Die Canaris-Tagebücher - Legenden Und Wirklichkeit
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Dokumentation Horst Mühleisen Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit Kein Historiker hat sie je gesehen. Forscher, Journalisten und Staatsanwälte suchten sie nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft vergebens: die verschol- lenen Tagebücher des Admirals Wilhelm Canaris (1887-1945), für nicht wenige der Fahnder »eine ungeheuere historische Quelle«1, die Auskünfte über die Natur die- ses außergewöhnlichen, von Geheimnissen und Rätseln umgebenen Mannes hätten geben können, der einst als Chef des Amtes Ausland/Abwehr von November 1939 bis Februar 1944 Beschützer des konservativen Widerstandes gewesen war. Das Schicksal der Canaris-Papiere beschäftigt die historische Forschung, seit ein SS-Standgericht im Konzentrationslager Flossenbürg den ehemaligen Abwehr- chef am 8. April 1945 wegen angeblichen Hochverrats zum Tode verurteilte und ihn in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages erhängen ließ. Mit dem Ende von Canaris verlor sich auch die Spur seiner geheimen Tagebücher und Reise- berichte, die Walter Huppenkothen, Ankläger von Canaris im Prozess, führender Funktionär der Geheimen Staatspolizei, restlos verbrannt hat, wenn man seine Aussagen glauben will. Einige, meist Canaris' Getreue der einstigen Abwehr, taten es nicht. Sie glaubten hartnäckig daran, dass ihr listiger Chef doch Wege gefunden hatte, eine bis dahin unbekannte Kopie seiner Tagebücher an einem entlegenen Ort in Sicherheit zu bringen; und das rasch aufkommende Gerücht, die Geheime Staatspolizei habe keineswegs alle Canaris-Papiere verbrannt, bestärkte sie darin. So haftete bald Heinrich Hamann, einem Referenten im Reichssicherheitshaupt- amt (RSHA), der Verdacht an, bei der Verbrennung der Canaris-Aufzeichnungen nahe dem Schloss Mittersill in Tirol die zweite, nicht entwickelte Filmrolle an sich genommen zu haben und mit ihr »in Richtung Hamburg«2 verschwunden zu sein, während Vizeadmiral Theodor Arps, ein alter Gegner von Canaris, schon 1945 im Gefangenenlager Neu-Ulm ganz genau wusste, dass die Tagebücher in »einem besonderen Versteck des Bayerischen Waldes«3 aufgefunden worden seien, was nicht zutraf. 1 So Fabian von Schlabrendorff. In: »Das Andere Deutschland« im Zweiten Weltkrieg. Emigration und Widerstand in internationaler Perspektive = The »Other Germany« in the Second World War. Emigration and Resistance in International Perspective. Hrsg. von Lothar Kettenacker, Stuttgart 1977, S, 94. 2 Will Grosse, Im Hintergrund - der Admiral Canaris, unveröff. Typoskript von 1952, S. 5. - In Kopie von Heinz Höhne dankenswerterweise zur Verfügung gestellt. 3 Brief von Wera Schwarte an Helmut Krausnick vom 24.11.1964, S. 1. In: Archiv des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München, Zeugenschrifttum (ZS) 2101. Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), S. 169-186 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 170 MGZ 65 (2006) Horst Mühleisen Die Legende Die falschen Spuren waren allmählich so zahlreich, dass man sie kaum noch zählen konnte. Mal waren die Tagebücher in Spanien aufgetaucht, mal lagen sie in einem Schweizer Banksafe4, mal grub man nach ihnen in der Lüneburger Heide, wo die Witwe des Canaris-Vertrauten Werner Schräder Teile der Tagebücher in einem Koffer versteckt haben sollte5, mal geriet ein von der DDR inzwischen enteignetes Gut in Mitteldeutschland in das Fadenkreuz der Fahnder. Inmitten all dieser Gerüchte und bewusst ausgestreuten Legenden war noch die spanische Variante glaubwürdig. Immerhin war unter Kennern der Abwehr be- kannt, dass Canaris im Herbst 1943 begonnen hatte, seine Übersiedlung in das von ihm geliebte Spanien vorzubereiten, dessen Generalissimus Francisco Franco dem Admiral politisch nahestand wie kein anderer Staatschef im Ausland6. Da war es schwerlich ein Zufall, dass sich nach Kriegsende Erika Canaris7, die Witwe des Admirals, zeitweilig in Barcelona niederließ. Franco stattete sie mit erheblichen Geldmitteln aus und gewährte ihr auch eine Rente8. Frau Canaris bewohnte eine hübsche Dachwohnung im Stadtteil San Gervasio, Mandri 34, von der aus sie mit Hilfe der letzten Getreuen ihres Mannes publizistische Verächter des Abwehrchefs im Nachkriegsdeutschland gern »etwas >unter Beschuss< hielt«9, wie sie das nannte. Aus diesem Beziehungsgeflecht mochte auch herausgesickert sein, was den ehemaligen Bundesverfassungsrichter Fabian von Schlabrendorff, einen der weni- gen Überlebenden des Widerstandes, verlockte, 1974 eine internationale Tagung mit der Nachricht zu überraschen, dass Canaris' »großes Tagebuch vor wenigen Wochen von Generalissimus Franco wieder an die Bundesrepublik Deutschland zurückgegeben worden ist und in wenigen Monaten erscheinen wird«10. Madrid indessen ließ rasch dementieren. Francos Schwager Felipe Polo Valdes, sein persönlicher Referent, ließ es sich nicht nehmen, »die Behauptungen des hohen Richters ad absurdum zu führen«11. Dies hinderte Klaus Benzing, Verfasser einer Canaris-Studie12, nicht, an der spa- nischen Legende munter weiter zu stricken. Er wollte eine Abschrift der Canaris- 4 Gerhard Henke, Canaris in der Beurteilung als Seeoffizier. In: Die Nachhut. Hrsg.: Arbeits- gemeinschaft ehemaliger Abwehrangehöriger, H. 7,9.4.1969, S. 4-10, dort S. 4; Bundes- archiv-Militärarchiv (BA-MA) Freiburg, Militärgeschichtliche Sammlung (MSg) 3-22/1. 5 Brief von Werner Wolf Schräder an Heinrich Fraenkel vom 28.2.1967, S. 1 f. In: Archiv des IfZ München, ZS 1902. 6 Brief von Prof. Dr. Martin Franzbach an Heinz Höhne vom 24.9.1976 (Privatbesitz Höhne). 7 Erika Canaris, geb. Waag (1893-1972). - Wilhelm Canaris und Erika Waag hatten am 22.11.1919 in Pforzheim geheiratet. Frau Canaris lebte von 1966 an in Hamburg-Volksdorf, Rögenfeld 17b, und verstarb am 6.11.1972 in Bad Oldesloe. - Die Bemerkungen von Richard Bassett, Hitler's Spy Chief. The Wilhelm Canaris Mystery, London 2005, S. 289 Fn., über Frau Canaris' Reise nach Spanien sind teilweise erfunden. Diese Biographie zeichnet sich nur durch den Bild teil (zwischen den Seiten 160 und 161) aus. 8 Vgl. Donald S. Detwiler, Hitler, Franco und Gibraltar. Die Frage des spanischen Kriegseintritts in den Zweiten Weltkrieg, Wiesbaden 1962, S. 151, Anm. 120. 9 Brief von Erika Canaris an Erich Pruck vom 1.4.1955 (Privatbesitz Höhne). 10 So Fabian von Schlabrendorff. In: »Das Andere Deutschland« im Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 1), S. 94. 11 David Irving, Hitler und seine Feldherren, Berlin 1975, S. III. 12 Klaus Benzing, Der Admiral. Leben und Wirken, Nördlingen 1973. - Die in Benzings Buch kursiv gesetzten Zitate sind Fälschungen. Die Canaris-Tagebücher - Legenden und Wirklichkeit 171 Tagebücher in Sicherheit gebracht haben, in deren Besitz er durch Vermittlung Carl Friedrich Goerdelers, des früheren Oberbürgermeisters von Leipzig und eines Freundes seiner Eltern, gelangt sei. Dank Goerdeler sei er 1941 »mit Admiral Canaris in Verbindung«13 gekommen, der ihm zwei Jahre später die Kopie übergeben habe mit der »Weisung«, sich fortan als ihr alleiniger Eigentümer zu betrachten, der nach »eigenem Gutdünken und Gewissen«14 darüber verfügen könne. Auffallend nur, dass Benzing die von ihm verwendeten Zitate aus der angeb- lichen Abschrift der Canaris-Aufzeichnungen nie einer wissenschaftlichen Überprüfung unterziehen lassen wollte und auch die Familie Goerdeler keinen Klaus Benzing kannte15. Als dann der »Spiegel« die Zitate zu Fälschungen erklärte, strengte der bedrängte Autor zwar eine Verleumdungsklage gegen das Nachrichten- magazin an, zog es aber vor, den Rückzug anzutreten16. Nun aber war das Gerücht einmal vorhanden, und solche Behauptungen sind zäh. 1977 erschien die deutsche Übersetzung der Canaris-Biographie von Andre Brissaud, einem Journalisten. Der Verfasser erwähnt auch Heydrichs angebliche nicht-arische Abstammung und fabuliert sowohl über eine »Akte Heydrich«, die Canaris besessen haben soll, als auch über vier schwarze Lederkoffer, »die Canaris eines Tages nach Madrid mitnahm und nicht wieder nach Berlin zurückbrachte. Diese Koffer waren 1965 noch vorhanden17.« Brissaud vermutet, die »Akte Heydrich« sei vielleicht in einem dieser Lederkoffer gewesen. Und in einer Fußnote, die an Magie und Mythologie erinnert, raunt der Franzose: »Ich konnte den Lagerort, wohin die Koffer damals gebracht wurden, nicht aus- findig machen. Für die Geschichtsforschung ist es bedauerlich, dass man den Inhalt nicht genau kennt. Vielleicht wird sich eines Tages der Besitzer entschließen, das Geheimnis zu lüften. Ich habe gute Gründe anzunehmen, dass ein Teil des berühmten Tagebuches von Canaris sich in den Koffern, neben anderen besonders wertvollen Dokumenten, befindet18.« Das wäre ein aufsehenerregender Fund; die vier schwarzen Lederkoffer aber sind nicht vorhanden. Wer nun meinte, dass die Legendenbildung um die Aufzeichnungen beendet sei, täuschte sich. Die Suche nach den Papieren ging weiter. 2002 nahm ein »sehr überzeugender Informant« Verbindung zu »Focus« auf und zeigte Jan von Flocken, einem Journalisten, den Schlüssel des Schließfaches einer Schweizer Bank, deren Namen ihm bislang unbekannt war. In diesem Fach lägen angeblich die Canaris- Tagebücher. Den Schlüssel, so der Informant, habe er von einem ehemaligen Konfidenten der Central Intelligence Agency (CIA) kurz vor dessen Tode erhalten. 13 Klaus Benzing, [Leserzuschrift:] Warnung vor dem Admiral. In: Der Spiegel (Hamburg), 29. Jg., Nr. 28 vom 7.7.1975, S. 10 f.; Zitat: S. 10. 14 Benzing, Der Admiral (wie Anm. 12), S. 15. 15 Tel. Mitteilung von Frau Dr. Marianne Meyer-Krahmer, der Tochter Goerdelers, Heidel- berg, am 1.3.2004, für die ich sehr danke. 16 Heinz Höhne, Fälschungen. Faszinierendes Rätsel.