 ff; Haase, Deserteure2 37 ff; Haase, Fahnenflucht 25; Haase, RKG 10 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 45 f; Hankel in Kirschner 297; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 28; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 17; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 43 f; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 100; Reiter-Zatloukal in Pirker/Wenninger 20; Riegler in Pirker/Wenninger 165 ff; 22. Oktober 2018 Horst Pichler 47/226

Die Militärjustiz wurde dem militärischen Apparat nicht eigenständig zur Seite gestellt, sondern in diesen integriert. Sie wurde als Teil der Stäbe in die Teilstreitkräfte Heer, Luftwaffe und Marine aufgenommen. Jede Teilstreitkraft erhielt eine Rechtsabteilung, die einem militärischen Vorgesetzten unterstellt wurde. Im Heer wurde die neue Rechtsabteilung in das AHA eingegliedert, in der Marine in das Allgemeine Marinehauptamt (AMA) und in der Luftwaffe in das Zentralamt (ZAL). Der WR, die dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht untergeordnet war, kam zunächst lediglich bei Grundsatzfragen Bedeutung zu. Bedeutsam wurde sie bei der Einsatzplanung der Wehrmachtsjustiz für den Kriegsfall. Nachdem Blomberg 1938 als Reichskriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht ausgeschieden war und Hitler selbst diese Funktion übernommen hatte, wurde die Position der WR gegenüber den Rechtsabteilungen der Teilstreitkräfte zunächst nicht weiter ausgebaut. Der neue Chef des OKW Keitel hatte als Stabschef keine direkte Befehlsgewalt über die Teilstreitkräfte. Erst als Hitlers Interesse an der Wehrmachtsgerichtsbarkeit im Lauf des Zweiten Weltkrieges zunahm, erhöhte sich der Einfluss von WR auf die Teilstreitkräfte erneut.200

Im Frieden wurde die Militärgerichtsbarkeit in drei Ebenen gegliedert. Die unterste Ebene bildeten die Kriegsgerichte, ihnen übergeordnet wurden die Oberkriegsgerichte, und an der Spitze stand das RKG. Sie galten formal als eigenständige Dienststellen, waren aber in die militärische Befehlsstruktur eingebunden. Richter waren Wehrmachtsbeamte im Offiziersrang. Militärische Vorgesetzte waren die Gerichtsherren und ihre Befehlshaber, als Fachvorgesetzte fungierten der Oberstkriegsgerichtsrat (OKGR) des jeweiligen Dienstaufsichtsbezirks sowie die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte und der Wehrmacht. Diese Organisationsstruktur blieb im Wesentlichen bis Kriegsende bestehen. OKGR waren Leiter einer Reichsbehörde, die dem Oberkommando der jeweiligen Teilstreitkraft unmittelbar unterstellt war. In ihrer richterlichen Tätigkeit waren aber auch sie einem Gerichtsherrn zweiter Instanz untergeordnet. Gerichtsherren der ersten Instanz waren beim Heer die Wehrkreisbefehlshaber, bei der Marine die Befehlshaber der Linienschiffe und der Aufklärungsstreitkräfte sowie die Inspekteure der Marineartillerie und des Bildungswesens. Gerichtsherren zweiter Instanz waren beim Heer die Gruppenbefehlshaber, bei der Marine der Flottenchef und die Chefs der Marinestationen der Nord- und Ostsee. Die Justizbeamten wurden unterteilt in Kriegsrichter, Kriegsgerichtsräte, Oberkriegs- gerichtsräte und Oberstkriegsgerichtsräte. Als Voraussetzung für ihre Berufung mussten sie einerseits die allgemeinen Voraussetzungen für eine richterliche Tätigkeit erfüllen und andererseits zumindest Offizier des Beurlaubtenstandes (dB) sein. Die administrativen Urkundsbeamten wurden unterteilt in Heeresjustizinspektoren, -oberinspektoren und -amtmänner. Sie waren ebenfalls Beamte im Offiziersrang.201

Im Verfahren bestimmte der Gerichtsherr, welcher Justizbeamte in welchem Verfahren als Verhandlungsleiter, Richter, Ermittlungsleiter oder Ankläger zu fungieren hatte. Diese Rollen konnten zwischen verschiedenen Verfahren auch geändert werden, sodass derselbe Militärjurist in einem Verfahren Richter, in einem anderen Ankläger sein konnte. Ein Recht auf einen gesetzlichen Richter mit im Vorhinein festgelegten Zuständigkeiten existierte nicht. Der militärischen Führung und den Gerichtsherrn kam dies entgegen, da das juristische Personal flexibel eingesetzt werden konnte. Im Bereich des Heeres unterstand der Chef der Heeresjustiz dem BdE. Er fungierte als Fachvorgesetzter aller Justizbeamten des Feld- und Ersatzheeres. 1938 bestand die Heeresjustiz bereits aus 18

Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 3 ff; Skowronski in Kirschner 182; Thomas in Haase/Paul 39 ff; Walmrath, Iustitia 113 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 40. 200 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 44; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 38 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 15 ff; Walmrath, Iustitia 23 ff. 201 vgl Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 29 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 26 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 44 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 23; Thomas in Haase/Paul 44 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 48/226

Gerichten zweiter Instanz, die bei Armeekorps eingerichtet waren, 54 Divisionsgerichten, einem Brigadegericht, sieben Kommandanturgerichten und zwei Grenztruppengerichten.202

Nach der Wiedereinführung der Militärgerichtsbarkeit stand die Wehrmachtsführung zunächst vor dem Problem der Personalbeschaffung. Die geforderten Eigenschaften eines ausgebildeten Juristen und Reserveoffiziers engten die Auswahl ein. Daher spielten weltanschauliche Fragen bei der Personalauswahl zunächst keine erkennbare Rolle. So war zB der spätere Chef der Luftwaffenjustiz von Hammerstein zuvor in der Evangelischen Kirche tätig und trat in die Wehrmachtsjustiz ein, da er sie im Vergleich zur zivilen Justiz für unpolitischer hielt. Im Oktober 1936 wurde er bereits in die Rechtsabteilung des Reichsluftfahrtministeriums versetzt. 1939 übernahm er schließlich die Leitung der Rechtsabteilung der Luftwaffe. Auch Karl Sack, später Richter am RKG und Chef HR, wurde 1934 in der Heeresjustiz tätig. Ihm wurde eine Distanz zum Nationalsozialismus und seiner Rechtsauffassung bestätigt. Auch er glaubte, in der Wehrmachtsjustiz eine unpolitische Organisation vorzufinden. 1938 wurde er bereits zum Reichskriegsgerichtsrat ernannt. Sack hatte Kontakte zum Widerstand, ua zu . Im Rahmen der Blomberg-Fritsch-Krise erreichte Sack gegen den Widerstand von SS und Geheimer Staatspolizei (Gestapo) eine Verhandlung gegen Fritsch vor dem RKG, das diesen freisprach. Am 9. April 1945 wurde er als Widerstandskämpfer hingerichtet. Auch Heinrich Rosenberger, seit 1936 Chef WR, galt als unpolitisch und unterstützte Sack im Rahmen des Fritsch-Prozesses.203

Nach der Einführung der Wehrpflicht im Jahr 1935 drängten aber zunehmend junge, nationalsozialistisch geprägte Juristen in die Militärjustiz. All jene, die bis Kriegsbeginn in die Wehrmachtsjustiz aufgenommen wurden, wurden aktive Militärjuristen. Nach Kriegsbeginn, als der Bedarf an Juristen deutlich stieg, wurden die meisten Neueinstellungen nur mehr für die Dauer des Krieges vorgenommen und die Bewerber als Militärjustizbeamte der Reserve eingestellt. Insgesamt betrug die Zahl der Militärrichter rund 3.000. Auch die unpolitische Ausrichtung der obersten Wehrmachtsjuristen änderte sich spätestens im Juli 1938, als Rudolf Lehmann die Leitung WR von Heinrich Rosenberger übernahm. Lehmann war zuvor im Justizministerium und als Senatspräsident am RKG tätig gewesen. Er galt als Vertreter der neuen NS Rechtstheorie. Neben den Leitern der Rechtsabteilungen des OKW und der Teilstreitkräfte zählten die Mitglieder des RKG und der RKA zu den führenden Militärjuristen. Aber selbst vordergründig unpolitische Juristen, die ihre Ausbildung in der Weimarer Republik genossen hatten, fügten sich unter dem Einfluss der Dolchstoßlegende und des angeblichen Versagens der Weimarer Demokratie problemlos in den NS Militärjustizapparat ein. Letztendlich gab es auch in der Wehrmachtsjustiz eine große Zahl überzeugter Nationalsozialisten als Richter.204

202 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht XVI; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 29 f; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 29 ff; Forster/Geldmacher/Walter, Österreicher vor dem Feldkriegsgericht der Division 177, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 408 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 28 ff; Haase, Deserteure2 39 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 45 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 27 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 48 f; Rass/Rohrkamp, Dramatis Personae. Die Akteure der Wehrmachtjustiz, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 107 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 24 f; Walmrath, Iustitia 598 f; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 44 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 51. 203 vgl Bade in Pirker/Wenninger 76 f; Friedrich, Nazi-Justiz 180 f; Garbe in Pirker/Wenninger 40; Haase, RKG 19 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 47 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 71 ff; Rass/Rohrkamp in Baumann/Koch 100 ff; Thomas in Haase/Paul 42 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 157 ff; diesen Aspekt überbetonend Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 54 ff. 204 vgl VUA, RKG K58 39/13/44; Bade in Pirker/Wenninger 76 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 40; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 135; Haase, RKG 53; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 17 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 49; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 24 ff; Rass/Quadflieg in Kirschner 46; Rass/Rohrkamp in Baumann/Koch 95 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 166; Thomas in Haase/Paul 44; Walmrath, Iustitia 23 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27; Wüllner, NS-Militärjustiz2 156 ff; diesen Aspekt negierend Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 54 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 49/226

Das RKG wurde auf Basis einer Verordnung vom 5. September 1936205 am 1. Oktober 1936 gegründet. Die Richter hatten ihre Ausbildung in den Zwanzigerjahren oder noch davor in der Monarchie absolviert. Viele hatten zuvor in der zivilen Justiz gearbeitet, einige hatten allerdings auch Erfahrung in der Militärjustiz des Ersten Weltkrieges gesammelt. Einige Richter waren auch Mitglieder der NSDAP. Meist rekrutierten sich die Richter aus den Rechtsabteilungen, fallweise auch aus der RKA. Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erfüllte das RKG zwei wesentliche Aufgaben. Einerseits diente es gem § 56 MStGO als Revisionsgericht, andererseits kam ihm gem § 55 Abs 1 MStGO die Rechtsprechung bei Hoch- und Landesverrat, Kriegsverrat, Angriffen gegen den Führer, Wehrmittelbeschädigung gem § 143a RStGB und Verbrechen gem § 5 Z 1 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat206 sowie bei Prozessen gegen Wehrmachtsangehörige im Generals- oder Admiralsrang zu. Dazu verfügte das RKG zunächst über zwei Revisionssenate und einen Senat für Hoch- und Landesverratssachen. Bis Kriegsende wuchs die Zahl der Senate auf fünf. Verhandlungsleiter war der Senatspräsident. Ihm standen ursprünglich drei Reichskriegsgerichtsräte, nach Einführung der KStVO nur mehr mindestens ein Reichskriegsgerichtsrat und drei Offiziere zur Seite. Im Fokus der Aufmerksamkeit der Wehrmachtsführung stand von Beginn an der Senat für Hoch- und Landesverratssachen. Die Rechtsprechung sollte mit den Sondergerichten und dem Volksgerichtshof (VGH) abgestimmt werden. Dazu wurde im Februar 1937 ein Erlass zum Thema Landesverrat vorbereitet, in dem von einer grundlegenden Neubewertung dieser Taten im NS Staat die Rede war. Landesverrat wurde als Verrat an der Volksgemeinschaft und damit als schlimmstes mögliches Verbrechen eingestuft. Seit April 1934 war es daher mit der Todesstrafe bedroht. Das RKG verfügte mit der RKA als einziges NS Militärgericht über eine eigene Anklagebehörde, die vom Oberreichskriegsanwalt (ORKA) geleitet wurde. Die Funktion des ORKA übten von 1. Oktober 1936 bis 30. September 1942 Walter Rehdans und von Juni 1943 bis Kriegsende Alexander Kraell aus. Von Oktober 1942 bis Juni 1943 war Oberstkriegsgerichtsrat Schrag mit der Amtsführung betraut.207

Urteile, die politische Auswirkungen haben könnten, mussten ab April 1937 dem Reichskriegsminister vorgelegt werden. Dazu zählten Verhandlungen gegen Offiziere, wegen Misshandlung Untergebener, Missbrauchs der Dienstgewalt, Sittlichkeitsverbrechen gem §§ 175 und 175a RStGB, Hoch- und Landesverrat sowie ab Mai 1937 Selbstmorde und Verstöße gegen das Heimtückegesetz208. War das Ansehen der Partei oder einer ihrer Teilorganisationen betroffen, konnten Taten nur mit Zustimmung des Stellvertreters des Führers verfolgt werden. Zur Verfolgung von Äußerungen über Repräsentanten des Staates oder der NSDAP war eine Anordnung des Reichsjustizministers mit Zustimmung des Stellvertreters des Führers notwendig. Dies ermöglichte der NS Führung eine Kontrolle über die Stimmungslage innerhalb der Wehrmacht und anderer Teile des Staates. Entsprechende Anträge mussten über die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile und den Reichskriegsminister weitergeleitet werden. Darin mussten auch Angaben zur politischen Einstellung und Betätigung des Täters enthalten sein. Auch ein Überblick über die Anwendung von NS Grundsätzen bei der Auslegung von

205 vgl VO zur Änderung der Militärstrafgerichtsordnung und des Einführungsgesetzes zu ihr RGBl I 1936/81. 206 vgl RGBl I 1933/17. 207 vgl VUA, RKG K25 39/4/37; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K32 39/8/14; VUA, RKG K41 39/1/17; VUA, RKG K43 39/11/14; VUA, RKG K51 39/13/3; VUA, RKG K51 39/13/10; VUA, RKG K55 39/13/33; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 76 ff; Forster, RKG, in Manoschek 390; Gribbohm, RKG Rz 9 ff; Haase, RKG 11 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 46 f; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (384 ff); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1130); Kirschner, Wehrmachtjustiz, in Kirschner 61 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 49 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 165 ff; Viebig, Der Bestand „Reichskriegsgericht“ im Militärhistorischen Archiv der Tschechischen Republik in Prag – ein bedeutender Aktenbestand für die Forschung zur nationalsozialistischen Justiz, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 46 ff; Viebig/Skowronski, Werner Lueben. Biographische Anmerkungen zu einem Richter am Reichskriegsgericht, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 166 f; Walmrath, Iustitia 124 ff. 208 vgl Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen vom 20. Dezember 1934 RGBl I 1934/137. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 50/226

Tatbeständen wurde gewünscht. Im Fokus standen dabei § 2 RStGB, der Bestrafungen ermöglichte, wenn eine Tat dem gesunden Volksempfinden widersprach, sowie § 2b RStGB, der die Möglichkeit von Wahlfeststellungen normierte. Seit Februar 1936 mussten auf diesen §§ basierende Verurteilungen bzw die Ablehnung eines entsprechenden Strafantrages über die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile dem Reichskriegsminister vorgelegt werden.209

Aufgrund des raschen Aufbaus der Wehrmacht nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kam es häufig zu einer fehlerhaften Rechtsanwendung durch die unteren Instanzen. Dies führte ebenfalls zu einem Kontrollbedürfnis der einzelnen Rechtsabteilungen. Bedingt war die Fehlerhaftigkeit dadurch, dass in der Phase des raschen Aufbaus viele junge Juristen ohne Praxiserfahrung eingestellt wurden, um die neu entstandenen Posten zu besetzen. Beanstandet wurden fehlerhafte Urteilsformeln, Anklage- und Strafverfügungen, Strafzeitberechnungen und Gesetzesanwendung. Die Urteilsbegründung entsprach oft nicht den Anforderungen des § 276 MStGO. Die Kontrolle der Rechtsprechung erfuhr während des Krieges noch eine Intensivierung. Abgesehen von der Fehlerkontrolle lag ein wesentlicher Grund für die Kontrolle der Militärgerichtsbarkeit in der intendierten Funktion der Justiz als Steuerungselement der militärischen Kommandanten.210

Der Auf- und Ausbau der Militärjustiz folgte dem allgemeinen Ausbau und der Aufrüstung der Wehrmacht. Die strategischen Ziele der Wehrmacht wurden der neuen NS Ideologie angepasst. Anstelle einer defensiven Haltung der Reichswehr trat nun eine offensive Ausrichtung der NS Wehrmacht. Bis 1938 sollte eine Personalstärke von 2,7 Millionen erreicht werden. Bis 1940 sollte der Aufbau der Wehrmacht mit 3,6 Millionen Angehörigen abgeschlossen sein. Das Heer sollte damit eine Größe von 102 Divisionen erreichen. Dieser massive Ausbau der Wehrmacht führte zu einer intensiven Rekrutierungstätigkeit. Parallel dazu wurden auch in der Wehrmachtsjustiz ab 1937 Vorbereitungen für eine Mobilmachung getroffen. Im Mobilmachungsfall mussten zahlreiche neue Gerichte besetzt werden. Die Hauptverantwortung dafür lag bei der Heeresrechtsabteilung (HR). Die Generalkommandos mussten im Vorfeld bestimmen, welche bestehenden Gerichte die Mobilmachung der neu einzurichtenden Gerichte vorbereiten sollten. Dazu wurden Kalender mit allen zu treffenden Maßnahmen eingeführt. Auch die erforderliche Ausrüstung wie Vorschriften und Bücher wurde festgelegt. Die Oberstkriegsgerichtsräte mussten bis Jahresende über den Stand der Vorbereitungen berichten. Im September 1938 wurde in einem Erlass erstmals auf die notwendige Einarbeitung in die Kriegsgesetze hingewiesen. Diese neuen Kriegsgesetze bestanden aus der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) und der Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO), die beide am 17. August 1938 von Hitler unterzeichnet, jedoch erst am 26. August 1939 in Kraft gesetzt wurden. Die mitzuführenden Nachschlagewerke beschränkten sich auf wenige Kommentare zum MStGB von Schwinge, Fuhse oder Rittau, zur MStGO von Dietz oder Hülle und zum RStGB von Dalcke oder Schwarz. Um den Personalbedarf bei einer Mobilmachung zu decken, musste im Kriegsfall zusätzliches Personal eingestellt werden. Diese nur für den Kriegseinsatz einberufenen Mitarbeiter wurden in Abgrenzung zum Stammpersonal als Feldkriegsgerichtsrat und Feldjustizinspektor bezeichnet.211

209 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 60 f. 210 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 61; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 284 f. 211 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 145 ff; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; Absolon, Wehrmachtstrafrecht XV ff; Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 145; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 68; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 28; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 29; Form in Pirker/Wenninger 59 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 27 ff; Gribbohm, RKG Rz 14 ff; Haase, Deserteure2 39; Haase, RKG 11 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 65 ff; Messerschmidt/Wüllner, 22. Oktober 2018 Horst Pichler 51/226

Die Berichte, die seit 1937 dem Reichskriegsminister und in weiterer Folge dem Führer selbst vorgelegt werden mussten, mussten gem Erlass Hitlers vom 23. September 1938 mit Beginn des Krieges über WR dem Chef OKW vorgelegt werden. Zusätzlich zu den bereits oben erwähnten Fällen, musste nun auch über Verfahren aufgrund der §§ 2 und 3 KSSVO wegen Spionage und Freischärlerei, Verfahren, denen wegen der Täterpersönlichkeit, der Folgen der Tat oder sonstigen politischen oder militärischen Gründen eine besondere Bedeutung zukam, und alle Todesurteile berichtet werden. Bei Selbstmorden sollte nur aus wichtigen Gründen berichtet werden.212

Auf Basis der Ausführungsbestimmungen zur KStVO wurden folgende militärische Befehlshaber zu Gerichtsherren bestimmt: die Armeeoberbefehlshaber, Kommandierende Generäle, Befehlshaber der Kommandostäbe zbV, der Grenzkommandos, der Grenzschutzabschnittskommandos, der Generalquartiermeister, die Kommandanten der Divisionen, der rückwärtigen Armeegebiete, von Königsberg und Lötzen, der Festungs-, Grenz- und Feldkommandanturen und der selbständigen Brigaden sowie die Führer der Oberbaustäbe. Hinzu kamen noch im Ersatzheer die Kommandanten der Ersatztruppen und der Kommandant von Berlin. Bei einem fehlenden Gerichtsstand wurde vom ObdH die Gerichtsbarkeit an folgende Befehlshaber übertragen: an den Generalquartiermeister über Mitglieder des Hauptquartiers des OKH und nachgeordneter Dienststellen, an den Kommandanten von Berlin über sonstige Mitglieder des OKH und über die Teile des Ersatzheeres in Berlin, an die Befehlshaber des Ersatzheeres über die in ihrem Wehrkreis befindlichen Ersatztruppenteile. Die Festlegung eines fehlenden Gerichtsstands erfolgte durch die Armeekommandanten und Befehlshaber des Ersatzheeres. Das Recht, Urteile zu bestätigen oder aufzuheben oder eine Wiederaufnahme eines Verfahrens anzuordnen, wurde vom ObdH folgenden Gerichtsherrn übertragen: den Armeeoberbefehlshabern, dem BdE und dem General zbV beim ObdH für Urteile bis zu einem Jahr Zuchthaus gegen Offiziere und Beamte im Offiziersrang sowie für Todesurteile und Freiheitsstrafen von mehr als fünf Jahren gegen alle übrigen Personen. Alle übrigen Urteile konnten von den sonstigen Gerichtsherren bestätigt oder aufgehoben werden. Hitler selbst kam das Bestätigungsrecht für Todesurteile und Freiheitsstrafen von mehr als einem Jahr Zuchthaus gegen Offiziere und Beamte im Offiziersrang sowie für alle Urteile gegen Generale und Admirale zu. Umfasst von diesem Bestätigungsrecht waren auch ausländische Offiziere und ihnen gleichgestellte Beamte, selbst wenn es sich um Kriegsgefangene handelte. Darüber hinaus war in § 79 KStVO die Möglichkeit festgelegt, dass er auch die Bestätigung anderer Urteile an sich ziehen konnte.213

Die Dienstaufsichtsbezirke des Ersatzheeres blieben im Kriegsfall unverändert. Für das Feldheer wurden alle im Gebiet einer Armee befindlichen Gerichte sowie die Gerichte des General- quartiermeisters und der sonstigen Verbände, die dem ObdH unterstanden und sich nicht im Gebiet einer Armee befanden, zu jeweils einem Dienstaufsichtsbezirk zusammengefasst. Am 4. August 1939 wurde die Gerichtsorganisation des Friedensheeres durch einen Erlass in die Gerichtsorganisation des Ersatzheeres überführt. Insgesamt bestanden im August 1939 16 Gerichte des Ersatzheeres. Auf österreichischem Gebiet wurden zunächst zwei Gerichte des Ersatzheeres eingerichtet, eines in Wien

Wehrmachtsjustiz 38; Riegler in Pirker/Wenninger 166; Thomas in Haase/Paul 39; Walmrath, Iustitia 124 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 29 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 780 ff. 212 vgl VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K77 39/13. 213 vgl VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K19 39/3/42; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K77 39/13; Forster/Geldmacher/Walter in Manoschek 408 ff; Fritsche, Gehorsamsverweigerung, Dienstpflichtverletzung, Meuterei. Widersetzlichkeiten österreichischer Soldaten in der Deutschen Wehrmacht, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 269; Garbe in Pirker/Wenninger 28 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 67 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 38 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 21 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 52/226 mit Zweigstellen in Linz und Karlsbad sowie eines in Salzburg mit Zweigstellen in Innsbruck und Graz. Die Oberstkriegsgerichtsräte der vier Dienstaufsichtsbezirke veranlassten die notwendigen personellen Maßnahmen bis Kriegsbeginn. Während des Krieges existierten auf österreichischem Gebiet das Gericht der Wehrmachtskommandantur Wien, das Gericht des Luftgaus XVII sowie vier Divisionsgerichte des Ersatzheeres, das Gericht der Division 487 in Linz, das Gericht der Division 177 in Wien mit einer Zweigstelle in Brünn, das Gericht der Division 188 in Innsbruck mit einer Zweigstelle in Salzburg und das Gericht der Division 418 in Klagenfurt mit einer Zweigstelle in Graz.214

Für das Militärstrafprozessrecht gewann die KStVO entscheidende Bedeutung. Zweck dieser Vorschrift war, ein rascheres und effizienteres Verfahren zu ermöglichen. Dazu wurden wesentliche Punkte an die Bedürfnisse der Wehrmachtsjustiz angepasst. Eine wesentliche Änderung bestand im Wegfall des bisher dreistufigen Instanzenzuges und damit der Möglichkeit, ein Urteil durch Rechtsmittel von einer übergeordneten Instanz juristisch prüfen zu lassen. Sämtliche Kriegsgerichte entschieden von nun an als erste und letzte Instanz bis hin zur Todesstrafe. Dem RKG wurden besondere, politisch wichtige Kompetenzen eingeräumt. Es entschied gem § 14 Abs 1 KStVO ua über Hoch-, Landes- und Kriegsverrat und Fälle von Wehrkraftzersetzung, insbesondere Kriegsdienstverweigerung. Das Recht auf einen Verteidiger wurde auf eine Kannbestimmung zurückgestuft. Zwingend eingehalten werden mussten die Bestimmungen zur Besetzung der Feldkriegsgerichte mit drei und des RKG mit fünf militärischen Richtern, der Angeklagte musste angehört werden und ihm stand das letzte Wort im Prozess zu, das Urteil wurde mit Stimmenmehrheit der Richter gefällt, und dem Gerichtsherrn kam das Recht zur Bestätigung des Urteils zu. Die Besetzung der Senate erfolgte bei den Feldkriegsgerichten gem § 9 Abs 1 KStVO mit einem Militärjustizbeamten als Juristen und Verhandlungsleiter und zwei Soldaten, von denen einer Offizier sein musste. Gem Abs 2 leg cit konnten bei einem Personalmangel die richterlichen Militärjustizbeamten ersetzt werden. Zunächst sollten richterliche Militärjustizbeamte eines anderen Gerichts die Aufgaben übernehmen. War dies nicht möglich, kamen als nächstes Offiziere zum Zug, die eine Ausbildung als Richter erhalten hatten. Waren auch solche nicht verfügbar, konnten in letzter Konsequenz alle Offiziere mit einem Dienstgrad ab Hauptmann aufwärts als Ersatz herangezogen werden. So konnte eine Verhandlung letztendlich ohne einen juristisch gebildeten Richter durchgeführt werden. Von den beiden Beisitzern musste gem § 9 Abs 3 KStVO einer ein Stabsoffizier sein, der im Rang über dem Angeklagten stehen sollte. Der zweite Beisitzer sollte aus der Rangklasse des Angeklagten sein. Die Beisitzer sollten nach Möglichkeit dem militärischen Verband angehören, in dem auch der Angeklagte seinen Dienst versah. Die Senate des RKG bestanden gem § 10 Abs 1 KStVO aus fünf Richtern, zwei Militärjustizbeamten und drei Offizieren mit Dienstgraden von Oberst bis Generalleutnant. Die Offiziersrichter des RKG wurden von Hitler ernannt. Fehlten ausreichend Militärjustizbeamte konnte der Gerichtsherr einen Offizier mit der Befähigung zum Richteramt, ansonsten einen anderen Offizier, der mindestens den Dienstgrad Hauptmann führte, zum Verhandlungsleiter ernennen. Der IV. Senat des RKG war zeitweilig in Wien tätig. Ebenso wurde von 1. Juli 1939 bis 15. Juli 1940 eine Außenstelle der RKA in Wien eingerichtet, deren Leiter Oberstkriegsgerichtsrat Fischer wurde.215

214 vgl Forster/Geldmacher/Walter in Manoschek 399; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 68 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 22; Wüllner, NS-Militärjustiz2 108. 215 vgl VUA, RKG K41 39/1/17; VUA, RKG K43 39/11/13; VUA, RKG K43 39/11/14; VUA, RKG K55 39/13/33; VUA, RKG K57 39/13/47; Absolon, Wehrmachtstrafrecht XV f; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 68; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 29 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 29 ff; Forster, RKG, in Manoschek 390 ff; Fritsche, Gehorsamsverweigerung, in Manoschek 269; Garbe in Pirker/Wenninger 27 ff; Gribbohm, RKG Rz 15 ff; Haase, Deserteure2 39 f; Haase, Fahnenflucht 100; Haase, RKG 11 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 46; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (384 f); Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 28 ff; Lehr, Zur kriegsgerichtlichen Verteidigung, ZWehrR 1942/43, 564; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 73 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 29 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 40 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 23 ff; Thomas in Haase/Paul 39 f; Viebig 22. Oktober 2018 Horst Pichler 53/226

Die wichtigste Funktion innerhalb der Wehrmachtsjustiz übten die Gerichtsherren aus. § 4 KStVO zählte sie daher auch zu den Organen der Rechtspflege. Die Gerichtsherren durften zwar nicht selbst an Untersuchungshandlungen oder der Hauptverhandlung teilnehmen, allerdings entschieden sie über die Einberufung des Feldkriegsgerichts und seine Zusammensetzung, ernannten den Anklagevertreter, der ein Militärjustizbeamter oder ein zum Richteramt befähigter Offizier war, bestimmten Ort und Zeit der Hauptverhandlung, bestellten gem § 49 KStVO einen Verteidiger, wenn die Todesstrafe angedroht war oder sie es für sachlich erforderlich hielten, und konnten Urteile bestätigen, aufheben oder ihre Vollziehung anordnen oder aussetzen. Als Militärjustizbeamte waren die Juristen Teil der Stäbe militärischer Verbände und somit in deren Kommandostruktur eingebunden. Sie konnten sowohl als Richter als auch als Ankläger eingesetzt werden und wechselten zwischen einzelnen Verfahren häufig diese Rollen. So konnte derselbe Militärjustizbeamte in einem Verfahren als Richter, in einem anderen als Ankläger auftreten. Das Recht auf einen im Vorhinein bestimmten gesetzlichen Richter sah die KStVO nicht vor.216

Der persönliche Geltungsbereich des Wehrmachtsstrafrechts erstreckte sich nicht nur auf Soldaten. Der Wehrmachtsgerichtsbarkeit waren auch Militärbeamte und wegen einzelner Delikte Wehrpflichtige dB unterworfen. Darüber hinaus normierte § 2 KStVO die Zuständigkeit der Wehrmachtsgerichte für bestimmte Delikte für alle Personen, die sich im Operationsgebiet bei Einheiten der Wehrmacht befanden. Dazu zählten insbesondere auch ausländische Verbindungsoffiziere und Kriegsgefangene, aber auch alle anderen Personen im Heeresgefolge. Zu den Delikten des § 2 KStVO zählten Spionage und Freischärlerei, Verstoß gegen VO der Befehlshaber in den besetzten Gebieten, die der Sicherung der Wehrmacht oder des Kriegszwecks dienten, Zersetzung der Wehrkraft, Hoch- und Landesverrat, Wehrmittelbeschädigung sowie das Nichtanzeigen eines geplanten Hoch- und Landesverrats oder schwerer Wehrmittelbeschädigung. § 3 KStVO unterwarf auch Ausländer und Deutsche wegen aller Straftaten, die im Operationsgebiet begangen wurden, der Militärgerichtsbarkeit, sofern der Gerichtsherr ein militärisches Bedürfnis nach Strafverfolgung annahm. Das Gefolge stellte die zahlenmäßig größte Gruppe von Personen dar, die der Wehrmachtsgerichtsbarkeit unterworfen waren. Zum Gefolge zählten ua Krankenpflegepersonal, Büroangestellte, Hilfs- und Arbeitskräfte jeder Art. Sie wurden der Militärgerichtsbarkeit unterworfen, sobald dies die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte oder der Chef OKW für ihren Bereich anordneten. Der BdE verfügte dazu mit Erlass vom 12. Juli 1934, dass das gesamte freiwillige Krankenpflegepersonal in seinem Bereich, dh im sog Heimatkriegsgebiet abseits der Front, der Militärjustiz unterstellt wurde. Die ursprüngliche Beschränkung dieser Bestimmung auf die kriegsführende Wehrmacht wurde erst mit einer Novelle im Juli 1935 beseitigt. Von der Befugnis zur Ausweitung des persönlichen Geltungsbereichs machten die Oberbefehlshaber im Lauf des Krieges Gebrauch. Der ObdH verfügte im März 1940 die Unterstellung aller Personen, die irgendein Dienst- oder Vertragsverhältnis mit dem Feldheer hatten, und sah eine entsprechende Möglichkeit auch für das Ersatzheer vor. Der ObdM bestimmte ebenfalls im März 1940 die Unterstellung des Gefolges unter die Militärgerichtsbarkeit. Als Gefolge wurden Besatzungen von Seeschiffen, die unter der Reichskriegsflagge fuhren, Besatzungen von Hilfs-, Lazarett- und Transportschiffen, die unter der

in Bade/Skowronski/Viebig 46 ff; Viebig/Skowronski in Kirschner 168; Walmrath, Iustitia 178 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 41 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 209 f. 216 vgl Art II Erläuterungen zur KStVO HDv 3/13; VUA, RKG K27 39/5/14; Absolon, Wehrmachtstrafrecht XVI ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 29 f; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 29 ff; Forster/Geldmacher/Walter in Manoschek 408 ff; Fritsche, Gehorsamsverweigerung, in Manoschek 269; Garbe in Pirker/Wenninger 28 ff; Gribbohm, RKG Rz 18 ff; Haase, Deserteure2 39 f; Lehr, Zur kriegsgerichtlichen Verteidigung, ZWehrR 1942/43, 564; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 74; Messerschmidt in Baumann/Koch 27 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 38 ff; Rass/Rohrkamp in Baumann/Koch 107 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 10 ff; Thomas in Haase/Paul 40; Walmrath, Iustitia 178 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 44 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 51. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 54/226

Reichsdienstflagge fuhren, alle Personen an Bord von Kriegsschiffen, inklusive fremder Schiffe, die aufgebracht wurden, sowie alle Personen, die bei Marineverbänden in den besetzten Gebieten tätig waren, definiert. Der Oberbefehlshaber der Luftwaffe (ObdL) unterstellte mit mehreren Erlässen Angehörige des NS Kraftfahrkorps (NSKK), die bei der Luftwaffe Dienst taten, männliche Angehörige des Luftschutzwarndienstes und später noch Luftwaffenhelfer der Militärjustiz. Durch einen Erlass des OKW wurden auch Zivilpersonen in Wehrmachtsuntersuchungsgefängnissen der Militärjustiz unterstellt. Die Zuständigkeit der NS Militärjustiz erstreckte sich durch diese Regelungen auf einen überaus großen Personenkreis.217

Eingeschränkt wurde der Umfang der Militärgerichtsbarkeit durch die Einführung einer Sondergerichtsbarkeit für die Schutzstaffel (SS) und die Polizei bei besonderem Einsatz am 17. Oktober 1939.218 Dadurch wurden Angehörige der Waffen-SS und der Polizeiverbände der Wehrmachtsjustiz entzogen und eigenen SS- und Polizeigerichten unterstellt, auch wenn sie gemeinsam mit Heeresverbänden eingesetzt wurden. Der Umfang der SS- und Polizeigerichtsbarkeit entsprach ansonsten jenem der Wehrmachtsjustiz. An die Stelle des Chefs OKW trat Himmler als Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei. Er bestimmte auch die Gerichtsherren und deren örtliche Zuständigkeitsbereiche. Polizisten im besonderen Einsatz unterstanden der Polizeigerichtsbarkeit allerdings nur, wenn die Straftaten im Gebiet des besonderen Einsatzes begangen wurden. Die Ernennung der SS Justizführer als Pendant zu den Militärjustizbeamten der Wehrmacht erfolgte durch Hitler. Als oberstes Gericht war ein Gericht beim Hauptamt SS in München vorgesehen, dessen Gerichtsherr der Reichsführer SS Himmler war. Kompetenzkonflikte gab es vor allem, wenn einem SS Gerichtsherrn ein Wehrmachtsgeneral als bestätigungsberechtigter Befehlshaber übergeordnet war. Dazu ordnete der Chef OKW im Mai 1940 an, dass vor einer entsprechenden Entscheidung eine Stellungnahme des Reichsführers SS einzuholen sei, wenn weltanschauliche Fragen der SS die Art und Höhe der Strafe beeinflussen konnten. Die Personalprobleme beim Aufbau dieser Sonderjustiz überwogen noch jene der Wehrmachtsjustiz, sodass Planstellen häufig nicht besetzt werden konnten. Viele Juristen zogen den Dienst in der vermeintlich unpolitischen Wehrmacht der SS vor. Himmler wollte dennoch durch eine eigene Gerichtsbarkeit den Einfluss der SS weiter ausbauen.219

Eine übermäßige Einschränkung der Wehrmachtsjustiz im Verhältnis zur zivilen Justiz war allerdings nicht zu erkennen. Zwar versuchte Justizminister Thierack va über seine sog Richterbriefe, Einfluss auf die Wehrmachtsjustiz zu gewinnen, allerdings blieb ihm dies verwehrt. Gegen einen Entwurf vom Mai 1943, der vorsah, politische Straftaten von Wehrmachtsangehörigen durch den VGH und Sondergerichte aburteilen zu lassen, wandten sich die Rechtsabteilungen des OKW und der Teilstreitkräfte. Insbesondere der Eingriff in die militärischen Strukturen und Kompetenzen störte die Wehrmachtsführung. Durch eine Intervention Görings und Großadmiral Dönitz bei Hitler wurde Thieracks Vorhaben gestoppt. Am 21. Juni 1943 wurde ein Erlass über ein Sonderstandgericht für die

217 vgl VUA, RKG K23 39/4/26; Baumann U, „`Was damals Recht war…´ - Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“. Zur Entstehung der Wanderausstellung, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 37; Form in Pirker/Wenninger 60 f; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 28 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 75 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 57 ff; Rass/Rohrkamp in Baumann/Koch 98 f; Thomas in Haase/Paul 39 f; Walmrath, Iustitia 23; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 29 f; Werther, Kriegsgefangene vor dem Marburger Militärgericht, in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther (Hrsg), Militärjustiz im Nationalsozialismus. Das Marburger Militärgericht (1994) 245 ff. 218 vgl Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz RGBl I 1939/214. 219 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 292 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 76 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 185 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 64; Wieland, Gefolge und Strafrecht der Wehrmacht, ZWehrR 1939/40, 571; Wüllner, NS-Militärjustiz2 299 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 55/226

Wehrmacht220 von Hitler herausgegeben. Dieser sah Schnellverfahren für politische Delikte durch die Militärjustiz vor. Gerichtsherr in diesen Verfahren war Hitler persönlich. In einem diesbezüglichen Schreiben vom 28. Juli 1943 wies Göring als ObdL darauf hin, dass er von den Offizieren der Luftwaffe eine einwandfreie politische Haltung erwarte. Auch unbedachte Äußerungen unter Kameraden im Offizierskasino sollten strengstens bestraft werden. Eine Stärkung der zivilen gegenüber der Wehrmachtsjustiz trat aber durch Hitlers Erlass über die Verfolgung politischer Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht, der Waffen-SS und der Polizei vom 20. September 1944221 ein. Damit waren in der Endphase des Krieges politische Strafsachen an den VGH und zivile Sondergerichte abzugeben. Politisch waren dabei alle Straftaten gegen die politische und militärische Führung. Typisch militärische Delikte wie Ungehorsam, Meuterei oder Gefährdung der Manneszucht sollten nach dem Willen der Rechtsabteilungen der Wehrmacht aber weiter den Militärgerichten vorbehalten bleiben. Auch Kriegsverrat, Feindbegünstigung und Spionage sollten nach dem Willen der Militärjustiz als typisch militärische Delikte weiterhin der Jurisdiktion der Wehrmachtsgerichte vorbehalten sein. Widerstand gab es auch gegen die geplante Kompetenz des Oberreichsanwalts, alle Verfahren vor den VGH bringen zu können. Thierack setzte mit dem Erlass Hitlers seine Interessen gegenüber der Wehrmachtsjustiz durch. Danach wurde nur noch darüber diskutiert, ob die Sondergerichte für alle oder nur für schwere Fälle zuständig sein sollten. Hier setzte sich nun die Wehrmachtsführung durch. Eine Durchführungsverordnung (DVO) Thieracks zum Erlass Hitlers vom 12. Jänner 1945 klammerte die typisch militärischen Tatbestände aus der Zuständigkeit der zivilen Sondergerichte aus. Die Wehrkraftzersetzung gem § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO verblieb allerdings in deren Zuständigkeit. Darüber hinaus waren alle Straftaten als politisch anzusehen, wenn der Täter aus einer sog staats- oder volksfeindlichen Gesinnung gehandelt hatte und die Tat die Belange von Volk und Staat gefährdete oder geeignet war, das Vertrauen in die politische oder militärische Führung zu untergraben. Landesverrat, Kriegsverrat und Spionage verblieben aber ansonsten in der Kompetenz der Wehrmachtsjustiz. Auch nach Hitlers Erlass vom 20. September 1944 beschäftigten sich die Wehrmachtsgerichte aber weiterhin mit politischen Strafsachen. Bis Ende 1944 wurden lediglich Hochverratsfälle und Fälle, bei denen die Todesstrafe zu erwarten war, abgegeben. Abgesehen von klassischen militärischen Delikten zeigte die Wehrmachtsjustiz dennoch eine hohe Kooperations- bereitschaft mit den zivilen Institutionen. Die Urteile waren für die Angeklagten ohnehin gleichermaßen drakonisch.222

Mit der Mobilmachung der Wehrmacht im Jahr 1939 erfolgte auch die Anpassung der - justiz an die Kriegserfordernisse. Der Chef WR Rudolf Lehmann blieb weiterhin dem Chef OKW unterstellt. Im Heer erfolgte eine Trennung des Rechtswesens zwischen dem Feld- und dem Ersatzheer. Das Rechtswesen des Feldheeres wurde zunächst dem Generalquartiermeister und ab Oktober 1940 dem neuen General zbV im OKH Eugen Müller unterstellt. In der Gruppe Rechtswesen wurden alle Angelegenheiten des ObdH als oberstem Gerichtsherrn des Heeres wahrgenommen, dh die Bestätigung und Aufhebung von Urteilen, Gnadensachen und die Festlegung der untergeordneten Gerichtsherrn. Darüber hinaus wurden Weisungen des Generalstabs zur Handhabung des Strafrechts im Feldheer und gegenüber der Bevölkerung in den besetzten Gebieten umgesetzt. Der Chef des Rechtswesens vertrat das Feldheer auch bei der Ausarbeitung neuer Gesetze. Im Dezember 1942 wurde die Gruppe Rechtswesen des OKH in die Heeresfeldjustizabteilung umgewandelt. Sie blieb militärisch weiterhin dem General zbV unterstellt, fachlich und personell wurde allerdings der Chef des

220 vgl VUA, RKG K64 39/9/20; Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 342 f. 221 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 458 ff. 222 vgl VUA, RKG K23 39/4/26; VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K63 39/10/11; VUA, RKG K64 39/9/20; HM 1943/526; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 107 f; Gribbohm, RKG Rz 64 ff; Haase, RKG 11; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (386 ff); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 138 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 57 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 69 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 502. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 56/226

Heeresjustizwesens Karl Sack verantwortlich. Das Rechtswesen des Ersatzheeres unterstand dem BdE und wurde vom Chef des Heeresjustizwesens geleitet. HR wurde dem AHA unterstellt. Der militärische Vorgesetzte war somit der Chef AHA. Nach dem 20. Juli 1944 übernahm der Reichsführer SS Himmler die Funktion des BdE und führte HR unmittelbar.223 Im Ersatzheer blieben die bisherigen Dienstaufsichtsbezirke unverändert. Im Feldheer oblag die Dienstaufsicht über die untergeordneten Gerichte den Armeerichtern. Die Basis der Gerichtsorganisation bildeten die Divisionsgerichte, Kommandanturgerichte im besetzten Gebiet und Gerichte von Befehlshabern rückwärtiger Armeegebiete. Die letzteren wurden nach der Übernahme des Oberbefehls durch Hitler dem OKW unterstellt. Die Anzahl der Gerichte wuchs parallel zur Größe des Heeres. Messerschmidt geht von einem Höchststand von 742 Gerichten und 1.580 Juristen bis ins Jahr 1943 aus. Danach verringerten sich diese Zahlen wieder aufgrund der Niederlagen der Wehrmacht und des nunmehr für die Deutschen zunehmend negativen Kriegsverlaufs. Wüllner sieht dagegen einen Höchststand von mehr als 1.000 Gerichten im Jahr 1943 und eine Gesamtzahl von 1.200 bis 1.300 verschiedenen Gerichten im Kriegsverlauf als realistisch an.224

Das 1943 eingerichtete Sonderstandgericht für die Wehrmacht wurde durch einen besonderen Senat des RKG gebildet. Seine Zuständigkeit umfasste Schnellverfahren wegen Straftaten von Wehrmachtsangehörigen, die im Heimatkriegsgebiet begangen wurden, bzw wenn sich die Angeklagten im Heimatkriegsgebiet aufhielten. Die Taten mussten sich gegen die politische oder militärische Führung richten, und eine Todes- oder Zuchthausstrafe musste erwartet werden. Angehörige des Feldheeres blieben von der Zuständigkeit ausgenommen. Im Fokus stand eine raschere Verfahrensabwicklung. Das Sonderstandgericht wurde mit einem Juristen als Verhandlungsleiter und Offiziersbeisitzern besetzt.225

Eine Sonderstellung innerhalb der NS Militärjustiz nahm das Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin (GWKB) ein. Mit über 100 Juristen war es das größte Wehrmachtsgericht. Neben der Zuständigkeit für alle Wehrmachtsangehörigen im Raum Berlin urteilte das GWKB seit August 1942 auch über alle Fälle von Wehrkraftzersetzung beim Feld- und Ersatzheer sowie über Fälle von Fahnenflucht, die nach drei Monaten erfolgloser Fahndung an das GWKB abzugeben waren. Damit wurden wesentliche Zuständigkeiten des RKG auf das GWKB übertragen, um eine raschere Urteilsfindung zu ermöglichen. Als Gerichtsherr fungierte von November 1940 bis Juli 1944 Generalleutnant Paul von Hase als Stadtkommandant von Berlin, danach Generalmajor Georg Hofmeister. Er war in dieser Funktion einem Divisionskommandeur gleichgestellt. Somit oblagen ihm die Bestätigung von Urteilen, mit Ausnahme von Todesurteilen und Urteilen gegen Offiziere, und deren Milderung. Für Urteilsaufhebungen war der BdE zuständig. Todesurteile waren Hitler über HR vorzulegen. Der Gerichtsherr konnte allerdings auch bei Todesurteilen Anträge stellen und Stellungnahmen abgeben. Hase stellte als Soldat militärische Erfordernisse wie Disziplin und Manneszucht über juristische Überlegungen. Daher beantragte er auch die Aufhebung seiner Ansicht nach zu milder Urteile und befürwortete Gnadengesuche nach Todesurteilen meist nicht. Andererseits wurden die Zusammenarbeit mit einem Gerichtsmediziner, der fallweise Schuldunfähigkeit der Angeklagten attestierte, und die Zusammensetzung der Senate als Versuch einer Minimierung der Strafhöhen gedeutet. Hase wurde am 20. Juli 1944 als Mitverschwörer Stauffenbergs verhaftet, am 8.

223 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 433. 224 vgl Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 49; Garbe in Pirker/Wenninger 36; Klausch, 500 256; Manoschek, Einleitung in Manoschek 6; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 81 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 28; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 49; Rass/Quadflieg in Kirschner 46; Rass/Rohrkamp in Baumann/Koch 95; Riegler in Pirker/Wenninger 166; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 18 f; Thomas in Haase/Paul 44; Walmrath, Iustitia 23 f; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27; Wüllner, NS-Militärjustiz2 104 ff. 225 vgl VUA, RKG K64 39/9/20; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 139 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 136 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 57/226

August 1944 vom VGH zum Tode verurteilt und hingerichtet. Insgesamt bleibt sein Verhalten ambivalent.226

Am 11. April 1944 wurde das Zentralgericht des Heeres (ZdH) errichtet. Dem vorangegangen war der Versuch, politische Strafsachen wie Wehrkraftzersetzung an den VGH und die Sondergerichte der zivilen Justiz zu übertragen. Zahlreiche Wehrmachtsjuristen führten dies nach dem Krieg auf Hitlers angebliches Misstrauen gegen die Militärjustiz zurück. Dieses Misstrauen war allerdings unbegründet, wie die Urteilspraxis der Wehrmachtsgerichte zeigte. Das ZdH übernahm die bisherigen Zuständigkeiten des GWKB für politische Verfahren, Verfahren wegen widernatürlicher Unzucht, Korruptionsverfahren mit besonderer Bedeutung, Fahndungen und Verfahrenswieder- aufnahmeentscheidungen. Als Gerichtsherr wurde wie beim GWKB der Wehrmachtskommandant von Berlin berufen. Als Chefrichter des ZdH wurde Helmuth Rosencrantz berufen.227

Die Marinerechtsabteilung (MR) war zunächst dem Marinewehramt, ab 1941 als Teil des AMA unter Vizeadmiral Walter Warzecha unterstellt. Im August 1942 wurde MR dem Chef AMA unmittelbar unterstellt. Geleitet wurde MR zu Kriegsbeginn von Joachim Rudolphi. 1941 waren in der Kriegsmarine fünf Dienstaufsichtsbezirke eingerichtet: Ost mit Sitz in Kiel, Nord mit Sitz in Wilhelmshaven, Süd mit Sitz in Sofia, Norwegen mit Sitz in Oslo und Frankreich mit Sitz in Paris. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden insgesamt 20 Marinegerichte aufgestellt. Auch bei der Marine wuchs im Kriegsverlauf die Anzahl der Gerichte. Für besondere Fälle wurde ein Zentrales Marinegericht in Berlin eingerichtet. Seine Zuständigkeit umfasste ua politisch oder militärisch wichtige Fälle und Verfahren nach wiederholten Urteilsaufhebungen. Im Oktober 1941 existierten bereits 60 verschiedene Marinegerichte. Die Anzahl der Juristen stieg von nur 28 im Jahr 1939 auf 214 bis Mitte des Jahres 1944.228

Die Luftwaffenrechtsabteilung (LR) unterstand der Zentralabteilung des Reichsluftfahrtministeriums. Im Oktober 1942 wurde sie dem Chef der Luftwehr General Helmuth Förster unterstellt. Chef LR war Christian Freiherr von Hammerstein. Die Dienstaufsichtsbezirke der Luftwaffe wurden ua bei den Luftflotten eingerichtet. Genaue Angaben zur Anzahl der Gerichte und Juristen der Luftwaffe fehlen. Insgesamt geht Messerschmidt aber von mehr als 1.000 Gerichten für die gesamte Wehrmacht aus, Wüllner von 1.200 bis 1.300.229

Das RKG wurde bis September 1939 von General als Präsident geleitet. Sein Nachfolger war bis Oktober 1944 Admiral Max Bastian. Ab November 1944 bis zur Auflösung des RKG übernahm General der Infanterie Hans-Karl von Scheele diesen Posten. Der Präsident des RKG fungierte gleichzeitig als dessen Gerichtsherr. Da nach Kriegsbeginn beinahe alle Tatbestände in der Zuständigkeit des RKG die Todesstrafe vorsahen, kam ihm eine besondere Rolle zu. Der Präsident entschied über die Bestätigung oder Aufhebung der Urteile des RKG, ausgenommen bei

226 vgl Haase, Deserteure2 61; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 134 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 40 ff. 227 vgl VUA, RKG K43 39/11/13; HM 1944/326; Gribbohm, RKG Rz 41 ff; Haase, RKG 11; Hornung in Pirker/Wenninger 99; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 138 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 136 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 39 ff; Thomas in Haase/Paul 45; Wüllner, NS-Militärjustiz2 165 ff. 228 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 83 f; Walmrath, Iustitia 264 ff. 229 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 36; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 6; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 84 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 28; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 49; Rass/Quadflieg in Kirschner 46; Rass/Rohrkamp in Baumann/Koch 95; Thomas in Haase/Paul 44; Walmrath, Iustitia 23 f; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27; Wüllner, NS-Militärjustiz2 104 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 58/226

Todesurteilen gegen Offiziere und Wehrmachtsbeamte im Offiziersrang, deren Bestätigung Hitler vorbehalten war.230

Ab 1. November 1941 verfügte das RKG über vier Senate, bei Kriegsende über fünf. Besondere Rechtsfragen konnten im Frieden von den einzelnen Senaten oder dem ORKA einem großen Senat vorgelegt werden, dessen Entscheidungen für alle Senate bindend waren. Der große Senat entschied dabei nur die vorgelegte Rechtsfrage, nicht aber in der Sache selbst. Seine Aufgabe war die Sicherstellung einer einheitlichen Rechtsprechung. Der große Senat des RKG bestand aus neun Mitgliedern, darunter vier Offiziere und mindestens ein Senatspräsident. Mit Kriegsbeginn sah die KStVO keinen großen Senat mehr vor. Ende 1944 wurden kleine Senate eingerichtet, die nur aus drei Richtern, einem Juristen und zwei Offizieren, bestanden. Senatspräsidenten waren beim I. Senat zunächst Wilhelm Sellmer und ab 1943 Karl Neumann. Beim II. Senat folgten auf Friedrich Neuroth interimistisch Alexander Kraell und ab 1944 Ernst Reuter. Der III. Senat stand durchgehend unter der Leitung von Karl Schmauser, und der IV. Senat wurde von Walther Biron als Präsident geleitet. Insbesondere Admiral Bastian beeinflusste die Rechtsprechung als Gerichtsherr über das normale Maß hinaus. Nachdem die RKA die Anklageschrift vorgelegt hatte, wurde die Anklageverfügung vom Präsidenten des RKG gemeinsam mit dem ORKA erlassen. Bereits im Vorfeld einer Verhandlung wurde häufig die zu verhängende Strafe mit dem Sachbearbeiter oder dem ORKA besprochen. Dies war zwar nur eine Leitlinie, aber da der erkennende Senat davon ausgehen musste, dass der Präsident des RKG als bestätigungsberechtigter Gerichtsherr Urteile, die seiner Meinung nach zu mild ausgefallen waren, aufheben würde, hielten sich die Richter meist an die getroffenen Vorgaben. Somit stand das Urteil häufig schon vor der Verhandlung fest. Zu den Urteilen mussten Gutachten erstellt werden. Stimmte der Präsident mit dem Gutachter überein, erfolgte die Bestätigung oder Aufhebung des Urteils. Andernfalls musste das Urteil dem Chef OKW zur Entscheidung vorgelegt werden. Sitz des RKG war zunächst Berlin und ab August 1943 Torgau in Sachsen. Von Torgau aus setzt sich das RKG Mitte April 1945 nach Süden ab, um vor der herannahenden Front zu fliehen. Der Kommandostab wurde am 5. Mai 1945 im tschechischen Kundratice von Partisanen festgenommen.231

Entscheidend für die Wehrmachtsführung war es, die Disziplin und politische Verlässlichkeit der Soldaten zu gewährleisten. Die Nationalsozialisten prägten dafür den Begriff der Manneszucht. Disziplin wurde dadurch ideologisch aufgeladen. Ein Mittel zur Aufrechterhaltung der Manneszucht sollte die Militärjustiz sein. Daher wurde von der militärischen Führung auch in Verfahren eingegriffen. Die Rechtsprechung der Militärgerichte sollte vereinheitlicht, und Verfahren sollten möglichst rasch abgewickelt werden. Gemäß einer Führerweisung aus dem Jahr 1938 waren im Mobilmachungsfall dem Chef OKW Urteile, Urteilsbestätigungen, Urteilsaufhebungen und Milderungen in Verfahren gegen Offiziere und Beamte im Offiziersrang sowie bei Fällen eines schweren Missbrauchs der Dienstgewalt, bei besonderer politischer oder militärischer Bedeutung, bei Hoch-, Landes- und Kriegsverrat sowie bei allen Todesurteilen vorzulegen. Aufgrund dieser Informationen konnten die

230 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K56 39/13/35; VUA, RKG K56 39/13/36; VUA, RKG K56 39/13/40; Gribbohm, RKG Rz 91 ff; Haase, RKG 42; Haase in Haase/Oleschinski2 47; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (385); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 95; Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 41; Viebig in Bade/Skowronski/Viebig 47; Viebig/Skowronski in Kirschner 167. 231 vgl VUA, RKG K19 39/3/42; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K55 39/13/33; VUA, RKG K64 39/9/20; VUA, RKG K77 39/13; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 76 ff; Forster, RKG, in Manoschek 390 ff; Gribbohm, RKG Rz 11 ff; Haase, RKG 11 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 45 ff; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (383 ff); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 99 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 41; Viebig in Bade/Skowronski/Viebig 47; Viebig/Skowronski in Kirschner 167. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 59/226 politische und militärische Führung in die Tätigkeit der Wehrmachtsjustiz im Sinne des Regimes eingreifen.232

Eine besondere Verfahrensanordnung wurde für Österreicher und Bayern getroffen. Am 26. Februar 1941 informierte WR den Präsidenten des RKG über eine Anordnung Hitlers, dass während des Krieges gegen Personen, die einen selbständigen österreichischen oder bayrischen Staat wiederherstellen wollten, keine Hauptverhandlungen durchgeführt werden sollten. Ausgenommen davon waren Verfahren wegen kommunistischer Betätigung. Das Ermittlungsverfahren sollte vollständig durchgeführt werden, allerdings sollten keine Anklagen erhoben werden. Die Beschuldigten blieben grundsätzlich in Untersuchungshaft. Nur für den Fall, dass die Dauer der Untersuchungshaft die Dauer der zu erwartenden Strafe überstieg, sollte an WR berichtet werden. Die Hauptverhandlung sollte dann nach Kriegsende stattfinden. Betroffen waren Österreicher und Bayern, gegen die wegen Hochverrats, wegen Verbrechen gegen das Gesetz gegen die Neubildung von Parteien233 oder wegen Verbrechen gegen die §§ 285 ff des österreichischen Strafgesetzbuches234 ermittelt wurde.235

Aus den bisher gemachten Ausführungen zeigt sich, dass die in modernen rechtsstaatlichen Systemen üblichen Grundsätze und die richterlichen Privilegien der Unabhängigkeit, Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit im Nationalsozialismus weitgehend ignoriert wurden. Entscheidend dafür war die im August 1939 gemeinsam mit der KSSVO erlassene Kriegsstrafverfahrensordnung (KStVO), die das militärische Strafverfahren an die Erfordernisse des bevorstehenden Krieges anpassen sollte.236

Unter richterlicher Unabhängigkeit im modernen Sinn wird verstanden, dass ein Richter in der Beurteilung des Sachverhalts frei ist und keinen Weisungen durch andere, insbesondere vorgesetzte Stellen unterworfen ist. Durch die KStVO wurde diese Unabhängigkeit beseitigt, indem die Gerichte einem Gerichtsherrn unterstellt wurden. Den Gerichtsherren waren gem § 4 Abs 1 KStVO die richterlichen Militärjustizbeamten unterstellt. Oberster Gerichtsherr der Wehrmacht war gem § 5 Abs 1 KStVO selbst. Unter ihm fungierten als Gerichtsherren gem § 5 Abs 2 f KStVO der Präsident des Reichskriegsgerichts und jene militärischen Befehlshaber, die die Oberkommandos der drei Wehrmachtsteile Heer, Luftwaffe und Marine dazu bestimmten. Die militärischen Vorgesetzten der Gerichtsherrn konnten diesen gem § 6 Abs 1 KStVO Weisungen erteilen. So konnten sie zB die Einleitung einer Untersuchung oder eine Anklageverfügung befehlen. Dem Gerichtsherrn waren die richterlichen Militärjustizbeamten seines Gerichts unterstellt. Gem § 7 Abs 2 KStVO hatten diese den Weisungen ihres Gerichtsherrn zu folgen, sofern sie nicht als erkennende Richter tätig waren. Verfügungen des Gerichtsherrn, mit Ausnahme einer Urteilsaufhebung, mussten die richterlichen Militärjustizbeamten gemäß leg cit mitunterschreiben. Direkt in die Verhandlung durften die Gerichtsherren zwar nicht eingreifen, allerdings konnten sie unliebsame Urteile gem § 77 KStVO aufheben, wodurch eine neue Verhandlung erforderlich wurde.237

232 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 27 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 22 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 32 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 85 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 57; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 7 f; Walmrath, Iustitia 155 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 246 ff. 233 vgl RGBl I 1933/479; RGBl I 1938/247. 234 vgl Allgemeines Reichs-Gesetz- und Regierungsblatt für das Kaiserthum Oesterreich 1852/117. 235 vgl VUA, RKG K27 39/5/15. 236 vgl Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 278 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 40 ff. 237 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 78; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 20; Forster, RKG, in Manoschek 390; Friedrich, Nazi-Justiz 48 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 28 ff; Gribbohm, RKG Rz 18 ff; Kirschner in Bade/Skowronski/Viebig 183 f; Markel in Fuchs/Ratz, WK StPO Vor §§ 29 ff Rz 4 (Stand 3.4.2018, rdb.at); Messerschmidt in Baumann/Koch 27 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 40 ff; Walmrath, Iustitia 119 ff; aA Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 10 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 60/226

Von einer richterlichen Unabhängigkeit im modernen Sinn konnte also im Nationalsozialismus keine Rede sein. Trotzdem galten die Richter offiziell als unabhängig. Unabhängigkeit bedeutete dabei die Auslegung des Rechts im Rahmen der NS Ideologie. In der Hauptverhandlung war das Gericht zwar nicht weisungsgebunden, allerdings regelten Weisungen und Richtlinien den Verfahrensablauf bis in Details, und der militärische Kommandant kontrollierte die Verfahren und Urteile in seiner Funktion als Gerichtsherr. Da der Richter sein Amt direkt von Hitler bzw vom Staat übertragen bekomme, könne Unabhängigkeit niemals Freiheit von weltanschaulicher Bindung bedeuten. Die Justiz war unabhängig von anderen Machtzentren des NS Staates wie der NSDAP, nicht jedoch unabhängig in ideologischen und politischen Fragen. Herr des Verfahrens war, wie bereits oben dargestellt, der militärische Kommandant als Gerichtsherr. Ein Jurist konnte wahlweise als Richter oder Ankläger eingesetzt werden. War ein Richter mit den ihm erteilten Weisungen nicht einverstanden bzw hielt er sie nicht für rechtmäßig, konnte er sich gem § 7 Abs 3 KStVO nur an seinen Gerichtsherrn wenden und, wenn dieser die Bedenken nicht berücksichtigte, diese schriftlich in den Akten vermerken. In so einem Fall musste der Gerichtsherr gem leg cit die Akten nach Abschluss des Verfahrens dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) vorlegen. Durch die Einbindung in die militärische Hierarchie war auch eine Versetzung von einer Dienststelle zu einer anderen möglich. Die modernen Garantien der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit des Richters waren somit in der NS Militärjustiz nicht gegeben. Die richterlichen Privilegien der Unversetzbarkeit und Unabsetzbarkeit im modernen Sinn bedeuten, dass ein Richter nicht ohne seine ausdrückliche Zustimmung von seinem Posten enthoben oder auf einen anderen Posten versetzt werden kann. Auch diese richterlichen Privilegien wurden im Nationalsozialismus abgeschafft und ignoriert. Wie oben bereits dargestellt wurden die Gerichtsherrn gem § 5 Abs 2 KStVO von den Oberkommandos der drei Wehrmachtsteile bzw des OKW bestimmt. Dabei handelte es sich gem leg cit um militärische Befehlshaber, die auch entsprechend versetzt oder abberufen werden konnten. Für die den Gerichten zugewiesenen richterlichen Militärjustizbeamten bestimmte § 7 Abs 1 KStVO ausdrücklich, dass diese auch gegen ihren Willen in eine andere militärrichterliche Stelle versetzt werden konnten. Die politische Steuerung der Justiz wurde als Herstellung der Übereinstimmung zwischen dem Willen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung definiert. Jeder, der seine Aufgabe nicht erfüllte, konnte abgesetzt werden. Beim RKG wurde zB Reichskriegsgerichtsrat Hans-Ulrich Rottka von Hitler im September 1942 in den Ruhestand versetzt, weil er für eine sorgfältige Prüfung und Begründung juristischer Urteile eintrat und sich dafür entsprechend Zeit nahm.238

Strafverfahren in demokratischen Staaten kennen sogenannte Prozessgrundsätze, an denen sich die Verfahren orientieren. Während des Nationalsozialismus wurden diese Grundsätze teilweise ignoriert oder in ihr Gegenteil verkehrt. Die NS Ideologie trat als wichtigstes Steuerungselement an die Stelle einer schuldangemessenen Rechtsfindung. So war zum Beispiel das Recht auf Verteidigung, also auf die freie Wahl eines Verteidigers, im Militärstrafprozess dahingehend eingeschränkt, dass der Gerichtsherr gem § 51 KStVO einen Verteidiger zulassen oder bestellen konnte. E contrario konnte der Gerichtsherr die Zulassung eines Verteidigers auch verweigern bzw musste dies gem leg cit, wenn die Sicherheit des Reichs gefährdet wurde oder der Verteidiger nicht ohne Verzögerung zur Verfügung stand. Insbesondere die Gefährdung der Sicherheit des Reichs erlaubte einen relativ weiten Auslegungsspielraum. Eine notwendige Verteidigung gab es gem § 72 KStVO nur bei

238 vgl VUA, RKG K62 39/9/8; Benz, Vorwort, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 7; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 29 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/ Werther 20; Garbe in Pirker/Wenninger 28 ff; Gribbohm, RKG Rz 127 ff; Haase, RKG 19; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (410 f); Kirschner in Bade/Skowronski/Viebig 183 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 93 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 27 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 278 ff; Walmrath, Iustitia 139 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 51 ff; aA Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 10 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 61/226

Verfahren vor dem Reichskriegsgericht bzw gem § 49 KStVO, wenn die Todesstrafe angedroht war. Aber selbst die gesetzlichen Vorgaben wurden nicht beachtet, und Verteidiger wurden in weniger als der Hälfte der Fälle, in denen dies notwendig gewesen wäre, bestellt. Darüber hinaus erfolgte die Bestellung meist nur für die Hauptverhandlung. Das Ermittlungsverfahren bis zur Anklageverfügung erfolgte in diesen Fällen ohne Beiziehung eines Verteidigers.239

Das Recht auf den gesetzlichen Richter soll den Angeklagten vor Behördenwillkür schützen, indem durch die Geschäftsverteilung innerhalb des Gerichts und die Festlegung von örtlichen und sachlichen Zuständigkeiten bis auf die Ebene der konkreten Person im Vorhinein festgelegt wird, welcher Richter in einem Verfahren zu urteilen hat. Gem § 49 Abs 1 KStVO bestimmte im Nationalsozialismus allerdings der Gerichtsherr, welcher Offizier oder Beamte in einem Verfahren als Richter, Ankläger oder Verteidiger, sofern letzterer überhaupt bestellt wurde, tätig werden sollte. Eine feste, vorab festgelegte Geschäftsverteilung existierte somit nicht. Ein und derselbe Militärjurist konnte also in einem Verfahren als Richter, im nächsten als Ankläger und in einem dritten als Verteidiger berufen werden. Lediglich beim RKG gab es mit der RKA eine eigene Anklagebehörde.240

Ebenso eingeschränkt waren das Prinzip der Waffengleichheit und das Recht auf ein faires Verfahren. So wurden Offiziere oft milder beurteilt als einfache Soldaten, und Beweise wurden häufig zum Nachteil des Angeklagten ausgelegt, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Zeugenaussagen wurde häufig umso eher Glauben geschenkt, je höher der Dienstgrad des Zeugen war. Die dominierende Stellung im Verfahren nahm der Gerichtsherr ein, der gem § 17 KStVO das Ermittlungsverfahren durch die Bestellung eines Untersuchungsführers einleitete, gem § 20 leg cit über die Aussetzung eines Verfahrens entscheiden konnte, gem § 34 leg cit alle zur Aufklärung der Sache geeigneten Verfügungen treffen konnte, gem § 36 leg cit über die Verhängung einer Untersuchungshaft entschied, gem § 47 leg cit von der Anklage absehen konnte, gem § 48 leg cit mit der Anklageverfügung das Hauptverfahren einleitete, gem § 49 leg cit die Hauptverhandlung einberief und die Richter und Ankläger bestimmte und gem § 79 leg cit die in der Hauptverhandlung gefällten Urteile bestätigen oder aufheben konnte. Gemeinsam mit dem eingeschränkten Recht auf Verteidigung lieferte diese Fülle an Kompetenzen den Angeklagten der Willkür des Gerichtsherrn aus, der, wie oben dargestellt, als militärischer Kommandant einerseits keine juristische Erfahrung haben musste und andererseits militärischen Erfordernissen wohl häufig den Vorzug vor rein rechtlichen Aspekten einräumte.241

Das Legalitätsprinzip und der Grundsatz der Gesetz- und Verhältnismäßigkeit bestimmen, dass sich sowohl Anklage als auch Gericht an den Vorgaben der Gesetze zu orientieren haben. Grundsätzlich galt dies auch im Nationalsozialismus. Allerdings wurde das Legalitätsprinzip durch die Unbestimmtheit zahlreicher NS Normen ausgehöhlt. Insbesondere ist hier auf die Strafschärfungsbestimmung des § 5a KSSVO zu verweisen, der für jedes Delikt den Strafrahmen bis zur Todesstrafe erweiterte. Das formal bestehende Legalitätsprinzip wurde so in der Realität durch ein Opportunitätsprinzip mit dem Ziel der juristischen Durchsetzung nationalsozialistischer Ideologie ersetzt.242

239 vgl VUA, RKG K27 39/5/14; Achammer in Fuchs/Ratz, WK StPO § 7 Rz 1 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at); Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 29 f; Garbe in Pirker/Wenninger 29; Gribbohm, RKG Rz 183 ff; Manoschek, Zur Rehabilitierung der österreichischen Opfer der NS-Militärjustiz, in Kohlhofer/Moos (Hrsg), Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit – Rehabilitierung und Entschädigung (2003) 32; Walmrath, Iustitia 429 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 332 ff; aA Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 212 ff. 240 vgl Markel in Fuchs/Ratz, WK StPO Vor §§ 29 ff Rz 7 (Stand 3.4.2018, rdb.at). 241 vgl Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 72; Walmrath, Iustitia 328 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 332 ff. 242 vgl Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO § 2 Rz 10 (Stand 3.4.2018, rdb.at); Wiederin in Fuchs/Ratz, WK StPO § 5 Rz 13 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at). 22. Oktober 2018 Horst Pichler 62/226

Das Prinzip der Objektivität und Wahrheitserforschung setzt die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit der Ankläger und des Gerichts voraus, um den tatsächlichen Sachverhalt vorurteilsfrei ermitteln zu können. Der wahlweise Einsatz desselben Juristen als Richter, Ankläger oder Verteidiger konnte dazu führen, dass ein Richter in einem Verfahren im Falle einer Neuverhandlung als Ankläger gegen oder Verteidiger für denselben Beschuldigten tätig wurde. In so einem Fall hatte der Ankläger natürlich jedes Interesse, sein als Richter gefälltes Urteil bestätigt zu sehen. Unparteilichkeit war in so einem Fall von vorne herein ausgeschlossen. Auch die Unvoreingenommenheit der NS Militärgerichte war, insbesondere wenn der Angeklagte vom NS System als minderwertig, asozial oder Volksschädling klassifiziert worden war, nicht gegeben. In diesem Fall wurde der Angeklagte einem vom Nationalsozialismus unerwünschten Tätertyp zugeordnet, was beinahe zwangsläufig zu einer strengen Verurteilung führte. Die Objektivität war auch dadurch eingeschränkt, dass die Gerichtsherren militärische Befehlshaber waren, die häufig militärische Interessen über jene der Wahrheitsfindung stellten. Oberster Gerichtsherr der Wehrmacht war, wie bereits ausgeführt, Hitler selbst. Somit war die Rechtsprechung der NS Militärgerichte auch ideologischen Einflüssen ausgesetzt. Es kann also im Verfahren vor NS Militärgerichten nicht von Objektivität gesprochen werden.243

Auch ein Verschlechterungsverbot, nach dem in einem neuen Verfahren keine strengere Strafe als im Ersturteil ausgesprochen werden darf,244 kannte das NS Militärstrafrecht nicht. Entsprachen Urteile nicht den Vorstellungen des Gerichtsherren, konnte dieser gem § 77 KStVO die Urteile aufheben. In der Neuverhandlung konnte dann ohne weiteres auch eine strengere Strafe verhängt werden. Auch der Grundsatz der freien Beweiswürdigung, nach der das Gericht auf Basis seiner unabhängig gewonnenen Überzeugungen ein Urteil zu fällen hat, wurde durch die dominante Stellung des Gerichtsherrn ausgehöhlt. Eine freie Bewertung der Beweise durch den Richter, die den Ansichten des Gerichtsherrn widersprach, konnte jederzeit dadurch geändert werden, dass der Gerichtsherr das Urteil aufhob und eine neue Verhandlung der Sache anordnete.245

Das Prinzip der Öffentlichkeit war im NS Militärstrafprozess in der Hauptverhandlung grundsätzlich gegeben. Der Verhandlungsleiter konnte die Öffentlichkeit aber gem § 58 KStVO aus einem wichtigen Grund ausschließen. Näher definiert wurden diese wichtigen Gründe in der KStVO allerdings nicht. Darüber hinaus war es für Soldaten schwierig, ohne Zustimmung ihres Vorgesetzten an einer Verhandlung teilzunehmen, ohne sich selbst wegen unerlaubter Abwesenheit strafbar zu machen.246

Ein weiterer wesentlicher Grundsatz moderner rechtsstaatlicher Strafverfahren ist, dass keine Strafe ohne schuldhaftes Handeln verhängt werden kann und dass die verhängte Strafe schuldangemessen sein muss. Es wurde bereits mehrmals auf die Strafschärfungsbestimmung des § 5a KSSVO hingewiesen. Darüber hinaus traten individuelle Schuldfaktoren hinter vermeintliche militärische Notwendigkeiten der Abschreckung und Aufrechterhaltung der Manneszucht zurück. Strafen wurden also nicht an der individuellen Schuld des Angeklagten, sondern an den abstrakten, ideologisch verbrämten Erfordernissen der militärischen Disziplin und Manneszucht gemessen.247

243 vgl Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO § 3 Rz 4 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at). 244 vgl dazu zB § 363b öStPO öBGBl 1975/631. 245 vgl Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO § 14 Rz 8 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at). 246 vgl Schmoller in Fuchs/Ratz, WK StPO § 12 Rz 15 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at). 247 vgl Ebner in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 32 Rz 1 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at); Tipold in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 4 Rz 41 ff (Stand 3.4.2018, rdb.at); Wittmack, Grenzen der Auslegung und analoge Anwendung eines Gesetzes, ZWehrR 1942/43, 313. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 63/226

Verstärkt wurde die Dominanz des Gerichtsherrn und der militärischen Interessen noch dadurch, dass ein Rechtsmittelverfahren im nationalsozialistischen Militärprozess nicht vorgesehen war. § 76 KStVO stellte klar, dass Entscheidungen des Kriegsverfahrens nicht mit Rechtsmitteln anfechtbar sind. An die Stelle eines Rechtsmittelverfahrens trat ein Bestätigungsverfahren, das gem § 77 KStVO zur Bestätigung oder Aufhebung eines Urteils führen konnte. Im Falle einer Bestätigung wurden die Urteile sofort rechtskräftig und vollstreckbar. Der Angeklagte musste gem § 78 KStVO vor einer Bestätigung angehört werden. Das Bestätigungsrecht wurde gem § 79 KStVO dem Führer selbst vorbehalten, wenn es um Todesurteile gegen Offiziere ging oder er sich die Bestätigung ausdrücklich vorbehalten hatte. Ansonsten waren die Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile bestätigungs- berechtigt, die dieses Recht aber auf ihre untergeordneten Befehlshaber bis hinunter zur Ebene der Gerichtsherren übertragen konnten. Im Verfahren vor dem Reichskriegsgericht stand das Bestätigungsrecht gem § 80 KStVO dem Führer zu, wenn Offiziere zum Tode verurteilt wurden, bei Urteilen gegen Generale und Admirale sowie wenn er sich die Bestätigung ausdrücklich vorbehalten hatte. Ansonsten war der Präsident des Reichskriegsgerichtes bestätigungsberechtigt.248

Der bestätigungsberechtigte Befehlshaber konnte gem § 81 KStVO die Urteile der Gerichte auch mildern, sofern es sich nicht um eine Todes- oder Zuchthausstrafe handelte. Ansonsten konnte die Milderung bis zur gesetzlich vorgesehenen Mindeststrafe erfolgen.

Wurde ein Urteil aufgehoben, musste gem § 90 Abs 1 KStVO der zuständige Gerichtsherr ein neues Gericht zur nochmaligen Verhandlung berufen. Personen, die bereits im ersten Verfahren mitgewirkt hatten, durften nicht als Richter herangezogen werden. Ein Einsatz als Ankläger oder Verteidiger wurde allerdings nicht ausgeschlossen.

Ein wichtiges Ziel der Militärjuristen wurde am 24. Jänner 1944 erreicht, als sie durch Befehl Hitlers in den Truppensonderdienst übernommen wurden.249 Aus den bisherigen Militärjustizbeamten wurden damit ab 1. Mai 1944 Offiziere.250 Gem VO über die Wehrmachtrichter im Truppensonderdienst251 des OKW vom 17. Juni 1944 waren die Wehrmachtsrichter nunmehr grundsätzlich den Truppenoffizieren gleichgestellt. Ein Eingriff in die fachliche Tätigkeit aufgrund eines allgemeinen Vorgesetzten- verhältnisses wurde in § 2 leg cit ausgeschlossen. Truppenvorgesetzte waren gem § 3 leg cit die Gerichtsherren und deren Vorgesetzte, Fachvorgesetzte Wehrmachtsrichter, die vom Chef OKW oder den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile dazu bestimmt wurden. Bei Sachentscheidungen waren die Richter gem § 4 leg cit keinen Weisungen unterworfen. Allerdings sollten sie ihre Urteile aufgrund soldatischer Grundsätze und der NS Weltanschauung fällen. Eingeschränkt war diese Freiheit darüber hinaus durch die Befugnisse der Gerichtsherren zur Aufhebung von Urteilen. § 5 leg cit stellte weiter klar, dass der Führer Wehrmachtsrichter jederzeit ernennen und entlassen konnte.252

In der Endphase des Krieges befahl Hitler am 9. April 1945, die Zuständigkeitsgrenzen zwischen den Gerichten der einzelnen Wehrmachtsteile und der SS aufzuheben. Darüber hinaus kam es verstärkt zum Einsatz von Standgerichten. Diese Möglichkeit war bereits seit der vierten DVO zur KStVO vom

248 vgl VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K19 39/3/42; VUA, RKG K54 39/13/25; Forster, RKG, in Manoschek 390; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 40 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 168 ff; Walmrath, Iustitia 598 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 209 ff. 249 vgl Befehl des Führers für die Bildung des Truppensonderdienstes in der Wehrmacht und Befehl des Führers für die Bildung der Laufbahn der Wehrmachtrichter im Truppensonderdienst, beide in Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 387 ff. 250 vgl HM 1944/109; HM 1944/111; HM 1944/263; Gribbohm, RKG Rz 120 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 230 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 273 ff; Thomas in Haase/Paul 42; Walmrath, Iustitia 302. 251 vgl RGBl I 1944/26. 252 vgl VUA, RKG K40 39/10/13. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 64/226

1. November 1939253 vorgesehen, sollte aber nur in Ausnahmefällen angewandt werden. Gem § 13a KStVO erhielten Truppenkommandanten bis auf Regimentsebene die Möglichkeit, Standgerichtsverfahren anzuordnen und als Gerichtsherrn zu fungieren, wenn die Tat aus zwingenden militärischen Gründen sofort abzuurteilen war, ein ordentlicher Gerichtsherr nicht sofort zu erreichen war und Beweismittel unmittelbar verfügbar waren. Der Gerichtsherr war über ein Standgerichtsverfahren so rasch als möglich zu informieren. Als zwingende militärische Gründe wurden ua schwere Verstöße gegen die Manneszucht wie Gehorsamsverweigerung, Meuterei, Aufruhr, Feigheit, Angriffe auf Vorgesetzte oder Plünderungen angesehen. Um auch politische Straftaten im Schnellverfahren aburteilen zu können, wurde auf Befehl Hitlers am 21. Juni 1943 ein Sonderstandgericht beim RKG eingerichtet.254 Am 23. September 1944 räumte das OKW auf Anweisung Hitlers den Gerichts- und Standgerichtsherrn das Recht ein, Todesurteile gegen alle Soldaten, auch gegen alle Offiziere, zu bestätigen und sofort vollziehen zu lassen, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Manneszucht oder aus generalpräventiven Gründen notwendig sei. Standgerichte sollten immer bei Gefahr in Verzug zum Einsatz kommen. Standgerichte der Feldjäger, der deutschen Militärpolizei, konnten von nun an auch gegen Angehörige der SS und Polizei vorgehen. Der Leiter der Parteikanzlei Bormann ermächtigte am 15. Februar 1945 die Gauleiter als Standgerichtsherrn tätig zu werden. Diese Standgerichte bestanden aus einem Strafrichter, einem politischen Leiter oder Gliederungsführer der NSDAP und einem Offizier der Wehrmacht, der Waffen- SS oder der Polizei. Die Anklage führte ein vom Gauleiter bestimmter Staatsanwalt. Somit wurden zivile Stellen auch für die schnelle Aburteilung militärischer Straftaten zuständig. Am 26. Februar 1945 folgte ein Befehl Himmlers, der die Kommandanten der Wehrkreise zu Standgerichtsherrn berief. Diese konnten ihre Befugnisse auch an unterstellte Offiziere delegieren. Diese Standgerichte bestanden aus einem Wehrmachtsrichter und zwei Offizieren. Ab März 1945 konnte jeder Kampfkommandant ein Standgericht berufen. Die Verhandlungsleitung konnte jeder Offizier übernehmen, wobei dieser nach Möglichkeit zumindest Hauptmann sein sollte. Am 9. März 1945 ordnete Hitler die Aufstellung eines ihm unterstellten fliegenden Standgerichts an.255 Dessen Gerichtsherr Generalleutnant Hübner verfügte über ein uneingeschränktes Bestätigungsrecht und konnte auch Vollziehungen anordnen. Diesem Standgericht standen zwei Oberstleutnante und ein SS-Führer als Richter und ein eigenes neunköpfiges Exekutionskommando zur Verfügung. Die Urteile lauteten auf Todesstrafe oder Freispruch.256

Der Reichsjustizminister legte dem OKW 1944 einen Verordnungsentwurf zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges zur Begutachtung vor, in dem vorgesehen war, die Bestimmungen zur notwendigen Verteidigung aufzuheben. Der Chef WR Lehmann informierte den Präsidenten des RKG Admiral Bastian am 15. September 1944, dass dies im OKW zur Frage geführt habe, ob § 72 KStVO ebenfalls aufgehoben werden könne. Eine notwendige Verteidigung wäre danach nur mehr gegeben, wenn die Tat mit Todesstrafe bedroht oder die Bestellung eines Verteidigers aus anderen Gründen notwendig wäre. Am 24. September 1944 stimmte Bastian diesem Vorschlag zu, da die praktischen Erfahrungen während des Krieges die Unzulänglichkeit der Bestimmung des § 72 KStVO gezeigt hätten und eine andere Vorgehensweise

253 vgl RGBl I 1939/218; BArch, R 3001/22290, Bl 246 ff. 254 vgl VUA, RKG K64 39/9/20; Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 342 f. 255 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 483. 256 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K31 39/8/4; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K63 39/10/11; VUA, RKG K64 39/9/20; HM 1943/526; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 221; Friedrich, Nazi-Justiz 182; Garbe in Pirker/Wenninger 34; Gribbohm, RKG Rz 64 ff; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (386); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 407 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 84 ff; Walmrath, Iustitia 193 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 208 ff; gegen die Einbeziehung der Standgerichte in die Wehrmachtsjustiz aufgrund der falschen Behauptung, es wären keine Juristen beteiligt gewesen Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 5 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 65/226 als beim Volksgerichtshof und den Feldkriegsgerichten beim RKG nicht gerechtfertigt sei. Am 11. Jänner 1945 wurde § 72 KStVO durch die elfte DVO zur KStVO257 ersatzlos aufgehoben.258

Am 31. Jänner 1945 teilte der BdE unter dem Eindruck eines steigenden Personalbedarfs aufgrund hoher Verluste den ihm unterstellten Gerichten und Wehrmachtsgefängnissen mit, dass Strafverfahren ausgesetzt werden könnten, wenn die Täterpersönlichkeit eine Frontbewährung zulasse. Insbesondere bei Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren sollte von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht werden. Bei Bewährung sollte dem Soldaten eine Verfahrenseinstellung in Aussicht gestellt werden. Bei Versagen wurde eine strenge Bestrafung angedroht. Ausgeschlossen von dieser Sonderbewährung sollten aber Straftaten sein, bei denen die Manneszucht zur Abschreckung eine Verurteilung erfordere, politische Straftaten, sowie Verfahren wegen widernatürlicher Unzucht (zB Homosexualität), sofern es sich nicht um eine einmalige Verirrung handelte. Gegen Offiziere war auch im Falle einer einmaligen Tat jedenfalls ein Verfahren durchzuführen.259

Die Gerichtsherren konnten gem der sechsten DVO zur KStVO vom 21. November 1939260 auch mittels Strafverfügungen Geld- und Freiheitsstrafen bis zu drei Monaten verhängen. Durch die achte DVO zur KStVO vom 4. Juli 1942261 wurde diese Befugnis auf Freiheitsstrafen bis zu sechs Monaten ausgeweitet. Auch Straflagerverwahrung konnte nun mittels Strafverfügung in Absprache mit dem bestätigungsberechtigten Befehlshaber angeordnet werden. Strafverfügungen waren ein Mittel zur einfachen und schnellen Erledigung von Strafverfahren. Die Verfügungen wurden vom Gerichtsherrn ohne Anhörung des Beschuldigten und ohne Anklage getroffen. Nach Bekanntgabe der Verfügung hatte der Beschuldigte lediglich drei Tage Zeit dagegen Einspruch zu erheben. Strafverfügungen wurden im Lauf des Krieges in zunehmendem Maß eingesetzt. Bestrafte Soldaten gelangten häufig in Feldstrafgefangenenabteilungen und Bewährungsbataillone.262

Auch nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 bestanden Strukturen der Wehrmacht fort. Die alliierten Siegermächte übernahmen zwar eine Aufsichts- und Kontrollfunktion, dennoch arbeiteten an vielen Stellen dieselben Personen wie vor der Niederlage weiter. Bereits am 2. Mai 1945 hatten die Alliierten mit Gesetz Nr 153 das RKG abgeschafft und die Feldkriegsgerichte unter alliierte Aufsicht gestellt. Im Zuge der Neustrukturierung des OKW wurde mit Befehl vom 13. Mai 1945 auch WR umorganisiert. Leiter WR blieb aber weiterhin Generaloberstabsrichter Lehmann. Verantwortlich für die Einzelabwicklung der Gerichte wurde der bisherige Chef der Heeresfeldjustiz Generalrichter Grünewald. Ab dem 26. Mai 1945 mussten alle Freiheitsstrafen über zwei Jahre Gefängnis der Marinegerichte vom britischen Militärbefehlshaber bestätigt werden.263

257 vgl RGBl I 1945/3; VUA, RKG K64 39/9/20. 258 vgl VUA, RKG K26 39/5-30; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K64 39/11/25; Gribbohm, RKG Rz 183 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 429 f; Thomas in Haase/Paul 40; Walmrath, Iustitia 429 ff. 259 vgl VUA, RKG K48 39/12/1; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 240 ff. 260 vgl RGBl I 1939/230. 261 vgl RGBl I 1942/75. 262 vgl VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K64 39/9/20; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 175 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 117 ff. 263 vgl Haase, RKG 19 ff; Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1128); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 433 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 260 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 124; Wüllner, NS-Militärjustiz2 139 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 66/226

V. Die Bilanz der nationalsozialistischen Militärgerichtsbarkeit

A. Die Wehrmachtskriminalstatistik

Die in der Wehrmachtskriminalstatistik erfassten Daten stellen lediglich Minimalzahlen dar. Aufgrund zahlreicher Faktoren wie Kriegseinwirkungen, Verlust und Zerstörung von Akten weisen die Statistiken zahlreiche Lücken auf. Die tatsächlichen Zahlen der Verfahren, Angeklagten, Verurteilten und Strafen liegen daher deutlich über den in der Wehrmachtskriminalstatistik erfassten Zahlen. Die Gründe für die Unvollständigkeit der Statistik, die auf sog Kriegszählkarten basiert, liegen in der Unsicherheit der Transportwege, Zerstörungen durch Kriegshandlungen und Bombenangriffe aber auch Vernichtung durch die Militärgerichte selbst, um die Unterlagen nicht in die Hand des Gegners fallen zu lassen. Viele Zählkarten konnten dadurch nicht an ihre Empfänger übermittelt werden. Im Umgang mit statistischen Zahlen ist daher immer davon auszugehen, dass eine hohe Zahl von Fällen nicht erfasst wurde. Die Kriegszählkarten wurden von den Gerichten nach Rechtskraft eines Urteils ausgestellt und über die Oberstkriegsgerichtsräte an die Rechtsabteilungen der Teilstreitkräfte und von dort nach Prüfung an das OKW bzw WR weitergeleitet. Mangelhafte Karten wurden an den Absender zur Korrektur zurückgesandt, wodurch sich das Verlustrisiko nochmals erhöhte. Eine exakte Verlustquote lässt sich nicht feststellen. Wüllner schätzt sie auf ein Viertel bis ein Drittel aller Kriegszählkarten. Urteile von Standgerichten wurden in der Wehrmachtskriminalstatistik überhaupt nicht festgehalten. Neben der Verlustquote weist Wüllner auch auf eine Verzerrung der Statistik durch das verspätete Einlangen von Kriegszählkarten hin. Die Bearbeitungszeiten der einzelnen Prozessschritte verlängerten sich im Lauf des Krieges aufgrund von Kriegseinwirkungen und Truppenbewegungen zunehmend. Auch die Transport- und damit Postwege zwischen den involvierten Dienststellen wurden zunehmend unsicher, wodurch sich die Transportzeit verlängerte. Schriftstücke kamen teilweise bis zu sechs Monate verspätet beim Empfänger an. Da die Wehrmachtskriminalstatistik mit 30. Juni 1944 endet, bedeutet dies, dass zahlreiche Kriegszählkarten nicht mehr in der Wehrmachtskriminalstatistik erfasst werden konnten.264

Die erste Statistik für die gesamte Wehrmacht wurde für das Jahr 1937 erstellt. In diesem Jahr wurden insgesamt 11.589 Urteile gefällt. Darin enthalten waren 1.989 Freisprüche und 9.600 Verurteilungen, siebenmal wurde die Todesstrafe verhängt, davon fünfmal durch das RKG. Darüber hinaus erfolgten 45 Verurteilungen zu Festungshaft, 60 zu Zuchthausstrafen, 3.166 zu Gefängnis von drei Monaten und mehr sowie 2.001 zu Gefängnis unter drei Monaten. Geschärfter Arrest, der einen strengeren Vollzug als bei Gefängnisstrafen bedeutete, wurde 2.375 mal verhängt. Zusätzlich wurde als Ehrenstrafe in 134 Fällen auf den Verlust der Wehrwürdigkeit, der bürgerlichen Ehrenrechte oder Polizeiaufsicht erkannt. Sicherungsverwahrung wurde in zwei Fällen angeordnet. Verhandelt wurde 1937 in 519 Fällen wegen Fahnenflucht, in 1.253 Fällen wegen Handlungen gegen die militärische Ordnung und in 626 Fällen wegen Missbrauchs der Dienstgewalt, darunter 383 Misshandlungen. Darüber hinaus beschäftigten sich die Militärgerichte mit 4.693 Fällen von Diebstahl und Unterschlagung, 525 Fällen von Sittlichkeitsverbrechen und 1.049 Fällen von Körperverletzungen. Unter insgesamt 9.600 verurteilten Soldaten fanden sich 196 Offiziere, 1.593 Unteroffiziere und 55 Wehrmachtsbeamte.265

264 vgl Messerschmidt in Baumann/Koch 31 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 66 ff; Walmrath, Iustitia 24 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 79 ff; gegen die Einbeziehung von Standgerichten in die Wehrmachtsjustiz aufgrund des fälschlicherweise behaupteten Fehlens von beteiligten Juristen Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 5 f. 265 vgl BArch, RW 11/II/1, Bl 2 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 62 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 441 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 67/226

Im Jahr 1938 wurden bei insgesamt 12.948 verhandelten Straftaten 11.299 Verurteilungen ausgesprochen. Angeklagt waren insgesamt 13.229 Personen, von denen 11.100, darunter 225 Offiziere und 1.780 Unteroffiziere, verurteilt und 2.129 freigesprochen wurden. Unter den Urteilen befanden sich 16 Todesurteile, wobei 15 vom RKG gefällt wurden, und 90 Zuchthausstrafen. Die Zahlen liegen somit bereits deutlich über dem Vorjahr. Verurteilt wurde 1938 in 742 Fällen wegen Fahnenflucht und in 497 Fällen wegen Missbrauchs der Dienstgewalt, darunter 299 Misshandlungen. Darüber hinaus beschäftigten sich die Militärgerichte mit 5.889 Fällen von Diebstahl und Unterschlagung, 2.112 Fällen von Betrug, Untreue und Urkundenfälschung, 1.150 Fällen von Körperverletzung sowie 838 Fällen von Sittlichkeitsverbrechen.266

Fahnenfluchtdelikte und unerlaubte Entfernung nahmen stetig zu. Von 92 bzw 35 Delikten im Jahr 1934/35 stiegen sie auf 291 bzw 259 im Jahr 1938/39. Zum Vergleich entfielen im Jahr 1913 auf diese Delikte 649 bzw 1.606 Fälle. Die geringeren Fallzahlen im Vergleich zu 1913 sind vor allem darauf zurückzuführen, dass 1913 bereits eine Abwesenheit von drei Tagen zur Bestrafung führte, während seit 1926 die Mindestabwesenheitsdauer mit sieben Tagen festgesetzt war. Messerschmidt rechnet hoch, dass im Gesamtjahr 1939 die Werte des Jahres 1913 zumindest erreicht, wenn nicht übertroffen wurden. Die verhängten Strafen betrugen zwischen neun Monaten und mehr als zwei Jahren, wobei zwischen 1. Oktober 1938 und 31. März 1939 lediglich acht von 209 Soldaten zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden. 60 Personen wurden zu Strafen von neun Monaten Haft oder sogar weniger verurteilt. Von 54 Angehörigen von Sonderabteilungen wurden lediglich fünf zu Gefängnisstrafen von mehr als zwei Jahren verurteilt. Im Kriegsverlauf wurden die Strafen deutlich erhöht und eine hohe Zahl an Todesurteilen ausgesprochen. Bereits Ende 1942 wurde zumindest in 50% der Fälle die Todesstrafe verhängt. Für den gesamten Kriegsverlauf geht Wüllner von einer Todesurteilsquote von 60% bis 70% bei Fahnenflucht aus, von denen rund zwei Drittel auch vollzogen wurden. Manoschek bestätigt dies auch für österreichische Opfer der NS Militärjustiz. Die Gesamtzahl der Fahnenflüchtigen berechnet er mit mindestens 280.000, von denen allerdings nur ein Teil gefasst und vor Gericht gestellt werden konnte. Wüllner geht weiter von 22.000 bis 25.000 Todesurteilen wegen Fahnenflucht aus, von denen rund 16.000 vollzogen wurden. Bereits 1939 wurden im Bereich des OKH monatlich 200 Fahndungsersuchen wegen Fahnenflucht gestellt. Dies bedeutete eine Steigerung von über 400% im Vergleich zum Jahr 1913.267

Ein Vergleich der Todesurteile wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung zwischen Wehrmachts- und SS- und Polizeijustiz belegt die drakonische Urteilspraxis der Militärgerichte. Im ersten Quartal 1943 betrug das Verhältnis des militärisch eingesetzten Personals zwischen SS und Wehrmacht rund eins zu 15. In diesem Zeitraum wurden von SS Gerichten in 65 Verhandlungen 16 Todesurteile wegen Fahnenflucht verhängt, von der Wehrmachtsjustiz wurden 439 von 846 Angeklagten hingerichtet. Insgesamt wurden durch die SS- und Polizeijustiz allerdings rund ein Drittel mehr Fahnenfluchturteile gefällt als durch die Wehrmachtsjustiz. Bei Wehrkraftzersetzung lag die Zahl um etwa 10% höher. Insgesamt lag 1942 lt Statistik der Anteil der Todesurteile der Wehrmachtsjustiz bei 1,7%, jener der SS- und Polizeijustiz bei 3,6%. Zuchthausstrafen verhängten Wehrmachtsgerichte in 3,5% der Fälle, SS- und Polizeigerichte in 8,0%. 1943 betrugen die Anteile der Todesstrafen 2,4% bzw 2,8% und der Zuchthausstrafen 3,5% bzw 7,2%.268

266 vgl BArch, RW 11/II/2, Bl 2 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 63 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 441 ff. 267 vgl Fritsche in Pirker/Wenninger 131; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 170 ff; Haase, Deserteure2 41; Haase, Fahnenflucht 9; Manoschek, Österreichische Opfer der NS-Militärjustiz, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 46 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 64 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 441 ff. 268 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 138; Wüllner, NS-Militärjustiz2 303 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 68/226

Aufgrund der kriegsbedingt mangelhaften Quellenlage lassen sich die Anzahl der von Wehrmachtsgerichten durchgeführten Strafverfahren und die Anzahl und Höhe der für einzelne Delikte verhängten Strafen nicht mehr exakt feststellen. Die Basis der einzelnen Berechnungen bildet aber immer die Wehrmachtskriminalstatistik. Relativ gut erhalten ist der Aktenbestand der Kriegsmarine, für die daher die genauesten Aussagen möglich sind, während bei der Luftwaffe beinahe alle Unterlagen vernichtet wurden. Im Heer ist die Datenlage je nach Verband unterschiedlich, üblicherweise sind die Bestände bei Verbänden des Feldheeres deutlich lückenhafter als bei jenen des Ersatzheeres. Unterschiede ergeben sich durch die Art des Einsatzes, den Kriegsschauplatz und andere Faktoren.269

Von September 1939 bis Juni 1944 weist die Wehrmachtskriminalstatistik insgesamt 11.664 rechtskräftige Todesurteile aus, davon allein 9.862 gegen Heeresangehörige. Marinesoldaten wurden in 1.037 Fällen und Luftwaffensoldaten in 765 Fällen zum Tode verurteilt. Durch Hochrechnungen unter Berücksichtigung einer Fehlerquote ergibt sich lt Hennicke270 eine Gesamtzahl von 16.000 Todesurteilen nur im Heer, von denen rund 14.500 vollstreckt wurden. Im Verlauf des Krieges stieg auch die Anzahl der verhängten Todesurteile. Lag die Steigerung im Vergleich zur Gesamtzahl der Urteile im Juni 1941 noch bei 0,6%, betrug sie im September 1944 bereits 6,1%. Bis Mitte 1944 lag der Anteil der Todesurteile an allen Urteilen lt Wehrmachtskriminalstatistik zwischen 0,4% und 2,8%. Weiter erfasst die Wehrmachtskriminalstatistik von September 1939 bis Juni 1944 insgesamt 22.924 Zuchthausurteile, 84.356 Gefängnisurteile über ein Jahr und 84.393 Gefängnisurteile über sechs Monate bis zu einem Jahr. Die in der Statistik erfassten Zahlen stellen dabei immer Mindestwerte dar. Die tatsächlichen Zahlen liegen deutlich höher. Wüllner errechnet eine Zahl von rund 370.000 Verurteilten mit Strafen über sechs Monaten Gefängnis bis Kriegsende und hält auch eine Zahl von über 400.000 Verurteilten für möglich.271

Wüllner weist ausführlich auf die Mängel der Wehrmachtskriminalstatistik hin. Die Ursachen dafür waren einerseits das auf Kriegszählkarten basierende Meldesystem selbst und andererseits durch Kriegseinwirkungen verursachte Aktenverluste und unvollständig geführte Listen. Als Basis seiner Berechnungen dient Wüllner eine Todesurteilskartei des deutschen Bundesarchivs (BArch). Diese Datei enthält 7.800 Urteile, von denen 4.700 gegen Angehörige und Gefolge der Wehrmacht gefällt wurden. Zusätzlich wurden noch mehr als 200 Urteile aus dem österreichischen Staatsarchiv für die Berechnungen herangezogen. Aus den Unterlagen ergibt sich eine Bilanz von 2.413 Urteilen bis 1943, 1944/45 wurden bereits 2.528 Urteile gefällt. Aus dieser Steigerung schließt Wüllner auf eine hohe Zunahme der Todesurteile in den letzten beiden Kriegsjahren. Durch einen Vergleich dieser Zahlen mit der Wehrmachtskriminalstatistik und Zahlen der Marinejustiz errechnet er eine geschätzte Anzahl von rund 34.000 Todesurteilen der Wehrmachtsjustiz während des gesamten Krieges. Die Gesamtzahl der Verfahren lag lt Wüllners Berechungen allein 1941 bei 300.000 bis 400.000. Über die näheren Umstände eines Falles und die Situation der Angeklagten und Richter geben darüber hinaus va die Urteile Aufschluss. Direkte Vergleiche zwischen einzelnen Armeen stellen sich aufgrund wechselnder Unterstellungsverhältnisse und unterschiedlicher Aktenlage allerdings als schwierig dar. Die größten Schwankungen traten bei den Armeen an der Ostfront auf, deren vorgesetzte Kommanden häufig wechselten. Aus den Listen über den Anfall von Strafsachen und Berichten der Armeerichter ergibt sich, dass während der Zeit, in der sich die Wehrmacht noch auf dem Vormarsch

269 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 151; Messerschmidt in Baumann/Koch 31 ff. 270 vgl Hennicke, Über den Justizterror in der deutschen Wehrmacht am Ende des zweiten Weltkrieges, ZMG 1965, 715 (720). 271 vgl Ausländer, „Zwölf Jahre Zuchthaus! Abzusitzen nach Kriegsende!“ Zur Topographie des Strafgefangenenwesens der Deutschen Wehrmacht, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 64; Haase, Deserteure2 41; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 152; Wüllner, NS- Militärjustiz2 87 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 69/226 befand, tendenziell weniger Strafsachen zu behandeln waren als in relativ ruhigen Phasen und während des Rückzuges. Insbesondere die Phase des Rückzuges ab Sommer 1944 ist allerdings durch kriegsbedingte Verluste unzureichend dokumentiert. Ein Anstieg von Fahnenflucht und unerlaubter Entfernung ist für diese Phase jedenfalls anzunehmen.272

Auflösungserscheinungen setzten allerdings bereits davor ein. Gem Bericht des Feldjägerkommandos III vom 18. März 1944 mussten die Feldjäger versprengte Soldaten an der Ostfront einsammeln, um die Handlungsfähigkeit der Verbände zu gewährleisten. Im Mai 1944 wurden die Feldjäger der Heeresgruppe Mitte verstärkt. Die einzelnen Kommandos erhielten fliegende Feldkriegsgerichte zugewiesen. Gerichtsherrn waren die jeweiligen Kommandanten. Den Regiments- und Bataillonskommandanten wurden Standgerichte zugeordnet, die über alle Angehörigen der Wehrmacht und Waffen-SS inkl des Gefolges urteilen konnten. Hitler verzichtete auf sein Bestätigungsrecht bei Todesstrafen. Am 10. August 1944 befahl Hitler allen Formationen, die in das Reichsgebiet verlegt wurden, wieder militärische Ordnung anzunehmen, so wie es das deutsche Volk erwarte. Im September 1944 wurden selbst in einem Befehl des OKW Auflösungserscheinungen in der Truppe erwähnt. Gerichtsherren erhielten das Recht, selbst Todesurteile zu bestätigen, wenn eine Vollziehung zur Aufrechterhaltung der Manneszucht oder zur Abschreckung geboten erschien. Diese Maßnahmen waren eine Reaktion auf rasant steigende Zahlen von Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung. Fälle von Wehrkraftzersetzung nahmen bereits zwischen dem zweiten und vierten Quartal 1943 um rund 20% zu.273

Jedenfalls lässt sich eine starke Zunahme der Delikte Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung in der Endphase des Krieges feststellen, in der sich die Wehrmacht nach dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront und der Landung der Alliierten im Westen auf dem Rückzug befand. Durch die Niederlagen wuchsen die Zweifel unter den Soldaten. Problematisch ist dabei die Tätigkeit der Standgerichte, deren Urteile in vielen Fällen nicht aktenkundig oder vorschriftsmäßig an übergeordnete Justizstellen berichtet wurden. Der Zusammenhang zwischen Kriegslage und Urteilsbilanz ergibt sich aber aus erhalten gebliebenen Unterlagen einzelner Armeen. Insgesamt lässt sich über den Kriegsverlauf eine kontinuierliche Zunahme der Verfahren und Urteile, auch der Todesurteile feststellen. Innerhalb einzelner Armeen gab es aber dennoch Schwankungen, wobei ab 1943 die Tendenz generell nach oben wies. Unterschiede zwischen den Armeen erklären sich aus der unterschiedlichen Situation auf verschiedenen Kriegsschauplätzen und der mehr oder weniger lückenhaften Aktenlage. Während im Westen ab 1942/43 nur eine geringe Zunahme der Fall- und Urteilszahlen zu verzeichnen war, kam es im Osten zu einer deutlichen Zunahme. Während die Heeresstatistik ab 1942/43 einen Anstieg um rund 40% erfasste, wies die im Osten eingesetzte 4. Armee eine Zunahme der Verfahren um rund 300% aus.274

Ab 1944 befand sich die Wehrmacht an allen Fronten auf dem Rückzug. Die Wehrmachtsführung reagierte mit Durchhaltebefehlen und noch drakonischeren Strafdrohungen, um die Disziplin aufrecht zu erhalten. Die Militärjustiz diente der Wehrmachtsführung dabei als Instrument, um die innere Stabilität der Armeen durch Strafen zu gewährleisten. Eine entsprechende Belehrung der Juristen ist in einem Tätigkeitsbericht des Armeerichters der 16. Armee für den Zeitraum von 16. Juli bis 15.

272 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 152 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 12 ff; Walmrath, Iustitia 24 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 132 ff. 273 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 153 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 116 f; Wüllner, NS- Militärjustiz2 501 ff. 274 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 154 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 207 ff; gegen die Einbeziehung von Standgerichten in die Wehrmachtsjustiz aufgrund des fälschlicherweise behaupteten Fehlens von beteiligten Juristen Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 5 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 70/226

Oktober 1944 dokumentiert. Die Zahl der Strafsachen gegen Offiziere der 16. Armee stieg von Juli bis Oktober 1944 um rund 60%.275

Die hohen Steigerungsraten bei den Armeen im Osten lassen aber keinen zuverlässigen Schluss auf die Entwicklung der Fallzahlen im gesamten Heer zu. Die Wehrmachtskriminalstatistiken weisen für die Zeit von Juni 1944 bis Kriegsende immerhin noch einen Anstieg der Todesurteile um rund 50% von 14.700 auf 21.500 Urteile auf. Im letzten Kriegsjahr wurden somit zumindest 7.000 Todesurteile durch NS Militärgerichte gegen Soldaten, Beamte, Kriegsgefangene und Zivilisten gefällt. Auch Zahlen zum Vollzug der Urteile lassen sich nicht mit letzter Gewissheit feststellen. Die Statistik weist für das vierte Quartal 1940 12.979 Urteile aus, von denen 11.031 vollzogen wurden, darunter 107 Todesurteile. Im vierten Quartal 1941 wurden 16.893 Urteile gefällt, von denen 11.089 vollzogen wurden, darunter 211 Todesurteile. Die Vollzugsquote lag somit in Summe bei 85% bzw 65%. Eine Aufschlüsselung der Vollziehungen nach Strafarten liegt nicht vor.276

Je nach Kriegslage wurde die Vollziehung von Todesurteilen teilweise ausgesetzt, um die Soldaten für einen Kampfeinsatz zur Verfügung zu stellen. Wenn Verurteilte im Fronteinsatz nicht die gewünschte Leistung erbrachten, wurde das Urteil nachträglich bestätigt und vollzogen. Bei Pflichterfüllung oder besonderen Mutbeweisen konnte die Strafe gemildert werden. So erhielten bei der 11. Armee von November 1941 bis März 1942 von sieben zum Tode Verurteilten sechs mildere Strafen. Zwei Todesurteile wurden in Zuchthausstrafen umgewandelt, drei in Gefängnisstrafen, und ein Urteil wurde aufgehoben. Im siebten Fall war die Gnadenentscheidung noch ausständig. Da auch bei Zuchthausurteilen Wehrunwürdigkeit eine Nebenfolge war, mussten diese in Gefängnisstrafen umgewandelt werden, um Soldaten für die Bewährungsbataillone verfügbar zu machen. Wüllner geht bis Ende 1944 dennoch von 18.500 Vollziehungen und einer Vollzugsquote von 60% bis 70% aus, Messerschmidt nimmt dagegen eine Vollzugsquote von mindestens 90% an, während Schweling/ Schwinge nur 40% bis 60% zugestehen.277

Für den gesamten Zweiten Weltkrieg geht Wüllner von rund 3 Millionen Strafverfahren und bis zu 5 Millionen angeklagten Soldaten aus, wobei er selbst einräumt, dass die Zahlen wohl zu hoch angesetzt sind. Dennoch wurde eine enorme Anzahl von Soldaten durch die NS Militärgerichte abgeurteilt.278

Gegen österreichische Soldaten wurden lt Fritsche in 1.662 Verfahren 380 Todesurteile gefällt und mindestens 234 vollzogen, davon 125 beim Heer, 26 bei der Luftwaffe und 18 bei der Kriegsmarine. 107 Todesurteile wurden nachweislich nicht vollzogen. Darüber hinaus wurden auch 65 Zivilisten von der NS Militärjustiz hingerichtet. Der Anteil der Todesstrafe lag somit bei rund 17,8%. Insgesamt wurden im Heer 235 Todesurteile gegen Österreicher gefällt, in der Luftwaffe 37 und in der Kriegsmarine 24. Die Vollzugsquoten lagen somit bei 51,2%, 66,7% und 75%.279

275 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 157 f. 276 vgl Baumann/Koch, „Was damals Recht war…“ Eine Wanderausstellung zur Wehrmachtjustiz, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 158; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 70 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 35 ff. 277 vgl HM 1939/808; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 103; Friedrich, Nazi-Justiz 179; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 166 f; Klausch, 999 174; Klausch, Erschießen – Enthaupten – Erhängen. Hinrichtungsarten und Hinrichtungsorte der NS-Militärjustiz, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 79; Manoschek in Pirker/Wenninger 46 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 158 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 32; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 79; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 277 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 35 ff. 278 vgl Hautmann in Kohlhofer 75; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 50; Wüllner, NS-Militärjustiz2 22 ff. 279 vgl Fritsche, Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit. Grundlegende Ausführungen zu den Untersuchungsergebnissen, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 95; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 159 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 35 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 71/226

Die meisten Verfahren entfielen bis Ende 1943 auf das Delikt des militärischen Diebstahls, ab 1944 auf unerlaubte Entfernung. Da die Verfahren wegen Fahnenflucht nach dem vierten Quartal 1939 zurückgingen, schloss WR auf einen Erfolg der Militärgerichtsbarkeit im Bereich Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Nur aufgrund der strengen Handhabung der Kriegsgerichtsbarkeit und der fortgesetzten Belehrung der Soldaten über die Folgen der Tat sei ein kriminalpolitisch erwünschtes Ergebnis erzielt worden. Andererseits wurde auch die Anpassung der §§ 64 ff MStGB durch § 6 KSSVO als wichtige Maßnahme gesehen, um dieses Ergebnis zu erreichen. Durch § 6 KSSVO wurde jede unerlaubte Abwesenheit, die länger als einen Tag dauerte, mit Strafe bedroht, auch wenn die Tat nur aus Fahrlässigkeit erfolgt war. Das strenge Vorgehen der Kriegsgerichte wurde auch bei Dienstbesprechungen thematisiert. Bei einem Vortrag des Oberstkriegsgerichtsrates beim Generalquartiermeister vor Armeerichtern im März 1940 wurde klar, dass sich das OKH der weitaus höheren Zahl von Todesurteilen als im Ersten Weltkrieg bewusst war. Es wurde eine zurückhaltendere Anwendung der Todes- und Zuchthausstrafen gefordert. Sie sollten nur verhängt werden bei Taten gegen die Manneszucht, gegen das Gebot des soldatischen Mutes und bei sog Verbrechernaturen. Messerschmidt mutmaßt, dass Hitlers Befehl über die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom 14. April 1940 auf derartige Hinweise zurückzuführen war. Betrachtet man den gesamten Kriegsverlauf, kann allerdings nicht von einer positiven kriminalpolitischen Wirkung der strengen Militärgerichtsbarkeit gesprochen werden. Die Anzahl der Todesurteile und die entsprechenden Zuwachsraten erhöhten sich kontinuierlich, obwohl die Personalstärke der Wehrmacht ab 1944 stetig abnahm, da Verluste nicht mehr vollständig ausgeglichen werden konnten. Die steigende Zahl von Todesurteilen spiegelt die Lage der Wehrmacht und der Soldaten im Kriegsverlauf wieder. Über die zunehmende Aussichtslosigkeit durfte auch nicht offen gesprochen werden, da auch dies als Wehrkraftzersetzung mit dem Tod geahndet werden konnte. In einer Meldung an das Psychiatrisch-Wehrpsychologische Institut gibt WR die Zahl der Todesurteile für 1940 mit 559 an, für 1941 mit 625, für 1942 mit 2.537, für 1943 mit 4.626 und für 1944 mit 3.328.280

Der Kommandant der 6. Armee Generaloberst Walter von Reichenau stellte in einem Befehl am 12. Februar 1940 fest, dass die Schnelligkeit zukünftiger Kampfhandlungen nur in den seltensten Fällen ein Verfahren vor einem Feldkriegsgericht zuließe. Die Vorgesetzten sollten daher mit Standgerichten schnell und zügig durchgreifen. Da Standgerichte nicht Teil der normalen Militärgerichtsbarkeit waren, scheinen ihre Urteile auch nicht in der Wehrmachtskriminalstatistik auf. Aber auch von regulären Militärgerichten gingen aufgrund von Kriegseinwirkungen zahlreiche Unterlagen verloren. Um Akten zerschlagener Verbände wie der 6. Armee in Stalingrad zumindest teilweise rekonstruieren zu können, wurden ab der zweiten Jahreshälfte 1944 Abwicklungsstäbe für aufgelöste Militärgerichte eingerichtet. Beim Heer unterstand dieser Abwicklungsstab dem AHA. Die Abwicklungsstäbe befassten sich auch mit dem Verbleib von Heeresjustizbeamten und der Wiederherstellung verlorengegangener Strafsachenlisten. Der Erfolg dieser Rekonstruktionsversuche ist allerdings nicht dokumentiert.281

Aufgrund der lückenhaften Statistiken und Unterlagen sind Vergleiche von Verfahrens- und Urteilszahlen zwischen der Wehrmachtskriminalstatistik und Statistiken der Wehrmachtsteile und ihrer Verbände kaum möglich. Alle Vergleiche sind daher mehr oder weniger zuverlässige Annäherungen, die aber keine vollständige Korrektheit beanspruchen können. Bedeutung kommt in der Diskussion

280 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 611; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K77 39/13; Garbe in Pirker/Wenninger 33; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 134; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 138; Haase, Fahnenflucht 28; Klausch, 999 217; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 161 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 70 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 154 ff. 281 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 162 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 132 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 72/226

über die Urteilsbilanz auch den Wachstumsraten zu. Anders als in der Wehrmachtskriminalstatistik sind in Armeestatistiken häufig nur die Anzahl der Verfahren und Urteile angeführt, ohne diese nach Delikten, Strafen oder Vollziehungsanordnungen zu differenzieren. Hennicke282 geht für die Berechnung der Wachstumsraten in der zweiten Jahreshälfte 1944 von den Zahlen der Vorjahre aus und schließt daraus auf die weitere Progression. Die Wachstumsraten betrugen bei unerlaubter Entfernung, Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung im zweiten Quartal 1943 20%, 35% bzw 33,6%, im dritten Quartal 1943 20%, wobei nur Daten für unerlaubte Entfernung vorliegen, im vierten Quartal 1943 7,8%, 19% bzw 2,5%, im ersten Quartal 1944 41,7%, 21,5% bzw 22% und im zweiten Quartal 1944 12%, 34% bzw. 25%. Große Unsicherheiten bestehen für das Jahr 1945, weil in der Endphase des Krieges viele Urteile durch fliegende Standgerichte gefällt wurden und deren Unterlagen zum weit überwiegenden Teil nicht mehr vorhanden sind. Lt Wehrmachtskriminalstatistik wurden bis Juni 1944 in Summe 18.150 Todesurteile gefällt, bis Mai 1945 kamen lt Hochrechnungen inklusive der Urteile von Standgerichten nochmals 15.300 hinzu. Die Wachstumsraten der Wehrmachtskriminalstatistik stimmen selten mit den Angaben der Armeen überein, was zusätzlich die Ungenauigkeit der Statistiken unterstreicht. Neben Verluste von Unterlagen durch Kampfhandlungen trat in der Endphase des Krieges auch die Zerstörung von Akten auf Befehl. Die oben angeführten Wachstumsraten für das vierte Quartal 1943 sind insofern irreführend, als ein großer Teil der Zählkarten, mit denen die Verfahren dokumentiert wurden, durch Luftangriffe zerstört wurde. Zwischen erstem und zweitem Quartal 1944 stieg die Zahl der Todesurteile um rund 34% von 1.422 auf 1.906. Insgesamt stieg die Zahl der Verurteilten auf 62.900, was einen Anstieg um rund 11% bedeutet. Darin enthalten sind 13.375 Verurteilungen wegen unerlaubter Entfernung, 2.131 wegen Fahnenflucht und 2.183 wegen Zersetzung der Wehrkraft. Die zunehmend drakonische Urteilspraxis der NS Militärgerichte im Verlauf des Krieges ist auch daraus ersichtlich, dass die Zahl der Todesurteile deutlich stärker anstieg als die Gesamtzahl der Urteile.283

Die Vollzugsquote bei Todesurteilen lag bis Juni 1944 bei mindestens 65% und stieg danach auf über 90% an. Die Anzahl der vollzogenen Todesurteile stieg nach Juni 1944 bis Kriegsende um 157%, im Heer sogar um 161%. Eine von HR geführte Liste weist nur für den Zeitraum Juli bis November 1944 eine Zahl von 2.524 Todesurteilen aus, davon 1.746 im Feld- und 778 im Ersatzheer. Hennicke nimmt von Juni 1944 bis Kriegsende eine Zahl von 4.950 Todesurteilen an. Durch die zunehmende Zahl von Standgerichtsverfahren ist der Anstieg der Urteilszahlen 1945 aber deutlich höher anzusetzen als in den Vorperioden. Insgesamt umfasst die Bilanz der Wehrmachtsjustiz 18.000 bis 34.000 Todesurteile, von denen 18.000 bis 20.000, nach Garbe284 bis zu 22.000, auch vollzogen wurden, weit mehr als in jeder anderen Armee während des Zweiten Weltkriegs.285

282 vgl Hennicke, Über den Justizterror in der deutschen Wehrmacht am Ende des zweiten Weltkrieges, ZMG 1965, 715. 283 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 165 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 32; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 86 f; Walmrath, Iustitia 24 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 183 ff; Wüllner, Der Wehrmacht“strafvollzug“ im Dritten Reich. Zur zentralen Rolle der Wehrmachtgefängnisse in Torgau, in Haase/Oleschinski (Hrsg),Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug2 (1998) 30. 284 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 25. 285 vgl Baumann L, Desertion unterm Hakenkreuz. Bericht eines Wehrmachtdeserteurs über seine Verfolgung, seinen Kampf um Rehabilitierung und die Aktualität des Themas heute, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 19; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 11 ff; Benz in Baumann/Koch 7; Bryant, Amerikanische Militärjustiz von der Revolution bis zum Uniform- Code of : Der lange Weg von der Kommandoautorität zum Rechtsstaatsprinzip, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 203; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 65 ff; Haase, RKG 13 ff; Hankel in Kirschner 301; Hautmann in Kohlhofer 65; Klausch, 500 15; Klausch in Baumann/Koch 79; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 20; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 166 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 32; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 70 ff; Rass/Quadflieg in Kirschner 49; Thomas in Haase/Paul 48; Vogel in Kirschner 16; Wette in Kirschner 263 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 35 ff; gegen die Einbeziehung von Standgerichten in die Wehrmachtsjustiz aufgrund des fälschlicherweise behaupteten Fehlens von beteiligten Juristen Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 5 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 73/226

Diese drakonische Strafpraxis betraf selbstverständlich auch österreichische Soldaten in der deutschen Wehrmacht sowie österreichische Zivilisten, die mit den Militärstrafgesetzen in Konflikt gerieten. Das mit Abstand häufigste Delikt war dabei mit einem Anteil von 46,6% an allen Delikten die Desertion, gefolgt von der unerlaubten Entfernung mit einem Anteil von 14,5%. 7,5% der Delikte waren Eigentumsdelikte. Auf wehrkraftzersetzende Äußerungen entfielen 4,6%, auf Selbstverstümmelung 4,3%, auf Kriegsdienstverweigerung 4,1% und auf sonstige Wehrkraftzersetzung 5,5%. Widersetzlichkeiten machten 5,2% der Delikte aus, politische Delikte 4,1% und Fälschungsdelikte 1,7%. Der Anteil aller anderen Delikte betrug jeweils unter 1%.286

Da in einem Urteil oft über mehr als einen Angeklagten abgesprochen wurde, ist die Zahl der Urteile nicht mit jener der Verurteilten gleichzusetzen. Häufig ist aus den Listen nicht erkennbar, worauf sich die Zahlen beziehen. Für das erste Halbjahr 1944 weist die Heereskriminalstatistik 70.528 Verurteilte aus, eine Liste der HR 66.921 rechtskräftige Verurteilungen. Auch die Anzahl der durchgeführten Verfahren lässt sich nicht exakt ermitteln. Wüllner287 errechnet diese Zahl durch die Anzahl der Verfahren pro Richter mal der Anzahl der Richter mal der Anzahl der Kriegsmonate. Die daraus ermittelte Zahl von über vier Millionen hat er aber selbst auf drei Millionen korrigiert. Allerdings ist auch die Ausgangsbasis der Berechnung von 2.000 Richtern und 30 Verfahren pro Monat nicht gesichert. Die Realität liegt wohl zwischen den Zahlen der Wehrmachtskriminalstatistik und jenen Wüllners. Es ist daher von zweieinhalb bis drei Millionen Verfahren auszugehen. Schweling/Schwinge288 gestehen hingegen lediglich 700.000 Strafverfahren im Kriegsverlauf zu. Die Zahl der Todesurteile gegen Soldaten liegt zwischen 18.000 und 34.000, während Schweling/Schwinge nur von 10.000 bis 12.000 Todesurteilen gegen Soldaten und 16.000 Todesurteilen insgesamt ausgehen. Wüllner errechnete eine Gesamtzahl von rund 50.000 Todesurteilen, wovon 30.000 auf Wehrmachtsangehörige entfielen. Messerschmidt kritisiert den von Wüllner angenommenen Verspätungsfaktor, weil er sich nicht kumulativ ausgewirkt habe. Er hält zwischen 25.000 und 30.000 Todesurteile für realistisch, ähnlich wie Hennicke, der eine Zahl von 25.250 errechnet. Eberlein289 allerdings bestätigt die von Wüllner angegebene Größenordnung in seiner Untersuchung zur Marburger Militärjustiz. Die NS Militärgerichte fällten jedenfalls mehr Todesurteile als der VGH und zivile Sondergerichte.290

Wesentlichen Einfluss auf die Bilanz der Wehrmachtsjustiz hatten neben der Personalstärke auch die Einsatzbedingungen und die Erfolgsaussichten. Im März 1943 verfügte die Wehrmacht über 8,9 Millionen Soldaten. Hinzu kamen noch 0,45 Millionen Soldaten der Waffen-SS. Setzt man die Stärke des Feldheeres von 4,1 Millionen Soldaten und des Ersatzheeres von 2,1 Millionen Soldaten in Relation zu den rechtskräftigen Verurteilungen von 61.000 bzw 52.000 im Jahr 1944, so ergibt sich eine deutlich höhere Urteilsrate im Ersatzheer. Unter den Verurteilungen fanden sich im ersten Halbjahr 1944 auch 2.809 Todesurteile. Nach dem Heer wies die Kriegsmarine die höchste Rate an Todesurteilen auf. Zwar wurden im ersten Halbjahr 1944 nur 227 Todesurteile gefällt, allerdings betrug auch die Personalstärke der Marine nur rund ein Siebtel jener des Heeres. An dritter Stelle im

286 vgl Fritsche, Österreichische Opfer, in Manoschek 81; Wüllner, NS-Militärjustiz2 501 ff. 287 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 22 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 30. 288 vgl Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 142 ff. 289 vgl Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 74 ff. 290 vgl Ausländer in Haase/Paul 64; Baumann L in Kirschner 19; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 11 ff; Benz in Baumann/Koch 7; Bryant in Pirker/Wenninger 203; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 65 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 18 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 21 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 179; Garbe in Pirker/Wenninger 25; Haase, RKG 13 ff; Hankel in Kirschner 301; Hautmann in Kohlhofer 65; Klausch, 500 15; Klausch, 999 174; Klausch in Baumann/Koch 79; Knippschild in Haase/Paul 123; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 3; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 20; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 167 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 32; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 15 ff; Moos in Kohlhofer 109; Rass/Quadflieg in Kirschner 49; Thomas in Haase/Paul 47 f; Walmrath, Iustitia 25 ff; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27; Wette in Kirschner 263 f; Wüllner, NS- Militärjustiz2 22 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 30. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 74/226

Vergleich der Todesurteilsraten lag die Waffen-SS mit 133 Todesurteilen bei einem Zehntel der Personalstärke des Heeres, gefolgt von der Polizei mit 68 Todesurteilen bei ebenfalls einem Zehntel des Heerespersonals und der Luftwaffe mit 292 Todesurteilen bei einer Personalstärke von rund der Hälfte des Heerespersonals. Für die SS und Polizei ist tatsächlich von deutlich höheren Zahlen auszugehen, da über 100 SS- und Polizeigerichte bestanden und die Datenlage durch Aktenzerstörung und Kriegseinwirkungen noch schlechter ist als jene der Wehrmacht.291

In der Endphase des Krieges verschärfte sich das Vorgehen der NS Militärjustiz nochmals. Auch wenn die Quellenlage lückenhaft ist, wurden allein im Großraum Berlin zwischen Mitte Jänner und Mitte April 1945 mindestens 277 Todesurteile des GWKB, des ZdH und des fliegenden Standgerichts des Kommandanten im Wehrkreis III vollzogen. Damit wurden allein in diesen drei Monaten mehr Todesurteile vollzogen als von den amerikanischen und britischen Streitkräften während des ganzen Krieges.292

Die drakonische Vorgehensweise der NS Wehrmachtsjustiz wird va im Vergleich mit der Justiz der Alliierten und des mit Deutschland verbündeten Japan deutlich. Wie oben dargestellt wurden in der Wehrmacht im Lauf des Krieges 25.000 bis 30.000 Todesurteile gefällt, von denen rund 90% auch vollzogen wurden. Großbritannien vollzog dagegen nur 40 Todesurteile, das freie Frankreich mindestens 102. Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) verhängten 763 Todesurteile, von denen 146 vollzogen wurden, bei einer Stärke von rund 11 Millionen Soldaten. Die Briten vollzogenen ihre Todesurteile in 36 Fällen wegen Mordes, in drei wegen Meuterei mit Waffengewalt und in einem Fall wegen Verrats. Die Todesurteile der USA wurden in 75 Fällen wegen Mordes, in 52 wegen Vergewaltigung, in 18 wegen Lustmordes und in einem wegen Fahnenflucht vollzogen. Ein politischer Tatbestand mit Androhung der Todesstrafe wie jener der Wehrkraftzersetzung war weder in Großbritannien noch in den USA vorhanden. Auch Fahnenflucht führte nur in einem Fall zur Vollziehung eines Todesurteils, während dieser Tatbestand in der Wehrmacht regelmäßig mit dem Tod geahndet wurde. Die japanische Militärjustiz agierte ähnlich rigoros wie die deutsche und vollzog während des Zweiten Weltkrieges 22.253 Todesurteile. Aus diesem Vergleich wird auch ersichtlich, dass sich die angewandten Rechtsmaßstäbe im Vergleich zu den westlichen Demokratien deutlich verschoben. Nicht das Individuum, sondern der Staat stellte den wesentlichen Bezugspunkt dar.293

B. Die Rechtsprechung des Reichskriegsgerichts

1. Statistische Auswertung der Urteile des Reichskriegsgerichts Für die Statistiken des RKG gelten im Wesentlichen die bereits zur Wehrmachtskriminalstatistik gemachten Ausführungen zu Aktenverlusten. Insofern sind die in diesem Abschnitt gemachten Zahlenangaben als Mindestgrößen zu betrachten.

In den Jahren 1936 und 1937 gab es 390 Verfahren vor den Revisionssenaten und 525 Verfahren vor dem Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG. Von den letzteren entfielen 91 auf Verfahren wegen Hochverrats, 426 auf Landesverrat, fünf auf Kriegsverrat und drei auf § 5 Z 1 der VO

291 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 168 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 299 ff. 292 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 415; Wüllner, NS-Militärjustiz2 188 ff. 293 vgl Baumann L in Kirschner 19; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 11 ff; Benz in Baumann/Koch 7; Bryant in Pirker/Wenninger 203; Bryant/Kirschner in Baumann/Koch 65 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 31; Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 13; Haase, RKG 13 ff; Hankel in Kirschner 301; Hautmann in Kohlhofer 65; Klausch, 500 15; Klausch in Baumann/Koch 79; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 20; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 170 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 32; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 101; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 29 ff; Rass/Quadflieg in Kirschner 49; Thomas in Haase/Paul 48; Wette in Kirschner 263 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 33 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 75/226 des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat. Für das Jahr 1938 weist die Statistik der RKA bereits 769 erstinstanzliche Verfahren auf. Laut Wehrmachtskriminalstatistik wurden vom Senat für Hoch- und Landesverratssachen 1938 Urteile wegen 84 Straftaten gegen 59 Personen gefällt, davon lauteten 15 Urteile auf Todesstrafe. Das RKG beschäftigte sich in neun Fällen mit Hochverrat, in 44 Fällen mit Landesverrat, in 19 Fällen mit Fahnenflucht, in vier Fällen mit Ungehorsam, in je zwei Fällen mit Diebstahl und Unterschlagung sowie Betrug und in je einem Fall mit unerlaubter Entfernung, Kriegsverrat, Meuterei und Beschimpfung des Reiches.294

Schätzungen gehen insgesamt von 10.000 Ermittlungsverfahren aus, von denen rund 50% zu einer Hauptverhandlung vor dem RKG führten. Von 26. August 1939 bis 7. Februar 1945 wurden mindestens 1.189 Todesurteile gefällt, von denen mindestens 1.049 auch vollzogen wurden. Andere Quellen geben mehr als 1.400 bzw 1.523 Todesurteile an, von denen rund 70% vollzogen wurden.295

Im Militärischen Zentralarchiv in Prag findet sich eine aus den dort vorhandenen Unterlagen296 erstellte Liste mit 3.903 Urteilen des RKG gegen 3.660 Personen. Die geringere Anzahl der Personen ergibt sich daraus, dass gegen einige Angeklagte mehrmals vor den Senaten des RKG verhandelt wurde. Dies geschah meist, wenn ein Urteil vom Gerichtsherrn aufgehoben und eine Neuverhandlung angesetzt wurde. Das erste Urteil stammt dabei vom 15. Oktober 1936, das letzte vom 6. April 1945. Für die Auswertung wurden die Delikte in Gruppen zusammengefasst. Wurde ein Verfahren wegen mehrerer Delikte geführt, wurde für die Zuordnung jeweils das Hauptdelikt herangezogen. Die Gruppe der Verratsdelikte umfasst dabei Hoch-, Landes- und Kriegsverrat, Spionage, Feindbegünstigung und die Preisgabe von Staatsgeheimnissen. Entziehungsdelikte umfassen Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung. Ungehorsamsdelikte beinhalten Ungehorsam im engeren Sinne ebenso wie Dienstpflichtverletzungen und Zuwiderhandlungen gegen Befehle und Vorschriften. Unter Sabotage und Freischärlerei wurden neben den beiden genannten Delikten auch Wehrmittelbeschädigung, Wehrmittelbeseitigung, die Verletzung von Kriegslieferungspflichten und verbotener Waffenbesitz zusammengefasst. Vermögensdelikte umfassen Delikte wie zB Diebstahl und Betrug. Rundfunkdelikte beinhalten das Abhören ausländischer Sender sowie das Schwarzsenden. Delikte gegen die militärische Rangordnung umfassen Beleidigungen, militärischen Aufruhr, das unbefugte Tragen von Uniformen, Missbrauch der Dienstgewalt, Verletzung der Aufsichtspflicht und Widersetzlichkeiten. Zu den Gewaltdelikten zählen ua Tötungsdelikte und Körperverletzung. Die Kategorie sonstige Delikte umfasst va die Nichtanzeige von unbestimmten Straftaten, Urkundendelikte und Verfahren wegen Homosexualität.

294 vgl BArch, RW 11/II/1, Bl 7 ff; BArch, RW 11/II/2, Bl 9 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 49 f. 295 vgl VUA, RKG K62 39/9/19; Forster, RKG, in Manoschek 391; Gribbohm, RKG Rz 196 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 49; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (389); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1131); Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Viebig in Bade/Skowronski/Viebig 47; Viebig/Skowronski in Kirschner 177. 296 vgl VUA, RKG 39/5/18; VUA, RKG 39/14/2; VUA, RKG 39/14/9; VUA, RKG K59 39/3/19; VUA, RKG K59 39/5/7; VUA, RKG K59 39/5/8; VUA, RKG K59 39/14/18; VUA, RKG K59 39/14/23; VUA, RKG K59 39/14/24; VUA, RKG K65 39/12/22. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 76/226

Urteilsjahre bis 1940 1941 1942 1943 1944 1945 unb Summe 1939 Verratsdelikte 51 179 463 673 316 389 63 3 2.137 Wehrkraftzersetzung 62 278 110 114 95 28 12 699 Entziehungsdelikte 10 24 19 52 39 52 37 233 Ungehorsamsdelikte 6 5 5 16 27 82 12 153 Sabotage/Freischärlerei 5 21 24 21 22 1 94 Wehrdienstverweigerung 1 2 2 22 58 85 Vermögensdelikte 6 4 3 8 13 16 1 51 Rundfunkdelikte 2 16 9 7 3 37 Delikte gegen die 4 11 6 7 28 Rangordnung Delikte gem 3 4 4 8 2 21 Heimtückegesetz und VolksschädlingsVO Gewaltdelikte 4 5 2 1 12 Sonstige Delikte 2 20 41 32 23 19 137 unbekannt 20 64 31 61 8 6 11 15 216 Summe 160 590 724 1.012 577 684 138 18 3.903 Tabelle 2: Anzahl der Verurteilungen nach Urteilsjahren.

Von den im Militärischen Zentralarchiv in Prag feststellbaren Urteilen entfallen mehr als die Hälfte, 54,8%, auf Verratsdelikte. Auf Wehrkraftzersetzung entfielen weitere 17,9% der Verurteilungen, Entziehungsdelikte und Wehrdienstverweigerung repräsentieren gemeinsam weitere 8,1% der Verurteilungen. Alle anderen Deliktsgruppen weisen einen Anteil von jeweils unter 5% auf.

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Tod Zucht- Gefäng- Straf- Festungs- Arrest haus nis lager haft Verratsdelikte 858 589 420 32 12 Wehrkraftzersetzung 294 77 281 Entziehungsdelikte 122 53 47 2 Ungehorsamsdelikte 8 10 105 7 9 Sabotage/Freischärlerei 35 22 13 4 Wehrdienstverweigerung 53 4 23 1 Vermögensdelikte 3 15 20 4 1 Rundfunkdelikte 2 17 16 Delikte gegen Rangordnung 2 13 5 Delikte gem Heimtückegesetz 2 3 12 und VolksschädlingsVO Gewaltdelikte 3 4 3 Sonstige Delikte 2 21 85 8 6 unbekannt 6 4 7 Summe 1.388 821 1.045 44 11 36 Tabelle 3: Anzahl der Todes- und Freiheitsstrafen je Delikt.

Ausgehend von der Zahl von 3.903 Verurteilungen wurde in 35,6% der Fälle vom RKG die Todesstrafe ausgesprochen, 21,0% entfielen auf Zuchthausstrafen und 26,8% auf Gefängnisstrafen. Straflagerverwahrung wurde in 1,1% der Fälle angeordnet, Festungshaft lediglich in 0,3% und Arrest in 0,9% der Fälle. Geldstrafen und die Einziehung von Vermögen wurden in 0,2% der Fälle angeordnet. 10,4% der Angeklagten wurden freigesprochen, gegen 0,7% wurde das Verfahren eingestellt.

477 Verurteilungen aus den Prager Unterlagen weisen einen Zusammenhang mit religiösen Motiven auf. Davon entfielen 431 bzw 90,4% auf Zeugen Jehovas, 19 bzw 4,0% auf Adventisten, sieben bzw 1,5% auf Katholiken und 20 bzw 4,2% auf Angehörige sonstiger Glaubensgemeinschaften. In 374 Fällen bzw 78,4% erfolgte die Anklage wegen Wehrkraftzersetzung, worunter auch Wehrdienstverweigerung subsummiert wurde. Wehrdienstverweigerung wird dezidiert in weiteren 79 bzw 16,6% der Fälle ausgewiesen. Entziehungsdelikte repräsentieren 16 bzw 3,4% der Fälle.

Tod Zuchthaus Gefängnis Freispruch Verratsdelikte 2 Wehrkraftzersetzung 231 11 128 4 Entziehungsdelikte 12 1 2 1 Ungehorsamsdelikte 1 1 Wehrdienstverweigerung 52 3 21 3 unbekannt 1 3 Summe 298 15 153 11 Tabelle 4: Strafart je Delikt bei religiös motivierten Taten.

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Bei religiös motivierten Taten steigerte sich die Wahrscheinlichkeit eines Todesurteils deutlich auf 62,5%. Ebenso stieg der Anteil der Gefängnisstrafen auf 32,1%, während nur in 3,1% der Fälle zu Zuchthausstrafen verurteilt wurde und lediglich in 2,3% der Fälle ein Freispruch erfolgte.

<1 1-3 >3-5 >5-10 >10 Jahre lebens- Jahr Jahre Jahre Jahre lang Verratsdelikte 112 456 241 169 12 63 Wehrkraftzersetzung 41 244 47 22 4 Entziehungsdelikte 9 33 20 27 14 Ungehorsamsdelikte 50 55 19 6 1 Sabotage/Freischärlerei 8 18 4 9 Wehrdienstverweigerung 6 19 1 2 Vermögensdelikte 8 12 12 8 Rundfunkdelikte 6 22 3 2 Delikte gegen die 12 6 1 1 Rangordnung Delikte gem Heimtückegesetz 4 10 1 und VolksschädlingsVO Gewaltdelikte 1 3 2 1 Sonstige Delikte 49 50 16 5 unbekannt 2 6 2 1 Summe 308 934 366 255 32 63 Tabelle 5: Dauer der Freiheitsstrafen je Delikt.

Ein Großteil der Freiheitsstrafen, 47,7%, lautete auf über ein Jahr bis zu drei Jahren Freiheitsentzug. In 18,7% der Fälle betrug die Strafhöhe mehr als drei bis fünf Jahre, in 15,7% unter einem Jahr und in 13,0% mehr als fünf bis zehn Jahre. Freiheitsstrafen über zehn Jahre wurden in 1,6% der Fälle, lebenslängliche Strafen in 3,2% der Fälle ausgesprochen, wobei letztere ausschließlich auf Verratsdelikte entfielen.

<1 Jahr 1-3 Jahre >3-5 Jahre >5-10 Jahre Wehrkraftzersetzung 6 119 14 Entziehungsdelikte 3 Ungehorsamsdelikte 1 Wehrdienstverweigerung 5 16 1 2 unbekannt 1 Summe 13 138 15 2 Tabelle 6: Dauer der Freiheitsstrafen je Delikt bei religiös motivierten Taten.

Von den 168 Verurteilungen zu Freiheitsstrafen wegen religiös motivierter Taten lauteten 82,1% auf einen Zeitraum von einem Jahr bis zu drei Jahren, 8,9% auf mehr als drei bis fünf Jahre, 7,7% auf weniger als ein Jahr und 1,2% auf mehr als fünf bis zehn Jahre.

Zumindest 229 Österreicher, 224 Männer und fünf Frauen, davon 81 Zivilisten, wurden vom RKG verurteilt. In rund 50% der Fälle wurden Todesurteile ausgesprochen, von denen rund 75% vollzogen

22. Oktober 2018 Horst Pichler 79/226 wurden. Freisprüche erfolgten in 4,1% der Fälle. Die häufigsten Delikte waren Verratsdelikte, Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht.297 2. Urteilspraxis des Reichskriegsgerichts a) Rechtsprechung bis 1939

Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges existierte noch ein dreistufiger Instanzenzug in der NS Militärgerichtsbarkeit. Neben den Sonderzuständigkeiten, in denen das RKG als erst- und letztinstanzliches Gericht auftrat, wurde es in diesem Zeitraum vor allem als Revisionsgericht tätig. Seine Urteile banden die untergeordneten Instanzen. Als Revisionsgericht beschäftigte sich das RKG mit zahlreichen Verfahrensfragen. So fällte der I. Senat des RKG am 3. Dezember 1936 ein Urteil, in dem festgestellt wurde, dass ein einmal durch eine Anklage begründeter Gerichtsstand aufrecht bleibe, auch wenn sich die militärischen Unterstellungsverhältnisse nach Anklageerhebung änderten. Grundlage war ein Fall, in dem ein Unteroffizier zunächst von einem Heeresgericht verurteilt worden war. Nachdem seine Einheit vom Heer zur Luftwaffe gewechselt war, wurde das Berufungsverfahren vom Oberkriegsgericht der Luftwaffe durchgeführt. Aufgrund der Feststellungen des RKG war dies allerdings unzulässig, da das zum Zeitpunkt der Anklageerhebung zuständige Oberkriegsgericht des Heeres die Berufungsverhandlung hätte durchführen müssen.298

Ein Soldat, der im Frühjahr 1936 zu einer achtwöchigen Übung einberufen wurde, wurde in betrunkenem Zustand von einem Unteroffizier angehalten. Da er sich widersetzte, wurde er festgenommen und ein Strafverfahren eingeleitet. In der Hauptverhandlung machte er geltend, dass er staatenlos und kein Reichsangehöriger sei. Daher sei er nicht Soldat geworden. Der I. Senat des RKG stellte dazu am 14. Jänner 1937 fest, dass die Eltern des Angeklagten früher die russische Staatsangehörigkeit besessen hätten. Diese hätten sie durch ihren langen Aufenthalt in Deutschland verloren und seien seither staatenlos. Trotz eines entsprechenden Hinweises wurde der Angeklagte aber vom Wehrbezirkskommando zum Wehrdienst einberufen, den er am 7. März 1936 antrat. Der Angeklagte verpflichtete sich schriftlich zu einer Dienstleistung bis zum 6. Mai 1936. Eine gem § 18 Abs 4 WG erforderliche Genehmigung des Reichskriegsministers für die Einstellung eines Nichtdeutschen wurde nicht eingeholt. Da der Angeklagte den Einberufungsbefehl aber befolgt hatte, sei er gem § 24 Abs 1 WG als Soldat in den aktiven Wehrdienst eingetreten. Eine formal fehlerhafte Einstellung stehe dem nicht entgegen. Eine unterschiedliche Behandlung fehlerhaft eingestellter Soldaten würde darüber hinaus die Manneszucht und Disziplin gefährden. Die Frage eines Verbotsirrtums wurde als unerheblich abgetan.299 In einem ähnlich gelagerten Fall urteilte der II. Senat am 9. Juli 1937. Der Kanonier S rückte am 20. Oktober 1936 zur Wehrmacht ein. Am 13. November 1936 wurde er mit Strafexerzieren bestraft. Daraufhin äußerte S, dass er den Dienst verweigern werde, wenn ihm das Exerzieren aufgrund seines verletzten Knöchels zu schwer werde. Nachdem eine ärztliche Untersuchung am 14. November 1936 keinen Befund ergeben hatte, verweigerte er, nachdem er den Befehlen einige Zeit gefolgt war, tatsächlich das Strafexerzieren. Im folgenden Strafverfahren wurde er vom Oberkriegsgericht in der Berufungsverhandlung gem § 95 Abs 1 MStGB wegen Gehorsamsverweigerung iVm § 83 MStGB wegen Simulation verurteilt. In der Revision gab er nunmehr an, 1935 vor seiner Einberufung eine fremde Staatsangehörigkeit angenommen zu haben. Ebenso wie der I. Senat rekurrierte auch der II. Senat auf § 24 Abs 1 WG und stufte S als Soldaten ein, der damit der Militärgerichtsbarkeit unterworfen sei. Die Frage des Bestehens einer fremden

297 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 84; Forster, RKG, in Manoschek 391 ff; Haase, RKG 13 ff; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 9; Manoschek in Pirker/Wenninger 51. 298 vgl RKG 3.12.1936, RevL I 14/36; Reichskriegsgericht (Hrsg), Entscheidungen des Reichskriegsgerichts und des Wehrmachtdienststrafhofs I (1940) 2 ff. 299 vgl RKG 14.1.1937, RevL I 19/36; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 9 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 80/226

Staatsangehörigkeit wurde nicht geprüft, weil dies irrelevant sei. Auch eine fehlerhafte Einstellung in den Wehrdienst begründe ein Dienstverhältnis als Soldat. Die Revision wurde daher abgewiesen.300

Ein Soldat wurde durch ein Oberkriegsgericht gem § 175 RStGB verurteilt. Dabei nahm das Gericht den 4. August 1934 als Tatzeitpunkt an, während der Angeklagte angab, die Tat bereits im Juli 1934 begangen zu haben. Gem § 2 Abs 1 Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit301 iVm § 402 Abs 1 MStGO beantragte der verurteilte Soldat daher die Wiederaufnahme des Verfahrens. Der I. Senat des RKG wies den Wiederaufnahmeantrag allerdings am 11. März 1937 mit Beschluss zurück, da in Verfahren vor Militärgerichten die neuen Beweismittel die Unschuld des Beschuldigten ergeben müssten. Hier wurde im Vergleich zum zivilen Strafprozess, bei dem bereits neue Tatsachen oder Beweise für eine Wiederaufnahme ausreichend waren, ein strengerer Maßstab angenommen.302

Zur Frage des Doppelbestrafungsverbots fällte der I. Senat am 1. April 1937 ein Urteil. Hauptmann J war am 22. Juni 1936 wegen einer falschen Meldung und vorausgegangenen groben Unfugs disziplinarisch bestraft worden. Danach wurde wegen derselben Tat nochmals Anklage vor dem Kriegsgericht erhoben. In der Revision wandte J ein, dass er aufgrund der bereits verbüßten Disziplinarstrafe nicht noch einmal hätte bestraft werden dürfen oder zumindest die Disziplinarstrafe auf die gerichtliche Strafe hätte angerechnet werden müssen. Das RKG wies die Revision als unbegründet zurück, weil gem § 34 Disziplinarstrafordnung für das Heer303 eine weitere gerichtliche Bestrafung nicht ausgeschlossen, sondern sogar geboten sei. Die Disziplinarstrafe könne vom erkennenden Gericht lediglich bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.304

Am 15. April 1937 hatte der I. Senat des RKG darüber zu entscheiden, ob ein Antrag auf Vernehmung eines Kompaniekommandanten als Leumundszeugen für den Angeklagten erst in den Urteilsgründen entschieden werden müsse. Dem Angeklagten wurde vorgeworfen vier Diebstähle an Kameraden begangen zu haben. Der Kompaniekommandant sollte zur Persönlichkeit des Angeklagten aussagen, da diesem kein Diebstahl zuzutrauen sei. Das RKG stellte dazu in seinem Urteil fest, dass es sich bei Aussagen eines Vorgesetzten nicht um bloße Werturteile oder Vermutungen handle, sondern um Tatsachen. Da der Antrag auf Vernehmung des Vorgesetzten in der Hauptverhandlung nicht behandelt wurde, gab das RKG der Revision statt.305 Hier formuliert das RKG deutlich die Grundlage für die verhängnisvolle Praxis der NS Militärjustiz, die Schuld eines Täters nicht anhand des Tatbestandes einer Norm, sondern anhand der Täterpersönlichkeit zu beurteilen. Die Beurteilung der Täterpersönlichkeit hing dabei wesentlich davon ab, welches Zeugnis einem Angeklagten von seinen Vorgesetzten ausgestellt wurde.

Zur Frage der Strafart führte der I. Senat am 16. September 1937 aus, dass bei im Gesetz alternativ vorgesehener Gefängnis-, Zuchthaus- oder Festungshaft letztere nur dann in Frage komme, wenn sich die abzuurteilende Tat nicht gegen das Wohl des Volkes richte und ausschließlich auf ehrenhaften Beweggründen beruhe.306 Zur Besetzung des Gerichts führte der I. Senat in einem Urteil vom 6. Jänner 1938 aus, dass bei einer Neuverhandlung der Gerichtsherr jenes Gerichts, an das eine Sache zurückverwiesen wurde, nicht einen anderen Gerichtsherrn um Übernahme des Verfahrens ersuchen kann. Es bestehe allerdings die Möglichkeit, die Zuweisung einzelner Personen zum

300 vgl RKG 9.7.1937, RevL II 45/37; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 74 ff. 301 vgl RGBl I 1934/769. 302 vgl RKG 11.3.1937, WL I 1/37; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 26 ff. 303 vgl RGBl II 1926/23. 304 vgl RKG 1.4.1937, RevL I 8/37; BArch, RW 60/2038, Bl 31 ff; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 30 ff. 305 vgl RKG 15.4.1937, RevL I 13/37; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 48 ff. 306 vgl RKG 16.9.1937, RevL I 122/36; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 97 f; ebenso RKG 8.11.1938, RevL II 129/38; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 191 f; RKG 10.8.1939, RevL I 111/39; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 19 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 81/226 zuständigen Gericht zu beantragen. Der Einsatz von Richtern, die bereits an der ersten Verhandlung beteiligt waren, wurde als unzulässig abgelehnt.307

Basierend auf der NS Rechtsideologie stellten sich Landesverräter selbst außerhalb der Gesellschaft und damit des Rechts. Von 1937 bis Mai 1939 wurden insgesamt 15 Todesurteile basierend auf §§ 80 ff RStGB verhängt und durch Enthaupten vollzogen. Innerhalb der Wehrmacht wurden diese Urteile in Mitteilungsblättern und Verlautbarungen bekanntgemacht, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Im Rahmen der Tätigkeit als Revisionsgericht wurde eine Reihe von Entscheidungen gefällt, die sich mit der Verbindlichkeit von Befehlen und der Gehorsamspflicht beschäftigten. Gem §§ 92 ff MStGB war für Taten, die im Felde begangen wurden, die Todesstrafe möglich. Eine nachlässige oder zögernde Ausführung von Befehlen war im Kriegsfall aber keineswegs außergewöhnlich, weshalb die Auslegungen dieser Tatbestände durch das RKG große Bedeutung für die Urteile der Kriegsgerichte während des Zweiten Weltkriegs erlangen sollten. Während das Reichsmilitärgericht noch eine Demonstrationsabsicht forderte, um den Tatbestand als gegeben anzunehmen, schloss das RKG diesen subjektiven Tatbestand weitgehend aus. Lediglich der Sinn des Verhaltens sollte berücksichtigt werden. Weiter wurde festgestellt, dass auch Befehle, die gegen die militärischen Dienstvorschriften verstießen, rechtmäßig sein konnten. Der Gehorsamspflicht wurde Vorrang gegenüber der Rechtmäßigkeit eines Befehls eingeräumt. Ein Prüfungsrecht des Untergebenen wurde abgelehnt. Die Aufrechterhaltung der Schlagkraft des Heeres war den NS Rechtstheoretikern wichtiger als die Einhaltung der Rechtsordnung, des Strafrechts miteingeschlossen. Das RKG folgte mit seiner Argumentation dabei einer Tradition aus der Kaiserzeit, die für dienstliche Befehle keine rechtlichen Grenzen anerkannte.308

So verurteilte der Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG den Funker F am 13. April 1937 gem § 83 RStGB wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens unter Annahme eines minder schweren Falles zu zwei Jahren Gefängnis, wobei eine achtmonatige Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet wurde. F wurde in einem deutschnationalen Elternhaus erzogen und trat als Jugendlicher dem NS Schülerbund bei. Innerhalb der NSDAP schloss er sich zunächst dem aus seiner Sicht sozialistisch geprägten Flügel um Ernst Strasser an. 1931 verließ er den NS Schülerbund und schloss sich der Kampfgemeinschaft revolutionärer Nationalsozialisten, der späteren Schwarzen Front, an. Aus dieser trat er aber bereits Ende 1932 wieder aus. Im Mai 1933 trat F der SA bei und betätigte sich als Schulungsleiter der NS Studentenschaft. Durch die Lektüre politischer Werke wandelte sich seine Einstellung hin zum Kommunismus. Darin wurde er durch einen Freund bestärkt, der ihn aufforderte in der Studentenschaft in kommunistischem Sinne zu wirken. In Hamburg kam F mit dem KPD Mitglied H zusammen, mit dem er sich regelmäßig austauschte. Ab 1935 nahm er mit H und anderen an Gesprächsrunden teil, in denen kommunistische Ideen diskutiert wurden. Dabei wurden ein Sturz des Nationalsozialismus mit Gewalt als einzige Lösung angesehen und Flugblätter unter Beteiligung von F hergestellt. Nach der Verhaftung eines Mitglieds dieser Gruppe unterstützte F dessen Ehefrau mit fünf Reichsmark. Nach einer Freiwilligenmeldung leistete F ab 28. September 1935 Wehrdienst in einer Nachrichtenabteilung des Heeres, wodurch er unter die Jurisdiktion der Wehrmachtsjustiz fiel. F selbst gab an, immer im nationalen Sinne gehandelt zu haben und sich innerlich im Lauf der Zeit wieder von der Gruppe um H abgewandt zu haben. Das RKG schenkte diesen Ausführungen Glauben und nahm daher einen minder schweren Fall gem § 84 RStGB an.309

307 vgl RKG 6.1.1938, RevL I 159/37; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 129 ff. 308 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 56 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 588 ff. 309 vgl RKG 13.4.1937, StPL (HLS) 8/1937; BArch, RW 60/2038, Bl 1 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 82/226

Am 7. Mai 1937 verurteilte der Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG Oberstleutnant K gem § 90d RStGB wegen Preisgabe von Staatsgeheimnissen zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis. Eine neunmonatige Untersuchungshaft wurde auf die Strafe angerechnet. K erzählte 1935 dem in die Niederlande emigrierten E während eines Deutschlandbesuchs in einer Gastwirtschaft, dass er sich in einem Artillerieausbildungslehrgang befinde, an dem reaktivierte Offiziere und Offiziere der Landespolizei teilnähmen. K erzählte weiter, dass er in Breslau eine schwere Artillerieabteilung aufstellen sollte, und erklärte dabei auch die Struktur und Ausrüstung der Ausbildungsstäbe, seines zukünftigen Korps und des Heeres allgemein. In den Niederlanden verfasste E einen Bericht über die von K erhaltenen Informationen und übergab ihn an einen kommunistischen Funktionär. Das RKG schenkte den Ausführungen von K, dass er die Aussagen leichtfertig getätigt habe, ohne an die Konsequenzen zu denken, und nicht mit einer Weitergabe der Informationen durch E gerechnet habe, insoweit Glauben und nahm eine fahrlässige Gefährdung des Wohles des Reiches an.310

Am 21. Mai 1937 verurteilte der Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG den Schützen P gem § 92 Abs 2 RStGB iVm § 138 MStGB und § 242 RStGB wegen Ausspähung von Staatsgeheimnissen und militärischen Diebstahls zu sechs Jahren Zuchthaus und zu fünfjährigem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Eine achtmonatige Untersuchungshaft wurde auf die Strafe angerechnet. P war gebürtiger Litauer und nahm 1929 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Am 1. November 1935 wurde er zum Infanterieregiment 43 eingezogen, von wo er am 30. September 1936 regulär entlassen wurde. Während seines Wehrdienstes erhielt P mehrmals Urlaub in Tilsit. Dort besorgte er sich vom Polizeidirektor eine Grenzkarte, mit der er nach Litauen zu seinen Eltern reiste. Bei einer dieser Fahrten mit dem Fahrrad kam er 1936 mit einem Mann ins Gespräch, den er vom Sehen her kannte. Dabei verabredeten sie eine gemeinsame Rückfahrt. Bei dieser tranken beide mehrere Stunden in einer Gastwirtschaft in Tilsit. Dort erzählte P seinem Reisegefährten auf dessen Nachfrage einige Details zu seiner militärischen Verwendung und Dienststelle. Der Begleiter forderte P in weiterer Folge auf, Ausrüstungsgegenstände, Handgranaten und Vorschriften an ihn zu senden. 1936 wurde P bei einer Fahrt von einem litauischen Grenzbeamten auf die Ereignisse angesprochen und nach weiteren Informationen über die Wehrmacht gefragt. Der Grenzbeamte bot P 150 Reichsmark pro Monat, wenn P regelmäßig Informationen über die im Grenzgebiet stationierten Wehrmachtseinheiten liefern würde. Tatsächlich gab P Informationen über eine 1936 geplante Truppenübung und Unterlagen, die er in zwei Briefen im Wachlokal gefunden hatte, an seinen Bekannten weiter. Ein Schreiben vom 20. August 1936 wurde allerdings von der Gestapo abgefangen, die nun den Postverkehr von P überwachte. Daraufhin wurde P festgenommen und vor dem RKG angeklagt.311

Der Gefreite K wurde am 9. Juni 1937 vom Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG gem §§ 88 f RStGB wegen Landesverrats zum Tode und gem §§ 69 f MStGB wegen Fahnenflucht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Gleichzeitig wurde Dienstentlassung, Wehrunwürdigkeit und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte ausgesprochen. K trat am 7. April 1934 freiwillig in die Wehrmacht ein. Im Mai 1935 erhielt er eine Disziplinarstrafe von drei Tagen gelindem Arrest. Während eines Urlaubes fasste K am 21. Jänner 1936 den Entschluss, in die Tschechoslowakei zu gehen. Dabei wurde er am 22. Jänner 1936 von einem tschechischen Zollbeamten aufgegriffen und am 23. Jänner 1936 der Gendarmerie übergeben. Dort gab K an, aus Angst vor Bestrafung wegen falscher Angaben zu seinen Schulden und aus Unzufriedenheit mit der NS Führung der Wehrmacht in die Tschechoslowakei gegangen zu sein. Darüber hinaus gab er bei einer Befragung durch den tschechischen Beamten N auch Auskünfte zu Struktur und Ausbildung seiner Nachrichtenabteilung. Anfang Februar 1936 wurde

310 vgl RKG 7.5.1937, StPL (HLS) 9/1937; BArch, RW 60/2038, Bl 20 ff. 311 vgl RKG 21.5.1937, StPL (HLS) 10/1937; BArch, RW 60/2038, Bl 61 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 83/226 er aus der Haft entlassen. In der Folgezeit erhielt K rund 350 bis 400 Tschechische Kronen von N. Dafür sollte K Kontakt zu Bekannten in der Wehrmacht herstellen. Am 3. März 1936 wurde er neuerlich von den tschechischen Behörden verhaftet und am 10. März 1936 nach Österreich abgeschoben. In Klagenfurt erhielt er den Auftrag nach Ungarn zu gehen, wo er verhaftet und nach zehn Tagen in die Tschechoslowakei abgeschoben wurde. Von dort gelangte er nach einer weiteren zehntägigen Haft wieder nach Österreich, von wo er schließlich am 5. September 1936 nach Deutschland abgeschoben wurde. Am 16. Oktober 1936 erließ der Präsident des RKG einen Haftbefehl gegen K wegen des dringenden Verdachts des Landesverrats.312

Der Gefreite H wurde am 28. Mai 1937 vom Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG gem § 90c RStGB wegen Ausspähung von Staatsgeheimnissen zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Eine elfmonatige Untersuchungshaft wurde auf die Strafe angerechnet. Seit 1. Oktober 1934 leistete H freiwillig Wehrdienst in einem Infanterieregiment. Ein Jahr später wurde er zum Gefreiten befördert. Als H im April 1936 eines Abends seine Verlobte nach Hause brachte, traf er dort deren Bruder J und den Waldarbeiter A, der Kontakte zum polnischen Nachrichtendienst hatte. A bot H Geld an und überredete ihn, mit ihm nach Polen zu kommen. Dort trafen sie sich mit einem polnischen Agenten, dem H Auskünfte über Stärke, Bewaffnung und Ausrüstung in seiner Garnison gab. Der Agent forderte H auf, ihm einen Feldstecher und ein Feldtelefon zu besorgen, und händigte ihm dafür 100 Reichsmark aus. H besorgte zwar nicht die gewünschte Ausrüstung, lieferte dem Agenten aber Informationen zu seinem Bataillon. In weiterer Folge erhielt er noch mehrmals Geld und Aufträge zur Beschaffung von Material und Informationen. Nachdem A verhaftet worden war, verriet er H, der daraufhin am 28. Juni 1936 ebenfalls festgenommen wurde. In der Hauptverhandlung verteidigte sich H damit, dass er dem polnischen Agenten ohnehin nur falsche Informationen liefern wollte. Das RKG gestand H zwar zu, keine korrekten Informationen an den polnischen Nachrichtendienst geliefert zu haben, allerdings wurden bereits der regelmäßige Kontakt und das Liefern von Informationen, die im Fall ihrer Richtigkeit Staatsgeheimnisse gewesen wären, als Verstoß gegen § 90c RStGB angesehen. Am 11. August 1936 wurde H aus dem Wehrdienst entlassen.313

Ein weiteres Urteil gem §§ 88 f RStGB wegen Landesverrats fällte der Senat für Hoch- und Landesverratssachen am 18. Juni 1937 gegen den Schirrmeister O. Am 1. Oktober 1927 rückte O freiwillig zur Reichswehr ein. Seit 1. Dezember 1935 war er Schirrmeister. Während eines ungenehmigten Ausflugs in die Tschechoslowakei wurde er am 12. Juli 1934 festgenommen und an zwei Beamte des tschechischen Nachrichtendienstes übergeben. Während einer Befragung erklärte sich O unter Drohungen bereit, Angaben über die deutsche Wehrmacht zu machen. Am Ende der Befragung verpflichtete er sich, im Dezember 1934 wieder zu einer Aussprache in die Tschechoslowakei zu kommen. Tatsächlich fand das nächste Treffen erst im Jänner 1935 statt. Weitere Treffen folgten im Oktober 1935, am 25. Dezember 1935 und am 11. April 1936. Für seine Tätigkeit erhielt O 580 Reichsmark und 150 Tschechische Kronen. Am 3. Juni 1936 wurde er festgenommen und am 12. März 1937 aus dem aktiven Wehrdienst entlassen. Das Urteil gegen O lautete auf Todesstrafe.314

Gem § 69 MStGB konnte Fahnenflucht ua begangen werden, indem man seiner Einheit in der Absicht fernblieb, dass das Dienstverhältnis aufgelöst wird. Die faktische Möglichkeit dazu, sollte lt RKG keine Rolle spielen. Bei einem Soldaten, der sich mehrmals ärztlich behandeln ließ und dies der Wehrmacht auch mit dem Zusatz, dass er keine Fahnenflucht begehen wolle, mitteilte, wurde verurteilt, weil das

312 vgl RKG 9.6.1937, StPL (HLS) 12/37; BArch, RW 60/2038, Bl 86 ff. 313 vgl RKG 28.5.1937, StPL (HLS) 11/1937; BArch, RW 60/2038, Bl 107 ff. 314 vgl RKG 18.6.1937, StPL (HLS) 13/1937; BArch, RW 60/2038, Bl 118 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 84/226

RKG die innere Einstellung als entscheidend beurteilte und annahm, er wolle die Auflösung des Dienstverhältnisses erreichen. Auch hier wurde die subjektive Tatseite weitgehend ausgeblendet.315

Ein Soldat wollte mit Waffengewalt ein Taxi in seine Gewalt bringen, um sich damit nach Frankreich abzusetzen. Dem Taxifahrer gelang es aber, durch abruptes Bremsen den Soldaten abzulenken, aus dem Wagen zu springen und zu flüchten. Der Soldat wurde kurz darauf festgenommen und vor dem Senat für Hoch- und Landesverratssachen des RKG angeklagt. Der angeklagte Soldat wurde vom RKG am 13. März 1939 wegen Straßenraubs mittels Autofallen verurteilt.316 Ausführungen zu einer wahrscheinlichen Verurteilung wegen Fahnenflucht sind in den vorliegenden Quellen nicht enthalten.

Als G am 26. März 1939 nach zweistündigem Streifendienst in die Wachstube kam, sah er im Wachbuch, dass er von zwei bis vier Uhr früh im Anschluss an seine Wache als Stellvertreter des Wachhabenden eingeteilt war. Darüber beschwerte er sich beim Wachhabenden, der ihn zurechtwies und den Vorfall dem Kompaniekommandanten meldete. Der Kompaniekommandant S erklärte, er werde dafür sorgen, dass G in eine Sonderabteilung versetzt werde. Aus Angst vor dieser Versetzung entfernte sich G mit einem Motorrad vom teilweise nicht umzäunten Kasernengelände. Auf dem Weg in die nächstgelegene Stadt ließ er sich von einem Lastkraftwagen mitnehmen. Während dieser Fahrt erschoss er den Fahrer, um selbst mit dem Lastkraftwagen die Flucht fortzusetzen. Der Senat für eininstanzliche Sachen verurteilte G am 1. April 1939 wegen Fahnenflucht iVm Wachvergehen, militärischem Diebstahl und Verbrechen gegen das Gesetz gegen Straßenraub mittels Autofallen.317

In einem Revisionsurteil vom 15. August 1939 bestätigte der II. Senat des RKG das Urteil eines Oberkriegsgerichts gem § 143 RStGB wegen Beihilfe zur Wehrdienstentziehung. Der Angeklagte war Sachbearbeiter eines Wehrmeldeamtes. Ein Freund wurde der Luftwaffe zugeteilt, obwohl er Dienst bei der Panzertruppe des Heeres leisten wollte. Daraufhin entfernte der angeklagte Sachbearbeiter den Stempelaufdruck L, der den Wehrpflichtigen als Angehörigen der Luftwaffe auswies, im Wehrstammbuch seines Freundes und ersetzte ihn durch den Aufdruck H für Heer. Das RKG erkannte darin eine Wehrdienstentziehung, da sich ein Wehrpflichtiger zu jeder Dienstleistung, für die er geeignet ist, bereitzuhalten habe. Den in der Revision erhobenen Einwand, es läge keine Wehrdienstentziehung vor, da der Wehrdienst nur bei einem anderen Truppenteil geleistet werden sollte, wies das RKG ab.318

Auch das Delikt der Wehrkraftzersetzung erlangte im Zweiten Weltkrieg große Bedeutung. Eine wesentliche Ausprägung war die Vermeidung des Wehrdienstes durch Vortäuschen einer Krankheit. Vor Einführung der KSSVO war dieser Unterfall in § 83 MStGB enthalten. Als Strafrahmen war für Taten im Felde die Todesstrafe oder Zuchthaus vorgesehen. Die KSSVO drohte später grundsätzlich die Todesstrafe an. In einem Fall wurde eine Krankheit vorgetäuscht, und der Soldat erklärte beim folgenden Strafexerzieren, dass er erschöpft sei. Das RKG nahm daraufhin ein Dauerdelikt an und brachte § 83 MStGB zur Anwendung. Der Zweck des § 83 MStGB lag in der Aufrechterhaltung der Vollständigkeit und damit Schlagkraft der Einheiten. Er eignete sich daher gut für die Anwendung der NS Gemeinschaftsideologie. Die Urteilsfindung hatte sich immer am Wohl der Gemeinschaft zu orientieren.319 Auch eine falsche Darstellung des Gesundheitszustandes durch Übertreibung der

315 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 137 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 58. 316 vgl RKG 13.3.1939, StPL (HLS) 20/39; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 232 ff. 317 vgl RKG 1.4.1939, StPL 31/39; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 241 ff. 318 vgl RKG 15.8.1939, RevL II 109/39; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 21 ff. 319 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 58 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 85/226 medizinisch festgestellten Tatsachen wurde in einem Urteil des I. Senats als Verstoß gegen § 83 MStGB gewertet.320

Seit Februar 1937 wurden wesentliche Entscheidungen des RKG vom Oberkommando des Heeres (OKH) an die Oberstkriegsgerichtsräte verteilt, um den Gerichten wichtige Rechtsgrundsätze bekanntzumachen. Darin enthalten war auch die Rechtsprechung des RKG zum Missbrauch der Dienstgewalt. Das RKG bezog dabei klar Stellung gegen unwürdige oder erniedrigende Befehle ohne Bezug zum militärischen Dienstbetrieb. So wurde zB ein Urteil des Oberkriegsgerichts Münster der Luftwaffe aufgehoben, in dem ein Befehl zum Kriechen unter die Betten und Nachahmen von Tierstimmen als rechtmäßig eingestuft wurde. Der neue NS Schuldbegriff, der den Gemeinschaftsgedanken und die militärische Disziplin über die Einzelfallbewertung stellte, trat neben das Bestreben einer korrekten Behandlung der Soldaten. Dieser anscheinende Widerspruch entsprach der NS Ideologie, die das Standesdenken des alten Offizierskorps überwinden wollte. So mussten auch ab Dezember 1937 den Soldaten, die als Beisitzer in Prozessen fungierten, rechtzeitig vorab eine Abschrift der Anklageverfügung und der Anklageschrift zugestellt werden.321

Der Mechanikermaat P wurde von einem Oberkriegsgericht wegen Misshandlung eines Untergebenen freigesprochen, nachdem P dem Matrosen L während einer Übung einen Fußtritt versetzt hatte, weil L Öl für Torpedos verschüttet hatte. Der II. Senat des RKG hob dieses Urteil auf. Zwar gestand das RKG zu, dass aufgrund des lauten Umfeldes beim Dienst an Torpedos oftmals eine Berührung von Untergebenen notwendig sei, um auf Befehle oder Gefahren aufmerksam zu machen. Im konkreten Fall hätte aber auch eine Berührung mit der Hand gereicht. Der Fußtritt sei daher jedenfalls erniedrigend gewesen und als Misshandlung zu werten.322 Währende eines Fußballspiels am 20. Juli 1937 versetzte der Unteroffizier S dem Panzeroberschützen B einen Faustschlag in den Magen, nachdem B ihm zweimal in Folge den Ball abgenommen hatte. Das Oberkriegsgericht verurteilte S wegen leichter Körperverletzung während des Dienstes. Der II. Senat des RKG vertrat in seinem Urteil vom 15. Februar 1938 auch hier die Ansicht, es handle sich um die Misshandlung eines Untergebenen, da es nicht, wie vom Oberkriegsgericht angenommen, relevant sei, ob der Vorgesetzte zum Zeitpunkt der Tat an seine Vorgesetzteneigenschaft gedacht habe oder nicht, und hob das Urteil des Oberkriegsgerichtes im Strafausspruch auf. Der Schuldspruch wurde bestätigt, die zu Grunde liegende Norm vom RKG selbst korrigiert.323

b) Urteile wegen Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen

Nach Kriegsbeginn verfügte das RKG über die Zuständigkeit zur Entscheidung über Hoch-, Landes- und Kriegsverrat sowie über Wehrkraftzersetzung gem § 5 KSSVO allerdings mit Ausnahme des Feldheeres und der schwimmenden Verbände der Kriegsmarine. Mit der siebten DVO zur KStVO vom 18. Mai 1940324 wurde die Zuständigkeit auf Fälle des § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO eingegrenzt. Darüber hinaus urteilte das RKG aber auch über Wehrdienstverweigerer aus religiösen Gründen. Die Gerichtsherren der eigentlich zuständigen Gerichte mussten gem Erlass vom 18. Mai 1940325 das RKG um Übernahme des Verfahrens ersuchen. Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen wurde von Angehörigen aller Glaubensrichtungen begangen. Eine besondere Stellung nahmen

320 vgl RKG 3.11.1938, RevL I 124/38; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 138 f. 321 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 32 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 59 f; Walter, Schnelle Justiz, in Manoschek 27 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 40. 322 vgl RKG 15.2.1938, RevL II 113/37; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 137 f; VUA, RKG K25 39/4/34. 323 vgl RKG 15.2.1938, RevL II 116/37; RKG (Hrsg), Entscheidungen I 138 ff. 324 vgl RGBl I 1940/89; BArch, R 3001/22290, Bl 307 ff; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24. 325 vgl HVBl (C) 1940/635; BArch, R 3001/22290, Bl 627. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 86/226 diesbezüglich aber die Ernsten Bibelforscher, besser bekannt als Zeugen Jehovas, ein. Bei rund 70 Millionen Deutschen gab es 1933 nur ca 20.000 bis 30.000 Zeugen Jehovas. In Österreich betrug ihre Zahl beim Anschluss 1938 rund 550. Ihr Anteil an den wegen Wehrdienstverweigerung zum Tode Verurteilten war allerdings überproportional hoch. Nach Schätzungen wurden rund 600 bis 1.000 aufgrund eines Urteils hingerichtet, weitere 1.000 starben in KZ und anderen Vollzugseinrichtungen. Hitler selbst soll lt General Heitz angeordnet haben, dass ihnen keine Sonderstellung zukomme. Die Zeugen Jehovas lehnten den Kriegsdienst konsequent ab. Einige begingen Fahnenflucht, andere verweigerten den Wehrdienst offen. Todesurteile wurden mit der Gefahr der Werbekraft eines solchen Verhaltens begründet. Die Wehrdienstverweigerung wurde unter § 5 Abs 1 Z 3 KSSVO als Wehrkraftzersetzung subsumiert. Danach beging Wehrkraftzersetzung, wer es unternahm, sich dem Wehrdienst ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen. Darüber hinaus bestimmte § 48 MStGB, dass die Strafbarkeit nicht durch eine Berufung auf das Gewissen oder Vorschriften einer Religion ausgeschlossen werde. Vor Einführung der KSSVO existierte kein eigner Tatbestand der Kriegsdienstverweigerung. Wurde der Fahneneid verweigert, erfolgte eine Verurteilung wegen Gehorsamsverweigerung oder Fahnenflucht. Beide Tatbestände waren nicht mit dem Tod bedroht. Auch auf Basis der KSSVO konnte in minderschweren Fällen von der Todesstrafe abgesehen und auf eine Freiheitsstrafe erkannt werden. Selbst Hitler hatte in seinen Richtlinien für die Strafzumessung 1940 eine mildere Bestrafung vorgesehen, wenn keine unehrenhaften Beweggründe vorlagen. Das RKG machte von diesen Möglichkeiten allerdings kaum Gebrauch, sondern urteilte auf Basis der Ideologie der NS Volksgemeinschaft mit dem Ziel, die Wehrkraft zu schützen.326

Kriegsdienstverweigerung stellte in den Augen der nationalsozialistischen Militärjustiz ein schweres Verbrechen dar, das seit 1939 mit Todesstrafe bedroht war. Gegen Zeugen Jehovas, die den Wehrdienst regelmäßig aus Gewissensgründen verweigerten, verhängte Todesurteile wurden zu 70% auch vollstreckt. Die Ziele, die die Wehrmachtsjustiz mit dieser drakonischen Strafpraxis verfolgte, waren die Disziplinierung der Soldaten und die Vermeidung des Vorwurfs, wie nach dem Ersten Weltkrieg bei der Aufrechterhaltung der Kampfkraft der Armee versagt zu haben.327

Als rechtliche Grundlage für die Verurteilung von Kriegsdienstverweigerern diente § 5 KSSVO. Das MStGB enthielt kein Verbot der Wehrdienstverweigerung. Um diesem Tatbestand begegnen zu können, mussten die Gerichte auf die im MStGB enthaltenen Bestimmungen zu Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung zurückgreifen. Für Fahnenflucht war in § 70 MStGB allerdings nur eine Strafe von sechs Monaten bis zwei Jahren vorgesehen, im Falle einer Wiederholung erhöhte sich der Strafrahmen auf bis zu zehn Jahre. Die Todesstrafe kam gem § 71 Abs 2 MStGB nur in Betracht, wenn die Tat im Feld, dh während eines Kriegseinsatzes, wiederholt begangen wurde, aber auch dann nur wenn bereits die erste Tat im Feld stattgefunden hatte. Mit der Einführung der KSSVO im Jahr 1939 fiel das Delikt der Wehrdienstverweigerung nun unter den Tatbestand des § 5 KSSVO

326 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 275 ff; Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Garbe in Bade/Skowronski/Viebig 196; Garbe, „Du sollst nicht töten“. Kriegsdienstverweigerer 1939-1945, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 87 f; Gribbohm, RKG Rz 45 f; Haase, Fahnenflucht 49 ff; Haase, RKG 13 f; Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1131 f); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 95 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 110 f; Moos in Kohlhofer 105 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 115 f; Walter, Standhaft bis in den Tod. Die Zeugen Jehovas und die NS-Militärgerichtsbarkeit, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 343 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 160 ff; aA Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 192 ff. 327 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 27 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 32 ff; Haase, Fahnenflucht 69; Haase, RKG 13 f; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 17 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 50; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114; Walter, Zeugen Jehovas, in Manoschek 346 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 87/226

Zersetzung der Wehrkraft. Dieser sah nun grundsätzlich die Todesstrafe vor. In minderschweren Fällen konnte auch auf eine Freiheitsstrafe erkannt werden.328

Zwischen 26. August 1939 und 30. April 1940 fällte das RKG lt einem Bericht von Admiral Bastian an den Chef OKW Keitel gegen 291 Angeklagte 100 Todesurteile, davon 63 gegen sog Ernste Bibelforscher. 49 mal wurde auf eine Zuchthaus- und 142 mal auf eine Gefängnisstrafe erkannt. Ende September 1940 waren bereits 112 Todesurteile wegen Wehrdienstverweigerung vollzogen. Dies entsprach 20% aller Todesurteile. In den Richtlinien für die Strafzumessung bestimmte das RKG, dass aufgrund der propagandistischen Wirkung des Verhaltens gegen hartnäckige Überzeugungstäter im Normalfall die Todesstrafe zu verhängen sei. Bastian unterstützte parallel zur drakonischen Urteilspraxis auch Versuche, Bibelforscher von ihrer Verweigerung abzubringen. Am 30. Mai 1940 teilte er dem Chef OKW mit, dass die Massenverweigerung von Bibelforschern zurückgegangen sei. Dennoch wurde die angenommene propagandistische Wirkung ihres Verhaltens zur Begründung von Todesurteilen herangezogen.329

Wehrdienstverweigerung kam zwar auch in anderen Armeen vor, allerdings wurden in den westlichen Demokratien deswegen keine Todesurteile gefällt. In der Wehrmacht wurde die Verweigerung allerdings als politischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus und Hitler interpretiert. Bastian und andere Militärjuristen behaupteten nach dem Krieg, sie hätten unabhängig entschieden und jede politische Bindung abgelehnt. Abschreckungsurteile seien niemals gefällt worden. Diese Aussage widerspricht allerdings den Richtlinien für die Strafzumessung des RKG und der tatsächlichen Urteilspraxis. Bedeutsam wurde dies, weil die Rechtsprechung des RKG für die gesamte Wehrmachtsjustiz bindend war und die politische Konformität der Richter zu einer hohen Zahl von Todesurteilen führte. Von 26. August 1939 bis 7. Februar 1945 wurden 251 Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung vollzogen. 1941 fällte der zweite Senat des RKG 120 Urteile gegen Bibelforscher, 108 sonstige Urteile wegen Wehrkraftzersetzung und 117 Urteile wegen Landesverrats. In 120 Fällen wurde die Todesstrafe verhängt. Bibelforscher wurden als hartnäckige Überzeugungstäter eingestuft. Das NS Regime wurde in Veröffentlichungen der Zeugen Jehovas als Teufelsherrschaft und Hitler als Antichrist bezeichnet. Dadurch wurden die Angehörigen der Religionsgemeinschaft von den NS Machthabern als Ganzes als Staatsfeinde eingestuft.330

Am 4. Jänner 1944 entschied der II. Senat des RKG unter Senatspräsident Lueben gegen Franz Saumer, da er es ablehne das deutsche Volk in seinem Daseinskampf zu unterstützen. Saumer hatte den Wunsch geäußert, aus der Volksgemeinschaft auszuscheiden, und berief sich auf das Gebot, du sollst nicht töten. Der Senat stellte fest, dass der Angeklagte auch wegen der Werbekraft seines Verhaltens keine Milde verdiene und ein abschreckendes Urteil nötig sei. Der Angeklagte wurde zum Tode verurteilt, und es wurden ihm die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Das Urteil wurde bestätigt

328 vgl Garbe in Haase/Paul 87 f; Haase, RKG 13 f; Klausch, 500 15; Moos in Kohlhofer 105 ff; Walmrath, Iustitia 171 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 115. 329 vgl VUA, RKG K61 39/14/15; VUA, RKG K65 39/13/17; Garbe in Bade/Skowronski/Viebig 200; Gribbohm, RKG Rz 194 ff; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (390 f); Klausch in Baumann/Koch 79; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 97 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 71; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114; Wüllner, NS-Militärjustiz2 518 ff. 330 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 30 f; Gribbohm, RKG Rz 196; Haase, RKG 13; Haase in Haase/Oleschinski2 49; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (389); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1131); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 98 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 109; Viebig/Skowronski in Kirschner 177; Walter, Zeugen Jehovas, in Manoschek 351; die Unabhängigkeitsthese unterstützend Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 10 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 88/226 und am 4. Februar 1944 vollzogen. Ähnlich argumentierte der I. Senat unter Senatspräsident Neumann im Urteil gegen Peter W. Auch hier wurde die Todesstrafe verhängt.331

Der Österreicher Franz Zeiner trat den Zeugen Jehovas 1933 bei und befolgte 1940 mit dem Hinweis, dass Gott verbiete zu töten und er als wahrer Christ keine Waffe tragen könne, seinen Einberufungsbefehl nicht. Obwohl er vom Wehrmeldeamt auf die drohenden Folgen hingewiesen wurde, blieb er bei seiner Weigerung. Daraufhin wurde er vom RKG aufgrund seiner Hartnäckigkeit und Unbelehrbarkeit gem § 5 Abs 1 Z 3 KSSVO mit der Todesstrafe belegt.332 Der Wiener Bibelforscher Franz Oswald wurde 1942 zum Afrikaschützenregiment 962, einem Verband der Bewährungstruppe 999, einberufen und verweigerte dort die Wehrdienstleistung. Er wurde am 6. April 1943 vom RKG zum Tode verurteilt.333 Der Oberösterreicher Franz Mattischek verweigerte nach seiner Einberufung 1938 als Zeuge Jehovas den Eid auf Hitler und wurde dafür zunächst zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Nach Verbüßen seiner Haftstrafe wurde er erneut einberufen und verweigerte abermals den geforderten Eid. Diesmal wurde er vom RKG am 10. November 1939 zum Tod verurteilt und am 2. Dezember 1939 in Berlin hingerichtet.334

Die Begründungen der Urteile waren dabei häufig sehr kurz gehalten, oft reichte bereits eine Seite. Vorbereitet wurden die Urteile durch Anklageverfügungen des ORKA, die vom Präsidenten des RKG mitunterschrieben wurden. Eine dieser Verfügungen vom 5. November 1943 gegen den Grenadier Adolf Z stellte fest, dass die Begründung seiner wehrfeindlichen Einstellung mit seiner Religion und seinem Gewissen seine Schuld nicht ausschließe. § 48 MStGB wurde angewendet. Eine Bestrafung nach § 5 Abs 1 Z 2 KSSVO wurde angeregt. Adolf Z wurde am 2. Dezember 1943 vom III. Senat des RKG zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 7. Jänner 1944 vollzogen. Am 27. Juni 1944 fällte der I. Senat ein Todesurteil gegen einen Soldaten, der den Eid aus biblischen Gründen ablehnte und sich zu den Zeugen Jehovas bekannte. Trotz einer guten Beurteilung durch seinen Kompaniekommandanten, der feststellte, dass keine wehrkraftzersetzenden Äußerungen gefallen seien, wurde das Todesurteil gefällt und nach der Bestätigung durch den Präsidenten des RKG am 7. Juli 1944 vollzogen.335

Das drakonische Vorgehen gegen Zeugen Jehovas wurde von Hitler ausdrücklich gebilligt. Das RKG leistete mit seinen Urteilen dazu einen maßgeblichen Beitrag. In einigen Fällen versuchte Admiral Bastian allerdings auch, eine Begnadigung zu erreichen. Durch die Vorlage dieser Vorschläge an den Chef WR Lehmann und in weiterer Folge an den Chef OKW Keitel wurde die Situation auch bei Besprechungen mit Hitler thematisiert. Hitler sprach sich für ein rigides Vorgehen aus. Dies wurde den Gerichten auf Weisung Keitels am 1. Dezember 1939 mitgeteilt. Eine Strafmilderung wurde aufgrund der behaupteten gefährlichen Werbekraft abgelehnt. Gem einem Urteil des III. Senats vom 3. Mai 1940 sollte eine Strafmilderung vom Standpunkt der Allgemeinheit und Kriegsnotwendigkeit aus beurteilt werden. Individuelle Gesichtspunkte blieben unberücksichtigt. Am 10. Juni 1940 bestätigte

331 vgl Haase, RKG 14; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (394 f); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1132); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 100 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 33 f; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 100. 332 vgl RKG 22.6.1940, StPL (HLS) III 68/40; DÖW, Franz Zeiner (1909 - 1940), https://www.doew.at/erinnern/fotos-und- dokumente/1938-1945/aufrechterhaltung-der-manneszucht/franz-zeiner-1909-1940#reichskriegsgericht (abgefragt am 8.5.2018); Haase, Fahnenflucht 54 f. 333 vgl RKG 6.4.1943, StPL (HLS) IV 26/43; Haase, Fahnenflucht 54 f. 334 vgl DÖW, Franz Mattischek (1915 - 1939), https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938- 1945/aufrechterhaltung-der-manneszucht/franz-mattischek-1915-1939#reichskriegsgericht (abgefragt am 8.5.2018). 335 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 101. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 89/226 der Chef OKW das harte Vorgehen der Wehrmachtsjustiz als im Sinne Hitlers und stellte fest, dass das RKG durch sein Wirken viel Gutes getan habe.336

Neben den Bibelforschern verweigerten auch einige Angehörige anderer Glaubensgemeinschaften den Wehrdienst. Sie stellten sich meist gegen ihre jeweilige Kirchenleitung, wodurch ihre Haltung eine zusätzliche politische Komponente bekam. Die Sonderstellung der Zeugen Jehovas resultiert daraus, dass sie als Religionsgemeinschaft kollektiv den Wehrdienst ablehnten. Die wohl bekanntesten Wehrdienstverweigerer außerhalb der Zeugen Jehovas waren Franz Jägerstätter, Pater Franz Reinisch und Josef Fleischer. RKA und RKG argumentierten ebenfalls mit der Gefährdung der Volksgemeinschaft.337

Franz Jägerstätter war ein Bauernsohn aus St. Radegund in Oberösterreich. Er vertrat den Standpunkt, dass die Lehre der Kirche den NS Staat nicht fördern dürfe. In einem Gespräch mit Jägerstätter resümierte der Linzer Bischof, die Politik gehe den Bürger nichts an. Jägerstätter blieb bei seiner kompromisslosen Haltung und wurde vor dem II. Senat des RKG unter Lueben angeklagt. Obwohl die Richter versuchten, ihn zu einer Änderung seiner Haltung zu überreden, erklärte er, dass er es nicht mit seinem religiösen Gewissen vereinbaren könne, für den NS Staat zu kämpfen. Aus christlicher Nächstenliebe wolle er aber als Sanitätssoldat dienen. Am 6. Juli 1943 wurde Franz Jägerstätter zum Tode und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Das Urteil wurde am 9. August 1943 vollzogen.338

Der Pallotiner Pater Franz Reinisch aus Feldkirch in Vorarlberg verweigerte den Fahneneid dem, der das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) geschaffen hatte. Er gab an, die Wehrmacht zu achten, diese werde aber von der Partei missbraucht. Seine Liebe zum deutschen Volk und zur Heimat zwinge ihn, den Nationalbolschewismus in der Heimat zu bekämpfen und dafür auch sein Leben einzusetzen. Das RKG stellte ausdrücklich fest, dass er sich mit seiner Haltung im Widerspruch zur Kirchenleitung befinde und von seiner Hartnäckigkeit eine gefährliche Werbekraft ausgehen könne, und verurteilte ihn am 7. Juli 1942 zum Tode. Das Todesurteil wurde am 21. August 1942 im Zuchthaus Brandenburg vollzogen.339

Josef Fleischer lehnte 1935 den Beamten- und 1937 den Fahneneid ab. 1938 erklärte er gegenüber der Gestapo, es müsse geklärt werden, ob sich ein Christ an einem modernen Krieg mit Massentötungen beteiligen dürfe. Schutzhaft und psychiatrische Behandlung folgten. Im April 1940 wurde er einberufen und kritisierte den Fahneneid. Nachdem Anklage erhoben wurde, versuchte ihn

336 vgl RKG 3.5.1940, StPL (HLS) III 25/40; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 63 f; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K61 39/14/15; Garbe in Bade/Skowronski/Viebig 201 ff; Garbe in Haase/Paul 90 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 30 f; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (391 f); Kern, Rechtsprechung, ZWehrR 1942/43, 137; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 101 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 34; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 110 ff; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 188; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 189 ff; Walter, Zeugen Jehovas, in Manoschek 351; Wüllner, NS-Militärjustiz2 355. 337 vgl Garbe in Haase/Paul 93 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 103; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 108; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 123 f; Walter, Zeugen Jehovas, in Manoschek 346 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 370 ff. 338 vgl DÖW, Ein katholischer Bauer, der nicht für Hitler kämpfen wollte: Franz Jägerstätter, https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/lob-des-ungehorsams/ein-katholischer-bauer-der-nicht-fuer- hitler-kaempfen-wollte-franz-jaegerstaetter#reichskriegsgericht (abgefragt am 8.5.2018); Garbe in Haase/Paul 94; Haase, Fahnenflucht 43; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 104; Moos in Kohlhofer 128 ff; Moos in Kohlhofer/Moos 65 f; Putz in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau 107; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 123 f. 339 vgl RKG 7.7.1942, StPL (HLS) III 70/42; DÖW, Franz Reinisch (1903 - 1942), https://www.doew.at/erinnern/fotos-und- dokumente/1938-1945/aufrechterhaltung-der-manneszucht/franz-reinisch-1903-1942#reichskriegsgericht (abgefragt am 8.5.2018); Garbe in Haase/Paul 94 f; Haase, Fahnenflucht 44 f; Haase, RKG 83; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 104 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 108 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 370 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 90/226 ein katholischer Militärgeistlicher im Gefängnis zur Aufgabe seiner Position zu bewegen. Die deutschen Bischöfe hatten die Eidleistung in den Dreißigerjahren als Akt der Gottesverehrung gebilligt. Fleischer hatte sich auch dagegen mit einer Eingabe an Papst Pius XI zur Wehr gesetzt. Pius XI bestätigte allerdings die Haltung der deutschen Bischöfe. Der I. Senat des RKG verurteilte Josef Fleischer am 16. Dezember 1940 und wies ihn auf unbestimmte Zeit in die Psychiatrie ein. Die RKA hatte ursprünglich die Todesstrafe gefordert.340

Der Bregenzer Gitarrenbauer Ernst Volkmann verweigerte den Fahneneid mit dem Hinweis auf seine religiös begründete Überzeugung, dass der Wehrdienst eine Vergewaltigung durch den Nationalsozialismus sei. Trotz mehrfacher psychiatrischer Behandlung blieb er bei seiner Weigerung. Daher verurteilte ihn das RKG am 7. Juli 1941 zum Tode. Das Todesurteil wurde am 9. August 1941 in Berlin Plötzensee vollzogen.341

Der Hilfsarbeiter Franz Z verweigerte den Wehrdienst vor dem Wehrmeldeamt Wien X mit dem Hinweis darauf, dass Gott verbiete zu töten. Als wahrer Christ könne er keine Waffen tragen und wolle den Willen Gottes erfüllen. Das RKG verurteilte ihn am 22. Juni 1940 zum Tode. Die Vollziehung erfolgte einen Monat später in Berlin Plötzensee.342

Ebenso verweigerte der Österreicher Anton Brugger aus religiösen Gründen die Ablegung des Fahneneides und wurde daher vom RKG am 5. Jänner 1943 wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt.343

Alfred Herbst war Baptist und trat aus der Gemeinde aus, weil Mitglieder die Kommunion in SA Uniformen verteilt hatten. Danach trat er einer freikirchlichen Gemeinde bei. Er verweigerte den Wehrdienst, weil er keine Feinde habe und kein Gewehr in die Hand nehme. Seinen Entschluss verstand er als Prüfung seines Glaubens. Versuche der Richter, ihn umzustimmen, blieben erfolglos. Am 25. Juni 1943 wurde er vom RKG zum Tode verurteilt. Die Verhandlung dauerte nur zwei Stunden.344

Hermann Stöhr war evangelisch und hatte bereits vor dem Krieg erklärt, dass neben dem Gottesgehorsam jede weitere Eidleistung, die unbedingten Gehorsam verlange, keinen Sinn habe. Nach seiner Einberufung zu einer Übung informierte er im März 1939 das Wehrbezirkskommando Stettin, dass er den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen ablehne. Ende September 1939 wurde aufgrund seiner Weigerung, der Einberufung nachzukommen, ein Haftbefehl erlassen. Stöhr wurde wegen Fahnenflucht auf Basis der Friedensbestimmungen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Die Verweigerung des Fahneneides führte zur Übertragung der Zuständigkeit an das RKG. Nachdem mittlerweile die KSSVO in Kraft gesetzt wurde, verurteilte der III. Senat des RKG Stöhr am 16. März 1940 wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode. Ein Gnadengesuch wurde von der evangelischen Landeskirche nicht unterstützt und das Urteil am 21. Juni 1940 vollstreckt.345

Die Richter verwiesen in ihren Urteilsbegründungen wegen Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen immer wieder auf den Widerspruch zu den jeweiligen Kirchenleitungen, die die Verweigerungshaltung nicht unterstützten. Die Adventisten Psyrembel und Pfältzer wurden im März

340 vgl Haase, Fahnenflucht 43; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 103 f. 341 vgl Haase, Fahnenflucht 45; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 124. 342 vgl Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 124. 343 vgl Haase, Fahnenflucht 48. 344 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 105. 345 vgl Garbe in Haase/Paul 85 ff; Haase, Fahnenflucht 40 f; Haase, RKG 77; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 105 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 91/226

1940 bzw Juli 1942 wegen Wehrdienstverweigerung zum Tode verurteilt. Die Quäker beantragten bereits 1935 eine Befreiung ihrer Mitglieder vom Wehrdienst. Dies wurde vom Reichskriegs- ministerium abgelehnt, woraufhin den Mitgliedern die Entscheidung überlassen wurde.346

Am 21. September 1943 verfügten Admiral Bastian und ORKA Kraell eine Anklage gegen den evangelischen Theologen gem § 5 KSSVO wegen Wehrdienstentziehung und des Versuchs, andere von der Erfüllung des Wehrdienstes abzuhalten. Als Beteiligter wurde auch Bonhoeffers Schwager Hans von Dohnanyi angeführt. Ermittelt wurde auch wegen Fluchthilfe für 14 Juden in die Schweiz. Am 5. April 1943 wurden beide von der Gestapo verhaftet. Ein Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats wurde allerdings im Juli 1944 eingestellt. Nach Ermittlungen bezüglich des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden Bonhoeffer und Dohnanyi im Oktober 1944 der Gestapo übergeben und im April 1945 im KZ Flossenbürg ermordet.347

Von insgesamt 116 bekannten Österreichern, die in 119 Fällen wegen Wehrdienstverweigerung angeklagt wurden, wurden 60 von Wehrmachtsgerichten zum Tode verurteilt. Ein Großteil der Delikte wurde dabei bereits in der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs begangen.348

Die Anzahl der Todesurteile wegen Wehrdienstverweigerung aus religiösen Gründen ist nicht endgültig geklärt. Auf Basis der Statistik des RKG bis 7. Februar 1945 kann eine Zahl von 251 Todesurteilen wegen Wehrkraftzersetzung angenommen werden. In dieser Zahl sind allerdings alle Verurteilungen gem § 5 KSSVO enthalten, also auch jene wegen anderer Akte der Wehrkraft- zersetzung wie gegen die katholischen Geistlichen Friedrich Lorenz, Herbert Simoleit und Karl Lampert oder wegen Selbstverstümmelung. Auf Basis der Vollstreckungslisten ist von einem Anteil der Verweigerer an den Todesurteilen von mehr als 90% auszugehen. Die Zahl jener, die aus religiösen Gründen den Wehrdienst verweigerten, lässt sich allerdings in der Statistik nicht feststellen. Auch der Anteil der Begnadigungen lässt sich nicht mit letzter Sicherheit bestimmen. Lt Statistik des RKG wurden rund 88% der Urteile auch vollzogen. Bei Verweigerern dürfte diese Zahl lt Messerschmidt bei etwa 80% liegen. Die Begnadigungsquote schwankte im Kriegsverlauf. Im ersten Kriegsjahr wurden zB nur 75% der Todesurteile gegen Zeugen Jehovas vollzogen. Der Präsident des RKG und der ORKA waren bemüht, die Verfahren möglichst rasch und einheitlich abzuwickeln. Auch das OKW hatte daran Interesse. Daher wurde am 8. November 1940 angeordnet, alle Wehrpflichtigen einzuberufen, die gegenüber militärischen Dienststellen ihre Weigerung, Wehrdienst zu leisten, bekanntgegeben hatten. Dadurch sollte das Problem einer endgültigen Lösung zugeführt werden. Dies gelang allerdings nur eingeschränkt. 1943 sind in der Vollstreckungsliste 65 Todesurteile wegen Wehrdienstverweigerung enthalten. Die absoluten Zahlen der Verfahren sanken zwar, dies ging aber einher mit einem Rückgang der Zahl wehrpflichtiger Zeugen Jehovas. Auch die Urteilsbegründungen änderten sich im Kriegsverlauf. Anstelle der gefährlichen Werbekraft trat die Weigerung, dem Volk in schwerster Kriegszeit zu dienen.349

346 vgl Haase, Fahnenflucht 48; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 106. 347 vgl RKG 21.9.1943, StPL (RKA) III 114/43; Friedrich, Nazi-Justiz 259 ff; Haase, RKG 160; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 133. 348 vgl Fritsche, Das Forschungsprojekt „Österreichische Opfer der NS-Militärjustiz“ – wichtigste Ergebnisse, in Kohlhofer/Moos (Hrsg), Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit – Rehabilitierung und Entschädigung (2003) 44; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 7; Manoschek in Pirker/Wenninger 45; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 117 ff. 349 vgl VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K65 39/13/17; VUA, RKG K65 39/12/2; Haase in Haase/Oleschinski2 49; Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1131); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 106 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 33 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 92/226

Die Annahme eines minderschweren Falles, die entscheidende Bedeutung bei der Strafzumessung besaß, sollte nicht vom Standpunkt des Täters, sondern nur von jenem der Allgemeinheit und Kriegsnotwendigkeit aus beurteilt werden. Dies stellte der III. Senat des RKG bereits im Mai 1940 fest. Welche Kriegsnotwendigkeiten dies 1940, als die Wehrmacht noch siegreich war, gewesen sein sollen bzw wie sich der Standpunkt der Allgemeinheit darstellte, blieb allerding unklar. Die Urteilspraxis wurde vom RKG beibehalten. Daher war die Annahme eines minderschweren Falls grundsätzlich nur möglich, wenn der Täter sich bereit erklärte, seine Pflichten gegenüber der Volksgemeinschaft zu erfüllen. Die Rechtsprechung des RKG beeinflusste auch die Truppengerichte, die über die anderen Fallgruppen des § 5 KSSVO wie wehrkraftzersetzende Äußerungen und Selbstverstümmelung zu entscheiden hatten.350

c) Urteile wegen Hoch-, Landes- und Kriegsverrats

Zentrale Delikte, die von den Militärgerichten verfolgt wurden, waren Hoch-, Landes- und Kriegsverrat. Hochverrat beging gem §§ 80 ff des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB), wer die Verfassung des Reiches ändern oder einen Teil des Reiches einem anderen Staat einverleiben wollte. Landesverrat beging, wer Staatsgeheimnisse veröffentlichte, um dem Wohl des Reiches zu schaden. Kriegsverrat gem §§ 57 ff MStGB war ein im Feld begangener Landesverrat. Alle drei Delikte waren mit dem Tode bedroht.351

Von insgesamt festgestellten 137 Verratsdelikten, die von 118 Österreichern, darunter vier Frauen, begangen wurden, entfielen 68 auf Hoch-, 38 auf Landes- und 22 auf Kriegsverrat. In acht Fällen handelte es sich um Spionage und in einem Fall um Sabotage. In 102 Fällen kam es nachweislich zu einer Verurteilung des Angeklagten. Dabei wurde in 48% der Fälle die Todesstrafe ausgesprochen, in rund 30% erfolgte eine Verurteilung zu einer Zuchthausstrafe und in rund 14% zu einer Gefängnisstrafe. Lediglich in rund 6% der Fälle erfolgte ein Freispruch. Auch hier nahm die Höhe der Strafen im Kriegsverlauf kontinuierlich zu. Von den Todesurteilen wurden rund zwei Drittel auch vollzogen.352

Zu den bekanntesten Verfahren wegen Hochverrats zählen jene gegen die sog Rote Kapelle. Die Rote Kapelle war keine einheitliche Widerstandsbewegung, sondern eine NS Sammelbezeichnung für verschiedene Gruppen mit marxistisch-kommunistischem oder sozialistischem Hintergrund und oftmals Kontakten zur Sowjetunion. Von September 1942 bis September 1944 wurden 23 Verfahren gegen 84 Personen durchgeführt. Häufig traten Hoch-, Landes-, Kriegsverrat, Feindbegünstigung und die Beihilfe zu diesen Delikten gemeinsam auf. Das RKG fällte 48 Todesurteile, 20 Zuchthaus-, zwölf Gefängnisstrafen und drei Freisprüche. Gefängnisstrafen wurden wegen Abhörens von Feindsendern, der Unterlassung von Anzeigen und Beihilfehandlungen gefällt. Aber auch Zuchthaus- und Todesstrafen wurden wegen dieser Delikte verhängt. Bei letzteren trat meist noch der Vorwurf der Feindbegünstigung, der Spionage oder des Kriegsverrats hinzu.353

Das wohl bekannteste Verfahren im Komplex Rote Kapelle ist jenes gegen die Widerstandsgruppe um Harro Schulze-Boysen. Schulze-Boysen wurde wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Kriegsverrat,

350 vgl Garbe in Haase/Paul 101; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 108 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 149 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 506 ff. 351 vgl Forster, Die militärgerichtliche Verfolgung von „Verratsdelikten“ im „Dritten Reich“, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS- Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 239 f. 352 vgl Forster, Verratsdelikte, in Manoschek 243 ff; Fritsche in Kohlhofer/Moos 45. 353 vgl VUA, RKG K62 39/13/22; Gribbohm, RKG Rz 280 ff; Haase, RKG 16 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 109 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 34. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 93/226

Zersetzung der Wehrkraft und Spionage zum Tode verurteilt. Sein Mitverschwörer Arvid Harnack wurde wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage ebenfalls zum Tode verurteilt. Die Gruppe arbeitete mit Kommunisten zusammen und verteilte Propagandamaterial. Der II. Senat des RKG begründete sein Urteil vom 19. Dezember 1942 ua mit dieser Zusammenarbeit. In zwei Urteilen vom 19. Dezember 1942 und 18. Jänner 1943 wurden insgesamt 17 Personen zum Tode verurteilt. Die Bestätigung bei Verfahren gegen die Rote Kapelle hatte sich Hitler persönlich vorbehalten. Die Ankläger versuchten bewusst, die Angeklagten als Kommunisten darzustellen, um dieses NS Feindbild für sich zu nutzen.354

Johann Kosir sammelte kleine Geldbeträge, meist nur ein bis drei Reichsmark pro Monat, für die Familien inhaftierter österreichischer Kommunisten. In der Anklageverfügung vom 24. April 1944 wurde festgestellt, dass die Bestrebungen der KPÖ, mit Gewalt einen Umsturz herbeizuführen, dem Angeklagten bekannt gewesen seien. Spendensammeln für Angehörige diene den Kommunisten und ermutige sie und sei daher als Hochverrat zu betrachten. Der Bausoldat Anton Brezina sammelte ebenfalls Spenden für Familienangehörige inhaftierter Sozialdemokraten und Kommunisten. Zunächst wurde er dafür vom II. Senat des RKG wegen erschwerter Vorbereitung zum Hochverrat zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Chef OKW hob dieses Urteil auf Basis des Führererlasses über die Aufhebung rechtskräftiger Urteile von Wehrmachtgerichten vom 6. Jänner 1942355 allerdings auf. Dieser Erlass gestand dem Chef OKW und den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile das Recht zu, Urteile bei schwerwiegenden Bedenken gegen die Richtigkeit aufzuheben. Eine neue Hauptverhandlung musste daraufhin vor dem RKG stattfinden. Am 11. Jänner 1945 wurde Brezina vom IV. Senat des RKG wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und Feindbegünstigung zum Tode verurteilt.356

Am 19. Mai 1942 verurteilte der III. Senat des RKG den Gefreiten Neumann wegen Landesverrats zum Tode. Neumann war zweimal wegen Kameradendiebstahls und einmal wegen Urkundenfälschung und Beleidigung vorbestraft. Durch seinen ehemaligen Schulkollegen Falk, der am 22. April 1944 vom II. Senat ebenfalls zum Tode verurteilt wurde, kam er im August 1938 in Kontakt mit dem polnischen Nachrichtendienst. Neumann lieferte Informationen über den deutschen Grenzschutz und übergab seinen Wehrpass an einen polnischen Nachrichtenoffizier. Das letzte Treffen mit dem polnischen Kontaktmann fand am 12. Oktober 1938 statt, danach meldete sich Neumann nicht mehr, weshalb er am 30. April 1939 vom polnischen Nachrichtendienst als Agent gestrichen wurde. Am 3. Juli 1940 wurde er festgenommen. Das RKG stellte in seinem Urteil auch fest, dass selbst ein vermeintliches Staatsgeheimnis genüge, um eine Strafbarkeit gem § 89 RStGB auszulösen. Da für Landesverrat grundsätzlich die Todesstrafe vorgesehen war, wurde diese gegen Neumann verhängt. Das Urteil wurde am 30. Juni 1942 durch Generalleutnant von Wülfingen in Vertretung des RKG Präsidenten bestätigt.357

Der Oberschütze Jungmichel wurde vom III. Senat des RKG am 3. Dezember 1942 wegen Kriegsverrats zum Tode verurteilt. Gegen die kaufmännische Angestellte Moser wurde im selben Verfahren wegen Beihilfe zur Feindbegünstigung eine Freiheitsstrafe von drei Jahren Zuchthaus verhängt. Jungmichel war Angehöriger einer Wachkompanie, die im Schloss Colditz Kriegsgefangene bewachte. Im Zivilleben hatte er einen Betrieb, in dem Moser beschäftigt war. Im Zuge der

354 vgl RKG 19.12.1942, StPL (HLS) II 129/42; VUA, RKG K62 39/9/8; Gribbohm, RKG Rz 280 ff; Haase, RKG 16 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 110 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 34 f. 355 vgl HVBl (B) 1942/34; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K64 39/9/20; Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 218 f. 356 vgl Gribbohm, RKG Rz 84 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 111; Messerschmidt in Baumann/Koch 35. 357 vgl RKG 19.5.1942, StPL (HLS) III 66/41; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K31 39/-/5; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K65 39/12/2. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 94/226

Wachtätigkeit kam Jungmichel in Kontakt mit einem polnischen Kriegsgefangenen, der ihm eine Zusammenarbeit nach dem Krieg als Vertreter anbot. Auf Bitte des Gefangenen überließ ihm Jungmichel daraufhin einige Gegenstände wie Farbe zum Färben von Stoffen, Stahlfedern, Bohrer und Feilen. Die Besorgung der verlangten Gegenstände übernahm zum Teil auch die mitangeklagte Angestellte Moser. Als Gegenleistung erhielten die beiden Zigaretten, Schokolade und ähnliches. Die Gegenstände wurden im Zuge einer Durchsuchung im Gefangenenlager gefunden und ein Verfahren vor dem RKG eingeleitet. Die Urteilsbestätigung durch den Präsidenten des RKG folgte am 7. Jänner 1943.358

Verfahren wegen Verratsdelikten endeten meist mit Todesurteilen. Der IV. Senat des RKG fällte 1944 mindestens neun solcher Urteile, davon eines am 11. Dezember 1944 gegen vier Soldaten. Die Flakwaffenoberhelferin Anna Schweiger wurde in diesem Verfahren zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. General Scheele hob dieses Urteil als neuer Präsident des RKG am 15. Jänner 1945 auf und verfügte ein neues Verfahren vor dem I. Senat. Am 9. März 1945 verurteilte der IV. Senat des RKG sechs russische Legionäre zum Tode. Scheele wandelte die Strafe für zwei Verurteilte in Zuchthaus um und ordnete die Aussetzung des Vollzugs für die übrigen vier an. Alle wurden am 27. März 1945 an die Gestapo übergeben.359

Auch gegen Widerstandsgruppen innerhalb der Wehrmacht ging die Justiz vor. Am 26. Juli 1944 hatte Hitler in einer Rede befohlen, gegen alle Attentäter des 20. Juli 1944 rücksichtslos vorzugehen. Die Hauptattentäter des 20. Juli 1944 um Oberst Stauffenberg wurden zwar aus der Wehrmacht ausgestoßen und dem VGH zur Aburteilung übergeben, allerdings beschäftigte sich auch das RKG mit einzelnen Verschwörern. Am 6. Februar 1945 wurde Major iG Joachim Kuhn, der den Sprengstoff für das Attentat besorgt hatte, in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Gem Urteilsbegründung wurde das Verfahren trotz Abwesenheit des Angeklagten aufgrund der Schwere der Tat durchgeführt. Kuhn desertierte, nachdem sein Divisionskommandant Generalleutnant Gustav Heistermann von Ziehlberg ihm am 27. Juli 1944 mitgeteilt hatte, dass er auf höchsten Befehl sofort zu verhaften sei. Das Urteil gründete sich auch auf die Aussagen zweier aus russischer Gefangenschaft heimgekehrter Soldaten, die angaben, Kuhn in einem Durchgangslager gesehen zu haben, und aussagten, er hätte um eine Überstellung nach Moskau wegen einer wichtigen Aussage gebeten. Dadurch habe er die Sicherheit des Reichs gefährdet, wodurch der Vorwurf des Kriegsverrats gerechtfertigt wurde. Heistermann von Ziehlberg wurde am 2. Oktober 1944 zunächst vom I. Senat des RKG wegen fahrlässigen Ungehorsams zu neun Monaten Gefängnis verurteilt. Das Urteil wurde von Hitler allerdings aufgehoben und Heistermann von Ziehlberg durch den III. Senat des RKG am 21. November 1944 zum Tode verurteilt, obwohl ihm nach dem ersten Urteil noch das Kommando über ein Armeekorps übertragen worden war. Aufgrund der Schwere der Tat und der persönlichen Gesinnung entschied sich der III. Senat für ein Todesurteil. Das Urteil wurde am 2. Februar 1945 in Berlin Spandau vollzogen.360

358 vgl RKG 3.12.1942, StPL (HLS) III 98/42; VUA, RKG K64 39/9/20; VUA, RKG K65 39/12/2; VUA, RKG K80. 359 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 112. 360 vgl RKG 21.11.1944, StPL III 118/44; VUA, RKG K62 39/13/22; Eberlein/Haase/Oleschinski, Biographische Porträts, in Eberlein/Haase/Oleschinski (Hrsg), Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht (1999) 171 f; Friedrich, Nazi-Justiz 259 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 133; Gribbohm, RKG Rz 57 ff; Haase, RKG 240; Haase in Haase/Oleschinski2 51; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (397 ff); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1135); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 112 f; Paul, „Die verschwanden einfach nachts“. Überläufer zu den Alliierten und den europäischen Befreiungsbewegungen, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 142; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 211. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 95/226

Der Einfluss der Politik auf die Wehrmachtsjustiz wird besonders am Fall der Weißen Rose sichtbar. Am 18. Februar 1943 verteilte eine Gruppe von Studenten an der Universität München Flugblätter gegen das Regime. Das Reichsjustizministerium und der Leiter der NSDAP Parteikanzlei Martin Bormann waren bereits seit 5. Februar 1943 über eine geplante Aktion informiert und unterrichteten auch Hitler darüber. Unter den Studenten befanden sich auch die Soldaten Hans Scholl, Alexander Schmorell, der Tiroler Christoph Probst und Wilhelm Graf, die zum Medizinstudium an die Universität abkommandiert waren. Damit wäre das Verfahren gem §§ 6 und 14 KStVO eigentlich in die Zuständigkeit des RKG gefallen. Dennoch erfolgte die Aburteilung am 22. Februar und 19. April 1943 durch den VGH,361 nachdem der Chef OKW gegenüber Bormann entsprechende Zusagen gegeben hatte. Möglich wurde dies auf Anregung des Münchner Gauleiters Giesler, der eine effiziente Aburteilung durch die Beteiligung von Zivilpersonen nur durch den VGH annahm und dies Bormann nahelegte. Bormann veranlasste daraufhin den Chef OKW die vier Soldaten an den VGH zu überstellen. Der Chef OKW konnte dem Präsidenten des RKG als Vorgesetzter Anweisungen auch zur Abgabe eines Verfahrens an den VGH erteilen. Der Reichsjustizminister verzichtete auf sein Begnadigungsrecht, das ihm eigentlich gar nicht zugestanden wäre, und veranlasste die Hinrichtung der Geschwister Hans und und Christoph Probsts noch am Tag der Urteilsverkündung. Das OKW vertrat allerdings den Standpunkt, es habe nur das Verfahren an den VGH abgegeben, nicht aber das Begnadigungsrecht. Durch Intervention von WR übermittelte Hitlers Adjutant am 27. Februar 1943 dem Reichsjustizminister die Weisung, dass die Hinrichtung Schmorells noch nicht erfolgen solle. Am 22. Juni 1943 folgte die Feststellung, dass Schmorell und Graf Wehrmachts- angehörige seien, durch WR, wodurch das Gnadenrecht Hitler zukam und die Entscheidung durch das OKW vorbereitet werden musste. Hitler lehnte eine Begnadigung am 25. Juni 1943 ab. Im Gegensatz zu den Verschwörern des 20. Juli 1944, die aufgrund eines Beschlusses eines General- Ehrenhofs ohne Gerichtsurteil aus der Wehrmacht ausgestoßen und dem VGH übergeben wurden,362 war im Fall der Weißen Rose eine Weisung des Chefs OKW trotz fehlender Rechtsgrundlage ausreichend. Die Verbindung der Weißen Rose zu Falk Harnack, der Kontakte zum Berliner Widerstand aufbaute, entdeckte der VGH allerdings nicht.363

Der Grazer Kurt Grabenhofer wurde am 16. März 1944 vom RKG zum Tode verurteilt, weil er Waffen an Partisanen lieferte und sich an einer Widerstandsgruppe beteiligte, die sich die Wiedererrichtung der österreichischen Monarchie zum Ziel gesetzt hatte. Das Urteil wurde am 11. August 1944 vollstreckt.364

Aufgrund einer Verfügung des Chefs OKW Keitel vom 5. Februar 1945 wurde für Angehörige von deutschen Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft Landesverrat begingen, die Sippenhaftung eingeführt. Angehörige hafteten nunmehr mit Vermögen, Freiheit oder Leben für die Handlungen der kriegsgefangenen Soldaten. Den Umfang der Sippenhaftung bestimmte im Einzelfall der RFSS und Chef der deutschen Polizei Himmler.365

Die RKA leitete 1940 eine Untersuchung gegen die beiden Majore der Luftwaffe Hoenmanns und Reinberger wegen Preisgabe von Staatsgeheimnissen ein. Am 10. Jänner 1940 sollten beide mit einer Messerschmitt BF108 Taifun von Münster nach Köln fliegen. Allerdings kam es zu einer Notlandung in der Nähe von Mechelen in Belgien. Da Reinberger wichtige Einsatz- und Operationsakten bei sich

361 vgl VGH 22.02.1943, 1 H 47/43; BArch, ZC 13267. 362 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 439. 363 vgl VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K53 39/13/20; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 114 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 200 f. 364 vgl DÖW, Kurt Grabenhofer (1922 - 1944), https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938- 1945/aufrechterhaltung-der-manneszucht/kurt-grabenhofer-1922-1944#reichskriegsgericht (abgefragt am 8.5.2018). 365 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht 98 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 96/226 hatte, obwohl dies bei einem Flug verboten war, leitete die militärische umgehend eine Untersuchung des Vorfalls ein. Dabei wurde festgestellt, dass Reinberger die Unterlagen ohne Befehl mitgenommen hatte und ursprünglich mit dem Zug nach Köln reisen wollte. Hoenmanns schlug ihm als Kommandant des Fliegerhorsts allerdings vor, die Reise mit dem Flugzeug zu unternehmen, weil er dort seine Frau besuchen wolle. Dies wurde durchgeführt, allerdings meldete Hoenmanns dieses Vorhaben nicht bei seinem Vorgesetzten und holte auch keine Genehmigung für den Flug ein. Nach der Notlandung wurden die beiden Offiziere in Belgien interniert. In belgischen Zeitungen wurde darüber hinaus berichtet, dass die mitgeführten Papiere verbrannt seien. Tatsächlich gelangten die Papiere aber zumindest teilweise in den Besitz der belgischen Behörden. Das RKG erließ auf Basis dieser Untersuchungsergebnisse am 27. Jänner 1940 Haftbefehle gegen Reinberger und Hoenmanns. In weiterer Folge wurden beide in ein britisches Kriegsgefangenenlager nach Kanada gebracht. Dort erkrankte Hoenmanns allerdings und wurde im Rahmen eines Gefangenenaustauschs nach Deutschland zurückgebracht, wo er am 23. Oktober 1943 verhaftet wurde. Eine Beschwerde Hoenmanns gegen seine Verhaftung wurde vom Präsidenten des RKG am 27. Oktober 1943 als unzulässig zurückgewiesen. Bei seiner Vernehmung gab Hoenmanns an, aufgrund schlechter Sicht über einem Industriegebiet vom Kurs abgekommen zu sein. Aufgrund seiner Funktion als Fliegerhorstkommandant habe er geglaubt, sich selbst die Genehmigung für einen Übungsflug erteilen zu dürfen. Am 4. November 1943 kam die RKA schließlich zu dem Schluss, dass ein schuldhaftes Verhalten Hoenmanns nicht nachgewiesen werden könne, und stellte das Verfahren ein. Am 9. September 1944 kehrte auch Major Reinberger im Rahmen eines Gefangenenaustausches nach Deutschland zurück und wurde verhaftet. Als Grund für die Mitnahme der geheimen Papiere gab er an, dass er aufgrund früherer Erfahrungen nicht wusste, ob seine Gesprächspartner in Köln bereits über alle Informationen verfügten, und nicht umsonst die Reise unternehmen wollte. Ansonsten deckten sich seine Aussagen weitgehend mit jenen Hoenmanns. Auch gegen Reinberger wurde daher der Haftbefehl am 16. September 1944 zunächst aufgehoben. Dagegen intervenierte allerdings der ObdL Göring, da Teile der Unterlagen nicht vernichtet wurden. Am 12. März 1945 fand daher eine neuerliche Vernehmung Reinbergers durch die RKA statt. Da ein Urteil nicht in den Archiven gefunden wurde, ist zu hoffen, dass in den letzten Wochen des Krieges keine Hauptverhandlung mehr zu Stande kam.366

d) Urteile wegen Widerstands in den besetzten Gebieten

Mit der siebten DVO zur KStVO367 vom 18. Mai 1940 wurden einige Tatbestände des § 5 KSSVO aus der Zuständigkeit des RKG ausgenommen. Um diesen Kompetenzverlust auszugleichen, schlug Admiral Bastian WR die Zuweisung anderer Tatbestände in die Jurisdiktion des RKG vor. Dazu zählten ua Landes- und Kriegsverrat, insbesondere in den besetzten Gebieten durch Spionage oder Freischärlerei. In die Zuständigkeit des RKG fielen während des Krieges der Verrat und die Ausspähung von Staatsgeheimnissen. Für diese Taten war die Todesstrafe vorgesehen. Ausländer konnten auch zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt werden. Bastian versuchte die Zuständigkeit des RKG auf alle strafbaren Handlungen des Kriegsvölkerrechts in den besetzten Gebieten auszudehnen. Dies traf allerdings auf Widerstand bei Göring, der die Kompetenzen der Luftwaffenjustiz in diesem Bereich nicht beschränken wollte. Durch eine Richtlinie Hitlers vom 7. Dezember 1941 wurden schließlich Ausländer der Wehrmachtsgerichtsbarkeit unterstellt, sofern das OKW oder übergeordnete militärische Befehlshaber erklärten, dass militärische Erfordernisse ein

366 vgl VUA, RKG K14 39/3/5; VUA, RKG K14 39/3-5. 367 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 307 ff; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 97/226

Verfahren vor Militärgerichten notwendig machten. Dänemark war von dieser Regelung explizit ausgenommen.368

Für die Sowjetunion sah der Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppe vom 13. Mai 1941369 eigene Regeln vor. Während gegen die Einwohner rigoros vorgegangen wurde, sollten Soldaten bei Verbrechen gegen die Einwohner nicht verfolgt werden. Der Chef WR Lehmann schlug vor, die Zuständigkeit der Wehrmachtsjustiz auf Straftaten sowjetischer Bürger mit eindeutiger Beweislage zu beschränken. Alle anderen, juristisch diffizileren Fälle sollten an die SS abgegeben werden. Dieser Vorschlag wurde allerdings abgelehnt. Bei einem Vortrag vor 250 Offizieren am 30. März 1941 erklärte schließlich Hitler, es handle sich beim Krieg gegen die Sowjetunion um den Kampf zweier Weltanschauungen, der keine Frage der Kriegsgerichte sei. Lehmann legte daraufhin Ende April 1941 einen neuen Entwurf vor. Danach sollten Freischärler von der Truppe schonungslos hingerichtet werden. Nur wenn dies ausnahmsweise nicht geschehen sei, sollten sie gerichtlich verfolgt werden. Verbrechen deutscher Soldaten sollten nur verfolgt werden, wenn dies aus Gründen der Manneszucht oder der Sicherheit der Truppe erforderlich war. Am 6. Mai 1941 legte schließlich auch HR einen Entwurf vor, der mit Lehmann und Generaloberst Halder abgestimmt war. Danach sollten auch potentielle Freischärler im Kampf oder auf der Flucht erschossen werden, da in der Sowjetunion die Truppe erstmals dem Träger der jüdisch-bolschewistischen Weltanschauung entgegentrete und dies ein besonders gefährliches Element sei. Diese Entwürfe wurden nochmals von Lehmann überarbeitet. Nun sollte die Wehrmachtsgerichtsbarkeit über die Einwohner bis zur Befriedung des besetzten Gebietes vollkommen ausgeschlossen und erst danach wieder eingeführt werden. Dieser letzte Entwurf wurde am 13. Mai 1941 als Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa umgesetzt. Tatverdächtige sollten sofort einem Offizier vorgeführt werden, der über ihre Erschießung zu entscheiden hatte. Das völkerrechtswidrige Vorgehen der Wehrmacht im Osten wurde damit legistisch abgesichert. Dies führte zu einer unterschiedlichen Rechtslage in den verschiedenen besetzten Gebieten. Die Jurisdiktion des RKG beschränkte sich auf das Reichsgebiet, Polen, West- und Nordeuropa. In Osteuropa übernahmen die Truppen der Wehrmacht und SS, der Sicherheitsdienst, die Polizei und Einsatzkommandos die Verantwortung.370

Verurteilt wurden vom RKG auch Soldaten, die Beziehungen zu Landeseinwohnern hatten. Boleslaw Haidasz schrieb zB einen Brief an einen polnischen Freund. Der Brief wurde vom Ankläger dahingehend ausgelegt, dass Haidasz die Aktivitäten seines Freundes im Widerstand unterstütze, obwohl beide seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr hatten. Der III. Senat des RKG verurteilte Haidasz am 15. September 1944 wegen Kriegsverrats zum Tode. Insgesamt erfolgten lt Statistik zwischen 26. August 1939 und 7. Februar 1945 313 Todesurteile wegen Landesverrats, 96 wegen Hochverrats, 24 wegen Kriegsverrats und 340 wegen Spionage. Allein bis 30. April 1940 wurden bei insgesamt 59 Urteilen wegen Landesverrats 23 Todesurteile gefällt, neun wegen Kooperation mit Tschechien,

368 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K53 39/13/21; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K65 39/13/17; Form in Pirker/Wenninger 64 ff; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 217; Gribbohm, RKG Rz 37 ff; Gribbohm, Strafjustiz 11 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 116 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 207. 369 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 172 ff. 370 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 15; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 31 f; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 112; Friedrich, Nazi-Justiz 183 f; Fritsche, Die militärgerichtliche Verfolgung von Gewaltdelikten in der Deutschen Wehrmacht, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS- Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 290; Garbe in Pirker/Wenninger 37; Hankel in Kirschner 298 f; Kirschner, Wehrmachtjustiz, in Kirschner 69; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 6; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 20 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 117 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 40 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 205 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 64 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 98/226 sieben mit Polen, drei mit Frankreich und je zwei mit den Niederlanden und Belgien. Auch der tschechische Student Jurasek wurde wegen Landesverrats zum Tode verurteilt, allerdings wurde die Strafe von Hitler nach Intervention des ehemaligen tschechischen Präsidenten Hacha in zehn Jahre Zuchthaus umgewandelt. Darüber hinaus wurden bis April 1940 15 Zuchthaus- und 21 Gefängnisstrafen ausgesprochen.371

Auch gegen Angehörige des polnischen Widerstandes wurden zahlreiche Urteile gefällt. Die meisten Verurteilten gehörten Gruppen mit Verbindungen zur polnischen Exilregierung an oder wurden wegen einer Tätigkeit für den polnischen Nachrichtendienst vor dem Krieg angeklagt. So informierten Bruno und Franziska Brutzki den polnischen Nachrichtendienst über die deutsche Abwehrstelle in Danzig. Beide hatten sich nicht aktiv um eine Mitarbeit beworben und arbeiteten meist von Polen aus. Nur fallweise waren sie für Besprechungen in Danzig. Ihre Informationen erhielten sie va von der Schwester Franziska Brutzkis, Paula Tyschewski, die Reichsdeutsche war. Aufgrund eines angenommenen schweren Schadens für das Reich wurden alle drei vom III. Senat des RKG zum Tode verurteilt. Theofil Sarnowski wurde ebenfalls zum Tode verurteilt, weil er fallweise über Schiffsbewegungen im Gdingener Hafen an den polnischen Nachrichtendienst berichtet hatte. Ein Hütejunge wurde am 5. Mai 1942 vom IV. Senat des RKG zum Tode verurteilt, weil er einen russischen Offizier über Straßenbauten, Regimentsgebäude und andere lokale Gegebenheiten informiert hatte, obwohl es sich lt Abwehrabteilung des OKW nicht um Staatsgeheimnisse handelte. § 2 KSSVO Nachrichten für den Feind wurde nicht angewandt, da die Tat bereits 1940 begangen wurde, als sich die Sowjetunion noch nicht im Krieg mit dem Deutschen Reich befand. Das erhöhte Schutzbedürfnis des Reiches diente als Begründung des Todesurteils.372

e) Urteile in Nacht- und Nebelverfahren

Am 7. Dezember 1941 erließ Hitler Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in den besetzten Gebieten. Am 12. Dezember 1941 folgte eine DVO zu diesen sog Nacht- und Nebelrichtlinien. Auf dieser Grundlage wurden in Nord- und Westeuropa zahlreiche Todesurteile durch das RKG gefällt. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion und aufgrund von Vergeltungsmaßnahmen der Wehrmacht, für einen getöteten deutschen Soldaten sollten 50 bis 100 Einheimische getötet werden, nahm der Widerstand in Frankreich deutlich zu. Hitler forderte für Widerstandsaktivitäten die Höchststrafe und eine rasche Abwicklung der Verfahren. Wenn ein Todesurteil nicht innerhalb einer Woche zu erwarten war, sollten die Beschuldigten heimlich, bei Nacht und Nebel, ins Reich gebracht werden. Richteten sich die Straftaten gegen die Wehrmacht, erfolgte das Verfahren vor einem Wehrmachtsgericht, ansonsten vor einem zivilen Sondergericht. Rasche Todesurteile in den besetzten Gebieten wurden ebenfalls von Wehrmachtsgerichten gefällt. Die Sondergerichte im Reich waren dennoch bald überlastet, und viele Angeklagte wurden der Gestapo übergeben und landeten in KZ. Das RKG beschäftigte sich in Zusammenhang mit Nacht- und Nebelverfahren va mit Verratsdelikten und Spionage. Eine wirksame Abschreckung sollte durch die Todesstrafe und die Ungewissheit über das Schicksal der Verhafteten erreicht werden. Die Verfahren waren geheim, Auskünfte über die Gefangenen durften nicht erteilt werden. Daher mussten Freisprüche vermieden werden. WR legte deshalb dem Chef OKW eine Verordnung vor, die vorsah, dass auf Antrag des Anklagevertreters die Hauptverhandlung auszusetzen war. Diese Verordnung

371 vgl Gribbohm, RKG Rz 196 ff; Haase, RKG 13; Haase in Haase/Oleschinski2 49; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (389); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1131); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 118 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 33; Viebig/Skowronski in Kirschner 177. 372 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 120 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 99/226 wurde von Keitel am 22. Juni 1942 in Kraft gesetzt. Es lag nun bei der RKA einen Freispruch jederzeit zu verhindern.373

Admiral Bastian traf sich zu einer Besprechung der Nacht- und Nebelrichtlinien mit den Militärbefehlshabern von Frankreich Stülpnagel und Belgien-Nordfrankreich Falkenhausen. Dabei wurde auch darüber gesprochen, zum Tode Verurteilte als Geiseln zu nutzen. Die Todesstrafe sollte vorerst ausgesetzt, bei Überfällen auf deutsche Soldaten aber umgehend vollzogen werden. Bastian lehnte diesen Vorschlag allerdings ab, da er eine Verbindung von Geiselfrage und Gerichtsverfahren auf Basis gesetzlicher Bestimmungen für ausgeschlossen hielt. Viele Franzosen, Belgier, Norweger, Niederländer und andere wurden vom RKG unter Anwendung der Nacht- und Nebelrichtlinien zum Tode verurteilt. Andere wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt und kamen anschließend in KZ. Die Gesamtzahl der Urteile lässt sich nicht mehr exakt bestimmen. Aber zwischen Juli 1941 und Juni 1942 wurden vom II., III. und IV. Senat des RKG in fünf Verfahren allein 32 Todesurteile gegen Norweger wegen Spionage und Feindbegünstigung gefällt. Zwischen Februar und April 1944 verhängte der I. Senat des RKG gegen Angehörige der belgischen Widerstandsgruppe Luc Marc in vier Verfahren insgesamt 20 Todesurteile. Der III. Senat führte 1943/44 mindestens zehn Verfahren gegen die von General Henri Giraud geführte französische Geheimorganisation L´Alliance durch und verhängte 17 Todesurteile. Der britische Leutnant Frederic Rodney landete im Oktober 1942 in Frankreich und arbeitete als Verbindungsoffizier zum Nachrichtendienst der L´Alliance. Im August 1943 flog er nach London und kehrte im September 1943 wieder nach Frankreich zurück. Bei einer Zugsfahrt nach Paris wurde er festgenommen und am 24. Juni 1944 vom III. Senat des RKG zum Tode verurteilt. Das Urteil erfolgte, obwohl gem § 2 Abs 3 KSSVO ein Spion, der zu seiner Einheit zurückgekehrt war, wegen davor begangener Spionagetaten nicht belangt werden konnte. Der III. Senat des RKG sah bereits den Flug nach Frankreich als Versuch erneuter Spionage und nahm außerdem eine fortgesetzte Handlung an. Im September 1942 erfolgte die Verurteilung von zwölf Angehörigen einer niederländischen Widerstandsgruppe zum Tode. Im Juni 1943 wurden 32 Angehörige derselben Gruppe im Berliner Militäruntersuchungsgefängnis Tegel erschossen. Insgesamt wurden vom RKG mehr als 40 Nacht- und Nebelverfahren durchgeführt und dabei wahrscheinlich 120 Todesurteile gefällt. Aufgrund lückenhafter Daten ist eine genaue Zahl nicht feststellbar.374

Am 15. Jänner 1942 verurteilte der IV. Senat des RKG den belgischen Kaufmann van der Steen gem § 2 KSSVO wegen Spionage zum Tode. Van der Steen meldete sich 1939 auf eine Zeitungsanzeige, in der Personen gesucht wurden, die Deutsch lesen und schreiben konnten. Wenige Monate später wurde er vom französischen Agenten Lambrecht kontaktiert. Mit diesem und einem weiteren Agenten traf er sich in weiterer Folge. Bei diesem Treffen nahm van der Steen den Auftrag an, nach Deutschland zu reisen, um Informationen zu sammeln. Bei insgesamt drei Reisen bis November 1939 notierte er die Kennzeichen von Wehrmachtsfahrzeugen und machte Notizen zu militärischen Anlagen und den Kragenspiegeln der Soldaten, aus denen sich deren Waffengattung ableiten ließ.375

Von 28. bis 31. Jänner 1942 führte der III. Senat des RKG eine Verhandlung gegen sieben Männer und vier Frauen gem § 2 KSSVO wegen Spionage und anderer Delikte durch. Die Angeklagten, bei denen es sich um zehn Belgier und einen mittlerweile staatenlosen Russen handelte, hatten vor allem Pläne von Flugplätzen und Fabriken, aber auch Informationen über Truppen- und Materialtransporte

373 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K53 39/13/21; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K65 39/13/17; Gribbohm, RKG Rz 47 ff; Haase, RKG 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 122 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 66 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 588 ff. 374 vgl RKG 14.12.1943, StPL III 86/43; RKG 16.12.1943, StPL III 84/43; RKG 21.12.1943, StPL III 91/43; BArch, B 141/48277; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 81 f; Gribbohm, RKG Rz 289; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 124 f. 375 vgl RKG 15.1.1942, StPL (HLS) IV 1/42; BArch, B 141/48276. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 100/226 gesammelt. Das Unternehmen wurde entdeckt, als ein Umschlag mit geheimem Material am 13. März 1941 im Briefkasten einer Angeklagten von einem anderen Hausbewohner gefunden und den deutschen Behörden übergeben wurde. Das RKG verhängte sechs Todesurteile und je ein Urteil über zwei Jahre und sechs Monate Zuchthaus, zwei Jahre Gefängnis und sechs Monate Gefängnis. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen.376

In einem Verfahren vor dem II. Senat des RKG wegen Landesverrats wurden am 11. März 1942 die Niederländerin Kolkmann zu acht und der Staatenlose Campagne zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. Die beiden Angeklagten arbeiteten 1939/40 für den britischen Nachrichtendienst. Dabei kamen sie auch mit deutschen Agenten in Kontakt, deren Namen sie an die Briten und die niederländische Polizei weiterleiteten. Ebenso kopierten sie Unterlagen, die sie von den deutschen Spionen erhalten hatten, und gaben sie weiter.377 Die verhältnismäßig geringe Strafe ist wohl nur dadurch zu erklären, dass die Tätigkeiten vor der deutschen Okkupation erfolgten.

Am 17. Juni 1942 verurteilte der IV. Senat des RKG vier Belgier gem § 91b RStGB wegen Feindbegünstigung und anderer Taten zum Tode. Das Verfahren gegen einen fünften Angeklagten wurde eingestellt, weil dieser bereits am 9. Februar 1942 aufgrund eines früheren Urteils hingerichtet worden war. Alle Angeklagten waren bereits zuvor vom Gericht der Oberfeldkommandantur 672 verurteilt worden. Diese Urteile wurden allerdings vom ObdH aufgehoben und die Sache zur neuerlichen Verhandlung dem RKG übertragen. Den Belgiern wurde vorgeworfen, sich an einer illegalen Organisation, der Royal Intelligence of Belgium, beteiligt zu haben, deren Ziel es war Waffenlager anzulegen, Informationen über militärische Anlagen zu sammeln und im Falle einer Invasion die britischen Truppen zu unterstützen. Sie verteilten auch gegen den Krieg gerichtete Flugblätter an Wehrmachtssoldaten.378

Am 3. Juli 1942 verurteilte der II. Senat des RKG acht Belgier gem § 2 KSSVO wegen Spionage. Gegen sechs der Angeklagten wurde die Todesstrafe verhängt, ein Angeklagter wurde zu drei Jahren, ein weiterer zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Die Angeklagten waren Teil eines belgischen Spionagenetzes, auf das die deutschen Behörden Anfang 1941 aufmerksam wurden. Die durch das Netzwerk gesammelten militärischen Informationen sollten nach Großbritannien übermittelt werden. Die Festnahmen erfolgten von 12. März 1941 bis 21. April 1941.379 In einem weiteren Prozess in Zusammenhang mit diesem Spionagenetzwerk verurteilte der IV. Senat am 21. April 1943 zehn Belgier wegen Spionage zum Tode.380

Am 29. Juli 1942 verurteilte der IV. Senat des RKG 19 Belgier und drei Belgierinnen wegen Spionage und anderer Delikte. Der Senat sprach insgesamt 10 Todesurteile, vier Urteile über fünf Jahre Zuchthaus, je ein Urteil über acht, vier und drei Jahre Zuchthaus sowie je ein Urteil über fünf Jahre, vier Jahre, zwei Jahre und sechs Monate, zwei Jahre und ein Jahr und sechs Monate Gefängnis aus. Die Angeklagten bildeten in Belgien einen Spionagering, der für den britischen Nachrichtendienst tätig war. Die gesammelten Informationen wurden per Funk nach Großbritannien übermittelt. Am 22. April 1941 wurde der Sender allerdings von den Deutschen angepeilt und ausgehoben.381

376 vgl RKG 31.1.1942, StPL (HLS) III 121/41; BArch, B 141/48276. 377 vgl RKG 11.3.1942, StPL (HLS) II 8/42; BArch, B 141/48277. 378 vgl RKG 17.6.1942, StPL (HLS) IV 68/42; BArch, B 141/48276. 379 vgl RKG 3.7.1942, StPL (HLS) II 59/42; BArch, B 141/48276. 380 vgl RKG 21.4.1943, StPL (HLS) IV 22/43; BArch, B 141/48276. 381 vgl RKG 29.7.1942, StPL (HLS) IV 30/42; BArch, B 141/48277. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 101/226

Am 10. August 1942 fällte der III. Senat des RKG Todesurteile gegen vier Niederländer gem § 2 KSSVO wegen Spionage und gem § 91b RStGB wegen Feindbegünstigung. Ein ursprünglich 1916 gegründeter, allerdings nicht mehr aktiver Wanderklub wurde 1940 nach der deutschen Besetzung der Niederlande wiederbelebt. Die Angeklagten beteiligten sich in diesem Rahmen laut RKG an Widerstandsaktivitäten. Im Falle einer Invasion sollten die britischen Truppen unterstützt werden. Darüber hinaus wurden Pläne militärischer Anlagen angefertigt. Die Angeklagten gaben in der Hauptverhandlung allerdings an, sich nur vorbereitet zu haben, um sich nach einem freiwilligen Abzug der Deutschen den niederländischen Behörden zur Verfügung zu stellen. Dies sah das RKG allerdings als Schutzbehauptung an.382

Der IV. Senat des RKG verurteilte am 27. August 1942 die beiden Niederländer Wensink und Peters gem § 91b RStGB wegen Feindbegünstigung zum Tode. Ein erstes Urteil des Gerichts des Kommandeurs des Heeres in den Niederlanden vom 9. Dezember 1941 wegen Diebstahls wurde vom Chef OKW aufgehoben und die Sache dem RKG zur neuerlichen Verhandlung übertragen. Die Angeklagten waren verantwortlich für ein Lager der niederländischen Armee, dessen Bestände nach der Niederlage den deutschen Truppen übergeben werden sollten. Sie kamen überein, nicht alle vorhandenen Waren an die Deutschen abzuliefern, sondern einen Teil zurückzubehalten, um ihn nach einem Abzug der Deutschen einer zukünftigen niederländischen Regierung zur Verfügung zu stellen. Einige der zurückbehaltenen Waren wurden auch auf dem Schwarzmarkt verkauft.383

Ende Mai 1940 geriet der britische Soldat Wright in deutsche Kriegsgefangenschaft. Von dort flüchtete er am 28. Juni 1940. Mit Unterstützung eines Netzwerkes aus Franzosen und Belgiern, dem auch die Angeklagten Jean Lebas, Raymond Lebas, Dubar und Henno angehörten, wollte Wright nach Großbritannien zurückkehren, wurde jedoch am 27. Jänner 1941 mit zwei weiteren Personen festgenommen. Daraufhin wurden das Netzwerk aufgedeckt und Henno am 28. Jänner 1941 verhaftet, Raymond Lebas am 20. Mai 1941, Jean Lebas und Dubar am 21. Mai 1941. Am 15. September 1942 verurteilte der I. Senat des RKG Jean Lebas und Dubar gem § 91b RStGB iVm § 161 MStGB wegen Feindbegünstigung zum Tode. Raymond Lebas und Henno wurden zu sechs Jahren Zuchthaus bzw acht Jahren Gefängnis verurteilt, wobei jeweils ein Jahr Untersuchungshaft auf die Strafe angerechnet wurde. Bei Jean Lebas wertete der Senat erschwerend, dass von ihm als ehemaligem Bürgermeister und Minister eine besonders gefährliche Werbekraft ausgehe. Henno hingegen kam zu Gute, dass er zum Tatzeitpunkt erst 17 Jahre alt war, wodurch das Jugendgerichtsgesetz angewendet werden konnte. Ansonsten wäre auch gegen ihn die Todesstrafe ausgesprochen worden.384

Am 22. September 1942 verurteilte der IV. Senat des RKG den Niederländer Veldkamp wegen Feindbegünstigung und Wehrmittelbeschädigung zu zehn Jahren Gefängnis. Ein vorhergehendes Todesurteil des Gerichts des Kommandierenden Generals und Befehlshabers im Luftgau Holland vom 4. Oktober 1941 wurde vom Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden am 17. Jänner 1942 aufgehoben und das Verfahren an das RKG abgegeben. In der Nacht des 13. August 1941 hatte Veldkamp mit einer Gartenschere mehrere von den Deutschen verlegte Telefonkabel zerschnitten. Dies wiederholte er am 22. August 1941 und am 6. September 1941. Aufgrund anonymer Schreiben, die er an den Bürgermeister gerichtet hatte, konnte er allerdings ausgeforscht und verhaftet werden. Dass Veldkamp nicht zum Tode verurteilt wurde, verdankte er einerseits der Tatsache, dass er erst 17 Jahre alt war, und andererseits dem Gutachten des Psychiaters Heinze, der feststellte, dass

382 vgl RKG 10.8.1942, StPL (HLS) III 65/42; BArch, B 141/48276. 383 vgl RKG 27.8.1942, StPL (HLS) IV 75/42; BArch, B 141/48277. 384 vgl RKG 15.9.1942, StPL (HLS) I 74/42; BArch, B 141/48276. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 102/226

Veldkamp noch nicht die volle Reife eines Erwachsenen aufweise, wodurch das Jugendgerichtsgesetz angewendet werden konnte. Veldkamp wurde von insgesamt vier Psychiatern begutachtet. Bereits im ersten Verfahren erstellte der Psychiater Seidel ein Gutachten, in dem er Veldkamp die Reife eines Erwachsenen zubilligte. Dafür reichten Seidel seine Beobachtungen im Gerichtssaal und ein zwanzigminütiges Gespräch mit dem Angeklagten. Zwei weitere Gutachten kamen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Das vierte, nunmehr vom RKG beauftrage Gutachten Heinzes, dem immerhin eine Beobachtung über 24 Tage in einer Heilanstalt vorausging, rettete Veldkamp schließlich das Leben.385

Der III. Senat des RKG verurteilte am 2. Oktober 1942 fünf Niederländer wegen Spionage und Feindbegünstigung. Gegen vier der Angeklagten wurde die Todesstrafe ausgesprochen, der fünfte erhielt eine Strafe von sechs Jahren Zuchthaus. Die Angeklagten beteiligten sich an der niederländischen Widerstandsorganisation Ordedienst. Dabei übernahmen sie vor allem Kurierdienste und unternahmen den Versuch, ein Abfeuerkurs- und Torpedorichtgerät nach Großbritannien zu schmuggeln.386

Der II. Senat des RKG verurteilte am 3. November 1942 die Belgierin Lejeune und den Belgier Walbrecq gem § 91b RStGB iVm § 161 MStGB wegen Feindbegünstigung und auf Basis einer VO des Militärbefehlshabers Belgien und Nordfrankreich wegen unbefugten Waffenbesitzes zum Tode. Beide waren bereits am 17. Juni 1942 vom Gericht der Feldkommandantur 589 wegen unbefugten Waffenbesitzes und Beihilfe dazu zu zwölf bzw zwei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Dieses erste Urteil wurde am 19. Juni 1942 auch vom Militärbefehlshaber bestätigt, allerdings vom ObdH am 28. August 1942 aufgrund eines Führererlasses387 wieder aufgehoben und der Fall an das RKG zur Neuverhandlung überwiesen. Das RKG stellte fest, dass die Angeklagten Waffen aus einer Fabrik an Widerstandsgruppen und andere geliefert hatten. Lejeune hatte dabei die Waffen aus der Fabrik besorgt, während Walbrecq Transport- und andere Hilfsdienste leistete. Dennoch wurde auch er als Mittäter bestraft. In seinem Urteil betont das RKG auch ausdrücklich die erhoffte abschreckende Wirkung des Urteils. Diese Wirkung konnte aber gar nicht erreicht werden, da die Geschäftsstelle des Senats die Veröffentlichung des Urteils mit Vermerk vom 28. November 1942 nicht vorschlug.388

Die Belgier France, Haulot und Koperberg wurden am 9. Dezember 1942 vom III. Senat des RKG gem § 91b RStGB wegen Feindbegünstigung zum Tode verurteilt. Vorausgegangene Urteile des Gerichts der Feldkommandantur 520 wurden vom ObdH aufgehoben und die Sache zur Neuverhandlung an das RKG verwiesen. Die Angeklagten gehörten der Widerstandsgruppe Stoßtrupp der freien Belgier an. Ziel der Gruppe war es, die Namen von Kollaborateuren zu erfassen, um diese den Briten zur Verfügung zu stellen. Im Fall einer britischen Invasion wollte man auch an der Seite der Briten kämpfen. Ein Bombenanschlag auf das Hauptquartier einer flämischen SS Einheit misslang am 6. August 1941.389

Am 11. Dezember 1942 fällte der IV. Senat des RKG ein Todesurteil gegen den französischen Berufssoldaten Ambos gem § 2 KSSVO wegen Spionage und gem § 91b RStGB wegen Feindbegünstigung. Der Elsässer arbeitete ab 31. Mai 1941 für die französische Waffenstillstandskommission in Lyon als Dolmetscher. Dort kam er in Kontakt mit dem französischen Nachrichtenoffizier Schaller. Da Ambos seine Eltern im Elsass besuchen wollte, erhielt er von Schaller

385 vgl RKG 22.9.1942, StPL (HLS) IV 54/42; BArch, B 141/48277. 386 vgl RKG 2.10.1942, StPL (HLS) III 58/42; BArch, B 141/48277. 387 vgl HVBl (B) 1942/34. 388 vgl RKG 3.11.1942, StPL (HLS) II 110/42; BArch, B 141/48276. 389 vgl RKG 9.12.1942, StPL (HLS) III 105/42; BArch, B 141/48277. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 103/226 die benötigten Papiere. Als Gegenleistung sollte er bei seiner Reise Informationen über Truppen und Truppenbewegungen sammeln. Ambos trat die Reise am 15. Juni 1942 an. Am 6. Juli 1942 führte ihn seine Reise auch nach Wien. Die geplante Befreiung zweier französischer Juden aus dem Kriegsgefangenenlager Kaisersteinbruch gab er jedoch auf. Ambos wurde am 11. Juli 1942 beim Versuch, die Grenze zwischen dem Elsass und dem besetzten Frankreich zu überschreiten, festgenommen.390

Der III. Senat des RKG verurteilte den Belgier Lissens am 7. April 1943 wegen verbotenen Waffenbesitzes zum Tode. Lissens wurde bereits am 17. November 1942 durch das Gericht der Oberfeldkommandantur 570 ebenfalls zum Tode verurteilt. Dieses Urteil wurde aber am 27. November 1942 vom Militärbefehlshaber Belgien und Nordfrankreich aufgehoben und die Sache durch den Chef OKW dem RKG zur neuerlichen Verhandlung übertragen. Lissens war bei Kriegsausbruch Leutnant der belgischen Armee. Nach der Niederlage Belgiens begab er sich in Kriegsgefangenschaft, allerdings behielt er seine Dienstwaffe, die er in seiner Wohnung deponierte. Am 2. November 1942 fand die Geheime Feldpolizei bei einer Hausdurchsuchung die Pistole und dazugehörige Magazine und Munition. Das RKG sah darin eine Bedrohung der deutschen Besatzungstruppen und hielt die Todesstrafe für die einzig angemessene Sanktion.391

Der IV. Senat des RKG verurteilte am 27. Mai 1943 vier Elsässer und Lothringer gem § 2 KSSVO wegen Spionage zum Tode. Zwei mitangeklagte Frauen wurden freigesprochen. Die Männer arbeiteten auf Rheinschiffen und transportierten Waren zwischen Frankreich und der Schweiz. Bei einem Aufenthalt in Basel bat die Geschäftsfrau Schneider die Ehefrau des Erstangeklagten Jacob ihm auszurichten, dass er einen Brief seines Cousins oder seiner Cousine aus dem unbesetzten Teil Frankreichs abholen solle. In dem Brief wurde Jacob mitgeteilt, dass ihn seine Verwandten mit einem Mann in Basel, der sich später als britischer Agent herausstellte, bekanntmachen wollten. Auf Nachfrage erklärte ihm Frau Schneider, dass er berichten solle, was im Elsass und in Deutschland vor sich gehe. Jacob sollte Informationen zu den Rheinhäfen auf seiner Strecke, zu Baumaßnahmen entlang der Strecke, zu Flakstellungen im Strassburger Hafen sowie zu den Auswirkungen von Bombenangriffen liefern. Im August 1942 gewann Jacob den Mitangeklagten Wendling für eine Mitarbeit. Kurze Zeit später wurde über Frau Schneider Kontakt zum Mitangeklagten Metzger hergestellt, der Informationen über Bahntransporte und Rüstungsbetriebe sammeln sollte. Jacob fungierte dabei als Kurier. Der vierte Angeklagte Lieby übernahm ebenfalls Kurieraufgaben. Bertha Schenk war die Schwester Jacobs. Ihre Tochter Georgina Schenk arbeitete in einer Passierscheinstelle in Strassburg und erstellte Listen über deutsche Agenten, die Ausweise für das unbesetzte Frankreich erhielten. Diese Listen übergab sie Jacob, der sie an seinen Kontaktmann in Basel weiterleitete. In der Hauptverhandlung gaben die beiden Frauen an, nicht gewusst zu haben, dass es sich bei den in den Listen genannten Personen um deutsche Agenten handelte. Das RKG sah diese Behauptung als nicht widerlegbar an und begründete so den Freispruch.392

Der Franzose Bonaz wurde am 28. Juli 1943 vom IV. Senat des RKG gem § 143a RStGB wegen Wehrmittelbeschädigung und gem § 91b RStGB wegen Feindbegünstigung zum Tode verurteilt. Bonaz arbeitete ab März 1943 im Luftpark Gutenfeld in Ostpreußen, in dem Flugzeugmotore überprüft wurden. Am 5. April 1943 kam es zu einem Gespräch über Sabotage unter den französischen Arbeitern, in dessen Folge Bonaz einen dieser Motoren unbrauchbar machte, indem er einen Nagel in

390 vgl RKG 11.12.1942, StPL (HLS) IV 109/42; BArch, B 141/48276. 391 vgl RKG 7.4.1943, StPL (HLS) III 19/43; BArch, B 141/48276. 392 vgl RKG 27.5.1943, StPL (HLS) IV 37/43; BArch, B 141/48276. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 104/226 die Zündkerzenöffnung des Motors fallen ließ. Da die Gespräche allerdings von einem deutschen Arbeiter belauscht wurden, wurden Ermittlungen eingeleitet und Bonaz festgenommen.393

Zwei weitere Todesurteile verhängte der IV. Senat am 21. Oktober 1943 gegen die Krankenschwester Simonnet und den Kriegsgefangenen Held gem § 2 KSSVO wegen Spionage. Beide lernten sich bei einem Arztbesuch Helds in Worms kennen. Held besorgte nach Aufforderung Simonnets einen Plan des Rüstungsbetriebes, in dem er arbeitete, den Simonnet nach England weiterleiten wollte. Dazu sandte sie den Plan in einem Brief am 6. Juli 1942 an den in Frankreich stationierten deutschen Unteroffizier Müller, mit dem sie eine Beziehung geführt hatte und der den Brief wiederum an ihren Vater weiterleiten sollte. Simonnets Vater sollte den Plan schließlich an die Briten weiterleiten. Müller öffnete allerdings den Brief und erstattete Meldung, woraufhin Simonnet am 12. Juli 1942 verhaftet wurde.394

Am 24. November 1943 verurteilte der IV. Senat den Niederländer Boele gem § 2 KSSVO wegen Beihilfe zur Spionage und gem § 91b RStGB wegen Beihilfe zur Feindbegünstigung zu acht Jahren Zuchthaus.395 Nachdem die Niederlande von den Deutschen besetzt worden waren, befand sich Boele in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Für einen ehemaligen Schulkameraden, der für die Exilregierung in London arbeitete, übernahm er daher zunächst Aufgaben als Dolmetscher bei einem Treffen mit einem Briten. Bei einem weiteren Auftrag begleitete er vier Männer, die angeblich aus England kamen, von einem Flugplatz zu einem Bahnhof in Rotterdam. Die Todesstrafe wurde nur deshalb nicht ausgesprochen, weil Boele darum bat, „ihm durch Einstellung in eine mit Holländern besetzte Truppe Gelegenheit zu geben, an der Ostfront seine Schuld zu sühnen“.396

f) Urteile gegen Österreicher

In diesem Abschnitt werden weitere Urteile gegen Österreicher dargestellt, die noch nicht in anderen Kapiteln behandelt wurden.

Der österreichische Widerstand formierte sich sowohl im sozialistischen als auch im bürgerlichen Lager. Die Führung der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) und der Revolutionären Sozialsten (RS), die sich 1934 von der SPÖ abgespalten hatten, wurde nach dem Anschluss verhaftet. Die illegal weiterexistierenden Organisationen wurden von der Gestapo überwacht. Kurz vor Kriegsbeginn wurden 300 Sozialisten und Kommunisten verhaftet. Das RKG beschäftigte sich in mehreren Verfahren mit österreichischen Sozialisten und Kommunisten. Am 16. Dezember 1942 wurde zB Leopold Zaynard wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tode verurteilt, weil er als ehemaliges Mitglied im kommunistischen Jugendverband mit einem Auslandsfunktionär zusammengearbeitet hatte. Am 25. April 1942 wurden 15 österreichische Eisenbahner wegen Vorbereitung zum Hochverrat vom III. Senat des RKG verurteilt, weil sie Züge beschädigt hatten. Neun wurden zum Tode verurteilt, davon sechs Sozialisten und drei mit angeblich kommunistischen Neigungen. Am 17. August 1942 verurteilte der III. Senat des RKG den Lehrer Richard Zach sowie den Soldaten Josef Red wegen Vorbereitung zum Hochverrat mit ähnlichen Argumenten zum Tode, weil sie Flugblätter in Graz ua mit den Titeln „Der Rote Stoßtrupp“ und „Nieder mit Hitlers Raubkrieg!“ verteilt hatten. Die Mitangeklagten Soldaten, Hugo Graubner und Alois Kaindl wurden zu acht bzw fünf Jahren Zuchthaus verurteilt.397

393 vgl RKG 28.7.1943, StPL (HLS) IV 46/43; BArch, B 141/48276. 394 vgl RKG 21.10.1943, StPL IV 55/43; BArch, B 141/48276. 395 vgl RKG 24.11.1943, StPL IV 81/43; BArch, B 141/48277. 396 RKG 24.11.1943, StPL IV 81/43; BArch, B 141/48277. 397 vgl RKG 17.8.1942, StPL III (HLS) 75/42; RKG 25.4.1942, StPL (HLS) III 16/42; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 155 ff; DÖW, Hinrichtung von zehn Eisenbahnern, https://www.doew.at/erinnern/fotos-und-dokumente/1938-1945/hinrichtung-von- 22. Oktober 2018 Horst Pichler 105/226

Gegen den katholischen Innsbrucker Priester Carl Lampert verhängte der II. Senat des RKG im sog Stettinprozess am 20. Dezember 1943 ein Todesurteil wegen Feindbegünstigung, Zersetzung der Wehrkraft und Rundfunkverbrechen. Bereits davor wurde er von der Gestapo verhaftet und im August 1940 in das KZ Dachau eingeliefert. Am 1. August 1941 wurde er aus dem KZ entlassen und ein Aufenthaltsgebot in Pommern-Mecklenburg ausgesprochen. Lampert beantragte nach dem Urteil vom 20. Dezember 1943 eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Allerdings war mittlerweile ein neues Verfahren wegen Spionage anhängig. Lampert hatte versucht, einen Gestapoagenten zu überreden, Pläne zur Produktion der Vergeltungswaffen in Peenemünde an die Briten weiterzuleiten. Da parallel auch die Geistlichen Lorenz und Simoleit angeklagt wurden, gewann der Prozess politische Brisanz. Senatspräsident Lueben sollte gegen alle drei Angeklagten gemeinsam verhandeln. Er verzögerte zunächst den Prozess und beging schließlich am 28. Juli 1944, dem Tag, an dem die Hauptverhandlung stattfinden sollte, Selbstmord. Messerschmidt sieht darin einen Hinweis auf die innere Überzeugung Luebens und seine Opposition zum Nationalsozialismus, räumt aber ein, dass sich dies mit seiner sonstigen Urteilspraxis nur schwer in Einklang bringen lässt. Letztendlich verurteilte der II. Senat des RKG unter Senatspräsident Biron Lampert am 8. September 1944 erneut zum Tode. Gemeinsam mit Simoleit und Lorenz wurde Lampert am 13. Dezember 1944 hingerichtet. Obwohl sich Lueben ebenso wie viele andere NS Militärrichter wohl in einem Zwiespalt zwischen seinen Überzeugungen und NS Rechtsgrundsätzen befand, setzten die Richter letztendlich dennoch die NS Rechtsgrundsätze konsequent um.398

Die Soldaten Greff, Schäfer und Rehak waren im November und Dezember 1944 nicht mehr zu ihren Einheiten eingerückt und schlossen sich einer Wiener Widerstandsgruppe an. Nachdem die Organisation verraten wurde, nahm die Polizei im Zuge von Hausdurchsuchungen die drei Flüchtigen am 15. und 16. Dezember 1944 fest. Greff, Schäfer und Rehak wurden dem RKG überstellt und am 8. März 1945 wegen Kriegsverrats und Fahnenflucht zum Tode verurteilt.399

Am 11. März 1945 fällte das RKG Todesurteile gegen die Soldaten Guschlbauer, Paschner, E Ulsamer und K Ulsamer wegen Kriegsverrats und Spionage. Drei von ihnen waren 1944 in Italien in Kriegsgefangenschaft geraten und ließen sich von der US Armee für Spionageeinsätze rekrutieren. Nachdem sie am 13. Oktober 1944 per Fallschirm in der Nähe des Neusiedler Sees abgesetzt worden waren, wurden sie Ende November 1944 in Wien verhaftet und dem RKG überstellt.400

g) Urteile gegen Generäle und Admiräle

Gegen Generäle und Admiräle wurde vor dem RKG in 28 Fällen verhandelt. Sieben Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, davon drei wegen Ungehorsams im Felde, zwei wegen Zersetzung der Wehrkraft und einer wegen Dienstpflichtverletzung im Felde. Ein weiteres Todesurteil wurde gegen den Vorsitzenden des Bundes Deutscher Offiziere (BDO) und Präsidenten des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) General Walther von Seydlitz-Kurzbach verhängt. Wegen Ungehorsams zehn-eisenbahnern#reichskriegsgericht (abgefragt am 8.5.2018); Kern, Die sachlich-rechtlichen Entscheidungen des Reichskriegsgerichts, ZWehrR 1942/43, 357; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 126 f. 398 vgl RKG 8.9.1944, StPL II 78/44; VUA, RKG K62 39/9/8; VUA, RKG K62 39/12/7; Baumann/Koch, Richter, in Baumann/Koch 218; Eberlein/Haase/Oleschinski in Eberlein/Haase/Oleschinski 129 ff; Dörner in Haase/Paul 120 f; Haase, RKG 19 ff; Haase in Haase/Oleschinski2 47 ff; Haase/Oleschinski, Dokumentation, in Haase/Oleschinski (Hrsg), Das Torgau- Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR-Strafvollzug2 (1998) 121 f; Haase, Aus der Praxis des Reichskriegsgerichts, VfZ 1991, 379 (406); Haase, Das Reichskriegsgericht in Torgau, ZfG 1992, 1127 (1133 f); Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 127 f; Moos in Kohlhofer/Moos 65 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 211; Viebig/Skowronski in Kirschner 173 ff. 399 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 83 f. 400 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 84. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 106/226 im Felde wurden Generalmajor Gerhard Kegler und Generalleutnant Hans von Sponeck verurteilt. Wegen Zersetzung der Wehrkraft wurden General Edgar Feuchtinger und Generalleutnant Hermann Becker verurteilt. Politische Urteile im engeren Sinne waren jene gegen Seydlitz, Ziehlberg und Becker. Fünf Angeklagte wurden freigesprochen. Die restlichen Anklagen betrafen Delikte, die mit Geld- oder Freiheitsstrafen geahndet wurden. Lt Admiral Bastian bildete das RKG nur den äußeren Rahmen bei Verfahren gegen Generäle wegen befehlswidriger Handlungen. Es stellte die juristischen Senatsmitglieder und den RKA. Die Laienrichter wurden aus verschiedenen Truppenteilen, möglichst aus dem Frontabschnitt des Angeklagten, bestellt. Dabei ignoriert Bastian die entscheidende Rolle der beteiligten Juristen, insbesondere des RKA und des Senatspräsidenten. Bei Verfahren gegen Generäle kam Hitler nicht nur das Bestätigungs- und Aufhebungsrecht zu, sondern er bestimmte auch die Frontrichter für die Verhandlung.401

Seydlitz war als Kommandeur des LI. Armeekorps in Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten und hatte sich dem BDO und NKFD angeschlossen. Der BDO war ein von den Sowjets geförderter Zusammenschluss von Offizieren mit dem Ziel, den Krieg und die NS Herrschaft zu beenden. Die NS Führung wurde kritisiert und die Wehrmacht aufgefordert, sich hinter die Reichsgrenze zurückzuziehen und den Kampf einzustellen. Die NS Propaganda sah darin den Versuch der Bolschewisierung Deutschlands. Seydlitz wurde am 26. April 1944 wegen Kriegsverrats und Mitgliedschaft im BDO in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Seine Frau wurde zur Scheidung gezwungen. Das Urteil diente auch der deutschen Propaganda. Hitler hatte bereits nach der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad negative propagandistische Auswirkungen durch öffentliche Auftritte gefangener Generäle befürchtet. Göbbels regte eine Ehrenerklärung der deutschen Feldmarschälle an, in der sich diese demonstrativ hinter Hitler stellen sollten. Am 29. Februar 1944 wurde dies durch Göbbels und General Rudolf Schmundt, den Chefadjutanten Hitlers, beschlossen. Göbbels legte den Wortlaut fest, und Schmundt holte die Unterschriften aller acht Feldmarschälle an der Front ein. Am 19. März 1944 übergab Gerd von Rundstedt als ältester Feldmarschall das Manifest an Hitler. Seydlitz wurde darin für seinen Verrat und den Dolchstoß verurteilt. Die Übergabe des Manifests fand exakt vier Wochen vor der Hauptverhandlung gegen Seydlitz statt. Das Urteil gegen Seydlitz wurde gemeinsam mit dem Manifest der Feldmarschälle von Schmundt an alle Befehlshaber und Kommandierenden Generäle des Feld- und Ersatzheeres bekanntgegeben. Diese hatten auch alle Offiziere darüber zu informieren. Weitere ähnliche Verfahren wurden danach nicht mehr durchgeführt, da die gewünschte Signalwirkung offenbar erreicht wurde. Bastian vertrat die Meinung, dass von weiteren Anklagen abgesehen werden sollte, da nicht sicher sei, ob sie erfolgversprechend seien.402

Im August 1944 erhob die RKA Anklage gegen die Generalmajore Lattmann und Korfes sowie Generalleutnant Daniels wegen fortgesetzten Kriegsverrats gem § 57 MStGB und § 47 RStGB. Den Generälen wurde vorgeworfen, sich 1943 und 1944 in der Sowjetunion am NKFD und am BDO beteiligt zu haben. Alle drei Angeklagten sollen dem Vorstand des BDO angehört haben. Als solche hielten sie mehrere Ansprachen im Radio und organisierten Propagandaflugblätter, in denen ua der Krieg für die Deutschen als verloren bezeichnet und der Sturz Hitlers gefordert wurde. Ein Urteil liegt in diesem Fall leider nicht vor. Es ist aber wohl von einer Verurteilung zum Tode auszugehen.403

401 vgl VUA, RKG K62 39/9/19; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 82 f; Gribbohm, RKG Rz 270 ff; Haase, RKG 236 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 129 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 199 ff. 402 vgl VUA, RKG K46 39/11/24; VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K62 39/13/22; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 82 f; Gribbohm, RKG Rz 55; Haase, RKG 239; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 131 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 201 ff. 403 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K62 39/13/22. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 107/226

General Kegler wurde am 12. Februar 1945 durch den III. Senat des RKG gem § 5 Abs 1 KSSVO zum Tode verurteilt, weil er die Stadt Landsberg mit den ihm zugewiesenen Truppen nicht halten konnte. Das Gericht begründete das Urteil mit der Schwere des Nachteils und dem Ernst der Gefahr, die nach gesundem Volksempfinden ein hartes Urteil erforderten. Das Urteil wurde am 16. Februar 1945 von Himmler bestätigt, die Vollziehung allerdings zur Frontbewährung ausgesetzt. Als einfacher Soldat sollte Kegler bei der Division Groß-Döbernitz eingesetzt werden, um zu fallen oder sich einen Gnadenerweis zu verdienen. Sponeck wurde am 23. Jänner 1942 wegen fahrlässigen Ungehorsams im Felde vom neu errichteten Sondersenat des RKG, der unter dem Vorsitz Görings stand, zum Tode verurteilt, weil er entgegen dem Befehl Hitlers die 46. Infanteriedivision auf der Halbinsel Kertsch zurückgezogen hatte, um einer Einkesselung zu entgehen. Im März 1942 wurde er von Hitler zu sechs Jahren Festungshaft begnadigt. Am 23. Juli 1944 wurde er auf Befehl Himmlers im Gefängnis erschossen. Als Vorwand diente das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944. Das Urteil gegen Sponeck wurde allen Feldmarschällen, Generälen und Admirälen bekanntgegeben. Darin wird festgestellt, dass nur höchste Disziplin und das unbedingte Festhalten an gegebenen Befehlen eine siegreiche Führung ermögliche. Daher sei auf die Todesstrafe erkannt worden.404

Der Kommandierende General der Luftwaffe in Finnland Harmjanz wurde vom II. Senat des RKG am 20. Dezember 1944 vom Vorwurf der fahrlässigen Dienstpflichtverletzung freigesprochen. Hintergrund des Verfahrens war ein britischer Luftangriff, der am 12. November 1944 auf das in einem Fjord bei Tromsö liegende Schlachtschiff Tirpitz durchgeführt wurde. Das Schiff kenterte, und 1.000 Besatzungsmitglieder starben. Harmjanz sollte nun eine Untersuchung durchführen, ob der Jagdschutz durch die deutsche Luftwaffe ausreichend gewesen war, und die Ergebnisse an das Oberkommando der Luftwaffe (OKL) melden. Der Bericht stellte Mängel in der Ausbildung und Ausrüstung der verfügbaren Jagdstaffeln sowie in den Möglichkeiten zur Beobachtung des Luftraumes fest. Durch unklare Meldungen kam es so zu einem verspäteten Start der deutschen Jagdflugzeuge. Darüber hinaus hätte die Marine der Luftwaffe den Liegeplatz der Tirpitz nicht mitgeteilt und die Frage eines möglichen Luftschutzes nicht besprochen. Der Liegeplatz sei aber informell bekannt gewesen und die Tirpitz auch als wichtiges Schutzobjekt in einen Befehl aufgenommen worden. Dieser Darstellung widersprach allerdings die Marine. Tatsächlich erfolgte die Anforderung von Jagdschutz durch die Marine, nachdem der Befehl, die Tirpitz zu schützen, bereits erlassen worden war, weshalb diese Anforderung dem Kommandanten vom Stab nicht mehr vorgelegt wurde. Das RKG kam zu dem Schluss, dass Harmjanz seinen Bericht nach bestem Wissen und Gewissen erstattet habe. Ihm sei auch keine Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Die Organisation des Flugmeldedienstes wurde vom RKG vor dem Hintergrund der vorhandenen Mittel als ausreichend beurteilt.405

In Zusammenhang mit dem Untergang der Tirpitz wurde auch eine Untersuchung des OKM gegen den Kommandierenden Admiral der norwegischen Polarküste Vizeadmiral Nordmann und den Befehlshaber der 1. Kampfgruppe Konteradmiral Peters wegen Dienstpflichtverletzung im Felde eingeleitet. Die beiden Admiräle hatten den Auftrag des OKM erhalten, einen kentersicheren Liegeplatz für das Schiff zu finden, wobei die Wassertiefe bei elf Metern liegen sollte. Der gewählte Liegeplatz bei Tromsö hatte allerdings eine Tiefe von 14 bis 17 Metern, wodurch das Kentern des Schiffes begünstigt wurde. Eine Meldung der größeren Wassertiefe an das OKM unterblieb. Die RKA

404 vgl VUA, RKG K62 39/9/8; VUA, RKG K62 39/13/22; Gribbohm, RKG Rz 274; Haase, RKG 236; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 130 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 199 f. 405 vgl RKG 20.12.1944, StPL II 110/44; VUA, RKG K9 39/2-31C; VUA, RKG K9 39/2-31; VUA, RKG K9 39/2-31A; VUA, RKG K9 39/2-31F; VUA, RKG K62 39/13/22. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 108/226 leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren ein. Ein Urteil des RKG dazu konnte in den Archiven allerdings nicht gefunden werden.406

Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Paris den Alliierten übergeben, obwohl es zum festen Platz erklärt worden war und daher mit allen Mitteln bis zum letzten Mann hätte verteidigt werden sollen. Der am 8. August 1944 ernannte Kommandant von Groß-Paris General von Choltitz entschloss sich allerdings zu Verhandlungen mit der Résistance, die am 20. August 1944 zu einem Abkommen über die Einstellung der Kampfhandlungen führten. Im August hatten die Widerstandsaktivitäten in Paris vor dem Hintergrund der herannahenden alliierten Truppen deutlich zugenommen, die französische Polizei streikte, und es waren Aufstände ausgebrochen. Ein Befehl Hitlers vom 22. August 1944 zur Sprengung der Seinebrücken wurde nicht umgesetzt. Ebenso erlaubte er den Abzug von Truppen aus Paris. Am 25. August 1944 nahm er unter dem Eindruck der Kampfhandlungen in Paris, die sich rasch zu Ungunsten der deutschen entwickelten, direkte Verhandlungen mit den Alliierten auf und unterschrieb schließlich die Kapitulation seiner Truppen und begab sich in Kriegsgefangenschaft. Mit Anklageverfügung vom 1. März 1945 wurde ein Verfahren gegen von Choltitz gem § 63 MStGB in Gang gesetzt. Die Hauptverhandlung vor dem I. Senat des RKG fand in Abwesenheit des Angeklagten am 15., 16. und 27. März 1945 statt. Am 27. März 1945 setzte das RKG die Verhandlung aus. Dabei zeigte der Senat großes Verständnis für von Choltitz. So sei es nicht seine Aufgabe gewesen, alle kampffähigen Männer in Paris zu sammeln, sondern sie für den Oberbefehlshaber West zur weiteren Verteidigung verfügbar zu machen. Auch die Verhandlungen mit der Résistance wurden gebilligt, da Ruhe in der Stadt als oberstes Ziel der Besatzungsmacht gutgeheißen wurde. Zu den übrigen Vorwürfen erachtete das RKG die Beweislage nicht als ausreichend, um zu einem Urteil zu kommen.407

C. Rechtsprechung sonstiger Wehrmachtsgerichte

1. Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin Eine Sonderstellung innerhalb der NS Militärjustiz nahm das Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin (GWKB) ein. Mit über 100 Juristen war es das größte Wehrmachtsgericht. Nach Schätzungen wickelte das Gericht rund 46.000 Verfahren ab. Eine genaue Zahl ist aufgrund der mangelhaften statistischen Grundlagen auch in diesem Fall nicht eruierbar. Neben der Zuständigkeit für alle Wehrmachtsangehörigen im Raum Berlin urteilte das GWKB seit August 1942 auch über alle Fälle von Wehrkraftzersetzung beim Feld- und Ersatzheer sowie über Fälle von Fahnenflucht, die nach drei Monaten erfolgloser Fahndung an das GWKB abzugeben waren. Trotz der mangelhaften statistischen Basis ist aufgrund der besonderen Zuständigkeiten von einer hohen Zahl von Todesurteilen auszugehen. In einer Bestandsliste mit 135 Todesurteilen finden sich 95 wegen Fahnenflucht und sechs wegen Wehrkraftzersetzung. Eine Vollstreckungsliste enthält 56 weitere Todesurteile. Die Gesamtzahl der verhängten Todesurteile dürfte aber weit höher anzusetzen sein. Von September 1942 bis August 1944 wurden 1.570 flüchtige Soldaten von der Fahndungsabteilung des Gerichts festgenommen. Je näher das Kriegsende rückte, desto höher wurde auch die Zahl der Flüchtigen. Eine Liste umfasst für Jänner und Februar 1944 allein 6.100 Namen von Deserteuren, die dem GWKB überstellt wurden. Gegen Kriegsende konnten allerdings viele Fahndungen nicht mehr erfolgreich abgeschlossen werden.408

406 vgl VUA, RKG K9 39/2-31; VUA, RKG K9 39/2-31A; VUA, RKG K9 39/2-31B; VUA, RKG K9 39/2-31F; VUA, RKG K9 39/2-31G. 407 vgl RKG 27.3.1945, StPL I 15/45; VUA, RKG K28 39. 408 vgl Haase, Deserteure2 61; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 134 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 454 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 109/226

Das Gericht verfügte auch über eine Außenstelle in Wien. Die Urteilsbegründungen waren ähnlich jenen des RKG und enthielten oft allgemeine Formulierungen. So wurden die Soldaten Otto Eulenstein und Kurt Henschel am 19. Juni 1944 wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt, weil sie wehrfeindlich eingestellt seien. Dass Propagandaschriften des BDO bei den Angeklagten gefunden wurden, zeuge davon, dass ihre Gesinnung jener des BDO nahestehe. Beide wurden am 24. Juli 1944 hingerichtet. Der Grenadier H wurde am 14. Dezember 1944 wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt, weil er immer noch kommunistische Ansichten und sich bereits länger mit dem Gedanken an Selbstverstümmelung beschäftigt habe. Auch habe er andere Soldaten veranlasst, sich zu beteiligen, und so die Manneszucht gefährdet. Obwohl es zu keiner Selbstverstümmelung kam, hielt das Gericht aufgrund der Schwere der Tat die Todesstrafe für angebracht. Das Urteil wurde von Himmler, der seit 20. Juli 1944 auch BdE war, bestätigt und am 20. Jänner 1945 die Vollziehung angeordnet.409

Ebenso wurde Major Bambach am 27. Juni 1942 vom GWKB wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode verurteilt. Bambach, der finanzielle Schwierigkeiten hatte, bot einem Wehrpflichtigen an, ihm zu helfen, vom Wehrdienst befreit zu werden. Dafür erhielt er als Gegenleistung 4.000 Reichsmark. Das Urteil wurde am 28. Oktober 1942 von Hitler bestätigt und am 14. November 1942 vollzogen.410 2. Zentralgericht des Heeres Obwohl das Zentralgericht des Heeres (ZdH) erst im April 1944 errichtet wurde und somit nur rund ein Jahr bis Kriegsende tätig war, übernahm es bedeutende Aufgaben innerhalb der NS Militärjustiz. Durch einen lückenhaft erhaltenen Aktenbestand ist wie auch bei anderen Gerichten eine exakte statistische Auswertung der Urteilspraxis nicht möglich. Eine Kriegsgeschäftsnachweisung für den Zeitraum 21. August bis 20. September 1944 enthält für dieses eine Monat 854 laufende Strafverfahren und 57 Urteile, wobei lediglich eine Zuchthausstrafe ausgewiesen ist. 56 Angeklagte wurden zum Tode verurteilt, davon 40 wegen Wehrkraftzersetzung, sechs wegen Fahnenflucht, zwei wegen Unzucht und je einer wegen Meuterei und Devisenvergehen. Zu sechs Todesurteilen sind keine näheren Informationen vorhanden. Die Statistik der Fahndungsabteilung des ZdH weist für Anfang Oktober 1944 9.152 offene Fahndungen aus. Innerhalb des Monats wurden 1.892 neue Fahndungen eingeleitet und nur 454 abgeschlossen. Die Zahl der Fahndungen nahm im Verlauf des Krieges mit der sich verschlechternden militärischen Lage deutlich zu.411

Das ZdH verfügte auch über eine Außenstelle in Wien. Die Außenstelle beschäftigte sich va mit Fällen von Wehrkraftzersetzung. 1944 wurden lt Straflisten zumindest 748 Verfahren durchgeführt. Die Außenstelle verfügte über acht Juristen, die abwechselnd als Richter und Ankläger eingesetzt wurden. Die Wiener Urteile waren im Vergleich zu Berlin aber deutlich milder. Meist wurden Gefängnisstrafen zwischen einem und drei Jahren ausgesprochen. Allerdings kam es bei direkter Kritik an der NS Führung auch zu hohen Zuchthausstrafen. So wurden am 2. Oktober 1944 zwei Soldaten zu zwei und fünf Jahren Zuchthaus verurteilt, nachdem sie der NSDAP die Schuld am Krieg zugewiesen und Göring, Göbbels und Hitler kritisiert hatten. Zwei weitere Soldaten wurden wegen gleichlautender Vorwürfe zu fünf und zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Unteroffizier, der die Einführung des deutschen Grußes als Schande bezeichnet hatte, wurde wegen Wehrkraftzersetzung im September 1944 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ein Soldat, der meinte, es gäbe keine wichtige Front mehr, und Sympathie für Oberst Stauffenberg bekundete, wurde wegen der besonderen Schwere der Tat zu

409 vgl Haase, Deserteure2 24 ff; Haase, Fahnenflucht 160 ff; Klausch, 500 256; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 135 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 506 ff. 410 vgl VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K53 39/13/20; VUA, RKG K65 39/13/17. 411 vgl Haase, RKG 11; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 142 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 136; Wüllner, NS- Militärjustiz2 222. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 110/226 fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Gestapo hatte zuvor seine Kontakte zu Kommunisten betont. Ein weiterer Soldat wurde nach einer Denunziation zunächst zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Die Denunziantin hatte bei der Gestapo angegeben, der Soldat habe geäußert, dass der Krieg sowieso verloren werden müsse und die letzten Führerreden nur ein jämmerliches Gewinsel gewesen seien. Das Ersturteil wurde vom Gerichtsherrn Hase als zu mild aufgehoben. In der Neuverhandlung wurde die Strafe am 30. Juni 1944 auf fünf Jahre Gefängnis erhöht. Das Urteil wurde nunmehr bestätigt und die Vollziehung in einer Feldstrafgefangenenabteilung angeordnet.412

Hase bestätigte allerdings auch zahlreiche für die NS Militärjustiz verhältnismäßig milde Urteile. Anders verhielt er sich bei einem Urteil gegen einen 34 Jahre alten Soldaten, der im Urlaub in Wien mit Studenten ins Gespräch kam und meinte, es stünden schon Organisationen für einen Umschwung bereit und man müsse sich an die Seite der Kommunisten stellen, die bald eine führende Rolle einnehmen würden. Seine Beziehung zu einer Jüdin sei eine schöne Zeit gewesen. Diese Aussagen wurden als sehr gefährlich für die totale völkische Einsatzbereitschaft und den Endsieg eingestuft. Am 27. April 1944 wurde er daher zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 12. Juni 1944 vom BdE Generaloberst Fromm bestätigt. Die Mutter des Verurteilten stellte ein Gnadengesuch an den Reichsstatthalter Baldur von Schirach, der sich nach der Möglichkeit einer Umwandlung der Strafe in eine Freiheitsstrafe erkundigte. Das Gnadengesuch wurde dem Gerichtsherrn Hase vorgelegt, der es am 14. Juli 1944 ablehnte. Dies wurde durch mehrere Rechtsgutachten gestützt. Nachdem nach dem 20. Juli 1944 Heinrich Himmler den Posten des BdE übernahm, setzte dieser am 5. September 1944 zwar die Vollziehung des Urteils aus, übergab den Soldaten aber der Gestapo zur Einweisung in ein KZ, um im Arbeitseinsatz verwendet zu werden.413

Während militärische Gerichtsherren Strafen häufig zur Frontbewährung in einer Bewährungseinheit aussetzten, bevorzugten Himmler und die SS die Überstellung wehrunwürdiger Soldaten zum Arbeitseinsatz in KZ. Bei Zuchthausurteilen war die Wehrunwürdigkeit als Nebenfolge vorgesehen. Bei Ermittlungen des ZdH wurde auch auf Gestapo und NSDAP zurückgegriffen. Viele Anklagen basierten auf Denunziationen, die häufig vor diesen zivilen Stellen getätigt wurden. Bis November 1944 meldeten sich allein in Wien 133 Personen, deren Denunziationen zu 128 Verurteilungen vor der Wiener Außenstelle des ZdH führten. Unter den Verurteilten befanden sich auch 19 Mitglieder der NSDAP. Die Denunzianten entstammten dabei häufig dem gleichen sozialen Umfeld wie die Beschuldigten. Häufig glaubten Denunzianten auch, dem Wohl des Staates zu dienen, und handelten in der Überzeugung, das Richtige zu tun.414

Die meisten Urteile wegen Zersetzung der Wehrkraft basierten weiterhin auf der Rechtsprechung des RKG. Danach war es nicht erforderlich, dass der Zersetzer auch in Zersetzungsabsicht gehandelt hatte. Die subjektive Tatseite wurde als irrelevant eingestuft. Lediglich bei der Strafzumessung konnte ihr Bedeutung zukommen. Gerade in der Endphase des Krieges blieben viele Richter in formelhaften Urteilsbegründungen verhaftet, um Disziplin und Manneszucht aufrechtzuerhalten und die angenommenen Fehler des Ersten Weltkriegs nicht zu wiederholen. § 5 Abs 1 Z1 KSSVO wurde während des Krieges zunehmend zum Mittel der Disziplinierung der Soldaten im Sinne der NS- und Wehrmachtsführung, wobei die Bestimmung deutlich seltener gegen Offiziere und Soldaten aus

412 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 143 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 137; Wüllner, NS-Militärjustiz2 502. 413 vgl Klausch, 500 256; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 145 f. 414 vgl HM 1939/808; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 103; Dörner in Haase/Paul 110 ff; Fritsche, Österreichische Opfer, in Manoschek 91 ff; Hornung in Pirker/Wenninger 98 ff; Manoschek in Pirker/Wenninger 48 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 146 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 143; Wüllner, NS-Militärjustiz2 502 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 111/226 gehobenen sozialen Schichten angewendet wurde. Messerschmidt geht davon aus, dass sie die Konsequenzen ihres Handelns besser einschätzen konnten und daher vorsichtiger waren.415

Der Gefreite Wasner war als Kind ein Mitschüler Hitlers in Leonding bei Linz gewesen. An der Ostfront prahlte er mit dieser Bekanntschaft und kommentierte die Kriegslage. Auf die Aufforderung seiner Kameraden, seine Erkenntnisse doch mit seinem Schulfreund zu teilen, erklärte Wasner, Hitler sei deppert, und erzählte von einem Jugendstreich. Hitler hätte gewettet, einem Ziegenbock ins Maul zu pinkeln. Durch die Schulkameraden angestachelt sei dies in die Tat umgesetzt worden. Dabei habe ein Mitschüler das Maul des Ziegenbocks mit einem Stock aufgehalten, den Stock aber vorzeitig wieder weggezogen. Der Ziegenbock habe Hitler daraufhin in den Zippedäus (Penis) gebissen. Daraufhin wurde Anklage vor dem ZdH erhoben. Ein psychiatrisches Gutachten bescheinigte Wasner zwar ein mangelhaftes logisches Denkvermögen und angeberhaftes Auftreten, stellte jedoch gleichzeitig seine Schuldfähigkeit fest. Das ZdH verurteilte Wasner wegen Wehrkraftzersetzung zum Tode. Das Urteil wurde vom Chef OKW Keitel bestätigt und ein Gnadengesuch abgelehnt.416 3. Standgerichte Zahlreiche Urteile, darunter va Todesurteile, wurden auch von Standgerichten gefällt. Ihre Zahl nahm insbesondere in der Endphase des Krieges, als die Lage für die Wehrmacht immer unübersichtlicher wurde und die Zahl der Fahnenflüchtigen und Überläufer enorm anstieg, stark zu. In dieser Phase kamen Standgerichte vermehrt zum Einsatz, um die Disziplin der Soldaten zu erzwingen. Die Vollziehung von Todesurteilen der Standgerichte sollte im letzten Kriegsjahr vor der Truppe und in der Öffentlichkeit erfolgen. Häufig wurden Verurteilte in der Öffentlichkeit gehängt. Die Quellenlage bezüglich der Standgerichte ist noch mangelhafter als jene der ordentlichen Militärgerichtsbarkeit. Für die letzten Kriegsmonate von Jänner bis Mai 1945 liegen die Schätzungen bei 7.000 bis 8.000 Standgerichtsurteilen.417

Oberstleutnant Gadolla wurde als Kommandant des festen Platzes Gotha vom Bürgermeister, dem Kreisleiter der NSDAP und einem SS Obergruppenführer gebeten, mit den Alliierten über eine Einstellung der Kampfhandlungen zu verhandeln. In der Stadt gab es kaum noch deutsche Soldaten, wodurch eine Verteidigung nach militärischen Gesichtspunkten nicht bewerkstelligt werden konnte. Daher fuhr Gadolla am 3. April 1945 mit weißer Fahne zu den Alliierten. Auf dem Weg dorthin, wurde er allerdings verhaftet und am 4. April 1945 durch ein Standgericht der Wehrmachtskommandantur Weimar zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde am 5. April 1945 vollzogen. Zur Urteilsbegründung wurde eine von Gadolla unterzeichnete Erklärung herangezogen, in der er sich verpflichtet hatte, bis zum äußersten zu kämpfen. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wie schnell Standgerichtsverfahren abgewickelt wurden und wie leicht ein solches Verfahren in Gang zu setzen war.418

D. Rechtsprechung zu ausgewählten Delikten

1. Fahnenflucht Fahnenflucht gem §§ 69 f MStGB, ein Delikt, das grundsätzlich in allen Staaten mit Strafe bedroht ist, entwickelte sich unter dem Einfluss der NS Ideologie zu einem politischen Tatbestand. Schwinge419

415 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 147 f; Moos in Kohlhofer 105 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 165 ff; Walmrath, Iustitia 536 ff. 416 vgl Güstrow, Tödlicher Alltag. Strafverteidiger im Dritten Reich (1984) 111 ff. 417 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 415 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 84 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 201 ff; gegen die Einbeziehung von Standgerichten in die Wehrmachtsjustiz aufgrund des fälschlicherweise behaupteten Fehlens von beteiligten Juristen Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 5 f. 418 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 417. 419 vgl Schwinge, Militärstrafgesetzbuch einschließlich Kriegsstrafrecht6 (1944) 185. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 112/226 stellte in seinem Kommentar zum MStGB fest, dass Fahnenflucht ein Treuebruch sei. Treue schuldete der Soldat Adolf Hitler, der sowohl der Führer des Deutschen Reiches als auch der Oberbefehlshaber der Wehrmacht war. Ihm schuldete der Soldat aufgrund des 1934 eingeführten Eides unbedingten Gehorsam. Fahnenflüchtige wurden häufig als Wehrmachtsschädlinge oder minderwertig klassifiziert. Der ObdM Dönitz sah in der Fahnenflucht ein Versagen treuloser Schwächlinge und erwartete die Todesstrafe. In einem Erlass vom 27. April 1943 über die Strafzumessung bei Fahnenflucht führte er aus, dass er jeden Gnadenerweis ablehnen werde. Fahnenflucht sei das schimpflichste soldatische Verbrechen und müsse scharf bestraft werden. Jeder einzelne Soldat sollte wissen, dass Fahnenflucht den Kopf koste. Dönitz ging damit weiter als Hitler selbst. Zwar forderte auch Hitler die Todesstrafe, wenn die Tat aus Furcht vor persönlicher Gefahr begangen wurde oder die Strafe zur Aufrechterhaltung der Manneszucht notwendig erschien, allerdings ließ er in seinen Richtlinien vom 14. April 1940 auch Zuchthausstrafen zu, wenn jugendliche Unüberlegtheit, falsche dienstliche Behandlung, schwierige häusliche Verhältnisse oder andere nicht als unehrenhaft empfundene Motive für die Tat ausschlaggebend waren. Die Urteilspraxis der Militärjustiz ging dennoch in Richtung Todesstrafe und ließ die Milderungsgründe weitgehend außer Acht. Selbst Schwinge weist darauf hin, dass die drakonische Urteilspraxis der Anlass für Hitlers Richtlinien vom 14. April 1940 gewesen sei. Den Anstoß zu den Richtlinien habe dabei der Chef WR Lehmann gegeben. Danach sei eine mildere Judikatur zu beobachten gewesen. Dies steht allerdings im Widerspruch zur Kriminalstatistik der Wehrmacht, die allein von Juli 1941 bis März 1942 565 Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung ausweist.420

Um den Widerspruch zwischen Hitlers Richtlinien und dem Erlass Dönitz zu klären, ersuchte das Gericht des Befehlshabers der Aufklärungsstreitkräfte im August 1943 die MR um eine Klarstellung. MR stellte dazu in einem Schreiben vom 1. September 1943 fest, dass die Führerrichtlinie aus dem ersten, der Erlass Dönitz aus dem vierten Kriegsjahr stamme. Aufgrund der unterschiedlichen Verhältnisse, die für Hitler noch nicht absehbar gewesen seien, seien die inhaltlichen Differenzen nur natürlich. Der Erlass des ObdM sollte darüber hinaus auch zur Belehrung und Abschreckung dienen.421

In einer Verfügung vom 19. November 1944 bestimmte der Chef OKW Keitel, dass auf Überläufer an der Front sofort mit allen Waffen zu schießen sei, wenn die Absicht zur Fahnenflucht einwandfrei festgestellt werden konnte. Bei Verdacht, dass ein Soldat übergelaufen war, musste ein Stand- oder Kriegsgericht unverzüglich Ermittlungen durchführen. Der Überläufer sollte zum Tode verurteilt werden. Die Sippe des Verurteilten haftete für diesen mit Vermögen, Freiheit oder Leben. Den Umfang der Sippenhaftung bestimmte der RFSS und Chef der deutschen Polizei Himmler. Eine gleichlautende Bestimmung zur Sippenhaft wurde gem Verfügung des Chefs OKW vom 5. Februar 1945 auch für Angehörige deutscher Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft Landesverrat begingen, eingeführt.422

In der Luftwaffe gab der Chef LR noch am 8. Dezember 1944 eine ursprünglich vom Chefrichter der Luftflotte 10 verfasste Verfügung, die inhaltlich dem Erlass Dönitz vom 27. April 1943 glich, als Runderlass bekannt. Darin wurde ein zu mildes Vorgehen der Militärjustiz gegen Fahnenflüchtige

420 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 275 ff; VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K77 39/13; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 77 ff; Fritsche in Pirker/Wenninger 131 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 138; Haase, Deserteure2 38; Haase, Fahnenflucht 29 f; Klausch, 999 217; Knippschild in Haase/Paul 127 ff; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 173 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 90 ff; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 185 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 270 ff; Walmrath, Iustitia 168 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 160 ff. 421 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht 79 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 174 f; Walmrath, Iustitia 484 ff. 422 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K63 39/10/11; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 97 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 113/226 bemängelt. Dies sei angesichts der militärischen Lage und der Zunahme der Fahnenfluchtfälle nicht tragbar. Der Verzicht auf die Todesstrafe unter Hinweis auf die Führerrichtlinie vom 14. April 1940 sei unangebracht, da es sich eben nur um Richtlinien handle, die noch dazu unter völlig anderen Bedingungen erlassen worden seien. Der Führer könne die Richtlinien nicht ständig den sich ändernden Verhältnissen anpassen. Die Richter müssten wissen, was die jeweilige Lage von ihnen fordere. Oberste Aufgabe sei die Aufrechterhaltung der Manneszucht.423

Die Motivation der Soldaten zur Fahnenflucht und für ihre Gegnerschaft zum Nationalsozialismus wurde von der NS Militärjustiz nicht hinterfragt. Stattdessen wurden ideologische Kategorien bemüht und die Fahnenflüchtigen pauschal als Wehrmachtsschädlinge eingestuft. In einem Erlass vom 6. Dezember 1939 forderte das OKH, die Volksgemeinschaft durch Todesurteile von Deserteuren zu befreien, und sah dies als Reinigungsarbeit. In dieselbe Kerbe schlug der Oberstkriegsgerichtsrat des Dienstaufsichtsbezirks 2 in Kassel, der die untergeordneten Gerichte zur Vorlage ihrer Todesurteile aufforderte, um darlegen zu können, dass die Urteile Teil einer Reinigungsarbeit von asozialen Elementen seien. Ob eine Todes- oder Zuchthausstrafe verhängt wurde, hing wesentlich mit häufig ideologisch geprägten Täterprofilen zusammen. Vorstrafen oder eine fehlende Berufsausbildung führten so rasch und in überproportionalem Ausmaß zu einem Todesurteil. Die bereits dargestellten Zahlen der Todesurteile in der Wehrmacht,424 die deutlich über jenen der westlichen Alliierten liegen, zeigen deutlich den Einfluss der NS Ideologie auf die Rechtsprechung.425

Tatsächlich war die Motivation zur Fahnenflucht vielfältig. Sie reichte von politischer Gegnerschaft zum NS Regime bis hin zu Ursachen in persönlichen Lebensumständen. Es spielten sowohl politische als auch ökonomische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen eine Rolle. Einige politische Gegner hatten schon vor der Machtübernahme Repressionen der Nationalsozialisten zu spüren bekommen. Eine besondere Gruppe stellten die Elsässer, Lothringer und Luxemburger dar, die zum Dienst in der deutschen Wehrmacht gezwungen wurden. Sie standen der Wehrmacht von Beginn an ablehnend gegenüber. Gem einer Übersicht der HR stieg die Zahl der Verfahren gegen Elsässer, Lothringer und Luxemburger wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung von Jänner bis September 1943 von 38 auf 548. In einer weiteren Übersicht der HR werden wegen Fahnenflucht, Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung 196 Verfahren gegen Lothringer, 446 gegen Luxemburger und 406 gegen Elsässer angeführt.426

Politische Motive für eine Wehrdienstverweigerung lassen sich nur in Einzelfällen feststellen, da eine offene Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Regime ein hohes Risiko bedeutete. Dennoch traten einige derartige Fälle auf. So verweigerte zB ein ehemaliger Osttiroler Funktionär der Vaterländischen Front den Wehrdienst mit dem Hinweis, dass er sich dem Ständestaat weiterhin verbunden fühle und keinen Eid auf einen Usurpator leisten werde. Nachdem er sich unter den Bedingungen der

423 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht 80 f. 424 vgl Kapitel V.A. 425 vgl Fritsche, Die Analyse der Beweggründe. Zur Problematik der Motivforschung bei Verfolgten der NS- Militärgerichtsbarkeit, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 107; Fritsche in Pirker/Wenninger 131; Garbe in Pirker/Wenninger 38; Haase, Deserteure2 41 f; Manoschek in Pirker/Wenninger 52; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 174 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 258 ff. 426 vgl Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 15; Fritsche, Beweggründe, in Manoschek 106 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 134 f; Haase, Fahnenflucht 105 ff; Haase, Von „Ons Jongen“, „Malgré-nous“ und anderen. Das Schicksal der ausländischen Zwangsrekrutierten im Zweiten Weltkrieg, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 164 ff; Jelinek, Die Macht und ihr Preis. Gezahlt haben andere., in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) VII; Manoschek in Pirker/Wenninger 52; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 176; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 92 f; Rettl, Fahnenflucht in den Widerstand. Kärntner Slowenen als Deserteure und Partisanen, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 151; Walmrath, Iustitia 511; Wüllner, NS-Militärjustiz2 465 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 114/226

Gestapohaft bereit erklärt hatte, seinen Wehrdienst doch zu leisten, erhielt er eine Strafe von drei Jahren Gefängnis, die zur Frontbewährung ausgesetzt wurde.427

Fahnenfluchten wurden häufig spontan begangen und nicht von langer Hand geplant. Häufig spielte die Furcht vor einer Bestrafung eine Rolle, in einigen Fällen waren private Gründe wie Eheprobleme die Auslöser. Den größten Anteil der Verurteilten machten Personen aus, die nach 1910 geboren und durch die Krisen der Zwischenkriegszeit geprägt wurden. Generell wurden die Geburtsjahrgänge 1913 bis 1922 am stärksten zum Wehrdienst verpflichtet. Sie stellten rund 58% der Einberufenen. Insgesamt wurden 80% der wehrfähigen Bevölkerung zum Wehrdienst herangezogen. Die höchsten Verluste wiesen die Jahrgänge 1920 und 1921 auf, die während des gesamten Krieges im Einsatz standen. Fahnenflucht wurde häufig nach einem Heimaturlaub oder einem Lazarettaufenthalt begangen. Viele flüchteten auch aus den Besatzungsgebieten. Die Deserteure wurden dabei als Feiglinge klassifiziert, eine Einschätzung, die auch die Nachkriegsdebatte dominierte. Ausschlaggebend war in einigen Fällen Kriegsmüdigkeit, Desillusionierung über die Erfolgsaussichten und Ziele der Wehrmacht oder Sympathie für die Menschen in den besetzten Gebieten. Fahnenfluchten wurden häufig erst nach einer längeren Dienstzeit in der Wehrmacht begangen. Der Chef des NS Führungsstabes beim OKH fasste seine Einschätzung nach einem Truppenbesuch am 19. März 1945 zusammen und stellte fest, dass der apathische und müde Soldat, der nur kämpft, wenn ein Offizier ihn antreibt, eine unerfreuliche Erscheinung sei. Der Feigling und Deserteur sei ein weiterer Typ, der sich, ohne zu schießen, überrollen lasse. Die Einteilung in Tätertypen war dabei typisch für die NS Rechtswissenschaft. Schwinge428 stellte fest, dass Fahnenflüchtige zum größten Teil psychopathisch Minderwertige wären. Ihr Anteil an allen Verurteilten liege zwischen 50% und 90%. Dazu ist anzumerken, dass psychiatrische Gutachten relativ selten erstellt wurden, weshalb eine Basis für Schwinges Aussagen fehlt. Er stützte sich im Wesentlichen auf Quellen, die bis 1920 veröffentlicht wurden.429

Für Verfahren vor den Feldkriegsgerichten war insbesondere die Abgrenzung zwischen Fahnenflucht und unerlaubter Entfernung wichtig. Fahnenflucht setzte voraus, dass die Tat in der Absicht begangen wurde, sich dauerhaft dem Wehrdienst zu entziehen. Zur Abgrenzung der Delikte diente auch die Tätertyplehre. Schwinge430 führt dazu in seinem Kommentar aus, dass die Persönlichkeit des Täters immer dann ausschlaggebend sei, wenn sich aus den objektiven Tatsachen kein klares Bild ergäbe. Wenn die Gesamtpersönlichkeit auf eine staats- oder wehrfeindliche Einstellung schließen lasse, komme nur Fahnenflucht in Betracht, insbesondere bei asozialen oder antisozialen Menschen. Die Tätertyplehre hatte gravierende Auswirkungen auf die NS Rechtsprechung und diente wesentlich der Umsetzung der NS Ideologie. Über Richtlinien, Weisungen und die Kontrolle durch Gerichtsherren und Rechtsabteilungen wurde eine ideologiekonforme Anwendung sichergestellt. Eine Interpretationshilfe des OKH zur Fahnenflucht überschritt dabei sogar den Wortlaut des Gesetzes. Danach sollten auch Soldaten, die nicht mehr an gefährdeten Stellen kämpfen wollten, aber zu einem Dienst in anderen Truppenteilen bereit waren, als Fahnenflüchtige behandelt werden. Das

427 vgl Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 125 f. 428 vgl Schwinge, Militärstrafgesetzbuch6 185; Schwinge, Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, ZWehrR 1939/40, 110. 429 vgl Baumann, Rede zur Eröffnung der Wanderausstellung „Was damals Recht war…“ am 21. Juni 2007 im Deutschen Theater Berlin, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 22; Fritsche in Pirker/Wenninger 130 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 158 f; Haase, Deserteure2 62; Knippschild in Haase/Paul 127 f; Langelüddeke, Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, ZWehrR 1939/40, 251; Manoschek in Pirker/Wenninger 52; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 177 f; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 102 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 44 ff; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 188; Schöngarth/Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 136 ff; Schwinge, Militärstrafgesetzbuch6 185; Schwinge, Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, ZWehrR 1939/40, 110; Walmrath, Iustitia 459 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 350 ff. 430 vgl Schwinge, Militärstrafgesetzbuch6 168 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 115/226

Tatbestandsmerkmal der Furcht vor persönlicher Gefahr dürfe dabei nicht zu eng ausgelegt werden. Wer sich den beschwerlichen Bedingungen des Einsatzes entziehen wolle, handle aus Mangel an Mut und müsse demjenigen gleichgestellt werden, der sich vor feindlichen Waffen fürchte. Mit der Todesstrafe sollten die Manneszucht aufrechterhalten und der Endsieg garantiert werden.431

Der Schütze Handerek, ein Pole, der als Volksdeutscher in die Wehrmacht einberufen wurde, fürchtete dadurch Repressalien gegen seine Familie. Deshalb flüchtete er östlich von Mährisch Ostrau aus einem fahrenden Zug und wollte zu seiner Familie zurückkehren. Obwohl hier keine Furcht vor persönlicher Gefahr vorlag, verurteilte ihn Schwinge als Kriegsrichter der Division 177 am 12. Oktober 1944 mit dieser Begründung zum Tode. Gerechtfertigt wurde dies damit, dass Wehrmachtsangehörige aus völkisch gemischten Gebieten in Krisenzeiten nur dann diszipliniert werden könnten, wenn sie bei Fahnenflucht ausnahmslos mit der Todesstrafe rechnen müssten. Damit überschritt das Urteil auch den Wortlaut der Richtlinien Hitlers. Auch in seinem Kommentar zum MStGB ging Schwinge432 weiter als Hitler in seinen Richtlinien. Hatte Hitler bei jugendlicher Unerfahrenheit die Möglichkeit einer Zuchthausstrafe vorgesehen, meinte Schwinge, dass bei einem Überlaufen zum Feind auch dann auf Todesstrafe erkannt werden müsse, wenn der Täter unter 18 Jahre alt sei. Auf das Alter könne bei militärischen Straftaten keine Rücksicht genommen werden. Das Urteil wurde vom stellvertretenden BdE General der Waffen-SS Jüttner in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt und Handerek der Gestapo übergeben.433

In der Zwischenkriegszeit wurde eine Einschränkung der Furcht vor persönlicher Gefahr gem § 49 MStGB diskutiert. Die Bestimmung sollte nicht anwendbar sein, wenn eine unüberwindbare Besorgnis oder das Wissen um den sicheren Tod bei Pflichterfüllung für die Tat ausschlaggebend war. Schwinge lehnte dies in seinem Kommentar ab, weil eine am Wohl der Gemeinschaft, an der Manneszucht und an der Schlagkraft der Wehrmacht orientierte Schuldlehre derartige Ausnahmen nicht zulassen könne. In einer kritischen Lage könne ein einziger Freispruch den Widerstandswillen der großen Masse zerstören.434

Gem KStVO war bei Freiheitsstrafen über ein Jahr und der Todesstrafe vor der Urteilsbestätigung oder -aufhebung durch den Gerichtsherrn ein militärjuristisches Gutachten einzuholen. Obwohl die Entscheidung letztlich beim Gerichtsherrn lag, konnte der Gutachter großen Einfluss ausüben. Häufig ist allerdings nicht festzustellen, was in den Besprechungen zwischen Gutachter und Gerichtsherr festgestellt wurde. So wurde am 24. März 1941 ein Feldwebel des Gebirgsjägerregiments 143 erschossen, weil er in die Schweiz geflüchtet war. Später kehrte er freiwillig zurück und wurde dennoch zum Tode verurteilt.435

Anton Mayer war Soldat der Marineartillerie und gem der NS Rasselehre jüdischer Mischling ersten Grades. Als solcher hätte er nach damaliger Rechtslage gar nicht zum Wehrdienst einberufen werden dürfen. Wegen Fahnenflucht wurde er am 17. Jänner 1944 vom Gericht der Wehrmachts- kommandantur Wien zunächst zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Seine Einheit befand sich nicht im Einsatz, und lt Gericht bestand auch keine Gefahr für die Manneszucht und Furcht vor persönlicher Gefahr war nicht nachzuweisen. Der Gutachter schlug die Aufhebung des Urteils als zu milde vor.

431 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 633 f; Baumann/Koch, Einzelheiten, in Baumann/Koch 45; Fritsche in Pirker/Wenninger 131; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 185 ff; Haase, Deserteure2 62; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 178 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 28; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 44 ff; Schöngarth/Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 136 ff. 432 vgl Schwinge, Militärstrafgesetzbuch6 123 f. 433 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 180; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 99; Wüllner, NS-Militärjustiz2 162 ff. 434 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 181; Schwinge, Militärstrafgesetzbuch6 123 f. 435 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 181 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 41 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 116/226

Nach der Aufhebung des Urteils durch den Oberbefehlshaber des Marinegruppenkommandos West wurde Mayer von einem zweiten Gericht am 13. März 1944 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Dabei gestand das Gericht dem Angeklagten mildernde Umstände aufgrund seiner Mischlingseigenschaft zu, da der in der Fahnenflucht begründete Treuebruch in diesem Fall anders beurteilt werden müsse. ObdM Dönitz hob das Urteil erneut auf. Ein drittes Urteil vom 9. Juni 1944 lautete ebenfalls auf 15 Jahre Zuchthaus. Begründet wurde das Urteil damit, dass Mayer gar nicht einberufen worden wäre, wenn seine Mischlingseigenschaft bekannt gewesen wäre. Auch dieses Urteil hob Dönitz auf. Der Chef MR Rudolphi erläuterte dem nunmehr vierten Gericht, der Angeklagte könne nicht besser gestellt werden als ein deutschblütiger Soldat. Schließlich verurteilte das Gericht der Kriegsmarine in Berlin Mayer am 20. Juli 1944 zum Tode. Damit hatte Dönitz seine Rechtsauffassung durchgesetzt. Das Urteil wurde am 21. August 1944 vollzogen. Dieses Urteil zeigt neben der politischen Steuerung der NS Militärjustiz auch, dass Richter an ihrer Rechtsauffassung auch entgegen der Meinung ihrer Vorgesetzten festhalten konnten, ohne ein Risiko persönlicher Gefahr einzugehen.436

Der Matrose K wurde am 4. April 1941 vom Gericht des Admirals der Westküste Norwegen wegen Fahnenflucht und Bedrohung eines Vorgesetzten zu lebenslangem Zuchthaus und drei Jahren Gefängnis verurteilt. Der Gutachter hielt die Todesstrafe für erforderlich, weil der Angeklagte ein disziplinärer Schädling sei. ObdM Raeder hob das Urteil auf. K wurde in einer neuerlichen Verhandlung zum Tode verurteilt. Der Matrose W wurde am 15. Juli 1941 wegen Fahnenflucht und Diebstahls zum Tode verurteilt. Über die Vollziehung herrschte allerdings Uneinigkeit. In diesem Fall wandelte Großadmiral Raeder trotz gegenteiliger Meinung des Gutachters das Urteil in elf Jahre Zuchthaus um. Der neunzehnjährige Matrose R fuhr Anfang August 1943 mit gestohlenen Gegenständen zu seiner Freundin. Bereits am nächsten Tag erfolgte die Festnahme. R gestand sein Ziel sei Schweden gewesen. Am 31. August 1943 verurteilte ihn das Gericht des Höheren Kommandanten der U-Bootausbildung in Kiel zum Tode. Gericht und Gutachter lehnten am 8. September 1943 eine Begnadigung angesichts der Opfer an der Front ab. Der Gerichtsherr und der Vorgesetzte lehnten das Urteil aufgrund der jugendlichen Unerfahrenheit und bisherigen Unbescholtenheit des Angeklagten ab. MR bestätigte allerdings das Urteil, und R wurde am 19. September 1943 hingerichtet. Matrose M wurde vom Gericht des Admirals der Norwegischen Nordküste wegen Fahnenflucht zunächst zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Nachweis war nur aufgrund eines Geständnisses gelungen. OKM hob das Urteil am 24. Juli 1942 auf und forderte vom Anklagevertreter die Todesstrafe. Am 8. August 1942 folgte nun das Todesurteil, und M wurde am 24. September 1942 hingerichtet. Diese Beispiele zeigen auf, dass es zwar immer wieder Gerichte gab, die ihre Urteile unabhängig trafen, letztendlich aber dennoch die politisch militärische Führung für das Schicksal der Angeklagten ausschlaggebend war. Zuchthausurteile wurden in zahlreichen Fällen aufgehoben und mit der Begründung, es handle sich um Schädlinge und Minderwertige, in Todesurteile umgewandelt. Auch auf Gnadenentscheidungen hatten Stellungnahmen der Gerichtsherren, Gutachter und Rechtsabteilungen entscheidenden Einfluss. Eine Untersuchung zu Urteilen der Marinejustiz ergab, dass Urteilsaufhebungen in 84,9% der Fälle aufgrund zu milder Urteile erfolgten, in nur 6,5% wurde die Strafe als zu hoch empfunden, und in 8,6% spielten andere Faktoren eine Rolle.437

Für das Heer lassen sich Unterschiede in der Rechtsprechung zwischen den einzelnen Armeen und Einsatzgebieten feststellen. Grundsätzlich folgte aber auch das Heer dem Muster der Kriegsmarine. Am 23. Dezember 1941 verurteilte das Gericht der 1. Gebirgsdivision einen Soldaten an der Ostfront

436 vgl Fritsche in Pirker/Wenninger 131 ff; Knippschild in Haase/Paul 134 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 182 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 290 f. 437 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 183 ff; Walmrath, Iustitia 377 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 117/226 wegen Fahnenflucht und schweren Wachvergehens zu fünf Jahren Zuchthaus. Dieses Urteil ist als vergleichsweise mildes Urteil zu klassifizieren. Am 2. August 1944 verurteilte das Gericht der 2. Gebirgsdivision den Gefreiten Z wegen Fahnenflucht und militärischen Diebstahls zu zehn Jahren Zuchthaus. Z hatte zugegeben, von Finnland nach Schweden gehen zu wollen. Dennoch sah das Gericht von der Todesstrafe ab, da es die Manneszucht nicht gefährdet sah. Darüber hinaus hielt es dem Angeklagten eine mangelnde Erziehung und eine daraus resultierende mangelnde charakterliche Festigkeit zugute, Feststellungen, die in anderen Urteilen die Todesstrafe begünstigt hätten. Der Divisionskommandant schlug die Umwandlung in eine Gefängnisstrafe und den Vollzug in einer Feldstrafgefangenenabteilung vor. Diesem Vorschlag folgten sowohl der Armeerichter als auch der Oberbefehlshaber der vorgesetzten 20. Gebirgsarmee Generaloberst . Das Gericht der 3. Gebirgsdivision verurteilte am 26. Oktober 1939 den 25 Jahre alten P wegen Fahnenflucht, unerlaubter Entfernung, tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten und versuchten Betrugs zu vier Jahren Zuchthaus. Dabei wertete das Gericht die geistige Beschränktheit des Angeklagten, der nur bis in die dritte Klasse der Volksschule kam und kaum Lesen und Schreiben konnte, als mildernd. Andernorts hätte auch diese Begründung als Strafschärfungsgrund gegolten. Nach Bestätigung des Urteils kam P in das Strafgefangenenlager VII in Esterwegen. Von dort wurde er in das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna zur Überprüfung überstellt und gelangte schließlich im September 1942 als Bewährungssoldat in das Infanterieersatzbataillon 500. Am 19. Dezember 1943 verurteilte ebenfalls das Gericht der 3. Gebirgsdivision, nunmehr bei der Heeresgruppe Süd an der Ostfront eingesetzt, drei Soldaten, die gemeinsam Fahnenflucht begehen wollten, zum Tode. Bei einem Soldaten wurde die Vollziehung vom Gerichtsherrn ausgesetzt und eine Überstellung in eine Bewährungskompanie angeordnet. Die beiden anderen Todesstrafen wurden vom Chef OKW Keitel in acht Jahre Gefängnis zur Frontbewährung umgewandelt. Das Gericht der 4. Gebirgsdivision verurteilte am 10. Dezember 1941 den Soldaten G wegen Feigheit und Fahnenflucht zu 15 Jahren Zuchthaus. Generaloberst von Kleist, Befehlshaber der übergeordneten 1. Panzerarmee, hob das Urteil auf. Am 2. Jänner 1942 verurteilte das Divisionsgericht G erneut zu 15 Jahren Zuchthaus. Das Urteil wurde erneut aufgehoben. Nunmehr verhängte das Gericht des XXXXIX. Gebirgsarmeekorps am 19. Jänner 1942 die Todesstrafe. Die Vollziehung wurde angeordnet.438

Teile der 5. Gebirgsdivision waren ab 1942 der 18. Armee an der Ostfront unterstellt. Am 16. März 1942 wurde der Oberschütze Skowronski vom Gericht der 121. Infanteriedivision zum Tode verurteilt. Er hatte aber lediglich eine unerlaubte Entfernung begangen, indem er bei starkem feindlichen Beschuss aus seiner Stellung rückwärts ging und sich wenige Tage später bei seiner Ortskommandantur meldete. Eine von § 69 Abs 2 MStGB geforderte Absicht, sich dem Wehrdienst dauernd zu entziehen, konnte nicht festgestellt werden. Der Gutachter stellte aber am 29. März 1942 fest, dass Skowronski an angeborenem Schwachsinn leide und eigentlich sterilisiert werden müsste. Es bestünde daher kein Anlass, sein Leben durch eine milde Beurteilung der Tat zu erhalten. Der Armeekommandant Generaloberst Lindemann bestätigte das Urteil am 20. April 1942 und ordnete die Vollziehung an. Andere Teile der 5. Gebirgsdivision unterstanden zeitgleich der 10. Armee in Italien. Hier wurde ein Todesurteil wegen Fahnenflucht vom Oberbefehlshaber Südwest aufgehoben. Das neue Urteil lautete auf sieben Jahre Zuchthaus. Der Rechtsberater der Armeegruppe schlug vor, die Zuchthaus- in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln und den Vollzug in einer Feldstrafgefangenen- abteilung anzuordnen. Am 11. Februar 1944 wurde der Oberjäger S wegen Fahnenflucht zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. S war Deutscher, lebte allerdings in der Schweiz. Er kehrte im November 1943 von einem Heimaturlaub nicht mehr zur 5. Gebirgsdivision zurück. Er begründete dies in einem Brief damit, seine Mutter pflegen zu müssen. Der Divisionskommandant und der Armeerichter der 10.

438 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 185 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 699 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 118/226

Armee schlugen vor, das Urteil nicht zu bestätigen. Diesem Vorschlag folgte der Armeekommandant Generaloberst von Vietinghoff-Scheel. In der neuerlichen Verhandlung fungierte Heeresrichter kA Aumüller, der im ersten Prozess als Richter eingesetzt war, als Anklagevertreter und musste nun gegen sein eigenes Urteil argumentieren. Im neuen Verfahren wurde auf Todesstrafe erkannt. Das Urteil wurde bestätigt.439

Das Gericht der 6. Gebirgsdivision verhängte zwischen Juni 1940 und Dezember 1942 bei insgesamt 817 Strafverfahren nur acht Todesurteile, davon drei wegen Fahnenflucht. Im ersten Halbjahr 1943 wurde kein einziges Todesurteil gefällt, obwohl sechs Fahnenfluchtfälle verhandelt wurden. Der Grazer Obergefreite S wurde vom Divisionsgericht am 18. Februar 1944 wegen Fahnenflucht zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Er war im November 1943 nicht mehr aus dem Urlaub zurückgekommen. S wurde als guter Kämpfer aber etwas zurückgeblieben charakterisiert. Der Divisionskommandant bestätigte das Urteil. Der Oberbefehlshaber der vorgesetzten 20. Armee wandelte am 14. März 1944 die Zuchthaus- in eine Gefängnisstrafe um. Am 3. Februar 1941 wurde gegen den Oberkanonier Sch, der ebenfalls aus dem Raum Graz stammte, vom Gericht der 6. Gebirgsdivision ein Todesurteil wegen Fahnenflucht gefällt. Er war im November 1940 vom französischen Rouen aus nach Oberbayern gegangen. Er begründete dies mit Problemen zwischen seiner Frau und seiner Mutter. Während seiner Flucht wurde er von Franzosen unterstützt. Das Gericht bezeichnete ihn als haltlosen Charakter, der nicht an der Front, sondern nur bei seinem Ersatztruppenteil Dienst tun wolle. Im November 1940 war Frankreich allerdings nicht mehr Frontgebiet. Es lag also eine Rechtsbeugung durch das Gericht vor. Die soldatischen Beisitzer sprachen sich für eine Begnadigung von Sch aus. Der vorsitzende Richter, Kriegsgerichtsrat Nebe, lehnte dies aber ab. Der begutachtende Oberstkriegsgerichtsrat hielt das Urteil prinzipiell für gerechtfertigt, die Strafe allerdings für zu hoch. Er schlug eine Zuchthausstrafe vor. Generalfeld- marschall Wilhelm List hob das Urteil auf und verwies es an das Gericht der 6. Gebirgsdivision zurück. Er ermächtigte das Gericht auch, das Gericht der Wehrmachtskommandantur Wien um Aburteilung zu ersuchen. Das Wiener Gericht fällte schließlich ein auf sieben Jahre Zuchthaus lautendes Urteil.440

Die oben dargestellten Urteile der sechs Gebirgsdivisionen zeigen verhältnismäßig viele Zuchthausurteile bei Fahnenflucht. Insbesondere das Beispiel der 5. Gebirgsdivision zeigt dabei auch die Abhängigkeit des Strafmaßes von den übergeordneten Kommanden und Gerichtsherren, aber auch den Einfluss der entscheidenden Richter. Die Meinung vieler Richter, das Gemeinwohl stehe über dem Einzelschicksal entsprach der NS Rechtsideologie und dem ihr zu Grunde liegenden Gedanken der Volksgemeinschaft. Vermeintlich generalpräventive Aspekte traten in den Vordergrund und ließen ideologisch kaum Platz für spezialpräventive Überlegungen und eine individuelle Beurteilung, auch wenn einzelne Richter sehr wohl auf die Umstände des Einzelfalls Rücksicht nahmen. In der Kriegsmarine verfolgten die Verantwortlichen in AMA und MR eine drakonischere Linie als die Gebirgsdivisionen. So wurde der Matrose Klasen vom Küstensicherungsverband Bergen am 7. November 1940 nach einer Auseinandersetzung mit einem Vorgesetzten fahnenflüchtig. Er wurde schließlich in Oslo festgenommen. Am 4. Februar 1941 verurteilte ihn das Gericht des Admirals der Westküste Norwegen zu lebenslangem Zuchthaus. Der Rechtsgutachter forderte hingegen die Todesstrafe, da Klasen ein ausgesprochener militärischer Schädling sei. MR schloss sich dieser Auffassung an. Großadmiral Raeder hob das Urteil auf und gab bekannt, auch er halte die Todesstrafe für angemessen. Am 26. April 1941 wurde Klasen nunmehr zum Tode verurteilt.441

439 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 188 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 35 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 242 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 356 ff. 440 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 190 ff. 441 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 192 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 93 f; Walmrath, Iustitia 132; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 114 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 119/226

Auf Basis der Aktenlage scheint der Druck auf die Gerichte in der Marine größer gewesen zu sein als im Heer. So forderte der Chef AMA Admiral Warzecha am 3. April 1943 die Akten zum Todesurteil gegen den Marineartilleristen T wegen Fahnenflucht vom 2. März 1943 zur Prüfung an und bemerkte, die Gerichte wären ihrer Aufgabe nicht nachgekommen, die Truppe von einem vorbestraften Schädling zu befreien. Der Chef MR Rudolphi forderte darüber hinaus, die für die Verschleppung des Verfahrens verantwortlichen Untersuchungsführer zur Verantwortung zu ziehen.442

Der Matrose K wurde am 24. Juli 1941 vom Gericht des 2. Admirals der Ostseestation, Zweigstelle Stralsund, wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Aufgrund von Herzbeschwerden nahm K an der dreimonatigen Grundausbildung nur drei Wochen teil. Im Lazarett erkrankte er zusätzlich an Scharlach und wurde in ein Kurlazarett in Bad Nauheim überwiesen. Ende April 1941 wurde er mit dem Tauglichkeitsvermerk garnisonsverwendungsfähig Heimat (gvH) entlassen. Gegen Ende seines Urlaubs versuchte er, in Zivilkleidung in die Schweiz zu flüchten, wurde aber verhaftet. Der Rechtsgutachter schlug am 20. August 1941 vor, das Urteil zu bestätigen. Bereits am 2. August 1941 hatte die Mutter des Verurteilten ein Gnadengesuch an Hitler gerichtet. Über Hitlers Adjutantur wurde das Gesuch an WR und von dort am 5. August 1941 mit einem Dringlichkeitsvermerk an OKM weitergeleitet. Am 12. August 1941 wurde ein weiteres Gnadengesuch der Schwester des Verurteilten von der Kanzlei des Führers an OKM übersandt. MR schloss sich dem Rechtsgutachten am 28. August 1941 mit der Begründung an, K habe aus Feigheit ins Ausland fliehen wollen, weshalb gem den Richtlinien des Führers nur die Todesstrafe in Betracht komme. Allerdings wurde die Umwandlung der Strafe in zehn Jahre Zuchthaus vorgeschlagen. Da der Verurteilte ein Psychopath und Schwächling sei, könne von ihm nicht die gleiche Einstellung wie von einem gesunden Soldaten verlangt werden. ObdM Raeder folgte diesem Vorschlag und wandelte die Strafe um, das Urteil wurde allerdings nicht aufgehoben.443

Das OKH hatte am 6. Dezember 1939 und am 17. Juli 1941 Anweisungen zum Umgang mit Gnadengesuchen erlassen. Darin stellte das OKH fest, dass ein Gnadengesuch nicht in jedem Fall die Vollziehung der Todesstrafe aufhalten dürfe. Ein Aufschub des Vollzugs sei nur dann gerechtfertigt, wenn der Gerichtsherr oder ein übergeordneter Befehlshaber das Gnadengesuch befürworteten und von einem Gnadenerweis ausgingen. Nicht nur die Aburteilung einer Tat sollte möglichst rasch erfolgen, sondern das gesamte Verfahren bis zum Strafvollzug sollte unter diesem Gesichtspunkt abgewickelt werden. Dies sei im Interesse der Manneszucht insbesondere bei größeren Zersetzungsfällen, einer besonderen Gefährlichkeit des Einzelfalles oder einer asozialen oder kriminellen Persönlichkeit des Angeklagten nötig.444

Der Marineartillerist Baumann wurde am 30. Juni 1942 von der Zweigstelle Royan des Gerichts des Marinebefehlshabers Westfrankreich wegen Fahnenflucht, Wachverfehlung und Diebstahls zum Tode verurteilt. Baumann war während seines Wachdienstes eingeschlafen. Aus Furcht vor Bestrafung stahl er gemeinsam mit einem anderen Soldaten Pistolen, Munition und eine Taschenlampe und flüchtete anschließend. Auf Basis der Richtlinien des Führers erfolgte die Verurteilung zur Todesstrafe wegen gemeinschaftlicher Fahnenflucht, Flucht ins Ausland und verbrecherischer Betätigung während der Flucht. Am 20. August 1942 bestätigte ObdM Raeder das Urteil und wandelte die Strafe in zwölf Jahre Zuchthaus um. Davon wurde Baumann allerdings erst acht Monate später am 29. April 1943 in Kenntnis gesetzt. In dieser Zeit stand die Todesdrohung für den Verurteilten weiter im Raum. Danach

442 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 193; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 253 ff; Walmrath, Iustitia 349. 443 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 193 f. 444 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 194; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 115. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 120/226 kam Baumann über das Lager Esterwegen im Emsland und das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna zur Bewährungstruppe 500. Aufgrund einer Verwundung wurde er ins Lazarett nach Brünn verlegt und überlebte dort mit Hilfe eines tschechischen Arztes den Krieg.445

Dem Gerichtsherrn oblag die Auswahl der Untersuchungsführer, Ankläger und Richter. Je nach Verfahren konnten diese Funktionen abwechselnd von derselben Person ausgeübt werden. So konnte ein Militärjurist in einem Verfahren Richter, im nächsten Ankläger sein. Das modernen Rechtsstaaten immanente Prinzip des gesetzlichen Richters existierte in der Wehrmachtsjustiz nicht. So wurde der Obergefreite Grosser am 8. August 1941 vom Gericht des Kommandeurs der Luftwaffe bei der Heeresgruppe Süd, Außenstelle 1 wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung zunächst zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Anklagevertreter Kriegsgerichtsrat Heins forderte in beiden Anklagepunkten die Todesstrafe. Nachdem Grosser zunächst aus der Untersuchungshaft und nach seiner neuerlichen Festnahme nochmals aus dem Gefängnis geflüchtet war, kam es zu einem neuen Verfahren, bei dem nun der vormalige Anklagevertreter Heins als Richter fungierte. Aufgrund dessen wies Grossers Verteidiger auf die Befangenheit Heins hin und versuchte, ihn als Richter abzulehnen. Dem Verteidiger wurde das Wort entzogen und sein Verhalten gemeldet. Da Grosser bereits im ersten Urteil zu Zuchthaus verurteilt worden war und damit nach Rechtskraft des Urteils automatisch wehrunwürdig geworden wäre, stellte sich die Frage, ob er sich tatsächlich dem Wehrdienst oder nur dem drohenden Strafvollzug durch die zivile Justiz entziehen wollte. Dieser Frage ging das Gericht allerdings nicht nach, nur das Rechtsgutachten thematisierte sie. Göring bestätigte das Todesurteil am 12. November 1941 und verfügte die Vollziehung, die schließlich am 27. Juli 1942 erfolgte, nachdem Grosser erneut ausgebrochen und wieder festgenommen worden war.446

Die durch dieses Verfahren aufgezeigte Problematik wurde durch den Heereschefrichter Karl Sack geschlossen. Er stellte klar, dass bei Todes- und Zuchthausurteilen nach einer Urteilsbestätigung der Verurteilte nicht mehr der Wehrmacht angehöre und somit keine Fahnenflucht begehen könne. Es komme nur mehr unerlaubte Entfernung als Tatbestand in Betracht. Allerdings könne gem der Strafschärfungsbestimmung in § 5a KSSVO die Todesstrafe angewandt werden, wenn es die Sachlage erfordere. Fahnenflucht sollte auch vorliegen, wenn die Flucht aus Angst vor einer Bestrafung erfolgte oder sich ein Verurteilter der Vollziehung einer Gefängnisstrafe entziehen wollte. Bei einer Gefängnisstrafe blieb der Verurteilte weiterhin Soldat, solange ihm seine bürgerlichen Ehrenrechte nicht aberkannt und er formell aus dem Wehrdienst entlassen wurde. Auch Fehler bei der Rekrutierung sollten die Anwendung der Bestimmungen zur Fahnenflucht nicht ausschließen. Furcht vor persönlicher Gefahr war auch bei Soldaten hinter der Front und in der Heimat anzunehmen, wenn sie nur damit rechnen mussten, an der Front verwendet zu werden. Im zweiten Mob-Sammelerlass wurde darauf hingewiesen, dass auch eine unerlaubte Entfernung, wenn sie in ihrem Verlauf oder ihrer Wirkung einer Fahnenflucht nahekomme, wie eine Fahnenflucht zu behandeln sei. Um die Todesstrafe anwenden zu können, sollte § 5a KSSVO entschlossen angewendet werden. Die Unabhängigkeit der Richter wurde durch derartige Richtlinien und die Lenkung der Gerichtsherrn wesentlich eingeschränkt. Die Interessen der Wehrmacht und der NS Volksgemeinschaft wurden über das Wohl des einzelnen gestellt.447

445 vgl Baumann L in Kirschner 22 ff; Eberlein/Haase/Oleschinski in Eberlein/Haase/Oleschinski 95 ff; Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 12 f; Haase/Oleschinski in Haase/Oleschinski2 119; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 195; Metzler, Rehabilitierung 31 ff. 446 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 195 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 51. 447 vgl Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 20; Garbe in Pirker/Wenninger 25 ff; Kirschner in Bade/Skowronski/Viebig 183 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 197 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 278 ff; Walmrath, Iustitia 139; aA Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 10 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 121/226

Das Gericht der Division 177 in Wien verurteilte am 14. Jänner 1944 den Gefreiten Kipinski wegen Fahnenflucht zum Tode. Der in Polen geborene Volksdeutsche wurde zuvor bereits am 25. August 1943 wegen unerlaubter Entfernung zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil wurde vom BdE allerdings aufgehoben. Während er auf eine neue Verhandlung wartete, flüchtete Kipinski gemeinsam mit einem anderen Soldaten am 7. Oktober 1943 aus dem Gefängnis, wurde allerdings bereits einen Tag später wieder festgenommen.448

Am 15. Februar 1944 verurteilte das Gericht der Division 177 den Kanonier Sorbe wegen Fahnenflucht und Rückfalldiebstahls zum Tode. Sorbe hatte sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet. Im August 1940 erhielt er vom Gericht der Division 159 eine dreijährige Gefängnisstrafe wegen unerlaubter Entfernung, am 9. November 1942 wurde er in Wien wegen Fahrraddiebstahls zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, wobei die Strafe in einer Feldstrafgefangenenabteilung vollzogen werden sollte. Nachdem er verwundet und in ein Lazarett eingeliefert worden war, floh er am 13. Juli 1943 aufgrund der schlechten Behandlung in der Feldstrafgefangenenabteilung und wurde erst am 7. November 1943 in Wien festgenommen. Nachdem er am 24. November 1943 neuerlich geflohen war, erfolgte kurz darauf wieder seine Festnahme. Der BdE bestätigte das Urteil am 9. März 1944 und lehnte einen Gnadenerweis ab. Die Hinrichtung Sorbes erfolgte am 24. Mai 1944 im Landesgericht Wien.449

Am 6. April 1944 wurde ein Todesurteil der Division 177 gegen den Obergefreiten Ungerböck wegen Fahnenflucht, fortgesetzten Diebstahls und anderer Delikte verhängt. Ungerböck floh am 13. Februar 1944 und beging während seiner Flucht einige Diebstähle und Einbrüche und gab sich als Unteroffizier aus. Am 1. März 1944 wurde er schließlich festgenommen. Die Urteilsvollziehung erfolgte am 10. Mai 1944 im Landesgericht Wien.450

Der in der ungarischen Stadt Sopron geborene Grenadier Tesch besaß die österreichische und in Folge deutsche Staatsangehörigkeit und wurde am 1. Juli 1943 zur Wehrmacht einberufen. Bereits am 14. August 1943 floh er von Wien in seine Heimat. Nach der Besetzung Ungarns durch die deutsche Wehrmacht wurde er am 11. Oktober 1944 festgenommen. Die Anklage unterstellte ihm neben Fahnenflucht auch deutschfeindliche Betätigung, das Abhören von Auslandssendern und eine Tätigkeit für die Kommunisten. Tesch selbst gab an, kein Kommunist zu sein, sondern für die christlich-soziale Partei gearbeitet zu haben. Das Gericht der Division 177 verhängte am 13. Jänner 1945 die Todesstrafe. Das Urteil wurde am 3. April 1945 vollzogen.451

Franz Mattersberger aus Innichen in Südtirol war Hilfsarbeiter und wurde im Oktober 1940 zum Infanterieersatzbataillon 499 in Bludenz einberufen. Während eines Lazarettaufenthaltes fuhr er am 9. August 1941 nach Hause und tauschte seine Uniform gegen Zivilkleidung, um nicht zu seiner Truppe zurückkehren zu müssen. Mattersberger wurde aber am 3. September 1941 festgenommen und vom Gericht der Division 188 am 23. Oktober 1941 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Am 1. Oktober 1942 wurde er schließlich in die Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf verlegt. Von dort floh er am 25. Oktober 1942 erneut. Auf dem Weg von Lienz nach Matrei in Osttirol zu seinen Eltern wurde er erneut festgenommen. Während des Transports in das Wehrmachtsgefängnis Freiburg gelang Mattersberger am 8. November 1942 abermals die Flucht. Allerdings wurde er auch diesmal nach

448 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 58 f. 449 vgl Forster, Die militärgerichtliche Verfolgung von Eigentumsdelikten in der Deutschen Wehrmacht, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 320; Wüllner, NS- Militärjustiz2 59 ff. 450 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 65. 451 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 67 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 122/226 kurzer Zeit wieder festgenommen. Mattersberger äußerte, dass jemand, der nicht an die Kirche glaube, einem Stück Vieh gleiche. Die SS sei aus der Kirche ausgeschieden und ihre Handlungsweise sei dementsprechend. Es sei ihm besser gegangen, bevor die braune Pest geherrscht habe. Das Gericht der Wehrmachtskommandantur Oberrhein verurteilte ihn zunächst im Jänner 1943 zu elf Jahren Zuchthaus und in einem zweiten Verfahren im Februar 1943 zu 15 Jahren Zuchthaus und anschließender Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt. Beide Urteile wurden vom BdE Fromm nicht bestätigt. Das dritte Verfahren fand vor dem GWKB statt, das gegen Mattersberger am 4. Mai 1943 wegen Fahnenflucht die Todesstrafe verhängte. Die Hinrichtung erfolgte am 1. Juni 1943.452

Gegen Ende des Krieges kam es auch in Österreich gehäuft zu Wehrdienstverweigerungen aufgrund einer Entziehung oder Flucht. Mehr als 50% der Fälle traten allein im Jahr 1944 auf. Dieses Delikt war auch relativ häufig von Erfolg gekrönt. So konnten sich mehr als die Hälfte aller Flüchtigen der Wehrmachtsjustiz auf Dauer entziehen. Eine große Tätergruppe stellten dabei die Kärntner Slowenen dar, die rund ein Drittel aller Entziehungsdelikte begingen. Bereits unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs im Jahr 1938 begannen die NS Machthaber mit einer Germanisierungspolitik, die die bereits in der österreichischen Ersten Republik und im Ständestaat getroffenen Maßnahmen noch in den Schatten stellte. Das Slowenentum in Kärnten sollte beseitigt werden, slowenische Einrichtungen wurden aufgelöst und Vermögen konfisziert. Die meisten Kärntner Slowenen schlossen sich nach geglückter Flucht Widerstandsgruppen oder Partisanenverbänden an. Verurteilt wurden die Flüchtigen, die in die Hände der Wehrmachtsjustiz fielen, aufgrund unterschiedlicher Straftatbestände, die von unerlaubter Entfernung bis zu Fahnenflucht reichten. Zwar wurden wegen dieser Delikte nur verhältnismäßig wenige, zumindest sechs, Todesstrafen verhängt, allerdings waren die verhängten Freiheitsstrafen überdurchschnittlich lange. So wurde zB ein damals Siebzehnjähriger, der seiner Einberufung nicht nachkam, 1945 als Volksschädling zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde vom Gerichtsherrn auf 15 Jahre Zuchthaus gemildert und der Verurteilte zu einer Feldstrafgefangenenabteilung überstellt. Ein anderes wegen Wehrdienstverweigerung vollzogenes Todesurteil betraf einen Bauern aus Salzburg, der sich 1944 zunächst durch Selbstverstümmelung dem Wehrdienst zu entziehen versuchte und sich danach in den Bergen versteckte. Nachdem er von der Gestapo gefasst worden war, wurde er im Oktober 1944 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im März 1945 durch Erschießen vollzogen.453

Von den insgesamt 119 bekannten Fällen der Wehrdienstverweigerung durch Österreicher kam es in 84 Fällen zu einem offenen Eingeständnis vor den nationalsozialistischen Behörden. Diese offene Kriegsdienstverweigerung kam vor allem in den ersten Jahren der Diktatur und des Krieges gehäuft vor. Walter begründet dies damit, dass in der Mobilmachungsphase ein Großteil der Wehrpflichtigen zumindest einmal zu einer Einheit der Wehrmacht einrücken musste. Insgesamt erfolgten 78% der Verweigerungshandlungen bis zum Jahr 1940. Rund 75% der auf die Wehrdienstverweigerung folgenden Militärgerichtsprozesse endeten mit einem Todesurteil. Haftstrafen wurden nur verhängt, wenn sich der Angeklagte im Prozess bereit erklärte, den Dienst mit der Waffe doch noch zu leisten. Bekannt sind lediglich zwei Freisprüche in einem Verfahren gegen Zeugen Jehovas, die danach allerdings von der Gestapo in den Konzentrationslagern Dachau und Neuengamme inhaftiert wurden. Beide starben bis Kriegsende. Rund 80% der gefällten Todesurteile wurden in weiterer Folge von der nationalsozialistischen Militärjustiz auch vollzogen.454

452 vgl Haase, Fahnenflucht 137 ff. 453 vgl Manoschek, Kärntner Slowenen als Opfer der NS-Militärjustiz, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 358 ff; Manoschek in Pirker/Wenninger 46 ff; Rettl in Pirker/Wenninger 150 ff; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 126 ff. 454 vgl Manoschek, Einleitung, in Manoschek 7; Manoschek in Pirker/Wenninger 45; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 117 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 123/226

In zehn Fällen wurden die Urteile wegen Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen aufgehoben und neu verhandelt. Hierbei wurde nur in einem Fall das Ersturteil bestätigt, alle anderen Urteile führten zu geringeren Strafen. Woran dies liegt lässt sich allerdings nicht endgültig erklären. Häufig erklärten sich die Angeklagten bei der Neuverhandlung bereit, ihren Wehrdienst doch abzuleisten.455

Neben der Kriegsdienstverweigerung, die am Beginn des Wehrdienstes stand, stellten auch die Delikte Fahnenflucht und unerlaubte Entfernung Tatbestände dar, die von der nationalsozialistischen Militärjustiz unnachsichtig verfolgt wurden. Nach Hochrechnungen wurden rund 23.000 Todesurteile ausgesprochen, von denen rund 15.000 auch vollzogen wurden. Eine besondere Problematik ergibt sich dabei für österreichische Deserteure und die Beurteilung ihrer Taten vor allem nach Kriegsende. Folgt man der Okkupationstheorie und geht davon aus, dass Österreich während der Zeit des Dritten Reichs nicht untergegangen sondern lediglich okkupiert und damit handlungsunfähig war, ergibt sich daraus, dass die deutsche Wehrmacht eine fremde Armee darstellte, in die österreichische Staatsbürger gezwungen wurden. Folglich läge bei einer Entfernung von der deutschen Wehrmacht gar keine Fahnenflucht vor. Im Gegenteil wäre es sogar die Pflicht jedes Österreichers gewesen, die Besatzungsstreitkräfte so rasch wie möglich zu verlassen, um diese nicht bei der Okkupation des Landes zu unterstützen. Während des Krieges spielten derartige Überlegungen naturgemäß keine Rolle, allerdings wurden sie nach Kriegsende in der Diskussion über die Rehabilitation von Deserteuren relevant.456

Trotz zahlreicher Todesurteile gegen Fahnenflüchtige gelangten viele Verfahren gar nicht zum Abschluss bzw wurden Fahnenfluchten, insbesondere im Chaos gegen Kriegsende, nicht als solche erkannt. Viele Fahnenflüchtige konnten ihrer Festnahme entkommen. Die Zahl der Deserteure dürfte insgesamt im sechsstelligen Bereich gelegen haben. Wurden Flüchtige allerdings gefasst, drohte ihnen die ganze Härte der Gesetze. Die Unnachsichtigkeit der nationalsozialistischen Militärjustiz mit Deserteuren lässt sich auf die nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete Dolchstoßlegende zurückführen, die eine hohe Zahl an Deserteuren und die angeblich ihnen gegenüber gezeigte zu große Milde der kaiserlichen Militärjustiz für die Niederlage Deutschlands verantwortlich machte. Diesen Vorwurf wollten sich die Richter der nationalsozialistischen Militärjustiz nun nicht mehr machen lassen.457

Geldmacher errechnet einen Deserteursanteil an allen Soldaten der Wehrmacht von 1,9% bis 2,2%. Daher qualifiziert er die Desertion als unbedeutendes Phänomen für die deutsche Kriegsführung. Allerdings wollte die Militärjustiz diese extreme Form von Ungehorsam nicht akzeptieren. Gem §§ 69 und 70 MStGB beging Fahnenflucht, wer sich dem Dienst in der Wehrmacht auf Dauer entziehen wollte. Unerlaubte Entfernung lag dagegen vor, wenn sich jemand länger als drei Tage, im Feld länger als einen Tag, von seiner Truppe entfernte. Der wesentliche Unterschied beider Tatbestände lag im Tatvorsatz. War dieser auf eine dauernde Entfernung gerichtet, lag Fahnenflucht vor, sollte die Entfernung nur zeitlich beschränkt erfolgen, war der Tatbestand der unerlaubten Entfernung erfüllt. Da

455 vgl Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 122 f. 456 vgl Baumann U in Kirschner 33; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12; Benz in Baumann/Koch 7; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 133 ff; Hautmann in Kohlhofer 75; Klausch in Baumann/Koch 79; Knippschild in Haase/Paul 123. 457 vgl Baumann/Koch, Einzelheiten, in Baumann/Koch 43 f; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 26; Form in Pirker/Wenninger 58; Friedrich, Nazi-Justiz 181 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 135; Haase, Deserteure2 37; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 26; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 32 ff; Theis in Bade/Skowronski/Viebig 170 ff; Thomas in Haase/Paul 39; Walmrath, Iustitia 151 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 124/226 es sich dabei um ein subjektives Element handelte, war die Abgrenzung beider Tatbestände in der Praxis äußerst schwierig.458

Um sich dem Dienst in der Wehrmacht zu entziehen, konnten Fahnenflüchtige mehrere Wege wählen. Relativ riskant war ein Überlaufen auf die gegnerische Seite an der Front oder eine Flucht ins neutrale Ausland, vor allem nach Schweden und in die Schweiz. Eine weitere Möglichkeit bot ein Untertauchen in der Heimat. Hier konnten sich die Deserteure zwar häufig auf die Unterstützung durch Verwandte verlassen, allerdings bestand auch die Gefahr einer Denunziation und eines darauf folgenden direkten Zugriffs der deutschen Behörden. Ebenso schlossen sich viele Fahnenflüchtige Widerstandsbe- wegungen an. Die Zahl der Fahnenfluchten nahm mit der Dauer des Krieges kontinuierlich zu. Von 1942 auf 1943 sowie von 1943 auf 1944 stieg die Zahl jeweils um mehr als das Dreifache an.459

Ebenso, wie sich die Zahl der Deserteure im Kriegsverlauf erhöhte, stiegen auch die Chancen einer erfolgreichen Flucht. 1940 wurden rund 90% der Deserteure ergriffen. Diese Zahl sank bis 1944 auf rund 23%. Am erfolgversprechendsten war dabei ein Überlaufen an der Front oder ins neutrale Ausland, da der Deserteur bei einer erfolgreichen Ausführung dem Zugriff der deutschen Strafverfolgungsbehörden entzogen war. Ein Untertauchen in der Heimat führte hingegen in rund 40% der Fälle zu einer Festnahme. Gegen österreichische Deserteure wurden in rund 50% der Fälle Todesstrafen ausgesprochen, in rund 45% der Fälle erfolgte eine Verurteilung zu Zuchthaus und in rund 4% zu Gefängnisstrafen. Freisprüche waren mit weniger als 1% eine Seltenheit. Rund 62% der gefällten Todesurteile wurden auch vollzogen. In rund 38% der Fälle erfolgte eine Strafmilderung zu Zuchthausstrafen oder eine Aufhebung des Urteils mit einem milderen Strafmaß im Neuverfahren. In einigen Fällen erfolgte die Verurteilung auch in Abwesenheit des Angeklagten, weshalb das Urteil nicht vollzogen werden konnte.460

Ab 1944 wurden vermehrt Todesurteile in Zuchthausstrafen umgewandelt. Strafen waren meist in Feldstrafgefangenenabteilungen zu vollziehen, um so die personellen Ressourcen der Wehrmacht zu erhöhen. Eine Rückkehr in einen normalen Truppenverband war nahezu ausgeschlossen. Die zu Zuchthausstrafen Verurteilten gelangten zumeist in die so genannten Emslandlager der Reichsjustizverwaltung, in denen sie körperliche Schwerstarbeit zu leisten hatten. Von dort konnten sie in so genannte Bewährungsbataillone überstellt werden, die an den Brennpunkten der Front eingesetzt wurden.461

Die unerlaubte Entfernung stellte vor allem im Hinterland ein häufig auftretendes Delikt dar. Viele Soldaten überschritten die Dauer ihres Urlaubes, verlängerten Dienstreisen oder blieben länger als erlaubt bei ihren Familien. Häufig begnügten sich die Vorgesetzten in diesen Fällen mit einer disziplinaren Ahndung der Tat. Auch die Gerichtsherren konnten gem § 47 KStVO von einer Verfolgung der Tat noch absehen, wenn ihre Folgen unbedeutend und die Schuld des Täters gering waren. Der Ermessensspielraum zur Ahndung einer unerlaubten Entfernung war also relativ weit gefasst.462

458 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 135 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 119. 459 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 141 ff; Metzler, Zeitzeugeninterviews, in Manoschek 520 f; Wüllner, NS- Militärjustiz2 504 ff. 460 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 150 ff; Manoschek in Pirker/Wenninger 46. 461 vgl Forster/Fritsche/Geldmacher in Manoschek 74; Geldmacher, Der Umgang der Deutschen Wehrmacht mit militärgerichtlich verurteilten Soldaten, in Kohlhofer/Moos (Hrsg), Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit – Rehabilitierung und Entschädigung (2003) 61 f; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 162 ff; Manoschek in Pirker/Wenninger 51 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 134 ff. 462 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 54. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 125/226

Ein Großteil der wegen unerlaubter Entfernung verhängten Urteile, rund 87%, lautete auf Gefängnisstrafen, rund 8% auf Arrest-, rund 4% auf Zuchthaus- und rund 1% auf Todesstrafe. Zwar sah § 64 MStGB lediglich eine Höchststrafe von zehn Jahren Gefängnis vor, allerdings bot § 5a KSSVO der Militärjustiz die Möglichkeit, den regulären Strafrahmen zu überschreiten, wenn dies im Sinne der Manneszucht (Disziplin) oder der Sicherheit der Wehrmacht erforderlich war. Ob diese Notwendigkeit vorlag, entschied der jeweilige Richter im Einzelfall. Der Beurteilungsspielraum, welches Verhalten die Manneszucht gefährdete, war dabei entsprechend groß. § 5a KSSVO gab damit jedem Richter die Möglichkeit für jedes Delikt die Höchststrafe zu verhängen.463

So wurde zB ein Kärntner Soldat im März 1945 zum Tode verurteilt, weil er nach zweistündigem Trommelfeuer nicht an einem befohlenen Gegenstoß gegen die Rote Armee teilnahm und sich stattdessen in einem Keller versteckte. Danach fuhr er mit einem Verwundetentransport ins Hinterland und gab sich als versprengter Soldat aus. Trotz eines entsprechenden Befehls kehrte er nicht zu seiner Einheit zurück, woraufhin er im Februar 1945 verhaftet und angeklagt wurde. Die Hinrichtung erfolgte zwei Tage nach dem Urteil.464

Die durchschnittliche Strafdauer für unerlaubte Entfernung betrug 17 Monate. Eine der strengsten Strafen wegen unerlaubter Entfernung gegen einen Österreicher wurde gegen einen Matrosen verhängt. Der Matrose Josef S befand sich bereits in einer Feldstrafgefangenenabteilung und wurde bei einem Einsatz verwundet. Nach einem Lazarettaufenthalt sollte er sich wieder zu seiner Truppe begeben. Stattdessen fuhr er allerdings nach Wiener Neustadt, wo er nach fünf Wochen Aufenthalt verhaftet wurde. Er wurde daraufhin im Jänner 1945 zu elf Jahren Zuchthaus verurteilt und erst im Juli 1945, also nach Kriegsende, wieder aus der Haft entlassen.465

Noch am 1. Juni 1945 verurteilte das Gericht des Kommandanten der Seeverteidigung Oslofjord einen Soldaten, der am 2. Mai 1945 seine Truppe verlassen hatte, wegen unerlaubter Entfernung zu einem Jahr und einem Monat Gefängnis. Das Gericht argumentierte, dass zwischen Hitlers Tod am 30. April 1945 und der Kapitulation am 8. Mai 1945 ein Schwebezustand besonderer Art bestanden habe. Der Rechtsgutachter beim Marineoberkommando Norwegen befand die Strafe allerdings als zu mild und lehnte daher am 21. Juni 1945 eine Strafaussetzung oder einen Gnadenerweis ab. Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine in Norwegen folgte diesem Gutachten.466 2. Wehrkraftzersetzung Wehrkraftzersetzung wurde in § 5 KSSVO geregelt. Die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern aus religiösen Gründen und von Angehörigen des Ersatzheeres wegen Delikten nach § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO, wenn die Todesstrafe zu erwarten war, fiel in die Zuständigkeit des RKG. Alle anderen Verfahren gem § 5 KSSVO fielen in die Zuständigkeit der Feldkriegsgerichte. Politische Verfahren gem § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO fielen ab September 1942 beim Feldheer in die Zuständigkeit der Armeegerichte. Da die Untertatbestände in der Statistik nicht gesondert angeführt sind, lässt sich keine exakte Verteilung der Urteile auf einzelne Untertatbestände vornehmen. Aus vorhandenen Quellen lässt sich jedoch schließen, dass ein Großteil der Urteile wegen kritischer Bemerkungen zur politischen und militärischen Lage, des Abhörens ausländischer Sender und ähnlicher Delikte gefällt wurde. Ebenso hatten Urteile wegen Selbstverstümmelung und Versuchen, sich dem Wehrdienst zu

463 vgl Garbe in Kirschner 117; Garbe in Pirker/Wenninger 32 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 175 f; Haase, Fahnenflucht 26; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 27; Klausch, 500 15; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 300; Thomas in Haase/Paul 40 f; Walmrath, Iustitia 172 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 44 ff. 464 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 176 f. 465 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 177; Manoschek in Pirker/Wenninger 48. 466 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 434 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 262 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 126/226 entziehen, einen hohen Anteil. Bis Mitte 1944 erreichte die Anzahl der wegen Wehrkraftzersetzung Verurteilten jene der Fahnenflucht, allerdings lag der Anteil der Todesurteile niedriger. Die Wehrmachtskriminalstatistik weist bis dahin insgesamt 14.262 Verurteilungen aus. Der Anteil der Todesurteile an der Gesamtzahl der Verurteilungen lag im zweiten Quartal 1943 bei 15,4% oder 211 Todesurteilen, im vierten Quartal 1943 bei 22,8% oder 309 Todesurteilen und im zweiten Quartal 1944 bei 15,7% oder 343 Todesurteilen. Die Zahl der Verurteilten wuchs vom vierten Quartal 1941 bis zum ersten Quartal 1942 um 33%, während die Zahl der Todesurteile um fast 100% zunahm. Zwischen dem ersten Quartal 1942 und dem zweiten Quartal 1943 nahmen die Verurteilungen um rund 100%, die Todesurteile um rund 400% zu. Bei diesen Zahlen ist allerdings auch die zunehmende Größe der Wehrmacht in diesem Zeitraum zu beachten. Von Mitte 1944 bis Kriegsende nahmen diese Zuwachsraten nochmals deutlich zu. Messerschmidt geht von rund 11.000 Verurteilten und 1.650 Todesurteilen aus, wobei er darauf hinweist, dass es sich um Mindestzahlen handle, zu denen die Zahlen des ZdH hinzugerechnet werden müssen. Er schätzt die Zahl der Todesurteile im letzten Kriegsjahr daher auf über 2.000. Wüllner rechnet für den gesamten Krieg eine Zahl von insgesamt über 30.000 Verurteilungen wegen Wehrkraftzersetzung hoch, davon über 5.000 Todesurteile.467

Unter den Begriff wehrkraftzersetzende Äußerungen fielen alle Äußerungen, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus oder seinen Protagonisten auseinandersetzten oder sich kritisch gegenüber der Wehrmacht und dem Krieg zeigten. So wurde zB ein Wiener wegen wehrkraftzersetzender Äußerungen zum Tode verurteilt, nachdem er laut einem Brief an seine Frau einen Witz erzählt hatte und meinte, Göring sei eine „ausgefressene Sau“. Ein weiterer Wiener wurde zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, nachdem er gegenüber einer Telefonistin geäußert hatte, dass ihm der Ausgang des Krieges egal sei, weil er Österreicher und nicht Deutscher sei.468

Rechtspolitisch interessant war auch die Auslegung des Begriffs der Öffentlichkeit, die gem § 5 Abs 1 KSSVO im Falle wehrkraftzersetzender Äußerungen gefordert war. Laut einer Entscheidung des Reichskriegsgerichts vom 27. Februar 1940 war jede Äußerung öffentlich, wenn der Täter davon ausgehen hätte müssen, dass seine Äußerung an andere Personen weitergegeben werden könnte.469

Die Rechtsprechungspraxis wurde wesentlich von den verfügbaren Kommentaren zum MStGB und zur KSSVO sowie von Weisungen und Richtlinien der Rechtsabteilungen und Kommandobehörden beeinflusst. So erließ MR am 13. Juli 1944 eine Weisung, dass Gefängnisstrafen nur noch in leichteren Fällen, in denen der Täter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hatte, verhängt werden sollten. In mehreren Erlässen wurde die uneinheitliche Rechtsprechung zur Wehrkraftzersetzung und zum Heimtückegesetz kritisiert. Problematisch war dabei die Abgrenzung zwischen § 2 Heimtückegesetz und § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO, die beide eine ähnliche Zielsetzung verfolgten. § 2 Heimtückegesetz stellte ähnlich der Bestimmung des § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO öffentliche gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung getragene Äußerungen über Einrichtungen und führende Persönlichkeiten der NSDAP und des NS Staates unter Strafe. Öffentlichkeit war auch dann anzunehmen, wenn der Täter damit rechnen musste, dass seine Äußerungen einem weiteren Personenkreis bekannt wurden. Somit

467 vgl Dörner in Haase/Paul 108 ff; Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Gribbohm, Strafjustiz 61 ff; Hornung in Pirker/Wenninger 100 f; Klausch, 500 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 199 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 32 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 132 ff; Moos in Kohlhofer 105 ff; Walmrath, Iustitia 171 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 501 ff. 468 vgl Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 215 f; Hornung in Pirker/Wenninger 100 f. 469 vgl RKG 27.2.1940, StPL (HLS) II 19/40; RKG 27.2.1940, StPL (HLS) III 29/40; RKG 2.4.1940, StPL (HLS) I 33/40; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 60 ff; BArch, R 3001/22290, Bl 634 f; Dörner in Haase/Paul 109 f; Form in Pirker/Wenninger 62 f; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 216; Gribbohm, RKG Rz 234 ff; Gribbohm, Strafjustiz 62 f; Haase, RKG 12 ff; Hankel in Kirschner 302; Hornung in Pirker/Wenninger 100 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 154 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 178 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 541 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 127/226 konnte auch eine Äußerung im engsten Familienkreis den Begriff der Öffentlichkeit erfüllen. Normzweck des § 2 Heimtückegesetz, der Gefängnisstrafe vorsah, war der Schutz des Vertrauens in die politische Führung, jener des § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO der Schutz der Wehrkraft. Vergehen nach § 2 Heimtückegesetz durften allerdings nur mit Zustimmung des Reichsjustizministers verfolgt werden. Um diese bürokratische Hürde zu umgehen, erläuterte der Chef des Heeresjustizwesens im 2. Mob- Sammelerlass für die Oberstkriegsgerichtsräte am 25. Jänner 1943, dass im NS Staat militärische und politische Führung eine Einheit bildeten. Kritik an der NSDAP, ihren Teilorganisationen oder führenden Mitgliedern könne daher grundsätzlich als Wehrkraftzersetzung betrachtet werden. Im Einzelfall sollte die Willensrichtung des Täters, die aus seinem Vorleben sowie dem Inhalt und den Umständen der Äußerung geschlossen werden musste, entscheidend sein. Die Bewertung der Täterpersönlichkeit konnte somit den Unterschied zwischen einer Gefängnis- und der Todesstrafe ausmachen. Bei Böswilligkeit war selbst die Öffentlichkeit keine Voraussetzung mehr für die Bestrafung. Am 25. Juni 1941 hatte das RKG Böswilligkeit dahingehend definiert, dass jede Äußerung gem § 2 Heimtückegesetz, die das Vertrauen zur politischen Führung gefährden wolle, als böswillig zu betrachten sei. Der Chef AMA Admiral Warzecha hatte bereits im Februar 1942 gefordert, gleich § 5 Abs 1 Z 1 KSSVO anzuwenden und nicht erst auf § 2 Heimtückegesetz zu rekurrieren. Als wesentliches Argument für die Verschärfung der Vorgehensweise diente die Kriegslage, die es erfordere, Kritik im Keim zu ersticken.470

In der Praxis wurden Aussagen von Offizieren oft milder beurteilt als jene von Unteroffizieren und einfachen Soldaten. Am 27. Februar 1940 entschied der III. Senat des RKG, dass Äußerungen auch dann öffentlich seien, wenn sie möglicherweise öffentlich bekannt werden konnten. Dagegen erklärte der I. Senat des RKG in einem Urteil vom 5. Mai 1941, dass im Offizierskasino getätigte Äußerungen nicht als öffentlich zu qualifizieren seien. Bei Aussagen im engsten Kameradenkreis müsse der Täter nicht mit einer Veröffentlichung rechnen. Zu dieser Entscheidung erklärte wiederum der 13. Mob- Sammelerlass vom 20. November 1944, dass sie durch die Rechtsentwicklung überholt sei.471

Am 26. Jänner 1944 fällte das Gericht des Führers der Unterseeboote West in Kiel ein Urteil gegen den Kommandanten von U 154 Oberleutnant Kusch wegen fortgesetzter Zersetzung der Wehrkraft und des Abhörens ausländischer Sender. Begonnen hatte das Verfahren durch die Meldung eines Offizierskameraden, der Kusch eine feindliche Einstellung gegenüber der politischen und militärischen Führung vorwarf. Bei einer Ausfahrt habe er befohlen, ein Bild Hitlers im Offiziersraum abzunehmen. Weiter habe er gesagt, nur der Sturz Hitlers und der NSDAP könne Frieden bringen und die Niederlage stehe bevor, sei aber kein Unglück. Dies wurde von mehreren Offizieren bestätigt. Zwei Offiziere, die nicht zur Besatzung von U 154 gehörten, bestätigten dem Angeklagten allerdings eine positive Einstellung. Das Gericht nahm eine Öffentlichkeit der Äußerungen an, obwohl diese nur im Offiziersraum eines U-Bootes gefallen waren. Einen Zersetzungsvorsatz konnte selbst das Gericht nicht erkennen, allerdings betonte es die Gefahr, die von Äußerungen ansonsten gut beurteilter Personen ausgehe, und die Tatsache, dass sich die Äußerungen gegen Hitler gerichtet hatten. Kusch wurde zum Tode und zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt. Das Urteil wurde durch Göring in Vertretung

470 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 634 f; Dörner in Haase/Paul 109 f; Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 216 f; Gribbohm, RKG Rz 234 ff; Gribbohm, Strafjustiz 62 f; Haase, RKG 12 ff; Hankel in Kirschner 302; Hornung in Pirker/Wenninger 100 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 201 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 154 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 178 ff; Walmrath, Iustitia 540 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 403 ff. 471 vgl RKG 27.2.1940, StPL (HLS) II 19/40; RKG 27.2.1940, StPL (HLS) III 29/40; RKG 2.4.1940, StPL (HLS) I 33/40; RKG 24.9.1941, StPL (HLS) III 78/41; RKG (Hrsg), Entscheidungen II 60 ff; Form in Pirker/Wenninger 62 f; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 216; Gribbohm, RKG Rz 234 ff; Hankel in Kirschner 302; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 203; Messerschmidt in Baumann/Koch 30; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 178 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 542 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 128/226

Hitlers bestätigt und am 12. Mai 1944 vollzogen. Fälle, in denen Denunziationen ein Verfahren auslösten, spielten im Verlauf des Krieges eine große Rolle.472

Kritik an Hitler wurde durch seine Funktionen als Führer der NSDAP und Oberbefehlshaber der Wehrmacht zu Heimtücke und Wehrkraftzersetzung. Insbesondere nach dem 20. Juli 1944 verfolgten die Kriegsgerichte entsprechende Handlungen rigoros. Hitlers Adjutant und Chef des Heerespersonalamts General Schmundt stellte dazu fest, dass jede Schonung eines treulosen Verräters am Führer und seinem Werk unangebracht sei, solange an der Front Idealisten fielen. Auch ein Versagen der Vorgesetzten in Bezug auf die Dienstaufsicht und NS Führung sollte geprüft werden. Dies entsprach einer Forderung, die Göbbels473 in seinen Dreißig Kriegsartikeln für das deutsche Volk formuliert hatte. Der Soldat, der an der Front sterbe, könne demnach fordern, dass jemand, der den Krieg sabotiere oder gefährde, den Tod erleide. Durch NSFO sollte die ideologische Geschlossenheit der Wehrmacht für den totalen Krieg sichergestellt werden. In der Luftwaffe mussten Verfahren wegen Wehrkraftzersetzung, Heimtücke, Selbstverstümmelung und Abhörens von Auslandssendern dem NSFO gemeldet werden. Vor der Bestätigung eines Urteils oder der Einstellung eines Verfahrens musste darüber hinaus eine Stellungnahme des NSFO eingeholt werden.474

In einer Verfügung des Chefs der personellen Rüstung und NS Führung der Luftwaffe vom 1. November 1944 wurde besonders darauf hingewiesen, dass der Tatbestand der Wehrkraftzersetzung mit jeder Äußerung erfüllt sei, die geeignet sei, mutlos zu machen oder den Durchhaltewillen zu schwächen. Zweifel am Führer und seinen Maßnahmen oder diesbezügliche negative Äußerungen seien todeswürdig. Auch Zweifel am Endsieg, Kritik an der militärischen Führung oder Aussagen, der Bolschewismus sei nicht so schlimm, wurden unter den Begriff der Wehrkraftzersetzung subsummiert. Die Strafbarkeit sei auch nicht von einer Absicht des Zersetzers abhängig, und die zersetzende Wirkung müsse auch nicht tatsächlich eintreten. Es reiche vielmehr bereits, dass die Möglichkeit einer zersetzenden Wirkung bestehe, um die Strafbarkeit zu begründen. Das Erfordernis der Öffentlichkeit sei darüber hinaus bereits bei Aussagen im Kameraden- oder Freundeskreis und gegenüber Ehepartnern erfüllt.475

In einer Verfügung des Chefs des Heerespersonalamtes General Burgdorf vom 16. September 1944 wurden Urteile gegen Offiziere in diesem Zusammenhang erwähnt. Ein Hauptmann dR erklärte gegenüber einer Angestellten einer Heeresstandortverwaltung, Deutschland würde nach einem verlorenen Krieg besetzt werden, und riet ihr von einem Eintritt in die NSDAP ab. Ein weiterer Hauptmann dR meinte Ende 1943, der Krieg sei verloren, Deutschland müsse spätestens im März 1944 kapitulieren und der Kampf gegen die Westmächte sollte aufgegeben werden. Der Richter beim Reichsführer SS informierte den Chef der Heeresjustiz am 21. August 1944, dass gem Entscheidung Himmlers bei positiven Äußerungen über das Attentat vom 20. Juli 1944 grundsätzlich die Todesstrafe

472 vgl Baumann in Pirker/Wenninger 272; Baumann/Koch, Fallgeschichten, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 154; Dörner in Haase/Paul 110 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 228 f; Fritsche, Österreichische Opfer, in Manoschek 91 ff; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 217 f; Hornung in Pirker/Wenninger 98 ff; Manoschek in Pirker/Wenninger 48 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 203 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 143; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 128; Walmrath, Iustitia 340 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 504 ff. 473 vgl Goebbels, Dreissig Kriegsartikel für das deutsche Volk (1943) Art 21. 474 vgl VUA, RKG K63 39/10/11; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 205 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 160 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 68 f. 475 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht 90 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 129/226 anzuwenden sei. Himmler fungierte seit dem 20. Juli 1944 auch als BdE476 und war somit Gerichtsherr im Ersatzheer und Vorgesetzter der HR.477

Messerschmidt geht von einer hohen Dunkelziffer bei Fällen von Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung aus. Insbesondere Selbstverstümmelung konnte häufig nicht bewiesen werden, weshalb die Justizführung darauf drängte, Verfahren rascher und im Bereich des Tatortes durchzuführen, da der Sachverhalt beim Ersatzheer häufig nicht mehr festgestellt werden konnte. Jede wehrfeindliche Einstellung sollte bekämpft werden. Die Strafhöhe wurde wesentlich von der Einschätzung des Gerichts bestimmt, ob es sich beim Täter um einen Staats- oder Volksfeind handle oder ob er aus menschlich verständlichen Motiven gehandelt hatte. Aber auch vermeintlich milde Urteile hatten gravierende Auswirkungen. Zuchthaus- und Gefängnisurteile führten oft in Straflager und Feldstrafgefangenenabteilungen. Angriffe gegen Hitler wurden besonders schwer bestraft. Eine entscheidende Rolle spielten auch hier häufig die Rechtsgutachter. Neben dem politischen Gehalt von Aussagen rekurrierte die NS Rechtsprechung auch häufig auf die Täterpersönlichkeit.478

Das Gericht des Admirals in den Niederlanden verurteilte den siebzehnjährigen Soldaten H am 15. Dezember 1944 zu nur drei Jahren Zuchthaus, weil er den Fehlschlag des Attentats vom 20. Juli 1944 bedauert hatte und meinte, lieber in Zivil zu verschwinden. Der Rechtsgutachter wies darauf hin, dass auf das jugendliche Alter wegen der Gefährlichkeit der Äußerungen keine Rücksicht genommen werden könne. Ein weiterer Soldat wurde am 20. April 1944 zu Zuchthaus verurteilt, weil er gegenüber Kameraden meinte, Hitler müsse abtreten und er habe in der Kantine ein Nazischwein geschlagen.479

Der Maschinenassistent W wurde im Frühjahr 1945 vom Gericht des Admirals der Atlantikküste zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er in betrunkenem Zustand, als er ein Bild sah, dass Hitler vermeintlich im Gefängnis zeigte, meinte, man habe Hitler den Krieg zu verdanken und Gott sei Dank habe man diesen Spinner eingesperrt. Der Oberbefehlshaber Nord hob das Urteil auf und forderte die Todesstrafe. Auf ein Rechtsgutachten wurde verzichtet. Der Chef AMA Admiral Warzecha stellte fest, dass W bereits dreimal vorbestraft, faul und ständig betrunken sei. Er sei charakterlich minderwertig und daher die Todesstrafe angebracht. ObdM Dönitz ordnete am 3. Mai 1945 die Vollziehung des nunmehr gefällten Todesurteils an. Der Marineartillerist T wurde am 2. März 1943 vom Gericht des Küstenbefehlshabers östliche Ostsee zum Tode verurteilt, weil er meinte, er freue sich über die ernste Lage in Stalingrad und Woronesch. MR rügte das Gericht, da es nicht rasch und energisch genug gegen T vorgegangen sei. Das Rechtsgutachten führte aus, T habe den Glauben an den Sieg und die soldatische Wehrhaftigkeit untergraben wollen. Seine Vorstrafen belegten seinen asozialen Charakter. Seine psychosomatische Veranlagung sei kein Milderungs-, sondern ein Strafschärfungsgrund. Außerdem fiele er der Volksgemeinschaft bei einem milderen Urteil nur weiter zur Last. Somit sei die Todesstrafe zu vollziehen. Hitler selbst definierte den Richter bereits im August 1942 als Träger der völkischen Selbsterhaltung. Würde das Gute dezimiert und das Schlechte erhalten, käme es zu einer Situation wie 1918. Hitler gab damit die Richtung für Urteile wie jenes gegen T vor. In Urteilsbegründungen wurden immer wieder die sozialdarwinistischen Vorstellungen der Psychiatrie der Zwischenkriegszeit herangezogen. Sog Psychopathen und Sozialschädlinge wurden als Gefahr

476 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 433. 477 vgl Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 49; Klausch, 500 256; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 206 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 163 f. 478 vgl Fritsche, Die Verfolgung von österreichischen Selbstverstümmlern in der Deutschen Wehrmacht, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 197; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 207 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 506 ff. 479 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 208 f; Walmrath, Iustitia 541 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 130/226 für die Volks- und Wehrgemeinschaft betrachtet. Insbesondere bei Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung konnte eine derartige Einstufung den Angeklagten zum Verhängnis werden.480

Der Pionier Schages erhielt eine Strafe von einem Jahr Gefängnis, weil er in einem Brief geschrieben hatte, der Krieg werde bald zu Ende sein, weil nichts mehr zu Fressen da wäre. In seiner Einheit müssten die Soldaten Geld hergeben, damit zumindest Erdäpfel gekauft werden könnten.481

Nach einer Auseinandersetzung in alkoholisiertem Zustand wurde ein Marinegefreiter, der dabei angab, Kommunist zu sein, wegen eines tätlichen Angriffs auf einen Vorgesetzten im Juni 1944 wegen Zersetzung der Wehrkraft zunächst zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus verurteilt. Das Urteil wurde vom Gerichtsherrn aufgehoben, weil dieser die Todesstrafe für angebracht hielt. Da der Nachweis, dass es sich bei dem Soldaten um einen Kommunisten handelte, nicht glückte, lautete das neue Urteil auf drei Jahre Zuchthaus. Dieses Urteil wurde am 5. Mai 1945 bestätigt. Am 7. Mai 1945 erfolgte die Übergabe des Verurteilten an den SD, der den Soldaten am 8. Mai 1945 entließ. Ein Gnadengesuch des Soldaten wurde am 24. Mai 1945 vom Rechtsgutachter beim Admiral der norwegischen Nordküste abgelehnt.482

Am 19. und 20. April 1945 rief der betrunkene Oberbootsmannsmaat A, der Führer habe alle ins Unglück gestürzt und müsse erschossen werden. Er werde mit ihm abrechnen und kämpfe nur mehr für die Kommune. Einen Soldaten forderte er auf, sein Gewehr wegzuwerfen, weil es keinen Sinn mehr habe weiterzukämpfen. Das Gericht des Admirals der Kriegsmarinedienststelle Hamburg verurteilte ihn am 30. April 1945, nur acht Tage vor Kriegsende, wegen Wehrkraftzersetzung und Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gem § 83 Abs 2 RStGB iVm § 330a RStGB und § 5a KSSVO zweimal zum Tode. § 83 Abs 2 RStGB erforderte eine Handlung, um die Reichswehr oder Polizei untauglich zum Schutz des Staates vor äußeren oder inneren Feinden zu machen. Inwieweit die Aussagen des betrunkenen Oberbootsmannsmaats dazu geeignet waren, lässt sich nicht erkennen. Das Gericht hat hier offensichtlich eine Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut angewandt. Das Urteil wurde am 1. Mai 1945 bestätigt. Aufgrund der alliierten Anweisung, militärgerichtliche Urteile zu überprüfen, wurde auch dieses Urteil am 21. März 1946 von der Marinegerichte Auffangstelle geprüft. Der ehemalige Chef MR Admiralstabsrichter Rudolphi, nunmehr stellvertretender Gerichtsherr, empfahl dem Gerichtsherrn Konteradmiral Krauß, das Urteil bezüglich § 83 RStGB und § 5a KSSVO aufzuheben. Dennoch sollte der Soldat gem § 330a RStGB wegen der Rauschtat zum Tode verurteilt werden. Gleichzeitig sollte das Urteil wegen der Volltrunkenheit zum Zeitpunkt der Tatbegehung in zwei Jahre Gefängnis umgewandelt werden. Am 30. März 1946 wurde Rudolphis Vorschlag angenommen.483

Am 4. Mai 1945 wurde der Marinehauptgefreite Nowack vom Gericht des Admirals der norwegischen Westküste in Stavanger zum Tode verurteilt. Nowack war bereits wegen Wehrkraftzersetzung vorbestraft. Gegen Ende eines Lazarettaufenthalts in Kristiansand kam es am 5. April 1945 zu einer politischen Auseinandersetzung und einer Schlägerei. Der alkoholisierte Nowack wehrte sich gegen eine Beruhigungsspritze und beschimpfte den Arzt, der sie ihm verabreichen wollte. Er meinte ua, in

480 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 144; Bryant in Pirker/Wenninger 216; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 209 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 36 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 34 ff; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 165 ff; Schöngarth/Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 139 ff; Walmrath, Iustitia 349 ff. 481 vgl VUA, RKG K33 39/8/19. 482 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 436; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 264 ff. 483 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 419 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 269 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 147 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 131/226

14 Tagen arbeite niemand mehr für die Nazis und ihr Regime und kein Nazischwein dürfe ihn anfassen. Das Todesurteil wurde noch am selben Tag vollzogen.484

Am 5. Mai 1945 wurden die Offiziere des Minensuchbootes M 612 von der Besatzung gefangengenommen. Die Soldaten wollten sich absetzen. Auf dem Weg nach Flensburg forderten sie eine Schnellbootbesatzung auf, ebenfalls zu meutern. Daraufhin wurde das Boot angehalten und auf Anordnung des Führers der Minenschiffe Kapitän zur See Pahl ein Standgericht an Bord des Schiffes einberufen. Noch am 5. Mai 1945 wurden die 20 meuternden Besatzungsmitglieder von M 612 angeklagt. Gegen elf wurde die Todesstrafe verhängt, vier wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt, und fünf Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Todesurteile wurden noch in derselben Nacht vollzogen. Ein nach dem Krieg eingeleitetes Ermittlungsverfahren gegen Kapitän zur See Pahl wurde eingestellt.485

Eine besondere Gruppe in Bezug auf Wehrkraftzersetzung bildeten die volksdeutschen Soldaten, díe ursprünglich nicht aus dem Reichsgebiet stammten. So stellte sich die Frage, ob gegen Elsässer, Lothringer und Luxemburger bei Fällen von Wehrkraftzersetzung mit allen Mitteln des Gesetzes vorzugehen sei. In vielen Briefen fanden sich zersetzende Äußerungen oder Unterschriften wie VLF für Vive La France bei Elsässern und Lothringern oder Vive la Charlotte bei Luxemburgern. Vorgesetzte und Militärjuristen berücksichtigten, dass es sich um eine Grenzbevölkerung handle, die nicht nationalsozialistisch erzogen worden sei. Von einem harten Durchgreifen befürchtete man eine noch größere Ablehnung des NS Staates in diesen Gruppen, womit sich auch die Frage stellte, inwieweit Elsässer, Lothringer und Luxemburger überhaupt noch als Soldaten verwendbar wären. Andererseits sollten politische Gegner nicht gegenüber Soldaten aus dem Reichsgebiet bevorzugt werden.486

In einer Untersuchung zu den österreichischen Opfern der nationalsozialistischen Militärjustiz konnten 142 Fälle von wehrkraftzersetzenden Äußerungen festgestellt werden. Gem § 5 Abs 1 KSSVO verurteilt wurde allerdings nur in 101 Fällen. In zehn Fällen konnte die dem Urteil zugrunde liegende Norm nicht ermittelt werden. In anderen Fällen verurteilten die Militärgerichte aufgrund anderer Tatbestände wie zB üble Nachrede, Beschimpfung des Reichs, Volltrunkenheit oder schlicht Erregen von Missvergnügen. Dies zeigt den teilweise großen Handlungsspielraum, über den die Militärrichter verfügten. In immerhin 13 Fällen wurde die Todesstrafe ausgesprochen. Im Verlauf des Krieges nahmen auch bei diesem Delikt die Anzahl der Fälle und die Höhe der Strafen zu.487

Das Gericht der Division 177 in Wien verurteilte am 9. August 1944 den stark untergewichtigen Grenadier Wielander zu fünf Jahren Gefängnis, weil er Ende April 1944 bei einer Geländeübung mit Gasmaske zusammengebrochen war. Die Ärzte stellten einen schlechten Allgemeinzustand und geringe Leistungsfähigkeit fest. Der Soldat war 186 cm groß, wog aber nur 56 kg. Hinweise auf eine Simulation fehlten. In weiterer Folge wurde Wielander an eine Feldstrafgefangenenabteilung überstellt. Er starb noch vor Kriegsende.488

Einen Untertatbestand der Wehrkraftzersetzung bildete die Selbstverstümmelung, die unter § 5 Abs 1 Z 3 KSSVO Wehrdienstentziehung durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel subsummiert wurde.

484 vgl Friedrich, Nazi-Justiz 221 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 438; Walmrath, Iustitia 20; Wüllner, NS-Militärjustiz2 536 f. 485 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 438 f; Walmrath, Iustitia 15 f. 486 vgl Haase in Haase/Paul 157 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 210 f. 487 vgl Fritsche in Kohlhofer/Moos 45; Fritsche, Wehrkraftzersetzende Äußerungen, in Manoschek 219 ff. 488 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 212; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 237 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 385 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 132/226

Der Soldat R wurde aufgrund dieser Bestimmung vom Gericht der 121. Infanteriedivision zu 15 Jahren Zuchthaus und zum Verlust der Wehrwürdigkeit verurteilt. Zuvor hatte ein Gutachten die verminderte Zurechnungsfähigkeit des Soldaten festgestellt, der nicht an vorderster Front hätte eingesetzt werden dürfen. Entgegen diesem ärztlichen Gutachten stellte das Rechtsgutachten am 30. September 1942 fest, dass die Kriegsnotwendigkeiten Vorrang hätten. Die Truppe würde nicht verstehen, wenn ein völlig wertloser Mensch am Leben erhalten würde, nur weil er ein wertloser Mensch sei. Die Todesstrafe sei daher angebracht. Der Oberbefehlshaber der 18. Armee folgte diesem Vorschlag und hob das Urteil im Strafausspruch auf.489

Viele Soldaten versuchten sich dem Kriegseinsatz zu entziehen, indem sie sich selbst verletzten, um so für den Einsatz untauglich zu werden. Dies geschah teilweise auch mit Hilfe Dritter. Die Selbstverstümmelung als besondere Form der Wehrdienstentziehung wurde nicht immer entdeckt bzw konnte sie nur schwer nachgewiesen werden, da die zugefügten Verletzungen normalerweise nicht von natürlichen unterschieden werden konnten. Gegen entdeckte Selbstverstümmler griffen die Gerichte aber häufig zu den strengsten Strafen, um andere Soldaten von einer Nachahmung abzuschrecken.490

So schoss sich ein achtzehnjähriger Wiener während eines Kampfeinsatzes in die Hand, nachdem kurz nach seinem Eintreffen an der Front 60% seiner Einheit bei einem Einsatz gefallen und am Vortag sein bester Freund getötet worden waren. In diesem Fall wurde die Selbstverstümmelung vom behandelnden Arzt erkannt, und nach einem Geständnis des Soldaten kam es zu einem Militärgerichtsverfahren, bei dem der junge Wiener zum Tode verurteilt wurde.491

In einer Untersuchung zu den österreichischen Opfern der nationalsozialistischen Militärjustiz konnten unter 3.001 Fällen immerhin 132 Selbstverstümmelungen festgestellt werden. Die Anzahl der Delikte nahm im Verlauf des Krieges deutlich zu. So entfielen rund 70% der Fälle allein auf das Jahr 1944. Dies waren viermal so viele Fälle wie 1943. Auch von 1942 auf 1943 kam es zu einer Verdoppelung der Selbstverstümmelungsdelikte. Von den 132 festgestellten Fällen endeten 116 mit einer Verurteilung gem § 5 Abs 1 KSSVO. In einem Fall erfolgte die Verurteilung wegen unvorsichtiger Behandlung von Waffen. In immerhin drei Fällen wurde eine fortgesetzte Selbstverstümmelung festgestellt, und 25 Urteile wurden wegen mehrfacher Selbstverstümmelung gefällt.492

Delikte gem § 5 Abs 1 KSSVO waren grundsätzlich mit der Todesstrafe bedroht. Lediglich in minder schweren Fällen konnte auf Zuchthaus oder Gefängnis erkannt werden. Von den 116 Urteilen gegen österreichische Selbstverstümmler lauteten 60% auf Zuchthaus, rund 17% auf Todesstrafe und 13% auf Gefängnis. Lediglich in knapp 8% der Fälle erfolgte ein Freispruch durch das Kriegsgericht. Von den insgesamt 20 verhängten Todesstrafen wurden letztendlich 18 auch vollzogen. Die Strafe gegen den oben erwähnten Wiener Soldaten wurde zur Frontbewährung ausgesetzt. In einem Fall rettete das Kriegsende den Verurteilten vor der Hinrichtung. In insgesamt sieben Fällen wurden die Urteile

489 vgl Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Hornung in Pirker/Wenninger 100 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 211; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 153 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 506 ff. 490 vgl Fritsche, Selbstverstümmler, in Manoschek 195 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 167 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 506 ff. 491 vgl Fritsche, Selbstverstümmler, in Manoschek 196. 492 vgl Forster/Fritsche/Geldmacher in Manoschek 71; Fritsche in Kohlhofer/Moos 41; Fritsche, Österreichische Opfer, in Manoschek 80 ff; Fritsche, Selbstverstümmler, in Manoschek 197 f; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 4; Riegler in Pirker/Wenninger 167; Walter, Kriegsdienstverweigerer, in Manoschek 117; nur 3.000 Fälle werden genannt in Manoschek in Kohlhofer/Moos 30. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 133/226 vom Gerichtsherrn aufgehoben. In all diesen Fällen wurde in der Neuverhandlung ein strengeres Urteil als im Ursprungsprozess gefällt, in drei Fällen sogar auf Todesstrafe erkannt.493

Die durchschnittliche Haftdauer aufgrund einer Selbstverstümmelung betrug rund 88 Monate, die geringste Strafe lag bei 9 Monaten, die höchste bei 180 Monaten. Zu neun Monaten Freiheitsstrafe wurde ein sechzehnjähriger Lehrling verurteilt, der einem Freund den Arm gebrochen hatte, damit dieser nicht wieder zu seiner Einheit einrücken musste. Die Strafhöhe nahm im Verlauf des Krieges mit der Zahl der begangenen Delikte zu.494

Einige Urteile wegen Selbstverstümmelung rekurrierten nicht auf eine vermeintlich minderwertige oder sozial schädliche Persönlichkeit, sondern hielten sich im Rahmen des Gesetzeswortlauts. Das Gericht der Wehrmachtskommandantur Leipzig verurteilte am 7. Dezember 1944 den Gefreiten Müller zum Tode und zum Verlust der Wehrwürdigkeit, weil er versucht hatte, durch die Einnahme von Tabletten Gelbsucht vorzutäuschen. Das Gericht erkannte keine Milderungsgründe an, da zur Aufrechterhaltung der Manneszucht gegen Drückebergereien im sechsten Kriegsjahr mit aller Schärfe vorgegangen werden müsse. Der Schütze Nessmann wurde am 29. Oktober 1942 vom Gericht der Division 409 zum Tode verurteilt, weil er sich durch die rechte Hand geschossen hatte. Milderungsgründe wie die Sorge des Soldaten um seine kranke Frau sollten im anschließenden Gnadenverfahren beurteilt werden. Die Todesstrafe sei zur Aufrechterhaltung der Manneszucht erforderlich. BdE Generaloberst Fromm wandelte die Strafe in 15 Jahre Gefängnis um und ordnete die Vollziehung in einer Feldstrafgefangenenabteilung an. Der Obergefreite Schlautek wurde am 7. November 1944 vom Gericht der 11. Infanteriedivision zum Tode verurteilt, weil er sich aus Angst vor russischer Gefangenschaft während einer Wache in die linke Hand geschossen hatte. Das Gericht stellte fest, dass ein Soldat, der sich selbst verstümmelt, grundsätzlich sein Leben verwirkt habe. Durch seine Handlung schließe er sich selbst aus der Volksgemeinschaft aus. Die besondere Gefährlichkeit der Tat für die Wehrkraft lasse nur die Todesstrafe zu. Der Divisionskommandant beantragte die Bestätigung des Urteils, aber die Aussetzung der Vollziehung, da es sich um einen noch jungen Soldaten handelte, der sich bessern werde. Das Rechtsgutachten vertrat hingegen die Meinung, die Tat erfordere zur Aufrechterhaltung der Manneszucht eine strenge Ahndung. Das Urteil solle bestätigt und vollzogen werden. Der Oberbefehlshaber der 18. Armee schloss sich dem Rechtsgutachten am 16. November 1944 an.495

Der Schütze Kerner wurde am 11. April 1944 vom Gericht der 260. Infanteriedivision zum Tode verurteilt, weil er Erfrierungen, die er sich bei Arbeiten in einer Feldstrafgefangenenabteilung zugezogen hatte, nicht meldete, um dadurch ins Krankenrevier zu kommen. Das Gericht stufte ihn als Drückeberger ein und wollte generalpräventiv wirken. Milde käme aufgrund der Persönlichkeit und der Vorstrafen des Angeklagten nicht in Betracht. Auch nach dem Sieg würde er nur eine Belastung für das deutsche Volk darstellen. Die Richter und der Divisionskommandant beantragten die Bestätigung und Vollziehung des Urteils. Der Rechtsgutachter des Armeeoberkommandos 4 Oberkriegs- gerichtsrat Coenen schlug dagegen die Aufhebung des Urteils und eine disziplinäre Erledigung vor, weil Drückebergerei nicht in den Anwendungsbereich des § 5 Abs 1 Z 3 KSSVO falle. Es scheine, man wolle einen Soldaten, der Schwierigkeiten bereite, über den Gerichtsweg loswerden. Der Oberbefehlshaber der 4. Armee Generaloberst Heinrici hob daher das Urteil am 18. April 1944 auf. Kompaniekommandant Sorré lehnte ein Disziplinarverfahren allerdings ab. Inzwischen habe Kerner eine zweite Wehrkraftzersetzung begangen, weil er Läuseexzeme nicht habe behandeln lassen. Der

493 vgl Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Fritsche, Selbstverstümmler, in Manoschek 208 f; Klausch, 500 15; Moos in Kohlhofer 105 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 165 ff; Walmrath, Iustitia 171 ff. 494 vgl Fritsche, Selbstverstümmler, in Manoschek 209. 495 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 212 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 506 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 134/226

Divisionskommandant ordnete daraufhin ein zweites Gerichtsverfahren an, und das Gericht der Feldkommandantur 516 verurteilte Kerner am 6. Juni 1944 wegen Selbstverstümmelung zu fünf Jahren Gefängnis. Ein Todesurteil kam nicht in Betracht, da der Aufenthalt im Lazarett nicht dauerhaft sein sollte. Der Rechtsgutachter des Armeeoberkommandos 4, diesmal Kriegsgerichtsrat Seifert, stellte am 12. Juni 1944 wiederum fest, dass Drückebergerei nicht in den Anwendungsbereich des Gesetzes falle, und schlug die Aufhebung des Urteils vor. Es käme daher nur ein Disziplinarverfahren in Betracht. Der Divisionskommandeur widersprach erneut, woraufhin die Akten an die Heeresfeldjustizabteilung im OKH und den Armeerichter der 4. Armee weitergeleitet wurden. Coenen schlug in einem Rechtsgutachten am 19. Juni 1944 erneut die Urteilsaufhebung vor. Schlussendlich stellte der stellvertretende Armeeoberbefehlshaber das Verfahren wegen Geringfügigkeit gem § 47 KStVO ein und zog die Anklageverfügung zurück. Kerner wurde von ihm mit drei Wochen geschärftem Arrest bestraft und in die Wehrmachtshaftanstalt Minsk überstellt. Dieses Verfahren zeigt, wie freimütig die NS Militärgerichte mit der Todesstrafe verfuhren. Ideologisch besetzte Begriffe führten bereits bei geringfügigen Vergehen zu drakonischen Maßnahmen. Die Haltung Coenens gegen den Widerstand der Truppenkommandeure erscheint hier als Ausnahmeerscheinung.496

Der Obergefreite Kronhöfer wurde am 10. Mai 1944 vom Gericht der Division 177 wegen Selbstverstümmelung zunächst freigesprochen, weil nicht bewiesen werden konnte, dass er sich selbst verletzt hatte. Der Gerichtsherr Generalmajor Müller-Derichsweiler bestätigte das Urteil nicht, woraufhin es am 4. August 1944 vom BdE Himmler aufgehoben wurde. Im neuerlichen Verfahren, das wieder vor dem Gericht der Division 177, allerdings mit einem anderen Richter stattfand, wurde Kronhöfer schließlich am 17. August 1944 zum Tode verurteilt. Im Urteil wurde aber aufgrund der guten Führung und bisherigen Unbescholtenheit des Verurteilten eine Gnadenentscheidung angeregt. Der Gerichtsherr lehnte einen Gnadenerweis allerdings am 26. August 1944 ab. Der Rechtsgutachter des vorgesetzten OKH holte aber eine Stellungnahme der Militärärztlichen Akademie ein, die am 17. Oktober 1944 feststellte, dass eine Selbstverstümmelung medizinisch nicht nachgewiesen werden könne. Daraufhin wurde das Urteil von Himmler am 20. Jänner 1945 erneut aufgehoben. Eine neue Verhandlung wurde nicht mehr anberaumt.497

Die Strafhöhen divergierten, wie auch bei anderen Delikten, je nach Einsatzort und militärischem Verband. Auch die Frage, ob die Richter sich auf ideologische Gesichtspunkte zurückzogen, oder einen Fall individuell bewerteten, spielte eine entscheidende Rolle bei der Strafzumessung. Die 9. Infanteriedivision verzeichnete 1944 sechs Urteile wegen Selbstverstümmelung, davon lauteten drei auf Todesstrafe, zwei auf 15 Jahre Zuchthaus und eines auf fünf Jahre Gefängnis. Ein Todesurteil wurde bestätigt und vollzogen, eines in zehn Jahre Zuchthaus geändert. Die beiden Zuchthausurteile wurden in Gefängnisstrafen geändert, um eine Feindbewährung zu ermöglichen. Am 22. Februar 1944 verurteilte das Gericht der 9. Infanteriedivision den Gefreiten Hebbinghaus zu fünf Jahren Gefängnis, weil er sich in der Nähe des Ellbogengelenks durch einen Schuss verletzt hatte. Hebbinghaus gestand, dass er sich dem Grabenkampf entziehen wollte. Das Gericht erkannte die seelische Belastung und mangelnde Kampferfahrung als Milderungsgründe an. Das Urteil wurde bestätigt und die Vollziehung in einer Feldstrafgefangenenabteilung angeordnet.498

In der 6. Gebirgsdivision wurde von April bis Dezember 1942 bei insgesamt sieben Urteilen wegen Selbstverstümmelung kein Todesurteil gefällt. Die 19. Armee verhandelte von Juli bis Oktober 1944 acht Fälle und verhängte drei Todesurteile. In der 20. Armee gab es von Juli bis Dezember 1942 zwei

496 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 214 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 36. 497 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 179 ff. 498 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 216 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 135/226

Selbstverstümmelungen, 1944 keine. Im Gegensatz dazu verzeichnete die 16. Armee von Juli bis Oktober 1944 insgesamt 17 Fälle von Selbstverstümmelung. Da die Zahl von Selbstverstümmelungen in einigen Bereichen hohe Ausmaße erreichte, erteilte der Heeresgruppenrichter der Heeresgruppe Mitte aufgrund einer Verfügung des Heeresgruppenarztes die Weisung, alle Fälle von Selbstverstümmelung so rasch als möglich durch einen Gerichtsmediziner begutachten zu lassen. Der zuständige Kriegsgerichtsrat sollte unverzüglich alle nötigen Erhebungen durchführen. Relativ mild im Vergleich zur Heeresjustiz fielen die Urteile der Marinejustiz wegen Selbstverstümmelung aus. Dabei ist zu beachten, dass Marinesoldaten die Tat meist nicht an der Front unter direkter Feindbedrohung, sondern zumeist in Lazaretten oder Haftanstalten begingen. Die verhängten Strafen der Marinejustiz lagen meist zwischen vier und zwölf Monaten Gefängnis. Nur ein Zuchthausurteil in Höhe von sieben Jahren wurde verhängt.499

In Abgrenzung zur Fahnenflucht sollte § 5 Abs 1 Z 3 KSSVO nur angewandt werden, wenn der Täter eine Dienstuntauglichkeit erreichen wollte. Ein Zersetzungswille war lt führenden Militärjuristen keine Voraussetzung. So konnten auch Selbstmordversuche einfach unter § 5 Abs 1 Z 3 KSSVO subsummiert werden.500

In einem Schreiben des BdE an WR vom 23. März 1945, das nachrichtlich auch an MR und LR gesandt wurde, teilte der BdE mit, dass das OKH eine Strafbarkeit bei fahrlässiger Selbstbeschädigung ausschließe. Dabei stützte sich das OKH auf ein Urteil des RKG gegen den Gefreiten Besser vom 23. März 1943.501 Anstatt wegen Selbstverstümmelung sollten Urteile wegen Ungehorsams gefällt werden, falls der Soldat andere Vorschriften, zB über den sorgsamen Umgang mit Waffen, verletzt hatte. Im Sinne einer einheitlichen Handhabung der Vorschriften wurde ein entsprechender Erlass für die gesamte Wehrmacht angeregt.502

Eine weitere Gruppe militärisch relevanter Delikte waren sogenannte Widersetzlichkeitsdelikte, die in den §§ 84 ff MStGB festgelegt waren. Lediglich bei einer Dienstpflichtverletzung aus Furcht, Gefangenenbefreiung, Beleidigung eines Vorgesetzten und unvorsichtiger Behandlung von Waffen war eine Freiheitsstrafe von maximal fünf Jahren vorgesehen. Ansonsten konnte auch bei Widersetzlichkeitsdelikten auf Todesstrafe erkannt werden.503

Von insgesamt 151 erfassten Fällen von Widersetzlichkeit durch 149 österreichische Soldaten wurden zumindest 124 mit einer Verurteilung abgeschlossen. In 22 Fällen erfolgte lediglich eine Strafverfügung. In rund 69,7% der Urteile wurden Gefängnisstrafen verhängt, in rund 12,4% erfolgte eine Verurteilung zu Zuchthaus, in rund 10,3% zu Arrest. Immerhin wurden acht Todesurteile gefällt, von denen fünf in eine Zuchthausstrafe umgewandelt wurden. Nur in 2,1% der Fälle erfolgte ein Freispruch. In weiteren 83 Fällen standen Widersetzlichkeitsdelikte in Zusammenhang mit anderen Delikten.504

Im Oktober 1944 planten einige Häftlinge einen Ausbruch aus der Wehrmachtshaftanstalt Linz. Dabei sollten das Wachpersonal überwältigt, die Waffenkammer ausgeräumt und alle übrigen Häftlinge freigelassen werden. Der Plan wurde allerdings von Mitgefangenen verraten. Das Gericht der Division 487 verurteilte daraufhin die beiden Anführer wegen Meuterei zum Tode.505

499 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 217. 500 vgl Form in Pirker/Wenninger 60 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 218. 501 vgl RKG 23.3.1943, StPL I 21/43. 502 vgl Absolon, Wehrmachtstrafrecht 101. 503 vgl Fritsche, Gehorsamsverweigerung, in Manoschek 254. 504 vgl Fritsche, Gehorsamsverweigerung, in Manoschek 259 ff. 505 vgl Fritsche, Gehorsamsverweigerung, in Manoschek 278. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 136/226

E. Urteile unter Anwendung des § 5a KSSVO und der Volksschädlingsverordnung

Die Kriegsgerichte fällten zahlreiche Urteile unter Anwendung des Strafschärfungsparagraphen § 5a KSSVO und der Volksschädlingsverordnung506 vom 5. September 1939. § 1 der Volksschädlingsverordnung sah die Todesstrafe für Plünderungen im frei gemachten oder freiwillig geräumten Gebiet vor, § 2 leg cit bedrohte Verbrechen gegen Leib, Leben und Eigentum unter Ausnutzung von Luftschutzmaßnahmen mit Zuchthaus und in besonders schweren Fällen mit dem Tod, und § 4 leg cit normierte, dass sonstige Straftaten unter Ausnutzung der Kriegsverhältnisse durch Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens mit Zuchthaus oder dem Tod bestraft werden konnten, wenn dies das gesunde Volksempfinden erforderte. § 4 der Volksschädlingsverordnung stellte somit ein Pendant zu § 5a KSSVO dar. Nunmehr konnten auch Zivilgerichte für praktisch jede Tat die Todesstrafe zur Anwendung bringen. Die Normen waren bewusst unbestimmt formuliert. Die Volksschädlingsverordnung beschränkte sich aber nicht auf Zivilpersonen, sondern konnte bei Bedarf auch gegen Soldaten angewandt werden. Die Gerichte machten sich diese Möglichkeiten auch im Sinne Hitlers zu nutze. Die Justiz sollte mit der Politik kooperieren. Am 20. August 1942 erklärte Hitler, der Gesetzgeber könne nicht alle Fälle vorherbedenken. In diesen Fällen müssten die Richter den Gesetzgeber ersetzen und im Sinne der Staatsräson urteilen. Ein Schädling solle nicht freigehen.507

Andererseits konnte auch § 5a KSSVO auf allgemeine Strafgesetze angewendet werden und blieb nicht auf militärische Delikte beschränkt. Die Militärgerichte nutzten diese Möglichkeit exzessiv aus, sodass sich sogar HR veranlasst sah, im siebten Mob-Sammelerlass darauf hinzuweisen, dass § 5a KSSVO oft zu Unrecht angewendet werde. In den Urteilsbegründungen sollte dargelegt werden, warum das Gericht die Überschreitung des regelmäßigen Strafrahmens zur Aufrechterhaltung der Manneszucht oder für die Sicherheit der Truppe als notwendig erachte. Auch bei Anwendung der Volksschädlingsverordnung sollte die Gesamtpersönlichkeit des Täters berücksichtigt werden.508

Besonders häufig wurden § 5a KSSVO und die Volksschädlingsverordnung beim Diebstahl von Feldpostpäckchen angewendet. Dabei ist anzumerken, dass es dabei meist um geringe Werte ging. Angehörige schickten den Soldaten kleine Geldbeträge oder Lebensmittel, und die Taten geschahen oft aus Not. Viele Fälle hätten daher als Mundraub gem § 370 Abs 1 Z 5 RStGB behandelt werden können. Der Diebstahl unter Kameraden wurde aber als besonders schwere Bedrohung der Manneszucht eingestuft, weshalb es häufig zur Anwendung der Strafschärfungsnormen kam. Rechtsgutachter rekurrierten häufig auf § 4 Volksschädlingsverordnung, wenn die Richter zuvor ein eher mildes Urteil gefällt hatten. So geschehen im Fall des Matrosen W, in dem der Gutachter die Anwendung des § 4 leg cit forderte, da die Aneignung der Feldpost nach gesundem Volksempfinden eine besonders schwere Strafe erfordere. Im Bereich der Marinestation der Nordsee wurden von Juli bis August 1943 fünf Todesurteile unter Anwendung des § 4 Volksschädlingsverordnung vollzogen. Als Volksschädling definierte das RKG analog zum zivilen Reichsgericht nicht nur Personen mit einer feindlichen Einstellung gegenüber der politischen oder militärischen Führung. Auch eine begangene Tat selbst konnte einen ansonsten linientreuen Bürger zum Volksschädling machen. Das RKG sah

506 vgl RGBl I 1939/168. 507 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 280 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 31 f; Gribbohm, Strafjustiz 22 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 220 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 278 f; Walmrath, Iustitia 536 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 44 ff. 508 vgl Klausch, 500 15; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 221 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 121. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 137/226 den Zweck der Verordnung darin, jene aus der Volksgemeinschaft zu entfernen, die sich im Abwehrkampf des deutschen Volkes gegen dieses gewendet hätten.509

Der Grenadier Reschny wurde wegen Plünderung unter Umgehung der Anklageverfügung vom Gericht der Division 177 in Wien am 14. September 1944 zum Tode verurteilt. Reschny hatte sich am 23. August 1944 nach einem Luftangriff freiwillig an den Aufräumarbeiten beteiligt. Dabei nahm er mehrere Gegenstände, darunter eine auf der Straße liegende Geldbörse, eine weitere Geldbörse, zwei Uhren und einen Ring aus der Wohnung eines Staatsanwalts, an sich. Bei einer Hausdurchsuchung am 29. August 1944 wurden die Gegenstände unter Reschnys Sachen gefunden. Die Anklageverfügung lautete auf Diebstahl gem § 242 RStGB iVm § 4 Volksschädlingsverordnung. Für Jugendliche war gem dieser Bestimmungen eine Höchststrafe von zehn Jahren vorgesehen. Das Gericht entschied sich allerdings zu einer Verurteilung wegen Plünderung gem § 129 MStGB. Dadurch wurde ein militärisches Delikt zur Anwendung gebracht, dass gem § 50 MStGB die Todesstrafe unabhängig vom Alter des Angeklagten, er war erst 17, ermöglichte. Hier lag insofern Rechtsbeugung vor, als Plünderung im Inland nach dem Gesetzeswortlaut eigentlich nicht begangen werden konnte. Als Begründung diente nur der allgemeine Verweis auf die Erfordernisse der aktuellen Lage des Luftkrieges, die die Todesstrafe zur Sicherung des Eigentums erforderlich mache. Durch den BdE Himmler wurde das Urteil in 15 Jahre Zuchthaus umgewandelt und in einer Feldstrafgefangenenabteilung vollzogen.510

Der Gefreite Pauli wurde wegen des Diebstahls von Lebensmitteln, einer Satteltasche, Riemen und eines Paar Handschuhe aus Wehrmachtsbeständen zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Der georgische Hilfswillige Makarew entwendete Benzin, das er an Zivilisten weitergab, und wurde dafür unter Anwendung der Volksschädlingsverordnung mit dem Tode bestraft. Der Kanonier Raßmann erhielt eine Strafe von sechs Monaten Gefängnis. Der Kanonier Gries wurde zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, weil er drei Feldpostpäckchen und einem Kameraden drei Äpfel gestohlen hatte. Der Gefreite Meyer wurde zu sechs Wochen geschärftem Arrest und Rangverlust verurteilt, weil er einen Brief mit sechs Zigaretten nicht an den Adressaten weitergegeben hatte. Der Gefreite Hartz eignete sich in der Feldpoststelle mindestens 36 Feldpostpäckchen an und schickte einen Teil davon auch an seine Familie. Dafür wurde er unter Anwendung des § 5a KSSVO zum Tode verurteilt. Der Gefreite Goebbel behielt vier Päckchen, die er zur Post bringen sollte, für sich und erhielt von einem holländischen Mädchen, dem er die Ehe versprach, 50 Reichsmark. Dafür wurde er mit drei Jahren Zuchthaus bestraft.511

Ein Wehrmachtsbeamter wurde als Volksschädling wegen Diebstahls, schwerer Urkundenbeseitigung im Amt, schwerer Urkundenfälschung und Untreue zum Tode verurteilt. Als Leiter der Verwaltung eines Reservelazaretts nahm er immer wieder Lebensmittel mit in seine Wohnung. Um dies zu verbergen, stellte er entsprechende Papiere aus. Außerdem kaufte er zusätzlich zu den 30 vorhandenen Hühnern noch 21 dazu, ließ sie die Küchenabfälle fressen und eignete sich alle Eier an.

509 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 280; Gribbohm, Strafjustiz 11 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 222 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 37; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 169 ff; Padberg, Diebstahl oder Mundraub? ZWehrR 1942/43, 18; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 302. 510 vgl Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 12; Forster, Eigentumsdelikte, in Manoschek 327; Fritsche, Österreichische Opfer, in Manoschek 99; Garbe in Kirschner 118 f; Geldmacher, Die Radikalisierung des Rechts. Wehrmachtrichter im Spiegel ihrer Urteile, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 88; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 223 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 76 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 358 ff; einschränkend zur Anwendbarkeit des § 50 MStGB erst ab Vollendung des 14. Lebensjahres Dörken, Zu § 50 MStGB Jugendliche, ZWehrR 1942/43, 341. 511 vgl VUA, RKG K33 39/8/19. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 138/226

Auf die Unzulässigkeit seines Verhaltens hingewiesen, verkaufte er alle Hühner und behielt den Erlös für sich. Die Hinrichtung wurde am 24. Februar 1943 durchgeführt.512

Der Wiener Oberzahlmeister Hummel besorgte sich Lebensmittel aus der Verpflegungsdienststelle, in der er eingesetzt war. Von einem Ausländer erhielt er gratis Wein- und Spirituosen. Außerdem betrieb er einen Tauschhandel mit Ausländern. Aufgrund dessen wurde er wegen gewerbsmäßiger Hehlerei, Untreue, militärischen Ungehorsams, Bestechung, Devisenvergehen und Unterschlagung ebenfalls als Volksschädling zum Tode verurteilt.513

Ende 1943 verstärkte sich der Einfluss der Partei auf die Wehrmacht durch die Einrichtung der NSFO. Nachdem 1944 ein Urteil eines Marinegerichts wegen Diebstahls eines Feldpostpäckchens bekannt geworden war, stellte die Parteikanzlei der NSDAP klar, dass es für die Anwendung der Volksschädlingsverordnung nur darauf ankäme, dass der Feldpostverkehr eine Verbindung zwischen der Front und der Heimat, die sich um die Front sorge, herstelle. Dies sei ein wichtiger Teil der Fürsorge für die Truppe. Wer den Feldpostverkehr störe, störe eine grundlegende Notwendigkeit im Krieg. Feldpostpäckchendiebstahl sei immer ein Verstoß gegen die Volksschädlingsverordnung. MR gab dies am 4. Oktober 1944 an die Chefrichter der Kriegsmarine weiter, wobei eingeräumt wurde, dass bei Diebstahl nur eines oder einiger weniger Feldpostpäckchen von der Anwendung der Volksschädlingsverordnung abgesehen werden könne. Dennoch sei der Auffassung der Parteikanzlei im Grundsatz zu folgen. Der Chef der Parteikanzlei der NSDAP Bormann verbot im März 1944 allen Parteimitgliedern, Gnadengesuche von aufgrund der Volksschädlingsverordnung Verurteilten zu befürworten oder für sie als Leumundszeuge aufzutreten. Die obersten Reichsbehörden wurden am 13. Juni 1944 darüber informiert. HR informierte die Heeresgerichte in weiterer Folge am 20. Juli 1944.514

Anwendungsmöglichkeiten boten sich für § 5a KSSVO und die Volksschädlingsverordnung auch bei unerlaubter Entfernung, Notzucht, Raub, Taten unter Alkoholeinfluss und anderen. So wurde am 28. Juni 1943 ein Gefreiter vom Gericht des Kommandierenden Generals im Luftgau Norwegen wegen militärischen Diebstahls zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Urteil wurde mit dem gesunden Volksempfinden begründet. Das Gericht der Division 177 in Brünn verurteilte am 26. Jänner 1944 einen Gefreiten K wegen unerlaubter Entfernung zu drei Jahren Gefängnis. Dabei wurde die bisherige gute Führung des Soldaten mildernd berücksichtigt. Der Gutachter schlug eine Aufhebung des Urteils und eine Neubewertung des Delikts als Fahnenflucht vor. Der Gerichtsherr folgte diesem Vorschlag am 15. Februar 1944. Da im zweiten Verfahren am 30. März 1944 der Beweis einer Fahnenflucht nicht gelang, wurde § 5a KSSVO bemüht, um das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Das neue Urteil lautete auf fünf Jahre Zuchthaus. Aufgrund der zunehmend höheren Strafen für teilweise geringfügige Delikte im Kriegsverlauf sah sich sogar der Chef LR von Hammerstein am 22. August 1944 zu einem Runderlass genötigt, in dem er anmerkte, dass im Kriegsverlauf das Bewusstsein für die Schwere der Zuchthausstrafe verlorenzugehen drohe.515

Die Gerichtsbarkeit agierte aber häufig im Gegensatz dazu. So wurde ein Urteil über zwei Jahre und vier Monate Zuchthaus gegen einen Unteroffizier der Kriegsmarine wegen unerlaubter Entfernung und Urkundenfälschung vom gutachtenden Geschwaderrichter am 16. Februar 1945 als zu milde

512 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K53 39/13/20. 513 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K63 39/10/11. 514 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 225 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 169 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 68 f. 515 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 226 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 122 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 392 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 139/226 empfunden und zur Erhaltung der Manneszucht die Anwendung von § 5a KSSVO und die Todesstrafe gefordert. Ein Soldat der 6. Gebirgsdivision in Griechenland wurde am 31. Juli 1941 wegen unerlaubter Entfernung zu 14 Jahren und neun Monaten Zuchthaus verurteilt. Das Rechtsgutachten stellte fest, dass dem Angeklagten soldatische Auffassungen völlig fernlägen. Eine Gefängnisstrafe würde die Manneszucht gefährden. Strafmildernd seien die bisherige Unbescholtenheit und die unverschuldete Minderwertigkeit des Angeklagten. Auf diese Minderwertigkeit wurde aufgrund von drei Disziplinarstrafen geschlossen. Das Urteil wurde aber als ausreichend bewertet und schließlich bestätigt. Das Gericht des Kommandanten von Groß Paris verurteilte einen Soldaten am 15. April 1943 wegen unerlaubter Entfernung zum Tode. Der Gefreite A wurde ebenfalls vom Gericht der 6. Gebirgsdivision wegen unerlaubter Entfernung zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nachdem das Urteil durch den Armeeoberbefehlshaber aufgehoben worden war, wurde am 20. August 1944 die Todesstrafe ausgesprochen. Deutlich milder fielen Urteile der 1. Gebirgsdivision aus. In vier Urteilen wegen unerlaubter Entfernung wurden Strafen in Höhe von zwei und drei Wochen geschärftem Arrest sowie von neun Monaten und zwei Jahren Gefängnis verhängt. § 5a KSSVO wurde dabei nicht angewandt.516

§ 5a KSSVO wurde häufig bei Grenzfällen zwischen unerlaubter Entfernung und Fahnenflucht angewandt. So verurteilte das Gericht der Division 177 den Wiener Grenadier S am 30. September 1944 wegen unerlaubter Entfernung. S war wegen mehrerer unerlaubter Entfernungen bereits in eine Feldstrafgefangenenabteilung eingewiesen worden. Von Dezember 1941 bis Mai 1944 war die Abteilung an der Ostfront eingesetzt. S wurde wegen einer Erkrankung in ein Heimatlazarett verlegt. Nach der Entlassung am 30. Juli 1944 konnte er seinen Ersatztruppenteil nicht finden, ging zu seiner Mutter und sammelte Spenden für seine Dienststelle des Roten Kreuzes. Zwei Tage später wurde er festgenommen. Obwohl sein Vorgesetzter S ein gutes Zeugnis ausstellte und ihn als guten Soldaten beschrieb und auch ein psychiatrisches Gutachten zu seinen Gunsten ausfiel, beantragte der Ankläger unter Anwendung von § 5a KSSVO eine Strafe von zehn Jahren und drei Monaten Zuchthaus. Der Gutachter schlug eine Übergabe an die Gestapo vor, was die Einweisung in das KZ Buchenwald zur Folge hatte. Der Gerichtsherr folgte dem Rechtsgutachten.517

Auf Taten in betrunkenem Zustand wurde § 5a KSSVO angewendet, weil § 330a RStGB bei Volltrunkenheit nur eine Gefängnisstrafe vorsah. So verurteilte die Außenstelle Wien des ZdH einen Soldaten, der in betrunkenem Zustand gesungen hatte, es gehe alles vorüber, es gehe alles vorbei, erst gehe der Führer, dann die Partei. Der Soldat war selbst bis 1940 SA-Mitglied gewesen, und die Gestapo beurteilte ihn als politisch unauffällig. Der einzige Zeuge der Tat war der Offizier, der den Soldaten anzeigte. Der Richter nahm allerdings Vorsatz an und stellte fest, dass an dem zersetzenden Charakter des Liedtextes kein Zweifel bestehen könne. Der normale Strafrahmen des § 330a RStGB reiche nach gesundem Volksempfinden nicht aus. Daher sei ein Zuchthausurteil auf Basis des § 5a KSSVO zu fällen.518

Bereits im Dezember 1942 teilte der Chef WR mit, dass sich die Strafen wegen unerlaubter Entfernung verschärft hätten. Todes- und Zuchthausurteile hätten zugenommen. Genaue statistische Daten sind wie in vielen anderen Fällen nicht mehr zu ermitteln. Für das vierte Quartal 1943 lassen sich aber immerhin 8.681 Urteile wegen unerlaubter Entfernung feststellen, im ersten Quartal 1944 waren es bereits 11.200 und im zweiten Quartal 1944 nochmals 13.375. Sowohl bei unerlaubter Entfernung als auch bei militärischem Diebstahl divergierten die Strafhöhen teils erheblich. Somit war

516 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 227 f. 517 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 228; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 123 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 393 ff. 518 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 229. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 140/226 es für die Angeklagten oft nur schwer einschätzbar, mit welcher Strafe sie zu rechnen hatten. Die 12. Armee verhängte gegen zehn Soldaten einer Transportabteilung ein Todes- und neun Zuchthausurteile zwischen zwei und zwölf Jahren wegen Diebstahls von Reifen. Vergleichsweise mild urteilte, wie oben bereits dargestellt, das Gericht der 1. Gebirgsdivision. § 5a KSSVO wurde nahezu universell einsetzbar, um der NS Ideologie in der Rechtsprechung zum Durchbruch zu verhelfen. Im NS Staat mit seiner Volksgemeinschaftsideologie war die Justiz nicht mehr eine eigenständige Staatsgewalt, sondern leitete ihre Aufgaben direkt vom Führer ab. Hitler selbst war oberster Gerichtsherr. Ein Urteil somit Ausfluss seiner Willensentscheidungen. Die Justiz diente der Umsetzung des Führerwillens. Das Richteramt wurde als Lehen des Führers betrachtet.519

F. Verfahren gegen ausgewählte Personengruppen

1. Verfahren gegen Zivilpersonen Auch im Bereich der Verfahren gegen Zivilpersonen ist eine exakte Quantifizierung der Urteile und Strafarten aufgrund der Aktenverluste durch Kriegseinwirkungen und mutwillige Zerstörungen nicht mehr möglich. Wüllner520 geht von rund 15.000 Todesurteilen aus. Hennicke521 geht mehr als 6.000 Todesurteilen gegen Zivilisten und Kriegsgefangene, die bis Juni 1944 dokumentiert wurden, aus und errechnet eine Gesamtzahl von 6.450 Todesurteilen bis Kriegsende. In der offiziellen Kriminalstatistik sind bis Ende 1942 3.700 Todesurteile gegen Zivilisten erfasst, wovon 634 nur auf das vierte Quartal 1942 entfallen. Eine deutlich steigende Urteilszahl ist ab diesem Zeitpunkt anzunehmen, da ab 1942 der Widerstand in den besetzten Gebieten deutlich zunahm und seit Ende 1943 auch italienische Widerstandsaktivitäten zu berücksichtigen waren. Darüber hinaus wurden zahlreiche Personen im Rahmen der Nacht- und Nebelverfahren ins Reichsgebiet überstellt und dort von Sondergerichten abgeurteilt, deren Urteile nicht in der Wehrmachtskriminalstatistik erfasst sind. In einigen Gebieten wie der Sowjetunion, Serbien und Griechenland galten außerdem besondere Gesetze, wie zB der Barbarossaerlass in der Sowjetunion. Andererseits musste die Wehrmacht durch den alliierten Vormarsch auf das Reichsgebiet seit 1943/44 immer größere Gebiete wieder räumen. Um eine rasche Aburteilung zu ermöglichen, stellte WR eine Sammlung von Fällen aus dem Ersten Weltkrieg zusammen und verteilte diese im Juli 1939 an die Gerichte. Darin war bereits ein Recht auf Geiselnahme und Erschießungen enthalten. Der ObdH ermöglichte den militärischen Befehlshabern auch, Sondergerichte der zivilen Justiz anzufordern, und schränkte so den Umfang der Militärgerichtsbarkeit ein.522

Die Wehrmachtskriminalstatistik verzeichnete im dritten Quartal 1940 in allen besetzten Gebieten 43 Todesurteile gegen Zivilpersonen, im vierten Quartal 1940 sank die Zahl auf 27, um im dritten Quartal 1941 auf 337 Todesurteile anzuwachsen. Im vierten Quartal 1941 wurden bereits 567 Todesurteile gegen Zivilisten gefällt. WR verzeichnete 1939 und 1940 insgesamt 236 Todesurteile wegen Hoch- und Landesverrats, Wehrmittelbeschädigung und Wehrkraftzersetzung in Zusammenhang mit nachrichtendienstlichen Operationen. 52 Todesurteile wurden davon gegen deutsche Soldaten

519 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 147 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 48 ff; Hankel in Kirschner 302 f; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 18 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 229 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 42 ff; Messerschmidt in Haase/Oleschinski2 100; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 48; Walmrath, Iustitia 119 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 44 ff. 520 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 298. 521 vgl Hennicke, Über den Justizterror in der deutschen Wehrmacht am Ende des zweiten Weltkrieges, ZMG 1965, 715 (720). 522 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 233 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 326 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 298 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 141/226 verhängt, 72 gegen Polen, 39 gegen Russen, 33 gegen Franzosen, 25 gegen Tschechen und vier gegen Belgier.523

a) Polen

Das erste besetzte Gebiet, in dem die Heeresjustiz gegen Zivilpersonen vorging, war Polen. Hitler hatte bereits am 13. April 1939 gefordert, der Krieg müsse mit größter Härte geführt werden. In der Zivilverwaltung wurden vom OKH in weiterer Folge auch Angehörige der NSDAP eingesetzt. Jedem der fünf Armeeoberkommandos wurde eine SS Einsatzgruppe zugeordnet, die sich um die Bekämpfung aller reichs- und deutschfeindlichen Elemente hinter der Front in den besetzten Gebieten zu kümmern hatte. Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) Heydrich stellte fest, dass Adel, Geistliche und Juden umgebracht werden müssten. Andere könnten geschont werden. Die SS Kommandos begannen rasch mit der Erschießung von Juden. Die Heeresgerichte durften deswegen keine Ermittlungen führen. Aber auch Heereseinheiten beteiligten sich an Erschießungen. So wurden im September 1939 sechs Personen aus einer Kirche geholt und, nachdem man Rasiermesser bei ihnen gefunden hatte, von Soldaten des XVI. Armeekorps erschossen. Ein vorangegangenes Standgerichtsverfahren ist nicht belegt. Heeresgerichte wurden nur selten mit derartigen Fällen befasst.524

Aber selbst wenn ein Gerichtsverfahren durchgeführt wurde, standen die Chancen für die Angeklagten schlecht. Gemäß einer Verordnung des Ministerrats für die Reichsverteidigung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten525 vom 4. Dezember 1941 konnten Polen oder Juden bereits wegen Ungehorsams und anderer geringfügiger Delikte gegen die deutsche Besatzungsmacht mit dem Tod bestraft werden. Nur in minderschweren Fällen sollte eine Freiheitsstrafe ausgesprochen werden. Verfahren sollten vor zivilen Sondergerichten stattfinden und Urteile sofort vollstreckt werden.

Einige Kommandanten wandten sich allerdings auch gegen diese Praxis. So versuchte der Oberbefehlshaber der 3. Armee General von Küchler eine gerichtliche Überprüfung von Judenerschießungen zu erreichen. Nach der Erschießung von Juden durch die Einsatzgruppe 5 im September 1939 verlangte er die Entwaffnung der verantwortlichen Polizeieinheit und ihre kriegsgerichtliche Aburteilung. Der Oberquartiermeister der 3. Armee ließ den Führer der Polizeieinheit daraufhin festnehmen. Dies führte dazu, dass Heydrich sich über Küchler bei Hitler beschwerte. Der Kommandant der 29. Division General Lemelsen ließ den Obermusikmeister der Leibstandarte SS Adolf Hitler festnehmen, nachdem dieser am 18. und 19. September 1939 die Erschießung von 50 jüdischen Häftlingen angeordnet hatte. Der vorgesetzte Oberbefehlshaber der 10. Armee General von Reichenau bestätigte die Haft bis zu einer Klärung durch die Heeresgruppe Süd. Nachdem der Befehlshaber der Heeresgruppe Generaloberst Rundstedt mitgeteilt hatte, dass kein Erschießungsbefehl vorgelegen habe, wurde die kriegsgerichtliche Überprüfung eingeleitet. Andererseits verurteilte das Gericht der Brigade Eberhardt 28 polnische Postbeamte, die aus einem polnischen Postamt in Danzig auf Angehörige der Brigade geschossen hatten, im September 1939 wegen Freischärlerei zum Tode.526

523 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 242 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 38. 524 vgl Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 32 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 234 f. 525 vgl RGBl I 1941/140; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K64 39/9/20. 526 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 235 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 38. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 142/226

Von den wenigen Verfahren, die gegen SS- und Polizeiangehörige eingeleitet wurden, verliefen viele aber relativ mild. So beantragte der Anklagevertreter gegen einen Angehörigen der SS und einen Angehörigen der Feldpolizei, die 50 Juden grundlos erschossen hatten, die Todesstrafe wegen Mordes. Das Militärgericht der Panzerdivision Kempf verurteilte den SS-Angehörigen zu drei Jahren Gefängnis wegen Totschlags und den Feldpolizisten zu neun Jahren Zuchthaus. Differenzen zwischen Heeresverbänden und Einsatzkommandos traten auch wegen des Vorgehens gegen polnische Widerstandskämpfer auf. Die SS und der Sicherheitsdienst (SD) legten den Begriff Freischärler sehr weit aus, um so ohne standgerichtliche Überprüfung Erschießungen durchführen zu können. Dies traf auch polnische Soldaten, die vor Ende der Kampfhandlungen in kleinen Gruppen Widerstand geleistet hatten. Am 12. September 1939 übergab die Heeresgruppe Süd 180 Gefangene an ein Kommando der Einsatzgruppe 2 in Tschenstochau. Die Einsatzgruppe wollte die Erschießung der Gefangenen, woraufhin der Dritte Generalstabsoffizier der Heeresgruppe ihre Rückgabe an die Ortskommandantur verfügte. Die SS forderte die Herausgabe der Gefangenen und berief sich dabei auf einen Befehl des Reichsführers SS, alle polnischen Insurgenten ohne gerichtliche Prüfung zu erschießen. Das OKH und die Heeresgruppe Süd waren über diesen Befehl allerdings nicht informiert worden. Der Generalstabschef des Heeres General Halder informierte die Heeresgruppen Nord und Süd am 18. September 1939, dass die Entscheidung in allen gerichtlichen Fragen beim Inhaber der vollziehenden Gewalt liege. Eingriffe in diese vollziehende Gewalt seien unwirksam. Da es sich dabei aber nur um eine interne Information handelte, änderte dies nichts an der Praxis der SS und Polizei. An den Erschießungen beteiligten sich aber auch Heereseinheiten. Bis zur Einrichtung des Generalgouvernements im Oktober 1939 wurden von Heeres-, SS- und Polizeieinheiten zwischen 16.000 und 20.000 Personen hingerichtet. Die Vollzugsgewalt lag in dieser Zeit beim Heer.527

Am 4. Oktober 1939 erließ Hitler eine Amnestie für Taten, die aus Erbitterung über die von Polen verübten Gräuel begangen worden seien.528 Dadurch waren alle bisherigen Erschießungen straffrei gestellt. Der Umgang mit zukünftigen Aktionen blieb allerdings offen. Der ObdH Brauchitsch erließ Richtlinien zur Auslegung des Gnadenerlasses. Demnach würde eine Tat dann nicht aus Erbitterung über verübte Gräuel begangen, wenn der Täter aus Eigennutz gehandelt hatte. Auf Basis der Richtlinien des ObdH wurde Major Sahla vom Gericht des Wehrkreisbefehlshabers XX zum Tode verurteilt, weil er vier, nach anderen Quellen fünf, angeblich geschlechtskranke polnische Frauen erschossen hatte. Das Urteil wurde von Hitler allerdings nicht bestätigt, obwohl selbst der Chef OKW Keitel dies forderte. Sahla wurde in einem zweiten Verfahren zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Die Vollziehung erfolgte als einfacher Soldat in einem Bewährungsbataillon.529

Am 26. Oktober 1939 wurde in Polen das Generalgouvernement etabliert530 und die bisherige Militärverwaltung durch eine Zivilverwaltung abgelöst. Ab diesem Zeitpunkt beschränkte sich die Zuständigkeit der Heeresgerichte auf Delikte von Polen gegen Heeresangehörige und militärische Einrichtungen. Zum Generalgouverneur wurde Hans Frank ernannt, militärischer Oberbefehlshaber in Polen wurde Generaloberst . Nach Einführung der SS- und Polizeigerichtsbarkeit wurden auch Taten von SS-Angehörigen der Wehrmachtsjustiz entzogen, selbst wenn SS-Verbände dem Heer unterstellt waren. Die Einsatzgruppen hatten damit freie Hand. Trotz weiterer Proteste, die auf negative Auswirkungen der Mordaktionen hinwiesen, lehnte Hitler jede Kritik ab. ObdH Brauchitsch folgte dieser Vorgabe und befahl am 7. Februar 1940, dass harte Maßnahmen im Sinne des Entscheidungskampfes des deutschen Volkes notwendig seien. Für die Manneszucht schädliche

527 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 236 ff. 528 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 100. 529 vgl Hankel in Kirschner 298; Klausch, 500 88 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 238; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 209. 530 vgl Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Verwaltung der besetzten polnischen Gebiete RGBl I 1939/210. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 143/226

Vorgänge sollten von der Truppe ferngehalten werden. Dies sei ihm zugesagt worden. Auch Generaloberst Küchler passte sich den Vorgaben an. Im Juli 1940 informierte er als Oberbefehlshaber der 18. Armee die unterstellten Kommandanten, dass jede Kritik an der Behandlung von Polen und Juden oder an Maßnahmen gegen kirchliche Einrichtungen zu unterbleiben habe. Eine genaue Zahl der getöteten Zivilisten lässt sich, wie bereits festgestellt, nicht mehr eruieren. Insbesondere zu den Standgerichten existieren keine zuverlässigen Quellen. Die Zahl der Urteile dürfte aber mit dem wachsenden Widerstand ebenfalls gestiegen sein. Seit dem Frühjahr 1940 kam es fast täglich zu Anschlägen auf Wehrmachtsangehörige. Daher liegt es nahe, dass die Zahl von 107 Todesurteilen gegen Polen, die von 26. August bis 18. November 1939 gefällt wurden, ab 1940 weit überschritten wurde. Die Wehrmachtskriminalstatistik weist allerdings für das dritte und vierte Quartal 1940 nur 20 und für das dritte und vierte Quartal 1941 nur 13 vollzogene Todesurteile auf. Die Statistik gibt aber keine Auskunft über Fälle, die von Standgerichten oder zivilen Behörden verfolgt wurden. Nach der Errichtung des Generalgouvernements beteiligte sich die Wehrmacht nur selten an Polizeimaßnahmen. Dies änderte sich aber wieder ab 1942.531

b) Sowjetunion

In der Sowjetunion sollte nach dem Willen Hitlers besonders rücksichtslos vorgegangen werden. Sicherheitspolizei, SD und Einsatzgruppen sollten von juristischen Belangen unbehelligt agieren können. Bereits am 30. März 1941 erklärte Hitler vor 250 Offizieren, dass es sich um einen Vernichtungskampf handle und der Krieg nicht geführt würde, um den Feind zu konservieren. Der Feind war der Bolschewismus an sich, nicht nur die Rote Armee. Die Verantwortlichen sollten ihre Bedenken überwinden, Kriegsgerichte sollten nicht tätig werden. Hier wurde die Befolgung von Befehlen angeordnet, die ansonsten strafbare Handlungen beinhalteten. Dies widersprach nicht nur dem Völkerrecht sondern auch § 47 MStGB, wonach Befehle, die erkennbar eine Straftat zum Ziel hatten, nicht befolgt werden durften. Die Forderung Hitlers vom 30. März 1941 derogierte nach Auffassung der NS Justiz diesen Bestimmungen. Er forderte einen Weltanschauungskrieg gegen das Feindbild des jüdischen Bolschewismus. WR beteiligte sich wesentlich an der Erstellung dieses Befehls im Rahmen des Gerichtsbarkeitserlasses Barbarossa.532 Danach sollte sich die Militärjustiz nur mit Straftaten innerhalb der Wehrmacht befassen. Gegen die Zivilbevölkerung sollte die Truppe direkt vorgehen, ohne Gerichte zu involvieren. Zunächst schlug der Chef WR Lehmann noch vor, Gerichte bei Straftaten von Zivilisten gegen die Wehrmacht nur bei eindeutiger Beweislage zu befassen. Andere Fälle sollten an die SS abgegeben werden. Dieser Vorschlag wurde aber abgelehnt. Ende April 1941 legte Lehmann einen neuen Entwurf vor, der vorsah, Freischärler und Zivilisten bei Taten gegen die Wehrmacht durch die Truppe exekutieren zu lassen. Nur in Ausnahmefällen sollte eine gerichtliche Überprüfung stattfinden. Die Verfolgung deutscher Soldaten wurde ausgeschlossen, selbst wenn ihre Tat ansonsten nach deutschem Recht strafbar gewesen wäre. Lediglich, wenn die Tat eine Gefahr für die Manneszucht oder die Sicherheit der Wehrmacht darstellte, sollten Verfahren vor Militärgerichten stattfinden.533

Am 6. Mai 1941 legte HR einen eigenen Entwurf vor, der noch über jenen von WR hinausging. Demnach sollten Freischärler, Saboteure und Widerstandskämpfer auf der Flucht oder bei Kämpfen

531 vgl VUA, RKG K65 39/13/17; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 32 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 234 ff. 532 vgl BArch, RW 4/v577, Bl 72 ff; Friedrich, Nazi-Justiz 183 f; Hankel in Kirschner 299 f; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 6; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 20 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 326 f; Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 172 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 533 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 15; Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 147; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 31 f; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 112; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 36 ff; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 20 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 279 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 206 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 144/226 erschossen werden. Dies wurde damit begründet, dass die Soldaten in der Sowjetunion unmittelbar auf den Träger der sog jüdisch bolschewistischen Weltanschauung träfen. Dieser sei auch in der Zivilbevölkerung zu finden und ein besonders gefährlicher und zersetzender Gegner. Vergeltungsaktionen deutscher Soldaten sah man aufgrund angeblich verübter Gräueltaten und der Zersetzungsarbeit der jüdisch-bolschewistischen Gegner als verständlich an. Daher sollten Straftaten von Wehrmachtsangehörigen gegen Sowjetbürger nur in Einzelfällen verfolgt werden, wenn es für die Aufrechterhaltung der Manneszucht erforderlich war. Sollte es dennoch zu einem Gerichtsurteil kommen, sollten die Gerichtsherren bei der Urteilsbestätigung die besonderen Erfordernisse des Ostkrieges berücksichtigen. Mit diesem Entwurf wurde die Militärjustiz in der Sowjetunion weitgehend ausgeschaltet. Übrig blieb lediglich eine Zuständigkeit für strafbare Handlungen innerhalb der deutschen Wehrmacht und gegen die Gehorsamspflichten zur Aufrechterhaltung der Manneszucht. Letzteres stellt einen Versuch dar, die Autorität der militärischen Befehlshaber nicht durch willkürliche Einzelaktionen zu untergraben und ein organisiertes Vorgehen der einzelnen Einheiten und Dienststellen sicherzustellen. In diesem Entwurf wurden auch Kollektivstrafen vorgesehen. Dies ging auf einen Vorschlag des Chefs des Generalstabs des Heeres Halder zurück, der damit einen wesentlichen Einfluss auf die Ausschaltung der Militärjustiz im Osten nahm. Aber auch WR und HR unterstützten bereitwillig diesen Kurs. Da dieser Entwurf der Wehrmachtsführung aber immer noch nicht weit genug ging, arbeitete WR in Abstimmung mit OKH, OKL, HR und LR einen weiteren Entwurf aus, der am 9. Mai 1941 dem OKW vorgelegt wurde. Lehmann forderte, die Militärgerichtsbarkeit gegenüber Landeseinwohnern für die Kampfhandlungen und die folgende Befriedungsphase ganz abzuschaffen. Erst danach sollte sie wieder eingesetzt werden. Es sollte dadurch verhindert werden, dass die Einheiten unangenehme Fälle an die Justiz abgaben und so den geplanten Vernichtungskrieg gefährdeten. Die Wehrmachtsjustiz könne ihre Aufgabe, die Manneszucht aufrecht zu erhalten, aufgrund ihrer geringen Ressourcen nur dann erfüllen, wenn die Bedrohungen durch die feindliche Zivilbevölkerung von der Truppe unmittelbar und schonungslos geahndet würden. Dieser letzte Entwurf mündete schließlich am 13. Mai 1941 in den Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet Barbarossa und über besondere Maßnahmen der Truppe.534 Dieser Erlass bildete die Grundlage für das rücksichtslose Vorgehen der Wehrmacht, SS und Polizei in der Sowjetunion und anderen Gebieten im Osten und Südosten Europas.535

Die Wehrmachtsjustiz leistete mit diesem Entwurf einen wesentlichen Beitrag zum ideologisch motivierten Krieg gegen die Sowjetunion und rechtfertigte dadurch auch völkerrechtswidriges Vorgehen deutscher Truppen. Einzelne Proteste dagegen bezogen sich im Wesentlichen auf die Sorge um die Disziplin der Truppe. Aufgrund dieser Bedenken veröffentlichte ObdH Generalfeldmarschall Brauchitsch am 24. Mai 1941 einen Erlass über die Behandlung feindlicher Zivilpersonen und Straftaten Wehrmachtsangehöriger gegen feindliche Zivilpersonen. In diesem Erlass bezog er die Richtlinien des Barbarossaerlasses nur auf schwere Fälle von Auflehnung. Andere Fälle seien durch Befehlsmaßnahmen zu ahnden. Die Vorgesetzten müssten willkürliche Ausschreitungen verhindern, um einer Verwilderung der Truppe entgegenzuwirken. Der Soldat bleibe weiterhin an Befehle gebunden und dürfe nicht eigenmächtig handeln. Eine Abschwächung des Barbarossaerlasses wurde damit aber nur unzureichend bewirkt.536

534 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 172 ff. 535 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 15; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12; Friedrich, Nazi-Justiz 183 f; Fritsche, Gewaltdelikte, in Manoschek 290 ff; Garbe in Pirker/Wenninger 37; Hankel in Kirschner 298 ff; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 36 ff; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 6; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 21 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 281 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 205 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 64 ff. 536 vgl Friedrich, Nazi-Justiz 183 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 283; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 326 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 145/226

Der Barbarossaerlass bildete auch den Rahmen für die Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare537 vom 6. Juni 1941. Auch der Kommissarbefehl beruhte auf Entwürfen von WR und HR. Der erste HR Entwurf vom 6. Mai 1941 sah vor, politische Hoheitsträger und Leiter im Armeegebiet zu beseitigen, da sie durch ihre Zersetzungsarbeit eine Gefahr für die Truppe darstellten. Erschießungen sollten auf Anordnung eines Offiziers ohne Verzögerung erfolgen. Im rückwärtigen Heeresgebiet sollten sie mit Ausnahme der politischen Leiter der Truppen an die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD übergeben werden. Alle Vorfälle sollten gemeldet werden. Eine Zuständigkeit der Kriegsgerichte gab es nicht. Durch Anmerkungen des Chefs des Wehrmachtsführungsstabes Generalmajor Warlimont wurde der HR Entwurf etwas abgeschwächt. Demnach sollten politische Kommissare nur zur Verantwortung gezogen werden, wenn sich ihre Tätigkeit gegen die deutsche Wehrmacht richtete, allerdings auch dann, wenn nur der Verdacht einer solchen Tätigkeit bestand. Unverdächtige Kommissare sollten später von Sonderkommandos überprüft werden. Kommissare der Truppen sollten jedenfalls abgesondert und exekutiert werden. Dieser auf den ersten Blick differenzierenden Behandlung von zivilen Kommissaren widersprach allerdings bereits die Präambel der folgenden Richtlinien, die vorgab, Kommissare als Träger des Widerstandes und Urheber grausamer Kampfmethoden grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen. Schuld oder Unschuld ziviler Kommissare wurden aufgrund von persönlichen Eindrücken festgestellt. Beweise spielten eine untergeordnete Rolle.538

Durch den Barbarossaerlass und den Kommissarbefehl wurden humanitäre und rechtliche Bedenken ausgeräumt und eine rücksichtslose Kriegsführung ermöglicht. An der Ausarbeitung der Vorschriften nahm die Wehrmachtsjustiz federführend teil. Sie bewirkte damit auch ihre eigene Ausschaltung bei Verfahren gegen Zivilpersonen. Am 11. Juni 1941 erklärte der General zbV beim ObdH Müller vor Generalstabsoffizieren und Heeresrichtern, dass Rechtsempfinden hinter Kriegsnotwendigkeiten zurückzutreten habe. Feinde sollten erledigt, nicht konserviert werden. Zur Verhängung der Todesstrafe sollte in Zweifelsfällen bereits ein Verdacht genügen. Die neuen Vorschriften widersprachen dabei einem Merkblatt über die zehn Gebote der Kriegsführung, in dem noch festgelegt war, dass Gegner, die sich ergaben, nicht getötet werden durften, sondern Gerichten zu übergeben waren. Dies sollte auch für Freischärler und Spione gelten. Barbarossaerlass und Kommissarbefehl hoben dieses Merkblatt bedenkenlos auf.539

Barbarossaerlass und Kommissarbefehl wurden den Armee- und Panzergruppenoberbefehlshabern sowie den Kommandierenden Generälen vor dem Angriff auf die Sowjetunion vom ObdH Brauchitsch bekanntgegeben. Ein Protest der Heeresgruppenkommandanten gegen den Barbarossaerlass wegen disziplinärer Bedenken hatte keine Auswirkungen. Der Kommissarbefehl wurde ohnehin weitgehend kritiklos zur Kenntnis genommen. Die Militärjustiz wurde damit im Krieg gegen die Sowjetunion weitgehend entmachtet. Die Bevölkerung sollte kollektiv für die Sicherheit in ihrer Region haften. Die vorhergehende Ankündigung von Geiselnahmen wurde daher nicht für erforderlich erachtet. Dies führte zur Exekution von rund 80.000 Zivilisten im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe Mitte zwischen Juni 1941 und Mai 1942 ohne vorhergehendes Gerichtsverfahren. Die Zahl der Partisanen lag jedenfalls deutlich niedriger. Die gezielte Exekution der jüdischen Bevölkerung übernahmen parallel zur Wehrmacht agierende Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD, die allerdings eng mit der militärischen Abwehr zusammenarbeiteten. Das Heer stellte auch die

537 vgl Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 326 f. 538 vgl Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12; Friedrich, Nazi-Justiz 183 f; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 6; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 284 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 208 ff. 539 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 15; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 112; Friedrich, Nazi-Justiz 183 f; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 6; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 21 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 285 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 205 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 146/226 notwendige Logistik zur Verfügung. Verfahren führte die Militärjustiz nur noch durch, wenn Soldaten eigenmächtig handelten und Ausschreitungen willkürlich erfolgten. Das Gericht des Armeeoberkommandos 4 fällte von Februar bis August 1943 lt Tätigkeitsbericht fünf Todesurteile wegen derartiger Taten. Der Tätigkeitsbericht für Jänner bis Juni 1944 enthält ein Todesurteil gegen drei Soldaten, die bei der Plünderung eines Hauses fünf Frauen und sechs Kinder erschossen hatten. Zwei Todesurteile wurden wegen schwerer Notzucht gefällt. Der Armeerichter der 9. Armee verteilte an die untergeordneten Dienststellen Urteile, in denen ua nachzulesen war, dass die unberechtigte Tötung russischer Zivilisten und Kriegsgefangener nicht als Mord sondern als Totschlag zu beurteilen sei.540

Wie in anderen Fällen auch sind Statistiken zur Urteilspraxis der deutschen Militärgerichte in der Sowjetunion nur unvollständig erhalten. Aus den vorhandenen Urteilen ist jedoch ersichtlich, dass Wehrmachtsgerichte vor allem dann bei Taten gegen die Zivilbevölkerung einschritten, wenn es sich um Mord, Plünderung und Notzucht handelte, um die Disziplin innerhalb der Truppe zu wahren. Die Tat an sich stand dabei nicht im Mittelpunkt. Morde an Juden wurden durch den Barbarossaerlass straffrei gestellt. Es kam sogar zu der Ansicht, dass sie juristisch unmöglich seien. Maßnahmen einzelner Befehlshaber, um der Willkür gegenzusteuern, hatten meist keine sichtbaren Auswirkungen. So ordnete zB der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Süd General der Infanterie von Roques an, dass jede eigenmächtige Exekution von Landeseinwohnern, darunter fielen auch Juden, zumindest disziplinär zu verfolgen sei, wenn keine gerichtliche Untersuchung angebracht wäre. Mord an Landeseinwohnern war somit als Disziplinarvergehen eingestuft. Der Kommandant der 207. Sicherungsdivision General von Tiedemann verbot am 22. Juli 1941 im Bereich des rückwärtigen Heeresgebietes Nord die Beteiligung von Soldaten an Aktionen der Sicherheitspolizei und des SD. Andererseits ordnete der Befehlshaber der 6. Armee Generalfeldmarschall von Reichenau im August 1941 an, den SD durch die Absperrung von Gebieten, in denen Exekutionen durchgeführt wurden, zu unterstützen.541

Ende September 1941 wurden in Babij Jar unter Mithilfe von Heeresdienststellen über 33.000 Juden durch Einsatzkommandos ermordet. In einem weiteren Fall ordnete der aus Bad Ischl stammende Karl S als Haupttruppführer der Organisation Todt das Erschießen eines jüdischen Kriegsgefangenen an. Bei der Vernehmung durch das Gericht der Division 187 am 3. September 1942 gab er an, die Berechtigung zum Erschießen von Juden daraus abzuleiten, dass alle Juden im Osten umgelegt worden seien. Wenn er sein Opfer erst zur zuständigen Stelle gebracht hätte, wäre es dort umgelegt worden. Aussagen wie diese führen die häufig aufgestellte Behauptung, die Soldaten hätten nichts von den Massentötungen gewusst, ad absurdum. Das Gericht veranlasste keine weiteren Maßnahmen. S wurde zu einem neuen Einsatz abkommandiert. Der Kriegsverwaltungsinspektor Alwin Weisheit war Mitglied der NSDAP. Er zwang gemeinsam mit zwei Mittätern Ende Juli bzw Anfang August 1942 in Balabanowka 75 Männer, Frauen und Kinder zuerst ein Massengrab auszuheben und ließ sie anschließend erschießen. Darüber hinaus wurde er wegen versuchter Vergewaltigung, Unterschlagung und Tierquälerei angeklagt. Alle Zeugen bezeichneten ihn als brutal und gewalttätig. Das Gericht des rückwärtigen Armeegebietes 531 verurteilte Weisheit am 29. September 1942 zu einem Jahr Gefängnis unter Berücksichtigung mildernder Umstände. Die Misshandlung eines Hundes führte zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten. Die mildernden Umstände wurden damit begründet, dass Weisheit eine Verbindung der Juden mit Partisanen verhindern wollte. Auch eine besondere Grausamkeit konnte das Gericht nicht erkennen. Dieses Urteil folgte Befehlen der 6., 11. und 17.

540 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 287 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 326 f. 541 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 31 f; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 21 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 289 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 207 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 147/226

Armee vom Oktober bzw November 1941. Die Armeeoberbefehlshaber Reichenau, Manstein und Hoth bezeichneten die Soldaten darin als Rächer für alle Bestialitäten, die Deutschen und Artverwandten zugefügt worden seien. Die Truppe sollte Verständnis für Maßnahmen gegen volks- und artfremde Elemente haben. Das Judentum wurde als Träger bolschewistischen Terrors bezeichnet. Hitler ließ Reichenaus Befehl über den ObdH an alle Armeekommandanten weiterleiten und forderte sie auf, entsprechende Anordnungen zu erlassen. Der Befehl Reichenaus basierte dabei auf Vorarbeiten, die Militärjuristen und Offiziere im OKW und OKH vor Kriegsbeginn geleistet hatten.542

Die Verhinderung der Unterstützung von Partisanen wurde häufig zur Begründung von willkürlichen Exekutionen herangezogen. Tatsächlich war dies jedoch häufig nicht der Fall. Im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte wurde von Juli 1941 bis März 1942 die Exekution von 63.257 Partisanen als Rache für 638 getötete und 1.355 verwundete Deutsche angeordnet. Der Wehrmachtsbefehlshaber Ostland gab an, dass zwischen Oktober und November 1941 für zwei Tote und fünf Verwundete von 10.940 Gefangenen 10.431 erschossen wurden. Im selben Zeitraum wurden im Generalkommissariat Weißruthenien rund 60.000 Juden unter Mitwirkung der 707. Infanteriedivision hingerichtet. Der Kommandant der Division General von Berchtolsheim ordnete an, den Kampf rücksichtslos zu führen. Auch der Befehlshaber des rückwärtigen Heeresgebietes Mitte General von Schenckendorff forderte äußerste Härte, um die Bevölkerung von einer Unterstützung der Partisanen abzuhalten. Gefangene Partisanen sollten nach einem kurzen Verhör erschossen werden. Allerdings verbot er im Dezember 1941 auch ungerechte Strafen. Kollektivstrafen sollten nur bei freiwilliger Unterstützung der Bevölkerung für Partisanen angewandt werden. Praktische Auswirkungen hatte diese Differenzierung aber nicht. Verfahren gegen Wehrmachtsangehörige blieben auf wenige Fälle beschränkt und führten meist zu milden Urteilen.543

Ein relativ strenges Urteil fällte das oberste SS Gericht gegen den Untersturmführer T. T ließ als Führer eines Werkstattzuges von September bis Dezember 1941 rund 1.000 Juden erschießen. Das Gericht bezeichnete ihn als fanatischen Judenhasser und stellte fest, dass die Exekutionen ohne Ordnung und teilweise nach Quälereien erfolgt seien. T wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, allerdings nicht wegen Mordes sondern wegen militärischen Ungehorsams, weil die Tötungen ohne Befehl erfolgt waren. Mord an Juden stellte für die SS kein Tötungsdelikt dar. Am 1. November 1943 schrieb T an Himmler, der ihn daraufhin am 27. Dezember 1944 begnadigte. In der 295. Infanteriedivision ließ Oberstleutnant Groscurth die Exekution von mehr als 80 jüdischen Kindern unterbrechen, um eine Entscheidung der Armeeführung einzuholen. Der Kommandant der 6. Armee von Reichenau ordnete eine Prüfung an, weil die Exekution nicht zweckmäßig durchgeführt wurde. Reichenau tadelte Groscurth, weil im Bericht der Division die Maßnahmen gegen Frauen und Kinder mit den Gräueltaten der Partisanen gleichgesetzt wurden. Dies bezeichnete er als ungehörig und unzweckmäßig. Der Bericht wäre nach Reichenaus Ansicht besser unterblieben.544

Die Militärgerichtsbarkeit war auch für Straftaten von einheimischen Freiwilligen zuständig, die in der Wehrmacht oder im Gefolge Dienst versahen. Mit Erlass des OKW vom 27. Jänner 1942 wurde festgelegt, dass die Kriegsgerichtsbarkeit gegen Landeseinwohner, auch wenn sie Angehörige des Gefolges waren, ausgeschlossen war. Erst 1943 wurde die Zuständigkeit der Militärjustiz für Hilfswillige festgelegt. Zu Fahnenfluchtfällen stellte der Tätigkeitsbericht des Armeerichters der 9.

542 vgl Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 147; Garbe in Pirker/Wenninger 36; Hankel in Kirschner 300; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 290 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 212 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 132 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 423 ff. 543 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 292 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 213. 544 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 293 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 225 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 148/226

Armee von 18. August 1943 bis 30. September 1943 fest, dass Fahndungsmaßnahmen meist erfolglos blieben, weil die Flüchtigen bei Banden untertauchen konnten. Auch die 20. Armee stellte Fahndungsmaßnahmen ein, wenn die Flüchtigen nicht mehr erreichbar waren. Grundsätzlich sollten die Bestimmungen des MStGB und der Disziplinarstrafordnung wie gegen Deutsche angewendet werden. Die schwerste Strafe war dabei der Ausschluss aus der Wehrmacht. Dieser konnte anstelle der Vollziehung von Freiheits- und Todesstrafen ausgesprochen werden. Bei Diebstahl, Ungehorsam und Wehrkraftzersetzung wurden gefasste ehemalige Kriegsgefangene in ein Kriegsgefangenenlager eingewiesen, alle anderen Freiwilligen wurden in Straf-, Arbeits- oder Sonderlager eingewiesen. In der Kriminalstatistik sind diese Fälle nicht gesondert erfasst. Gem Erlass des ObdH vom 26. September 1943 sollte bei schweren Verstößen gegen Treuepflichten und Manneszucht von Landeseinwohnern, die sich freiwillig zur Wehrmacht gemeldet hatten, eine sofortige Aburteilung durch Standgerichte erfolgen. Gerichtsherren bis hinab zu den Regimentskommandanten konnten Todesurteile bestätigen, wenn sie es als militärisch notwendig erachteten.545

c) Frankreich

Bei Verfahren gegen Franzosen sind die vorhandenen Zahlen aufgrund des Nacht- und Nebelerlasses546 mit einem weiteren Unsicherheitsfaktor behaftet. Wenn die Beweislage nicht für ein schnelles Urteil ausreichte, mussten die Angeklagten ins Reich überstellt werden und wurden dort von Sondergerichten abgeurteilt. Richteten sich die Taten gegen die Wehrmacht, fiel die Zuständigkeit in weiterer Folge an das RKG. Aufgrund der schnell eintretenden Überlastung der Sondergerichte wurden viele Gefangene ohne Verhandlung der Gestapo übergeben und in ein KZ eingewiesen.547

Die vollziehende Gewalt lag in Frankreich, mit Ausnahme der Departements Nord und Pas de Calais sowie Elsass und Lothringen, beim Militärbefehlshaber. In Frankreich verurteilte das Gericht der Feldkommandantur 518 am 29. Juni 1944 27 Zivilisten zum Tode. Die Urteile wurden noch am gleichen Tag vollzogen. Ein Lagebericht des Militärbefehlshabers Frankreich für die Monate April und Mai 1942 weist 655 Todesurteile aus, von denen 434 vollzogen wurden. Die 19. Armee, seit Februar 1943 für die gesamte militärische Gerichtsbarkeit in Südfrankreich zuständig, verhängte in der zweiten Jahreshälfte 1943 allein 53 Todesurteile gegen Franzosen. Ausnahmen waren Urteile wie jene des Kommandanturgerichts Bordeaux wegen Waffenbesitzes und Vorbereitung der Sprengung von Strommasten und des Kommandanturgerichts Angoulème wegen Zerschneidens eines Stromkabels für eine Küstenbatterie, die mit Freisprüchen gegen jugendliche Täter endeten.548

Mit dem Angriff auf die Sowjetunion wuchs der Widerstand in den besetzten Gebieten, da nun auch kommunistische Gruppen verstärkt tätig wurden. Dadurch stieg auch die Zahl und Härte der gesetzten Verfolgungshandlungen. Der Militärbefehlshaber Frankreich General Otto von Stülpnagel drohte daraufhin am 15. August 1941 mit der Todesstrafe für kommunistische Aktivitäten. Am 21., 23. und 26. August 1941 sowie am 2. Oktober 1941 folgten Geiselerlasse, die vorsahen, inhaftierte Franzosen als Sühne für Widerstandsaktivitäten zu erschießen. Das OKW veröffentlichte am 16. September 1941 einen Erlass zur rücksichtslosen Ausrottung kommunistischer Unruheherde, der als Reaktion auf Widerstandsaktivitäten sowohl Erschießungen als auch Deportationen vorsah. Für die

545 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 294 ff. 546 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 213 f. 547 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 242. 548 vgl Eismann, Das Vorgehen der Wehrmachtjustiz gegen die Bevölkerung in Frankreich 1940 bis 1944. Die Eskalation einer scheinbar legalen Strafjustiz, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 109 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 243 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 39. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 149/226 nordfranzösischen Gebiete folgte der Militärbefehlshaber Belgien und Nordfrankreich General von Falkenhausen diesen Maßnahmen. Exekutionen und Deportationen von hunderten Personen wurden damit zur Regel. General Stülpnagel befahl am 14. Dezember 1941 aufgrund von Sprengstoff- attentaten und Anschlägen auf Wehrmachtsangehörige, dass die französischen Juden eine Milliarde Francs als Buße zahlen mussten, eine große Zahl von Juden zur Zwangsarbeit in den Osten deportiert wurde und 100 Juden, Kommunisten und Anarchisten erschossen wurden. Verfahren dieser Art ersetzten in weiten Teilen Gerichtsverfahren. Otto von Stülpnagel wurde im Februar 1942 durch General Carl Heinrich von Stülpnagel als Militärbefehlshaber Frankreich abgelöst. In einem Lagebericht für den Zeitraum Jänner bis Mai 1942 führte der neue Oberbefehlshaber 142 bestätigte Todesurteile gegen Franzosen, 130 Erschießungen und 1.500 Deportationen von Juden und Kommunisten auf. Dabei wurden 60 Todesurteile wegen Feindbegünstigung, 47 wegen Waffenbesitz, 25 wegen Freischärlerei, fünf wegen Spionage, drei wegen Versteckens von Kriegsgefangenen und je eines wegen Wehrmittelbeschädigung und Gewalttaten verhängt. WR weist für denselben Zeitraum aber lediglich 297 rechtskräftige Todesurteile aus.549

In einem Fernschreiben vom 7. Juli 1941 forderte das OKH vom Militärbefehlshaber Frankreich eine drastische Steigerung der Geiselerschießungen. Anstelle von drei sollten 300 Geiseln für einen Mordanschlag auf den deutschen Unteroffizier Hoffmann hingerichtet werden. Otto von Stülpnagel lehnte dies mit der Begründung, die Sicherheit der Besatzungsmacht sei nicht gefährdet, ab. Andernfalls bat er um seine sofortige Ablösung. Stülpnagel widersetzte sich auch den Forderungen Hitlers nach drastischen Maßnahmen nach Anschlägen in Bordeaux und Nantes und teilte dies dem ObdH persönlich mit. Andererseits führte er aber auch zahlreiche Befehle aus. Bis Mai 1942 wurden im Bereich des Militärbefehlshabers Frankreich 471 Personen erschossen.550

Gerichtsverfahren wurden in zunehmendem Maße durch Geiselerschießungen, Nacht- und Nebelverfahren und die Deportation in KZ ersetzt. In die Geiselerschießungen blieben die Militärjustizbehörden aber organisatorisch eingebunden. Im Rahmen der Nürnberger Prozesse legte die französische Regierung eine Statistik vor, die 29.660 erschossene Geiseln aufführte. Otto von Stülpnagel vertrat die Auffassung, die Erschießung von zehn bis zwölf Geiseln, und damit weit weniger als von Hitler und OKW gefordert, sei ausreichend. Nach den Attentaten in Bordeaux und Nantes befürwortete er sogar einen Gnadenerweis. Andererseits ordnete er nach den Attentaten auf Anweisung des OKW auch die Erschießung von 98 Geiseln an und förderte die Zusammenarbeit der Feldpolizei mit dem SD. Als Geiseln wurden vor allem Kommunisten genommen. Juden wurden im Lauf des Jahres 1941 in Internierungslager eingewiesen und in weiterer Folge getötet oder in KZ überführt. Verschärft wurde die Situation durch den Nacht- und Nebelerlass551 vom 7. Dezember 1941. Der Chefrichter beim Militärbefehlshaber Frankreich berichtete von rund 5.000 Nacht- und Nebelgefangenen sowie 100.000 aus sonstigen politischen Gründen Inhaftierten, die ins Reichsgebiet deportiert wurden.552

Die deutschen Militärbehörden arbeiteten auch eng mit den französischen Behörden der Vichy- Regierung zusammen. Am 15. März 1943 erfolgte ein Anschlag auf einen Zug mit Fronturlaubern von Toulon nach Mulhouse. Die Täter wurden vom französischen Generalstaatsanwalt in Aix an die

549 vgl Eismann in Bade/Skowronski/Viebig 117 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 245 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 39 f. 550 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 246. 551 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K53 39/13/21; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K65 39/13/17; Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 213 f. 552 vgl VUA, RKG K54 39/13/25; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 247; Messerschmidt in Baumann/Koch 40; beschönigend Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 351 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 150/226

Deutschen ausgeliefert. Im März 1944 befahl das OKW, Freischärler sofort zu erschießen und nicht mehr gefangen zu nehmen. Als Vorbild dienten die im Osten geltenden Bandenbefehle. Gerichtsverfahren sollten nicht mehr durchgeführt werden. Am 30. Juli 1944 befahl Hitler, dass Terroristen und Saboteure, die auf frischer Tat betreten wurden, sofort rücksichtslos niedergekämpft werden müssten.553

d) Belgien und Nordfrankreich

Die Organisation der Besatzungsmacht in Belgien und Nordfrankreich glich jener in Frankreich. Die vollziehende Gewalt lag bei einem Militärbefehlshaber, der dem OKH unterstand und über einen Verwaltungsstab verfügte. Neben Belgien unterstanden ihm auch die französischen Departements Nord und Pas de Calais sowie zu Beginn Luxemburg, das einige Wochen später aber bereits einem zivilen Verwaltungschef unterstellt wurde.554

Der Militärbefehlshaber in Belgien und Nordfrankreich verfügte über weitreichende Befugnisse in militärischen, politischen, polizeilichen und Verwaltungsangelegenheiten. Ihm unterstanden somit auch Verbände der SS. Der Leiter des Verwaltungsstabes war ein SS Offizier, der für die Koordination zwischen zivilen und militärischen Stellen sorgte. In den Niederlanden und Luxemburg, in denen ein Reichskommissar bzw ein Chef der Zivilverwaltung eingesetzt waren, blieben die Wehrmachtsbefehlshaber dagegen auf militärische Befugnisse beschränkt. Belgische Juden wurden bereits 1940 aus dem Wirtschaftsleben gedrängt, Deportationen fanden allerdings erst ab September 1943 statt. Jedoch wurden bis dahin bereits Juden, die keine belgischen Staatsbürger waren, in KZ überstellt. Bis September 1942 belief sich die Zahl auf zumindest 10.000. In Summe betrafen diese euphemistisch als Evakuierung bezeichneten Maßnahmen über 20.000 Juden aus Belgien. Die Gerichte des Militärbefehlshabers Belgien und Nordfrankreich führten von Juni 1940 bis Februar 1941 in 6.389 Fällen Verhandlungen durch. Dabei wurden fünf Todes-, 126 Zuchthaus- und 2.745 Gefängnisstrafen ausgesprochen. Bis Ende 1941 stieg die Zahl der Todesurteile auf 14. In der Wehrmachtskriminalstatistik scheinen für die zweite Jahreshälfte 1940 aber allein 55 Todesurteile gegen Belgier auf. Die Todesurteilszahlen im Bereich Belgien und Nordfrankreich fielen aber geringer aus als im Gebiet des Militärbefehlshabers Frankreich. Hitler und der Chef OKW Keitel forderten hingegen Todesstrafen ohne politische Rücksichten zu verhängen. Für einen getöteten deutschen Soldaten sollten 50 bis 100 Kommunisten hingerichtet werden. Spionage und Sabotage sollten in jedem Fall mit dem Tod bestraft werden. Nach dieser Weisung vom 16. September 1941 gab der Militärbefehlshaber General von Falkenhausen bekannt, dass für zwei am 17. und 18. September 1941 erschossene Polizeibeamte 25 Geiseln genommen wurden. Sie sollten hingerichtet werden, sofern die Täter nicht innerhalb von zehn Tagen festgenommen seien. Für die Zukunft drohte er die Erschießung von mindestens drei Geiseln für einen getöteten Deutschen an. Mit dieser Ankündigung blieb er aber weit hinter den Forderungen Hitlers und Keitels zurück. Die Geiseln wurden in weiterer Folge deportiert und 15 neue Geiseln genommen. Falkenhausen erklärte gegenüber Keitel im September 1942, dass das gewünschte Vorgehen nur zu Hass führen und der Feindpropaganda nützen würde.555

Die ersten fünf Hinrichtungen von kommunistischen Geiseln im Bereich des Militärbefehlshabers Belgien und Nordfrankreich fanden am 15. September 1941 in Lille statt. Die Kommandanturen

553 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 247 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 359. 554 vgl Brüll, Die Wehrmachtjustiz in Belgien als Instrument der Besatzungspolitik, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS- Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 94 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 248 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 360. 555 vgl Brüll in Bade/Skowronski/Viebig 94 ff; Hankel in Kirschner 301; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 249 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 151/226 erstellten Listen mit möglichen Geiseln. Erschießungen durften gem Weisung vom 2. Oktober 1941 aber nur mit Zustimmung des Militärbefehlshabers erfolgen. Damit sicherte sich Falkenhausen die Kontrolle auch bei Standgerichtsverfahren, deren Urteil nur Tod oder Freispruch lauten konnte. Ebenso oblag ihm damit die Genehmigung von Geiselerschießungen. Gem Weisung vom 26. November 1941 sollten in die Geisellisten nicht nur Kommunisten, sondern auch andere, den Deutschen gegenüber feindlich eingestellte Personen aufgenommen werden. Dies waren frühere belgische Politiker, Freimaurer und Anhänger General de Gaulles. Für jeden toten Deutschen sollten nun mindestens fünf Geiseln erschossen werden. Die genaue Anzahl hing von der Schwere der Tat ab. Die Geisellisten waren gem Richtlinien des OKW dem Generalquartiermeister im OKH vorzulegen, um eine einheitliche Praxis in den besetzten Gebieten sicherzustellen. Falkenhausen versuchte Geiselnahmen einzuschränken und verstärkt kriegsgerichtliche Urteile herbeizuführen, wobei die Militärgerichte vor allem in Sabotagefällen tätig wurden. Gegen Kommunisten wurden hauptsächlich polizeiliche Maßnahmen ergriffen. So wurden nach Streiks im Mai und Juni 1941 rund 200 Kommunisten in das KZ Sachsenhausen deportiert. Die gesetzten Zwangsmaßnahmen trugen entgegen der zu Grunde liegenden Intention wesentlich zu einer Steigerung von Attentaten und Sabotageakten bei. Beflügelt wurde der Widerstand auch durch die alliierte Landung in der Normandie im Juni 1944 und die damit verbundene Hoffnung auf eine rasche deutsche Niederlage. Die Zahl der Geiselerschießungen nahm dadurch ebenfalls kontinuierlich zu. Wurden 1942 nur 18 Geiseln erschossen, waren es 1943 bereits 87 und 1944 bis zum 10. Juli zumindest 124. Nicht erfasst sind in dieser Zahl jene, die in Nacht- und Nebelverfahren vom RKG, VGH und anderen Sondergerichten hingerichtet wurden. In Summe gab es rund 3.500 belgische Nacht- und Nebelgefangene.556

e) Niederlande

In den Niederlanden wurde der Österreicher Arthur Seyß-Inquart als ziviler Reichskommissar Leiter der Verwaltung. Er unterstand Hitler unmittelbar. Der Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden blieb auf militärische Befugnisse beschränkt. Aus dieser unterschiedlichen Organisation in den besetzten Gebieten ergibt sich auch ein unterschiedlich großer Einfluss der Militärbehörden auf die Verfolgung von Zivilpersonen.557

In den Niederlanden beschränkte sich die Zuständigkeit der Militärgerichte auf Straftaten gegen die Wehrmacht. Politische Straftaten fielen in die Kompetenz von Sondergerichten. Für die innere Sicherheit war der zivile Reichskommissar Seyß-Inquart verantwortlich. Auch hier wurde der zunehmenden Ablehnung durch die Bevölkerung mit immer drakonischeren Maßnahmen begegnet. Schon 1941 wurden rund 60 Todesurteile gegen Zivilisten gefällt und zumindest 45 vollzogen. Als Sühne für ein Attentat auf den Höheren SS und Polizeiführer (HSSPF) wurden 250 Niederländer erschossen. Die Exekution wurde vom Wehrmachtsbefehlshaber General Christiansen angeordnet. Nach einem Angriff auf ein Auto mit vier Soldaten ordnete Christiansen die Zerstörung des Ortes Putten und die Erschießung bzw Deportation von Einwohnern ins KZ Neuengamme an. 1944 wurden 50.000 Männer in Rotterdam verhaftet und zur Zwangsarbeit deportiert. Völkerrecht wurde beim Vorgehen der Wehrmacht und SS, wie auch in anderen besetzten Gebieten, nicht beachtet. Mit der Durchführung des Nacht- und Nebelerlasses war die Wehrmachtsjustiz in den Niederlanden allerdings nicht zufrieden. WR informierte das Reichsjustizministerium, dass bei der großen Zahl an Gefangenen nur die Anführer von Militärgerichten meist zum Tode verurteilt worden seien. Alle anderen habe man

556 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 251 f. 557 vgl Brüll, Die Wehrmachtjustiz in Belgien als Instrument der Besatzungspolitik, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS- Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 94 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 248 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 360. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 152/226 der Gestapo übergeben und in weiterer Folge in KZ eingewiesen. Entscheidend wäre das Ausmaß der wehrfeindlichen Aktionen gewesen. Das OKW sei über diese Praxis nicht informiert gewesen. Daher sollte das Vorgehen bei Verfahren in Deutschland zwischen OKW und Gestapo geklärt werden. WR tendierte aufgrund der hohen Fallzahlen und der zu erwartenden Überlastung der Gerichte zu einer Abgabe der Gefangenen an die Gestapo, sofern bestimmte Zusagen bezüglich der Behandlung der Inhaftierten in den KZ gegeben wurden. Der Wehrmachtsbefehlshaber in den Niederlanden wollte dagegen die Aburteilung von Nacht- und Nebelgefangenen durch Wehrmachtsgerichte. Er berief sich dabei auf einen Erlass des OKW vom 7. Oktober 1943, in dem festgelegt wurde, die Befehlshaber könnten im Einzelfall entscheiden, ob der Abschreckungszweck durch ein Urteil vor Ort besser zu erreichen sei. SS und SD befürworteten dagegen eine Einweisung in KZ, da so die Vernebelung am besten sichergestellt sei. Letztendlich blieb der Einfluss des Wehrmachtsbefehlshabers in den Niederlanden aufgrund der zivilen Verwaltungsstrukturen aber begrenzt.558

Am 10. September 1942 verurteilte der III. Senat des RKG 47 Mitglieder einer Widerstandsgruppe um Johan Aaldrik Stijkel wegen Spionage und Feindbegünstigung. Die Gruppe sammelte Informationen über militärische Anlagen und kriegswichtige Industriebetriebe mit dem Ziel, diese an Großbritannien zu übergeben. Darüber hinaus sollten Waffenlager angelegt werden, um sich im Falle einer britischen Invasion an dieser zu beteiligen. Stijkel versuchte auch, verschiedene Widerstandsgruppen in den Niederlanden zu einer Organisation zu verbinden, und hatte Kontakte zur Exilregierung in London. Im April 1941 wurde Stijkel bei der Vorbereitung einer Fahrt nach Großbritannien verhaftet. Am 4. Juni 1943 wurden 32 Mitglieder von Stijkels Gruppe in Berlin hingerichtet.559 Weitere Urteile des III. Senats gegen Niederländer, die sich an den Aktivitäten des Widerstandes rund um Stijkel beteiligten, folgten am 16. Oktober 1942 gegen acht Männer, die wegen Spionage zum Tode verurteilt wurden560 und am 23. Oktober 1942 gegen sechs Männer und zwei Frauen, von denen die sechs Männer wegen Spionage und Feindbegünstigung zum Tode und die beiden Frauen zu acht bzw drei Jahren Zuchthaus verurteilt wurden.561 Zu diesem Komplex gehört auch ein Todesurteil des IV. Senats vom 15. Oktober 1943 gegen den Niederländer Bäcker wegen Spionage und Feindbegünstigung.562

f) Luxemburg

In Luxemburg, wo ein Chef der Zivilverwaltung eingesetzt wurde, wurde am 30. August 1942 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Einberufene wurden zu deutschen Staatsbürgern. Insgesamt wurden über 10.000 Luxemburger in die Wehrmacht einberufen. Die Einberufung der Jahrgänge 1920 bis 1924 und in weiterer Folge bis 1927 führte zu einem Generalstreik. Um den Widerstand im Keim zu ersticken, befahl der Chef der Zivilverwaltung Simon am 31. August 1942 den Ausnahmezustand und erweiterte Zuständigkeiten der Standgerichte. Gegen Deserteure wurde ein hartes Durchgreifen gefordert. Am 21. Jänner 1944 informierte das OKH Simon über 14 Todesurteile gegen Luxemburger wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung. Simon machte für den Anstieg der Desertionen ein Erstarken der Widerstandsbewegung und zu milde Urteile des Gerichts der Division 172 verantwortlich. Er informierte den BdE am 8. Februar 1944 über 221 Fälle von Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung, die sich im September 1943 ereignet hatten. HR verzeichnete von Jänner bis September 1943 eine Zahl von 446 Verfahren gegen Luxemburger wegen Desertion, Wehrkraftzersetzung und Selbstverstümmelung. Familien von Deserteuren, die sich ins Ausland absetzen konnten, wurden Repressalien wie der Aussiedlung nach Ostpolen ausgesetzt. Gefasste

558 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 252 ff. 559 vgl RKG 10.9.1942, StPL (HLS) III 56/42; BArch, B 141/48276; Gribbohm, RKG Rz 291; Haase, RKG 200. 560 vgl RKG 16.10.1942, StPL (HLS) III 59/42; BArch, B 141/48276. 561 vgl RKG 23.10.1942, StPL (HLS) III 60/42; BArch, B 141/48276. 562 vgl RKG 15.10.1943, StPL IV 68/43; BArch, B 141/48277. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 153/226

Deserteure wurden einerseits durch Heeresgerichte zum Tode verurteilt, andererseits in KZ eingewiesen und dort hingerichtet. Luxemburger wurden wie Elsässer und Lothringer im Strafvollzug mit Deutschen gleichgestellt, sodass viele in Bewährungseinheiten der Wehrmacht landeten.563

g) Norwegen

Das RKG verzeichnete von Juli 1941 bis Juni 1942 32 Todesurteile gegen Norweger. In der Wehrmachtskriminalstatistik scheinen nur für das vierte Quartal 1941 bereits 28 Todesurteile auf. Daran zeigt sich die Ungenauigkeit der Statistiken. Die Todesstrafe kam insbesondere wegen Spionage und Feindbegünstigung zur Anwendung. So wurden im März 1941 zehn Norweger in Bergen zum Tode verurteilt.564

In Norwegen blieb die Unterstützung der Bevölkerung für die mit den NS Besatzern kollaborierende Partei Nasjonal Samling unbedeutend. Der Widerstand erstreckte sich über alle Teile der Gesellschaft. Um den Widerstand zu brechen, verhängte Reichskommissar Terboven den Ausnahmezustand und setzte ein SS und Polizeigericht ein. Auch Straflager und KZ wurden eingerichtet. Nach einem Streik von 25.000 Arbeitern in Oslo fällten Standgerichte zwei Todes- und 25 Zuchthausurteile. Durch Ausnahmezustand und SS und Polizeigerichtsbarkeit wurden die Befugnisse des Wehrmachtsbefehlshabers eingeschränkt, allerdings wurden auch Militärgerichte im Rahmen des Repressionsapparates tätig. Das erste Todesurteil verhängte ein Militärgericht im Juli 1940 in Trondheim. Mit Beginn des Kriegs gegen die Sowjetunion beteiligten sich auch in Norwegen vermehrt Kommunisten an den Widerstandsaktivitäten, was zu einem deutlichen Anstieg der Urteilszahlen beitrug. Ebenso wurden die Repressionsmethoden den an der Ostfront angewandten angepasst. Nachdem bei einem Kommandounternehmen Angehörige der Gestapo erschossen worden waren, wurden im April 1942 als Sühne 18 Norweger erschossen, 76 in das KZ Sachsenhausen deportiert, 260 Frauen, Kinder und alte Menschen interniert und das Dorf Telavåg zerstört. Norwegen wurde am 27. April 1944 als Bandenkampfgebiet deklariert. Während des deutschen Rückzuges wurden Städte und Dörfer zerstört und rund 40.000 Menschen in den Süden deportiert.565

Im August 1940 bildete sich in Bergen eine Widerstandsgruppe um den zwanzigjährigen Studenten an der Rundfunkschule Roald Alvær. Die Gruppe hörte heimlich alliierte Nachrichtensendungen ab, legte Waffenlager in der Nähe der Stadt Bergen an und kundschaftete Stellungen der deutschen Fliegerabwehr aus. Ab Jänner 1941 wurden auch Fahrten nach England für Norweger vorbereitet, die sich den Alliierten anschließen wollten. 34 Mitglieder der Gruppe, darunter auch Alvær, wurden nach ihrer Verhaftung als Nacht- und Nebelgefangene nach Berlin überstellt und vom IV. Senat des RKG Anfang 1942 wegen Feindbegünstigung und Spionage verurteilt. 14 Angehörige der Gruppe wurden am 7. September 1942 hingerichtet, die anderen wurden in KZ verbracht.566

h) Dänemark

Nachdem deutsche Truppen am 9. April 1940 Dänemark besetzt hatten, blieb die Regierung im Amt und die dänische Armee behielt ihre Waffen. Dänemark befand sich zu diesem Zeitpunkt nicht im Kriegszustand. Der Befehlshaber der deutschen Truppen in Dänemark verfügte nicht über Exekutivbefugnisse. Der deutsche Gesandte in Kopenhagen wurde zum Reichsbevollmächtigten

563 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 141 ff; Haase in Haase/Paul 168 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 255 f; Metzler, Rehabilitierung 177 ff. 564 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 242. 565 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 256 f; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 366 f. 566 vgl RKG 6.6.1942, StPL (HLS) IV 27/42; Haase, RKG 170. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 154/226 ernannt und blieb dem Außenministerium unterstellt. OKW und RSHA konnten keine direkten Weisungen an die Besatzungsmacht erteilen. Bis Mitte 1942 gab es daher kaum Verfahren vor NS Militärgerichten in Dänemark. Dänische Behörden blieben in ihrer Tätigkeit weitgehend unbehelligt. Hitler forderte allerdings ein energischeres Vorgehen. Am 26. Oktober 1942 ernannte er SS Gruppenführer Werner Best zum Reichsbevollmächtigten in Dänemark. Best versuchte aus völkischen Gesichtspunkten, Willkür möglichst hintanzuhalten. Allerdings stand dies im Widerspruch zur Position Hitlers, der den Wehrmachtsbefehlshaber beauftragt hatte, Dänemark als Feindesland zu behandeln, und auf eine Ablösung der dänischen Regierung drängte. Der Wehrmachtsbefehlshaber General von Hanneken blieb aber dennoch auf den Reichsbevollmächtigten angewiesen. Ab dem Frühjahr 1943 wurden Anschläge gegen Einrichtungen der Wehrmacht von Militärgerichten abgeurteilt. Im August 1943 wurde aufgrund von Streiks der militärische Ausnahmezustand verhängt. Es kam zu zahlreichen Todesopfern auf dänischer Seite. Ein deutsches Polizeibataillon wurde nun in Dänemark stationiert. Die Todesstrafe für Saboteure scheiterte zunächst am Widerstand Bests. Ab September 1943 wurden allerdings Standgerichte eingesetzt, und im Oktober 1943 befahl Hitler Sühnemaßnahmen. Nunmehr wurde auch ein HSSPF eingesetzt, der dem Reichsbevollmächtigten nicht unterstellt wurde und somit neben diesen und den Wehrmachtsbefehlshaber als dritte Besatzungsgewalt gestellt wurde. Der militärische Ausnahmezustand endete am 6. Oktober 1943. Ab Frühjahr 1944 wurde ein Feldgericht der deutschen Polizei gebildet, das auch Todesurteile verhängte, die rasch vollzogen wurden. Die Polizei setzte Repressionsmaßnahmen auf Befehl Hitlers um. Am 19. September 1944 wurde, ohne Best einzubeziehen, der polizeiliche Ausnahmezustand ausgerufen. Die dänische Polizei wurde daraufhin entwaffnet und über 2.000 Polizisten in das KZ Buchenwald deportiert. In Dänemark trafen unterschiedliche Interessen der Wehrmacht und der Zivilverwaltung aufeinander. In Zeiten des Ausnahmezustandes wurden zahlreiche Todesurteile durch Militärgerichte verhängt und vollzogen. Die Anzahl wird trotz Bests zunächst mäßigenden Einflusses auf einige hundert geschätzt.567

i) Jugoslawien

Das Besatzungsregime in Jugoslawien war vergleichbar mit jenem in der Sowjetunion. Juden und Kommunisten wurden als besondere Gegner betrachtet. Ein Befehl vom 2. April 1941 regelte den Einsatz der Sicherheitspolizei und des SD auf dem Balkan. Sonderkommandos sollten Aktionen außerhalb der Wehrmachtsverbände durchführen. Kriegsvölkerrecht wurde dabei durch Weisungen des OKW umgangen. In Jugoslawien und Griechenland sollten die wirtschaftlichen Ressourcen für die deutsche Rüstungsindustrie nutzbar gemacht, jegliche Opposition unterdrückt und Juden und ideologische Gegner beseitigt werden. Österreicher waren auf dem Balkan häufig als militärische Kommandanten eingesetzt. Befehle wurden rücksichtslos umgesetzt. Dies führte zu einer weitgehenden Ausschaltung der Militärjustiz auf dem Balkan. Militärgerichte urteilten zunächst noch über Sabotage und Attentate. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion setzte aber auch auf dem Balkan ein verstärkter kommunistischer Widerstand ein, und die Verfolgung derartiger Fälle ging in die Hände des HSSPF und militärischer Kommandanten über. Am 9. Juni 1941 wurde Generalfeldmarschall List zum Wehrmachtsbefehlshaber Südost ernannt. Er übte somit die vollziehende Gewalt in Jugoslawien und Griechenland aus. Ihm unterstanden auch Einheiten der Polizei und des SD. In Serbien wurde jeder Feldkommandantur ein Angehöriger der Einsatzgruppen als Berater zugewiesen. Im Laufe der Zeit drängten polizeiliche Maßnahmen Gerichtsverfahren immer weiter in den Hintergrund. Im Juli 1941 wurden in Serbien über 80 Überfälle verzeichnet. Als Reaktion erschossen Polizei und SD über 200 Personen und wiesen mehrere hundert in KZ ein. Betroffen waren vorwiegend Juden und Kommunisten. Jüdische Geiseln wurden täglich interniert. Militärisches Vorgehen wurde am 21. bzw 22. Juli 1941 von List angeordnet. Das OKW ordnete schärfste Repressalien an. Saboteure sollten

567 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 257 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 364 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 155/226 erhängt werden. Hitler erteilte am 23. Juli 1941 die Weisung, Widerstand nicht juristisch zu verfolgen, sondern Schrecken zu verbreiten, um jeden Widerstandswillen der Bevölkerung zu vernichten. Der Militärbefehlshaber in Serbien General Schröder ordnete allerdings an, dass Geiselerschießungen nur für Taten, die nach der Geiselnahme erfolgten, und nach einer Warnung an die Bevölkerung erlaubt seien. Zwischen Geiseln und Tätern müsse darüber hinaus eine Verbindung bestehen. Maßnahmen gegen einzelne Gemeinden sollten nur ergriffen werden, wenn die Bevölkerung eine Mitverantwortung traf. Schröder versuchte dadurch, die Befehle seiner Vorgesetzten mit dem Kriegsvölkerrecht in Einklang zu bringen. Dies war allerdings nicht von Erfolg gekrönt. So wurde am 27. Juli 1941 die serbische Polizei gezwungen, 81 Landarbeiter zu erschießen, nur weil sie auf einem Feld in der Nähe eines Überfalls auf ein deutsches Fahrzeug gearbeitet hatten. Dennoch ermöglichten Schröders Befehle zunächst Verfahren vor Kriegsgerichten bei Attentaten und Sabotageakten. Zwischen Juni 1941 und Februar 1942 wurden von Gerichten der 12. Armee 298 Todesurteile gegen Serben gefällt.568

Am 3. August 1941 wurde ein Attentat auf das Parkhotel in Niš verübt, bei dem drei Soldaten getötet und mehrere verletzt wurden. Polizeiliche Strafmaßnahmen unterblieben durch eine Intervention des Befehlshabers der Feldkommandantur 809 Oberst von Bothmer. Letztendlich führte dies zur Entlassung Bothmers. Die generelle Zuständigkeit der Feldkommandanturen in Serbien für Vergeltungsmaßnahmen wurde erst am 1. Jänner 1944 vom Militärbefehlshaber Südost festgelegt. Der Befehlshaber in Serbien hatte die Feldkommandanturen aber bereits davor angewiesen, bei Geiselerschießungen den SD hinzuzuziehen. Gerichtsbarkeit über Serben wurde aber ausgeübt, wenn Interessen der Wehrmacht berührt waren. Letzteres traf auf das Attentat in Niš zu, wobei die Täter nicht gefasst wurden. In einem Brief an den Militärbefehlshaber Serbien, nunmehr General Danckelmann, vom 6. August 1941 teilte Bothmer mit, dass er sich nicht für berechtigt halte, die kommunistischen Geiseln zu erschießen. Dies könne er nur anordnen, wenn die Geiseln für einen bestimmten Fall genommen worden wären und dieser Fall eingetreten wäre. Danckelmann verwies als Antwort lediglich auf einen Befehl vom 8. August 1941. Am 2. September 1941 folgte ein Erlass, der Geiselhinrichtungen bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen für zulässig erklärte. Völkerrechtliche Voraussetzungen waren damit allerdings nicht gemeint. Am 16. September 1941 ordnete das OKW die Erschießung von 50 Geiseln für einen verwundeten und von 100 Geiseln für einen getöteten deutschen Soldaten an. Die 717. Infanteriedivision erschoss als Vergeltung für getötete und verwundete deutsche Soldaten im Oktober 1941 über 7.000 Serben in Kraljevo und Kragujevac. Die 342. Infanteriedivision verzeichnete innerhalb von zwei Wochen 26 Tote und 120 Verwundete. Dafür wurden als Sühnemaßnahme 4.408 Personen erschossen und 25.735 in das KZ Šabac eingewiesen. Bis Anfang Dezember 1941 wurden über 11.000 Personen bei Vergeltungsmaßnahmen erschossen, darunter zumindest 6.000 Juden. Der Wehrmachtsbefehlshaber Südost General Kuntze ordnete am 19. März 1942 Vergeltungsmaßnahmen an, wenn die Täter nicht ausgeforscht werden konnten. Die Soldaten wurden für Vergehen bei der Befolgung der Befehle straffrei gestellt. Am 16. Februar 1943 wurden bei einem Überfall vier deutsche Soldaten getötet. Als Sühne wurden 400 Kommunisten im Lager Belgrad erschossen. Gerichte waren weitgehend ausgeschaltet worden.569

Hitler forderte in einem Befehl vom 16. Dezember 1942, den Bandenkampf mit den brutalsten Mitteln zu führen. Diese sollten ausdrücklich auch gegen Frauen und Kinder angewandt werden, um den Abschreckungszweck zu erreichen. List wurde von Generaloberst Löhr als Wehrmachtsbefehlshaber

568 vgl Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 34 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 259 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 367. 569 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 262 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 156/226

Südost abgelöst. Dieser erklärte in einem Befehl vom 10. August 1943, in bandendurchsetzten Gebieten müsse die gesamte männliche Bevölkerung für einen möglichen Arbeitseinsatz im Reich erfasst werden, sofern sie nicht wegen Beteiligung oder Unterstützung der Banden erschossen werden müsse. Bei Sabotageakten und Überfällen seien Geiseln zu erschießen und ganze Orte zu zerstören. Ein formelles Verfahren vor Gerichten, selbst vor Standgerichten, wurde bei all diesen Vergeltungsmaßnahmen nicht durchgeführt. Die Wehrmachtsgerichte in Serbien wären mit der großen Anzahl an Sühnegefangenen wohl auch überfordert gewesen. Gerichtsverfahren unter ohnehin fragwürdigen Rahmenbedingungen wurden daher durch Entscheidungen militärischer Kommandanten ersetzt, um den Weltanschauungskrieg im Osten ohne Behinderung durch Militärgerichte zu führen. Im Lauf der Jahre 1942 und 1943 wurde basierend auf einem Befehl des OKW auch damit begonnen, Gefangene zum Arbeitseinsatz nach Nordnorwegen zu deportieren. In einem Bericht vom 15. Juli 1942 weist der Militärbefehlshaber Serbien seit 6. Juli 1942 die Zahl von 1.095 toten und 6.700 gefangenen Serben aus. Davon wurden 1.590 zum Arbeitseinsatz in Deutschland und 2.374 in Norwegen bestimmt. In den Arbeitslagern befanden sich auch Kinder und Alte.570

j) Griechenland

In Griechenland, das wie Serbien zum Bereich des Wehrmachtsbefehlshabers Südost zählte, war die Situation ähnlich wie in Serbien. In einem Tätigkeitsbericht des Armeerichters der 12. Armee finden sich zwischen Mai 1941 und Juni 1942 38 Todesurteile gegen Griechen. Aber auch in Griechenland standen Vergeltungsmaßnahmen im Vordergrund, und militärgerichtliche Untersuchungen traten in den Hintergrund. Allerdings wurde eine eigene griechische Regierung durch die NS Machthaber akzeptiert. Als Widerstandsbewegungen wurden im September 1941 die Nationale Befreiungsfront und die Nationale Republikanische Griechische Liga gegründet. Gem Befehl des OKW vom 28. September 1941 konnten Juden, Kommunisten, Nationalisten und Bürgerliche als Geiseln genommen werden. Somit lief beinahe jeder Grieche Gefahr als Geisel genommen zu werden. Bei Sühneaktionen wurden auch in Griechenland wahllos Zivilisten getötet und selbst der weit gefasste Befehl vom 28. September 1941 unbeachtet gelassen. So zerstörte die 164. Infanteriedivision am 17. Oktober 1941 die Dörfer Ano, Kerzilion und Kato und erschoss 207 Männer. Am 23. Oktober 1941 folgten die Dörfer Kesovunos und Selli mit 142 Ermordeten und am 26. Oktober 1941 die Dörfer Amelofito, Kliston und Kizomia mit 67 Toten. Frauen und Kinder wurden umgesiedelt. Begründet wurde all das mit der Unterstützung der Dörfer für Banden. Truppenkommandanten verhängten Kollektivstrafen anstelle von Gerichten. Im Bereich des Befehlshabers Saloniki-Ägäis wurden im Jänner 1943 50 Personen erschossen und Häuser niedergebrannt, im April 1943 wurden zwei Dörfer zerstört, weitere Personen erschossen und 140 Studenten in ein KZ eingewiesen. Am 2. April 1944 wurden im Bereich der Feldkommandantur Larissa 65 Kommunisten als Sühne für einen Anschlag auf die Eisenbahn erschossen. Der Befehlshaber auf Rhodos befahl am 13. Dezember 1944 bewaffnete Personen abseits von Wegen sofort zu erschießen.571

Der Kommandant der 117. Jägerdivision ordnete am 25. November 1943 an, Orte, aus denen geschossen wurde, niederzubrennen und die Männer zu erschießen. Obwohl aus dem Ort nicht geschossen wurde, wurden allerdings Kalavryta im Dezember 1943 zerstört und 511 Männer erschossen. Am 16. Dezember 1943 wurden 15 Dörfer und zwei Klöster zerstört und mindestens 674 Griechen erschossen. Gerichte wurden mit keinem dieser Fälle befasst. Wegen der Zerstörung der Klöster und Dörfer kam es zu einer Beschwerde des griechischen Ministerpräsidenten beim

570 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 265 f. 571 vgl Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 35 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 267 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 41. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 157/226 deutschen Militärbefehlshaber in Griechenland. Der Militärbefehlshaber General Speidel bedauerte, dass Unschuldige gestorben seien, und ließ es damit bewenden. Immerhin kritisierte Speidel bei den Heeresgruppenbefehlshabern und beim Befehlshaber Südost das Vorgehen der 117. Jägerdivision. Er merkte an, dass die Disziplin der Truppe immer schlechter und die Stellung der Besatzungsmacht bei den Griechen dadurch schwieriger würde. Auch die Heeresgruppe E kam letztendlich zu diesem Schluss. In einem Befehl vom 9. Dezember 1943 wurde klargestellt, dass völlig unbeteiligte Orte nicht zerstört werden sollten. Anstelle der bisherigen Mindestquoten für Geiselerschießungen wurden Höchstquoten festgelegt. Für einen toten Deutschen sollten 50 Geiseln, für einen verwundeten Deutschen zehn Geiseln erschossen werden. Es sollten aber nur Kommunisten und Personen, die den Widerstand unterstützten, hingerichtet werden. Am 22. Dezember 1943 wurden die fixen Sühnequoten nach Intervention des Sondergesandten im Südosten durch den Wehrmachtsbefehls- haber Südost abgeschafft. Mit Befehl vom 22. Dezember 1943 wurde festgelegt, dass Sühne- maßnahmen ab nun vorher festgelegt werden mussten. Die wahllose Tötung von Personen wurde untersagt. Bei einer direkten Unterstützung von Banden, auch durch Unterlassen, sollten die Betroffenen aber weiterhin erschossen und ihre Wohnungen vernichtet werden. Primär sollte dabei auf verdächtige Kommunisten zurückgegriffen werden. Regimentskommandanten konnten Sühnemaßnahmen auch selbständig vollziehen, wenn die vorgesetzte territoriale Dienststelle nicht zeitgerecht zu erreichen war.572

Obwohl dieser Befehl mäßigend wirken sollte, blieb der Effekt aus. Auch 1944 wurden von Truppen und Dienststellen weiterhin Kollektivstrafen verhängt und ganze Dörfer zerstört. So wurde am 5. April 1944 eine deutsche Kfz-Kolonne am Klissurapass überfallen. Die Partisanen passierten bei ihrem Rückzug auch das Dorf Klissura, hatten dieses beim Eintreffen der deutschen Truppen aber bereits wieder verlassen. Danach flüchteten die Dorfbewohner. Das SS Panzergrenadierregiment 7 tötete als Vergeltung 215 in Klissura zurückgebliebene Einwohner, darunter 38 Kinder bis fünf Jahre und 27 Männer über 65 Jahre. Zur Rechtfertigung wurde behauptet, die SS sei aus dem Dorf beschossen worden. Der Befehlshaber der Heeresgruppe E wies die Beschuldigungen der Griechen als unbegründet zurück und deckte damit das Vorgehen der SS. Die Befehlshaber hätten als Gerichtsherren ein Verfahren einleiten können, unterließen dies aber. Am 28. April 1944 gab das LXVIII. Armeekorps die Absicht bekannt, als Sühnemaßnahme 200 Kommunisten in Athen, alle Männer im Raum Molai – Sparta, die außerhalb der Dörfer angetroffen wurden, und 100 Bandenverdächtige zu erschießen. Die vorgesetzte Heeresgruppe E unternahm nichts gegen dieses Vorhaben. Am 10. Juni 1944 ermordete das SS Panzerregiment 7 im Dorf Distomo 300 Einwohner, va Kinder, Frauen und ältere Männer. Angeblich sei die Einheit zuvor aus dem Dorf beschossen worden. Dies wurde allerdings durch die Aussage eines Wachtmeisters der Geheimen Feldpolizei widerlegt. Eine gerichtliche Aufarbeitung der Vorfälle erfolgte nicht. Die Sache sollte disziplinarisch erledigt werden.573

Der bevollmächtigte General in Kroatien Glaise von Horstenau, der ebenfalls dem Wehrmachts- befehlshaber Südost unterstand, stellte in einem Schreiben am 10. Mai 1944 zu einem derartigen Vorgehen fest, Sühnemaßnahmen könnten hinter der Front nur der Abschreckung dienen. Sollten Schuldige gefasst werden, wären Kriegsgerichte zuständig und würden für eine angemessene Bestrafung sorgen. Vergeltungsmaßnahmen hätten negative Auswirkungen auf die Truppe. Dies kann als Versuch gewertet werden, die Sühnepraxis der Wehrmacht hinter der Front durch Kriegs- und Standgerichtsverfahren zu ersetzen.574

572 vgl Klausch, 999 407 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 269 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 41. 573 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 270 ff; Messerschmidt in Baumann/Koch 41. 574 vgl Klausch, 999 407 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 269 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 41. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 158/226

k) Italien

Gegen Italiener setzten deutsche Repressionsmaßnahmen erst nach der Kapitulation Italiens gegenüber den Alliierten im September 1943 ein. Ab diesem Zeitpunkt gingen Wehrmacht und Wehrmachtsjustiz auch gegen den italienischen Widerstand und die Zivilbevölkerung im besetzten Norditalien vor. Grundsätzlich unterschieden sich die angewandten Methoden in Italien nicht von jenen auf dem Balkan. Auch hier wurden Vergeltungsaktionen gegen Zivilisten durchgeführt, die vor allem Unbeteiligte, Alte, Frauen und Kinder trafen. Eine gerichtliche Prüfung fand meist nicht statt, die an den Vergeltungsaktionen Beteiligten wurden nicht gerichtlich verfolgt. Das Vorgehen der Wehrmacht in Italien stützte sich auf die Befehle des Führers und des OKW für den Osten und Südosten. Die militärischen Kommandanten und Gerichtsherren gingen mit ihren Befehlen häufig noch über diesen vorgegebenen Rahmen hinaus und verschärften so die Maßnahmen gegen die Bevölkerung weiter. Durch einen Befehl Hitlers vom 16. Dezember 1942 wurde jedes Mittel, das Erfolg versprach, auch gegen Frauen und Kinder als zulässig erklärt. Gleichzeitig wurde darin verboten, Soldaten für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen. Dieser Befehl folgte den Vorgaben des Gerichtsbarkeitserlasses Barbarossa575 vom 13. Mai 1941. Bereits in diesem Erlass wurde festgelegt, dass Straftaten, die sich gegen Einheimische richteten, nicht gerichtlich verfolgt werden sollten, auch wenn die Tat ansonsten als militärisches Delikt zu qualifizieren war. Auf Basis dieser Befehle konnten die militärischen Befehlshaber ihre Bedenken beiseiteschieben und ihre Rolle als Gerichtsherren ignorieren. Von einer Ablehnung dieser Befehle durch die Kommandanten kann nicht gesprochen werden, obwohl dies nach dem Krieg behauptet wurde, da die von militärischen Kommandanten gesetzten Maßnahmen häufig noch über die Befehlslage hinausgingen. Bedenken wurden wie auf dem Balkan lediglich dahingehend geäußert, dass durch die drakonischen Maßnahmen der Wehrmacht der Zulauf zur Partisanenbewegung noch gestärkt würde.576

Die Verantwortung für die Umsetzung der Befehle in Italien trugen Generalfeldmarschall Kesselring als Oberbefehlshaber Südwest und General der Waffen-SS Wolff als HSSPF. Am 1. April 1944 wurde ein neues Merkblatt zur Bandenbekämpfung herausgegeben. Darin wurde festgelegt, dass Kollektivmaßnahmen gegen ganze Dörfer nur in Ausnahmefällen und auf Anordnung eines Divisionskommandanten oder SS und Polizeiführers (SSPF) durchgeführt werden durften. Partisanen und sog Banditenhelfer, die sie unterstützten, sollten als Kriegsgefangene behandelt werden. In zahlreichen Fällen erfolgten Kollektivmaßnahmen aber nicht auf Befehl eines Divisionskommandanten oder SSPF, auch kann nicht von Ausnahmefällen gesprochen werden. Dennoch fanden kaum kriegsgerichtliche Verfahren statt. Am 17. Juni 1944 befahl Kesselring, Partisanen mit allen Mitteln zu bekämpfen und militärische Führer, die über das Ziel hinausschossen, zu schützen. Damit ignorierte er seine Verpflichtung als Gerichtsherr, militärische Straftaten zu verfolgen. Den untergeordneten Befehlshabern wurde durch diesen Befehl die Wahrnehmung ihrer Aufgaben als Gerichtsherren praktisch untersagt. Aufgrund einer Beschwerde Mussolinis über das Vorgehen der Wehrmacht beim deutschen Botschafter veröffentlichte Kesselring am 24. September 1944 aber einen entgegengesetzten Erlass, in dem er ausführte, die gängige Praxis nicht weiter dulden zu wollen und

575 vgl BArch, RW 4/v577, Bl 72 ff; Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 172 ff. 576 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 15; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 31 f; Fritsche, Gewaltdelikte, in Manoschek 290; Garbe in Pirker/Wenninger 37; Hankel in Kirschner 298 f; Kirschner, Wehrmachtjustiz, in Kirschner 69; Lingen, Deutsche Militär- und Besatzungsjustiz in Italien 1943 bis 1945, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 134 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 273 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 209; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 64 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 159/226 in Zukunft Standgerichte zu berufen. Besonders schwerwiegende Fälle aus der Vergangenheit sollten untersucht werden. Auswirkungen zeigte dieser Erlass aber nicht.577

Die 14. Armee hatte bereits im Juli 1944 angeordnet, Einheimische, die gegen die Interessen der Wehrmacht handelten, auf Befehl eines Offiziers sofort zu erschießen. Dies wurde von Hitler in einem Befehl vom 30. Juli 1944578 bestätigt. Darüber hinaus ordnete er an, dass nach der Tat gefasste Täter an die Sicherheitspolizei und den SD zu übergeben seien. Mitläufer sollten im Arbeitseinsatz verwendet werden. Gegen Kinder sollten aber keine Maßnahmen ergriffen werden. Das Vorgehen der Wehrmacht wurde dadurch aber nicht geändert. Von 8. bis 17. Oktober 1944 und von 27. November bis 2. Dezember 1944 fanden sog Bandenbekämpfungswochen statt. Dabei wurden insgesamt mindestens 3.362 Personen getötet, 4.279 unbeteiligte Gefangene genommen und 4.334 Verdächtige und 10.517 Arbeits- oder Wehrdienstverweigerer festgenommen. Über Gerichtsverfahren gegen die Festgenommenen oder Soldaten, die die Befehle überschritten, existieren keine Unterlagen. SS Angehörige töteten noch am 2. Mai 1945 im Dorf Avasinis 51 Männer, Frauen und Kinder. Der Widerspruch selbst zu Hitlers Befehlen wurde ignoriert. Auch in weiteren Dörfern wurden zahlreiche Bewohner von Einheiten der Wehrmacht getötet, zB in Boves 23 am 19. September 1943, in Caiazzo 87 am 1. Oktober 1943 und 22 am 13. Oktober 1943, in Pietralata zehn am 21. Oktober 1943 und in Conca 39 von 1. bis 4. November 1943. Standgerichte wurden in keinem der angeführten Fälle eingesetzt. In Summe forderte das deutsche Vorgehen mindesten 9.000 Tote unter der italienischen Zivilbevölkerung.579

Am 23. März 1944 wurde in Rom ein Anschlag auf das Polizeiregiment Bozen verübt. Dabei wurden durch eine Bombe 32 Polizisten getötet, ein weiterer verstarb an den Folgen seiner Verletzungen und 68 wurden verwundet. Diskutiert wurden Maßnahmen wie die Zerstörung einzelner Stadtteile oder die Erschießung von 50 Italienern für jeden getöteten Polizisten. Schließlich wurde in Abstimmung mit Hitler, OKW und Kesselring von der 14. Armee die Erschießung von 10 Italienern für jeden getöteten Polizisten festgelegt. Somit sollten 330 Italiener durch den SD hingerichtet werden. Eine Verbindung der Opfer zum Attentat war nicht gefordert. Ausgewählt wurden 73 Juden und Männer, die bereits wegen Widerstands festgenommen worden waren. SS Hauptsturmführer Priebke wählte eigenmächtig fünf weitere Opfer aus. Die Erschießung erfolgte am 24.März 1944 in den Fosse Ardeatine. Eine militärgerichtliche Untersuchung, auch der eigenmächtigen Geiselauswahl Priebkes, fand entgegen dem späteren Erlass vom 24. September 1944 nicht statt. Ein weiteres Massaker fand am 22. Juni 1944 in Gubbio statt. Nach der Tötung eines Bataillonsarztes wurden von der 114. Jägerdivision 200 Personen festgenommen. Von diesen wurden 40 ausgewählt und ohne Standgerichtsverfahren erschossen. Auch hier spielte die Beziehung zur Tat oder zum Täter keine Rolle.580

Über das Vorgehen der Militärjustiz gegen italienische Freiwillige, die in der Wehrmacht Dienst taten, liegen nur bruchstückhafte Informationen vor. Die 14. Armee meldete für März 1944 eine Zahl von 233 Fahnenflüchtigen und 13 Todesurteilen gegen Italiener. Von Mai bis Dezember 1944 schwankte die Zahl der Flüchtigen zwischen fünf im Mai 1944 und 723 im November 1944. Aufgrund der Kriegslage konnten die meisten nicht mehr gefasst werden und entgingen so einem kriegsgerichtlichen Verfahren.581

577 vgl Lingen in Bade/Skowronski/Viebig 134 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 275 f. 578 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 437. 579 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 276 f; Messerschmidt in Baumann/Koch 42; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 359. 580 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 277 ff. 581 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 278. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 160/226

2. Verfahren gegen Kriegsgefangene Auch in Bezug auf Kriegsgefangene ist die Wehrmachtskriminalstatistik nur lückenhaft erhalten. Von 26. August bis 18. November 1939 sind aber zumindest 120 Todesurteile gegen polnische Kriegsgefangene verzeichnet. HR ermittelte eine Zahl von 4.850 Todesurteilen bis Juni 1944. Die Zahl der Todesurteile gegen Zivilisten und Kriegsgefangene in der gesamten Wehrmacht wird mit 5.600 angegeben. Eine Hochrechnung bis Kriegsende ergibt 5.500 Todesurteile im Heer und 6.450 in der Wehrmacht insgesamt. Aus einer anderen Übersicht zum Vergleich der Vollziehungsquoten von Todesurteilen errechnet sich eine noch höhere Gesamtzahl von 8.868 Todesurteilen, wobei in der Übersicht keine Daten des RKG, der Luftwaffe, der Marine, der Wehrmachtsbefehlshaber Ostland, Ukraine, Norwegen und Niederlande sowie über sowjetische Freiwillige enthalten sind. Die im Lauf des Krieges zunehmenden Widerstandsaktivitäten hatten auf die Anzahl der Verfahren und die Urteile gegen Kriegsgefangene keinen wesentlichen Einfluss. Partisanen wurden allerdings nicht als Kriegsgefangene betrachtet und aufgrund der einschlägigen Befehle meist an Ort und Stelle hingerichtet.582

Die Behandlung der Kriegsgefangenen unterschied sich auf den Kriegsschauplätzen im Westen und Osten. Deutschland hatte am 21. Februar 1934 das Genfer Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929583 ratifiziert. § 73 KStVO sah daher eine ehestmögliche Benachrichtigung der Schutzmacht über die Einleitung eines Verfahrens gegen Kriegsgefangene vor. In § 74 KStVO wurden das Recht auf einen Wahlverteidiger, einen Dolmetscher und die Anwesenheit eines Vertreters der Schutzmacht in der Hauptverhandlung festgelegt. § 75 KStVO normierte die ehestmögliche Information der Schutzmacht über das Urteil. Bei Todesurteilen mussten auch Art und Umstände der Straftat genauer beschrieben werden. Die Urteilsvollziehung durfte erst drei Monate nach dieser Mitteilung erfolgen. Diese Bestimmungen wurden aber über weite Strecken nicht eingehalten. So wies das OKW am 19. Februar 1942 darauf hin, dass bei der Abfassung von Urteilen gegen Kriegsgefangene besondere Sorgfalt notwendig sei, um diplomatische Verwicklungen und negative Auswirkungen auf deutsche Kriegsgefangene zu vermeiden. Ein Schreiben des OKW vom 30. November 1939584 sowie der vierte Mob-Sammelerlass585 vom 1. März 1940 bestimmten, dass bei polnischen Kriegsgefangenen eine Mitteilung an die Schutzmacht nicht mehr notwendig sei, da Polen als Staat nicht mehr bestehe. Dasselbe bestimmte der zehnte Mob-Sammelerlass586 vom 7. September 1942 für jugoslawische Kriegsgefangene, obwohl weiterhin eine serbische Regierung existierte. Gem Verfügung des BdE galt dies im Ersatzheer für serbische Kriegsgefangene bereits seit 10. Juli 1941.587 Sonstige Vorschriften für Verfahren gegen Kriegsgefangene blieben zunächst unverändert. Ab Ende 1944 sollte die Schutzmacht bei politischen Strafsachen nicht mehr informiert werden. Daher bestimmte der 13. Mob-Sammelerlass vom 20. November 1944, dass Strafverfügungen in politischen Strafsachen gegen Kriegsgefangene unzweckmäßig seien. Falls eine Benachrichtigung der Schutzmacht unerwünscht sei, sollte stattdessen eine disziplinäre Ahndung erfolgen. Abgesehen davon wurden Strafverfügungen häufig eingesetzt, da die Schutzmacht in diesem Fall erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens informiert werden musste. Gegen diese Praxis äußerte allerdings das Auswärtige Amt Bedenken, da negative Auswirkungen auf deutsche Kriegsgefangene befürchtet wurden. Daher wurde vorgeschlagen, durch Strafverfügungen nur Freiheitsstrafen bis zu einem Monat zu verhängen und dem Gefangenen eine Übersetzung zur

582 vgl VUA, RKG K65 39/13/17; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 296 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 298 f. 583 vgl RGBl II 1934/21. 584 vgl VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25. 585 vgl BArch, RW 60/3768, Bl 282 f. 586 vgl BArch, RW 60/59. 587 vgl VUA, RKG K8 39/2-12; VUA, RKG K30 39/7/5. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 161/226

Verfügung zu stellen. Dies galt allerdings nicht dauerhaft. Bezüglich französischer und belgischer Kriegsgefangener teilte WR den Rechtsabteilungen der Teilstreitkräfte am 2. März 1943 mit, dass das Auswärtige Amt keine Bedenken mehr hätte und die gleichen Strafen wie gegen deutsche Soldaten verhängt werden könnten. Bezüglich gefangener Soldaten der USA und Großbritanniens änderte das Auswärtige Amt am 16. September 1944 seine Position und war mit Strafverfügungen bis zu sechs Monaten Freiheitsstrafe einverstanden.588

Bei Verbrechen gegen die Kriegswirtschaft war gem Erlass des OKW vom 27. August 1943 auch gegen Kriegsgefangene die Todesstrafe vorgesehen. Disziplinare Maßnahmen waren ausgeschlossen. Sowjetische Gefangene sollten dem SD übergeben werden. Als Verbrechen gegen die Kriegswirtschaft wurde auch das Zerstören von Mauern und Fußböden definiert. Dies widersprach offen dem Genfer Abkommen vom 27. Juli 1929, nach dessen Bestimmungen Taten, die während einer Flucht begangen wurden, mit größter Nachsicht zu beurteilen waren. Die Gerichte hatten in ihren Urteilen aber ohnehin schon vor dem OKW Erlass einen strengeren Maßstab angelegt. Um eine einheitliche Rechtsprechung gegen Kriegsgefangene zu gewährleisten, schlug BdE Generaloberst Fromm vor, die Akten vor der Bestätigung den Kommandanten der Kriegsgefangenen in den Wehrkreisen zur Stellungnahme vorzulegen. Bei Offizieren hatte sich grundsätzlich Hitler selbst das Bestätigungs-, Aufhebungs- und Gnadenrecht vorbehalten. Eine Ausnahme bildeten aber sowjetische Offiziere, die wie einfache Soldaten behandelt wurden, sofern überhaupt eine gerichtliche Untersuchung stattfand. Hier kam das Bestätigungs-, Aufhebungs- und Gnadenrecht dem BdE und den Armeeoberbefehlshabern zu.589

Eine Sonderbehandlung erfuhren französische Kriegsgefangene. Aufgrund der Kooperation der französischen Regierung, durch die 250.000 französische Arbeiterinnen und Arbeiter in der deutschen Rüstungsindustrie eingesetzt werden konnten, wurden durch einen Erlass des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 16. April 1943 ebenso viele französische Kriegsgefangene beurlaubt, um im Reich zu arbeiten. Der Erlass stellte also keineswegs ein Entgegenkommen gegenüber Frankreich dar, sondern diente in erster Linie zur Beschaffung von zusätzlichen Arbeitskräften für die deutsche Rüstungsindustrie.590

Eine besondere Gruppe stellten auch Kommandoangehörige dar. Der Kommandobefehl vom 18. Oktober 1942 sah keine Gefangennahme vor. Sämtliche Sabotagetrupps der Briten und ihre Helfer sollten nach dem Willen Hitlers wie Banditen behandelt und rücksichtslos getötet werden. Die Kommandoeinsätze der Briten konzentrierten sich 1942 insbesondere auf Stützpunkte, Häfen und die Rüstungsindustrie. Die Kommandoeinheiten operierten dabei von Norwegen bis Griechenland. Entscheidend waren bei diesen Unternehmen der Überraschungseffekt und Schnelligkeit. Am 19. August 1942 führte eine solche Kommandoeinheit eine Probelandung bei Dieppe durch. Hitler veranlasste daraufhin Gegenmaßnahmen. Kriegsgerichte sollten nicht involviert werden. Gefangene waren nicht erwünscht. Im Auftrag Hitlers veranlasste der stellvertretende Chef des Wehrmachtsführungsstabes Warlimont am 8. Oktober 1942 die Ausarbeitung von Richtlinien zur Behandlung von Kommandosoldaten. Eine Gefangennahme sollte grundsätzlich nicht erfolgen. Sollte es dennoch dazu kommen, sollten die Gefangenen nach einer Vernehmung dem SD übergeben werden, der sie danach exekutierte. In einer Stellungnahme vom 10. Oktober 1942 unterschied der

588 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K35 39/9/23; VUA, RKG K63 39/11/12; VUA, RKG K64 39/9/20; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 298 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 50 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 230 f; Werther in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 245; Werther, Die „Reinhaltung deutschen Blutes“ – Kriegsgefangene vor dem Marburger Kriegsgericht, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 101 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 455 ff. 589 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 300 f. 590 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K53 39/13/20. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 162/226

Chef der Amtsgruppe Ausland/Abwehr Admiral Canaris zwischen uniformierten und nicht uniformierten Kommandosoldaten und nach deren völkerrechtswidrigem Verhalten. Davon sollte abhängen, ob der Soldat sofort erschossen oder dem SD übergeben wurde. Uniformierte sollten als Kriegsgefangene behandelt werden, andere als Freischärler. WR wies darüber hinaus auf mögliche Auswirkungen auf eigene Soldaten bei Kommandounternehmen hin. Diese Einwände zeigten aber keinen Erfolg. Am 15. Oktober 1942 legte Warlimont nun seinen Entwurf vor. Die Truppe sollte beurteilen, ob das Verhalten der Kommandosoldaten gegen Kriegsgesetze verstoßen habe. In diesem Fall waren sie sofort zu töten und Gefangene dem SD zu übergeben. Hitler lehnte dies ab, da die Vorgaben für die Truppe zu unbestimmt seien. In einer neuen Fassung des Entwurfs vom 17.Oktober 1942 fehlte jede Differenzierung bezüglich des Verhaltens der Kommandosoldaten. Sie sollten in jedem Fall getötet werden, selbst dann wenn sie sich ergeben wollten. Dieser Entwurf wurde nunmehr am 18. Oktober 1942 als Befehl erlassen. Hitler stellte klar, dass er bei Nichtbeachtung des Befehls oder einer abweichenden Durchführung die betroffenen Offiziere gerichtlich zur Verantwortung ziehen werde. Ebenfalls am 18. Oktober 1942 gab Hitler einen Zusatzbefehl an Kommandanten bekannt. Darin setzte er Kommandosoldaten mit Partisanen und Kriminellen gleich. Wenn sie sich ergäben, sei dies ein Missbrauch der Genfer Konvention. Kommandosoldaten sollten daher unter allen Umständen getötet werden.591

Drei Wochen nach Erlass des Kommandobefehls erfolgte in Drontheim ein Anschlag auf das Schlachtschiff Tirpitz durch britische Kommandosoldaten, die mit einem norwegischen Kutter in das Einsatzgebiet gebracht wurden. Der Anschlag misslang und der Kutter wurde beschlagnahmt. Die sechs britischen Soldaten konnten aber auf das Festland gelangen, wobei einer auf dem Weg nach Drontheim gefangengenommen wurde. Aus seinen im Verhör durch den SD gemachten Angaben, geht hervor, dass die Kommandoangehörigen alle Marinesoldaten waren. Die Angaben wurden vom SD als glaubwürdig betrachtet. Das weitere Schicksal des Soldaten ist unbekannt. Da Hitler nach Vernehmungen aber die sofortige Erschießung forderte, ist davon auszugehen, dass er hingerichtet wurde.592

Die Heeresgruppe E in Griechenland wurde im April 1944 angewiesen, Kommandoangehörige abweichend zur bisherigen Befehlslage gefangen zu nehmen. Sie sollten zunächst von den Divisions- bzw Generalkommandos und danach vom Heeresgruppenkommando verhört werden. Dies resultierte daraus, dass Briten häufig aus der Türkei heraus operierten. Daher sollten Zeugen für die türkische Regierung gewonnen werden. Von April bis Mai 1944 wurden bei Kommandounternehmen 17 britische Soldaten gefangengenommen, von denen nach britischen Angaben zwei den Krieg überlebten. Zwischen Sommer 1943 bis Ende 1944 nahmen nach Schätzungen der Heeresgruppe E rund 100 britische Soldaten an diversen Kommandounternehmen in Griechenland teil. Die Heeresgerichte waren in die Ermittlungen gegen Kommandosoldaten nicht eingebunden. Die Durchführung von Maßnahmen gegen Kommandosoldaten wurde vom Oberbefehlshaber Südost der Abteilung Feindaufklärung und Abwehr in den Stäben zugewiesen.593

Nach einer Kommandoaktion bei Alimnia wurde eine Anfrage an den Abwehroffizier beim Oberbefehlshaber Südost gerichtet, ob die gefangenen Soldaten an den SD übergeben werden sollten. Eine weitere Befragung erschien nur im Falle des englischen Funkers Carpenter und des griechischen Matrosen Lisgaris sinnvoll. Am 27. April 1944 erfolgte die Anweisung, beide in Gewahrsam zu behalten und alle anderen Gefangenen dem SD zu übergeben. Am 4. Juni 1944 folgte

591 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 301 ff. 592 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 304. 593 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 304 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 163/226 schließlich ein Befehl des OKW an die Heeresgruppe E, Carpenter und Lisgaris dem SD zur Sonderbehandlung zu übergeben. Am 26. März 1944 wurde ein angeblicher alliierter Sabotagetrupp bestehend aus Briten, Amerikanern, Russen und Polen vor der Insel Kefalonia gefangengenommen. Die 20 Russen und Polen waren geflohene Kriegsgefangene, die mit Hilfe der britischen Militärmission bei den griechischen Partisanen nach Alexandria gebracht werden sollten. Es handelte sich hierbei also um eine Flucht und keineswegs um eine Kommandoaktion. Dennoch wurden die neuerlich festgenommenen als Kommandosoldaten hingerichtet. Wie in diesem Fall wurden auch bei anderen Kommandosoldaten ihre Rechte als Kriegsgefangene von der Wehrmacht ignoriert. Eine gerichtliche Untersuchung wurde nicht durchgeführt. Auf Basis des Kommandobefehls waren beteiligte Soldaten in jedem Fall hinzurichten.594

In Italien wurde der Kommandobefehl vom Armeeoberkommando 14 am 28. November 1943 nochmals an alle Generalkommandos und Divisionen weitergeleitet. Italienische Soldaten, die sich nach der Kapitulation Italiens gegenüber den Alliierten am 8. September 1943 den Deutschen widersetzten oder gegen sie weiterkämpften, wurden nicht als Kriegsgefangene sondern als Freischärler betrachtet. Deutsche Gegenmaßnahmen setzten unmittelbar nach der italienischen Kapitulation am 8. September ein. Am 9. September 1943 wurde angeordnet, Italiener als Kriegsgefangene zu behandeln, wenn sie nicht bereit waren mit den Deutschen weiterzukämpfen. Sie sollten als Arbeitskräfte für den Ostwall eingesetzt werden. Einen Tag später, am 10. September 1943, befahl das OKW, Offiziere als Freischärler zu erschießen, wenn italienische Truppen Widerstand leisteten. Da es sich hierbei um Soldaten in Uniform handelte, die ihre Waffen offen trugen und sich an die Befehle ihrer Regierung hielten, widersprach dies eindeutig völkerrechtlichen Regeln. Am 12. September 1943 ordnete ein weiterer Befehl des OKW an, dass Offiziere erschossen und Soldaten zum Arbeitseinsatz in den Osten transportiert werden sollten, wenn italienische Truppen mit Aufständischen kooperierten oder ihnen ihre Waffen überließen. In weiterer Folge legte ein Befehl vom 15. September 1943 fest, dass Offiziere, die sich widersetzten oder mit dem Feind kooperierten, zu erschießen seien. Soldaten seien in den Osten zu deportieren. Soldaten, die sich weigerten weiterzukämpfen, sollten in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Bereits am 17. September 1943 begann der Abtransport der ersten Kriegsgefangenen.595

Bei den Besatzungstruppen in Griechenland sollten auf der Insel Kefalonia gem OKW Weisung vom 18. September 1943 keine italienischen Gefangenen genommen werden. Der deutsche Generalstab beim Oberkommando der italienischen 11. Armee stellte in seinem Kriegstagebuch fest, dass auf Kefalonia der italienische Kommandant und 4.000 Soldaten wegen Widerstands gem Führerbefehl behandelt worden seien. Zunächst befahl die übergeordnete deutsche Heeresgruppe E der italienischen 11. Armee die Waffen niederzulegen. General Gandin, Befehlshaber der Division Acqui, wollte aber Widerstand leisten. Dieser wurde vom XXII. Gebirgsarmeekorps niedergeschlagen. Da gem Befehl Hitlers keine Gefangenen gemacht werden sollten, sprachen die Berichte nur von im Kampf Gefallenen. Nach der Kapitulation der Division Acqui kamen allerdings dennoch rund 5.000 italienische Soldaten in deutsche Gefangenschaft. Der Kommandant der Heeresgruppe E Generaloberst Löhr ordnete daraufhin am 23. September 1943 an, General Gandin und seine Offiziere gem Führerbefehl zu behandeln, das hieß hinzurichten. Die übrigen Gefangenen konnten milder behandelt werden. Der Kommandant des XXII. Gebrigsarmeekorps General Lanz stellte an Löhr daraufhin die Frage, ob der Führerbefehl auch für die übrigen Gefangenen gelte. Löhr reichte die Frage an den Oberbefehlshaber Südost Generalfeldmarschall von Weichs weiter, der wiederum das OKW um eine Entscheidung ersuchte. Hitler verzichtete nun auf die Hinrichtung der Gefangenen.

594 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 305 f. 595 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 326 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 164/226

Immerhin 4.000 Italiener waren auf Kefalonia bereits gefallen. Rechtliche Bedenken hatten die Befehlshaber und Gerichtsherren nicht. Analog zu Kefalonia sollte auch auf Korfu vorgegangen werden. Fünf toten Deutschen standen rund 700 gefallene Italiener gegenüber. 30 Offiziere wurden hingerichtet. Ähnlich wurde auch in weiteren Gebieten verfahren. Gerichtliche Verfahren fanden kaum statt. Auf Leros wurden der italienische Kommandant und rund 80 Offiziere hingerichtet. Lediglich im Bereich der Armeegruppe Südgriechenland unter dem Kommando von General Felmy scheinen Hinrichtungen italienischer Offiziere nicht stattgefunden zu haben. Mindestens 150 italienische Offiziere wurden auf dem griechischen Festland, in Jugoslawien und Albanien exekutiert.596

In Jugoslawien befahl der Kommandierende General von Leyser nach der Einnahme von Split, alle italienischen Offiziere, die für den Widerstand und die Abgabe von Waffen an die Partisanen verantwortlich waren, festzunehmen und zu exekutieren. Dabei wurde nicht berücksichtigt, dass der italienische General Spigo die Übergabe der Waffen an die Deutschen befohlen hatte. Partisanen hatten die Italiener daraufhin entwaffnet. Ein deutsches Standgericht verurteilte vier Generäle, einen Admiral und mindestens 46 weitere Offiziere zum Tode. Das Urteil wurde am 1. Oktober 1943 vollzogen. Hier wurde zumindest formell ein Standgerichtsverfahren durchgeführt. Aus Sicht der Deutschen hatten die Italiener Verrat begangen, obwohl sie nur den Befehlen ihrer Regierung folgten.597

In Italien selbst forderte Generalfeldmarschall von Rundstedt italienische Soldaten am Mont Cenis auf, einen Eisenbahntunnel zu übergeben. Ansonsten würden sie als Freischärler erschossen. Generalfeldmarschall Kesselring befahl General von Senger und Etterlin, den italienischen Kommandanten auf Korsika aufzufordern, alle deutschen Gefangenen freizulassen. Ansonsten würden für jeden Deutschen zehn Italiener erschossen. Den Befehl 22 italienische Offiziere bei Bastia zu erschießen, lehnte von Senger und Etterlin aber mit dem Hinweis ab, dass diese lediglich Befehle ihrer Regierung befolgt hätten und dies gegen sein Gewissen verstieße. Konsequenzen hatte dies für ihn nicht. Allerdings hatte sein Leiter der Führungsabteilung Oberstleutnant Meier-Welcker während von Senger und Etterlins Abwesenheit die Befehle nicht weitergegeben und dadurch die Abschiebung der italienischen Offiziere in italienisch kontrolliertes Gebiet ermöglicht. Dafür wurde Meier-Welcker von seinem Posten entfernt. In Neapel ordnete der Kommandierende General des XIV. Panzerkorps General Hube den brutalsten Einsatz aller Machtmittel an, wenn italienische Soldaten der Aufforderung, die Waffen niederzulegen, nicht nachkamen. Offiziere sollten sofort als Freischärler erschossen werden. Auf Verstöße gegen das Völkerrecht wurde keine Rücksicht genommen und von Militärjuristen auch nicht hingewiesen.598

Auch nach der Kriegserklärung Italiens an Deutschland am 13. Oktober 1943 änderte sich nichts an der Befehlslage und der Einstufung der Italiener als Verräter. Italienische Soldaten wurden auf Basis eines Befehls vom 15. September 1943 in drei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe bildeten bündnistreue Soldaten, die in Kompaniestäben oder als Hilfswillige eingesetzt wurden. Die zweite Gruppe bildeten italienische Soldaten, die nicht mit den Deutschen weiterkämpfen wollten. Sie wurden ins Reichsgebiet oder in den Osten deportiert und bildeten die größte Gruppe. Die dritte Gruppe bildeten Italiener, die Widerstand leisteten oder mit Partisanen kooperierten. Vermutlich betrug die Zahl der italienischen Gefangenen über 700.000. Am 20. September 1943 ordnete Hitler an, alle italienischen Gefangenen im deutsch besetzten Gebiet als Militärinternierte zu bezeichnen, um sie dadurch von jenen zu unterscheiden, die nunmehr auf alliierter Seite kämpften und als Badoglio-

596 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 307 f. 597 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 309. 598 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 309 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 165/226

Gefangene bezeichnet wurden. Beide Gruppen waren getrennt voneinander unterzubringen. Erst ab Februar 1944 wurde Italienern, die auf alliierter Seite kämpften, der Status als Kriegsgefangene zugestanden. Sie blieben aber schlechter gestellt als andere Alliierte und selbst italienische Militärinternierte. Wurden sie nach einer versuchten Flucht wieder aufgegriffen, wurden sie dem SD zur Einweisung in das KZ Mauthausen übergeben, wo sie großteils hingerichtet wurden. Die Militärinternierten arbeiteten meist in der Industrie oder Landwirtschaft. Auch sie wurden nach einer missglückten Flucht aus der Kriegsgefangenschaft entlassen, dem SD übergeben und meist hingerichtet. Gerichte wurden nicht eingeschaltet.599

Ebenso wie Italiener wurden auch sowjetische, französische und belgische Kriegsgefangene behandelt. Mindestens 4.000 Sowjetsoldaten wurden in Mauthausen hingerichtet. Gemäß Art 45 des Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen wäre bei Delikten von Kriegsgefangenen ein Kriegsgerichtsverfahren durchzuführen und die Schutzmacht zu informieren gewesen. Dies unterblieb jedoch in den meisten Fällen. Übergriffe von Wachmannschaften wurden dagegen straffrei gestellt. Anstelle gerichtlicher Verfahren traten Disziplinarmaßnahmen bei Verstößen von Kriegsgefangenen. Zunächst bündnistreue Italiener wurden bei Fahnenflucht von Standgerichten abgeurteilt. Todesurteile wegen Freischärlerei durften nur mit Genehmigung des höheren Gerichtsherrn vollzogen werden. Die Zahl der Fahnenfluchtfälle nahm im Kriegsverlauf analog zu deutschen auch bei italienischen Soldaten zu. Auch der Kontakt von italienischen Kriegsgefangenen mit deutschen Frauen wurde mit Zuchthaus und Todesstrafen geahndet. Britische und amerikanische Kriegsgefangene konnten einen Verteidiger wählen, der allerdings nicht über innenpolitische Missstände sprechen durfte. Passiver Widerstand von Gefangenen war durch Waffengebrauch zu verhindern. Auf Druck Mussolinis und der deutschen Kriegswirtschaft wurden schließlich die italienischen Militärinternierten aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in freie Arbeitsverhältnisse überführt. Einige Fälle wurden aber auch vom RKG verhandelt. So verhängte das RKG Todesurteile gegen einen polnischen und einen britischen Kriegsgefangenen, die jeweils versucht hatten, eine Maschine zu beschädigen. Das RKG stufte dies als Kriegsverrat gem § 57 MStGB ein, obwohl dieses Delikt eigentlich nicht von Ausländern begangen werden konnte.600 Ebenso wurden im März 1945 zwei französische Kriegsgefangene vom RKG wegen unterlassener Meldung eines geplanten Landes- und Kriegsverrats zum Tode verurteilt. Auf Italiener, die auf alliierter Seite gekämpft hatten, wurde der Nacht- und Nebelerlass angewendet. Trotz des Vorgehens der Justiz gegen Kriegsgefangene spielte sie im Vergleich zu Maßnahmen, die direkt von der Truppe gesetzt wurden, nur eine geringe Rolle.601

Gerichtsverfahren gegen sowjetische Kriegsgefangene waren selten. Bereits vor dem Angriff auf die Sowjetunion wurde durch Befehle des OKW und OKH eine besondere Behandlung sowjetischer Soldaten vorgesehen. Aus deutscher Sicht handelte es sich um einen Weltanschauungskrieg gegen den jüdischen Bolschewismus, der mit allen Mitteln geführt werden musste. Gerichtsverfahren waren dabei hinderlich. Das OKW stellte dazu fest, dass der bolschewistische Soldat den Kampf mit allen Mitteln bis hin zu Sabotage und Mord führe und daher jeden Anspruch auf eine Behandlung gem den Bestimmungen des Genfer Abkommens verloren habe. Der Chef des RSHA Heydrich erließ Richtlinien zur Aussonderung von Zivilpersonen und verdächtigen Kriegsgefangenen des Ostfeldzuges, in denen er festlegte, dass sich die Wehrmacht umgehend von allen bolschewistischen Elementen unter den Kriegsgefangenen befreien müsse. Die besondere Lage im Osten erfordere besondere Maßnahmen, die ohne bürokratische Hemmnisse durchgeführt werden müssten. Die Selektion sollte von den Einsatzgruppen durchgeführt werden. Eine Berücksichtigung des

599 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 310 f. 600 vgl Schwinge, Militärstrafgesetzbuch6 155. 601 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 311 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 53. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 166/226

Völkerrechts wurde weder von WR noch HR gefordert. Lediglich Helmuth James Graf von Moltke und Ernst Martin Schmitz, beide Juristen in der Gruppe Kriegsvölkerrecht des Amtes Ausland/Abwehr, forderten erfolglos eine völkerrechtskonforme Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener. Die Sowjetunion erklärte in einer diplomatischen Note, dass sie unter der Bedingung der Gegenseitigkeit die Haager Landkriegsordnung anerkenne. Dies wurde von der deutschen Reichsregierung aber im Juli 1941 abgelehnt. Hitler forderte zuerst einen Beweis der Sowjetunion, das Verhalten ihrer Truppen tatsächlich zu ändern.602

Auf fliehende sowjetische Gefangene sollte ohne vorherige Warnung sofort geschossen werden. Ungehorsam sollte mit Waffeneinsatz beantwortet werden. Trotzdem ging die Zahl der Exekutionen ab 1942 durch den wachsenden Bedarf an Arbeitskräften zurück. Auch die Behandlung der Politkommissare änderte sich, um den Widerstand der Roten Armee zu schwächen. An der Umsetzung entsprechender Befehle und der Exekution sowjetischer Soldaten beteiligten sich dabei nicht nur die Einsatzgruppen sondern auch Wehrmachtseinheiten. Die Gefangenen wurden gem ideologischer Vorgaben behandelt. Das Feindbild des jüdischen Bolschewismus bildete die Grundlage zahlreicher Befehle. In Weißrussland fielen ihnen zwischen 700.000 und 800.000 Kriegsgefangene zum Opfer.603

Einzelne Versuche, sich den Befehlen zu widersetzen, blieben erfolglos. So weigerte sich der Kommandant des Gefangenendurchgangslagers 185 Major Wittmer im November 1941, zivile jüdische Gefangene an das Sonderkommando 8 zu übergeben, weil dazu kein Befehl vorhanden sei. Eine am 7. Oktober 1941 geschlossene Vereinbarung zwischen dem Generalquartiermeister im OKH und dem Chef des SD war offensichtlich unbekannt. Demnach sollten Sonderkommandos des SD die Aussonderung sog untragbarer Elemente übernehmen. Gem OKH sollten Exekutionen unverzüglich und so weit entfernt von Durchgangslagern und Orten durchgeführt werden, dass sie vor der Bevölkerung verborgen blieben. Heydrich stellte in einem Befehl vom 29. Oktober 1941 fest, dass die Lagerkommandanten gem Befehl OKH Herausgabeanträge der Sonderkommandos befolgen müssten. Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte Generalfeldmarschall von Bock äußerte zwar Bedenken, stimmte aber dennoch zu, wenn eine Aussonderung von Gefangenen aus politischen Gründen oder zur Sicherheit des Reiches erforderlich sei. Gerichtsherren befolgten somit Anordnungen der politischen Führung.604

Im Kampf getötete Partisanen, die häufig erst nach ihrer Gefangennahme exekutiert wurden, erscheinen nicht in den Kriegsgefangenenstatistiken. So wurden im rückwärtigen Heeresgebiet Mitte von Juni 1941 bis Mai 1942 rund 80.000 Partisanen getötet. Die deutschen Verluste betrugen in diesem Zeitraum dagegen 1.094 Soldaten. Dies entsprach einem späteren Befehl des Kommandanten des rückwärtigen Heeresgebiets Mitte General von Schenckendorff, der auf Basis der OKW Richtlinie zur Bandenbekämpfung am 14. Dezember 1942 anordnete, gefangene Banditen nach einem kurzen Verhör zu erschießen. Bis Anfang 1943 wurden insgesamt rund 100.000 Partisanen und Verdächtige hingerichtet. In den Jahren 1942 und 1943 wurden gezielt Großunternehmen zur Partisanenbekämpfung durchgeführt. Dies erfolgte in Kooperation von Heeresdienststellen mit SS- und Polizeiverbänden unter der Verantwortung des Chefs der Bandenbekämpfungsverbände SS Obergruppenführer von dem Bach-Zelewski. Dabei wurden im Juni 1943 im Unternehmen Cottbus 9.796 Partisanen getötet und 599 gefangengenommen. Dem standen 128 deutsche Gefallene gegenüber. Im August 1943 folge das Unternehmen Hermann, bei dem 4.280 Partisanen getötet und

602 vgl VUA, RKG K44 39/11/10; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 313 ff; Werther in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 251 ff. 603 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 315 f. 604 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 316 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 167/226

654 gefangen wurden, bei 52 deutschen Verlusten. All diese Partisanen fehlen in den Kriegsgefangenenstatistiken. Ganze Gebiete wurden verwüstet, um den Partisanen Operationsmöglichkeiten zu nehmen. Obwohl Partisanen von der Roten Armee als Soldaten im Rücken des Feindes betrachtet wurden, galten für sie auf deutscher Seite die völkerrechtlichen Regeln über Kriegsgefangene nicht.605

Die rigorose Verfolgung der Partisanen im Osten und Südosten Europas führte entgegen den deutschen Vorstellungen zu einer Stärkung der Partisanenbewegung, wodurch wiederum ein noch härteres Vorgehen des NS Apparates hervorgerufen wurde. Obwohl dies auch auf deutscher Seite erkannt wurde, kam es nicht zu einer Änderung der Praxis. Gerichtsverfahren sollten auch gegen reguläre Kriegsgefangene nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden. Sowjetische Kriegsgefangene wurden gemäß OKW Befehl vom 22. November 1941 bei Straftaten an den Chef der Sicherheitspolizei übergeben und danach meist exekutiert. Bei der Aussonderung war entscheidend, ob Gefangene als politisch untragbar eingestuft wurden. Im KZ Mauthausen starben rund 5.000 straffällig gewordene Kriegsgefangene, die aufgrund der Befehlslage an den SD übergeben worden waren. Den größten Anteil stellten dabei Russen. Wurden in seltenen Fällen dennoch Gerichtsverfahren durchgeführt, wurden diese vom RSHA überwacht und unerwünschte Urteile an die Parteikanzlei der NSDAP und das Reichsjustizministerium gemeldet. Die Verfolgung richtete sich insbesondere gegen Sabotage und Arbeitsverweigerung, aber auch gegen den Kontakt zu deutschen Frauen und andere Delikte. Ansonsten wurden sie als Arbeitskräfte in der deutschen Industrie und Landwirtschaft oder bei Wehrmachtsverbänden eingesetzt. Die Wehrmacht hatte Interesse daran, Kriegsgefangene zu Hilfsdiensten heranzuziehen, um dadurch mehr Soldaten für einen Fronteinsatz zur Verfügung zu haben. Kriegsgefangene wurden dabei ua bei Fliegerabwehreinheiten oder als Munitionsträger eingesetzt.606

605 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 317 f. 606 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 241; VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K53 39/13/21; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; VUA, RKG K65 39/13/17; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 318 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 53; Werther in Eberlein/Müller/ Schöngarth/Werther 252 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 168/226

VI. Strafvollzug

Der Strafvollzug der deutschen Wehrmacht wies ein differenziertes System von Haftanstalten, Lagern und Sonderformationen auf. Im Falle der Wehrunwürdigkeit und des damit verbundenen Ausschlusses aus der Wehrmacht wurde auch auf zivile Strafvollzugseinrichtungen zurückgegriffen. Bestimmend für den Strafvollzug waren vor allem militärische Interessen und die Umsetzung ideologischer Vorstellungen des NS Staates. Letzteres wurde va durch eine Kooperation der Militärjustiz mit der Militärpsychiatrie erreicht. Politische Gegner, sog Asoziale und Feinde der Volksgemeinschaft wurden in Schutzhaft genommen und in KZ eingewiesen. Vor dem Hintergrund der Dolchstoßlegende, die die Niederlage im Ersten Weltkrieg zersetzenden Elementen hinter der Front zuschrieb, sollte die Wehrmacht von derartigen Einflüssen freigehalten werden. Der Soldat sollte als politischer Soldat im Sinne der NS Ideologie, der Wehrmacht und des Führerstaates erzogen werden. Das Gegenteil des politischen Soldaten waren die sog Minderwertigen, Asozialen und therapieresistenten Störfaktoren. Diese Begriffe wurden von der NS Militärpsychiatrie entwickelt, deren Aufgabe es war, diese Störfaktoren aus der Wehrmacht zu entfernen. Sog Schwächlinge von der Front abzuziehen, wurde als widernatürliche Selektion gebrandmarkt. Die NS- und die Wehrmachtsführung sahen in diesen Soldaten aber auch eine Gefahr für die Manneszucht. Das Reichsgericht stellte bereits am 16. April 1937 fest, dass ein vermindert Zurechnungsfähiger durch sein geringeres Unterscheidungsvermögen und eine niedrigere Hemmschwelle eine Gefahr für die Volksgemeinschaft darstelle. Dies müsse er durch größere Anstrengung ausgleichen. Dafür sei er der Volksgemeinschaft verantwortlich. 1941 stellte das Reichsgericht in weiterer Folge fest, dass ein geistig Minderwertiger die von ihm ausgehende Gefahr für die Volksgemeinschaft durch besondere Anstrengungen ausgleichen müsse. Strenge Strafen könnten geeignet sein, ihn dazu zu veranlassen. Bereits vor Kriegsbeginn wurden Grundsätze definiert. Diese besagten, dass vermindert Zurechnungsfähige keine mildere Behandlung verdienten. Wehrunwürdige schieden aus der Wehrmacht aus. Schwere Psychopathen sollten in Sonderabteilungen, getrennt von anderen Soldaten, möglichst nahe an der Front Dienst verrichten. Die Manneszucht wurde als wichtigstes Element des militärischen Zusammenlebens definiert. Das System des militärischen Strafvollzugs war gekennzeichnet durch Rechtsunsicherheit und Willkür. Verurteilte durchliefen häufig mehrere Vollzugseinrichtungen und waren dabei vom jeweiligen Stammpersonal, insbesondere ihren direkten Vorgesetzten, abhängig. Ein tatsächlicher Vollzug der Strafe erfolgte nur in den Wehrmachtsgefängnissen und Feldstrafgefangenenabteilungen. In allen anderen Strafeinrichtungen erfolgte lediglich eine Verwahrung, die eigentliche Strafverbüßung sollte erst nach Kriegsende erfolgen.607

Nach der Bestätigung eines Urteils wurde der Strafvollzug gem § 102 KStVO vom Gerichtsherrn angeordnet. Er konnte dabei auch die Präsidenten der zivilen Landesgerichte um Übernahme des Vollzugs ersuchen.

607 vgl Ausländer in Haase/Paul 50 f; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 34; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 116; Form in Pirker/Wenninger 58; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 59; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 135; Geldmacher, Strafvollzug. Der Umgang der Deutschen Wehrmacht mit militärgerichtlich verurteilten Soldaten, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 420 ff; Klausch, 500 18 ff; Klausch, Begnadigung zum Heldentod. Über Torgau-Fort Zinna zur Bewährungstruppe 500, in Haase/Oleschinski (Hrsg), Das Torgau-Tabu. Wehrmachtstrafsystem, NKWD-Speziallager, DDR- Strafvollzug2 (1998) 61 f; Langelüddeke, Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, ZWehrR 1939/40, 251; Manoschek in Pirker/Wenninger 51 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 321 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 227 ff; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 165 ff; Schöngarth/Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 139 ff; Schwinge, Die Behandlung der Psychopathen im Militärstrafrecht, ZWehrR 1939/40, 110; Skowronski, Die Feldstraflager der Wehrmacht im Spiegel von Nachkriegsermittlungen deutscher Justizbehörden, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS- Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 243 f; Walmrath, Iustitia 151 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 647 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 42. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 169/226

Wehrunwürdige und psychisch Auffällige sollten von den anderen Soldaten getrennt werden. Durch eine Einweisung in Pflegeanstalten entkamen sie allerdings den Gefahren der Front. Darin wurde ein Anreiz zur Nachahmung gesehen. Wehrfeindlich eingestellte Soldaten sollten nicht von der Front entfernt werden und ihre zersetzende Tätigkeit in der Heimat fortsetzen können. Um dieses Dilemma der NS Ideologie zu lösen, sollten derart klassifizierte Soldaten in KZ eingewiesen werden. Die unbestimmten Begriffe des Zersetzers und Psychopathen und der Wehrunwürdigen führten zu einer extensiven Auslegung. Unangepasste Soldaten konnten leicht als asozial und damit als Zersetzer eingestuft werden. Ein Problem wurde darin gesehen, dass die Regelungen bewusst zum Entzug vom Wehrdienst genutzt werden könnten und dadurch erst recht eine zersetzende Wirkung eintreten könnte. Im Verlauf des Krieges führte eine hohe Zahl an Wehrunwürdigen und gesondert Verwahrten auch tatsächlich zu personellen Problemen, insbesondere als die Verluste der Wehrmacht zunahmen. Sonderabteilungen sollten daher gebildet und in Frontnähe eingesetzt werden. Als wehrunwürdig definierte § 13 WG Soldaten, die mit Zuchthaus, dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, dem Verlust der Wehrwürdigkeit oder wegen staatsfeindlicher Betätigung bestraft worden waren oder Maßregeln der Sicherung und Besserung gem § 42a RStGB unterlagen. Insbesondere zahlreiche Urteile wegen staatsfeindlicher Betätigung wirkten sich bereits 1937 negativ auf den Wehrdienst aus. Daher wurde festgelegt, Wehrunwürdigkeit bei staatsfeindlicher Betätigung erst bei einer Strafe von mindestens neun Monaten Gefängnis zu verhängen. Andernfalls würde ein unbedeutendes Delikt den Täter vom Ehrendienst am deutschen Volk ausschließen.608

Zeiten der Untersuchungshaft wurden gem § 107 Abs 3 KStVO nicht auf die Strafe angerechnet. Lediglich die Zeit zwischen der Urteilsverkündung und der Überstellung in eine Strafvollzugseinrichtung konnte vom Gerichtsherrn auf die Strafe angerechnet werden.

Die KStVO sah in §§ 112 ff auch ein Gnadenrecht vor, das aufgrund seiner Ausgestaltung allerdings nicht in großem Umfang anwendbar war. Inhalt des Gnadenrechts war einerseits die Möglichkeit Strafverfahren niederzuschlagen und andererseits Strafen aufzuheben oder abzumildern. Bereits eingetretene Rechtswirkungen mussten im Rahmen einer Gnadenentscheidung eigens aufgehoben werden, ansonsten erstreckte sich die Entscheidung nur auf die Zukunft.

Gem § 114 KStVO übten das Gnadenrecht der Führer und die Oberbefehlshaber der Wehrmachtsteile aus. Reservatrechte Hitlers waren dabei die Niederschlagung von Strafverfahren und die Ausübung des Gnadenrechts bei Urteilen des Reichskriegsgerichts sowie bei Urteilen gegen Offiziere wegen Missbrauchs der Dienstgewalt. Bei allen anderen Urteilen konnte er das Gnadenrecht an sich ziehen. Ansonsten stand das Gnadenrecht den Oberbefehlshabern der Wehrmachtsteile zu, die dieses wiederum unter bestimmten Umständen an Befehlshaber, denen Gerichtsherren unterstanden, weiterübertragen konnten. Diese untergeordneten Befehlshaber konnten allerdings das Gnadenrecht nur ausüben, sofern die verhängte Freiheitsstrafe unter zwei Jahren lag.

Das Gnadenrecht konnte gem § 115 KStVO sowohl von Amts wegen als auch auf Antrag ausgeübt werden. Der Verurteilte musste gem § 116 KStVO sein Gnadengesuch beim Gerichtsherrn einbringen, der sich dazu äußern musste. Der Gerichtsherr musste das Gnadengesuch mit den Gerichtsakten und seiner Stellungnahme an den zuständigen Befehlshaber weiterleiten. Musste die Entscheidung durch Hitler selbst getroffen werden, waren die Unterlagen über den Oberbefehlshaber des jeweiligen

608 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; Klausch 500 14; Klausch, 999 20 ff; Klausch, Die Sonderabteilungen, Strafeinheiten und Bewährungstruppen der Wehrmacht, in Kirschner (Hrsg), Deserteure, Wehrkraftzersetzer und ihre Richter. Marburger Zwischenbilanz zur NS-Militärjustiz vor und nach 1945 (2010) 198; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 322 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 227 ff; Walmrath, Iustitia 200 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 645. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 170/226

Wehrmachtsteils an den Chef OKW weiterzuleiten. Eine Aussetzung des Strafvollzugs war weiterhin nur für den Fall vorgesehen, dass das Gnadengesuch vom Gerichtsherrn befürwortet wurde und er mit einem zumindest teilweisen Gnadenerweis rechnete, der eine weitere Strafvollstreckung gegenstandslos machen würde.

A. Todesstrafe

Gem §103 KStVO sollte ein Todesurteil grundsätzlich durch Erschießen vollzogen werden. Später wurden auch Hinrichtungen durch Erhängen und Enthaupten vorgesehen. Über die Art der Hinrichtungsmethode entschieden gem einer Ermächtigung Hitlers vom 4. März 1943609 die Gerichtsherrn. Für das Ersatzheer befahl Himmler, seit Juli 1944 BdE, am 21. September 1944, dass Verurteilte grundsätzlich erschossen werden sollten. Andere Hinrichtungsarten mussten von ihm genehmigt werden. In den Hinrichtungskommandos sollten zur Abschreckung va vorbestrafte Soldaten verwendet werden. Erschießungen erfolgten im Ersatzheer va auf Schießplätzen, aber auch in Wehrmachtsgefängnissen. Allein im Reichsgebiet wurden so mehr als 12.000 Exekutionen durchgeführt. Inklusive der besetzten Gebiete betrug die Zahl der vollzogenen Todesurteile rund 18.000 bis 20.000. Eine genaue Zahl lässt sich aufgrund der lückenhaften Quellenlage nicht mehr ermitteln. Die meisten Hinrichtungen fanden in Berlin am Sitz des ZdH und GWKB statt. Auf Verlangen wurden die Hingerichteten ihren Angehörigen in einem verschlossenen Sarg übergeben. Die Beerdigung durfte allerdings nur am Ort der Exekution erfolgen und musste von den Angehörigen bezahlt werden. Feierlichkeiten durften keine stattfinden. Wurde die Herausgabe nicht verlangt, wurden die Leichen dem Anatomischen Institut einer Universität oder der Militärärztlichen Akademie übergeben. Im Feldheer erfolgte die Exekution von verurteilten Wehrmachtsstrafgefangenen und Feldstraflagerinsassen direkt in den Feldstrafgefangenenabteilungen und Feldstraflagern, wobei die übrigen Gefangenen bei den Exekutionen zusehen mussten. Eine genaue Zahl der Hingerichteten lässt sich auch für das Feldheer nicht mehr ermitteln.610

Gem § 102 KStVO konnten die Gerichtsherrn aus wichtigen Gründen die zivile Justiz um Vollziehung von Todesurteilen ersuchen. Aufgrund fehlender Kapazitäten auf den Militärschießplätzen wurde diese Möglichkeit zunehmend häufiger genutzt und entwickelte sich von der Ausnahme zur Normalität. In den zivilen Vollzugseinrichtungen erfolgten die Hinrichtungen durch Erhängen oder Enthaupten. Erhängen wurde va nach der qualvolleren sog österreichischen Methode durchgeführt, bei der der Hinzurichtende nicht durch einen Genickbruch starb, sondern erdrosselt wurde. Da auch die zivile Justiz bald überlastet war, gab es auch Überlegungen, Hinrichtungen durch Häftlinge, die nach Todesurteilen zu Zuchthausstrafen begnadigt worden waren, durchführen zu lassen und neue Hinrichtungsmethoden wie zB durch Strom einzusetzen. Ersteres scheiterte am Widerstand der Generalstaatsanwälte in Berlin und Naumburg. In Österreich erfolgten Hinrichtungen in zivilen Haftanstalten va in Wien und Graz.611

Die meisten Exekutionen erfolgten aber durch die primär vorgesehene Hinrichtungsart des Erschießens. In Österreich wurde von 1940 bis 1945 va der Schießplatz in Wien Kagran genutzt. Dort erfolgten mindestens 126 Exekutionen, davon betrafen mindestens 110 Verurteilte der NS Militärjustiz

609 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 327. 610 vgl VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K53 39/13/20; VUA, RKG K53 39/13/20; VUA, RKG K64 39/9/20; Baumann L in Kirschner 19; Garbe in Pirker/Wenninger 35; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 421; Hankel in Kirschner 301; Klausch in Baumann/Koch 79 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 396 ff; Skowronski in Kirschner 186; Walmrath, Iustitia 225 f; Wette in Kirschner 263; Wüllner, NS-Militärjustiz2 22 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 30. 611 vgl VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K44 39/11/10; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 422 f; Klausch in Baumann/Koch 79 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 398 f; Skowronski in Kirschner 183 ff; Walmrath, Iustitia 225; Wüllner, NS-Militärjustiz2 600 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 171/226 und 14 Angehörige der SS. In Kagran wurden aber nicht nur Todesurteile der in Wien ansässigen Gerichte der Wehrmachtskommandantur Wien, des Luftgaues XVII und der Division 177 sowie der Wiener Außenstellen des RKG, ZdH und GWKB vollzogen, sondern auch der Division 418, zunächst in Klagenfurt und ab November 1944 in Salzburg stationiert, der Kriegsmarine in Linz, der deutschen Heeresmission in Rumänien und des SS- und Polizeigerichts. Am 7. Februar 1945 erfolgte in Kagran die Exekution von 14 wegen Wehrkraftzersetzung durch Selbstverstümmelung Verurteilten, darunter 9 Soldaten und 5 Zivilisten. Das Exekutionskommando bestand aus sieben Offizieren und 70 Soldaten aus sieben verschiedenen Einheiten unter der Leitung von Oberfeldrichter Everts vom Gericht der in Wien stationierten Division 177. 168 Soldaten, darunter auch sechs Offiziere, mussten als Zuschauer der Exekution beiwohnen. Darüber hinaus waren auch Beamte der Kriminalpolizei, der Kommandant der Wiener Sicherheitspolizei und der Kreisleiter der NSDAP anwesend. In Summe nahmen 257 Personen an dieser Hinrichtung teil. Diese Hinrichtung wurde von Everts als Propagandamittel genutzt. Weitere Hinrichtungen erfolgten auch in Wiener Wehrmachtsgefängnissen und in Einrichtungen der zivilen Justiz. Von der zivilen Justiz wurden in Wien von Ende Juli 1940 bis März 1945 mindestens 73 Todesurteile gegen Soldaten vollzogen. Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen. Weitere militärische Hinrichtungsstätten in Österreich befanden sich zB im Amraser Steinbruch in Innsbruck, dem Schießplatz Feliferhof in Graz und anderen Orten.612

Trotz zahlreicher Hinrichtungen führten aber nicht alle Todesurteile zu Exekutionen. Zahlreiche Todesstrafen wurden in Freiheitsstrafen umgewandelt und zur Frontbewährung ausgesetzt. Dies war vor allem dem stetig steigenden Personalbedarf der Wehrmacht während des Kriegsverlaufs geschuldet. Möglichst viele Soldaten sollten für einen Kampfeinsatz gewonnen werden. Dazu wurde auch auf zum Tode verurteilte Soldaten zurückgegriffen. Mit der Dauer des Krieges stiegen daher die Chancen zum Tode Verurteilter, dass die Strafe nicht vollzogen, sondern zur Bewährung bei der eigenen Truppe oder in einer Sonderformation ausgesetzt wurde. Gem § 13 WG iVm § 31 MStGB verlor ein zum Tode Verurteilter seine Wehrwürdigkeit. Da es sich beim Dienst mit der Waffe gem der NS Ideologie um einen Ehrendienst handelte, wurden die ausgewählten Soldaten zunächst für bedingt wehrwürdig erklärt. Bei Bewährung sollten sie ihre Wehrwürdigkeit in vollem Umfang wiedererlangen.613

Neben der Aufhebung eines Urteils durch einen Gerichtsherrn konnte auch ein Gnadenverfahren zur Aufhebung der Todesstrafe führen. Gem § 14 Abs 1 Wehrmachtsgnadenordnung (WGnO) vom 1. Juli 1938 durfte ein Todesurteil nur vollzogen werden, wenn der Führer sein Gnadenrecht nicht nutzte. Dies änderte sich allerdings nach Kriegsbeginn mit Einführung der KStVO. Gem § 116 KStVO sollte der Strafvollzug nur dann ausgesetzt werden, wenn ein Gnadengesuch vorlag, das vom Gerichtsherrn befürwortet wurde, und ein Vollzug der Strafe den erwarteten Gnadenerweis obsolet machen würde. Letzteres traf auf Todesstrafen immer zu. Eine analoge Bestimmung fand sich in der am 23. August 1939 vom ObdH erlassenen Gnadenordnung für das Heer im Krieg und bei besonderem Einsatz (KHGnO).614 Die Marinegerichte wurden vom OKM informiert, dass die Strafvollziehung auch dann ausgesetzt werden konnte, wenn es sich um Fälle grundsätzlicher Bedeutung handelte, selbst wenn das Gnadengesuch vom Gerichtsherrn nicht befürwortet wurde. Das Gnadenrecht selbst kam bei

612 vgl Baumann/Koch, Richter, in Baumann/Koch 216; Forster/Geldmacher/Walter in Manoschek 399; Fritsche, Selbstverstümmler, in Manoschek 204; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 421 f; Klausch in Baumann/Koch 86; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 397 ff; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 66 ff; Metzler, Zeitzeugeninterviews, in Manoschek 535 f; Riegler in Pirker/Wenninger 170 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 272 ff. 613 vgl Klausch, 500 14; Klausch, 999 20 ff; Klausch in Kirschner 198; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 393; Wüllner, NS- Militärjustiz2 645. 614 vgl VUA, RKG K65 39/13/17. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 172/226

Todesurteilen grundsätzlich den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte zu. Bei Todesurteilen gegen Offiziere lag das Gnadenrecht allerdings bei Hitler selbst.615

Gnadenverfahren wurden entsprechend ideologischer Vorgaben als Erziehungsmittel eingesetzt. Gnadenverfahren sollten möglichst rasch abgewickelt werden. Die Stellungnahmen der Richter konnten nicht nur von den für Gnadenverfahren zuständigen Dienststellen, sondern auch von allen untergeordneten Gerichtsherrn eingesehen werden, wenn sie die Urteilsvollziehung trotz des Gnadengesuchs veranlassen wollten. In einer Ermahnung vom 6. Dezember 1939 erklärte ObdH Brauchitsch, dass jede unbegründete Verzögerung der Hinrichtung die abschreckende Wirkung eines Todesurteils verringere. Das Verfahren sollte rasch durchgeführt werden. Auch ein Gnadengesuch sei nicht immer ein Grund für den Aufschub der Vollziehung eines Todesurteils. Am 17. Juli 1941 ordnete das OKH an, dass Todesurteile zu vollziehen seien, wenn es die Manneszucht erfordere. Als Beispiele für das Vorliegen dieses Erfordernisses werden demonstrativ eine angespannte Kampflage, das Auftreten von umfangreichen Zersetzungserscheinungen, die besondere Gefährlichkeit des Einzelfalles und die asoziale, schwer kriminelle Persönlichkeit des Täters genannt. In derartigen Fällen sollten keine Gnadengesuche vorgelegt werden, da durch die folgende Verzögerung der Hinrichtung die abschreckende Wirkung verlorengehe. Die Vorlage von Gnadengesuchen beim OKH wurde damit deutlich eingeschränkt. Trotzdem legte der Armeeoberbefehlshaber Norwegen General von Falkenhorst ein Urteil der 25.Panzerdivision mit einem Gnadengesuch dem OKW vor. Der Chef OKW Keitel wandelte das Urteil in 15 Jahre Gefängnis um und ließ es in einer Feldstrafgefangenen- abteilung vollziehen. Hierbei handelte es sich um einen Ausnahmefall. ObdL Göring übertrug am 1. Juni 1944 sein Gnadenrecht an die Kommandanten der Luftflotten. Gnadenerweise nach Todesurteilen konnten von ihnen abgelehnt werden, wenn die Aufrechterhaltung der Manneszucht eine unverzügliche Strafvollziehung notwendig machte. War der Luftflottenkommandant nicht zu erreichen, konnten auch die Gerichtsherrn diese Entscheidung treffen. Im Ersatzheer wies der BdE am 5. Juli 1944 die Gerichtsherrn an, Todesurteile unverzüglich zu vollziehen. Gnadengesuche sollten die Vollziehung nicht hemmen.616

Nach dem Ende des Polenfeldzugs erließ Hitler am 4. Oktober 1939 einen besonderen Gnadenerlass,617 in dem er festlegte, dass bis zu diesem Datum auf polnischem Gebiet wegen der angeblich von Polen begangenen Gräuel begangene Straftaten nicht verfolgt werden durften. Bereits laufende Strafverfahren mussten eingestellt und verhängte Strafen aufgehoben werden. Mit dem Barbarossaerlass vom 13. Mai 1941618 wurde die Justiz in den besetzten sowjetischen Gebieten bei Verbrechen deutscher Soldaten gegen die Bevölkerung sogar völlig ausgeschaltet.619

B. Sonderabteilungen

Am 25. Mai 1936 gab Reichskriegsminister von Blomberg die geplante Aufstellung von Lagerformationen bekannt. Diese waren vorgesehen für Soldaten, die aufgrund ihres Vorlebens eine Gefahr für den Geist der Truppe darstellten, sofern sie ihre Arbeitsdienstpflicht nicht einwandfrei erfüllt hatten, die aufgrund ihrer gesamten Haltung, Einstellung und Gesinnung unerwünscht waren sowie

615 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 393 f; Walmrath, Iustitia 258 ff. 616 vgl VUA, RKG K35 39/9/23; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 394 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 116 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 588 ff. 617 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 100. 618 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 172 ff. 619 vgl Bade in Bade/Skowronski/Viebig 15; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 12 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 31 f; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 112; Fritsche, Gewaltdelikte, in Manoschek 290; Garbe in Pirker/Wenninger 37; Hankel in Kirschner 298 f; Kirschner, Wehrmachtjustiz, in Kirschner 69; Manoschek, Terrorinstrument, in Manoschek 21 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 394; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 205 ff; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 64 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 428 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 173/226 denjenigen, die wegen unehrenhafter Handlungen gerichtlich bestraft worden waren. Dazu zählten Verurteilte zu Gefängnisstrafen über ein Jahr, wegen Sittlichkeitsverbrechen gem §§ 175 ff RStGB sowie wegen Rückfalldiebstahls. An der Ausarbeitung dieser Regelung waren auch die Rechtsabteilungen der Wehrmacht und ihrer Teilstreitkräfte beteiligt. AWA informierte im Jänner 1936 die Oberbefehlshaber der Teilstreitkräfte, dass eine Strafabteilung wegen Dienstentziehung aufgrund kommunistischer Gesinnung eingerichtet werden sollte. Nach einem Diskussionsprozess wurden schließlich Abteilungen für zwar wehrwürdige, aber schwer erziehbare Soldaten eingerichtet, die AHA unterstellt wurden. Ab Oktober 1936 wurden sechs Sonderabteilungen in den Wehrkreisen eingerichtet. Insbesondere Soldaten, die wegen ihrer Haltung, Einstellung und Gesinnung unerwünscht waren, wurden in diese Sonderabteilungen eingewiesen. Dies geschah als Disziplinierungsmaßnahme aufgrund einer militärischen Entscheidung ohne Einbindung eines Gerichts. In diese Gruppe fielen Störer, Nachlässige, sog Asoziale und Versager. Kategorien, die von der NS Militärpsychiatrie geschaffen wurden. Auch Dienstpflichtige, die wegen ehrloser Handlungen aus der NSDAP ausgeschlossen wurden oder versuchten, sich durch Selbstverstümmelung dem Wehrdienst zu entziehen, wurden in die Sonderabteilungen eingewiesen, auch wenn sie nicht mehr tauglich für den Dienst mit der Waffe waren. Wer sich den Erziehungsmethoden der Sonderabteilungen nicht unterwarf, konnte der Gestapo übergeben werden.620

Die Wehrmacht betrachtete die Sonderabteilungen als Erziehungseinrichtungen, um die Soldaten zu einem gesetzmäßigen Leben zu erziehen. Die Einstellung zu Staat und Volk sollte beeinflusst werden. Sie sollten streng aber gerecht behandelt und zu unbedingtem Gehorsam erzogen werden. Die Versetzung in eine reguläre Einheit wurde als lohnendes Ziel dargestellt. Bei sog linken Psychopathen und Störern wirkte die Erziehung allerdings nicht. Wehrmachtspsychologen machten dafür die inhomogene Zusammensetzung der Sonderabteilungen verantwortlich. Erziehungsziele und Erziehungsmethoden wurden nicht hinterfragt, da dies die NS Ideologie grundsätzlich in Frage gestellt hätte. Die Erziehung sollte einen Soldaten hervorbringen, der die politischen Ziele der NS Ideologie vertrat und bereit war, sein Leben dafür einzusetzen.621

Sonderabteilungen wurden isoliert auf Truppenübungsplätzen stationiert. Neben Arbeitsdienst und Exerzierübungen fand auch Unterricht zur Erziehung zum politischen Soldaten der NS Wehrmacht statt. Bereits wegen geringfügiger Vergehen wurden Arreststrafen verhängt. So zB fünf Tage strenger Arrest gegen einen Soldaten, weil er sich ohne Erlaubnis im geschärften Arrest seine Socken ausgezogen hatte. Zwischen 1936 und Frühjahr 1938 stieg die Zahl der Soldaten in Sonderabteilungen von 483 auf 1.357. Trotz der verhältnismäßig geringen Mannschaftsstärke waren rund ein Viertel aller desertierten Soldaten vor Kriegsausbruch Soldaten einer Sonderabteilung. Dieser überproportionale Anteil lässt Rückschlüsse auf den Druck, der auf die Soldaten ausgeübt wurde, zu. In Einzelfällen wurden Soldaten aus Sonderabteilungen in KZ eingewiesen. Dies geschah bis zur Auflösung der Abteilungen nach dem Angriff auf Polen 1939. Ein ärztliches Merkblatt über Sonderabteilungen ging grundsätzlich von einer Wehrunwilligkeit aus. Jede Fluchtmöglichkeit würde

620 vgl Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 426 f; Holstein, Überblick über die Sonderabteilungen der Wehrmacht, ZWehrR 1942/43, 124; Klausch, 500 19 ff; Klausch, „Erziehungsmänner“ und „Wehrunwürdige“. Die Sonder- und Bewährungseinheiten der Wehrmacht, in Haase/Paul (Hrsg), Die anderen Soldaten. Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg (1995) 68 f; Klausch in Kirschner 200 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 324 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 227 ff; Müller in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 165 ff; Walmrath, Iustitia 200 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 659 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 31. 621 vgl Klausch, 500 19 ff; Klausch in Haase/Paul 68 f; Klausch in Kirschner 200; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 326; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 231 ff; Walmrath, Iustitia 200 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 659 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 31. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 174/226 genutzt, um sich dem Wehrdienst zu entziehen. Mit Kriegsbeginn wurden die Friedenssonder- abteilungen aufgelöst, und ihre Angehörigen wurden zu regulären Einheiten versetzt.622

Ab 8. Jänner 1940 wurden sechs neue Sonderabteilungen des Ersatzheeres auf den Truppenübungsplätzen Stablack, Wandern, Altengrabow, Schwarzenborn, Grafenwöhr und Döllersheim (heute Allentsteig in Niederösterreich) eingerichtet. Die Vorschriften der bisherigen Friedenssonderabteilungen galten für sie weiterhin. Voraussetzung für die Einweisung in die Sonderabteilungen des Ersatzheeres waren meist Disziplinarstrafen ohne erkennbaren Erfolg. Auch Reservisten mit schweren Vorstrafen konnten auf Anordnung der Wehrkreisbefehlshaber in die Sonderabteilungen einberufen werden. Durch Wehrmachtsgerichte Verurteilten stand dieser Weg allerdings nicht offen. Die Soldaten wurden zu schweren Arbeiten, Gefechts- und Exerzierdienst herangezogen. Unterrichte sollten ihnen die Ziele des Krieges nahebringen. Bereits im Frühjahr des Jahres 1940 wurden einige Sonderabteilungen des Ersatzheeres wegen Personalmangels wieder aufgelöst, darunter auch Döllersheim. Hier machte sich eine verstärkte Tätigkeit der Militärgerichte bemerkbar. Militärgerichtlich Verurteilte wurden nicht in die Sonderabteilungen versetzt, sondern landeten in Militärgefängnissen. Ab Ende 1942 existierte von allen Sonderabteilungen des Heeres nur noch Schwarzenborn, die allerdings zumindest bis März 1945 aufrechterhalten wurde.623

Ab 1. Februar 1940 wurden auch im Feldheer drei Feldsonderabteilungen, je eine pro Heeresgruppe, aufgestellt. Auch in ihnen sollten von den NS Ideologen und Befehlshabern als charakterlich minderwertig charakterisierte Soldaten untergebracht werden. In Allgemeinen Heeresmitteilungen vom 8. Jänner 1940 wurde dazu ausgeführt, dass eine Versetzung ins Ersatzheer nicht in Frage komme, weil charakterlich Minderwertige eine Gefahr für die Disziplin der übrigen Soldaten bildeten. Die Feldsonderabteilungen wurden durch eine Verfügung des AHA vom 24. August 1941 in ein Feldsonderbataillon integriert. Als Erziehungs- und Strafeinheiten umfassten sie von den Nationalsozialisten als charakterlich minderwertig und für die Truppe untragbar eingestufte Soldaten, auch wenn diese eine gerichtliche Strafe bereits verbüßt hatten. Soldaten, die durch ein Feldkriegsgericht verurteilt wurden, gelangten allerdings nicht in eine Feldsonderabteilung, sondern wurden in ein Militärgefängnis und später in Feldstrafgefangenenabteilungen, Feldstraflager und Bewährungseinheiten eingewiesen. Nach drei Monaten konnte der Führer einer Feldsonderabteilung vorschlagen, einen Soldaten zur Truppe zurückzuversetzen oder ihn der Polizei zu übergeben. Den Heeresgruppen A, B und C wurde je eine Feldsonderabteilung zugeteilt, die an der Ostfront im Gefahrenbereich, zB zur Minenräumung, eingesetzt werden sollten. Bevor Soldaten in eine Feldsonderabteilung versetzt wurden, mussten Arreststrafen verbüßt werden. Dies erfolgte in mobilen Heeresgefängnissen der Armeen. Im Oktober 1943 wurden drei Kompanien der Feldsonder- abteilungen in Finnland eingesetzt. Eine zwischenzeitlich in den Abteilungen existierende vierte Kompanie wurde im August 1943 aufgelöst.624

Im Bereich der Kriegsmarine übernahmen die Schiffsstammabteilungen 30 und 31 und die Kriegssonderabteilung Hela die Aufgaben der Sonderabteilungen. Die Kriegssonderabteilung wurde im Juli 1942 aufgelöst und in eine Marinekompanie des Feldsonderbataillons überführt. Als 5. Kompanie des Feldsonderbataillons wurden die Marinesoldaten Angehörige des Feldheeres. Im Februar 1943 wurde diese Kompanie als Marinefeldsonderkompanie Wald-Hela wieder aus dem Heer

622 vgl Klausch in Haase/Paul 70; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 327 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 660 ff. 623 vgl Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 426 f; Klausch, 500 37; Klausch, 999 53; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 328 ff; Walmrath, Iustitia 202; Wüllner, NS-Militärjustiz2 660 ff. 624 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 37 ff; Holstein, Überblick über die Sonderabteilungen der Wehrmacht, ZWehrR 1942/43, 124; Klausch, 500 39 ff; Klausch, 999 53 f; Klausch in Haase/Paul 71; Klausch in Kirschner 202; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 328 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 231 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 660 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 31. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 175/226 herausgelöst und der Marinestation Ostsee unterstellt. Selbst MR stellte fest, dass die Behandlung der Soldaten in der Marinefeldsonderkompanie nichts mit militärischer Erziehung zu tun habe. Die Soldaten wurden von den Unteroffizieren willkürlich misshandelt und gequält. Dadurch würden die Soldaten nicht auf einen Fronteinsatz vorbereitet sondern zur Auflehnung getrieben. KZ, Fahnenflucht oder Tod wären die Folge. Tatsächlich wurden zahlreiche Todesurteile wegen Fahnenflucht gefällt. Diese Beschwerde der MR zeigte Erfolg. OKM informierte am 3. Oktober 1944 das Marineoberkommando Ostsee, dass die Marinefeldsonderkompanie aufzulösen sei. Der Zeitpunkt, bis zu dem dies umgesetzt werden könnte, sollte bis zum 30. Oktober 1944 gemeldet werden. Die Beschwerde blieb aber eine Ausnahme. Misshandlungen und Quälereien erfolgten darüber hinaus auch in anderen Erziehungs- und Lagereinheiten. Die Folgen entsprachen den Prognosen der MR.625

Im Bereich der Luftwaffe wurde im Jänner 1940 ein Prüfungslager in Leipzig eingerichtet, das 1943 wieder aufgelöst wurde. Als Ersatz fungierten zunächst die Luftwaffenjägerkompanie zbV 14 und ab August 1943 die Sonderkompanien zbV 1 bis 3, die zu gefährlichen Arbeiten in Feindnähe eingesetzt werden sollten. Bewährten sich die Soldaten in den Augen ihrer Vorgesetzten, wurden sie zum Feldjägerbataillon zbV zum Fronteinsatz versetzt, ansonsten wurden sie in ein Feldstraflager oder KZ eingewiesen. Im Prüfungslager fand va Exerzierdienst statt. Daneben gab es auch Unterrichte über Politik, Strafrecht, Erbgesundheitsgesetze und preußischen Drill. Truppenärzte erstellten Sippschaftstafeln und kategorisierten die Soldaten.626

Die Bedingungen in den Feldsonderabteilungen von Heer, Luftwaffe und Kriegsmarine waren ähnlich. In Allgemeinen Heeresmitteilungen wurde 1940 festgelegt, dass die Einweisung in eine Feldsonderabteilung eine Entziehung der Freiheit bedeute. Die Soldaten sollten bei schmaler Kost, nur 80% des normalen Verpflegungssatzes, streng behandelt werden und schwere und gefährliche Arbeiten erledigen. Der Vollzug unterlag den Bestimmungen für Straflager. Damit wurden die Sonderabteilungen zu KZ-ähnlichen Einrichtungen im Kriegsgebiet. Der leitende Arzt der Abteilung II des Ortslazaretts Valencienne in Frankreich Adam stellte während einer dreimonatigen Tätigkeit bei der 1940 dort stationierten Feldsonderabteilung fest, dass die Soldaten harte, schmutzige und zT eklige Arbeiten wie das Ausgraben von Minen oder Entfernen von Leichen erledigen mussten. Die Arbeiten waren nur in Arbeitskleidung durchführbar, die täglich getragen werden musste. Eine Reinigung fand einmal wöchentlich statt. Warmes Wasser und Seife fehlten. Die Soldaten mussten am folgenden Tag in der noch nassen Kleidung unabhängig von der Witterung weiterarbeiten. Trotz des schweren Dienstes über zehn bis 14 Stunden täglich erhielten die Soldaten nur 80% der normalen Verpflegung eines Angehörigen des Feldheeres. Die Folge waren teils erhebliche Gewichtsabnahmen der Sondersoldaten. Das Ziel der Festigung von Verantwortungsbewusstsein und Ehrgefühl konnte auf diese Weise wohl kaum erreicht werden. Bei Versagen erfolgte die Einweisung in KZ. Von 8. bis 12. Juni 1940 mussten Soldaten der Feldsonderabteilung 16 rund 180 Tote aus einem Panzerwerk bergen. Die Leichen waren laut Bericht des Kommandanten halbverwest, die Gräben des Panzerwerks bis zu 30 Meter tief, und es gab keine Frischluftzufuhr. Die Soldaten arbeiteten in Schichten von 29 Stunden. Der Armeerichter der vorgesetzten 16. Armee leitete den Bericht an die unterstellten Gerichte zur Bekanntgabe an die Truppe weiter, da darin der Zweck der Sonderabteilungen besonders deutlich zum Ausdruck käme. Daher wäre er zur Belehrung der Truppe geeignet. Zwischen März 1940 und Anfang Jänner 1941 wurden insgesamt 20 Todes-, Zuchthaus-

625 vgl VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K43 39/11/13; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 426 f; Holstein, Überblick über die Sonderabteilungen der Wehrmacht, ZWehrR 1942/43, 124; Klausch, 500 37; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 329 ff; Walmrath, Iustitia 201 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 667 ff. 626 vgl Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 427; Holstein, Überblick über die Sonderabteilungen der Wehrmacht, ZWehrR 1942/43, 124; Klausch, 500 37; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 330 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 667 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 176/226 und Gefängnisurteile gegen Soldaten der Feldsonderabteilung 16 gefällt, davon zwölf wegen Fahnenflucht und sechs wegen Befehls- und Gehorsamsverweigerung.627

C. Emslandlager

Soldaten, die aufgrund einer Zuchthausstrafe oder des ausdrücklichen Ausspruchs eines Gerichts gem § 13 WG wehrunwürdig wurden, wurden aus der Wehrmacht ausgestoßen. Daher kam für sie ein Strafvollzug in einer Wehrmachtseinrichtung nicht in Frage. Sie wurden als Zivilisten der Reichsjustizverwaltung übergeben und in weiterer Folge über das Gefängnis Lingen in ein Straflager im Emsland eingewiesen. Erschwerend kam hinzu, dass die Zeit in den Lagern nicht auf die verhängte Strafe angerechnet wurde. Der eigentliche Strafvollzug sollte erst nach Kriegsende erfolgen. Die Zahl der Wehrunwürdigen, die in Emslandlager eingewiesen wurden, wird auf 25.000 bis 30.000 geschätzt. Sie wurden in einer sog Zuchthäuslerstrafkompanie zusammengefasst. Im Jänner 1943 waren von 4.452 Gefangenen 3.664 Wehrunwürdige. Ab 1941 wurden Wehrunwürdige bei einer entsprechenden Beurteilung durch das Wachpersonal an die Bewährungstruppe 500 abgegeben. Ebenso wurden rund 3.160 Wehrunwürdige an das Strafgefangenenlager Nord in Norwegen überstellt, davon allein 1.100 am 13. August 1942 und 1.000 am 9. September 1942. Dazu kamen noch 300 Soldaten, die in Norwegen verurteilt wurden. Auch aus dem Strafgefangenenlager Nord wurden Wehrunwürdige zur Bewährungstruppe versetzt. Von 1942 bis 1945 starben in den Lagern 814 Gefangene, nur 164 wurden von den Alliierten befreit. Die Statistiken sind allerdings mit Unsicherheiten behaftet, sodass die tatsächlichen Zahlen höher liegen dürften. Von 217 Todesfällen wurden 99 durch Krankheiten, meist zurückzuführen auf Unterernährung und Erschöpfung, verursacht. Zumindest 23 Gefangene wurden erschossen und sechs gehängt. In zahlreichen Fällen wurden keine Todesursachen erfasst. Prügel und andere Quälereien waren auch in den Emslandlagern an der Tagesordnung. Die Bewachung oblag Mannschaften der SS und SA.628

Am 5. September 1944 ordnete Himmler als BdE an, den Strafvollzug in den Dienst der Kriegsführung zu stellen. Wehrunwürdige sollten ab nun an Zuchthauskompanien der Feldstrafgefangenen- abteilungen oder in ein KZ überstellt werden, falls die Strafe nicht zur Feindbewährung ausgesetzt wurde. Am 15. September 1944 informierte der Chef HR die Gerichte des Ersatzheeres, dass bei der Verhängung einer Maßregel der Sicherung und Besserung die Einweisung in ein KZ anzuordnen sei. In den Vollzugsentscheidungen musste festgelegt werden, ob das Urteil in einer Feldstrafgefangenenabteilung zu vollziehen war, das Urteil zur Feindbewährung in einer Bewährungstruppe ausgesetzt oder der Gefangene der Gestapo zum Arbeitseinsatz übergeben wurde. Außerdem forderte Himmler die Rücküberstellung von Wehrunwürdigen, die bereits an die zivile Justiz übergeben worden waren, worüber es allerdings zu einem Konflikt mit dem Reichsjustizminister und dem Rüstungsminister kam. Generell konnten Gerichtsherren die zivile Justiz um die Durchführung des Strafvollzugs ersuchen. Dies galt selbst für die Vollziehung von Todesurteilen. Am 12. Oktober 1944 entschied das Reichsjustizministerium, nur jene Gefangenen wieder an die Wehrmacht zurückzuführen, die in eine Bewährungstruppe einberufen werden sollten

627 vgl Garbe in Pirker/Wenninger 37 ff; Klausch, 500 38 ff; Klausch in Haase/Paul 70 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 332 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 659 ff. 628 vgl VO über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen wegen einer während des Krieges begangenen Tat RGBl I 1940/107; HM 1939/808; BArch, R 3001/22290, Bl 624; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K54 39/13/25; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 103; Ausländer in Haase/Paul 58 ff; Baumann/Koch, Das Justizsystem. Bilanz und Topographie, in Baumann/Koch (Hrsg), „Was damals Recht war…“ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht (2008) 187; Eberlein in Eberlein/Haase/ Oleschinski 33 f; Forster/Fritsche/Geldmacher in Manoschek 74; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 61 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 438 ff; Klausch, 500 18 ff; Klausch in Haase/Paul 67 f; Klausch in Kirschner 198; Koch, Norwegen und die Wehrmachtjustiz. Eine Projektskizze, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 158; Manoschek in Pirker/Wenninger 51 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 334 ff; Walmrath, Iustitia 214 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 134 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 38. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 177/226 oder für die Wirtschaftsbetriebe entbehrlich waren. Außerdem sollten nur Gefangene rückgeführt werden, die im Ersatzheer verurteilt worden waren. Die Anzahl der Betroffenen wurde vom Reichsjustizministerium auf rund 10.000 Personen in den Emslandlagern, den Lagern Nord und West und einigen kleineren Einrichtungen geschätzt, davon rund 4.000 aus dem Ersatzheer. Das Rüstungsministerium ging nach Rücksprache mit HR von 10.850 Gefangenen, davon rund 7.500 aus dem Heer aus. Der Großteil der ehemaligen Soldaten sollte lt HR in der Bewährungstruppe oder in regulären Einheiten eingesetzt werden. Der Konflikt zwischen Militär- und Ziviljustiz drehte sich va um personelle Kapazitäten, die entweder als Soldaten oder in Rüstungsbetrieben eingesetzt werden konnten. Eine exakte Zahl lässt sich auch für die Rücküberstellungen Wehrunwürdiger aufgrund der mangelhaften Datenlage nicht mehr ermitteln.629

D. Wehrmachtsgefängnisse

Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verfügte die Wehrmachtsjustiz über acht Wehrmachts- gefängnisse. Einige davon waren von der zivilen Justiz übernommen worden. Ein Bericht eines in der Verwaltung des Wehrmachtsgefängnisses Freiburg eingesetzten Juristen weist va auf die Willkürlichkeit im Strafvollzug hin. Die Hauptverantwortung für den Strafvollzug lag bei den Kompanien. Übergeordnete Kommandanten ließen ihnen weitgehend freie Hand. Dies führte zu einer willkürlichen und je nach Kompanie unterschiedlichen Behandlung der Gefangenen. Entscheidungen über Strafaussetzungen und Bewährungseinsätze waren nicht kalkulierbar. Unteroffiziere übten mit ihren Beurteilungen einen entscheidenden Einfluss auf das Schicksal der Gefangenen aus. Als entscheidendes Problem wurde die Verquickung von Strafanstalt und Kaserne erkannt. 1944 und 1945 gab es Untersuchungshäftlinge, die nach mehr als sechs Monaten noch nicht einvernommen worden waren. Die Häftlinge wurden Arbeitskompanien oder außerhalb des Gefängnisses stationierten Wehrmachtsgefangenenabteilungen zugewiesen. Letztere befanden sich oft mehrere hundert Kilometer vom Standort ihres Wehrmachtsgefängnisses entfernt.630

Die Zusammenarbeit der Gerichte mit den Haftanstalten stellte sich dabei als mangelhaft dar. Die einzigen Offiziere in den Gefängnissen waren der Kommandant und der Gerichtsoffizier. Das restliche Stammpersonal bestand aus Unteroffizieren und Mannschaften. Die Zahl der Gefangenen im Wehrmachtsgefängnis Freiburg schwankte ab 1941 zwischen 1.000 und 1.600, die Außenabteilungen wiesen eine Stärke von 100 bis 300 Personen auf. Die Häftlinge stammten zu rund 50% aus dem Heer, zu 38% aus der Luftwaffe und zu 12% aus der Marine. Eine Versetzung der Gefangenen in Feldstrafgefangenenabteilungen oder Bewährungseinheiten hing im Wesentlichen vom Willen der Aufseher und den vorhandenen Transportmöglichkeiten ab.631

Die Soldaten wurden bereits gem Erlass des OKH vom 13. November 1939 informiert, dass Zuchthaus- und Gefängnisstrafen während des Krieges nicht verbüßt werden konnten. Verurteilte wurden zwar in Verwahrung genommen, ihre Strafe sollte aber erst nach Kriegsende verbüßt werden. Gefangene, die nicht zur Frontbewährung vorgesehen waren, sollten in einem Straflager der Wehrmacht zu schweren und gefährlichen Arbeiten herangezogen werden. Der Gerichtsherr konnte aber gem § 104 KStVO jederzeit den Vollzug der Strafe während des Krieges anordnen, wenn ein wichtiger Grund vorlag. In die Straflager der Wehrmacht wurden jene zu Gefängnis verurteilten Soldaten eingewiesen, die in den Augen ihrer Vorgesetzten eine Gefahr für die Manneszucht der

629 vgl VUA, RKG K51 39/13/11; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 34 ff; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 162; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 438 ff; Haase, Fahnenflucht 76; Klausch, 500 257; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 336 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 650 ff. 630 vgl Ausländer in Haase/Paul 52 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 33; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 421 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 338 f; Wüllner in Haase/Oleschinski2 32 f. 631 vgl Manoschek in Pirker/Wenninger 51 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 339. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 178/226

Truppe darstellten. Die siebte DVO zur KStVO632 vom 18. Mai 1940 änderte § 104 KStVO dahingehend ab, dass der Gerichtsherr die Vollziehung der Strafe zur Bewährung aussetzen, die Vollziehung eines Teils der Strafe anordnen und den Rest aussetzen, die Vollziehung der ganzen Strafe anordnen oder den Strafvollzug aufschieben und den Verurteilten in ein Wehrmachtsstraflager einweisen konnte. Die Gerichtsherren hatten aufgrund dieser Bestimmung beinahe unbegrenzte Möglichkeiten in der Wahl der Art der Urteilsvollziehung.633

Eine wichtige Aufgabe der Wehrmachtsgefängnisse lag in der Prüfung und Verteilung der Soldaten auf Straf- und Konzentrationslager sowie die Bewährungstruppe. Die acht Wehrmachtsgefängnisse waren mit dieser Aufgabe aber überfordert, da bereits 1939 über 10.000 Gefängnisstrafen verhängt wurden. 1940 wuchs diese Zahl auf 15.000 bis 20.000 Urteile pro Quartal. Dies führte zu einer Überbelegung der Gefängnisse. An dieser Problematik änderte auch die spätere Abgabe von Soldaten an die Bewährungstruppen nichts. Daher verlautbarte Hitler am 2. April 1942 einen Erlass zur Neuordnung des Strafvollzugs.634 Darin war die Einrichtung von 82 Wehrmachtshaftanstalten, 22 Wehrmachtsgefangenenabteilungen, die den Wehrmachtsgefängnissen unterstellt wurden, vier Wehrmachtsuntersuchungsgefängnissen in Berlin, Hamburg, München und Wien, 128 Kriegswehrmachtshaftanstalten und 21 Kriegswehrmachtsgefängnissen in den besetzten Gebieten sowie 14 beweglichen Heeresgefängnissen, 19 Feldstrafgefangenenabteilungen, zwei Feldstraflagern, des Feldsonderbataillons und der Bewährungstruppen im Operationsgebiet vorgesehen. Wehrmachtsgefängnisse und angeschlossene Wehrmachtshaftanstalten wurden dem AHA im OKH unterstellt, sonstige Wehrmachtshaftanstalten und -untersuchungsgefängnisse unterstanden den Wehrmachtskommandanturen, Kriegswehrmachtshaftanstalten den Orts- bzw Feldkommandanturen, bewegliche Heeresgefängnisse den Armeeoberkommanden und Feldstraflager bzw -gefangenen- abteilungen den Heeresgruppen und Divisionen. Die Wehrmachtsgefängnisse waren dabei an der Aufstellung der Kriegswehrmachtshaftanstalten beteiligt.635

Im Frieden waren die Wehrmachtsgefängnisse für bestimmte Dienstaufsichtsbezirke zuständig. Dem Wehrmachtsgefängnis Torgau kam dabei eine Sonderrolle zu, da hier alle Freiheitsstrafen über sechs Monate ausgenommen für den Wehrkreis I vollzogen wurden. Mit Kriegsbeginn trat keine unmittelbare Änderung der Zuständigkeiten ein. Verurteilte des Feldheeres wurden in die am besten erreichbare Wehrmachtshaftanstalt überstellt. Die Soldaten sollten grundsätzlich während der gesamten Kriegsdauer in Straflagern untergebracht werden. Nur in Ausnahmefällen sollten sie vorzeitig zur Frontbewährung entlassen werden. Soldaten, die aufgrund der Schwere ihrer Tat oder charakterlicher Mängel eine Gefahr für die Manneszucht darstellten und als nicht besserungsfähig beurteilt wurden, sollten in den Straflagern der Wehrmachtsgefängnisse bleiben. Dies änderte sich mit der Niederlage der Wehrmacht 1941 vor Moskau. Die Zahl der Verurteilungen stieg in der Folge stark an. Im Dezember 1943 waren bei den Heeresgerichten bereits rund 34.500 offene Fälle anhängig, bis Oktober 1944 wuchs diese Zahl auf rund 45.000. Auf diese Entwicklung reagierte die Wehrmachtsführung mit der Einrichtung von Feldstrafgefangenenabteilungen, Feldstraflagern,

632 vgl BArch, R 3001/22290, Bl 307 ff; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/23; VUA, RKG K54 39/13/24. 633 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K31 39/8/4; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; HM 1939/808; Absolon, Wehrmachtstrafrecht 103; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 33 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/ Werther 117; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 59 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 424; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 340 f; Skowronski in Bade/Skowronski/Viebig 245; Walmrath, Iustitia 189; Wüllner, NS-Militärjustiz2 88 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 32 ff. 634 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 244 f. 635 vgl VUA, RKG K41 39/10/24; VUA, RKG K51 39/13/11; Ausländer in Haase/Paul 57 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 427; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 341 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 52 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 118 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 32 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 179/226

Bewährungstruppen und des Feldsonderbataillons, in die Gefangene aus den Wehrmachtsgefängnissen überstellt wurden. Die zu überstellenden Soldaten wurden von den jeweiligen Gefängniskommandanten der Wehrmachts- und Kriegswehrmachtsgefängnisse ausgesucht. Eine Meldung über mögliche Anwärter hatten die Gefängnisse monatlich an AHA zu erstatten.636

Den Wehrmachtsgefängnissen kam die Funktion der Verteilung der Gefangenen im Bewährungs- und Vollzugssystem der Wehrmacht zu. Gem Erlass OKH vom 1. August 1942 wurden Verurteilte, die in der Bewährungstruppe versagten, zur Strafvollziehung in eine Feldstrafgefangenenabteilung oder ein Wehrmachtsgefängnis versetzt. War der Soldat auch dort untragbar, wurde er in ein Feldstraflager eingewiesen. Falls er auch dort als nicht tragbar eingestuft wurde, wurde er an das Feldsonderbataillon weitergeleitet. Die Soldaten waren in diesem Zusammenhang der Willkür der Gefängniskommandanten und des Aufsichtspersonals ausgeliefert. Das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna erhielt insofern eine Sonderrolle, als hier alle in Straflagern oder Einrichtungen der Reichsjustizverwaltung Inhaftierten auf ihre Eignung für einen möglichen Fronteinsatz überprüft wurden. Wehrunwürdige Häftlinge wurden, um dies juristisch zu ermöglichen, für bedingt wehrwürdig erklärt. Eine weitere Schlüsselrolle übernahmen die Wehrmachtsgefängnisse Torgau Fort Zinna und Torgau Brückenkopf auch bei der Aufstellung der Feldstraflager ab 1. Mai 1942. Gem Erlass OKW vom 13. April 1942 sollte Straflagerverwahrung nur noch in Feldstraflagern erfolgen, um die Verurteilten im Bereich der Front zu schweren und gefährlichen Arbeiten heranziehen zu können.637

Die Zeit des Strafvollzuges wurde im Lauf des Krieges nach Möglichkeit verkürzt, um dringend benötigte Soldaten für den Fronteinsatz zu erhalten. Als unbrauchbar eingestufte Häftlinge wurden weiter inhaftiert oder in KZ abgeschoben. BdE Generaloberst Fromm forderte dazu die Oberstkriegsgerichtsräte und die Gerichtsherren im Ersatzheer zu einer bevorzugten Behandlung der Anträge der Wehrmachtsgefängnisse auf. Eine Strafaussetzung sei zu gewähren, sofern dies auch nur irgendwie vertretbar sei. Allein an der Ostfront hatte die Wehrmacht bis März 1942 rund 440.000 gefallene Soldaten zu beklagen. Ebenso stiegen die Zahlen der Verwundeten, die nicht mehr eingesetzt werden konnten, und der Toten auf anderen Kriegsschauplätzen wie dem Balkan. Die hohen Verluste führten letztendlich zum Versuch, Verurteilte wieder für den Einsatz in der Wehrmacht zur Verfügung zu stellen, um die hohen Verluste auszugleichen. Gleichzeitig mit der zunehmenden Zahl an Strafaussetzungen stieg auch die Zahl der Todesurteile, die von der Wehrmachtsjustiz gefällt wurden. Vor dem Hintergrund der für Deutschland zunehmend prekären Kriegslage, sollte durch drakonische Maßnahmen der NS Militärjustiz die Disziplin der Soldaten aufrechterhalten werden. Die Prämissen des Strafvollzugs waren ab 1942 die Generalprävention im Sinne von Abschreckung und die Bewährungswürdigkeit, um den Personalbedarf der Truppe zu decken. Am 10. Juni 1942 formulierte dies der Chef OKW in einem Entwurf für Richtlinien für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen dahingehend, dass dort, wo Feindbewährung nicht möglich sei, ein verschärfter Strafvollzug Platz greifen sollte. Das System der Feldstraflager und Feldstrafgefangenenabteilungen sollte ausgebaut, die überbelegten Wehrmachtsgefängnisse sollten entlastet werden. Gerichte und Gerichtsherren wirkten auch im Strafvollzug zusammen. Der Verurteilte war ebenso wie der Angeklagte von teils willkürlichen Entscheidungen militärischer Kommandanten abhängig.638

636 vgl VUA, RKG K27 39/5/12; VUA, RKG K27 39/5/13; VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K31 39/8/4; VUA, RKG K44 39/11/9; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 52; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 428 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 342 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 691 ff. 637 vgl Geldmacher in Kohlhofer/Moos 62; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167; Klausch, 500 41; Klausch in Haase/Oleschinski2 61; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 344 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 691 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 34 ff. 638 vgl VUA, RKG K53 39/13/19; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 345 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 743 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 180/226

Gem Merkblatt vom 4. September 1944 sollten Strafen bis zu drei Monaten Gefängnis oder mehr als sieben Tagen geschärften Arrests in Strafvollstreckungszügen bei den Divisionen vollzogen werden. Hier waren körperlich schwere Arbeiten unter Feindeinwirkung zu verrichten. Bei Zuchthausstrafen sollten zunächst drei bis neun Monate in einer Feldstrafgefangenenabteilung verbracht werden. Hier wurden die Soldaten ohne Waffen als Bautrupps im Operationsgebiet eingesetzt. Lediglich in Ausnahmefällen sollten ausgesuchte Gefangene bewaffnet und als Eingreifreserve eingesetzt werden. Bei guter Führung sollte die Strafe ausgesetzt und eine Bewährung bei der eigenen Einheit oder der Bewährungstruppe 500 erfolgen. Andernfalls wurde der Inhaftierte in ein Feldstraflager überwiesen. In Feldstraflagern erfolgte der Einsatz stets ohne Waffen. Keine Einweisung in eine Feldstraf- gefangenenabteilung sollte erfolgen bei Gefängnisstrafen von weniger als drei Monaten gegen Offiziere und wenn der Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte oder die Wehrunwürdigkeit ausgesprochen worden waren. Darüber hinaus wurde von einer Einweisung abgesehen, wenn es sich um einen Ersttäter handelte und eine einmalige Entgleisung vorlag, bei sog schwersterziehbaren Asozialen und gemeinschaftsfeindlichen Elementen, die unmittelbar in ein Feldstraflager oder ein Zuchthaus überstellt wurden, sowie bei sog homosexuellen Hangtätern, die der Reichsjustizverwaltung übergeben und meist in ein Emslandlager verbracht wurden. Zu Zuchthaus verurteilte und damit wehrunwürdig gewordene Soldaten des Feldheeres sollten nur dann der Reichsjustizverwaltung übergeben werden, wenn es sich um sog schwersterziehbare Asoziale, homosexuelle Hangtäter, Gemeinschaftsschädlinge oder sonst für die Wehrmacht Unbrauchbare handelte. Insassen von Straflagern, Soldaten des Feldsonderbataillons und der Bewährungstruppen 500 und 999 wurden der Gestapo übergeben und in KZ überstellt, wenn sie mehrmals Disziplinarstrafen erhalten hatten und sich trotz einer schriftlichen Verwarnung als unbelehrbar erwiesen.639

Bei der Überprüfung der Gefangenen in den Wehrmachtsgefängnissen wurde ebenfalls nicht zimperlich verfahren. So wurden Gefangene nach Fluchtversuchen häufig gefesselt und mit Dunkelarrest bestraft. In zahlreichen Fällen kam es auch zu Selbstmorden von Häftlingen. Torgau Fort Zinna verfügte über acht Gefangenenkompanien, in denen mehrere tausend Soldaten auf ihre Brauchbarkeit für einen militärischen Einsatz in Bewährungseinheiten, Feldstraflagern und Feldstrafgefangenenabteilungen überprüft wurden. Die Haft in Torgau war geprägt von langen Arbeitszeiten, Hunger, Strafexerzieren und anderen Widrigkeiten. Die Auswahl der bewährungswürdigen Soldaten war auch hier über weite Strecken vom Wohlwollen des Stammpersonals abhängig. Rund 160 Gefangene wurden in Torgau Fort Zinna zum Tode verurteilt und teils in Anwesenheit anderer Gefangener hingerichtet. Die Kriegslage wirkte sich aber auch auf die Überprüfung der Bewährungswürdigkeit aus. Wurden 1941 noch 22,9% der überprüften Soldaten aus den Emslandlagern wieder zurückgeschickt, betrug dieser Anteil 1942 nur noch 6,2%.640

Neben den Wehrmachtsgefängnissen wurden während des Krieges weitere Vollzugseinrichtungen im Operationsgebiet eingerichtet. Im Osten wurden bewegliche Heeresgefängnisse bei den Armeen und Kommandanten der Heeresgebiete etabliert. Hier wurden Verurteilte zunächst gesammelt und danach an Gefängnisse im rückwärtigen Gebiet, Feldstrafgefangenenabteilungen oder Feldstraflager weitergeleitet. Nur Arreststrafen bis zu sechs Wochen wurden unmittelbar vollzogen. Bewegliche Heeresgefängnisse wurden bei den jeweiligen Frontsammelstellen eingerichtet.641

639 vgl Forster/Fritsche/Geldmacher in Manoschek 74; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 61 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 347 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 505 ff. 640 vgl Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 348 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 693 ff. 641 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 364. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 181/226

Strafvollstreckungszüge wurden auf Ebene der Divisionen eingerichtet. Sie kamen sowohl im Osten wie im Westen zum Einsatz. Hier wurden Wehrmachtsangehörige inhaftiert, die zu Arrest oder Gefängnis bis zu drei Monaten verurteilt worden waren. Bei Disziplinarstrafen von mehr als sechs Tagen konnte auch ein Disziplinarvorgesetzter die Vollziehung in einem Strafvollstreckungszug anordnen. Im Westen wurde die Arbeitszeit mit 15 Stunden täglich im Sommer und zwölf im Winter festgelegt. Die Inhaftierten wurden va zum Stellungsbau eingesetzt. Kontakte mit Personen außerhalb des Strafvollstreckungszuges waren verboten. Der Verkehr war nur dienstlich gestattet. Die Verpflegung entsprach grundsätzlich jener normaler Einheiten, allerdings erhielten die Inhaftierten keine Zusatzverpflegung. Bei schlechter Führung eines Soldaten konnte der Zugskommandant die weitere Strafvollziehung in einer Feldstrafgefangenenabteilung bei Gericht anregen. Wurde nach einem Urteil angeordnet, dass nur ein Teil einer Gefängnisstrafe in einem Strafvollstreckungszug vollzogen werden sollte, konnte der Gerichtsherr entscheiden, ob der Rest ebenfalls im Strafvollstreckungszug oder in einer Feldstrafgefangenenabteilung zu verbüßen war.642

Kriegswehrmachtsgefängnisse und Kriegswehrmachtshaftanstalten waren den Feld-, Kreis- und Ortskommandanturen zugeteilt. Nachdem die Strafe verbüßt war, wurden die Soldaten zu ihren Einheiten zurückversetzt. Sofern eine Feldstrafgefangenenabteilung nicht unmittelbar erreichbar war, wurden auch Verurteilte, deren Strafverbüßung dort vorgesehen war, zunächst in ein Kriegswehrmachtsgefängnis gebracht und von dort an die Feldstrafgefangenenabteilung überstellt. In den Kriegswehrmachtsgefängnissen selbst wurden Strafen bis zu drei Monaten gegen Offiziere vollzogen, höhere Strafen gegen Offiziere wurden im Wehrmachtsgefängnis Glatz verbüßt.643

E. Feldstrafgefangenenabteilungen

Feldstrafgefangenenabteilungen sollten dem Vollzug von Gefängnisstrafen im Bereich des Ostheeres dienen. Die Zustände in den Abteilungen glichen jenen in KZ. Analog zu Feldstraflagern sah die Dienstvorschrift für den Strafvollzug in Feldstrafgefangenenabteilungen vor, dass die Verurteilten unbewaffnet zu härtesten Arbeiten unter gefährlichen Bedingungen im Operationsgebiet herangezogen werden sollten. Dazu zählten das Räumen von Minenfeldern, das Errichten von Bauwerken und das Bergen von Leichen. Die Arbeitszeit betrug täglich mindestens zehn Stunden. Die Wachen sollten bei jeder Widersetzlichkeit, erst recht bei Fluchtversuchen, sofort von der Waffe Gebrauch machen. Eine vorangehende Warnung war nicht notwendig. Gerichtsherren und Richter waren über die Bedingungen in den Abteilungen informiert. Eingewiesen wurden Soldaten bereits ab einer Gefängnisstrafe von drei Monaten. Die Haft in einem Wehrmachtsgefängnis wurde von den militärischen Kommandanten vielfach als Erleichterung für den Verurteilten gesehen, der sich damit dem schweren Dienst an der Front entziehen und sein Leben schützen konnte. Es bestand die Befürchtung, dass schwankende Charaktere dadurch zur Begehung von Straftaten verleitet werden könnten. Mit den Feldstrafgefangenenabteilungen sollte dieser empfundene Missstand beseitigt werden, da die Gefangenen weiterhin im Operationsgebiet unter gefährlichen Umständen eingesetzt wurden. Die Richtlinie für die Strafvollstreckung von Freiheitsstrafen vom 10. Juni 1942 und der Strafvollstreckungsplan vom 27. November 1942 sahen vor, dass grundsätzlich alle Freiheitsstrafen ab drei Monaten in einer Feldstrafgefangenenabteilung zu vollziehen seien. Dies betraf auch Soldaten, deren Tauglichkeitsgrad gvH war und deren Einsatz im Operationsgebiet eigentlich gar nicht vorgesehen war. Das OKW führte im Februar 1943 strafpolitische Notwendigkeiten für die Einweisung

642 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 365 f. 643 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 366. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 182/226 von gvH Soldaten in Feldstrafgefangenenabteilungen und -lager an. Eine abweichende Behandlung fördere nur Drückebergerei.644

Im neunten Mob-Sammelerlass vom 5. Mai 1942 wurde der Strafvollzug in den Feldstrafgefangenen- abteilungen geregelt. Eingewiesen werden sollten Gefangene aus Wehrmachtsgefängnissen mit den Tauglichkeitsgraden kv, gvF und gvH, die als Drückeberger eingestuft wurden oder mehrmals wegen ehrenrühriger Vergehen vorbestraft waren sowie zukünftig von Gerichten des Feldheeres Verurteilte, bei denen der Gerichtsherr die Vollziehung in der Abteilung angeordnet hatte. Diese Anordnung sollte den Gerichtsherren bei allen Gefängnisstrafen gegen Soldaten mit den Tauglichkeitsgraden kv, gvF und gvH vorgeschlagen werden. Zur schnellen Aburteilung von Inhaftierten konnten die Führer der Abteilungen gem Erlass vom 14. April 1942 Standgerichte einberufen.645

Das System der Feldstrafgefangenenabteilungen wurde rasch ausgebaut. Während im Mai 1942 noch drei Abteilungen existierten, waren es Ende 1943 bereits 20, und 22 bis Kriegsende. Jede Abteilung bestand aus fünf Kompanien, in einigen wurde auch eine sechste als Zuchthauskompanie eingerichtet bzw wurden die vierte und fünfte Kompanie teilweise als Zuchthauskompanien geführt. Somit bestanden Ende 1943 mindestens 100 Kompanien in Feldstrafgefangenenabteilungen. Die Abteilungen wurden, je nach Bedarf, unterschiedlichen Dienststellen unterstellt. Der Armeerichter der 18. Armee Schmidt stellte eine Mehrbelastung des Gerichts durch die Unterstellung der Feldstrafgefangenenabteilungen 4, 6 und 19 fest. Dem Oberbefehlshaber der Armee seien im ersten Halbjahr 1943 280 Urteile zur Prüfung vorgelegt worden, von denen 42 gegen Feldstrafgefangene ergangen waren. Die übliche Verweildauer in den Abteilungen betrug zwischen drei und neun Monaten. Über eine weitere Inhaftierung musste in Abständen von drei bis sechs Monaten entschieden werden. Die Arbeitszeit sollte mindestens zehn Stunden täglich betragen. Die Verpflegung wurde auf 80% des normalen Verpflegungssatzes reduziert.646

Die Bedingungen in den Feldstrafgefangenenabteilungen führten zu zahlreichen Fahnenfluchten und anderen Delikten, die in weiterer Folge die Gerichte beschäftigten. Im Bericht des Armeerichters der 16. Armee für das dritte Quartal 1944 werden 96 zu bestätigende Urteile wegen Fahnenflucht erwähnt, von denen der Großteil gegen Angehörige der unterstellten Feldstrafgefangenenabteilungen gefällt wurde. Nähere Informationen zu den Bedingungen in den Abteilungen lieferten va Berichte von Ärzten, so ein Bericht eines Arztes der 16. Armee für den Zeitraum von 1. November 1942 bis 1. Mai 1943, der feststellte, dass von 900 Gefangenen durchschnittlich 150 in der Krankenstation waren. Die Erkrankungen waren vor allem auf Unterernährung zurückzuführen. Viele Soldaten wogen unter 50 kg. Es kam zu einer hohen Zahl von Todesfällen durch Ruhr. Die Gefangenen konnten aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes schon bald die geforderte Arbeitsleistung nicht mehr erbringen. Der Arzt stellte weiter fest, dass die Dienstfähigkeit der Gefangenen vor einer Einweisung in die Feldstrafgefangenenabteilungen notwendig sei, weil viele bereits schwerst unterernährt und damit arbeitsunfähig aus den Feldstraflagern überwiesen würden. Der beratende Internist der Heeresgruppe

644 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 65 ff; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 116 f; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 61; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 436 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 350 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 51 ff; Steinkamp, Lebens- und Gesundheitsbedingungen in den Feldstrafgefangenenabteilungen der Wehrmacht: Hungertodesfälle, in Bade/Skowronski/Viebig (Hrsg), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension (2015) 231 f; Walmrath, Iustitia 221 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 505 ff. 645 vgl Ausländer in Haase/Paul 63 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 437; Klausch, 500 41 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 351 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 52; Wüllner, NS-Militärjustiz2 134 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 40. 646 vgl Ausländer in Haase/Paul 64; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 65 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 437; Haase, Fahnenflucht 78; Klausch, 500 41 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 352 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 744 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 39 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 183/226

Süd sah dagegen keine Notwendigkeit einer Verbesserung und beanstandete den fehlenden Gesundungswillen der Inhaftierten. Zusätzlich trug auch das rücksichtslose Vorgehen des Stammpersonals zur schlechten Lage der Gefangenen bei. Der beratende Internist der 6. Armee stellte dazu in seinem Bericht für das vierte Quartal 1943 fest, dass die Gefangenen unter Hungerödemen und Entkräftung litten. Manche Soldaten wogen nur 20 kg. Das Stammpersonal führte die aus der körperlichen Schwäche resultierende schlechte Heilung von Wunden meist zu Unrecht auf eine Manipulation seitens der Gefangenen zurück. Die Unterernährung führte zu Apathie, die wiederum eine schlechte Beurteilung der Gefangenen und Sonderstrafen zur Folge hatte. Dadurch gerieten die Gefangenen in einen Teufelskreis. Auf Basis dieses Berichts wurde durch den Armeeoberbefehlshaber und den Armeearzt eine Untersuchung eingeleitet. Zu diesem Zeitpunkt mussten rund 200 Gefangene teilweise über Monate ärztlich behandelt werden. In einer anderen Abteilung stellte der Arzt zwar ebenfalls untergewichtige Soldaten fest, hielt den Zustand aber für eine Feldstrafgefangenenabteilung angemessen. Auch der beratende Internist der 4. Armee sprach das Problem der Unterernährung der Feldstrafgefangenen in seinen Berichten an. Im Gegensatz dazu beurteilte Oberkriegsgerichtsrat Thoma bei einer Inspektion der Feldstrafgefangenenabteilung 7, die der Heeresgruppe Süd unterstellt war, die Zustände in der Abteilung als beinahe schönen Sommeraufenthalt mit ein wenig Arbeit. Von einem scharfen Strafvollzug könne bei brachliegender militärischer Ausbildung und nur sieben Stunden Arbeit täglich nicht die Rede sein. Der Abteilungsführer wies aber darauf hin, dass sich 150 Gefangene permanent im Partisaneneinsatz befanden, zwei Kompanien mit Holzschlag beschäftigt seien und auch sonntags gearbeitet würde. Die generell schlechten Bedingungen für Gefangene in den Feldstrafgefangenenabteilungen untermauert auch ein Bericht des Heeresarztes über Wehrdienstbeschädigungen Anfang 1943. Demnach sei das Verschlucken von Nägeln und Metallstücken als Selbstverstümmelung aufzufassen. Das Essen von Baumrinde, Gräsern usw aufgrund von Hunger und daraus resultierende Gesundheitsschäden seien aber als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen. Eine tendenziell bessere Ernährungslage ergibt sich aus den Berichten der Militärärzte nur für jene Abteilungen, die als Eingreifkompanien an der Hauptkampflinie oder zur Partisanenbekämpfung eingesetzt wurden.647

Aus den Feldstrafgefangenenabteilungen konnten die Soldaten je nach Beurteilung durch das Stammpersonal entweder in die Bewährungstruppe 500 oder in ein Feldstraflager versetzt werden. Eine Einweisung in die Lager erfolgte häufig nach Arreststrafen bei nochmals reduzierter Nahrung. Die Behandlung der Inhaftierten und ihre Unterernährung widersprach allerdings dem Ziel möglichst viele wieder für einen Kampfeinsatz in der Bewährungstruppe verfügbar zu machen. Die Inhaftierten stammten aus allen Teilstreitkräften der Wehrmacht. So wurde zB ein Gefreiter der Marineartillerie nach einem versuchten Selbstmord wegen Wehrkraftzersetzung vom Gericht des Admirals der Atlantikküste zu Gefängnis verurteilt und in eine Feldstrafgefangenenabteilung eingewiesen. Insgesamt wird von rund 50.000 Feldstrafgefangenen ausgegangen. Aufgrund der Einsatzbedingungen der Abteilungen kam es zu zahlreichen Gefallenen. Teilweise wurden ganze Abteilungen ausgelöscht.648

F. Feldstraflager

Durch Kriegsgerichte verurteilte Soldaten, die sich als nicht besserungsfähig oder -willig herausstellten, sollten über die Feldstraflager aus der Wehrmacht ausgesondert werden. Die Zeit der

647 vgl Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 438 ff; Klausch, 500 49; Klausch in Kirschner 208; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 353 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 745 ff; Riegler in Pirker/Wenninger 167 ff; Steinkamp in Bade/Skowronski/Viebig 231 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 40 f. 648 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 68 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 437 f; Klausch in Kirschner 209; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 355 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 693 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 41. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 184/226

Straflagerverwahrung wurde dabei nicht auf die Strafe angerechnet. Die eigentliche Strafverbüßung sollte erst nach Kriegsende erfolgen. Am 24. April 1942 wurden die Feldstraflager I und II gebildet, am 1. August 1942 folgte das Feldstraflager III. Die Lager verfügten über je fünf Kompanien. Die Gefangenen wurden über das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna als Ersatztruppenstelle eingewiesen. Die Feldstraflager I und II wurden ab 4. Juni 1942 mit 480 Soldaten des Stammpersonals und rund 1.200 Inhaftierten nach Finnland verlegt, um Küstenbefestigungen im Raum Kirkenes zu errichten. Die Lager wurden zunächst nach Rovaniemi zur 20. Gebirgsarmee verbracht, von wo aus sie 530 km zu Fuß über die Eismeerstraße zum Generalkommando Nord zurücklegen mussten. Auf dem Marsch, der von 16. Juni bis 15. Juli 1942 dauerte, wurde eine unbekannte Zahl von Gefangenen erschossen, die aufgrund von Erschöpfung oder Krankheit nicht mehr weitermarschieren konnten. Dazu stellte Oberkriegsgerichtsrat Kisser beim XIX. Gebirgsarmeekorps in einem Bericht für den Zeitraum April bis Dezember 1942 fest, dass während des Marsches 16 Gefangene des Feldstraflagers II erschossen wurden. Die Erschießungen seien zwar formal berechtigt gewesen, ein anderes Vorgehen wäre aber ebenso möglich gewesen, wie das Beispiel des Feldstraflagers I zeigte, das keine Ausfälle verzeichnete. Die Erschießungen erfolgten ohne Gerichtsverfahren, nicht einmal ein Standgericht wurde einberufen. Da die Erschießungen nach Meinung des Richters hätten verhindert werden können, dürfte es sich um willkürliche Erschießungen wegen Befehlsverweigerung oder ähnliches gehandelt haben. Untersucht wurden die Vorfälle nicht. Die Lager wurden schließlich beim Gebirgsarmeekorps Norwegen im Raum Kirkenes – Petsamo eingesetzt. Ab August 1942 kam hier auch das Feldstraflager III zum Einsatz. Den Gefangenen standen lediglich Sperrholz- oder Kartonzelte als Notunterkünfte zur Verfügung. Da aber auch diese nicht in ausreichender Zahl vorhanden waren, mussten viele Gefangene in Biwaks schlafen. Die Feldstraflager wurden zunächst zum Straßenbau und die Lager II und III ab Ende August 1942 zum Feldbahnbau eingesetzt. Die Arbeitszeit betrug täglich zwölf bis 14 Stunden. Die Verpflegung wurde auf 70% bis 80% des normalen Satzes reduziert.649

Die finnische Gestapo informierte den Abwehroffizier der 20. Armee über Gerüchte in der finnischen Bevölkerung über die unmenschliche Behandlung der Straflagergefangenen. Die Armee beauftragte daraufhin das Gebirgsarmeekorps Norwegen mit der Untersuchung, und der General zbV beim OKH wurde informiert. Der Korpsrichter wollte in Zukunft mit Unterstützung der Lagerkommandanten eine Auslese treffen. Nicht mehr besserungsfähige oder -willige Gefangene wurden der Gestapo übergeben, mehrere hundert wurden in Feldstrafgefangenenabteilungen überstellt. Im November 1942 wurden acht Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung, Fahnenflucht und Gehorsamsverweigerung vollzogen. Die Kriminalitätsrate in den Lagern sei lt Abteilung Recht im Stab des XIX. Gebirgsarmeekorps durch die Maßnahmen gesenkt worden. Im Jänner 1943 betrug die Zahl der Gefangenen im Feldstraflager I aufgrund der getroffenen Maßnahmen unter 200. Die Zahl des Stammpersonals lag um 50% über der Zahl der Häftlinge. Der Kommandant des Feldstraflagers I Hauptmann Beck kritisierte bereits in einem Bericht vom 1. Juli 1942, dass die Gerichte bei der Zuweisung von Häftlingen nicht einheitlich verfuhren und dadurch Häftlinge eingewiesen wurden, die ihren Wehrdienst durchaus noch hätten versehen können.650

Die Zuführung der Feldstraflager erfolgte gegen den Willen der 20. Armee und wurde auch vom General zbV beim OKH kritisiert, da ein geschlossener Einsatz in Finnland nicht möglich sei. Die

649 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; Ausländer in Haase/Paul 62 ff; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 18 ff; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 60 f; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 434 ff; Klausch, 500 41 ff; Klausch in Haase/Oleschinski2 61; Klausch in Kirschner 209 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 357 ff; Skowronski in Bade/Skowronski/Viebig 246 ff; Walmrath, Iustitia 216 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 691 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 34 ff. 650 vgl Geldmacher in Kohlhofer/Moos 61; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 360. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 185/226

Voraussetzung für eine Rückführung der Lager an das OKH war allerdings personeller Ersatz zB durch Kriegsgefangene. Der Bedarf betrug im Oktober 1942 1.400 Personen. Bereits am 1. Oktober 1942 meldete die Armee an OKW, dass der Einsatz der Feldstraflager nur eine Notlösung sei, bis andere Arbeitskräfte gefunden würden. Die Armee schlug vor, zunächst die Lager II und III durch 1.000 Kriegsgefangene abzulösen und danach Lager I durch 400 Kriegsgefangene. Daraufhin wurde der Wehrmachtsbefehlshaber Ostland durch OKW angewiesen, rasch die benötigten Kriegsgefangenen zur Verfügung zu stellen. Das Armeeoberkommando 20 wollte aber Lager II sofort verlegen, ohne den Ersatz abzuwarten, da die Nachteile die Arbeitsleistung überwogen. Ursache dafür war eine hohe Zahl von Kranken aufgrund von Unterernährung, schwerer Arbeit und schlechter Behandlung der Gefangenen. Das Feldstraflager II wurde daraufhin im November 1942 auf Befehl des Generals zbV zur Heeresgruppe Nord an die Ostfront verlegt. Die Feldstraflager I und III kamen im Jänner 1943 zunächst ins Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna zur personellen und materiellen Ergänzung. Aufgrund der schlechten Ernährungslage waren viele Gefangene transportunfähig. Dies führte dazu, dass die Feldstraflager im März 1943 noch immer nicht bei der Heeresgruppe Nord angelangt waren.651

Im ersten Quartal 1942 wurden 305 Heeres-, 138 Luftwaffen- und 99 Marineangehörige in die Straflager eingewiesen. 1943 wurden 525 Soldaten des Feldheeres und 298 des Ersatzheeres in Feldstraflager überstellt. 1944 stiegen diese Zahlen auf 631 beim Feldheer und 265 beim Ersatzheer, wobei die Statistik für das Feldheer nur Zahlen bis November 1944 erfasst. Aufgrund der Kriegsbedingungen sind allerdings auch diese Statistiken unvollständig und geben nur Mindestzahlen wider. Nicht erfasst sind auch zahlreiche Gefangene, die aus den Feldstrafgefangenenabteilungen eingewiesen wurden, um Unverbesserliche und Unerziehbare auszusondern. Viele Soldaten starben nicht nur durch Feindeinwirkung, sondern auch an Unterernährung, Überbeanspruchung, eine daraus resultierende höhere Anfälligkeit für Krankheiten oder wurden aufgrund geringfügiger Vergehen zum Tode verurteilt. Viele andere wurden der Gestapo übergeben und in KZ eingewiesen. Diese Vorgänge verhindern eine exakte Bestimmung der Anzahl der insgesamt während des Krieges in Feldstraflagern Inhaftierten.652

In einer Statistik der MR vom Februar 1945 werden 22 disziplinär schwierige Soldaten erwähnt. Diese Einstufung führte zu einer Einweisung in ein Feldstraflager, obwohl nur zehn der Soldaten vorbestraft waren. Bei dieser Entscheidung wurde der NS Ideologie Rechnung getragen, und Soldaten, die nicht dem NS Ideal des harten Kämpfers entsprachen, wurden aussortiert. Bereits 1942 lagen zahlreiche Urteile von Wehrmachtsgerichten vor, in denen Kategorien wie Wehrfeindlichkeit, Wehrmachts- schädling und ähnliche zur Begründung ideologiekonformer Urteile herangezogen wurden. Derart kategorisierte Soldaten wurden nun in die Feldstraflager eingewiesen. HR hatte bereits am 6. Mai 1940 für die zu diesem Zeitpunkt bestehenden Straflager festgestellt, dass in die Straflager Besserungsunfähige, Wehrmachtsschädlinge und Träger eines wehrfeindlichen Geistes eingewiesen werden sollten. Für Strafsachen wegen widernatürlicher Unzucht gem §§ 175, 175a und 330a RStGB wurden am 19. Mai 1943 eigene Richtlinien erlassen. Demnach sollte der Hang des Täters festgestellt werden. Bei Zweifeln erfolgte eine Versetzung des Beschuldigten zu seinem Ersatztruppenteil, wo das Gericht die Ermittlungen gemeinsam mit der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität weiterführte. In schweren Fällen konnte § 5a KSSVO angewandt und sogar die Todesstrafe ausgesprochen werden. Für die Strafvollziehung waren Feldstrafgefangenenabteilungen und Feldstraflager vorgesehen, sofern keine Übergabe an die zivile Justiz erfolgte.653

651 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 74 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 358 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 699 ff. 652 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 361. 653 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; VUA, RKG K53 39/13/20; Kalmbach in Bade/Skowronski/Viebig 27; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 361 f; Walmrath, Iustitia 247; Wüllner, NS-Militärjustiz2 40 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 186/226

Bereits im Ersten Weltkrieg forderte die Militärpsychiatrie, Unverbesserliche von der Truppe abzusondern. Dieser Forderung wurde mit den Feldstraflagern Rechnung getragen. Die inhaftierten Soldaten wurden von der Heimat und den restlichen Truppenteilen des Feld- und Ersatzheeres abgeschottet. Der Strafvollzug sollte die Bildung sog Unruhe- und Zersetzungsherde verhindern. Der Divisionskommandant musste Unverbesserliche und Asoziale aus dem Wehrdienst entlassen. Sie wurden danach über das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna an die Gestapo übergeben. Der Strafvollzug hatte somit die Funktion, die Unverbesserlichen von den Besserungsfähigen zu trennen. So ordnete zB die 32. Infanteriedivision, der zu diesem Zeitpunkt das Feldstraflager I unterstellt war, am 13. April 1943 an, dass es für die übrigen Soldaten streng verboten sei, mit den Feldstraflagerinsassen zu sprechen oder auf andere Weise mit ihnen in Kontakt zu treten. Die Weitergabe von Lebensmitteln oder andern Waren war untersagt. Verstöße gegen diese Anordnung sollten mit scharfen Strafen, wenn nötig auch kriegsgerichtlich geahndet werden. Das Gebiet um das Feldstraflager wurde als Sperrgebiet deklariert und durfte nur dienstlich betreten werden. Wurden Personen abseits der Wege angetroffen, sollten die Wachen ohne vorherige Warnung von der Schusswaffe Gebrauch machen. Die Schlüsse, die die Wehrmachtsführung aus dem Ersten Weltkrieg gezogen hatte, wurden hier mit der NS Idee der Volksgemeinschaft kombiniert.654

Das Gericht der 32. Infanteriedivision beklagte sich über die Mehrbelastung durch das Feldstraflager I. Im Juni 1943 wurden fünf Todesurteile gegen Straflagergefangene gefällt, im August weitere sieben. Gleichzeitig wurden fünf Soldaten in das Lager eingewiesen. Die vorgesetzte 16. Armee änderte trotz der Klagen und einer Inspektion durch den Armeerichter nichts. Anfang Oktober 1944 erfolgte dann die Verlegung des Feldstraflagers I gemeinsam mit den Feldstrafgefangenenabteilungen 3, 6, 9 und 14 ins Reichsgebiet. Der Armeerichter der 16. Armee erwartete sich dadurch ein Absinken der Zahl der Fahnenflüchtigen. 1945 wurden die Feldstraflager I und II umbenannt und als Feldstrafgefangenenabteilungen 21 und 22 der Heeresgruppe Süd in Ungarn unterstellt. Feldstraflager III wurde als Feldstrafgefangenenabteilung 19 der 19. Armee an der Westfront zugeteilt. Von den Lagerkommandanten als unverbesserlich Beurteilte sollten der Gestapo übergeben und in KZ verbracht werden. Die Zahl der Feldstraflagerinsassen betrug insgesamt wahrscheinlich zwischen 4.000 und 5.000 Soldaten.655

G. Bewährungstruppe 500

Hitler befahl die Aufstellung der Bewährungstruppe 500 am 21. Dezember 1940. Zunächst war ein Regiment mit zwei Bataillonen geplant. Dies wurde vom Chef WR Lehmann unterstützt, der eine Neuordnung des Strafvollzugs anstrebte. Gem § 104 KStVO konnte ein Gerichtsherr die Strafvollziehung ganz oder teilweise aussetzen, um dem Verurteilten Gelegenheit zur Bewährung an der Front zu geben. Lehmann argumentierte in einer Denkschrift vom 18. September 1940 und in einem Entwurf eines Führerbefehls zur Aufstellung einer Bewährungstruppe damit, dass Feige und Ehrlose durch den Strafvollzug nicht abgeschreckt würden. Allerdings war für sie trotzdem kein Dienst in der Bewährungstruppe vorgesehen. Der Befehlsentwurf legte als Voraussetzungen fest, dass sich die Soldaten bisher gut geführt hatten und nicht oder nur geringfügig vorbestraft waren, es sich um eine einmalige Tat handelte und keine schweren Charaktermängel beim Täter vorlagen sowie ein ehrlicher Bewährungswille vorlag. Strafen sollten nicht abseits der Front vollzogen, aber auch nicht

654 vgl Ausländer in Haase/Paul 62 ff; Baumann/Koch, Geschichte, in Baumann/Koch 144; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 60; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 362 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 227 ff; Schöngarth/Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 139 ff; Walmrath, Iustitia 445 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 708 ff. 655 vgl VUA, RKG K35 39/9/23; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 75 f; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 436; Klausch, 500 46; Klausch in Kirschner 211 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 363 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 187/226 ausgesetzt werden. Die Realität entsprach diesem Entwurf allerdings nicht. Auch zu Zuchthaus verurteilte und damit eigentlich wehrunwürdige Soldaten wurden auf Vorschlag des Kommandanten oder des Gerichtsherren nach einer Überprüfung im Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna zur Bewährungstruppe versetzt. Dazu wurden die Wehrunwürdigen für bedingt wehrwürdig erklärt. Dogmatisch erklärte dies Lehmann damit, dass der regelmäßige Strafrahmen zur Aufrechterhaltung der Manneszucht häufig unter Anwendung von § 5a KSSVO überschritten werden müsse. Dadurch erhielten viele Verurteilte eine zu hohe, nicht schuldangemessene Strafe. Um dies auszugleichen, könne die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Damit gestand Lehmann ein, dass die Methoden der NS Militärjustiz zu ungerecht hohen Strafen führten.656

Offiziell galt die Bewährungstruppe nicht als Strafeinrichtung, da der Dienst mit der Waffe als Ehrendienst am deutschen Volk angesehen wurde und wehrunwürdige Straftäter keinen Ehrendienst leisten konnten. Wurde Soldaten eine Bewährungsmöglichkeit eingeräumt, bevorzugte Hitler eine Bewährung innerhalb der eigenen Einheit. Nur wenn dies nicht möglich oder zweckmäßig war, sollten Soldaten in die Bewährungstruppe 500 versetzt werden. Die Straflagerkommandanten sollten lt Lehmann bewährungswürdige Soldaten auswählen. Noch 1943 hieß es in offiziellen Verlautbarungen, dass einmalig gestrauchelte Soldaten in der Bewährungstruppe die Gelegenheit erhalten sollten, sich durch besondere Tapferkeit einen Gnadenerweis zu verdienen. In der Realität dienten in der Bewährungstruppe aber keineswegs einmalig Gestrauchelte, sondern mit Zuchthaus und Tod zu den schwersten Strafen verurteilte Soldaten. Lt Lehmann wurden seit Kriegsbeginn bis April 1941 rund 3.500 Soldaten zu Zuchthausstrafen verurteilt und an die Reichsjustizverwaltung übergeben. Die meisten von ihnen wurden in den Emslandlagern interniert, hier va in den Lagern Esterwegen, ab 1941 Aschendorfer Moor und ab 1942 Brual-Rhede. Von hier führte der Weg der Gefangenen häufig in das Straflager Nord oder die Bewährungstruppe. Die Auswahl der Bewährungssoldaten wurde auf Vorschlag WR in einem Erlass Hitlers vom 21. Dezember 1940657 geregelt. Die Justizverwaltung prüfte zunächst, welche Soldaten aufgrund ihrer guten Führung grundsätzlich bewährungswürdig waren, und informierte im Anschluss das Oberkommando des Wehrmachtsteils, dem der Verurteilte angehört hatte. Bei jenen, die in Wehrmachtsgefängnissen inhaftiert waren, kam die Auswahl dem Gerichtsherrn und Gefängniskommandanten zu. Vor der Versetzung wurden die Verurteilten anschließend mindestens einen Monat in einem Wehrmachtsgefängnis auf ihre Eignung für die Bewährungstruppe überprüft. Diese Funktion übernahm gem der ersten DVO zum Erlass Hitlers vom 5. April 1941 das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna.658

Um den Prozess zu beschleunigen, befahl HR bereits am 17. Februar 1941, dass die Gerichtsherrn bei der Urteilsbestätigung entscheiden mussten, ob nach einem Teilvollzug der Strafe eine Bewährung bei der eigenen Einheit oder in der Bewährungstruppe möglich sei. Diese Beurteilung sollte auch für alle bereits Inhaftierten durchgeführt werden. Der ObdH legte in seinem Befehl vom 12. März 1941 über die Aufstellung einer Bewährungstruppe fest, dass eine Bewährung grundsätzlich bei

656 vgl VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K32 39/8/12; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K65 39/13/17; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 62; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 63; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 424 ff; Klausch, 500 16 ff; Klausch, 999 58 f; Klausch in Haase/Oleschinski2 61 ff; Klausch in Haase/Paul 72 ff; Klausch in Kirschner 203; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 367 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 50 ff; Walmrath, Iustitia 219 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 680 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 34 ff. 657 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 156. 658 vgl VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K32 39/8/12; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K54 39/13/24; VUA, RKG K54 39/13/25; Ausländer in Haase/Paul 54; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 18 ff; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 62; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 167; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 430 ff; Klausch, 500 16 ff; Klausch in Haase/Oleschinski2 61 ff; Klausch in Haase/Paul 72 f; Klausch in Kirschner 203; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 368 ff; Walmrath, Iustitia 219 ff; Wüllner, NS- Militärjustiz2 699 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 34 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 188/226 der eigenen Truppe erfolgen solle. Nur wenn dies nicht möglich oder zweckmäßig war, sollte der Verurteilte in die Bewährungstruppe versetzt werden. Nicht möglich war eine Bewährung in der eigenen Truppe, wenn diese zB in absehbarer Zeit keinen Einsatz hatte, nicht zweckmäßig, wenn dadurch die Manneszucht gefährdet würde, die Truppe belastet würde oder allgemein der Soldat Gelegenheit zur Bewährung in einer anderen Umgebung erhalten sollte. Entscheidend waren die Persönlichkeit des Täters und der sog Geist der Truppe.659

Hitler legte in seinem Erlass fest, dass die Bewährungstruppe unter schwierigen Bedingungen an der Front eingesetzt werden sollte. In einem Merkblatt über Vollzugseinrichtungen und Bewährungstruppen vom 24. Jänner 1943 wurde dies dahingehend konkretisiert, dass ein Einsatz als Infanteriebataillon mit schweren Waffen unter schwierigen Bedingungen in der Hauptkampflinie erfolgen solle. Ein weiteres Merkblatt vom 4. September 1944 sah den Einsatz als verstärktes Grenadierbataillon an Brennpunkten vor. Wehrunwürdige Soldaten wurden für die Dauer ihres Einsatzes als bedingt wehrwürdig deklariert. Bewährten sich die Soldaten in den Augen ihrer Vorgesetzten nicht, wurden sie in eine Feldstrafgefangenenabteilung versetzt oder wieder der Reichsjustizverwaltung übergeben. Bei schwerem Versagen konnte auch eine Einweisung in ein Feldstraflager erfolgen.660

Nach dem 12. März 1941 wurden zunächst das Infanteriebataillon 500 zbV und die Infanterieersatzkompanie 500 aufgestellt. Danach folgten rasch die Infanteriebataillone zbV 540, 550, 560 und 561. Die Infanterieersatzkompanie 500 wurde zum Infanterieersatzbataillon ausgebaut. Darüber hinaus zählten auch die von September bis November 1944 gebildeten Grenadierbataillone zbV 291, 292 und 491, sowie das Luftwaffenfeldbataillon 1 zbV und das Luftwaffenjägerbataillon 2 zbV zur Bewährungstruppe. 1944 und 1945 wurden noch vier weitere Bataillone der Bewährungstruppe 500 aufgestellt, die die Bezeichnungen Bewährungsbataillon 500 I bis IV trugen. Im April 1945 wurden noch zwei weitere Alarmbataillone gebildet. Der Einsatz der Bewährungstruppe erfolgte an der Ostfront, wobei die Bataillone auf verschiedene Verbände verteilt wurden. Nur die Grenadierbataillone zbV 291 und 292 kamen im Westen zum Einsatz. Eine genaue Anzahl der Soldaten, die in der Bewährungstruppe eingesetzt wurden, lässt sich nicht ermitteln. Schätzungen reichen bis zu 82.000. Realistisch dürfte eine Zahl von rund 27.000 Bewährungssoldaten und 6.000 Mann Stammpersonal sein, wobei diese Zahlen zu Kriegsende noch etwas überschritten worden sein dürften. Die Auswahl der zur Prüfung nach Torgau Fort Zinna überstellten Soldaten erfolgte entweder auf Vorschlag des Kommandanten der jeweiligen Strafeinrichtung, auf Vorschlag des Gerichtsherrn oder aufgrund eines Gnadengesuchs des Häftlings, seines Anwalts oder seiner Angehörigen. Im Lauf des Krieges durchliefen rund 5.200 bis 6.400 Soldaten dieses Auswahlverfahren, und 5.000 bis 6.000 wurden an die Bewährungstruppe 500 überstellt. Die restlichen Bewährungssoldaten wurden direkt aus den Feldstrafgefangenenabteilungen und Gefängnissen zur Bewährungstruppe versetzt.661

Am 12. Februar 1942 befahl das OKW allen Wehrmachtsgefängnissen, -gefangenenabteilungen und dem Straflager Donau, alle Inhaftierten neuerlich auf ihre Bewährungswürdigkeit zu prüfen und in

659 vgl VUA, RKG K32 39/8/12; VUA, RKG K48 39/12/1; VUA, RKG K65 39/13/17; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 431; Klausch, 500 82 ff; Klausch in Haase/Paul 72 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 370; Wüllner, NS-Militärjustiz2 718 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 34. 660 vgl VUA, RKG K27 39/5/14; VUA, RKG K27 39/5/15; VUA, RKG K30 39/7/5; VUA, RKG K32 39/8/12; VUA, RKG K44 39/11/10; VUA, RKG K48 39/12/1; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 63; Klausch, 500 16 ff; Klausch in Haase/Paul 73 ff; Klausch in Kirschner 203; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 371; Walmrath, Iustitia 219 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 645 ff. 661 vgl VUA, RKG K32 39/8/12; Baumann/Koch, Justizsystem, in Baumann/Koch 188 f; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 63 f; Geldmacher in Kohlhofer/Moos 63; Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 431 ff; Klausch, 500 70 ff; Klausch, 999 58 f; Klausch in Haase/Oleschinski2 62 ff; Klausch in Haase/Paul 73; Klausch in Kirschner 203 f; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 371 f; Walmrath, Iustitia 219 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 713 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 189/226

Frage kommende Soldaten den Gerichtsherren zur weiteren Entscheidung bekanntzugeben. Die Gefangenen sollten in weiterer Folge laufend geprüft werden. Ausschlaggebend sollte sein, ob der Soldat für die Truppe tragbar war. Ebenso befahl der BdE Generaloberst Fromm am 27. Dezember 1943 den Gerichtsherren, den Verurteilten so weit wie möglich Gelegenheit zur Frontbewährung zu geben. Im Ersatzheer sollte sogar von einem Teilvollzug der Strafe abgesehen werden, wenn dies auch nur irgendwie vertretbar war. Der Soldat sollte so rasch als möglich an die Front gebracht werden. Die Luftwaffe schloss sich OKW und OKH an. Ihre Soldaten sollten bei Strafen bis zu drei Monaten in ihren eigenen Truppen eingesetzt werden. Bei Strafen zwischen drei und acht Monaten erfolgte der Einsatz bei Fliegerabwehreinheiten, die im Erdkampf eingesetzt wurden. Bei Strafen über acht Monate erfolgte die Bewährung in der Bewährungstruppe, wobei Luftwaffensoldaten auch in Heereseinheiten eingesetzt wurden. Entgegen den anderen Wehrmachtsteilen mussten kurze Strafen in der Kriegsmarine jedenfalls vollzogen werden. Die Marineführung wollte eine zu schnelle Strafaussetzung zur Bewährung verhindern.662

Am 26. Jänner 1942 gab Hitler einen Erlass über Gnadenmaßnahmen bei hervorragender Bewährung während des Krieges663 bekannt. Danach sollten Soldaten durch außergewöhnlichen Mut und Einsatz vor dem Feind ihre Strafen tilgen können. Zusätzlich musste eine günstige Prognose über das zukünftige Verhalten des Betroffenen vorliegen. Die Feststellung des außergewöhnlichen Mutes und Einsatzes behielt sich für das Heer das OKH vor. Bewährte sich der Soldat, konnte die Strafe gemildert, ausgesetzt oder teilweise oder ganz erlassen werden. Auch eine Löschung aus dem Strafregister oder eine Beschränkung der Auskunft waren möglich. Die im Erlass Hitlers angekündigte völlige Rehabilitierung war damit aber nicht mehr gegeben. Entsprechende Anträge waren von den Vorgesetzten mit einer Stellungnahme des Gerichtsherrn über die Armeekommandanten bzw den BdE an OKH vorzulegen. Mit einem Erlass vom 4. Juni 1944 legte der Chef OKW fest, dass in Zukunft Armeekommandanten und gleichgestellte Befehlshaber den bedingt wehrwürdigen Soldaten der Bewährungstruppe wieder die volle Wehrwürdigkeit verleihen konnten, sofern nach Meinung des Disziplinarvorgesetzten mit den Befugnissen eines Regimentskommandanten die Voraussetzungen des Erlasses vom 26. Jänner 1942 gegeben waren. Je länger der Krieg dauerte und umso höher die Verluste der Wehrmacht an der Front waren, desto mehr Verurteilte sollten als Bewährungssoldaten für einen Einsatz gewonnen werden und umso lockerer scheinen die Auswahlkriterien gehandhabt worden zu sein.664

Aus den der Reichsjustizverwaltung unterstehenden Emslandlagern Esterwegen, Aschendorder Moor und Brual-Rhede wurden zwischen 1940 und 1945 mindestens 4.000 Personen über das Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna an die Bewährungstruppe überstellt. Sie stellten rund 16% bis 20% aller Bewährungssoldaten. Die restlichen Soldaten kamen aus den Feldstrafgefangenen- abteilungen und in geringerer Zahl aus den Feldstraflagern. Himmler, der im Juli 1944 die Position des BdE übernommen hatte,665 wollte die Verurteilten nicht mehr der Reichsjustizverwaltung überlassen. Er ordnete daher am 5. September 1944 an, zu Zuchthausstrafen Verurteilte in eigenen Zuchthaus- kompanien der Feldstrafgefangenenabteilungen zu verwahren, sofern sie bewährungswürdig schienen, oder sie der Gestapo zur Einweisung in ein KZ zu übergeben. Am 27. Jänner 1945 ordnete das OKW an, dass Hauptverhandlungen nur mehr angeordnet werden sollten, sofern dies zur Abschreckung im Sinne der Manneszucht erforderlich wäre. In allen anderen Fällen sollte die

662 vgl Klausch, 500 83 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 372 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 195 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 782 ff. 663 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 233 f. 664 vgl VUA, RKG K26 39/5-28; Klausch, 500 107 ff; Klausch, 999 59; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 373 f; Walmrath, Iustitia 167. 665 vgl Moll (Hrsg), Führer-Erlasse 433. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 190/226

Hauptverhandlung ausgesetzt und sofortige Frontbewährung angeordnet werden. Der Chef OKW stellte darüber hinaus in Richtlinien für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen in der Wehrmacht vom 1. Februar 1945 fest, dass eine Strafaussetzung nicht mehr von der Höhe der Strafe, sondern nur von den Erfordernissen der Manneszucht abhängig sein dürfe. Die Kriegslage erforderte es, möglichst viele Soldaten für den Fronteinsatz abzustellen. Darüber hinaus wurden auch einige zivilgerichtlich Verurteilte, die zur Bewährungstruppe 999 eingezogen, aber als nicht tropendiensttauglich befunden wurden, zur Bewährungstruppe 500 überstellt.666

Selbst zum Tode Verurteilte kamen als Bewährungssoldaten in Frage. Bereits am 17. Juli 1941 wurde in einem Erlass festgelegt, dass die Vollziehung des Urteils zur Bewährung ausgesetzt werden könne, wenn die Manneszucht dies zulasse und der Soldat den ehrlichen Willen zur Bewährung habe. Ob eine Bewährungsmöglichkeit eingeräumt wurde, lag im Ermessen der Richter und Gerichtsherren. Nach drei Monaten Dienst in der Bewährungstruppe sollte über die Vollziehung des Todesurteils oder einen Gnadenerweis entschieden werden. Obwohl eine Bewährungsmöglichkeit eigentlich erst nach einer Urteilsbestätigung eingeräumt werden konnte, wurde die Bestätigung in der 11. Armee ab 1942 aufgeschoben und zunächst der Erfolg des Bewährungseinsatzes abgewartet. Für die betroffenen Soldaten stellte dies aber keinen Unterschied dar. Bei einer Bewährung konnten die Strafen in Zuchthaus oder Gefängnis umgewandelt oder aufgehoben werden. Ansonsten stellten die Kommandanten der Bewährungsbataillone einen Antrag auf Urteilsvollstreckung an den Armeerichter. Die Vollstreckungsentscheidung oblag nach einer Stellungnahme des Richters dem Armeekommandanten. Aber selbst nach einer Umwandlung der Todes- in eine Freiheitsstrafe verblieben die Verurteilten meist in den Bewährungsbataillonen.667

Nach der Auflösung der Ersatzbrigade 999 am 15. September 1944 kamen auch vermehrt zivilgerichtlich Verurteilte Bewährungssoldaten bei der Bewährungstruppe 500 zum Einsatz. Soldaten der Bewährungstruppe 999, die nach diesem Termin aufgrund von Krankheit, Verwundung oder aus sonstigen Gründen von ihren Feldeinheiten zur Auffangstelle 999 versetzt wurden, konnten häufig nicht mehr zu ihren Einheiten zurückgeschickt werden. Daher wurden sie an das Infanterieersatz- und Ausbildungsregiment 500 nach Brünn und Olmütz weitergeleitet. Davon dürften immerhin noch einige hundert Bewährungssoldaten betroffen gewesen sein. Innerhalb der Bewährungstruppe 500 wurden die ehemaligen 999 Soldaten von den übrigen Bewährungssoldaten getrennt und gesondert eingesetzt, da ein negativer Einfluss der politisch Vorbestraften auf die restliche Truppe befürchtet wurde.668

Der Einsatz an Brennpunkten des Krieges führte zu einer hohen Gefahr und Belastung für die Bewährungssoldaten. Dies führte wiederum zu einem Anstieg der verübten Delikte wie Fahnenflucht, Selbstverstümmelung oder Widersetzlichkeiten. Im Mittelpunkt der Strafpraxis stand das Ziel der Generalprävention. Mindestens 300 Todesurteile wurden gegen Bewährungssoldaten vollzogen. Aufgrund der mangelhaften Quellenlage ist aber auch hier von tatsächlich höheren Zahlen auszugehen. Die Zahl der verhängten Todesurteile lag außerdem noch deutlich höher, da im Verlauf des Krieges immer mehr Todesurteile umgewandelt und Bewährung in einer Bewährungstruppe angeordnet wurden. Hier spiegelt sich der zunehmende Personalbedarf der Wehrmacht wider. Die Vollziehung von Todesurteilen erfolgte häufig durch Angehörige der Bewährungstruppe, die dazu

666 vgl VUA, RKG K51 39/13/11; VUA, RKG K53 39/13/19; VUA, RKG K63 39/10/11; Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 64; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 162; Klausch, 500 70 ff; Klausch, 999 518 f; Klausch in Haase/Paul 74; Manoschek in Pirker/Wenninger 51 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 374 f; Walmrath, Iustitia 234 f; Wüllner, NS- Militärjustiz2 654 ff. 667 vgl Klausch, 500 85 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 375 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 728 ff. 668 vgl Klausch, 500 277 f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 191/226 ausgewählt wurden, selbst. Die Bewährungssoldaten mussten dabei häufig anwesend sein. Der stellvertretende Kommandant des Infanteriebataillons 500 zbV Major Salzer forderte die Soldaten auf, Kameraden, die nicht den geforderten Einsatz zeigten, zu melden. Solcherart denunzierte liefen Gefahr, in Straflager eingewiesen oder bei einer ursprünglich verhängten Todesstrafe exekutiert zu werden. Insgesamt lässt sich für die Bewährungstruppe 500 aber trotzdem feststellen, dass die Bataillone ihre Aufgaben ebenso erfüllten wie reguläre Truppen und die verübten Delikte keine ungewöhnlichen oder die Truppe gefährdenden Ausmaße erreichten. Auch reguläre Truppen erlitten bei einem Einsatz im Schwerpunkt der Kampfhandlungen ähnlich hohe Verluste wie die Bataillone der Bewährungstruppe 500. Der entscheidende Unterschied lag aber darin, dass reguläre Einheiten nach einem derartigen Einsatz herausgezogen und zu weniger gefährlichen Aufgaben eingesetzt wurden, während die Bewährungstruppe 500 beinahe durchgehend an Brennpunkten des Krieges verwendet wurde. Durch diesen Umstand überstiegen die Verluste der Bewährungstruppe 500 insgesamt jene von regulären Einheiten deutlich.669

Die angewandten Erziehungsmethoden sollten aus der Bewährungstruppe eine Eliteeinheit formen, die immer dann eingesetzt wurde, wenn entscheidende Aktionen durchgeführt werden sollten. Dieser Einsatz an den Schwerpunkten des Krieges führte, wie bereits erwähnt, zu hohen Verlusten in der Bewährungstruppe. Viele Soldaten waren der Meinung in Todesformationen eingesetzt zu werden. Wüllner670 meint, der Tod der Bewährungssoldaten sei gewollt herbeigeführt worden. Dem widerspricht allerdings richtigerweise Messerschmidt671, da dadurch das Ziel der Wehrmacht, möglichst viele Soldaten an der Front verfügbar zu haben, um Verluste auszugleichen und die Kampfkraft zu erhalten, konterkariert worden wäre. Die hohe Todesrate wurde von der Wehrmachtsführung aber billigend in Kauf genommen. Gewollt war jedenfalls der Einsatz der Bewährungsbataillone an besonders exponierten und gefährlichen Stellen, was zwangsläufig zu höheren Verlusten als an anderen Frontabschnitten führte. Einige Bataillone wurden auch völlig aufgerieben.672

H. Bewährungstruppe 999

Im Gegensatz zur Bewährungstruppe 500, in der va von Militärgerichten verurteilte Soldaten eingesetzt wurden, kamen in der Bewährungstruppe 999 von Zivilgerichten Verurteilte, die ihre Wehrwürdigkeit verloren hatten, zum Einsatz. Der Befehl zur Aufstellung der Bewährungstruppe 999 erfolgte am 2. Oktober 1942 unter dem Eindruck hoher Verluste. Ziel war auch hier, möglichst viele Soldaten für einen Fronteinsatz zu gewinnen. Interessant ist die Zusammensetzung der rekrutierten Bewährungssoldaten, da sich unter ihnen viele politische Gegner des Nationalsozialismus befanden wie zB Sozialdemokraten, Kommunisten oder Bibelforscher. Vor der Aufstellung der Bewährungstruppe 999 wurden Anträge auf Wiederverleihung der Wehrwürdigkeit von Gestapo und NSDAP äußerst restriktiv behandelt. Die Wehrmacht sah allerdings keine Unterschiede zwischen militär- und zivilgerichtlich Verurteilten oder KZ-Häftlingen. Bereits ein Erlass des OKW vom 11. April 1942 sah vor, wegen Vorbereitung eines Hochverrats verurteilte Personen einzuberufen, wenn ihre Strafe verbüßt war. Grundsätzlich sollten Personen, gegen die Verurteilungen bis zu drei Jahre Zuchthaus ua wegen Meineids, Amtsvergehen, Diebstahls, Unterschlagung, Betrugs und Sittlichkeitsverbrechen ausgesprochen worden waren, einberufen werden. Bei politischen Straftätern gab es allerdings Widerstand seitens der NSDAP, SS und Gestapo. Anträge wurden von den zivilen

669 vgl Geldmacher, Strafvollzug, in Manoschek 434; Klausch, 500 16 ff; Klausch, 999 31 ff; Klausch in Kirschner 203 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 377 f; Walmrath, Iustitia 219 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 504 ff. 670 vgl Wüllner, NS-Militärjustiz2 716. 671 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 379. 672 vgl Klausch, 500 73 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 378 f; Walmrath, Iustitia 219 ff; Wüllner, NS-Militärjustiz2 716 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 192/226

Stellen nach kurzer Zeit nur bis zu einer Strafhöhe von 18 Monaten Zuchthaus bewilligt. Bei Gesprächen zwischen OKW und Reichsjustizministerium Anfang September 1942 forderte das OKW vor allem eine Beschleunigung des administrativen Prozesses. Anhörungen bei Polizei und Gestapo sollten nur noch bei Fällen staatsfeindlicher Betätigung oder Vorbereitung zum Hochverrat erfolgen. Ende September 1942 sollten Wehrunwürdige bereits unmittelbar aus dem Strafvollzug einberufen werden. Am 2. Oktober 1942 folgte schließlich der Befehl des OKW zur Aufstellung der verstärkten Afrikabrigade 999. Der Leiter der Parteikanzlei Bormann erklärte dazu am 9. Dezember 1942 in einem Schreiben, dass durch den Einsatz Wehrunwürdiger der Wehrdienst nicht herabgewürdigt werden dürfe, allerdings die Wehrunwürdigen auch nicht zu Kriegsgewinnlern werden sollten. Das RSHA befürchtete, dass die Wehrunwürdigen zersetzend wirken könnten, wenn sie in regulären Truppenteilen eingesetzt würden. Bei politischen Häftlingen sollte daher eine Beurteilung durch die Sicherheitspolizei erfolgen.673

Am 15. Oktober 1942 begann die Ausbildung der ersten 500 ehemals Wehrunwürdigen auf dem Truppenübungsplatz Heuberg. Ab Dezember 1943 erfolgte die Ausbildung auch auf dem Truppenübungsplatz Baumholder. Als Ausbildungsverband diente hier die Ersatzbrigade 999. Ende 1942 verfügte die Afrikabrigade 999 über rund 8.000 Soldaten. Im Jänner 1943 wurde vom OKW die Aufstellung einer zweiten Brigade der Bewährungstruppe 999 befohlen. Beide Brigaden wurden im Februar 1943 zur Afrikadivision 999 zusammengefasst. Nach Zwischenstationen in Belgien und Südfrankreich wurde die Afrikadivision 999 ab März 1943 über Italien nach Nordafrika verlegt. Bis zur Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Afrika am 13. Mai 1943 wurden die zur Bewährungstruppe zählenden Afrikaschützenregimenter 961 und 962 an verschiedenen Frontabschnitten eingesetzt. Auf Antrag des Kommandanten der Heeresgruppe Afrika Generaloberst von Arnim wurde Angehörigen der Bewährungstruppe 999 vor der Kapitulation aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen die Wehrwürdigkeit wieder verliehen. Nach der Niederlage in Afrika wurde die Bewährungstruppe 999 ab 17. Mai 1943 nach Griechenland verlegt. Das Regiment 963 wurde dabei als Ausbildungseinheit für Festungsbataillone eingesetzt. Auch die Verbände der bisherigen Afrikaschützenregimenter 961 und 962 wurden in Festungsinfanteriebataillone umgewandelt. Die Festungsinfanteriebataillone XIV, XV und XVII wurden ab Dezember 1943 an der Ostfront verwendet und dort im August 1944 bei Odessa aufgerieben. Insgesamt umfasste die Bewährungstruppe 999 rund 28.000 Bewährungssoldaten und 9.000 Mann Stammpersonal.674

Ein weiterer Einsatz der Bewährungstruppe an der Ostfront unterblieb. Auf Anordnung des Wehrersatzamtes des OKW wurden die Wehrbezirkskommandos im August 1943 aufgefordert, Wehrunwürdige der Geburtsjahre 1894 bis 1907 in Listen zu erfassen. Die zu erfassenden Wehrunwürdigen wurden dabei in fünf Kategorien eingeteilt, in Wehrunwürdige mit Strafen bis zu eineinhalb Jahren Zuchthaus oder zwei Jahren Gefängnis ohne erhebliche Vor- und Nachstrafen, mit Strafen bis zu eineinhalb Jahren Zuchthaus oder zwei Jahren Gefängnis mit erheblichen Vor- und Nachstrafen, mit Strafen bis zu vier Jahren Zuchthaus oder sechs Jahren Gefängnis ohne erhebliche Vor- und Nachstrafen, mit Strafen bis zu sechs Jahren Zuchthaus oder neun Jahren Gefängnis ohne Vor- und Nachstrafen und mit Strafen von mehr als sechs Jahren Zuchthaus oder neun Jahren Gefängnis ohne Vor- und Nachstrafen. Die Wehrmacht ging noch im Jänner 1944 davon aus, dass die Soldaten die Gelegenheit nutzen würden, in der Bewährungstruppe ihre Ehre durch besonders gute Führung und Einsatzbereitschaft wiederherzustellen. Dies war allerdings aufgrund des Einsatzes auch

673 vgl Baumann/Koch, Justizsystem, in Baumann/Koch 190; Klausch, 500 53 ff; Klausch, 999 31 ff; Klausch in Haase/Paul 76 ff; Klausch in Kirschner 212; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 379 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 197; Wüllner, NS-Militärjustiz2 714 ff. 674 vgl Baumann/Koch, Justizsystem, in Baumann/Koch 190; Klausch, 500 81; Klausch, 999 87 ff; Klausch in Haase/Paul 77 ff; Klausch in Kirschner 212 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 381 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 717 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 193/226 politischer Häftlinge und Gegner des NS Regimes kaum realistisch. Nicht einberufen werden sollten aber weiterhin Juden, Zigeuner, Sittlichkeitsverbrecher aus Neigung, Landesverräter, in Sicherungs- verwahrung genommene oder unfruchtbar gemachte Häftlinge sowie mehrfach Verurteilte, die als Berufsverbrecher eingestuft wurden. Die Einberufenen sollten streng aber gerecht behandelt werden. Strafen sollten von Gerichten nur verhängt werden, wenn alle anderen Erziehungsmittel erfolglos geblieben waren. Urlaub wurde aber erst nach der Wiederherstellung der Wehrwürdigkeit gewährt. In Summe erwiesen sich die Bewährungsbataillone 999 aufgrund der Mischung aus politischen und kriminellen Häftlingen als wenig effizient. Trotz der schlechten Erfahrungen wurden die Einstellungs- voraussetzungen im Kriegsverlauf weiter gelockert. Darüber hinaus erfolgten auch Einstellungen, die nicht den Voraussetzungen entsprachen. Kritisiert wurde von den Truppenkommandanten va die Einstellung von Hochverrätern, Kommunisten und sog Berufsverbrechern.675

Der Kommandant des Festungsregiments 965 Oberst von Brückner betrachtete 1943 die Erziehungsmethoden der Wehrmacht in den Bewährungsbataillonen als gescheitert. Der Kommandant des LXVIII. Armeekorps General Felmy meldete am 10. Juli 1943 an den Wehrmachtsführungsstab, dass 30% bis 40% der einberufenen ehemals Wehrunwürdigen in den Festungsinfanteriebataillonen nicht den von Hitler vorgegebenen Kriterien entsprachen. Ein großer Teil der Bewährungssoldaten seien Gewohnheitsverbrecher. Darüber hinaus wies Felmy darauf hin, dass zwischen politisch Vorbestraften und Kriminellen Differenzen bestanden und das Stammpersonal die gestellten Anforderungen oft nicht erfüllen konnte. Politisch Vorbestrafte agitierten in der Bewährungstruppe weiter und versuchten Sabotageakte, bis hin zur Beseitigung von Vorgesetzten, für den Fall eines feindlichen Angriffs vorzubereiten. Politisch Vorbestrafte hielten häufig Kontakt zu Widerstandsbewegungen in den besetzten Gebieten, insbesondere in Griechenland, aber auch in Belgien und Frankreich. Das kritische Verhältnis zwischen politisch und kriminell Vorbestraften in der Bewährungstruppe 999 wird dadurch deutlich, dass zahlreiche Politische wegen dieser Kontakte von anderen Bewährungssoldaten angezeigt wurden. Die folgenden Verfahren vor den Kriegsgerichten endeten häufig mit hohen Zuchthaus- oder Todesstrafen. Trotz Felmys Berichts befahl das Wehrersatzamt des OKW am 15. Dezember 1943, dass von Jänner bis März 1944 weitere 3.000 Wehrunwürdige zur Bewährungstruppe einberufen werden sollten. Ihre Strafen durften vier Jahre Zuchthaus oder sechs Jahre Gefängnis nur dann übersteigen, wenn sie sonst keine Vor- oder Nachstrafen hatten. Damit wurden die Auswahlkriterien trotz negativer Berichte der betroffenen Kommandanten weiter gelockert.676

General Felmy wandte sich an den Chef des Wehrmachtsführungsstabes Generaloberst Jodl und forderte die Rückversetzung von 40% der Bewährungssoldaten in die Ersatzeinheiten. Das OKW verlangte daraufhin Berichte von allen Kommandanten, denen 999 Verbände unterstellt waren. Eine Untersuchung durch vier Offiziere und zwei Heeresrichter in Griechenland wurde veranlasst. Nach der folgenden Flucht von 20 Soldaten des Festungsinfanterieregiments 965 zu den Partisanen wurde damit begonnen, unerziehbare Bewährungssoldaten mit staatsfeindlicher oder verbrecherischer Neigung auszusondern. Bei einer neuerlichen Fahnenflucht sollten 10% der ausgesonderten Soldaten hingerichtet werden. Eingeschränkt wurde dies dadurch, dass maximal 40% aller Bewährungssoldaten ausgesondert werden durften. Als weitere Maßnahmen wurden die Stärke der Kompanien um 25% verringert und gleichzeitig das Stammpersonal von 50 auf 65 pro Kompanie erhöht. Obwohl diese Maßnahmen keine Wirkung entfalteten, blieben die Bewährungsbataillone 999

675 vgl VUA, RKG K51 39/13/18; Klausch, 999 89 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 383 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 715 ff. 676 vgl Klausch, 999 89 ff; Klausch in Haase/Paul 78 f; Klausch in Kirschner 214; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 385 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 715 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 194/226 weiterhin der 12. Armee in Griechenland unterstellt, um den Personalbedarf der Wehrmacht zu decken.677

Die Stärke der Bewährungstruppe 999 schwankte während des Krieges zwischen 20.000 und 30.000 Soldaten. Der Anteil der politisch Vorbestraften lag bei rund 30%, wobei Schätzungen von 10% bis zu 66% reichen. Das Stammpersonal bestand aus rund 9.000 Offizieren, Unteroffizieren und Mannschaften. Aufgrund der besonderen Zusammensetzung aus politischen Gegnern des NS Regimes und Kriminellen kam es zu zahlreichen Verfahren vor den Kriegsgerichten. So wurden bereits kurz nach der Aufstellung zwischen 12. Dezember 1942 und 17. November 1943 nach Militärgerichtsurteilen 37 Bewährungssoldaten am Truppenübungsplatz Heuberg exekutiert. Am Truppenübungsplatz Baumholder fanden von 16. Februar 1944 bis 27. Oktober 1944 weitere 29 Exekutionen statt. Das Gericht der Afrikabrigade 999 überstellte bis 1. Februar 1943 zumindest fünf Bibelforscher an das RKG und verhängte acht Todesurteile wegen Fahnenflucht und unerlaubter Entfernung, obwohl sich das Afrikaschützenregiment 962 in diesem Zeitraum im relativ sicheren Belgien und Frankreich befand. Von den Todesurteilen wurden zumindest sechs auch vollzogen. Die meisten Verurteilungen, die gegen Soldaten auf den Truppenübungsplätzen Heuberg und Baumholder erfolgten, bezogen sich auf Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und Wehrkraftzersetzung, wobei letztere va von politisch vorbestraften Bewährungssoldaten begangen wurde. Im Februar 1943 vollzog die Afrikadivision 999 ein Todesurteil und verhängte zwei weitere wegen Fahnenflucht und eines wegen Wehrkraftzersetzung. Darüber hinaus erfolgten fünf Verurteilungen zu Zuchthaus.678

Auch Soldaten der Festungsinfanteriebataillone XIV, XV und XVII, die an der Ostfront eingesetzt wurden, wurden wegen Fahnenflucht verfolgt. In einem Fall wurde ein Bewährungssoldat zweimal zum Tode verurteilt. Beide Urteile wurden durch Generalfeldmarschall von Kleist aufgehoben. Im dritten Urteil wurde schließlich eine Strafe von acht Jahren Gefängnis verhängt. Dieses Urteil stellt aufgrund seiner relativen Milde eine Besonderheit in der Rechtsprechung der NS Militärjustiz wegen Fahnenflucht dar. Vier Soldaten wurden zum Tode verurteilt, weil sie als Kommunisten mit Unterstützung ukrainischer Zivilisten und Partisanen über den Dnjepr geflohen waren. Dabei hatten sie einige Unteroffiziere als Geiseln genommen. Das Urteil vom Jänner 1944 erfolgte wegen Kriegsverrats, militärischen Aufruhrs und gemeinschaftlicher Fahnenflucht. Wehrwürdigkeit und bürgerliche Ehrenrechte wurden den Verurteilten neuerlich aberkannt. Dieses Ereignis hatte zur Folge, dass politisch vorbestrafte Soldaten aus den Festungsinfanteriebataillonen XIV, XV und XVII abgezogen und in verschlossenen Güterwagen auf den Truppenübungsplatz Baumholder transportiert wurden. Dort erfolgte eine sog Disziplinierung der Soldaten, die danach mit weiteren rund 400 Soldaten nach Griechenland zum Festungsinfanteriebataillon XXI überstellt wurden. Weitere als unzuverlässig eingestufte Soldaten der Bewährungstruppe 999 wurden ab August 1943 aus den Festungsinfanteriebataillonen herausgenommen und in Baupionierbataillonen eingesetzt. Ein Tätigkeitsbericht der Sturmdivision Rhodos von 1. Juli 1943 bis 16. November 1943 erfasst 23 Fälle von Fahnenflucht und unerlaubter Entfernung, von denen 22 von Bewährungssoldaten begangen wurden. In 16 Fällen wurde Anklage vor den Gerichten des Oberbefehlshabers Südost bzw der Sturmdivision Rhodos erhoben. Die Urteile sind nicht bekannt, es ist allerdings davon auszugehen, dass die meisten auf Todesstrafe lauteten. Das Gericht der 41. Festungsdivision verhängte am 4. Juni 1944 Todesurteile gegen sechs politisch vorbestrafte Soldaten des Festungsinfanteriebataillons 999. Die Anklage wurde aufgrund einer Denunziation wegen Bildung einer illegalen Gruppierung erhoben.

677 vgl Klausch, 999 31 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 387 f. 678 vgl Klausch, 500 58 ff; Klausch, 999 87 ff; Klausch in Kirschner 212; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 388 f; Wüllner, NS- Militärjustiz2 717 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 195/226

Der Vorwurf lautete auf Kriegsverrat und Nichtanzeige von Kriegsverrat. Zahlreiche weitere Verfahren und Verurteilungen sind ebenfalls auf Denunziationen zurückzuführen.679

Am 14. September 1944 ermächtigte der Kommandant der Heeresgruppe E Generaloberst Löhr die Gerichtsherrn bis auf Regimentsebene, Todesurteile von Standgerichten gegen Unteroffiziere, Mannschaften und Angehörige des Gefolges zu bestätigen und vollziehen zu lassen, wenn dies zur Aufrechterhaltung der Manneszucht erforderlich sei. Am 17. September 1944 erließ der Kommandant Ost Ägäis Generalmajor Wagener einen Räumungsbefehl, in dem er betonte, dass ein gehäuftes Auftreten von Zersetzungserscheinungen während des Transports insbesondere bei Einheiten mit bedingt wehrwürdigen Soldaten möglich sei. Die Kommandanten sollten streng dagegen vorgehen. Die Inselkommandanten erhielten die Befugnis, Todesurteile von Standgerichten zu bestätigen und unmittelbar vollziehen zu lassen. Bei der Rückverlegung der Bewährungstruppe 999 von Griechenland über Jugoslawien kam es zu hohen Verlusten. Insbesondere politisch vorbestrafte Soldaten beteiligten sich häufig in Kooperation mit Partisanen auch an Sabotageaktionen. Insgesamt erwies sich die Bewährungstruppe 999 für die deutsche Wehrmacht als Problem. Dies war va auf die Zusammensetzung der Einheiten aus politischen Gegnern und Kriminellen zurückzuführen, bei denen die Erziehungs- und Disziplinierungsmethoden der Wehrmacht keine bzw nur eine geringe Wirkung zeigten.680

Am 14. oder 15. September 1944 wurde die Ersatzbrigade 999 durch einen Befehl Himmlers aufgelöst. Dadurch konnten weder neue 999 Einheiten aufgestellt, noch Ersatztransporte für die bestehenden Einsatzbataillone zusammengestellt werden. Die aus Sicht der NSDAP politische Unzuverlässigkeit vieler Soldaten dieser Einheiten dürfte dafür mitausschlaggebend gewesen sein. Die Abwicklung der Ersatzbrigade 999 übernahm die Auffangstelle 999, die aus der Stamm- und der Genesendenkompanie der Ersatzbrigade gebildet wurde. Rund 400 Bewährungssoldaten, die entweder in bisherigen Einsätzen als politisch unzuverlässig eingestuft worden waren, sich noch in Ausbildung befanden oder nach einer Krankheit oder Verletzung nicht mehr einsatzfähig waren, wurden in das KZ Buchenwald überstellt. Andere Soldaten wurden in der Organisation Todt oder sog Einsatzbataillonen 999 für Bauaufgaben am Westwall und anderen Frontabschnitten eingesetzt. Die bereits eingesetzten Bataillone 999 blieben aber weiterhin im Einsatz. Die nach Buchenwald deportierten Bewährungssoldaten wurden durch den Einsatz einzelner Offiziere der Ersatzbrigade 999, ua des Kriegsgerichtsrats der Brigade, wieder entlassen. Die Entlassungsscheine wurden unter Umgehung der Befehlshierarchie vom Kommandanten des Truppenübungsplatzes Baumholder Oberst Baumgart, der den Kommandanten der Ersatzbrigade 999 vertrat, ausgestellt. Die Entlassung erfolgte entweder zurück nach Baumholder oder in die Heimat. Allerdings gelangte eine Reihe der bei der Organisation Todt eingesetzten Bewährungssoldaten nachträglich wieder ins KZ, überwiegend nach Sachsenhausen.681

679 vgl Dörner in Haase/Paul 110 ff; Fritsche, Österreichische Opfer, in Manoschek 91 ff; Hornung in Pirker/Wenninger 98 ff; Klausch, 999 447 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 389 f; Wüllner, NS-Militärjustiz2 504 ff. 680 vgl Klausch, 999 785 ff; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 391; Wüllner, NS-Militärjustiz2 715 ff. 681 vgl Eberlein in Eberlein/Haase/Oleschinski 86; Klausch, 500 262 ff; Klausch, 999 150 ff; Klausch in Haase/Paul 80; Klausch in Kirschner 216. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 196/226

VII. Aufarbeitung nach Kriegsende

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich überblicksartig mit der juristischen Rehabilitierung der durch die NS Militärjustiz Verurteilten sowie dem weiteren Karriereweg der beteiligten Juristen in Österreich nach 1945. Die Thematik der Entschädigungs- und Fürsorgeleistungen, die den betroffenen Opfern, wenn überhaupt, erst relativ spät zugesprochen wurden, wird hier nicht behandelt. Dies soll die vorangestellten Kapitel ergänzen und abrunden, indem der Umgang mit Opfern der NS Militärjustiz im Nachkriegsösterreich kurz dargestellt wird.

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden in den Jahren 1945 und 1946 im Zuge der Entnazifizierung zahlreiche Angehörige der Justizverwaltung entlassen. Als Grundlage diente das Verbotsgesetz 1945.682 Der Personalstand sank im Vergleich zu 1938 um 44%. Um dem dadurch entstehenden Personalengpass in der Justiz zu begegnen, wurden Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsbeamte, die von den Nationalsozialisten entlassen worden waren, wieder eingestellt und junge Juristen im Justizdienst beschäftigt. Mit dem Verbotsgesetz 1947683 wurden ehemalige Nationalsozialisten in belastete und minderbelastete eingeteilt. Minderbelastete mussten sich einer Prüfung ihres Verhaltens während des NS Regimes unterziehen. Wenn eine Kommission darüber hinaus feststellte, dass ihr rückhaltloses Eintreten für die österreichische Demokratie gewährleistet sei, konnten sie nunmehr wieder in den Justizdienst aufgenommen werden. Die angelegten Maßstäbe waren allerdings noch relativ streng. 1948 fiel im Zuge einer Amnestie684 für minderbelastete Nationalsozialisten auch die kommissionelle Überprüfung fort. Nunmehr konnten vermehrt auch ehemalige Nationalsozialisten in den Justizdienst aufgenommen werden. Am 14. März 1957 folgte der Beschluss eines NS Amnestiegesetzes685 durch den Nationalrat. Dadurch konnten vor allem minderbelastete Nationalsozialisten noch leichter amnestiert und wieder ins öffentliche Leben integriert werden. Von 1949 bis 1952 und 1956 bis 1960 amtierte mit Otto Tschadek (SPÖ) ein ehemaliger Marinerichter sogar als Justizminister in der österreichischen Bundesregierung. Die Problematik ehemaliger Nationalsozialisten in öffentlichen Funktionen betraf nach 1945 alle gesellschaftlichen Bereiche Österreichs. Die Justiz stellte daher keine Besonderheit, allerdings einen besonders sensiblen Bereich dar. Dies führte insbesondere in den Jahren 1960 bis 1970 zu intensiven Diskussionen, allerdings konnte sich die Politik nicht zu einer neuerlichen Prüfung der Verfahren vor den Entnazifizierungskommissionen durchringen.686

Die theoretische, rechtsphilosophische Grundlage des Rechts bildet in den meisten modernen Rechtsordnungen der Rechtspositivismus, der sich im 20. Jahrhundert gegenüber der Naturrechtslehre durchgesetzt hat. Der Rechtspositivismus geht davon aus, dass nur gesatztes Recht, das in einem formal definierten, ordentlichen staatlichen Verfahren erzeugt wurde, Gültigkeit besitzt. Recht und Gerechtigkeit sind dabei nicht zwingend deckungsgleich. Im Sinne der Rechtssicherheit kann solcherart formal korrekt zustande gekommenes Recht nicht nachträglich rückwirkend zu Unrecht werden, nur weil sich rechtliche Bewertungen und Maßstäbe im Lauf der Zeit verändert

682 vgl öStGBl 1945/13. 683 vgl Wiederverlautbarung des Verbotsgesetzes 1945 öStGBl 1945/13 mit Novellen. 684 vgl Bundesverfassungsgesetz vom 21. April 1948, über die vorzeitige Beendigung der im Nationalsozialistengesetz vorgesehenen Sühnefolgen für minderbelastete Personen öBGBl 1948/99. 685 vgl Bundesverfassungsgesetz vom 14. März 1957, womit die Bestimmungen des Nationalsozialistengesetzes, BGBl. Nr. 25/1957, abgeändert oder aufgehoben werden (NS-Amnestie 1957) öBGBl 1957/82. 686 vgl Moos in Kohlhofer/Moos 71; Parlament, Dr. Otto Tschadek, https://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_01423/ index.shtml (abgefragt am 29.1.2018); Walmrath, Iustitia 16; Wirth, Oscar Bronner: „Die Richter sind unter uns“ – Zur NS- Richterdiskussion im FORVM 1965, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 300 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 197/226 haben. Demzufolge wäre auch das formal korrekt nach den damals gültigen Regeln zustande gekommene NS Recht gültig gewesen. Somit wären auch die drakonischen Urteile der NS Militärgerichte und sogar Einweisungen in KZ und Todesstrafen rechtmäßig gewesen. Immerhin beruhten sie auf dem damals gültigen Recht.687

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich nun die Frage für die österreichische, aber auch für die deutsche Justiz, ob und wie die Urteile der NS Militärjustiz aufgehoben werden könnten. Einen klaren formal rechtspositivistischen Standpunkt nahm der Innsbrucker Strafrechtsprofessor Rittler688 in einem Lehrbuch 1954 ein. Rittler lehnt eine übergesetzliche Ordnung konsequent ab. Das oberste Rechtsprinzip sei der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Nur von staatlichen Rechtssetzungsorganen als Recht definierte Normen könnten als Recht anerkannt werden, unabhängig vom tatsächlichen Unrechtsgehalt einer Norm. Eine über dem positiven Recht stehende Norm auf Basis eines Vernunft- oder Naturrechts war für Rittler denkunmöglich. Auf Basis seiner Lehre erkannte er zwar das NS Unrecht an, weigerte sich aber, dem NS Recht seine Legitimation abzusprechen, weil er dadurch die Rechtssicherheit allgemein gefährdet sah. Urteile der NS Justiz dürften daher nicht aufgehoben werden.689 Am prägnantesten brachte diese Position der ehemalige NS Marinerichter und spätere Ministerpräsident Baden Württembergs Filbinger zum Ausdruck: „Was damals rechtens war, kann heute kein Unrecht sein.“690

Konträr zu Rittlers Position stellte sich va der deutsche Strafrechtslehrer Radbruch. Radbruch691 vertrat grundsätzlich ebenfalls einen rechtspositivistischen Standpunkt, nach dem staatliche Gesetze prinzipiell Gültigkeit haben. Wenn die im Gesetz verwirklichte Ungerechtigkeit allerdings ein so unerträgliches Ausmaß annimmt, das die Rechtssicherheit gegenüber der Gerechtigkeit nicht mehr ins Gewicht fällt, dann muss das formal korrekt erlassene Gesetz dennoch als unrichtiges Recht erkannt und der Gerechtigkeit der Vorzug gegeben werden. Wenn staatliches Recht also offensichtlich grobes Unrecht darstellt, wie dies in totalitären, diktatorischen Systemen der Fall ist, dann muss vom strengen Rechtspositivismus abgewichen werden. Unrichtige Gesetze und darauf basierende Maßnahmen sind danach als Unrecht zu qualifizieren. Im Theorienstreit setzte sich letztendlich der Standpunkt Radbruchs durch. Die Radbruchformel wurde erstmals in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen angewandt und wurde auch zur Grundlage der juristischen Aufarbeitung des NS Unrechts in Deutschland, während in Österreich zunächst am rein formalen Rechtspositivismus festgehalten und diese Position erst allmählich geändert wurde. NS Recht stellte auf dieser Grundlage gesetzliches Unrecht dar.692

Bereits am 26. Juni 1945 erließ die Provisorische Staatsregierung das Kriegsverbrechergesetz.693 Dadurch wurden während des Krieges begangene Taten, die den Anforderungen der Menschlichkeit,

687 vgl Moos in Kohlhofer 110; Walter, Die juristische Rehabilitierung von österreichischen Opfern der NS-Militärjustiz, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 604 f. 688 vgl Rittler, Lehrbuch des österreichischen Strafrechts2 (1954) 26 ff. 689 vgl Moos in Kohlhofer 111 ff; Moos in Kohlhofer/Moos 66; Walter, Rehabilitierung, in Manoschek 605. 690 zitiert nach Baumann in Pirker/Wenninger 280; Baumann/Koch, Wanderausstellung, in Baumann/Koch 11; Benz in Baumann/Koch 7; Friedrich, Nazi-Justiz 186; Haase, Deserteure2 110; Jelinek in Pirker/Wenninger VII; Miklau, Laudatio für Reinhard Moos, in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau (Hrsg), Strafrecht und wertbezogenes Denken. Festgabe für Reinhard Moos zum 80. Geburtstag (2012) 14; Thomas in Haase/Paul 49; Wette in Kirschner 270; Wirth in Pirker/Wenninger 302; Wüllner, NS-Militärjustiz2 252. 691 vgl Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105 (107); Radbruch, Rechtsphilosophie8 (1973) 170 ff. 692 vgl Birklbauer, Reinhard Moos und sein Einsatz für die Rehabilitierung von Wehrdienstverweigerern, in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau (Hrsg), Strafrecht und wertbezogenes Denken. Festgabe für Reinhard Moos zum 80. Geburtstag (2012) 105; Friedrich, Nazi-Justiz 74 ff; Hautmann in Kohlhofer 76 f; Moos in Kohlhofer 118 ff; Moos in Kohlhofer/Moos 65 ff; Putz in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau 109 ff; Walter, Rehabilitierung, in Manoschek 605 f. 693 vgl Verfassungsgesetz vom 26. Juni 1945 über Kriegsverbrechen und andere nationalsozialistische Untaten (Kriegsverbrechergesetz) öStGBl 1945/32. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 198/226 den allgemein anerkannten Grundsätzen des Völkerrechts oder des Kriegsrechts widersprachen, zu Kriegsverbrechen erklärt. Auch ein Handeln auf Befehl schloss die Schuld gem § 1 Abs 3 Kriegsverbrechergesetz nicht aus. Als Strafe war gem § 1 Abs 4 leg cit ein Rahmen von zehn bis 20 Jahren schweren Kerkers vorgesehen. Bei einer schweren Körperverletzung oder erheblichem Sachschaden erhöhte sich der Strafrahmen auf lebenslänglichen schweren Kerker. Hatte die Tat den Tod einer Person zur Folge, war die Todesstrafe vorgesehen. Der Befehlende war dabei gem § 1 Abs 5 leg cit strenger zu bestrafen als der Ausführende. Gem § 1 Abs 6 leg cit waren Mitglieder der Reichsregierung, Gauleiter, Reichsleiter, Reichsstatthalter, Reichsverteidigungskommissare und Führer der SS vom Standartenführer aufwärts jedenfalls als Kriegsverbrecher zu betrachten und als Urheber nationalsozialistischen Unrechts und Rädelsführer mit dem Tod zu bestrafen. Gem §§ 2 ff Kriegsverbrechergesetz wurden auch Kriegshetzerei, Quälereien und Misshandlungen, Verletzungen der Menschenwürde, missbräuchliche Bereicherungen und Denunziationen während der NS Zeit unter Strafe gestellt. Kommandanten, Lagerführer und deren Stellvertreter in Konzentrationslagern, leitende Beamte der Gestapo und des Sicherheitsdienstes mit nicht rein administrativen Funktionen vom Abteilungsleiter aufwärts, Mitglieder des VGH sowie der Oberreichsanwalt beim VGH und deren Stellvertreter waren wegen Quälereien und Misshandlungen gem § 3 Abs 3 Kriegsverbrechergesetz jedenfalls mit dem Tod zu bestrafen. Gem § 8 Kriegsverbrechergesetz beging Hochverrat am österreichischen Volk, wer in führender oder einflussreicher Stellung etwas unternommen hatte, um die Machtergreifung der NSDAP in Österreich zu fördern. Als Strafe für dieses Delikt sah das Gesetz die Todesstrafe vor.

Wenige Tage später beschloss die Provisorische Staatsregierung am 3. Juli 1945 das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz.694 Gem § 1 Aufhebungs- und Einstellungsgesetz wurden Verurteilungen von Österreichern durch NS Gerichte aufgrund der KSSVO und der Bestimmungen gegen Hoch- und Landesverrat als nicht erfolgt betrachtet, sofern die Taten gegen die NS Herrschaft oder auf die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs gerichtet waren. Darüber hinaus galt dies ohne Einschränkung für Urteile aufgrund § 5 des Gesetzes zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre,695 des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniform sowie der Verordnung über außerordentliche Rundfunkmaßnahmen696. Laufende Strafverfahren waren gem § 2 leg cit einzustellen. Entschädigungs- und Rückersatzansprüche wurden gem § 7 leg cit ausdrücklich ausgeschlossen. Dieses Gesetz wurde durch eine Verordnung vom 5. September 1945697 ergänzt, in der weitere NS Rechtsnormen festgelegt wurden, auf deren Basis gefällte Urteile als nicht erfolgt zu betrachten sind. Die Aufhebung der NS Urteile erfolgte allerdings nicht automatisch, sondern erforderte gem § 4 Aufhebungs- und Einstellungsgesetz eine Einzelfallprüfung, die entweder amtswegig oder auf Antrag einzuleiten war. Vor allem der Nachweis, dass eine Verurteilung auf Basis der KSSVO aufgrund einer Tat erfolgte, die gegen die NS Herrschaft oder auf die Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs gerichtet war, stellte häufig ein Hindernis für die Aufhebung der NS Urteile dar. Darüber hinaus waren alle Verurteilungen aufgrund einer Bestimmung des MStGB vom Gesetz nicht erfasst.698

694 vgl Gesetz vom 3. Juli 1945 über die Aufhebung von Strafurteilen und die Einstellung von Strafverfahren (Aufhebungs- und Einstellungsgesetz) öStGBl 1945/48. 695 vgl RGBl I 1935/100. 696 vgl RGBl I 1939/169. 697 vgl Verordnung der Provisorischen Staatsregierung vom 5. September 1945, betreffend die Ergänzung des Gesetzes vom 3. Juli 1945 über die Aufhebung von Strafurteilen und die Einstellung von Strafverfahren (Verordnung zum Aufhebungs- und Einstellungsgesetz) öStGBl 1945/155. 698 vgl Grünewald, Die Ergebnisse des Forschungsprojektes – aus der Sicht des Bundesministeriums für Justiz – Teil 1, in Kohlhofer/Moos (Hrsg), Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit – Rehabilitierung und Entschädigung (2003) 92 f; Kohlhofer, Gewissensfreiheit und Militärdienst - International, in Kohlhofer (Hrsg), Gewissensfreiheit und Militärdienst (2000) 88 f; Manoschek in Kohlhofer/Moos 30 ff; Metzler, Reinhard Moos und die Rehabilitierung der österreichischen Opfer der NS- Militärjustiz. Ein Lob des langen Atems, in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau (Hrsg), Strafrecht und wertbezogenes Denken. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 199/226

Das Aufhebungs- und Einstellungsgesetz bot unmittelbar nach Kriegsende eine erste Handhabe, um NS Urteile aufzuheben. Das erste Todesurteil der Wehrmachtsjustiz wurde allerdings erst am 3. Juni 1997 vom Landesgericht für Strafsachen Wien699 unter Anwendung des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes aufgehoben. Es handelte sich dabei um das am 22. Jänner 1943 vom RKG gefällte Todesurteil gegen Anton Uran, der als Zeuge Jehovas gem § 5 KSSVO wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt und am 23. Februar 1943 hingerichtet worden war. Das Landesgericht hob in seiner Urteilsbegründung den Unrechtscharakter der KSSVO hervor, ohne die vom Gesetz eigentlich geforderte politische oder persönliche Motivation Urans näher zu prüfen. Allein die Tatsache der Verurteilung auf Basis bestimmter NS Gesetze wie der KSSVO, deren Unrechtscharakter nach der Radbruchformel immanent ist, sollte für eine Rehabilitierung der Opfer der NS Justiz ausreichen.700

Ein weiterer Schritt zur Aufhebung von NS Urteilen wurde am 6. März 1946 mit der Befreiungsamnestie701 gesetzt. Dieses Gesetz zielte zunächst auf die Einstellung von Verfahren der NS Justiz, die nach Kriegsende noch nicht beendet waren. Noch offene Verfahren wegen Taten, die während der NS Zeit und danach bis zum 25. November 1945 begangen worden waren, sollten eingestellt werden. Strafen und Strafreste bis zu drei Jahren sollten erlassen werden, längere Strafen bzw Strafen aufgrund von Urteilen der Sondergerichte nochmals überprüft werden. Gem § 7 Befreiungsamnestie wurde die weitere Verfolgung von Delikten gegen die deutsche Militärstrafgesetz- gebung verboten, selbst wenn die Tat auch nach österreichischem Recht strafbar wäre. Urteile der NS Militärgerichte galten als nicht erfolgt. § 8 Befreiungsamnestie sah wiederum eine Aufhebung von Urteilen von Amts wegen oder auf Antrag vor. Moos702 und Grünewald703 weisen dieser Urteilsaufhebung aufgrund des Wortlauts des § 7 Befreiungsamnestie allerdings lediglich deklaratorischen Charakter zu. Die Urteile selbst seien gem leg cit ex lege aufgehoben, weil den Gerichten kein materieller Spielraum bleibe. Dieser Standpunkt ist allerdings nicht unumstritten. So erachten Forster704, Manoschek705 und Metzler706 bei bereits abgeschlossenen Verfahren vor NS Gerichten auch hier eine Einzelfallprüfung für nötig. Darüber hinaus meinen sie, dass eine Aufhebung der NS Urteile nur vorgesehen sei, sofern die Strafe noch nicht vollständig verbüßt war.707 Tatsächlich lässt der Wortlaut des § 8 Befreiungsamnestie Zweifel über eine Aufhebung der NS Militärgerichtsurteile ex lege zu (arg „Die nach § 7, Abs. (2), zu treffende Entscheidung darüber, ob die Verurteilung als nicht erfolgt gilt“). Im Ergebnis ist aber mE Moos und Grünewald zu folgen. Darüber hinaus besteht die Möglichkeit der Urteilsaufhebung für Militärgerichtsurteile mE auch nach bereits vollständig verbüßten Strafen. Allerdings sieht auch Moos708 die Befreiungsamnestie als unzureichend

Festgabe für Reinhard Moos zum 80. Geburtstag (2012) 118; Moos in Kohlhofer 134 ff; Moos in Kohlhofer/Moos 75 ff; Walter, Rehabilitierung, in Manoschek 606 ff. 699 LGS Wien 3.6.1997, 4aE Vr 5094/97. 700 vgl Grünewald in Kohlhofer/Moos 91 ff; Moos in Kohlhofer 133 ff; Moos in Kohlhofer/Moos 75 ff; Moos, Das Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS-Militärjustiz in Österreich, JRP 2006, 182; Walter, Rehabilitierung, in Manoschek 612 f. 701 vgl Bundesgesetz über die Einstellung von Strafverfahren, die Nachsicht von Strafen und die Tilgung von Verurteilungen aus Anlaß der Befreiung Österreichs (Befreiungsamnestie) öBGBl 1946/79. 702 vgl Moos in Kohlhofer/Moos 85 f; Moos, Das Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS- Militärjustiz in Österreich, JRP 2006, 182. 703 vgl Grünewald in Kohlhofer/Moos 98 ff. 704 vgl Forster, Die Zweite Republik und die Wehrmachtsdeserteure. Fürsorge und Entschädigung für Opfer der NS- Militärjustiz, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 239. 705 vgl Manoschek in Kohlhofer/Moos 34 f. 706 vgl Metzler, Nicht länger ehrlos. Die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich, in Pirker/Wenninger (Hrsg), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen (2010) 253 ff. 707 vgl Forster in Pirker/Wenninger 239; Grünewald in Kohlhofer/Moos 96 ff; Manoschek in Kohlhofer/Moos 34 f; Metzler in Pirker/Wenninger 253 ff; Moos in Kohlhofer/Moos 83 ff; Walter, Rehabilitierung, in Manoschek 609 ff. 708 vgl Moos in Kohlhofer/Moos 86 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 200/226 an, da das Gesetz zum einen lange in Vergessenheit geraten war und zum anderen die Regelungen iVm dem Aufhebungs- und Einstellungsgesetz unübersichtlich und widersprüchlich seien.709

Insbesondere Fahnenflucht wurde auch in der Nachkriegszeit negativ konnotiert. Deserteure wurden als Feiglinge, Kameradenmörder und ähnliches bezeichnet.710 Dabei stellt sich insbesondere aus österreichischer Sicht die Frage, ob nicht gerade die Deserteure durch ihre Fahnenflucht ihre Pflicht gegenüber der Heimat erfüllt haben. Folgt man der Okkupationstheorie, dienten sie als Österreicher in der deutschen Wehrmacht nicht nur in einer fremden Armee, sondern in einer Okkupationsarmee, die ihr Heimatland besetzt hatte. Wenn sich nun ein Österreicher weigerte, in der Armee des Besatzungs- staates Dienst zu tun, oder sich diesem Dienst nach seiner Einberufung entzog, so muss dies als patriotischer und angesichts des drakonischen Vorgehens der NS Militärjustiz als mutiger Akt gewertet werden, eine Bewertung, die allerdings bis heute nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert ist, obwohl das offizielle Österreich diesen Standpunkt bereits 1946 vertreten hatte.711 Im sog Rot-Weiß- Rot-Buch, das dazu dienen sollte, den Beitrag Österreichs zu seiner Befreiung in einem möglichst positiven Licht darzustellen, heißt es dazu: „trotzdem häuften sich in Österreich die Desertionen und viele tausend Wehrmachtsangehörige wurden wegen Fahnenflucht hingerichtet. … Sie sind Opfer Österreichs im Befreiungskampf“.712

Am 22. April 1999 brachte der Grüne Nationalratsabgeordnete Wabl einen Entschließungsantrag ein, in dem er eine pauschale, amtswegige Aufhebung aller Urteile der NS Wehrmachtsjustiz gegen Österreicher forderte. Nach Änderungen durch das Justizministerium stimmte der Justizausschuss des öNR dem Entschließungsantrag am 6. Juli 1999 mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, der Grünen und des Liberalen Forums zu. Lediglich die Abgeordneten der FPÖ stimmten dagegen. Der Beschluss der Entschließung durch den Nationalrat erfolgte schließlich am 14. Juli 1999. Allerdings wurde seitens der ÖVP nun eine Einzelfallprüfung verlangt. In weiterer Folge beschloss der Nationalrat ein Forschungsprojekt zu den österreichischen Opfern der NS Militärjustiz zu initiieren, das am 18. Oktober 1999 vom Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr ausgeschrieben wurde und die Grundlage für Urteilsaufhebungen gem § 4 Aufhebungs- und Einstellungsgesetz sein sollte. Mit der Durchführung des Projektes wurde der Wiener Professor für Politikwissenschaft Manoschek betraut.713

Aufbauend auf die Ergebnisse dieses Projekts und der seit 1999 andauernden politischen Diskussion wurde ein Schritt zur vollständigen Rehabilitierung der Opfer der NS Militärjustiz mit dem Anerkennungsgesetz 2005714 gesetzt. Ein erster Entwurf eines NS Rehabilitierungsgesetzes des Linzer Strafrechtsprofessors Moos wurde am 19. April 2005 von den Grünen im Nationalrat präsentiert. Daraufhin legte die Bundesregierung einen eigenen Gesetzesentwurf vor, der am 7. Juli

709 vgl Metzler, Rehabilitierung 81 ff; Metzler in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau 119. 710 vgl Baumann in Baumann/Koch 22; Baumann U in Kirschner 33; Fritsche in Kohlhofer/Moos 37; Fritsche in Pirker/Wenninger 144 f; Haase, Fahnenflucht 5; Jelinek in Pirker/Wenninger VIII f; Manoschek in Kohlhofer/Moos 35 f; Metzler, Die politischen Debatten um die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit in Deutschland und Österreich, in Manoschek (Hrsg), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich (2003) 617 ff; Metzler, Rehabilitierung 69 f. 711 vgl Forster in Pirker/Wenninger 238 ff; Fritsche in Kohlhofer/Moos 38; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 134; Manoschek in Pirker/Wenninger 47; Metzler, Rehabilitierung 60 ff; Metzler, Rehabilitierung, in Manoschek 638 ff; Metzler in Pirker/Wenninger 251 ff. 712 Republik Österreich, Rot-weiß-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen) I (1946) 154. 713 vgl Grünewald in Kohlhofer/Moos 93 ff; Hautmann in Kohlhofer 67 f; Kohlhofer, Vorwort, in Kohlhofer/Moos (Hrsg), Österreichische Opfer der NS-Militärgerichtsbarkeit – Rehabilitierung und Entschädigung (2003) 9; Manoschek in Kohlhofer/Moos 29 ff; Metzler, Rehabilitierung 66 ff; Metzler in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau 119; Metzler, Rehabilitierung, in Manoschek 634 ff; Moos in Kohlhofer 140; Moos in Kohlhofer/Moos 81 ff; Moos, Das Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS-Militärjustiz in Österreich, JRP 2006, 182. 714 vgl öBGBl I 2005/86. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 201/226

2005 im Nationalrat beschlossen wurde. Allerdings wurden die Begriffe Deserteur, Desertion oder Fahnenflucht im Gesetzestext nicht verwendet. Das Gesetz stellte im Wesentlichen eine authentische Interpretation des Aufhebungs- und Einstellungsgesetzes1945 und der Befreiungsamnestie 1946 durch den Gesetzgeber dar. Art I des Anerkennungsgesetzes 2005 beinhaltete dabei das eigentliche Anerkennungsgesetz und regelte die Aufhebung von NS Urteilen. Moos715 kritisiert, dass das Gesetz die bisher bestehenden Unklarheiten bei der juristischen Rehabilitation von Verurteilten der NS Gerichte nicht beseitigt, sondern sogar vermehrt.716

Am 1. Oktober 2009 präsentierte das Justizministerium Eckpunkte eines Rehabilitationsgesetzes, dem eine lange innenpolitische Debatte vorangegangen war. Mit diesem Gesetz sollten alle Urteile der NS Militärjustiz aufgehoben werden. Ausgenommen waren Deserteure, die während ihrer Flucht getötet hatten. Das Bild des Deserteurs als Kameradenmörder war allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits durch Forschungen des Justizministeriums selbst widerlegt worden. Demnach wandten 99,6% der Fahnenflüchtigen keine Gewalt an. Nur in fünf von 1.276 untersuchten Fällen österreichischer Fahnenflüchtiger kam es zur Anwendung von Gewalt, davon in zwei Fällen zu Morden, die im Rahmen der Flucht begangen wurden. Nach einer Einigung zwischen SPÖ, ÖVP und Grünen am 7. Oktober 2009 im Justizausschuss des Nationalrates, alle Opfer der NS Militärjustiz und der NS Justiz allgemein zu rehabilitieren, erfolgte am 21. Oktober 2009 schließlich der Beschluss des Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetzes717 im Nationalrat. Das Gesetz trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Gem § 4 Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz wurden alle Urteile von NS Gerichten aufgehoben, Widerstandstaten wurden generell rehabilitiert und den Opfern der NS Justiz wurde die Achtung ausgesprochen.718

715 vgl Moos, Das Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS-Militärjustiz in Österreich, JRP 2006, 182. 716 vgl Forster in Pirker/Wenninger 239 ff; Manoschek in Pirker/Wenninger 43 ff; Metzler, Rehabilitierung 130 ff; Metzler in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau 119 ff; Metzler in Pirker/Wenninger 255 ff; Moos, Das Anerkennungsgesetz 2005 und die Vergangenheitsbewältigung der NS-Militärjustiz in Österreich, JRP 2006, 182. 717 vgl öBGBl I 2009/110. 718 vgl Forster in Pirker/Wenninger 239 ff; Fritsche in Kohlhofer/Moos 41 f; Geldmacher, Fahnenflucht, in Manoschek 141 ff; Manoschek, Einleitung, in Manoschek 7; Manoschek in Pirker/Wenninger 43 ff; Metzler in Birklbauer/Huber/Jesionek/Miklau 115 f; Metzler in Pirker/Wenninger 251 ff; Moos, Das Aufhebungs- und Rehabilitationsgesetz 2009, JRP 2010, 146; Pirker/Wenninger in Pirker/Wenninger X f. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 202/226

VIII. Zusammenfassung

Die vorliegende Dissertation hat gezeigt, dass Soldaten der Wehrmacht relativ rasch in die Mühlen der Militärjustiz geraten und nur selten mit Milde rechnen konnten. Im Vordergrund standen die Aspekte der Aufrechterhaltung der Manneszucht und der Abschreckung. Individuelle Schuld spielte dagegen kaum eine Rolle. Die in dieser Dissertation ausgewählten und dargestellten Urteile vermitteln einen Einblick in die Urteilspraxis der NS Militärjustiz und insbesondere des RKG.

Die Strafhöhen und die Anzahl der Todesstrafen nahmen im Lauf des Krieges deutlich zu. Allerdings wurde es, je länger der Krieg dauerte, umso wahrscheinlicher, dass Todesurteile und Freiheitsstrafen nicht vollzogen sondern zur Bewährung ausgesetzt wurden. Zuchthausstrafen, Straflagerverwahrung usw waren ohnehin kein Vollzug im engeren Sinn, weil diese Strafen bis Kriegsende ausgesetzt waren und erst danach verbüßt werden sollten. Ein Vollzug im engeren Sinne fand nur ausnahmsweise in Wehrmachtsgefängnissen statt. Aber auch in den Bewährungseinheiten, die an besonders gefährdeten Stellen der Front eingesetzt wurden, war der Tod für die Verurteilten allgegenwärtig. Die Aussetzung der Strafe bedeutete also in vielen Fällen nur einen Aufschub. Auch erfolgte die Strafaussetzung nicht etwa aus Milde der NS Führung gegenüber den Verurteilten, sondern in dem Bestreben möglichst viele Reserven für den Fronteinsatz freizumachen.

Auch wenn manche Taten nach heutigen Gesetzen immer noch als Unrecht zu betrachten sind, bedeutet das nicht, dass der Täter nicht gleichzeitig zum Opfer der NS Militärgerichtsbarkeit werden konnte. Viele Angeklagte wurden aufgrund geringfügiger Vergehen, wie zB dem Diebstahl einer Tafel Schokolade, zu hohen Strafen verurteilt und gerieten danach in die Mühlen des NS Militärstraf- vollzugs, in dem die Strafe, wie oben dargestellt, oftmals nicht tatsächlich verbüßt wurde. Darüber hinaus fällte die Wehrmachtsjustiz eine Reihe drakonischer Urteile, und rechtsstaatliche Standards waren in den Verfahren nicht gegeben.719

Der spezifische Unrechtsgehalt der Urteile der NS Militärjustiz gegenüber Straftätern, deren Taten auch nach heutigen Maßstäben eine strafbare Handlung darstellen, ergibt sich einerseits aus der Höhe und Unvorhersehbarkeit des Strafmaßes und andererseits aus der ideologischen Beeinflussung der Urteilsfindung. Die weitgehende Ausschaltung rechtsstaatlicher Standards im Verfahren und die Beschränkung der Beschuldigtenrechte konstituieren weitere Elemente des spezifischen NS Unrechts gegenüber diesen Tätern. Anzumerken ist auch, dass viele Täter lediglich durch Unbedachtheit und Leichtfertigkeit in Konflikt mit der NS Militärjustiz gerieten. Dies war häufig auch durch die psychische Ausnahmesituation des Krieges bedingt.

Der Einfluss des Nationalsozialismus auf die NS Militärjustiz war ebenso wie in allen anderen Bereichen Deutschlands gegeben und verstärkte sich im Lauf des Krieges. Dazu dienten einerseits die Gesetze, Verordnungen und Erlässe, die die Rechtsprechung steuerten, und andererseits rückten im Verlauf der Zeit zunehmend junge, im Nationalsozialismus ausgebildete Juristen in entsprechende Positionen vor.

Als Militärjustizbeamte und später als Offiziere im Truppensonderdienst waren die Militärjuristen nicht unabhängig, sondern unterstanden der Befehlsgewalt militärischer Vorgesetzter. Militärische

719 vgl VUA, RKG K30 39/7/5; Eberlein in Eberlein/Müller/Schöngarth/Werther 117; Fritsche in Kohlhofer/Moos 46 f; Walmrath, Iustitia 189 ff; Wüllner in Haase/Oleschinski2 38. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 203/226

Befehlshaber übten als Gerichtsherren entscheidenden Einfluss auf die Rechtsprechung aus. Oberster Befehlshaber und Gerichtsherr war Hitler selbst. Rechtsstaatliche Grundsätze waren in vielen Bereichen der NS Militärjustiz nicht oder nur sehr eingeschränkt vorhanden, sodass von einem fairen Verfahren für den Angeklagten nicht gesprochen werden kann.

Für die Angeklagten war ein Verfahren vor einem NS Militärgericht mit hohen Unsicherheiten verbunden. Nicht die individuelle Schuld sondern militärische Bedürfnisse in der Auslegung des jeweiligen Gerichtsherrn spielten die entscheidende Rolle. Die Normen des MStGB und der KSSVO waren vielfach unbestimmt und ließen den Richtern einen weiten Spielraum bei der Urteilsfindung und Strafzumessung. Durch die Strafschärfungsbestimmung des § 5a KSSVO wurde es darüber hinaus möglich, für jedes Delikt den Strafrahmen bis hin zur Todesstrafe zu überschreiten, sofern dies mit dem abstrakten Erfordernis der Manneszucht begründet wurde.

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Anhang

Dienstränge der NS Militärjuristen in Heer und Luftwaffe

Militärjustizbeamte Truppensonderdienst Vergleichsränge der Vergleichsränge der (bis April 1944) (ab Mai 1944) Truppenoffiziere SS Ministerialdirektor im Generaloberstabsrichter General Obergruppenführer Range eines Generals Ministerialdirektor Generalstabsrichter Generalleutnant Gruppenführer Oberreichskriegsanwalt Senatspräsident Chefrichter Generalrichter Generalmajor Brigadeführer Ministerialdirigent Reichskriegsgerichtsrat Reichskriegsanwalt Oberstkriegsgerichtsrat Oberstrichter Oberst Standartenführer Ministerialrat Oberkriegsgerichtsrat Oberfeldrichter Oberstleutnant Obersturmbannführer Kriegsgerichtsrat Oberstabsrichter Major Sturmbannführer Kriegsrichter Stabsrichter Hauptmann Hauptsturmführer Kriegsgerichtsrat in der Rittmeister Eingangsstufe Tabelle 7: Vergleich der Dienstränge der NS Militärjuristen in Heer und Luftwaffe als Militärjustizbeamte und Offiziere des Truppensonderdienstes mit den Rängen der Offiziere des Truppendienstes und der SS.720

720 vgl HM 1944/263; Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 465 f; Messerschmidt/Wüllner, Wehrmachtsjustiz 273; Schweling/Schwinge, Militärjustiz2 21 ff. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 205/226

Dienstränge der NS Militärjuristen in der Kriegsmarine

Militärjustizbeamte Truppensonderdienst Vergleichsränge der (bis April 1944) (ab Mai 1944) Truppenoffiziere Ministerialdirektor im Range eines Admirals Admiraloberstabsrichter Admiral Ministerialdirektor Admiralstabsrichter Vizeadmiral Oberreichskriegsanwalt Senatspräsident Chefrichter Admiralrichter Konteradmiral Ministerialdirigent Reichskriegsgerichtsrat Reichskriegsanwalt Marineoberstkriegsgerichtsrat Flottenrichter Kapitän zur See Ministerialrat Marineoberkriegsgerichtsrat Geschwaderrichter Fregattenkapitän Marinekriegsgerichtsrat Marineoberstabsrichter Korvettenkapitän Marinekriegsrichter Marinestabsrichter Kapitänleutnant Marinekriegsgerichtsrat in der Eingangsstufe Tabelle 8: Vergleich der Dienstränge der NS Militärjuristen in der Kriegsmarine als Militärjustizbeamte und Offiziere des Truppensonderdienstes mit den Rängen der Offiziere des Truppendienstes.721

721 vgl Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 466; Walmrath, Iustitia 628. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 206/226

Rubrum eines Feldurteils des Reichskriegsgerichts722

722 VUA, RKG K44 39/11/10. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 207/226

Anklageschrift des Oberreichskriegsanwalts723

723 VUA, RKG K60. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 208/226

Anklageverfügung des Reichskriegsgerichts724

724 VUA, RKG K60. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 209/226

Anordnung eines Ermittlungsverfahrens durch Hitler725

725 VUA, RKG K62 39/9/8. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 210/226

Nachweis der Vernichtung von Urteilen des Reichskriegsgerichts726

726 VUA, RKG K60. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 211/226

Bildteil

Abbildung 1: Sitz des Reichskriegsgerichts in Berlin-Charlottenburg, Witzlebenstraße 4-5.727

Abbildung 2: Sitz des Reichskriegsgerichts in Torgau, Zietenkaserne.728

727 Landesarchiv Berlin, K01302-F Rep 290 (04) Nr 0004910 / Kiel (aufgenommen 1950). 728 Archiv Stiftung Sächsische Gedenkstätten/DIZ Torgau. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 212/226

Abbildung 3: Zeitweise Außenstelle des Reichskriegsgerichts in Wien-Wieden, Schwindgasse 8.729

729 MA19 Architektur und Stadtgestaltung (aufgenommen 1997). 22. Oktober 2018 Horst Pichler 213/226

Abbildung 4: Wehrmachtsgefängnis Torgau Fort Zinna.730

Abbildung 5: Militärschießplatz Wien-Kagran, Zentrale Hinrichtungsstätte der Militärjustiz in Wien.731

730 Archiv Stiftung Sächsische Gedenkstätten/DIZ Torgau. 731 Bezirksmuseum Donaustadt (aufgenommen 1913). 22. Oktober 2018 Horst Pichler 214/226

Abbildung 6: Gründungsversammlung des Reichskriegsgerichts am 1. Oktober 1936.732 Erste Reihe von links: Konteradmiral Guse, General Milch, General von Rundstedt, Generalfeldmarschall von Blomberg, Generaloberst Heitz, ganz rechts Oberreichskriegsanwalt Rehdans.

732 Privatbesitz/Reproduktion Gedenkstätte Deutscher Widerstand. 22. Oktober 2018 Horst Pichler 215/226

Abbildung 7: Generaloberst Heitz, Abbildung 8: Admiral Bastian, Präsident des Reichskriegsgerichts, Präsident des Reichskriegsgerichts, 734 Oktober 1936 – August 1939.733 September 1939 – Oktober 1944.

733 BArch, Bild 183-2005-0428-501 / Dorneth. 734 Hildebrand/Henriot (Hrsg), Deutschlands Admirale 1849-1945. Die militärischen Werdegänge der See-, Ingenieur-, Sanitäts-, Waffen- und Verwaltungsoffiziere im Admiralsrang I (1988) 63.

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Quellenverzeichnis

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Der Autor

Persönliche Daten Name: Horst Pichler Staatsbürgerschaft: Österreich Geburtsdatum: 27. Juli 1978 Geburtsort: Lilienfeld, Niederösterreich

Ausbildung 9/1988 - 6/1996 Neusprachliches Gymnasium, Matura mit gutem Erfolg, BG/BRG St. Pölten 10/1997 - 1/2006 Studium der Internationalen Betriebswirtschaft und Betriebswirtschaft, Wirtschaftsuniversität Wien 10/2005 - 1/2009 Studium der Politikwissenschaft, Diplomprüfung mit ausgezeichnetem Erfolg, Universität Wien 10/2009 - 3/2016 Studium der Rechtswissenschaften, Johannes Kepler Universität Linz

Berufliche Tätigkeiten 2/2000 – 10/2001 Mobilkom Austria AG 10/2001 – 1/2003 Auslandseinsatz als Offizier, Vereinte Nationen, Naher Osten 1/2003 – 1/2006 Master Management GmbH 9/2011 – 3/2015 ZAD Bulstrad Vienna Insurance Group, Bulgarien seit 2/2006 Vienna Insurance Group AG Wiener Versicherung Gruppe

Sonstige Tätigkeiten 10/1996 – 9/1997 Präsenzdienst, Ausbildung zum Milizoffizier seit 1995 ehrenamtliche Tätigkeiten seit 10/1997 Milizoffizier des Österreichischen Bundesheeres, Logistik

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