<<

Dokumentation

Horst Mühleisen Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit

Kein Historiker hat sie je gesehen. Forscher, Journalisten und Staatsanwälte suchten sie nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft vergebens: die verschol- lenen Tagebücher des Admirals (1887-1945), für nicht wenige der Fahnder »eine ungeheuere historische Quelle«1, die Auskünfte über die Natur die- ses außergewöhnlichen, von Geheimnissen und Rätseln umgebenen Mannes hätten geben können, der einst als Chef des Amtes Ausland/ von November 1939 bis Februar 1944 Beschützer des konservativen Widerstandes gewesen war. Das Schicksal der Canaris-Papiere beschäftigt die historische Forschung, seit ein SS-Standgericht im Konzentrationslager Flossenbürg den ehemaligen Abwehr- chef am 8. April 1945 wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilte und ihn in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages erhängen ließ. Mit dem Ende von Canaris verlor sich auch die Spur seiner geheimen Tagebücher und Reise- berichte, die , Ankläger von Canaris im Prozess, führender Funktionär der Geheimen Staatspolizei, restlos verbrannt hat, wenn man seine Aussagen glauben will. Einige, meist Canaris' Getreue der einstigen Abwehr, taten es nicht. Sie glaubten hartnäckig daran, dass ihr listiger Chef doch Wege gefunden hatte, eine bis dahin unbekannte Kopie seiner Tagebücher an einem entlegenen Ort in Sicherheit zu bringen; und das rasch aufkommende Gerücht, die Geheime Staatspolizei habe keineswegs alle Canaris-Papiere verbrannt, bestärkte sie darin. So haftete bald Heinrich Hamann, einem Referenten im Reichssicherheitshaupt- amt (RSHA), der Verdacht an, bei der Verbrennung der Canaris-Aufzeichnungen nahe dem Schloss Mittersill in Tirol die zweite, nicht entwickelte Filmrolle an sich genommen zu haben und mit ihr »in Richtung Hamburg«2 verschwunden zu sein, während Vizeadmiral Theodor Arps, ein alter Gegner von Canaris, schon 1945 im Gefangenenlager Neu-Ulm ganz genau wusste, dass die Tagebücher in »einem besonderen Versteck des Bayerischen Waldes«3 aufgefunden worden seien, was nicht zutraf.

1 So Fabian von Schlabrendorff. In: »Das Andere Deutschland« im Zweiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive = The »Other « in the Second World War. Emigration and Resistance in International Perspective. Hrsg. von Lothar Kettenacker, Stuttgart 1977, S, 94. 2 Will Grosse, Im Hintergrund - der Canaris, unveröff. Typoskript von 1952, S. 5. - In Kopie von Heinz Höhne dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. 3 Brief von Wera Schwarte an vom 24.11.1964, S. 1. In: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München, Zeugenschrifttum (ZS) 2101.

Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), S. 169-186 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 170 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Die Legende

Die falschen Spuren waren allmählich so zahlreich, dass man sie kaum noch zählen konnte. Mal waren die Tagebücher in Spanien aufgetaucht, mal lagen sie in einem Schweizer Banksafe4, mal grub man nach ihnen in der Lüneburger Heide, wo die Witwe des Canaris-Vertrauten Werner Schräder Teile der Tagebücher in einem Koffer versteckt haben sollte5, mal geriet ein von der DDR inzwischen enteignetes Gut in Mitteldeutschland in das Fadenkreuz der Fahnder. Inmitten all dieser Gerüchte und bewusst ausgestreuten Legenden war noch die spanische Variante glaubwürdig. Immerhin war unter Kennern der Abwehr be- kannt, dass Canaris im Herbst 1943 begonnen hatte, seine Übersiedlung in das von ihm geliebte Spanien vorzubereiten, dessen Generalissimus dem Admiral politisch nahestand wie kein anderer Staatschef im Ausland6. Da war es schwerlich ein Zufall, dass sich nach Kriegsende Erika Canaris7, die Witwe des Admirals, zeitweilig in Barcelona niederließ. Franco stattete sie mit erheblichen Geldmitteln aus und gewährte ihr auch eine Rente8. Frau Canaris bewohnte eine hübsche Dachwohnung im Stadtteil San Gervasio, Mandri 34, von der aus sie mit Hilfe der letzten Getreuen ihres Mannes publizistische Verächter des Abwehrchefs im Nachkriegsdeutschland gern »etwas >unter Beschuss< hielt«9, wie sie das nannte. Aus diesem Beziehungsgeflecht mochte auch herausgesickert sein, was den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlabrendorff, einen der weni- gen Überlebenden des Widerstandes, verlockte, 1974 eine internationale Tagung mit der Nachricht zu überraschen, dass Canaris' »großes Tagebuch vor wenigen Wochen von Generalissimus Franco wieder an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben worden ist und in wenigen Monaten erscheinen wird«10. Madrid indessen ließ rasch dementieren. Francos Schwager Felipe Polo Valdes, sein persönlicher Referent, ließ es sich nicht nehmen, »die Behauptungen des hohen Richters ad absurdum zu führen«11. Dies hinderte Klaus Benzing, Verfasser einer Canaris-Studie12, nicht, an der spa- nischen Legende munter weiter zu stricken. Er wollte eine Abschrift der Canaris-

4 Gerhard Henke, Canaris in der Beurteilung als Seeoffizier. In: Die Nachhut. Hrsg.: Arbeits- gemeinschaft ehemaliger Abwehrangehöriger, H. 7,9.4.1969, S. 4-10, dort S. 4; Bundes- archiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, Militärgeschichtliche Sammlung (MSg) 3-22/1. 5 Brief von Werner Wolf Schräder an Heinrich Fraenkel vom 28.2.1967, S. 1 f. In: Archiv des IfZ München, ZS 1902. 6 Brief von Prof. Dr. Martin Franzbach an Heinz Höhne vom 24.9.1976 (Privatbesitz Höhne). 7 Erika Canaris, geb. Waag (1893-1972). - Wilhelm Canaris und Erika Waag hatten am 22.11.1919 in Pforzheim geheiratet. Frau Canaris lebte von 1966 an in Hamburg-Volksdorf, Rögenfeld 17b, und verstarb am 6.11.1972 in Bad Oldesloe. - Die Bemerkungen von Richard Bassett, Hitler's Spy Chief. The Wilhelm Canaris Mystery, London 2005, S. 289 Fn., über Frau Canaris' Reise nach Spanien sind teilweise erfunden. Diese Biographie zeichnet sich nur durch den Bild teil (zwischen den Seiten 160 und 161) aus. 8 Vgl. Donald S. Detwiler, Hitler, Franco und . Die Frage des spanischen Kriegseintritts in den Zweiten Weltkrieg, Wiesbaden 1962, S. 151, Anm. 120. 9 Brief von Erika Canaris an Erich Pruck vom 1.4.1955 (Privatbesitz Höhne). 10 So Fabian von Schlabrendorff. In: »Das Andere Deutschland« im Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 1), S. 94. 11 David Irving, Hitler und seine Feldherren, 1975, S. III. 12 Klaus Benzing, Der Admiral. Leben und Wirken, Nördlingen 1973. - Die in Benzings Buch kursiv gesetzten Zitate sind Fälschungen. Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 171

Tagebücher in Sicherheit gebracht haben, in deren Besitz er durch Vermittlung Carl Friedrich Goerdelers, des früheren Oberbürgermeisters von und eines Freundes seiner Eltern, gelangt sei. Dank Goerdeler sei er 1941 »mit Admiral Canaris in Verbindung«13 gekommen, der ihm zwei Jahre später die Kopie übergeben habe mit der »Weisung«, sich fortan als ihr alleiniger Eigentümer zu betrachten, der nach »eigenem Gutdünken und Gewissen«14 darüber verfügen könne. Auffallend nur, dass Benzing die von ihm verwendeten Zitate aus der angeb- lichen Abschrift der Canaris-Aufzeichnungen nie einer wissenschaftlichen Überprüfung unterziehen lassen wollte und auch die Familie Goerdeler keinen Klaus Benzing kannte15. Als dann der »Spiegel« die Zitate zu Fälschungen erklärte, strengte der bedrängte Autor zwar eine Verleumdungsklage gegen das Nachrichten- magazin an, zog es aber vor, den Rückzug anzutreten16. Nun aber war das Gerücht einmal vorhanden, und solche Behauptungen sind zäh. 1977 erschien die deutsche Übersetzung der Canaris-Biographie von Andre Brissaud, einem Journalisten. Der Verfasser erwähnt auch Heydrichs angebliche nicht-arische Abstammung und fabuliert sowohl über eine »Akte Heydrich«, die Canaris besessen haben soll, als auch über vier schwarze Lederkoffer, »die Canaris eines Tages nach Madrid mitnahm und nicht wieder nach Berlin zurückbrachte. Diese Koffer waren 1965 noch vorhanden17.« Brissaud vermutet, die »Akte Heydrich« sei vielleicht in einem dieser Lederkoffer gewesen. Und in einer Fußnote, die an Magie und Mythologie erinnert, raunt der Franzose: »Ich konnte den Lagerort, wohin die Koffer damals gebracht wurden, nicht aus- findig machen. Für die Geschichtsforschung ist es bedauerlich, dass man den Inhalt nicht genau kennt. Vielleicht wird sich eines Tages der Besitzer entschließen, das Geheimnis zu lüften. Ich habe gute Gründe anzunehmen, dass ein Teil des berühmten Tagebuches von Canaris sich in den Koffern, neben anderen besonders wertvollen Dokumenten, befindet18.« Das wäre ein aufsehenerregender Fund; die vier schwarzen Lederkoffer aber sind nicht vorhanden. Wer nun meinte, dass die Legendenbildung um die Aufzeichnungen beendet sei, täuschte sich. Die Suche nach den Papieren ging weiter. 2002 nahm ein »sehr überzeugender Informant« Verbindung zu »Focus« auf und zeigte Jan von Flocken, einem Journalisten, den Schlüssel des Schließfaches einer Schweizer Bank, deren Namen ihm bislang unbekannt war. In diesem Fach lägen angeblich die Canaris- Tagebücher. Den Schlüssel, so der Informant, habe er von einem ehemaligen Konfidenten der Central Intelligence Agency (CIA) kurz vor dessen Tode erhalten.

13 Klaus Benzing, [Leserzuschrift:] Warnung vor dem Admiral. In: Der Spiegel (Hamburg), 29. Jg., Nr. 28 vom 7.7.1975, S. 10 f.; Zitat: S. 10. 14 Benzing, Der Admiral (wie Anm. 12), S. 15. 15 Tel. Mitteilung von Frau Dr. Marianne Meyer-Krahmer, der Tochter Goerdelers, Heidel- berg, am 1.3.2004, für die ich sehr danke. 16 Heinz Höhne, Fälschungen. Faszinierendes Rätsel. In: Der Spiegel (Hamburg), 29. Jg., Nr. 15 vom 7.4.1975, S. 70-78, mit wichtigen Einzelheiten, die die Fälschungen enthüllen. 17 Andre Brissaud, Canaris 1877 [sie!] -1945,2. Aufl., Stuttgart, Hamburg, München, 1977, S. 405. 18 Ebd., S. 405, Fn. 172 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Jan von Rocken wandte »viel Zeit und Arbeit« auf19, um diese Aussagen zu überprüfen; dies wäre eine spannende Geschichte geworden. Aber auch diese Erzählung des Gewährsmannes gehört in die Welt der Mythen. Damit nicht genug. Auch die Verfasser einer biographischen Studie über Erwin Lahousen zweifeln an der angeblichen Verbrennung der Canaris-Tagebücher20. Je aussichtsloser aber eine solche Spurensuche immer wieder endete, desto wahrscheinlicher waren die Aussagen, die Huppenkothen und seine Helfershelfer von Anfang an in zahlreichen Nachkriegsprozessen unter Eid bekundet hatten: dass sie alle Tagebücher und Reiseberichte von Canaris in der Nähe des Schlosses Mittersill auf Befehl des SS-Obergruppenführers , des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Anfang Mai 1945 verbrannt hätten. Vor allem die Aussagen Huppenkothens gewannen an Gewicht, zumal sich der ehemalige SS-Standartenführer und Regierungsdirektor der Geheimen Staatspolizei, gleich nach dem Kriege auch dem Counter Intelligence Corps, einem der Nachrichtendienste der US-Army, ein hochwillkommener Informant und Kenner von NS-Personalien21, als eine erbarmungslose Registriermaschine erwies, die sich selten irrte. Auch die Historiker trugen Mosaiksteine zusammen, die wesentliche Angaben Huppenkothens bestätigten und die dramatische Geschichte der Canaris- Tagebücher abrundeten.

Die Tagebücher

Anfang Februar 1938 hatte die Geschichte begonnen, im Schatten der Blomberg- Fritsch-Affäre, die dem Abwehrchef erstmals die Unmoral des nationalsozialis- tischen Staates enthüllt hatte. Damals fing der Konteradmiral Canaris an, sich ein paar Aufzeichnungen zu machen, die er mit eigener Hand schrieb: lose Blätter22, die er zuweilen unter seinen engsten Vertrauten zirkulieren ließ, zu denen Oberst- leutnant , der Chef des Stabes, der die Zentralabteilung der Abwehr leitete, und der bald hinzukommende Reichsgerichtsrat Johannes (Hans) von Dohnanyi gehörten. Beide lehnten Hitler und seinen Staat ab.

19 Brief von Jan von Flocken, »Focus« Magazin, Korrespondentenbüro Berlin, vom 6.7.2005 an den Verfasser. - Herr von Hocken hatte sich am 4.6.2002 an Heinz Höhne gewandt, weil »gewisse Indizien, dass die Tagebücher von Wilhelm Canaris 1945 nicht vernichtet wurden, sondern evtl. noch existieren«, wie in der Redaktion besprochen worden war (Schreiben im Privatbesitz Höhne). 20 Karl Glaubauf und Stefanie Lahousen, Generalmajor Erwin Lahousen Edler von Vivre- mont. Ein Linzer Abwehroffizier im militärischen Widerstand, Münster 2003, S. 30. 21 Aussage von Walter Huppenkothen am 15.2.1946, Camp No 5452; Dossier XE 003856 CIC (Counter Intelligence Corps), Central File, U.S. Army Intelligence and Security Command, Fort George Meade. - Von Heinz Höhne dankend zur Verfügung gestellt. 22 Aussage von Walter Huppenkothen vor dem Schwurgericht beim Landgericht München I, erster Verhandlungstag, 5.2.1951, S. 194. - Fotokopie des Sitzungsprotokolls von Heinz Höhne dankend zur Verfügung gestellt. - Ein Mikrofilm im Archiv des IfZ München, MB 3. - Bestätigung der Aussage Huppenkothens von Wera Schwarte (wie Anm. 3), S. 1. Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 173

Die hektischen Kriegsvorbereitungen des August 1939 indessen ließen Canaris immer weniger Zeit zum Schreiben, so dass er sich zunehmend seiner Bürokräfte und ihm besonders nahestehender Abteilungschefs bedienen musste23. Der Admiral diktierte die Texte seiner Chefsekretärin Wera Schwarte, Tochter eines preußischen Generals und Militärschriftstellers, in deren Abwesenheit auch der zweiten Sekretärin Alice Fischer. Das Diktat übertrug die Sekretärin unmittelbar in die Schreibmaschine, in der Regel ohne Durchschlag; nur bei wichtigen Eintragungen ließ Canaris eine Kopie zu. So entstand allmählich aus der Loseblattsammlung ein zusammenhängendes Tagebuch, eine Dokumentation der Kriegspolitik Hitlers im Sommer 1939. Canaris zu Vertrauten: »Die Welt soll wissen, wie diese Leute schuldig wurden24.« Das »Dritte Reich«, so soll Canaris einmal gesagt haben, sei etwas so Unvorstell- bares, dass nach seinem Ende niemand mehr für möglich halten werde, wie es eigentlich gewesen sei; daher müsse alles »aktenkundig gemacht« werden25. Dohnanyi in der Zentralabteilung Osters dachte ähnlich und legte selbst eine Sammlung von Dokumenten an, die das Regime erheblich belasteten. Dohnanyis Papiere wuchsen bis zum Dezember 1942 zu einem ansehnlichen Archiv heran, so dass Canaris und Dohnanyi beabsichtigten, ihre Akten nach einem gelungenen Staatsstreich zu veröffentlichen, um das deutsche Volk aufzuklären. Wiederholt auf die Gefährlichkeit solcher Tagebücher und Akten angesprochen, soll Canaris gesagt haben: »Kinder, regt Euch nicht auf! Das wird alles in Sicherheit gebracht26.« Das Tagebuch zeigt den ganzen Canaris: den Privatmann und den Amtschef, den ruhelos Reisenden und fanatischen Tierliebhaber, der jeden Hund über die Frau stellte, den Mann weitgespannter Interessen und doppeldeutiger politischer Verbindungen und Erkenntnisse. Mit größter Sorgfalt hielt er alles fest, was ihm wichtig erschien: Ereignisse und Besprechungen sowie Personalien, Taten und Untaten seiner Umwelt. Aus den wenigen Eintragungen, die erhalten sind, geht hervor, dass der Abwehrchef zwischen der Ich-Form und der sachlichen Beschreibung wechselte. Er achtete sehr darauf, die Ereignisse in klarem zeitlichen Ablauf wiederzugeben. Ob Canaris seine »Stichworte«27 heimlich oder offen schrieb, bleibt ungeklärt. Auch ein Beleg, dass er die Gabelsberger Kurzschrift beherrschte, fand sich nicht28.

23 Gert Buchheit, Der deutsche Geheimdienst. Geschichte der militärischen Abwehr, Mün- chen 1966, S. 209. 24 »Erinnerungsfragmente von Generalmajor a.D. Erwin Lahousen über das Amt Ausland/ Abwehr (Canaris)« - »Geheimorganisation Canaris II. Teil«. In: BA-MA Freiburg, MSg 1/2821; vgl. auch Glaubauf/Lahousen, Generalmajor Erwin Lahousen (wie Anm. 20), S. 30. 25 , Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940. Mit weiteren Doku- menten zur Militäropposition gegen Hitler. Hrsg. von Helmuth Krausnick und Harold C. Deutsch unter Mitarb. von Hildegard von Kotze, Stuttgart 1970, S. 31. 26 Ebd., S. 32. 27 So Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers (wie Anm. 25), S. 170: Eintragung vom 24.8.1939 (privates Tagebuch). 28 Es war Ministerialrat a.D. Helmuth Greiner, der erste Führer des Kriegstagebuches OKW/ Wehrmachtführungsstab (1939-1943), der dies überliefert. In einer Notiz vom 16.8.1955 erwähnt Greiner die »stenographischen Notizen« des Admirals, wobei sich Greiner auf die Ansprache Hitlers vor der höheren Generalität am 22.8.1939 auf dem Berghof/Ober- salzberg bezog. Indessen ist es fraglich, ob sich Greiner richtig erinnert. - Vgl. Kriegs- tagebuch des Oberkommandos der (Wehrmachtführungsstab) 1940-1945. 174 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Canaris machte sich Notizen und arbeitete diese, nach Rückkehr in Berlin, zumal bei seinem hervorragenden Gedächtnis, aus. Das Tagebuch enthielt auch Eintragungen Canaris ergebener Abteilungschefs wie Oster, Hans Piekenbrock, dem Chef der Abteilung I (Nachrichtenbeschaffung), und Erwin Lahousen, der die Abteilung II (Sonderdienst: Sabotage und Zersetzung) leitete. Dohnanyi machte auch Notate29. Und Gerhard Engel, Heeresadjutant bei Hitler, überließ Canaris »mehrere Aufzeichnungen«30 über Besprechungen bei Hitler für das Tagebuch. Canaris erlaubte auch manchmal vertrauten Mitarbeitern seine Eintragungen abzuschreiben. Doch es blieben nur wenige Dokumente erhalten, die Lahousen besaß und die ab November 1945 dem Internationalen Militärgerichts- hof in Nürnberg vorlagen31. Ganz besonders vertraute Canaris einem ehemaligen Abteilungschef, der im Dezember 1938 die Abwehr verlassen hatte: dem Major Helmuth Groscurth, für alle Gegner des Regimes in der Umgebung von Canaris die große »Siegfriedgestalt« der Abwehr. Ihm konnte der Admiral alle großen und kleinen Staatsgeheimnisse anvertrauen. Als Groscurth dann am 12. Oktober 1939 seine Ernennung zum Chef der Abteilung z.b.V. im Oberkommando des Heeres erhielt, war die Nähe zu Canaris wiederhergestellt. Groscurth zog mit seinen Mitarbeitern in das OKH-Hauptquartier in Zossen südlich von Berlin, genannt Lager »Zeppelin«, während Canaris' Zentrale am Tirpitzufer blieb. Der Abwehrchef zeigte ihm oft seine Eintragungen, die Groscurth in sein Tagebuch übernahm. Canaris erkannte die Katastrophe und wehrte sich gegen Hitlers Kriegspläne. Am 17. August hatte er eine Aussprache mit Generaloberst , dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), hoffend, diesen zu überzeugen, Hitler umzustimmen, seine Absichten aufzugeben. Keitel aber wies alle Einwände zurück32. Fünf Tage später, am 22. August, enthüllte Hitler seine Pläne gegen Polen und weiterführende außenpolitische Zielsetzungen. Er sprach zu den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtteile und zu den höheren Führern der Generalität und Admira- lität. Auch Canaris war anwesend und entsetzt über die Ansprache33. Groscurth notierte: »Am 26. August steigt nun der Krieg gegen Polen. Chef zeigte mir 2 Stunden lang die Rede des Führers an die Oberbefehlshaber, die er allein in Stichworten

Geführt von Helmuth Greiner und Percy Ernst Schramm. Im Auftr. des Arbeitskreises für Wehrforschung hrsg. von Percy Ernst Schramm. Bd 1:1. August 1940-31. Dezember 1941. Zsgest. und erl. von Hans-Adolf Jacobsen, Frankfurt a.M. 1965, S. 947, Fn. 1. 29 Vgl. Buchheit, Der deutsche Geheimdienst (wie Anm. 23), S. 209. 30 Brief von Inga Haag, geb. Abshagen an Helmut Krausnick vom 4.4.1969, fol. 004. In: Archiv des IfZ München, ZS 2093. 31 Vgl. Buchheit, Der deutsche Geheimdienst (wie Anm. 23), S. 458, Anm. 32: Schreiben Lahousens vom 12.11.1953 an das IfZ München mit wichtigen Einzelheiten. - Glaubauf/ Lahousen, Generalmajor Erwin Lahousen (wie Anm. 20), S. 30 f. 32 Abgedruckt in: Karl Heinz Abshagen, Canaris. Patriot und Weltbürger, Stuttgart 1949, S. 195-197. 33 Hierzu: Winfried Baumgart, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische Untersuchung. In: Vierteljahrshefte für Zeit- geschichte (VfZ), 16 (1969), S. 120-149. - Und: Hermann Boehm, Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. In: VfZ, 19 (1971), S. 294-300, mit Erwiderung von Winfried Baugart. In: ebd., S. 301-304. Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 175

niedergeschrieben hat. Alles Lug und Trug, nichts Wahres. Mit Recht heißt es: >Es fehlt jede sittliche Grundlage^.« Groscurth überliefert, nach Canaris' Ausarbeitung, Hitler habe ausgeführt, »die Politik habe Enormes geleistet, jetzt müsse sich die Wehrmacht bewähren und zeigen, was sie könne. Der Krieg würde bis zur völligen Vernichtung Polens geführt mit größter Brutalität und ohne Rücksicht. Nicht Land sei zu besetzen, sondern die Kräfte seien zu vernichten.« Groscurth weiter: »Es heißt in dem Tagebuch: >Die Chefs haben sich durch eigene Schuld jedes Einflusses beraubte« Am 15. August hatte Canaris über den Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, festgehalten: »ObdH kommt beim Führervortrag gar nicht zu Wort35.« Fast täglich war Groscurth bei Canaris und notierte am 26. August: »Chef zeigte mir noch die weiteren Seiten seines Tagebuchs36.« Und am 2. September: »Abends beim Admiral. Zeigt mir sein Tagebuch37.« Am 12. Oktober: »In Berlin. Admiral gibt sein Tagebuch zum Lesen betr. Friedensaktionen und das unglaubliche Ver- halten Heydrichs38.« Gemeint waren wohl die Friedensfühler namhafter Persönlich- keiten, so Goerdeler, bei den Neutralen39 und Heydrichs verbale Ausfälle gegen das Heer40. Auch nach Kriegsausbruch warnte Canaris. Am 12. September fand im Führer- zug in Ilnau eine Besprechung statt, die Lahousen festhielt41. Canaris hatte am 7. September von Heydrichs Äußerungen erfahren, nach denen der polnische Adel, die Geistlichkeit und die Juden »umgebracht« werden sollten42. Canaris, der Keitel diese Absichten vortrug, erhielt erneut »vernichtende Eindrücke«43 und wies darauf hin, dass »umfangreiche Füsilierungen in Polen geplant seien und dass insbesondere der Adel und die Geistlichkeit ausgerottet werden sollten«. Und warnend fügte Canaris hinzu: »Für diese Methoden werde die Welt schließlich doch auch die Wehrmacht verantwortlich machen, unter deren Augen diese Dinge geschähen.« Keitel erwiderte, »diese Sache« sei »bereits vom Führer entschieden«; Hitler habe dem Oberbefehlshaber des Heeres »klargemacht«, »dass, wenn die Wehrmacht hiermit nichts zu tun haben wolle, sie auch hinnehmen müsse, dass SS und neben ihr in Erscheinung treten«44. Hinzu kommen noch einige Reiseberichte Canaris', die Lahousen für sich abschreiben ließ und zu seinen Akten nahm45.

34 Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 25), S. 180: Eintragung vom 24.8.1939 (privates Tage- buch). 35 Ebd., S. 180: Eintragung vom 24.8.1939 (privates Tagebuch). 36 Ebd., S. 186 (privates Tagebuch). 37 Ebd., S. 197 (privates Tagebuch). 38 Ebd., S. 216 (privates Tagebuch). 39 Ulrich Schlie, Kein Friede mit Deutschland. Die geheimen Gespräche im Zweiten Welt- krieg 1939-1941, München, Berlin 1994, S. 60 f. 40 Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 25), S. 201: Eintragung vom 8.9.1939 (privates Tage- buch). 41 Ebd., S. 357-359 (Dok. 12). - Glaubauf/Lahousen, Generalmajor Erwin Lahousen (wie Anm. 20), S. 34 f. 42 Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 25), S. 201: Eintragung vom 8.9.1939 (privates Tage- buch). 43 Ebd., S. 206: Eintragung vom 18.9.1939 (privates Tagebuch). 44 Ebd., S. 358. 45 Benzing, Der Admiral (wie Anm. 12)> S. 187-194. 176 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Die Bruchstücke der Notizen zeigen, wie zutreffend Canaris den nationalsozia- listischen Staat ab 1938 einschätzte. Am 31. August 1939, einen Tag vor Kriegsaus- bruch, sagte er zu »mit tränenerstickter Stimme: >Dies ist das Ende Deutschlands^.« Danach war der Abwehrchef in der Pflicht. Für Bedenken war kein Raum mehr. Polen kapitulierte Ende September. In jenen Tagen sah Canaris das brennende War- schau, ein Bild des Schreckens. Am 10. Oktober erteilte Hitler den Befehl: Angriff im Westen noch im Spätherbst. Nun sah Canaris die Gelegenheit, einen Staats- streichversuch zu fördern47. Er reiste zu den Heeresgruppen und Armeen, um die Bereitschaft ihrer Oberbefehlshaber für einen Umsturz auszuloten, und hielt diese Gespräche von Herbst 1939 bis Frühjahr 1940 in seinem Tagebuch fest. Erwähnt waren Witzleben und der erste Generalstabsoffizier des Heeresgruppenkommandos 2/C, Oberst i.G. Vincenz Müller, dann Brauchitsch, Kluge und Reichenau. Notiert waren auch Einzelheiten über die Bemühungen, die General Georg Thomas, der Chef des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamtes, und Oberstleutnant i.G. Groscurth unter- nahmen, um General der Artillerie Franz Halder, den Chef des Generalstabes des Heeres, für den Widerstand zu gewinnen. Weitere Aktionen in diesem Zeitraum blieben erfolglos: die römischen Gesprä- che, die Josef Müller, ein Rechtsanwalt, im Auftrage Osters mit dem Heiligen Stuhl führte, um mit der britischen Regierung Fühlung wegen eines separaten Friedens aufzunehmen; und Osters Handeln, dem niederländischen Militärattache in Berlin, Oberst Gijsbertus Jacobus Sas, die verschiedenen Termine des deutschen Angriffs im Westen zu verraten. Im Juli 1940 befahl Canaris Oster, nachdem die Geheime Staatspolizei bei ihren Ermittlungen der Abwehr bedrohlich nahe gekommen war, die Verbindung zu Müller zu beenden und alle gefährlichen Papiere, die in Osters und Dohnanyis Panzerschränken lagen, zu vernichten. Dies macht die zunehmende Nervosität, ja Angst in der Abwehrzentrale verständlich. Es waren jene Schriftstücke, die bewie- sen, dass hohe Offiziere und Mitarbeiter der Abwehr gegen das Regime konspirierten. Oster gab den Befehl an Dohnanyi weiter; dieser aber weigerte sich, ihn auszu- führen. Beide erörterten lange das Für und Wider; keiner wollte nachgeben. Erst ein »dienstlicher Befehl« Osters beendete das heftige Gespräch: Papiere vernichten48. Dohnanyi jedoch führte auch diesen Befehl nicht aus, so dass das Schriftgut - Akten zur Blomberg-Fritsch-Affäre, Aufzeichnungen Becks nach dem Polenfeldzug, eine »Studie« Osters, ein Staatsstreichplan; Aufrufe, Programme und Reden - in der Abwehrzentrale verblieb. »Ich habe die Dokumente«, so begründete Dohnanyi die Verweigerung, »deshalb nicht vernichtet, um einmal nachweisen zu können, dass wir Zivilisten auch etwas getan hatten. Wenn die Sache geklappt hätte, dann hätten

46 Hans Bernd Gisevius, Bis zum bitteren Ende. Vom Reichstagsbrand bis zum 20. Juli 1944. Vom Verf. auf den neuesten Stand gebrachte Sonderausg., Hamburg [1960], S. 410. 47 Ausführlich: Thomas Vogel, Die Militäropposition gegen das NS-Regime am Vorabend des Zweiten Weltkrieges und während der ersten Kriegsjahres (1939 bis 1941). In: Aufstand des Gewissens. Militärischer Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933 bis 1945. Begleitband zur Wanderausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes. Im Auftr. des MGFA hrsg. von Thomas Vogel, 5., völlig Überarb. und erw. Aufl., Hamburg, Berlin, Bonn 2000, S. 187-222; hier: S. 194-211. 48 Nach Heinz Höhne, Canaris. Patriot im Zwielicht, München 1976, S. 402. Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 177 sicher die Generale alles gemacht und wir Zivilisten gar nichts. Das wollte ich vermeiden49.« Weshalb, so muss man fragen, bestand Canaris nicht auf der Vernichtung der Akten? Oster und Dohnanyi hatten seinen Befehl nicht ausgeführt. Der Abwehrchef hatte von Müllers Aktionen nur vage Vorstellungen. Einzelheiten kannte er nicht. Er ließ ihn gewähren, auch Oster und Dohnanyi. Canaris war kein Bürokrat; er war großzügig. Und 1940 war für ihn das Jahr, in dem er, zum letzten Male, einen Staatsstreichplan erwog. Nach der Kapitulation von Frankreich resignierte er. Seine Sorge war, die Abwehr vor der Geheimen Staatspolizei zu schützen.

Die Auslagerung der Oster-Dohnanyi-Akten von der Abwehrzentrale nach Zossen, Dohnanyis Verhaftung und Osters Entlassung

Nach einer Devisenaffäre, in die zwei Reserveoffiziere der Abwehrstelle München, Wilhelm Schmidhuber und Heinz Ickrath, im Frühjahr 1942 verwickelt waren, wusste Canaris, dass es eilig war, die in Dohnanyis Arbeitszimmer immer noch vorhandenen Akten an einem sicheren Ort zu verwahren. Aber wo? Major Friedrich Wilhelm Heinz, der Leiter der Abwehrschule in Brandenburg, mit Canaris seit 1919 bekannt, wusste Rat. Er hatte einen Halbbruder, den Staats- finanzrat Hermann Schilling, der die Preußische Staatsbank (Seehandlung) leitete. Heinz rief Schilling an und gewann ihn für seine Idee, die Oster-Dohnanyi-Akten in den Tresorraum der Bank zu bringen. Beide wussten jedoch, dass die Banksafes nur ein vorübergehender Ort sein konnten, um die Dokumente aufzunehmen. Die Canaris-Tagebücher und die Reiseberichte gehörten nicht dazu. Unter den Papieren, die Oster und Heinz zusammenpackten, befanden sich nur einige Aufzeichnungen des Admirals, höchstens zwanzig Blätter. Im Dezember 1942 brachten Oster, Heinz und Hauptmann Werner Schräder, den seit einiger Zeit »ein enges persönliches Verhältnis«50 zu Canaris verband, in dessen Auto zwei Ladungen Akten zur Preußischen Staatsbank. Schräders Fahrer, der Unteroffizier Kurt Kerstenhan, ein alter »Strasser-Mann«, saß am Steuer. Tag und Stunde des Transports sind nicht bekannt. Die Aktion am Berliner Gendarmen- markt dürfte kaum aufgefallen sein; schier lautlos vollzog sie sich. Wer dann aber auf den Gedanken kam, die Papiere in das Lager »Zeppelin«, Sperrkreis Maybach II, zu bringen, läßt sich nicht mehr ermitteln. Vieles spricht dafür, dass es Schräder war. Groscurth hatte Dohnanyi im Herbst 1939 einen Panzerschrank, »der in einem besonders tiefen Keller« eines Bunkers stand, »für die gefährlichsten Dokumente« zur Verfügung gestellt51.

49 Zit. nach ebd. 50 Walter Huppenkothen, Canaris und die Abwehr (Abschrift), fol. 34r. In: Archiv des IfZ München, ZS 249, Bd 1; Huppenkothen, Aussage vom 15.2.1946 (wie Anm. 21), S. 2. 51 »Zu den Zossener Akten. Aufzeichnungen von Christine von Dohnanyi 1945/46«. In: Eberhard Bethge, . Theologe, Christ, Zeitgenosse, München 1970, S. 1047-1052, dort S. 1048. 178 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Tatsache bleibt: Im Januar 1943 holten Oster und Schräder mit Kerstenhan das Schriftgut aus den Safes der Preußischen Staatsbank heraus und brachten es nach Zossen. Dort lagerten sie die Akten in den Tiefbunker ein, zu dem Oster beide Schlüssel besaß, auch den Reserveschlüssel, der, wie üblich, versiegelt bei der Wache aufbewahrt wurde52. Da geschah, was Canaris immer befürchtet hatte. Am 5. April rief Oberstkriegs- gerichtsrat Manfred Roeder, Sonderermittler der Reichskriegsanwaltschaft, den Admiral an und teilte ihm mit, er habe vom Reichskriegsgericht den Auftrag, zusammen mit einem Beamten der Geheimen Staatspolizei das Büro des Sonder- führers von Dohnanyi in den Diensträumen der Abwehrzentrale zu durchsuchen. Dohnanyi stehe im Verdacht, in eine interne Korruptions- und Devisenaffäre verwickelt zu sein. Die Entwicklung im Fall Schmidhuber/Ickrath erlebte ihren ersten Höhepunkt. Die Geheime Staatspolizei hatte sich im November 1942 in das Verfahren ein- geschaltet. An diesem Apriltag war Canaris empört, glaubte indessen, dass Oster und Dohnanyi die entsprechenden Vorkehrungen getroffen hatten, nachdem sie gewarnt worden waren. Denn der Abwehrchef kannte Osters Unvorsichtigkeit gut. Ende März /Anfang April hatte Canaris mit Nachdruck darauf bestanden, alle gefährlichen Papiere aus den Räumen der Zentrale am Tirpitzufer zu entfernen. Und noch am 4. April hatte er sich bei Oster erkundigt, ob er auch keine brisanten Schriftstücke in seiner Abteilung habe; war ihm doch von Generalstabsrichter Rudolf Lehmann, dem Chef der Wehrmachtrechtsabteilung im OKW, ein Hinweis zugegangen. Oster hatte den Admiral beruhigt; möglicherweise sagte er ihm, die Dokumente lägen sicher in Zossen. Auffallend ist, dass die Beteiligten, was den Verbleib der Akten mit ihrem konspirativen Inhalt betraf, oft die Unwahrheit sagten - oder nur die halbe Wahrheit. Widerwillig öffnete Dohnanyi seinen Panzerschrank. Sofort fand Roeder belas- tende Dokumente, die nicht nach Zossen gebracht worden waren - Beweise genug für die Tätigkeit des Oster-Kreises, die sich gegen das Regime richtete. Er verhaftete Dohnanyi und auch dessen Schwager, den Pastor Dietrich Bonhoeffer. Von Stund an fiel Oster für die Verschwörung aus, zumal Canaris keinen Versuch unternahm, seinen Freund zu retten. Das Heerespersonalamt versetzte Oster am 16. in die Führerreserve und entließ ihn am 31. März 1944 aus der Wehr- macht.

Die »Säuberung« der Canaris-Tagebiicher, die Verhaftung des Admirals und die Entdeckung der Oster-Dohnanyi-Akten

Dohnanyis und Osters Ausschaltung schreckte Canaris auf; mehr noch aber erregte ihn das Eindringen Roeders in die abgeschirmte Welt am Tirpitzufer. Die Abwehr war ihrer selbst nicht mehr sicher, ihr Chef wie gelähmt. Doch Canaris musste

52 Elisabeth Chowaniec, Der »Fall Dohnanyi« 1943-1945. Widerstand, Militärjustiz, SS- Willkür, München 1991, S. 123. . Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 179 handeln, schon im eigenen Interesse, denn die Tagebücher, die sich in seinem Dienst- zimmer befanden, enthielten gefährliche Wahrheiten über den Staat und seine Funktionäre. Canaris bat Schräder, die Eintragungen auf »politisch gefährliche« Stellen durch- zusehen und zu vernichten. Schräder war einverstanden, worauf ihm Canaris seine Tagebücher, fünf schwarze Kaliko-Hefter mit Klemmrücken der Marke Soennecken, beginnend im Februar 1938, endend im Dezember 1942, und die Reiseberichte über- gab. Schräder nahm Urlaub und fuhr in die Berliner Wohnung, nicht ohne seinen Sohn hinzuzuziehen. Werner Wolf Schräder, zwanzig Jahre alt, Soldat im Regiment »Kurfürst«, das der Abwehr unterstand, war in konspirativen Aufträgen bereits erfahren. Er hatte »zahlreiche Kurierfahrten«53 für seinen Vater und dessen Freunde im Widerstand unternommen. Zwei Tage lang, am 16. und 17. April54, lasen die beiden Schräders die Tage- bücher Canaris'. »Unsere Aufmerksamkeit«, erinnerte sich später der Sohn, »kon- zentrierte sich auf die Kritik am Nationalsozialismus und auf Namen von Freunden, dies alles wurde herausgeschnitten. Ab und zu haben wir uns interessante Stellen vorgelesen, aber die Zeit war zu knapp55.« Was nun den Inhalt der Aufzeichnungen anging, so waren die beiden Schräders überrascht, um nicht zu sagen: entsetzt; denn in den Tagebüchern begegnete ihnen ein ganz anderer Canaris, anders als der, den sie zu kennen meinten. Das war nicht der hakenschlagende Fuchs vom Tirpitzufer, nicht die »Spinne im Netz«56 des kon- servativ-militärischen Widerstandes, sondern ein unsicherer Amtschef, ohne Selbst- kritik und Engagement, an Reisen eher interessiert als an der Politik, im Widerstand weniger eine treibende Kraft denn ein (von Oster) Getriebener. Werner Wolf Schräder: »Durch alle Bände zogen sich ausführliche Schilderungen über das Ergehen seiner Hunde; Liebe zum Hund in einer schwer verständlichen, affektierten Form; mehrfach wird in geistreichen Wendungen und Sentenzen der Hund über die Frau gestellt. Es handelt sich also vielfach um Details, die den Psycho- logen mehr angehen als den Historiker. Diese psychologischen, charakterlichen Einzelheiten fesselten beim schnellen, konzentrierten Lesen in jenen zwei Tagen weitaus mehr als etwa die politischen Gespräche mit Franco. Man erlebte mehr Canaris selbst als die Leute, mit denen er gesprochen hatte. Er war sicher kein Mensch mit einer elementaren politischen Veranlagung, der in sein Tagebuch Einzelheiten und Beobachtungen an wichtigen Leuten als Stütze für ein Handlungssystem notierte. Sondern er erlebte gern etwas - fast möchte man sagen, um sich zu zerstreuen. Die Eintragungen begannen oft: >21 Uhr, 18, Anhalter Bahnhof, Schlafwagen nach soundso ...< Dann folgen Zusätze, die auch

53 Brief von Werner Wolf Schräder an Heinrich Fraenkel vom 28.2.1967, S. 2. In: Archiv des IfZ München, ZS 1902. 54 Benzing, Der Admiral (wie Anm. 12), S. 15 (aufgrund von Notizen, die Werner Wolf Schräder an diesen beiden Tagen in seinem Merkbuch machte). 55 Brief von Werner Wolf Schräder an Heinrich Fraenkel vom 9.4.1967, fol. 05r. In: Archiv des IfZ München, ZS 1902. 56 Schriftsatz von Franz Xaver Sonderegger vom 14.1.1951 an den Präsidenten des Land- gerichts München, fol. 00009. In: Archiv des IfZ München, ZS 303, Bd 1; vgl. auch Karl Bartz, Die Tragödie der deutschen Abwehr, Salzburg 1955, S. 203. 180 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

aus dem Kursbuch stammen könnten. Er kommt an, findet diese oder jene Lage vor, greift schnellentschlossen ein - immer gut (selbstkritisch äußert er sich kaum) und reist recht bald wieder ab, wobei er einen günstigen oder ungüns- tigen Eindruck mitnimmt. Ist er mit prominenten Leuten zusammen, dann schil- dert er, ob sie ihm zuhörten, ob sie liebenswürdig zu ihm waren und dergleichen. Kluge, weltoffene, weitgereiste Menschen schätzt er, Nazis lehnt er ab; Er gibt aber nie eine Analyse über das Warum. Nie trägt er ein, dass er sich über etwas klar zu werden wünscht oder dass er eine frühere Bemerkung widerruft. Er weiß immer alles gleich und durchschaut die Menschen sofort. Danach interes- sieren sie ihn nicht mehr allzu sehr. Merkwürdig war auch der Mangel an Beweisen einer Liebe zur See und zur Marine. Ein alter Kapitän müsste in seinem Tagebuch doch öfter Ausdrücke wie >backbord< oder >achtern< verwenden, nichts dergleichen57.« Die beiden Schräders steckten die Ausschnitte »in große gelbe Umschläge«58, die sie versiegelten und vernichteten. Doch die »Säuberung« der Eintragungen ging weiter. Aus dem Rest der Tage- bücher entstanden Ende April 1943 zwei Abschriften; wer sie anfertigte, ist nicht überliefert59. Canaris erhielt eine Abschrift, Schräder die zweite, die er in einem anderen Tiefbunker des Lagers »Zeppelin«, Sperrkreis Maybach II, zusammen mit den (auch »gesäuberten«) Reiseberichten aufoewahrte60. Canaris schrieb sein Tagebuch weiter, das mit dem 2. Februar 1943 begann und im Juli 1944 endete. Dieses Jahr war für den Abwehrchef folgenschwer. Im Februar hatte Hitler ihn abgesetzt. Seine Gegenspieler im RSHA hatten die Abwehr in ihr Amt übernommen. Canaris, kein Soldat im Widerstand, kein Verschwörer, aber stets die militärische Opposition unterstützend, war fatalistisch geworden und sternengläubig61. Dann, Anfang Juli, hatte Canaris eine neue Verwendung erhalten: Chef des Sonderstabes für Handelskrieg und wirtschaftliche Kampfmaßnahmen (HWK) im OKW. Die Dienststelle befand sich in Potsdam(-Eiche) und war ohne Einfluss. Canaris bewohnte auf dem Gelände ein Häuschen mit zwei Zimmern. Am 20. Juli 1944 hatte er sich in seinem Hause in Berlin(-Schlachtensee), Betazeile 17, aufgehalten. Drei Tage später verhaftete ihn SS-Brigadeführer Walter Schellen- berg, Chef des Amtes VI (Auslandsnachrichtendienst) im RSHA. Canaris hatte kei- ne Kenntnisse von den Vorbereitungen des Attentats. Schellenberg brachte ihn zur Grenzpolizeischule Fürstenberg an der Havel. Nach Canaris' Verhaftung durchsuchten Beamte der Geheimen Staatspolizei seine letzte Dienststelle in Potsdam(-Eiche) und sein Häuschen. In der Wohnung

57 Brief von Werner Wolf Schräder an Heinrich Fraenkel vom 9.4.1967, fol. 05r-06r. In: Archiv des IfZ München, ZS 1902. 58 Benzing, Der Admiral (wie Anm. 12), S. 15. 59 Wera Schwarte und Alice Fischer, Canaris' Sekretärinnen, waren nicht daran beteiligt. War es Frau Goldammer, eine Vertraute von ? 60 Aussage von Walter Huppenkothen vom 15.2.1946 (wie Anm. 21), S. 2; Benzing, Der Ad- miral (wie Anm. 12), S. 14 (nach Angaben von Wera Schwarte, die am 4.12.1969 in Köln verstarb). 61 Vgl. Heinz Höhne, Admiral Wilhelm Canaris. In: Hitlers militärische Elite. Hrsg. von Gerd R. Ueberschär, Bd 1: Von den Anfängen des Regimes bis Kriegsbeginn, Darmstadt 1998, S. 53-60, hier: S. 53 (Quelle für diese Aussage ist der verstorbene Pianist Helmuth Maurer, Canaris' Nachbar in der Betazeile, Berlin-Schlachtensee). Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 181 fanden sie kein belastendes Material. Kapitän zur See Karl August Bruno Vesper, Referent in diesem Stabe, machte indessen die Ermittler »beflissen darauf aufmerk- sam, dass sich im Panzerschrank [...] noch Sachen von Admiral Canaris befänden«62. Dies war der erwähnte letzte Teil des Tagebuchs, etwa zweihundert Blätter umfas- send, lose aufeinandergelegt und noch nicht abgeheftet: Band VI. Aber wo waren die anderen Hefter? Oberstleutnant Schräder war wohl Anfang Juli in Groß Denkte bei Braunschweig gewesen, wo seine Frau Cornelia auf dem Bauernhof ihres Schwagers Franz Bracke lebte, und hatte ihr eine Abschrift der »gesäuberten« Tagebücher gegeben, die Canaris gehörte. Nach Schräders Freitod am 28. Juli 1944 in Zossen verbrannte seine Witwe diese Abschrift und weitere Akten der Gruppe Abwehr in der Heer- wesenabteilung, die Schräder geleitet hatte. Canaris wusste nichts davon; er befand sich in Haft und vertraute darauf, dass beide Abschriften des »gesäuberten« Tagebuches vernichtet worden waren. Dies war ein fataler Irrtum, denn das Schräder gehörende Exemplar befand sich in Zos- sen im Lager »Zeppelin«, Sperrkreis Maybach II, untergebracht in einem Tiefbunker. Und auf dieses Exemplar richteten sich nun die fieberhaften Fahndungen einer »Sonderkommission 20. Juli 1944«, die der Gruppenführer Heinrich Müller im RSHA gebildet hatte. Der Kommission gehörte auch die »Vernehmungsgruppe Abwehr« (Canaris/Oster) an, die Walter Huppenkothen, damals noch SS-Ober- sturmbannführer und Oberregierungsrat, leitete63. Sein Mitarbeiter, der Kriminal- kommissar Franz Xaver Sonderegger, holte Canaris am 26. August in Fürstenberg ab64, um ihn in das Hausgefängnis des RSHA, Prinz-Albrecht-Straße 8, Berlin SW 11, zu bringen. Noch am selben Tage verhörte ihn Müller, wobei er Canaris auch aus den in Potsdam(-Eiche) gefundenen Blättern, dem Tagebuch VI, vorlas. Canaris aber baute darauf, dass er in diesen Eintragungen nur wenig Belastendes niedergeschrieben hatte. Wera Schwarte überliefert seine Bemerkung: »Nicht wahr, mein Tagebuch kann jeder lesen?« und meinte damit, er habe alles gut getarnt. Frau Schwarte betont, »für den aufmerksamen Leser« sei seine »Einstellung aber natürlich doch klar ersichtlich« gewesen65. Wo aber waren die übrigen Aufzeichnungen? Die Kommission suchte weiter, denn Canaris war ein Wissensträger ersten Ranges. Am 22. September gelang ihr ein erster Durchbruch: Sonderegger und Josef Bauch, Einheitsführer der Geheimen Feldpolizei, fanden in Zossen den Panzerschrank, in dem die Oster-Dohnanyi- Akten abgelegt waren. Kerstenhan, Schräders einstiger Fahrer, hatte den Hinweis

62 Brief von Wera Schwarte an Helmut Krausnick vom 24.11.1964, S. 2. In: Archiv des IfZ München, ZS 2101. 63 »Eidesstattliche Versicherung« von Walter Huppenkothen vom 18.7.1946. In: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (Internatio- nal Military Tribunal), Nürnberg, 14. November 1945-1. Oktober 1946 (IMT), Bd 42, Nürnberg 1949, S. 315-323; Huppenkothen, Der 20. Juli 1944, fol. 154r. In: Archiv des IfZ München, ZS 249. 64 Schriftsatz von Franz Xaver Sonderegger an den Landeskommissar für die politische Säuberung beim Staatsministerium des Innern Koblenz vom 20.9.1952, fol. 0001Or. In: Archiv des IfZ München, ZS 303, Bd 1. 65 Brief von Wera Schwarte an Helmut Krausnick vom 24.11.1964, S. 2. In: Archiv des IfZ München, ZS 2101. 182 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen gegeben. Sonderegger triumphierte. Er hatte endlich das Archiv der Verschwörer entdeckt, das von Januar 1943 bis zu diesem Tage unangetastet geblieben war. Huppenkothen und Sonderegger staunten, was da alles gesammelt worden war: Aufzeichnungen über einen geplanten Staatsstreich im September 1938; Dokumente, mit dem Vatikan Verbindung aufzunehmen, um Friedensverhand- lungen mit Großbritannien einzuleiten; eine Denkschrift des Generalobersten z.V. a.D. über die Lage nach dem Polenfeldzug66. Weiter eine Studie, in der Oster mit Bleistift auf drei Doppelfolioblättern beschrieb, wie ein Umsturz durchzuführen sei. Bedeutend waren auch verschiedene, zusammenhängende Durchschläge aus Canaris' Tagebüchern, die er selbst oder Dohnanyi nach Diktat geschrieben hatte. Über ihren Inhalt ist an anderer Stelle berichtet worden67. Dies war das Schriftgut, das sich bis Dezember 1942 in der Abwehrzentrale befunden und das Dohnanyi trotz des Befehls vom Juli 1940 nicht vernichtet hatte68. Entscheidend aber blieb: Die Tagebücher und die Reiseberichte von Canaris be- fanden sich nicht unter diesen Papieren. Müller wies Huppenkothen an, die Akten zu sichten. Der sah sie durch und schrieb in drei Wochen eine Dokumentation für Hitler, die einhundertundfünfzig Seiten umfasste; in zwei Anlagebänden fügte Huppenkothen die Fotokopien der wichtigsten Schriftstücke bei. Mitte Oktober ging die erste Ausfertigung des Berichts über SS-Gruppenführer Hermann Fegelein, den Vertreter des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei im Führerhauptquartier, und Reichsleiter Martin Bormann, Leiter der Parteikanzlei, an Hitler (Führervorlage). Die zweite und dritte Ausfertigung gingen an Himmler und an Kaltenbrunner; die vierte verblieb im RSHA (Müller/Huppenkothen). In diesem Herbst 1944 war Canaris immer noch Häftling im Hausgefängnis des RSHA in Berlin. Die Verhöre hatten keine neuen Erkenntnisse gebracht. Huppen- kothen und Sonderegger wussten, dass der Admiral ein »Fuchs« war, listig und gerissen, der nur das zugab, was die Geheime Staatspolizei schon wusste. Und Canaris sah auch, wie sehr die Gestapozentrale und ihre Dienststellen überschätzt worden waren. Nach dem schweren Luftangriff auf die Reichshauptstadt am 3. Februar 1945 verlegte die Geheime Staatspolizei die Häftlinge aus der Prinz-Albrecht-Straße in die Konzentrationslager Buchenwald oder Flossenbürg in der Oberpfalz. Dies geschah am 7. Februar. Canaris kam nach Flossenbürg. Immer noch waren seine Aufzeichnungen nicht gefunden worden. Bestand daher Hoffnung, »das andere Ufer«69, das rettende, zu erreichen?

66 Diese Denkschrift ist erhalten: Groscurth, Tagebücher (wie Anm. 25), S. 474-478 (Dok. 64), Ende September 1939 verfasst. 67 Vgl. die Ausführungen vor und nach Anm. 48. 68 Zum Aktenfund in Zossen: Walter Huppenkothen, Der 20. Juli 1944, fol. 156r-159r. In: Archiv des IfZ München, ZS 249; Huppenkothen, Darstellung der Ermittlungen gegen die Gruppe Canaris/Oster. Fotokopie der maschinenschriftlichen Abschrift, 1956, S. 2-11. - Von Heinz Höhne dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. - Höhne, Canaris (wie Anm. 48), S. 553 f. 69 Ernst Jünger, Sämtliche Werke. Bd 4: Erste Abteilung. Tagebücher IV. Strahlungen III (Siebzig verweht I), Stuttgart 1982, S. 490 (Eintragung vom 11.6.1968). Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 183 Der Fund der Tagebücher in Zossen. Canaris' Hinrichtung. Die Ereignisse von April bis Mai 1945

Es kam indessen anders. General der Infanterie Walter Buhle, seit Februar 1945 Chef der Wehrmacht-Rüstung, bezog Anfang April mit Offizieren seines Stabes im Lager »Zeppelin« in Zossen neue Diensträume, die zum Sperrkreis Maybach II gehörten. Buhle suchte immer noch nach weiteren Unterkünften und stieß auf einen Panzerschrank, in dem sich seit Mai 1943 die Canaris-Papiere in der von den beiden Schräders »gesäuberten« Fassung befanden. Es waren elf schwarze Kaliko- Hefter mit Klemmrücken der Marke Soennecken von je achtzig bis zweihundert Seiten, lose Blätter, zusammen etwa zweitausend Seiten. Buhle hatte die Tagebücher I bis V und die sechs Bände Reiseberichte gefunden. Am 3. April unterrichtete er den SS-Gruppenführer Hans Rattenhuber, den Kommandeur des Reichssicherheitsdienstes. Als Chef des Heeresstabes beim Chef OKW, der Buhle bis Ende Januar 1945 gewesen war, hatte er Canaris bei dienstlichen Zusammenkünften kennengelernt. Galt es nun »offene Rechnungen« zu begleichen? Denn Buhle hatte den 20. Juli 1944 nicht verwunden, jenen Augenblick in der Lagerbaracke des Führerhauptquartiers »Wolfschanze«, als Stauffenbergs Bombe explodierte und Buhle so schwer verwundete, dass er nicht, wie vorgesehen, Chef des Generalstabes des Heeres wurde. Für Buhle war Canaris ein »Verräter«; und er hielt es für seine Pflicht, unverzüglich die engste Umgebung Hitlers von dem Fund in Zossen zu unterrichten. Am selben Tage noch händigte Buhle die Tage- bücher und auch die Reiseberichte Rattenhuber in Berlin aus70. Am 4. April gab Rattenhuber die Canaris-Aufzeichnungen an Müller, den Chef der Geheimen Staatspolizei, weiter, und am nächsten Tage, 5. April, meldete Kaltenbrunner Hitler den Fund der Tagebücher in der Mittagslage im Führerbunker unter dem Garten der Neuen Reichskanzlei, Wilhelmstraße 77, die im Konferenz- raum stattfand. Hitler las einige, von Kaltenbrunner gekennzeichnete Stellen, war nun unterrichtet und erteilte den Befehl: sofortige »Vernichtung der Verschwörer«71! Am frühen Nachmittag beriet sich Kaltenbrunner mit Müller in der Gestapo- zentrale, wie Hitlers Befehl auszuführen sei. Kaltenbrunner schlug vor, ein SS- Standgericht mit Richter und Ankläger einzusetzen und nannte auch den Namen: Huppenkothen. Müller rief ihn gegen 16 Uhr zu sich und teilte ihm mit, »ein Stand- gericht solle Dohnanyi aburteilen, das am 6. April in Sachsenhausen zusammen- zutreten habe«72. An dem genannten Tage fand der »Prozess« gegen Dohnanyi statt. Huppen- kothens Anklageschrift enthielt nur wenige Sätze und stützte sich auf die Führer- vorlage von Mitte Oktober 1944. Am Abend verkündete der SS-Richter das Urteil: Tod durch den Strang; es hatte bereits zu Beginn festgestanden. ( starb wohl am 9. April zur selben Stunde wie die Häftlinge in Flossenbürg.)

70 Aussage Huppenkothens vor dem Schwurgericht beim Landgericht München I (wie Anm. 22). 71 Zit. nach Bethge, Bonhoeffer (wie Anm. 51), S. 1034; vgl. auch Buchheit, Der deutsche Geheimdienst (wie Anm. 23), S. 445. 72 Zit. nach Höhne, Canaris (wie Anm. 48), S. 564. 184 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Gegen 23 Uhr meldete sich Huppenkothen bei Müller in dessen Ausweich- quartier in Wannsee zurück, der ihm einen neuen Befehl erteilte: Hitler habe Kalten- brunner angewiesen, sofort in das Konzentrationslager Flossenbürg zu fahren, um in einem weiteren Verfahren die »Gruppe Canaris/Oster« abzuurteilen. Am 7. April fuhr Huppenkothen in Berlin ab und traf zwischen 19 und 20 Uhr in Rossenbürg ein. Am folgenden Tage fand wieder ein Schein-Prozess statt. Huppenkothen breitete das Material der Anklage aus, das sich auf die Führervorlage stützte. Canaris' Tagebücher blieben unberücksichtigt. Am 9. April gegen 5 Uhr 30 überprüften SS- Wachen noch einmal die Tötungsvorrichtungen. An der westlichen Seite des Hofes überdeckte ein Holzdach die Mauer, an dessen Balkenkonstruktion sich Haken und Schlingen befanden. Canaris betrat als erster den Hof, nackt; es mag gegen 6 Uhr 10 gewesen sein. Ruhig ließ er sich auf die Treppe führen und die Schlinge aus dünnem Draht umlegen. Die ihm zugedachte Todesart war grausam. Der SS- Wachmann erhängte ihn, nachdem er die Treppe weggezogen hatte, nicht: er stran- gulierte Canaris, bis er beinahe tot war; dann erst nahm er ihn ab. Als dieser aus seiner Bewusstlosigkeit aufwachte, legte er Canaris erneut die Schlinge um und zog die Treppe weg; dies wiederholte er noch viermal; erst bei der sechsten Erdros- selung trat der Tod ein73. Die SS-Wachmannschaften erhängten Generalmajor Hans Oster, Pastor Dietrich Bonhoeffer, die Hauptleute der Reserve und Theodor Strünck und, als letzten, Generalstabsrichter , alle nackt. Gegen 6 Uhr 50 waren die Hinrichtungen beendet. SS-Wachen verbrannten die Getöteten hinter dem Zellenbau; dies war gegen 8 Uhr 15. Am 11. April las Müller in einem Ausweichquartier in Berlin-Wannsee die Canaris-Tagebücher und die Reiseberichte. Die Aufzeichnungen in der »gesäuber- ten« Fassung hatten sich seit 5. April bei Kaltenbrunner befunden. Am 12. oder 13. April sah Huppenkothen erstmals die Eintragungen des Admirals bei Müller. Huppenkothen im Jahre 1951: »Ich war darüber sehr aufgeregt; das ist verständlich. Ich sagte ihm: Das sind offensichtlich die Tagebücher von Canaris. Er sagte mir, dass diese Tagebücher tatsächlich in Zossen gefunden worden seien, und zwar habe sie ihm Brigadeführer [sie!] Rattenhuber gebracht74.« Müller, so Huppenkothen weiter, wollte die Aufzeichnungen »ansehen und würde sie mir einzeln geben«; er habe »dann das erste herübergeschickt«, und Huppenkothen sah, dass sich die Ermittlungen der Geheimen Staatspolizei mit den Canaris-Eintragungen deckten. Huppenkothen sagte 1951 aus, er habe das erste Tagebuch gelesen, »nicht im Zusammenhang, sondern nur zwischendurch stichprobenweise«75; Müller habe ihm auch, seiner Erinnerung nach, den zweiten und dritten Band zugesandt.

73 Vgl. Ε. A. Bayne, Resistance in the German Foreign Office. In: Human Events, Nr. 14, 3.4.1946, berichtet diese Todesart aufgrund von Berichten des britischen (Ausland-)Ge- heimdienstes MI 6 (nach Peter Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 3., neu bearb. und erw. Ausg., München 1979, S. 874 f., Anm. 127); vgl. auch Hugh Redwald Trevor-Roper, Hitlers letzte Tage, 3. Aufl., Frankfurt a.M., Berlin 1965, S. 66, Anm. 2. - Die Ausführungen von Richard Bassett, Hitler's Spy Chief (wie Anm. 7), S. 289 über Canaris7 Hinrichtung sind unzutreffend. 74 Aussage Huppenkothens vor dem Schwurgericht beim Landgericht München I (wie Anm. 22), S. 193. 75 Ebd., S. 194. Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 185

Dann, am 20. April 1945, schickte Müller Sonderegger eine Auswahl von Schrift- stücken und wies ihn an, sie zu vernichten76. Sonderegger sah sie durch und stieß auf einige lose Blätter, die er als Notizen von Canaris bestimmte; er verbrannte die Papiere in der Nacht vom 21./22. April im Bereich des Barackenlagers Wannsee. Doch merkwürdig genug: Müller ließ Sonderegger am selben Tage »das gesamte Material mit dem Auftrage zugehen, von den Aufzeichnungen Canaris' beim Reichskriminalpolizeiamt einen Mikrofilm herstellen zu lassen«77. Die Filmrollen verwahrte man in zwei Blechschachteln. Nur eine Rolle konnte wegen des über- stürzten Aufbruchs aus Berlin entwickelt werden. Am 29. April übergab Müller Huppenkothen die fünf Bände der (»gesäuberten«) Canaris-Tagebücher und den letzten Band, der bis Juli 1944 reichte, sowie die sechs Hefter Reiseberichte. Er händigte ihm auch den Mikrofilm und dessen Abzug aus, ferner die Oster-Dohnanyi-Akten und die Führervorlage von Mitte Oktober 1944 mit den beiden Anlagebänden. Müller erteilte Huppenkothen den Auftrag, die Papiere in Sicherheit zu bringen, vor allem die Tagebücher nicht zu vernichten, »denn sie seien ja doch wohl von historischem Wert«78 und befahl ihm, nach Salz- burg zu Kaltenbrunner zu fliegen. Am Morgen des 30. April landete Huppenkothen in Salzburg, wo Kaltenbrunner, der Berlin am 19. April verlassen hatte, kommandierte. Himmler hatte Kaltenbrun- ner die Vollmacht erteilt, in seinem, Himmlers Namen in Bayern, Österreich und im Protektorat Böhmen und Mähren die Befehlsgewalt zu übernehmen, falls der Vormarsch der angloamerikanischen Truppen Deutschland in zwei Hälften spalten würde79. Huppenkothen meldete sich bei Kaltenbrunner und berichtete ihm, er habe die Tagebücher dabei. Kaltenbrunner soll darauf gesagt haben, »das wisse er schon, er kenne sie schon«. Huppenkothen fragte weiter, »wo man die Tagebücher unter- bringen könne, ob er einen Weg dazu sehe«. Kaltenbrunner erwiderte, das sei »alles Blödsinn; die Sachen sollten nicht untergebracht, sondern vernichtet werden«. Huppenkothen will angeblich versucht haben, Kaltenbrunner zu überzeugen, »dass das zweckmäßigerweise nicht geschähe«; doch dieser »hat trotzdem darauf bestan- den«80. Dies war nun eine verfahrene Lage. Huppenkothen verwahrte das Schriftgut vorläufig im Panzerschrank des SS-Sturmbannführers und Oberregierungsrates Hubert Hüber, des Leiters der Staatspolizei Salzburg, der ihm riet, sich bei SS-Briga- deführer und Generalmajor der Waffen-SS und Polizei Ernst Rode zu melden. Die- ser deutete die Absicht an, zu den »Amerikanern« zu fahren, »wenn es soweit wä- re«; aber er, Huppenkothen, müsse zuvor versuchen, seine »Akten loszuwerden«81.

76 Eidesstattliche Versicherung von Franz Xaver Sonderegger vom 3.9.1948, fol. OOOOlr. In: Archiv des IfZ München, ZS 303, Bd 2. 77 Schriftsatz von Franz Xaver Sonderegger an den Präsidenten des Landgerichts München vom 14.1.1951, fol. 00019r. In: Archiv des IfZ München, ZS 303, Bd 1. 78 Aussage Huppenkothens vor dem Schwurgericht München I (wie Anm. 22), S. 195. 79 Peter Black, Ernst Kaltenbrunner. Vasall Himmlers. Eine SS-Karriere, Paderborn, München, Wien, Zürich 1991, S. 271 f. 80 Aussage Huppenkothens vor dem Schwurgericht beim Landgericht München I (wie Anm. 22), S. 195. - Quellenangabe auch für das vorherige Gespräch und die nachfolgende Unterhaltung Huppenkothen/Kaltenbrunner. 81 Ebd. 186 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen

Nun holte Huppenkothen das Schriftgut, auch die Canaris-Tagebücher, aus Hü- bers Panzerschrank heraus und fuhr, begleitet von Kriminalrat Hans Müller (Ge- heime Staatspolizei), nach Schloss Mittersill in Tirol. In seinem ersten Prozess im Februar 1951 sagte Huppenkothen aus, er habe ge- hört, »dass man dort vielleicht so etwas unterbringen könnte, so dass es nicht ohne weiteres gefunden würde«82. Dieser Versuch aber scheiterte. Im Schloss befand sich eine militärische Dienststelle, über die keine zuverlässigen Angaben vorliegen83. So kam das Ende. Am 2. oder 3. Mai 1945 vernichteten Huppenkothen und Hans Müller in der Nähe von Schloss Mittersill »alles«. Walter Huppenkothen blieb bis zum Ende dabei: »Ich. habe jedes Stück verbrannt84.«

82 Ebd., S. 196. 83 Vieles spricht dafür, dass Anfang Mai 1945 der Stab des Oberbefehlshabers im Südraum, Generalfeldmarschall , in Schloss Mittersill untergebracht war: vgl. Luise Jodl, Jenseits des Endes. Leben und Sterben des Generaloberst Alfred Jodl, Wien, München, Zürich 1976, S. 133. - Frau Jodl besuchte den Feldmarschall in jenen Tagen in seinem Hauptquartier. - Diese Angabe, in Mittersill sei Kesselring gewesen, wird vom KTB OKW (wie Anm. 28), Bd 4,2, Frankfurt a.M. 1961, S. 1440,1755, nicht bestätigt. Da- nach bezog der Oberbefehlshaber im Südraum am 30.4.1945 das Lager Wesseler zwischen Berchtesgaden und Reichenhall. - Kesselring war nicht nur Oberbefehlshaber im Süd- raum. Hitler hatte am 20.4. die Aufteilung des Wehrmachtführungsstabes in Führungsstab Nord (A) und Süd (B) verfügt. So wurde Kesselring ab 24.4. auch Chef des Führungsstabes Süd (B); vgl. KTB OKW (wie Anm. 28), Bd 4,2, Frankfurt a.M. 1961, S. 1439. Am 20.4.1945 war Motzenhofen (nördlich München) das Hauptquartier Kesselrings als Oberbefehlshaber West (vgl. Albert Kesselring, Soldat bis zum letzten Tag, Bonn 1953, S. 402). Vielleicht hielt sich Kesselring in Mittersill auf, um sich über die »Alpenfestung«, die er verteidigen sollte (vgl. ebd.), zu unterrichten. Sein Kommandostab kapitulierte am 6.5.1945 in Saalfelden/Tirol (ebd., S. 403). 84 Ebd., S. 196 (»alles«); S. 201 (»Ich habe jedes Stück verbrannt.«).