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Wilhelm Amann

Textmosaiken Fontane, Kleist und das Käthchen

Zu den herausragenden Möglichkeiten von Literatur gehört, dass sie ihre histori- schen Transformationen wiederum selbst in ihrem eigenen Medium zu reflektieren vermag. Einer der Virtuosen dieser intertextuellen Spiegelungstechnik im 19. Jahr- hundert war zweifelsohne Theodor Fontane. Im vierten Kapitel von geht es um die Vorbereitungen zum Polter- abend für die 17-jährigen Titelheldin und ihren Bräutigam, den 38-jährigen Baron von Innstetten. Das Fest soll im märkischen Hohen-Cremmen gleichsam über die Bühne gehen, denn die ortsansässigen Honoratioren proben dafür eine kleine sze- nische Inszenierung des Provinzkanons, in dem Fritz Reuters Ut mine Stromtide neben Kleists Käthchen von Heilbronn gleichermaßen Platz finden. Aus Reuters Dorfroman ist eine Szene mit den sittsamen Zwillingen Lining und Mining ausge- wählt worden – in Anspielung auf die Töchter des Kantors Jahnke, den Freundin- nen Effis, und in Erinnerung an eine wohlbehütete Kindheit. Deren Fortsetzung symbolisiert in der Sicht der Initiatoren niemand besser als Kleists Heldin, wobei Hulda, die Tochter des örtlichen Pfarrers Niemeyer,

das Käthchen von Heilbronn in der Holunderbuschszene darstellen sollte, Leutnant Engelbrecht von den Husaren als Wetter vom Strahl. Niemeyer, der sich der Vater der Idee nennen durfte, hatte keinen Augenblick gesäumt, auch die verschämte Nutzan- wendung auf Innstetten und Effi hinzuzudichten. Er selbst war mit seiner Arbeit zu- frieden und hörte, gleich nach der Leseprobe, von allen Beteiligten viel Freundliches darüber, freilich mit Ausnahme seines Patronatsherrn und alten Freundes Briest, der, als er die Mischung von Kleist und Niemeyer mit angehört hatte, lebhaft protestierte, wenn auch keineswegs aus literarischen Gründen: »Hoher Herr und immer wieder Hoher Herr – was soll das? Das leitet in die Irre, das verschiebt alles. Innstetten, unbestritten, ist ein famoses Menschenexemplar, Mann von Charakter und Schneid, aber die Briests […] sind schließlich auch nicht von schlechten Eltern. Wir sind doch nun mal eine historische Familie, […] und die Innstettens sind es nicht […].«1

In nuce entfaltet die unscheinbare Szene wesentliche Facetten der Wirkungsge- schichte von Kleists Käthchen von Heilbronn im 19. Jahrhundert. Um mit einer Mutmaßung zu beginnen: Vielleicht kann man den Bogen schlagen zwischen der Bedeutung dieser Aufführung im Romankontext als Ouvertüre zu einer arrangier-

1 Theodor Fontane: Effi Briest. In: Ders.: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes. Bd. 4. Hg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger. München 1974, S. 7–296, hier S. 26. 162 WILHELM AMANN ten Eheschließung mit fatalem Ausgang und den Umständen der Erstaufführung von Kleists Stück in Wien am 17. März 1810, die ausgerechnet im Rahmen dynas- tischer »Vermählungsfeierlichkeiten« zwischen Napoleon und der österreichischen Erzherzogin Marie Louise stattgefunden hatte. Auf diese letzte Koinzidenz hatte zumindest Kleist werbewirksam, aber insgeheim wohl auch mit bitterem Rückblick auf sein gescheitertes antinapoleonisches Engagement in Briefen an potenzielle Verleger hingewiesen2 – in erster Linie um eine erhoffte Aufführung des Käthchen in zu beschleunigen, die dort dann doch erst viele Jahre nach seinem Tod im April 1824 zustande kam. Die Bedeutung des Käthchen von Heilbronn als das – wie ein Rezensent schon 1822 vermerken konnte – »eigentliche Nationalstück unserer deutschen Bühnen«3 – geht also nicht von einer repräsentativen Inszenierung in einem der kulturellen Zentren aus. Zu Lebzeiten Kleists hatte sich in Weimar Goethe als In- tendant des Theaters und nach den desaströsen Erfahrungen mit dem Zerbrochnen Krug vehement gegen das Stück gewehrt. Mit den Worten »Das führe ich nicht auf, wenn es auch halb Weimar verlangt!« soll er seinerzeit sogar sein Handexemplar in den Ofen geworfen haben.4 Auf den dennoch sich einstellenden Publikumserfolg deutet in Effi Briest der Aufführungsort in der preußischen Provinz hin. Das fiktive Hohen-Cremmen ist ja nur ein Beispiel dafür, dass das Stück in allen Winkeln des Deutschen Kaiser- reichs gespielt wurde und noch jedem Dorfpfarrer bekannt war. Dieser fungiert nicht zuletzt deshalb im Roman als Spiritus Rector der Aufführung, weil er sich noch in der längst verblichenen Pfarrhaustradition als Keimzelle der deutschen Literatur wähnt. Fontane macht natürlich auch deutlich, worin dieser hohe Bekanntheits- grad des Kleistschen Stücks in erster Linie gegründet war: Es ist das Tableau der ›Holunderbusch‹-Szene des vierten Aktes, das den verschwiegenen locus amoenus des überkommenen Idyllendiskurses nachahmt und das seit Salomon Gessner be- vorzugte Sujet der reinen, unschuldigen Liebe geradezu idealtypisch zu reprodu- zieren scheint. Mit Moritz von Schwinds Ölgemälde von 1826 avancierte diese statische Dramenszene zur Ikone trivialromantischer Vorstellungen von ritterlicher Treue und jungfräulicher Hingabe. Zugleich wurde damit der für das Idyllen- Genre seit jeher charakteristische Medienmix aktiviert, der dann zur Konjunktur weiterer szenischer Illustrationen und letztendlich zur Erweiterung des Legenden- und Sagenschatzes des deutschen Bürgertums durch eine Vielzahl von sogenannten

2 Vgl. an Georg Andreas Reimer. Brief vom 10. August 1810. In: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. Hg. v. Klaus Müller-Salget und Stefan Ormans. Frankfurt am Main 1997, S. 447. 3 F. G. Zimmermann: Dramaturgische Blätter für Hamburg. März 1822, zit. n. Heinrich von Kleists Nachruhm. Eine Wirkungsgeschichte in Dokumenten. Neu hg. v. Helmut Sembdner. München 1997, S. 232 (Dok. 266b). 4 Nach E. W. Weber: Zur Geschichte des Weimarischen Theaters. 1865, zit. n. Heinrich von Kleists Lebensspuren. Dokumente und Berichte der Zeitgenosse. Erweit. Neuausg. Hg. v. Helmut Sembdner. Frankfurt am Main/ 1992, S. 314 (Dok. 385).