Davids Sommer – Ein Roadmovie für kleine und große Leute.

&

Eine Familiengeschichte.

© Alexandra Julius Frölich

Biebricher Straße 3

12053 Berlin

0170-4109503

[email protected]

David ist ein elfjähriger Junge aus Paris, der mit seinen Eltern in die Vendée fährt, um dort die Sommerferien zu verbringen. Als die Eltern eines Abends nicht mehr von ihrem Bad im Meer zurückkommen, macht sich David allein auf den Heimweg. Zunächst verbirgt er die Katastrophe vor seiner Umwelt, denn er glaubt, schuld an ihr zu sein. Glücklicherweise lernt er bald Mimi, seine neunjährige Nachbarin, näher kennen. Davids Sommer ist eine Geschichte von Freundschaft, Verlust, Angst, Hoffnung und Liebe. 1

Personen:

Familie Féghouli:

David (11)

Claudine (37), Mutter von David.

Amésian (42), Vater von David, algerischer Herkunft.

Familie Arnavon

Agnès (40), Claudines Schwester.

Rodolphe (48), Mann von Agnès.

Guillaume (15)

Théophraste (10)

Virginie (13)

Mémé Gertrude (68), Mutter von Agnès und Claudine.

Marie Nowak (9), genannt Mimi, wohnt bei David im Haus, im EG und geht auf dieselbe Grundschule wie David.

Wioletta Nowak (29), Mimis Mutter, polnischstämmig mit leichtem Akzent.

Joseph Klausner (69), Inhaber eines Gemüse- und Lebensmittelladens in Davids Straße, gläubiger Jude.

Zippora Klausner (61), seine Frau, arbeitet auch im Geschäft, gläubige Jüdin.

u.v.a.m., siehe Anhang.

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Zeit der Handlung:

Gegenwart.

August 2014, 3 Wochen; Zeitsprung auf April 2015.

Orte der Handlung:

Paris

1. Wohnung der Féghoulis 2. Haus der Arnavons 3. Wohnung von Marie (Mimi) und Wioletta Nowak 4. Geschäft von Joseph und Zippora Klausner 5. Wohnung von Klausners

Öffentliche Orte:

1. Jardin des Tuileries 2. Bäckerei 3. Jardin du Luxembourg mit Théâtre du Grand Guignol 4. Bois de Vincennes mit Château (von außen sowie Innenhof) 5. Platz vor der Sacré Coeur, Place du Tertre 6. Platz vor dem Centre Pompidou/Centre Pompidou 7. Schwimmbad 8. Café auf den Champs-Elysées/Kino (verwilderter Garten in der Filmszene)

La Tranche sur Mer

1. Ferienhaus, wo die Féghoulis wohnen 2. Polizeirevier

Öffentliche Orte:

1. Marktplatz 2. Café 3. Aussichtspunkt 4. Restaurant 5. Strand 6. La Rochelle sowie Schiffsrundfahrt

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Zugreise

1. Bahnhof von La Roche sur Yon 2. Laden im Bahnhof 3. Diverse Züge/Bahnhöfe (Nantes, Angers, Paris, Paris Métro)

Le Mans

1. Haus/Garten von Mémé Gertrude 2. Feld

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Wohnung der Féghoulis (bei David):

4-Zimmer-Wohnung. Salon, Arbeitszimmer des Vaters, Küche, Bad (mit Wanne), Schlafzimmer, Davids Zimmer.

Altbau im Montmartre-Quartier gelegen. D.h. es ist auch kein mondäner Altbau, sondern einer von der einfacheren, kleineren Sorte (vergleichbar Rue des Ecoles, Vème). In der Wohnung finden sich viele Möbel des ausgehenden 19. Jh. bzw. des Jugendstil. Es ist ein gutes Gleichgewicht zwischen dem dunklen Holz der Antiquitäten und den modernen Einrichtungsgegenständen. Viele Regale und Bücher. Amésien und Claudine sind trotz ihrer Sportlerkarrieren Intellektuelle, v.a. Amésien. Sein Interesse gilt insbesondere der Geschichte und Philosophie.

Haus der Arnavons (bei Agnès):

Arnavons wohnen in einem vornehmen Pariser Vorort oder einer nahegelegenen Stadt wie Versailles, Fontaineblau oder Saint-Germain en Laye.

Das Haus ist ein Einfamilienhaus. Vorzugsweise ein moderner Bau, weiß getüncht mit viel Glas. Die Räume sind freundlich und lichtdurchflutet. Moderne, helle Einrichtung. Klare Linien. Designermöbel. Im Erdgeschoss befindet sich der Salon, an den sich eine amerikanische großzügig geschnittene Küche anschließt. Die Räume gehen ineinander über. Man hat den Blick in einen großen Garten mit gepflegtem Rasen, Büschen und ein paar Beeten. Im EG gibt es noch ein Gästebad. Im oberen Stockwerk befinden sich die Schlafzimmer sowie noch ein Bad. Bücherregale können 4 vorhanden sein, sind aber nicht so augenfällig wie bei Féghoulis. Es gibt eine umfangreiche Schallplattensammlung als Steckenpferd von Rodolphe.

Wohnung von Marie und Wioletta Nowak:

Wioletta und Mimi wohnen im Erdgeschoss des Vorderhauses, wo die Féghoulis wohnen. Es ist eine kleine 2-Zimmer- Wohnung. Wiolettas Zimmer, Maries Zimmer, Küche und Bad. Einfach, aber gemütlich eingerichtet.

Wohnung von Klausners:

3-Zimmer-Wohnung mit großzügigem Salon, der auch als Esszimmer genutzt wird. Ähnlich wie bei Féghoulis mit Antiquitäten ausgestattet sowie Mobiliar aus den 50ern. Die Wände sind von oben bis unten mit Büchern bestückt. Ein Klavier. Viele Kerzenständer und weitere Schmuck-und Dekorationsgegenstände mit hebräischen Insignien.

Ferienhaus in La Tranche sur Mer:

Einstöckiges Haus in einer ruhigen Straße mit großem Garten ringsherum. Sofern wir ins Haus schauen: Darin befinden sich zwei Schlafzimmer, ein Salon mit Esstisch und Wandschrank, teilweise verglast, wo das gute Geschirr drin ist. Eine Küche, ein Bad. Das Haus gehört einem Rentnerehepaar, offensichtlich gut situiert, aber nicht verschwenderisch, denn die Einrichtung ist altersgemäß, schlicht, hübsch. Blümchentapete. Am Haus selber befindet sich ein Grillplatz, der überdacht ist. Im Garten sind Obstbäume und viel Wildwuchs.

Restaurant in La Tranche sur Mer:

Normales Restaurant mit Außen- und Innenbereich. Der Außenbereich ist überdacht. Alle Tische und Stühle sind sehr eng gestellt. Die Holztische sind mit Papierdeckchen und Besteck eingedeckt. In diesem Fall haben wir im Außenbereich gelbe Plastikstühle.

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Mémé Gertrudes Haus:

Ein Einfamilienhaus in einem Dorf bei Le Mans. Es ist das letzte im Dorf, dahinter erstrecken sich die Felder. Man hat einen weiten, unverbauten Blick. Sofern wir ins Haus schauen: hübsche Einrichtung, dem Alter von Mémé entsprechend, wie im Ferienhaus, aber etwas exquisiter. Blümchentapete. Der Garten ist gepflegt, aber nicht übermäßig gestylt, mit vielen Blumen, v.a. Rosensträuchern. Hinter dem Haus befindet sich ein Platz, der als Terrasse genutzt wird, mit einem Tisch, Stühlen, Hollywoodschaukel.

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Davids Sommer.

Paris. 5h30 morgens. Man sieht die Morgensonne über der Stadt, die Dächer funkeln. Es wird ein heißer Tag. Der Blick streift ein paar typische Pariser Sehenswürdigkeiten, fängt die Atmosphäre der erwachenden und pulsierenden Stadt ein. Métro 6, Brücke zwischen Tour Eiffel und Passy, über den Verkehr am Arc de Triomphe rüber zu Montmartre, der Blick geht in eine belebte Straße des Viertels/Musik – bei den letzten Bilder hört man den ersten Text von Claudine. Es ist der Tag der Abfahrt in die Ferien.

SAMSTAG, 2. AUGUST, PARIS. FRÜHER MORGEN/INNEN.

CLAUDINE: Aufstehen, ihr Schlafmützen! Frühstück ist fertig! Allez! Vite, vite! Wir haben Ferien! Wir fahren ans Meer! Raus aus der Stadt, raus aus dem Gestank, keine Métro, kein Boulot, nur das weite unendliche Meer, der Wind und wir. Atlantik, wir kommen! Ja, was ist denn hier los. Amésian, aufstehen. (Sie beugt sich zu ihm, zieht ihm die Bettdecke vom Kopf, gibt ihm einen Kuss.) Na komm schon, wir haben heute einen weiten Weg vor uns. Du musst lange fahren … und wir sind spät dran... (Lacht, verlässt das Schlafzimmer, geht in Davids Zimmer.) David, mon petit lapin, raus aus dem Bett. Es geht zum Strand. (Zieht die Vorhänge beiseite, öffnet das Fenster, die Sonne strahlt ins Zimmer, Blick auf die Straße, die schon stark belebt ist – vielleicht ein Detail wie Gemüsehändler in Aktion.) Komm, mein Schatz, die Riesenkraken warten schon auf dich. (Küsst David auf die Wange und kitzelt ihn.)

David macht Geräusche des Grausens und des Unwillens, er ist müde und die Vorstellung von Riesenkraken gefällt ihm nicht.

DAVID: Die gibt es doch gar nicht.

CLAUDINE: Natürlich gibt es die, aber sie zeigen sich nicht jedem. (Lacht, verlässt Davids Zimmer, ruft ins Schlafzimmer zu Amésian.) Hey, wenn wir uns nicht beeilen, dann sind alle anderen vor uns auf der Périphérique!

AMESIAN: Merde! Ich dachte, ich hab Urlaub. (Gräbt sich aus dem Bett, sucht die alten Unterhosen und ein T-Shirt, wankt in die Küche.) Kaffee fertig?

CLAUDINE: Ja, mein Schatz. (Gießt ihm eine Tasse ein.) Hier. 7

AMESIAN: Warum müssen wir denn um diese unmenschliche Zeit losfahren?

CLAUDINE: Das haben wir alles tausendmal diskutiert, mein Liebster, aber bitte, wenn du mit der ganzen Ile-de-France in Kolonne fahren willst... So lange ich dich an meiner Seite habe, ertrage ich auch das mit dem größten Heldenmut.

AMESIAN: Ich finde, dass uns Hauptstädtern ein extra Ferienbeginn zusteht, schließlich tragen wir das ganze Jahr über die volle repräsentative Verantwortung für die ganze Grande Nation. Da sollten wir wenigstens exklusiv und geruhsam in die Ferien fahren können.

CLAUDINE: Jetzt halte keine Volksreden, trink, zieh dich an – und waschen solltest du dich auch noch...

AMESIAN: Stinke ich?

CLAUDINE: Nach Morgenmuffel.

AMESIAN: Das stört dich doch sonst nie... (Umarmt sie und küsst sie, sie windet sich lachend aus der Umarmung.)

CLAUDINE: Abmarsch, unter die Dusche..

AMESIAN: Pure Zeitverschwendung. Schließlich müssen wir uns beeilen. Hast du gesagt. Wo ist unser Sohn?

CLAUDINE: David! Waschen, anziehen, frühstücken! Wo bleibst du denn?

DAVID: Merde! Nichts als Stress, und dabei reden alle von Ferien. Und dann noch der Blödsinn mit den Riesenkraken. doch kein Baby mehr... (schält sich aus dem Bett, tappt in Richtung Badezimmer) –

Im Hausflur.

CLAUDINE: Fertig? (Alle stehen parat samt Koffer, Taschen, Kühltasche, Paddel, Taucherbrillen und Schnorchel, Gummiboot, Badeinsel und großem Badetier. Claudine schaut sich ihre Männer an.) Lasst euch anschauen. Gut seht ihr aus. Meine Männer. Also dann, en route les filles! Amésien, hast du die Autopapiere?

AMESIAN: Das hast du mich schon mindestens zehnmal gefragt...

CLAUDINE: Aber nie eine Antwort bekommen. (schließt die Tür ab, rüttelt daran). 8

AMESIAN: Claude, du hast abgeschlossen.

CLAUDINE: Ich bin mir nicht sicher, ob ich den Herd richtig ausgemacht hab.

AMESIAN: Hast du.

CLAUDINE: Und die Balkontür - ? Ich schau lieber nochmal nach. Wartet nicht auf mich. Ihr könnt ja inzwischen die Sachen runterbringen. (Claudine verschwindet in der Wohnung, Amésian und David verstauen ächzend das Gepäck in dem kleinen Fahrstuhl. Man sieht David zwischen den Taschen und dem Gummizeug.)

AMESIAN: Ich lauf dann wohl mal.

Amésian schließt von außen die Tür, man sieht ihn die Rundtreppe runterlaufen, dabei sollte sich über das Bild erschließen, dass wir es mit mindestens 4 Stockwerken und einer engen Treppe zu tun haben, die sich außen um den Fahrstuhl schlingt. Amésian kommt gleichzeitig mit dem Fahrstuhl unten an, öffnet von außen die Tür, die Gummitiere fallen heraus. Amésian und David laden den Fahrstuhl aus. Amésian nimmt jede Menge an Gepäck und schleppt es zum Auto. David sammelt grad sein Spielzeug ein, als sich nebenan vorsichtig eine Tür öffnet und ein kleines Mädchen den Kopf rausschiebt.

MIMI: Fährst du weg?

DAVID: Ja, ans Meer.

MIMI: Ans Meer. Ich war noch nie am Meer. Ist es schön dort?

DAVID: Ja, ist ganz okay. (Sammelt weiter seine Sachen zusammen.)

MIMI: Ich möchte auch ans Meer. Bringst du mir was mit?

Von draußen ruft Amésian.

AMESIAN: David, wo bleibst du denn?

DAVID: (zu Mimi) Ich hab keine Zeit mehr, mit dir zu reden. Ich muss gehen. Tschüß!

MIMI: Auf Wiedersehen, David, und bring mir was mit vom Meer! (Schaut David nach.)

Claudine kommt die Treppe runtergestürzt, packt im Gehen noch einige Taschen. 9

MIMI: Bonjour, Madame.

CLAUDINE: Bonjour, Mimi. Wie geht’s dir und deiner Mutter?

MIMI: Gut, Madame. Danke der Nachfrage.

CLAUDINE: Das freut mich. Nun muss ich aber. Mach's gut Mimi und sag deiner Mutter einen Gruß. (Läuft weiter nach draußen.)

AUSSEN.

Unter lautem Hallo wird alles ins Auto gepackt, das zum Bersten voll ist. Hinter einem Fenster des Hauses sieht man Mimi winken. Man steigt ein, und nebenbei wird folgender Dialog geführt.

CLAUDINE: Schau, David, das steht Mimi und winkt dir zu. Wink ihr doch zurück.

DAVID: Ne.

CLAUDINE: Sie ist doch sehr nett.

DAVID: Ich kann sie nicht leiden.

CLAUDINE: Was!? Warum? War sie mal unfreundlich zu dir?

DAVID: Quatsch. Aber sie ist voll eklig.

CLAUDINE: Eklig?

DAVID: Wenn sie redet, dann sieht man immer die Essensreste in ihrer Zahnspange hängen. Das ist voll eklig. Und dann die dummen Zöpfe…

Der Kleinwagen fährt durch Paris.

DAVID: (erschreckter Ausruf) Ich hab Hasi vergessen!

Amésian und Claudine sind wie erstarrt.

DAVID: Wir müssen Hasi holen!

AMESIAN: (vorsichtig) Wir sind schon durch halb Paris durch…

DAVID: Ich brauch meinen Hasi! Unbedingt! 10

AMESIAN: (energisch, im Gesicht ist die „Verzweiflung“ zu sehen) Jetzt sei nicht so kindisch, ich drehe doch nicht wegen eines Stofftieres um. Was das für Zeit kostet. Wir kaufen dir, wenn wir angekommen sind, ein anderes.

DAVID: (traurig) Aber ohne Hasi kann ich doch keine Ferien machen …

Amésian und Claudine wechseln einen Blick. Unkonventionelles Wendemanöver. Wir sehen in einer Art Zeitraffer die Fahrt nach Hause, Amésian läuft die Treppen hinauf, weil der Fahrstuhl nicht kommt, schmeißt in Davids Zimmer die Bettdecke und Kissen rum bis ihm Hasi in die Hände fällt, Amésian rennt aus der Wohnung raus, schließt ab, rüttelt an der Tür wie Claudine vorher, rennt die Treppen runter, ins Auto, hinter dem Auto schon eine Riesenschlange anderer hupender Autos, die Amésian noch beschwichtigt (die Straßen in Paris sind schmal).

Die Fahrt geht von Neuem los, in Richtung Autobahn. Alles im Zeitraffer. Der Wagen gerät direkt bei der Auffahrt in den ersten Stau.

AMESIAN: Acht Millionen Pariser vor uns.

CLAUDINE: Und noch zwanzig Stunden bis zum Meer.

LA TRANCHE SUR MER. FRÜHER ABEND/AUSSEN.

Ankunft am Ferienort. Im Auto.

NAVIGATION: Sie haben Ihr Ziel erreicht. Ihr Ziel ist in der Nähe.

AMESIAN: Et voilà, Da ist es. La Tranche sur Mer, 43, Rue Charles de Gaulle. Wir sind da.

Man sieht ein hübsches älteres kleines Haus in einem nicht übermäßig gepflegten Garten mit einigen Obstbäumen und Sträuchern, der Holz-Zaun ist leicht lädiert. Davor ein roter Hydrant.

CLAUDINE: Gut gemacht, mon capitain. Sieht hübsch aus. Komm David, wir schauen uns gleich alles an.

Alle steigen aus und schauen sich um.

CLAUDINE: Wo, hast du gesagt, hat die Vermieterin den Schlüssel hinterlegt? 11

AMESIAN: Sie hat was von einem Blumentopf neben der Haustür gesagt.

CLAUDINE: (ironisch) Raffiniert.

AMESIAN: Hier in der Gegend wird wohl nicht geklaut...

David rennt auf die Ziegen zu, die auf der Wiese an der anderen Straßenseite weiden.

DAVID: Maman, ich will die Ziegen füttern.

CLAUDINE: Nach dem Abendessen, Chérie.

DAVID: Nein jetzt, die sehen ganz verhungert aus.

CLAUDINE: Nach dem Abendessen.

SONNTAG, 3. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 1. FERIENTAG: Ortsbesichtigung. VORMITTAG/AUSSEN.

Ein schöner Tag, ca. 10h. Amésian steht vor der Haustür und streckt sich. Claudine kommt aus dem Haus, umarmt ihn von hinten. Küsst ihn auf die Schulter. Sie umarmen sich und stehen einen Moment lang glücklich in der vormittäglichen Sonne, atmen durch.

DAVID: Kann ich jetzt die Ziegen füttern?

AMESIAN: Nimm die Baguette von gestern und den Rest vom Salat.

David verschwindet in der Küche und kommt kurz darauf mit dem Futter zurück und verschwindet in Richtung Ziegen.

MITTAG.

Alle drei laufen durch den Ort.

CLAUDINE: Hier hat sich kaum etwas verändert. Nur mehr Leute sind hier.

AMESIAN: Ich könnte dir jetzt etwas über den Anstieg der Geburtenrate erzählen und davon, dass sich deshalb die Zahl der Touristen am Meer jedes Jahr um 0,2% erhöht...

CLAUDINE: Das ist ja nicht viel und wird das Phänomen einer gefühlten und tatsächlichen Überfüllung wohl kaum erschöpfend erklären können... 12

AMESIAN: La Tranche sur Mer: 2740 Einwohner, bis zu 100.000 Touristen jährlich, wie gesagt, mit steigender Tendenz. Und da ganz Frankreich zur selben Zeit Sommerferien macht und alle ans Meer fahren...

CLAUDINE: Kaffee. Ich brauche jetzt einen Kaffee.

AMESIAN: Wieso, Du hast doch grad welchen getrunken.

CLAUDINE: Dann trinke ich jetzt eben noch einen.

Man sitzt und trinkt Kaffee. Le petit train biegt um die Ecke und fährt über den Platz.

DAVID: Da will ich auch mitfahren. Mama, Papa, können wir mit dem Bähnchen fahren?

Man sieht die drei in dem gefüllten Touristenzug, der quer durch den Ort fährt bis hin zum Aussichtspunkt. Dabei fährt der Zug durch eine Straße, in der kleine Häuser stehen (ebenfalls Ferienhäuser, von Leuten, die jedes Jahr kommen, denen die Häuser gehören, keine Neubauten). Der Zugführer bimmelt als er in die Straße einfährt. Er grüßt die Leute, die in ihren Gärten vor ihren Häusern sitzen, die Leute grüßen zurück. Kinder kommen an den Gartenzaun gerannt, ebenfalls um den Fahrer und den Zug und die Touristen zu begrüßen, ihnen zuzuwinken, ein Junge schwingt dabei eine Trikolore, sie laufen lachend, rufend, singend, noch ein paar Meter mit dem Zug mit.

Der Zug kommt am Aussichtspunkt von La Tranche sur Mer an.

Die Féghoulis steigen aus und schauen sich um. Es ist der erste Blick aufs Meer. Am Horizont sieht man La Rochelle und die davor liegende Ile de Ré.

CLAUDINE: Schau, David, da fahren wir auch noch hin. La Rochelle ist wunderschön, man muss es einfach gesehen haben. Und dann machen wir noch eine Fahrt rund um die Ile de Ré.

AMESIAN: La Rochelle war einer der wichtigsten Kriegshäfen im Zweiten Weltkrieg. Allerdings in deutscher Hand. Heute ist er einer der bedeutenden-

CLAUDINE und DAVID gleichzeitig: Oh nein, bitte nicht!

CLAUDINE: Heute Abend, ja, da kannst du mich wieder über alle wichtigen Kriegsschauplätze und -manöver aufklären...

AMESIAN: Sehr gern, ma chérie... 13

MONTAG, 4. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 2. FERIENTAG: Strand. TAG/AUSSEN.

Ein typischer Nachmittag am Strand. Spielende Kinder im Sand. Leute, die Strandtennis, Volleyball oder Karten spielen. Man sieht sie unter kleinen Sonnenschirmen auf Decken, Handtüchern, Luftmatratzen liegen. Andere haben ihre eigenen kleinen, bunten Strandzelte aufgebaut, wieder andere haben sich in den zu mietenden weißen „Zeltstädten“ eingerichtet und sogar ihre Campingmöbel mitgebracht.

Kinder finden einen verendeten Fisch, rufen, andere Kinder und Erwachsene kommen hinzu, um den verendeten Fisch zu sehen. Ein paar Erwachsene machen sich daran, den Fisch mit Stöcken aufzugabeln und ins Meer zu bringen. Pärchen. Leute, die sich mit Sonnencreme einschmieren. - {Flut, die näher rückt und Schlafende überrascht, die Leute ziehen sich vom Wasser zurück.} Kinder bespritzen Eltern mit ihren Wasserpistolen.

Zwischendrin sieht man immer wieder die Féghoulis: gemeinsam ins Wasser gehen, sich sonnen, dösen, essen, wieder dösen, David baut Sandburgen, liest einen Comic, döst, während Amésian und Claudine lesen, reden, sich sonnen, schmusen. Zwischendurch isst unsere Familie gemeinsam auf der Decke.

Ebbe.

DAVID: Mir ist langweilig. Es ist so öde!

AMESIAN: Geh doch mal ins Wasser -

CLAUDINE: Nein, nicht allein!

AMESIAN: Warum denn nicht?

CLAUDINE: Die Strömung.

AMESIAN: (Doch nicht bei Ebbe.) Ach was, der Junge kennt sich aus.

CLAUDINE: Du kennst dich aus.

AMESIAN: Oder spiele mit den anderen Kindern, davon gibt es hier ja wahrhaftig genug.

DAVID: Aber ich kenne hier keinen.

AMESIAN: Das geht ganz schnell. Du gehst einfach zu einem Jungen deiner Wahl, sagst zu ihm 'Bonjour, ich bin David aus Paris', und schon läuft die Sache. 14

David guckt genervt.

DAVID: Spielt jemand von euch mit mir Fußball?

AMESIAN: Später, David.

David blättert in seinem Comic. Amésian und Claudine lesen.

-Strandbilder -

DAVID: (zu Claudine) Kannst du jetzt mit mir Fußball spielen?

CLAUDINE: Später, mein Schatz. (zu Amésian) Dieses Buch ist so ungeheuer gut. (zu David) Ich bin hier grad an so einer spannenden Stelle... Später. Okay?

DAVID: Ihr immer mit euren 'guten Büchern'.

AMESIAN: Na, du kommst da auch noch auf den Geschmack.

David dreht sich eingeschnappt um und döst. Claudine liest, Amésian cremt ihr den Rücken ein und küsst sie auf den Nacken. Sie tuscheln zärtlich. David dreht sich kurz um und bekommt die Szenerie mit.

- Strandbilder -

DAVID: Kann jetzt endlich jemand mit mir Fußball spielen?!

Amésian und Claudine dösen, grummeln nur vor sich hin, geben keine Antwort.

DAVID: Jetzt ist doch später! Also spielt jetzt jemand mit mir? Ihr habt's versprochen...

AMESIAN: Kannst du nicht ein bisschen Ruhe geben und dich mal allein beschäftigen?

DAVID: Ah, ihr seid so was von - . Dann gehe ich jetzt eben ins Wasser.

CLAUDINE: Halt, warte! Ich komme mit.

Man sieht beide ins Wasser laufen und rumtoben, beide kommen wieder raus, Amésian steht schon mit den Badetüchern da und nimmt beide in Empfang.

CLAUDINE: Oh war das schön.

DAVID: Und wer spielt jetzt Fußball mit mir? 15

CLAUDINE: Der Papa - Komm, sei nicht so faul, du hast lange genug rumgelegen.

AMESIAN: Zu Befehl, mon général. Okay, Champion. Ich bin Boateng und du?

DAVID: Benzem‘, Frankreich natürlich.

AMESIAN: Benzem‘, oh je, ich zittere schon!

DAVID: Ja, und diesmal werden sie fertig gemacht, die Deutschen, ich verhaue sie dermaßen, dass sie in keinen Schlappen mehr passen! Allez, les Bleus!

Amésian guckt fragend zu Claudine, die lachend die Schultern hochzieht.

DIENSTAG, 5. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 3. FERIENTAG: Ausflug nach La Rochelle. TAG/AUSSEN.

Die Féghoulis sitzen im Auto, sie singen: Ne pleure pas Jeannette...

DAVID: Maman, ich möchte jetzt das Konzert von dem Teich hören!

AMESIAN: Was meint er denn damit?

CLAUDINE: Bach, mein Liebling, Bach.

DAVID: Na sag' ich doch, irgendwas mit Wasser.

CLAUDINE: Als ich ihn letzte Woche zum Fußball gefahren habe, da hatte ich Bachs Violinkonzert in E-Dur an. Es muss ihm gefallen haben...

AMESIAN: À propos - wie sieht es eigentlich mit seinem Schwimmtraining aus?

CLAUDINE: Lass uns später drüber sprechen, ja?

AMESIAN: (unwirsch) Hm.

Sie hören ein bisschen Bach und fahren in La Rochelle ein. Dann sind sie im Zentrum und am Hafen.

AMESIAN: Das ist der alte Kriegshafen.... La Rochelle.... Die Stadt und die Hafenanlagen blieben bis zur bedingungslosen Kapitulation der Deutschen am 8. Mai 1945 in deutscher Hand. Im Rahmen eines Stillhalteabkommens 16 zwischen dem deutschen Festungskommandanten und dem französischen Unterhändler wurde vereinbart, dass die Deutschen auf eine Zerstörung der Stadt- und Hafenanlagen verzichten, sofern die alliierten Truppen die in La Rochelle eingekesselten Deutschen nicht angreifen würden. Die sogenannte Konvention von La Rochelle führte also letztlich dazu, dass Stadt- und Hafenanlagen unversehrt übergeben wurden, während andere Atlantikstädte noch kurz vor Kriegsende völlig zerstört worden sind.

CLAUDINE: Du erinnerst mich grad total an meinen Vater.

AMESIAN: Wieso das?

CLAUDINE: Er hat uns auch immer Vorträge gehalten. Wenn wir irgendwo hinkamen, mussten wir uns erst mal alle wichtigen und unwichtigen Daten und Fakten zum Ort und zu seiner Geschichte anhören, ehe wir uns umschauen konnten. Da konnte er endlos referieren und wollte dabei auch nicht unterbrochen werden. Wir mussten nur zwischendurch immer „ja“ sagen oder mit dem Kopf nicken zum Zeichen, dass wir auch gut zuhören und alles verstanden haben. … (In verändertem Tonfall, den Referatsstil von Amésian kopierend.) Auch wenn heute in La Rochelle die internationale Schifffahrt kaum noch eine Rolle spielt, so ist der Hafen jedoch immer noch einer der bedeutenden Fischereihäfen des Landes.

AMESIAN: Sehr gut, ich bin stolz auf dich. Und auf deinen Vater. Aber unser Sohn sollte eben auch etwas Bildung mitbekommen...

CLAUDINE: Und dort, meine Damen und Herren, erhebt sich majestätisch die Statue des Admirales Duperre, 1775 in La Rochelle geboren und Kommandant der französischen Flotte bei der Einnahme von Algier im Jahr 1830…

AMESIAN: (mit gespielter Zerknirschung) Ein dunkles Kapitel unserer Geschichte…

Die drei sitzen auf einem kleinen Rundfahrtschiff, aus dem Lautsprecher kommen ein paar Infos zur Ile de Ré.

CLAUDINE: Die Brücke gab es damals noch nicht als ich mit meinen Eltern hier war. Da musste man noch mit dem Schiff übersetzen. Da war kein Mensch auf der Insel – bis auf die Einheimischen natürlich… Meine Mutter war so fasziniert, am liebsten wäre sie hiergeblieben. Sie hat sich sogar erkundigt, was ein Grundstück und ein Haus auf der Insel kosten würden. Es war nicht einmal teuer... David, da schau, die Salzfelder. Da kommt unser Salz her. 17

Die Festung Fort Boyard taucht auf.

DAVID: Eine Burg! Da möchte ich hingehen. Können wir? Gleich jetzt?

CLAUDINE: Na dann spring ins Wasser und schwimm rüber.

DAVID: Mann, ich meine, nach der Schifffahrt.

AMESIAN: Ich glaube kaum, dass das geht. Schau genau hin, David. Siehst du da irgendwelche Leute?

David schaut und schüttelt den Kopf.

AMESIAN: Da kann man nicht einfach hingehen. Das ist das berühmte Fort Boyard, früher diente es der Verteidigung der Küste gegen die englischen Schiffe, aber heute ist es ein Hochsicherheitsgefängnis. (Er schaut zu Claudine, die ein fragendes Gesicht macht, und grinst schelmisch.) Da sind mehrere hundert Diebe, Bankräuber, Betrüger und vor allem Mörder eingesperrt. Sie leben dort alle in ihren Einzelzellen, sind angekettet, haben kein Licht und sehen keinen Menschen. Nur einmal am Tag kommt der Wärter und bringt ihnen Wasser und Brot. Und nur einmal alle zwei Monate dürfen sie, jeder einzeln natürlich, für eine halbe Stunde in den Hof gehen. Die meisten von ihnen wollen dann aber ihre Zelle gar nicht mehr verlassen, weil sie das helle Licht nicht mehr gewohnt sind, und ihre Augen dann zu brennen und zu tränen beginnen. Wenn sich einer der Gefangenen den Anordnungen der Wächter widersetzt, dann wird er in die Eiserne Jungfrau gesperrt und muss dann mindestens zwei Tage darinnen bleiben. Aber das überlebt kaum jemand.

DAVID: Was ist eine Eiserne Jungfrau?

AMESIAN: Das ist ein grausames Folterinstrument. Erfunden hat es Nabis, der König von Sparta, ein schrecklicher Tyrann. Also die Eiserne Jungfrau ist ein großer Kasten aus Holz oder Metall, meist in Frauengestalt, der im Inneren überall mit eisernen Nägeln und Dornen beschlagen ist, dann stellt man den zu bestrafenden Delinquenten hinein und-

CLAUDINE: Es reicht. Der Junge glaubt das alles noch.

AMESIAN: Mein Sohn, ich sage dir, sei immer brav und folgsam, mach keine Dummheiten, sei lieb zu deinen Eltern, sonst – man kann nie wissen – ein Aufenthalt in Fort Boyard ist unangenehm und Flucht ist unmöglich.

Am frühen Abend. Sie steigen ins Auto, um nach La Tranche zurückzufahren. 18

CLAUDINE: Wo essen wir?

DAVID: MacDo!

AMESIAN: Ich würde sagen, nochmal im Restaurant mit den gelben Stühlen.

DAVID: Nein, MacDo ist viel besser.

CLAUDINE: MacDo ist so was von ungesund. Das gelbe Restaurant ist eine gute Idee. Da hat's dir doch auch gefallen, du kannst wieder deine Chicken-Nuggets essen. Und wir haben den Blick aufs Meer.

DAVID: Ich hasse Chicken-Nuggets.

AMESIAN: Jetzt kommt aber, sonst bekommen wir keinen Platz mehr.

CLAUDINE: Recht hast du.

ABEND.

Sie fahren in La Tranche sur Mer ein, kommen am McDonalds vorbei. Eine Riesenschlange steht davor.

AMESIAN: Da geht sie dahin, die gepriesene französische Esskultur.

DAVID: Da geht er dahin, mein Burger.

Sie kommen an den Platz mit den Restaurants.

AMESIAN: Ich suche einen Parkplatz, ihr lauft los und besetzt uns einen Tisch.

CLAUDINE: Komm, schnell, David, da hinten kommt eine ganze Horde hungriger Franzosen. Vite, vite! Die wissen anscheinend auch, dass die Plätze knapp sind…

Sie steigen geschwind aus. Claudine greift Davids Hand und stürzt los.

CLAUDINE: Mist! Ich sehe nur noch einen freien Tisch.

Sie kommen zeitgleich mit einer anderen Familie am Restaurant an, Claudine drängelt sich vorbei, stößt dabei etwas unsanft die Frau und das Mädchen zur Seite. 19

CLAUDINE: Pardon, ich muss hier mal eben durch. (Lässt sich in einen der gelben Stühle fallen.)

David steht abseits. Die ausgebremste Familie (Vater, Mutter, kleines Mädchen) schaut pikiert und enttäuscht.

Die MUTTER: Komm, Karl-Eberhard! Man will uns hier nicht. Du immer mit deiner Affen-Liebe für diese ungehobelten Franzosen. Das war mein letzter Urlaub in diesem barbarischen Land.

Das MÄDCHEN: Wirklich! Die spinnen, die Franzosen. (Macht in Richtung David eine Geste, die eben das besagt.)

CLAUDINE: Geschafft. Der Abend ist gerettet. Komm her, David. Ach herrje, der Tisch sieht ja aus. Hier muss erstmal eine Putzkolonne ran. - Monsieur! Monsieur, würden Sie bitte mal herkommen. Bitte räumen Sie doch eben mal den Müll weg und machen Sie den Tisch sauber. So kann man ja gar nicht sitzen. Das ist ja widerlich. Und dann hätte ich gern eine Flasche Bordeaux und eine Flasche Wasser, eine Orangina und wenn Sie eben noch so freundlich wären, uns frische Gläser zu bringen...

KELLNER: (eisig) Selbstverständlich, Madame.

DAVID: Mama!

CLAUDINE: Was ist denn?

DAVID: Du hast das Mädchen beinahe umgerannt. Du bist voll peinlich.

Amésian kommt hinzu, hört Davids Satz.

AMESIAN: Sohn, sprich nicht so respektlos mit deiner Mutter. Denke nur an Fort Boyard.

Das Essen wird serviert, Amésian und Claudine bekommen Muscheln mit Pommes Frites, David Chicken-Nuggets ebenfalls mit Pommes. Claudine und Amésian unterhalten sich angeregt über die Touristen, das Meer, das Wetter, was die Philosophie dazu sagt...

CLAUDINE: Ich frag mich, warum so viele Leute immer unbedingt ans Meer fahren müssen. Frankreich hat so viele schöne andere Orte-

AMESIAN: Wenn’s nach mir ginge, würden alle anderen ins Zentralmassiv fahren. 20

CLAUDINE: (lacht) In die Höhlen von Roquefort… Aber nein, es muss das Meer sein. Es scheint, dass die Menschen im Allgemeinen sich sehr zum Meer hingezogen fühlen.

AMESIAN: „Das Meer ist die anschauliche Gegenwart des Unendlichen. Unendlich die Wellen. Immer ist alles in Bewegung, nirgends das Feste und das Ganze in der doch fühlbaren unendlichen Ordnung. Das Meer zu sehen, ist das Herrlichste, das es in der Natur gibt. Das Geborgensein ist uns unentbehrlich und wohltuend. Aber es genügt uns nicht. Es gibt dieses andere. Das Meer ist seine leibhaftige Gegenwart. Es befreit im Hinausgehen über die Geborgenheit, bringt dorthin, wo zwar alle Festigkeit aufhört, wir aber nicht ins Bodenlose versinken. Wir vertrauen uns dem unendlichen Geheimnis an, dem Unabsehbaren, Chaos und Ordnung.“

CLAUDINE: Das stammt aber nicht von dir.

AMESIAN: Karl Jaspers.

CLAUDINE: Aha.

AMESIAN: Deutscher Philosoph. Ist am Meer aufgewachsen.

CLAUDINE: Und das kannst du auswendig?

AMESIAN: Nicht nur das.

Amésian hält ein Glas Wasser in der Hand.

AMESIAN: Die lebensspendende Flüssigkeit. Farblos, geruchlos, oft geschmacklos. Wenn Wasser zu trinken eine Sünde wäre, dann würden wir es wohl ganz köstlich finden. (Trinkt.) Und vor uns läge dann der längste Longdrink der Welt.

CLAUDINE: Der längste Longdrink, der dich aber ganz zackig umbringen würde.

AMESIAN: Jetzt sei nicht so furchtbar realistisch.

David kaut mürrisch an seinen Nuggets. Amésian legt ihm eine Muschel auf den Teller.

AMESIAN: Hier, mein Sohn, probier' mal, eine Köstlichkeit und ganz frisch aus dem Meer. Am Meer muss man immer Meerestiere essen, woanders kann man sie nicht essen, da sie dann nicht frisch sind, aber am Meer hast du sozusagen die Frischegarantie... 21

DAVID: Sieht irgendwie komisch aus. Ich mag das nicht. (Will die Muschel seinem Vater zurückgeben.)

AMESIAN: Iss schon. Als ordentlicher Franzose muss man Muscheln essen, und je eher du damit anfängst, desto besser ist es.

CLAUDINE: Ach. Wer sagt das denn?

AMESIAN: Ich.

CLAUDINE: Ah ja.

AMESIAN: Na los, mein Sohn, jetzt iss schon die Muschel.

DAVID: Ne, die sieht so eklig aus. Ich will das nicht essen.

AMESIAN: Sohn, du isst das jetzt. Du musst immer Neues ausprobieren, damit du deinen Horizont erweiterst.

David kaut auf der Muschel rum und spuckt sie angewidert aus.

DAVID: Das ist eklig.

AMESIAN: David! Benimm dich! (Schmeißt ihm eine neue Muschel auf den Teller.) So, und die isst du jetzt - ohne Widerrede!

CLAUDINE: Amésian, lass.

AMESIAN: Misch dich bitte nicht ein! Schön essen, mein Sohn.

David schaut die Muschel angewidert an und blickt hilfesuchend zu Claudine, gespannte Pause.

AMESIAN: Er soll sich nicht so anstellen. Schließlich ist das eine Muschel und kein - Lungenhaschée.

David würgt die Muschel runter.

CLAUDINE: Es schmeckt ihm halt nicht. Also mir hättest du in seinem Alter so etwas auch nicht vorsetzen dürfen...

DAVID: (tonlos) Ich glaube, ich muss mich übergeben. (Bricht neben dem Tisch alles raus.)

AMESIAN: David! Was machst du denn da?! 22

CLAUDINE: Das siehst du doch! (Steht auf, geht zu David hin, um ihm zu helfen.)

David richtet sich mit tränenden Augen wieder auf.

AMESIAN: Ich muss mich schämen für dich. Und so jemand will ein Mann sein.

David ist traurig, schiebt seinen Teller weit von sich.

DAVID: Ich bin noch ein Kind.

CLAUDINE: Ja, mein Schatz, das bist du. Zu meinem Glück noch recht lange.

Inzwischen ist schon eine Kellnerin mit Putzlappen herbeigeeilt.

AMESIAN: (will die Kellnerin aufhalten) Entschuldigen Sie bitte, Madame, ich mach‘ das schon.

Kellnerin: Nein, nein, Monsieur, lassen Sie mal. Das ist nicht weiter schlimm.

DAVID: (zu Claudine) Kann ich eine Cola haben?

CLAUDINE: Ja, bestell dir eine. - Sagt, was wollen wir morgen unternehmen?

DAVID: (zur Kellnerin) Es tut mir leid, Madame.

KELLNERIN: Es ist alles okay. (Lächelt.) Und die Cola bring ich dir gleich.

AMESIAN: Ich würde den Tag am Strand verbringen.

DAVID: Das ist doch langweilig, den ganzen Tag am Strand rumzuhocken…

AMESIAN: Wieso? Du kannst Sandburgen bauen, baden gehen, dich sonnen, lesen…

DAVID: Das ist nur für euch spannend. Ich will ins Aquarium.

AMESIAN: Ins Aquarium. Und wo ist das?

CLAUDINE: In La Rochelle. Wir haben vorhin die Werbung dafür gesehen… 23

DAVID: Über 50tausend Tierarten aus aller Welt haben sie dort!

AMESIAN: Geniale Idee, gleich morgen wieder nach La Rochelle zu fahren.

CLAUDINE: Es gibt auch noch ein kleineres im Nachbarort. In St. Hilaire.

AMESIAN: Eigentlich wollte ich morgen das Auto mal stehen lassen...Mir sitzen noch die Kilometer von Paris hierher in den Knochen.

CLAUDINE: (mit liebevoller Ironie) Ach, das tut mir aber leid. Mein armer Mann! Die knapp fünfhundert Kilometer haben ihn total geschafft.

AMESIAN: Schon gut! Schon gut! (lächelnd) Ich hab einfach keine Lust, mich morgen wieder in die Karre zu quetschen, okay?

DAVID: Och, nein, nicht schon wieder einen ganzen Tag am Strand. Das ist so öde!

AMESIAN: David! Sei froh, dass du Ferien am Meer machen kannst, es gibt eine Menge Kinder, die das nicht können! Wir gehen morgen an den Strand. Ende der Diskussion.

DAVID: Dann fragt doch nicht, was wir machen wollen, wenn ihr es sowieso schon entschieden habt. Ihr wollt ja sowieso nie das machen, wozu ich Lust habe. Entweder muss ich mit euch irgendwelche Städte und Museen und sonstiges altes modriges Zeug angucken, was mich überhaupt nicht interessiert, oder ich muss mit euch den ganzen Tag am Strand rumliegen. Ihr merkt nie wie langweilig das für mich ist. Das ist auch mein Urlaub, da kann ich auch mal sagen, was ich machen möchte! Ihr spielt ja auch nie mit mir. Entweder ihr lest eure guten Bücher oder ihr knutscht rum. Das ist sowieso nur peinlich! Da könnt ihr doch gleich ohne mich Ferien machen! Das wäre doch viel besser…

AMESIAN: (haut mit der Faust auf den Tisch) Es reicht jetzt!

Die Wasserkaraffe stürzt um und ergießt sich über Davids Shirt und Hose, alle sind zunächst wie paralysiert, Claudine versucht David mit einer Serviette abzutrocknen, David ist wütend und weint, schiebt ihre Hände weg

DAVID: Lass mich. 24

AMESIAN: (streng) Zieh das Hemd aus. Es ist pitschnass, so erkältest du dich.

DAVID: Nein!

AMESIAN: Ich sage, du ziehst das Hemd jetzt aus!

DAVID: Ich will aber nicht!

AMESIAN: Du machst gefälligst, was ich sage, sofort!

DAVID: (wird noch wütender, weint vor Wut, springt auf) Ich brauche euch eh nicht! Haut doch ab! Verschwindet doch einfach! (Läuft davon.)

CLAUDINE: (springt auf, will hinterher) David, lauf nicht weg!

AMESIAN: (hält sie auf) Lass ihn, in ein paar Minuten ist er wieder hier.

CLAUDINE: War das nötig?

AMESIAN: (eisig) Was meinst du?

CLAUDINE: Er hat doch Recht. Wir sollten uns wirklich mehr mit ihm befassen...

AMESIAN: Jetzt verteidigst du sein schlechtes Benehmen auch noch?

CLAUDINE: Ich-

AMESIAN: Ich habe den Eindruck, dass er sich in der letzten Zeit in eine falsche Richtung entwickelt.

CLAUDINE: Er wird älter. Und er hat inzwischen seinen ganz eigenen Kopf. Darin ist er dir sehr ähnlich. Ich meine, was seinen Dickschädel angeht.

AMESIAN: Ach was, ihm fehlt einfach die Führung. Ich bin zu selten zu Hause. Du verwöhnst ihn zu sehr und lässt ihm zu viel durchgehen. Wenn aus ihm ein ordentlicher Mann werden soll und er es im Leben mal zu etwas bringen will, dann braucht er jetzt eine starke Hand und klare Richtlinien und keine-

CLAUDINE: Ich weiß ja nicht, wie das bei euch in Algerien ist, mag sein, dass man dort seine Kinder 'Richtlinien' unterwirft, aber hier sind wir in Frankreich, und hier erziehen wir unsere Kinder mit Liebe und Zuwendung. Und wenn du meinst, dass du mehr zu Hause sein musst, dann sei 25 mehr zu Hause. Das würde auch für mich Vieles einfacher machen. Aber kritisiere nicht meine Art der Erziehung. Ich mache meinen Job nämlich ordentlich. Und jetzt gehe ich unseren Sohn suchen. (Steht gereizt auf, geht in die Richtung, in die David verschwunden ist.)

SAMSTAG, 9. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 7. FERIENTAG: Strand. NACHMITTAG/AUSSEN.

Nachmittag, ca. 17h, Strand. Claudine und Amésian liegen umschlungen auf der Decke. David ist mit dem Bau einer Sandburg befasst.

Claudines Handy klingelt. Sie kramt es aus ihrer Tasche.

AMESIAN: Geh da jetzt nicht ran.

CLAUDINE: Doch ich muss. Das ist Agnès. Vielleicht ist was mit Mutter…

Telefonat Claudine-Agnès/INNEN.

Mögliche Montage der beiden Telefonierenden/Bildteilung, wobei sich Agnès in ihrem Salon, dann in ihrem Schlafzimmer aufhält.

CLAUDINE: Bonjour Agnès.

AGNES: Wieso hast du Maman noch nicht angerufen? Hast du Papas Todestag etwa schon wieder vergessen?

CLAUDINE: Nein, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, ich...

AGNES: Du hast es also vergessen. Es ist immer dasselbe mit dir. Nie denkst du an deine Familie.

CLAUDINE: Agnès, bitte...

AGNES: Du weißt doch wie wichtig das für Maman ist, dass wir sie zu Papas Todestag anrufen. Sie ist oft einsam und leidet immer noch sehr unter dem Verlust.

CLAUDINE: Ich weiß, ich hätte sie auch gleich-

AGNES: Gar nichts weißt du, sonst müsste ich dich nicht jedes Jahr wieder daran erinnern. Wann wirst du endlich erwachsen und hörst auf, immer nur an dich zu denken. 26

CLAUDINE: Ich bin erwachsen und außerdem-

Aus dem Hintergrund:

RODOLPHE: Agnès!

AGNES: Oh, warte mal einen Augenblick, Rodolphe ruft mich. Warte kurz. Nicht auflegen.

Focus auf Agnès und Rodolphe mit Zwischenschnitt auf Claudine, die alles mit anhört und reagiert.

Agnès springt mit dem Telefon in der Hand auf und geht zu Rodolphe ins Schlafzimmer. Rodolphe steht vor dem Schlafzimmerschrank, sein Hemd ist halb zugeknöpft.

AGNES: Ja?

RODOLPHE: Schau dir mal das Hemd an!

AGNES: Ja? Was ist damit?

RODOLPHE: Schau genau hin!

AGNES: Es ist weiß. Sonst kann ich nichts sehen.

RODOLPHE: Dachte ich mir. Hier fehlt ein Knopf! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du meine Hemden kontrollieren sollst, bevor du sie in den Schrank legst. Wenn ich ein Hemd aus dem Schrank nehme, muss es einwandfrei sein. (Zieht das Hemd aus, zerrt ein anderes vom Stapel) Dann wollen wir doch mal sehen, ob hier alles korrekt ist. (Untersucht demonstrativ das Hemd.)

AGNES: Ich hab gestern alle Hemden genau durchgesehen… nachdem ich sie aus der Reinigung geholt habe…

RODOLPHE: Und hier ist der Kragen verschlissen. Glaubst du wirklich, dass ich so etwas noch anziehen kann?! (Wirft ihr das Hemd vor die Füße und zerrt ein neues aus dem Schrank.) Liebe Agnès, es kann doch wirklich nicht zu viel von dir verlangt sein, dass du dafür sorgst, dass die Hemden in Ordnung sind.

AGNES: Aber wenn doch die Reinigung-

RODOLPHE: Das interessiert mich nicht. Dafür bist du verantwortlich.

AGNES: Wieso ziehst du dich eigentlich um?

RODOLPHE: Ich muss noch weg. 27

AGNES: Wohin?

RODOLPHE: In die Klinik, wenn’s recht ist.

AGNES: In die Klinik.

RODOLPHE: Ja. Geld verdienen.

AGNES: Am Samstagnachmittag? Dass ich nicht lache…

RODOLPHE: Danach zur Rennbahn.

AGNES: Eine gute Idee. Wann bist du dort? Ich komme auch. Ich wollte schon lange mal die aktuellen Favoriten bewundern.

RODOLPHE: Du kannst doch ein Pferd nicht vom anderen unterscheiden. – Um ehrlich zu sein, ich wäre heute Abend lieber allein dort.

AGNES: Natürlich. Wie heißt sie denn und wie alt ist sie? Ist sie hübsch? Hat wohl so Riesendinger, hein?! Und ist sie gut im-

RODOLPHE: Agnès, du wirst ordinär. (Geht ins Badezimmer, macht die Tür zu.)

Agnès schluckt und atmet durch. Hebt wieder das Telefon an ihr Ohr. Agnès und Claudine sind wieder gleichwertig sichtbar.

AGNES: Da bin ich wieder. Wo waren wir stehengeblieben?

CLAUDINE: Du hast gesagt, dass ich aufhören soll, immer nur an mich zu denken.

AGNES: Ja, du warst schon früher so, dass du nur an dich und dein Vergnügen gedacht hast. Du hast immer nur gemacht, was du wolltest, nie das, worum andere dich gebeten haben. Du hast nie auf andere Rücksicht genommen, auf mich sowieso nicht, auf Maman auch nicht. Wenigstens auf Papa hättest du Rücksicht nehmen und auf ihn hören können. Du wusstest wie angeschlagen seine Gesundheit ist. Wenn du dich damals nicht mit der Hochzeit durchgesetzt hättest, dann würde er womöglich heute noch leben-

CLAUDINE: Agnès, es reicht! So etwas muss ich mir von dir nicht sagen lassen. Papa hatte einen Herzanfall, das kann jedem passieren. Mit seinem Tod habe ich nichts zu tun. Hör endlich auf damit, das ist ja lächerlich. (Legt wütend auf, schleudert das Handy weg.) Diese blöde Kuh! Seit Jahren höre ich mir das an, dass ich schuld bin an Vaters Tod, 28 weil sein schwaches Herz es nicht vertragen hat, dass ich gegen seinen erklärten Willen einen Algerier geheiratet habe. Zur Schande aller ordentlichen Franzosen. Ich hasse sie! Sie und ihren hirnlosen Rodolphe. Ich wette mit dir, bei der nächsten Wahl wählen beide wieder diese Le Pen. Und dann wundert sie sich noch, dass wir sie nie besuchen! Sie redet doch nie normal mit mir. Glaubst du, sie hätte mich in den letzten 10 Jahren einmal gefragt, wie’s mir geht?! Oder dir, oder David?! Nein! Das interessiert sie nämlich nicht. Auch jetzt hat sie nur angerufen, um mir wie immer ein schlechtes Gewissen zu machen, wegen, was weiß ich alles – weil sie ja eine so schlechte Kindheit hatte und immer benachteiligt wurde. Dabei stimmt das gar nicht! Sie war immer Mamans Liebling. Sie hat immer die neuen Kleider bekommen, die ich dann auftragen musste. Glaubst du, meine Mutter hätte einmal mit mir einen Einkaufsbummel gemacht?! Ne, immer nur mit Agnès. Ich hab so oft darum gebettelt, dass sie mal mit mir losgeht. Weißt du, was sie dann immer gesagt hat?! Nimm dir ein Beispiel an deiner Schwester wie schön sie Klavier übt, wie graziös sie im Sattel sitzt, wie gut sie in der Schule ist. Wenn du die gleiche Leistung bringst, dann können wir darüber reden. .. Ach, ich könnte kotzen! (Weint.)

AMESIAN: (nimmt sie in den Arm) Claude, ich glaube, deine Schwester meint es gar nicht so. Du kennst sie doch. Immer ein bisschen hysterisch und rechthaberisch, aber im Grunde ihres Herzens doch eine ganz nette Person. (Lacht.) Sie ist doch nur ein wenig eifersüchtig, weil wir es uns so gut gehen lassen. Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, wie sie und Rodolphe-

CLAUDINE: Hör auf, du redest von meiner Schwester, da will ich mir nun wirklich nichts vorstellen. (Lacht unter Tränen.)

Claudine und Amésian küssen sich innig. David hat von einigen Metern Entfernung alles mitangehört und schaut jetzt angewidert weg.

CLAUDINE: Kommst du mit ins Wasser? (Amésian zieht ein Gesicht.) Jetzt komm schon! Los, hoch mit dir! David, du bleibst hier und passt gut auf unsre Sachen auf. Und rühr' dich nicht von der Stelle bis wir wieder da sind. - David, hörst du?

DAVID: (genervt, halb zu sich) Jaja. Geht doch. Ich brauche euch sowieso nicht.

AMESIAN: (zu David, streng) Hast du was gesagt?

David schüttelt verneinend den Kopf. 29

Claudine und Amésian stürzen sich lachend ins Wasser, es ist immer dasselbe Spiel, man muss die Brandung einer Welle abwarten und dann losrennen. Man sieht sie zusammen, sich necken, küssen, schwimmen. David ist abwechselnd auf seine Sandburganlage konzentriert oder schaut, zuerst noch skeptisch, seinen Eltern hinterher, deren Umrisse immer kleiner werden. Plötzlich sieht er sie nicht mehr. Er wendet sich wieder seinem Sandspiel zu. Nur dem Zuschauer soll der Verdacht kommen, dass hier etwas nicht stimmt.

Dass Zeit vergeht, sieht man am sich verändernden Sonnenstand und an der Veränderung des Meeres. Die Flut kommt oder geht. Der Strand leert sich.

ABEND.

Eine Familie in der Nähe packt zusammen. Im Gehen.

Ein kleines MÄDCHEN: Mama, der kleine Junge sitzt da immer noch ganz allein. Hat der keine Eltern mehr? die MUTTER: Chantale, trödel nicht so. Papa hat Hunger.

Strand gegen 20h. Er ist fast menschenleer. David stapft wütend im Sand umher, schaut aufs Meer.

DAVID: Ich hasse euch! (Tritt gegen den Rucksack seines Vaters und imitiert dessen Tonfall.) ‚Wenn aus dir mal ein ordentlicher Mensch werden soll, dann brauchst du Disziplin und Beharrungsvermögen. Hast du mich gehört, David? Claudine, dieser Junge ist völlig verwahrlost. Er braucht endlich eine starke Führung.‘ (Imitiert und karikiert maßlos den Tonfall seiner Mutter.) ‚Natürlich, Amésian, alles, was du willst. Komm, lass uns knutschen.‘ Die können mich mal! (Stolpert bei seinem Wüten über das Buch von Claudine.) Blöde Kuh! (Tränen der Wut.)-

David sitzt auf der Decke, hat sich in ein Handtuch gewickelt und blättert unkonzentriert in seinem Comic. Ein junges Paar (Yves, Francoise) geht spazieren, nähert sich Davids Platz.

YVES: Hey Kleiner, was machst du denn hier so allein?

DAVID: Ich warte auf meine Eltern.

YVES: Und wo sind deine Eltern?

30

DAVID: Schwimmen.

YVES: (schaut aufs Wasser) Ich sehe niemanden, der schwimmt.

DAVID: (bestimmt) Sie sind schwimmen und kommen gleich zurück.

David schaut aufs Meer. Ein fast unmerklicher, aber tiefer Seufzer geht durch ihn hindurch.

YVES: (leise zu Francoise) Ich sehe niemanden. Der Junge ist allein.

FRANCOISE: (leise zu Yves) Aber da sind doch die Sachen von seinen Eltern.

YVES: (wieder zu David) Dann sind deine Eltern aber weit ins Meer raus geschwommen. Das soll man nicht tun, das ist gefährlich wegen der Strömung.

FRANCOISE: (stupst Yves leise an) Pst. Jetzt beunruhige ihn nicht.

DAVID: Nicht für meine Eltern. Sie schwimmen immer sehr weit raus. Sie kennen sich aus mit der Strömung, schließlich sind sie Meister im Schwimmen.

YVES: Meister?

DAVID: Ja, mein Vater hat viele Goldmedaillen gewonnen. Er ist algerischer Meister. Er kann sehr lange Strecken machen, da macht ihm keine Strömung was aus. Und meine Mutter hat im Turmspringen eine Silbermedaille gewonnen.

YVES: Wirklich?

DAVID: Ja natürlich.

YVES: Wie heißt denn dein Vater?

DAVID: (zögernd) Das darf ich niemandem sagen, wegen der Presse und so.

YVES: Aha. Verstehe. Ganz inkognito. Und du? Wie heißt du? Darfst du das sagen?

DAVID: David.

YVES: Bonjour, David, es freut mich, deine Bekanntschaft zu machen, die Bekanntschaft des Sohnes eines französischen 31

Meisters. Ich bin Yves. Und das ist meine Freundin Francoise.

FRANCOISE: Salut, David.

YVES: Sollen wir hier mit dir gemeinsam auf deine Eltern warten?

DAVID: Wenn ihr wollt.

YVES: Bist du hier in den Ferien?

DAVID: Ja.

YVES: Und wie lange bist du schon hier?

DAVID: (überlegt) Genau eine Woche. Seid ihr auch in den Ferien hier?

YVES: Nein, wir leben hier, d.h. eigentlich leben wir jetzt in Lyon, aber wir kommen von hier und machen grad bei den Eltern Ferien. (Zeigt auf die Sandburg.) Hast du die gebaut?

DAVID: Hm. (Steht auf, beginnt zu erklären.) Also, das ist die Hauptburg, darin wohnt Henry IV. mit seiner Familie. Sie alle brauchen viel Platz. Heinrich der IV hat nämlich sechs Kinder mit seiner wunderschönen Königin und noch weitere neun mit anderen Frauen. Und das Zusammenleben ist nicht immer friedlich. Einmal nämlich - die Kinder haben alle mit Vorliebe im Folterkeller gespielt - also einmal hat der älteste uneheliche Sohn versucht, den rechtmäßigen Thronerben umzubringen, indem er ihn in die Eiserne Jungfrau gestellt und dann die Türen zugemacht hat. Heinrich hat aber die Schreie gehört und kam herbeigeeilt und konnte so in letzter Sekunde den Dauphin retten.

YVES: Stimmt das oder denkst du dir das grad aus?

DAVID: Wieso denkst du eigentlich, dass ich dir nur Quatsch erzähle? - Das ist alles historisch bewiesen.

YVES: Woher weißt du denn das, Kleiner?

DAVID: Hey, nenn' mich nicht Kleiner! Ich heiße David.

YVES: Schon gut, schon gut. Entschuldige. David. Also: Woher weißt du das alles, David?

DAVID: Meine Eltern sind sehr gebildet und bringen mir viel bei. Sie sind darauf bedacht, dass ich auch immer meinen… 32

Horizont erweitere... Der König war übrigens ein guter Mann, er wollte, dass niemand im Land hungern muss. Und dann wurde er von dem bösen Ravaillac mit drei Messerstichen ermordet, er hat ihm die Hauptschlagader durchtrennt. Hier. (David zeigt auf die Stelle über dem Herzen.) Und dann wurden auch die ganzen Hugenotten umgebracht, und meine Eltern sagen immer, dass Frankreich damit aus dem Zeitalter des Humanismus wieder ins tiefste Mittelalter zurückgefallen ist. –

YVES: Wow.

FRANCOISE: Yves, es ist gleich halb neun.

YVES: David, wir müssen leider gehen. Die Eltern von Francoise haben uns zum Abendessen eingeladen und wir sind schon ein bisschen spät dran.

DAVID: Okay.

YVES: War schön, dich kennenzulernen.

FRANCOISE: Ja, David, hat mich gefreut.

YVES: Mach's gut, und pass auf dich auf.

Bild: David allein. Erneuter Rückzug auf die Decke. Er sucht in den Taschen seiner Eltern etwas zu essen und zu trinken. Die letzten Leute, die sich in einiger Distanz aufhalten, verlassen den Strand. Es wird langsam dunkel, David wickelt sich in die Decke ein, da es auch kälter wird. Man sieht seine Müdigkeit und innere Niedergeschlagenheit. Er schläft erschöpft ein.

SONNTAG, 10. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 8. FERIENTAG: Heimreise. FRÜHER MORGEN/AUSSEN.

Früh morgens. Ca. 5h. David erwacht, schaut sich um. Vor ihm liegen der menschenleere Ozean und der verwaiste Strand. (Vorschlag: Plötzlich schießen ihm seine eigenen Worte, die er Tage zuvor zu seinen Eltern gesagt hat, wieder durch den Kopf: „Ich brauche euch eh nicht! Haut doch ab! Verschwindet doch einfach!“- als Voice Over oder kurze bildliche Wiederholung des Moments vom Abend des 5. August.) Ihm ist klar, dass er nicht mehr auf seine Eltern warten muss. Er ist einen Moment lang wie paralysiert.- David packt alles Wichtige zusammen, steckt es in seinen Rucksack. Er legt die Kleidung seiner Eltern so gut er kann 33 ordentlich zusammen und legt zwei Badehandtücher schützend darüber. David marschiert am sehr frühen Morgen durch den leeren Ort. Ein Zeitungsbote ist unterwegs, die Bäckerei öffnet gerade. David muss einen eiligen Passanten, der offensichtlich kein Tourist ist, nach dem Bahnhof fragen. DAVID: Bonjour Monsieur, könnten Sie mir bitte sagen, wo hier der Bahnhof ist? Ein PASSANT: Hier in La Tranche gibt es keinen Bahnhof. Hier gibt es nur einen Bus. Da drüben. (Zeigt auf die Haltestelle.) Aber wann der fährt, weiß ich nicht. David setzt sich auf eine Bank und wartet. Ein Müllmann kommt, leert den Papierkorb an der Haltestelle. MÜLLMANN: Bonjour, mein Junge, was machst du denn um diese Zeit allein hier? DAVID: Ich warte auf den Bus. MÜLLMANN: Und wo willst du hin? DAVID: (überlegt eine Weile) Nach Paris. MÜLLMANN: (erstaunt) Nach Paris? Da hast du aber einen weiten Weg vor dir. Von hier aus gibt es keinen Bus nach Paris. DAVID: (erschrocken) Nicht? MÜLLMANN: Nein, da musst du zuerst nach La Roche sur Yon oder nach Les Sables d’Olonne fahren, und von dort aus kannst du dann mit dem Zug nach Paris fahren, d.h. da musst du erst nach Nantes und dort nochmal umsteigen. DAVID: Und wo ist La Roche sur …? MÜLLMANN: La Roche sur Yon… das ist schon ein Stück von hier…hm…naja… um die 50 Kilometer sind das ungefähr. Schätzungsweise. Ungefähr. DAVID: Und das andere? MÜLLMANN: Les Sables d’Olonne? David nickt. MÜLLMANN: Ja, ist ungefähr dasselbe. Das nimmt sich nichts. DAVID: Und wie komme ich da hin? MÜLLMANN: (lacht) Normalerweise mit dem Bus. Aber heute ist Sonntag, da fährt kein Bus. Mach’s gut, mein Junge und 34 geh jetzt wieder nach Hause. Vielleicht suchen deine Eltern schon nach dir. (Geht lachend und kopfschüttelnd zum nächsten Mülleimer, lehrt ihn aus und verschwindet.) David sitzt eine Weile unentschlossen da, steht auf, läuft ein paar Schritte, trifft einen Passanten. DAVID: Entschuldigen Sie bitte Monsieur, wo geht’s hier nach La Roche sur Y…? Ein zweiter PASSANT: Meinst du nach La Roche sur Yon? DAVID: Ja, genau. Ein zweiter PASSANT: Na die Straße runter, immer geradeaus und am Ortsausgang beim Kreisverkehr die zweite Abfahrt in Richtung Nord-West. DAVID: Danke. Auf Wiedersehen, Monsieur. (David läuft los, der Passant schaut ihm irritiert hinterher.) David läuft die Straße entlang, man sieht das Ortsausgangsschild und kommt zum Kreisverkehr, wo La Roche sur Yon und Les Sables d‘ Olonnes jeweils mit der entsprechenden Kilometerzahl ausgeschildert sind. David sieht unentschlossen von dem einen Schild zum anderen. Das Gelände ist flach und übersichtlich. Ein Lastwagen hält biegt in den Kreisverkehr ein, fährt in Richtung Les Sables d’Olonnes raus und hält. Der Fahrer, Franck, steckt den Kopf zum Beifahrer-Fenster raus. Man hört aus dem Radio typische frz. Musik von Radio Nostalgie/Chérie FM. FRANCK: Bonjour, junger Mann, wohin des Wegs so allein? DAVID: Bonjour, Monsieur, nach La Roche sur y… FRANCK: La Roche sur Yon? DAVID: Genau, Monsieur. FRANCK: Das ist aber sehr weit. Das schaffst du zu Fuß nie. Wo sind denn deine Eltern? DAVID: Ich muss nach La Roche sur Y- FRANCK: Schon gut, steig ein, ich fahre zwar nicht nach La Roche, aber ich nehme dich mit nach Les Sables, von dort aus geht jede Stunde ein Zug nach La Roche. David zögert. FRANCK: Ah, ich sehe, deine Eltern haben dir verboten, bei fremden Leuten ins Auto zu steigen. Sie haben Recht damit. Trotzdem, wenn du nach La Roche sur Yon musst, wie du gesagt hast, dann solltest du einsteigen, sonst kommst du nie dort an. 35

David steigt zögerlich ein. FRANCK: Komm Junge, ich tu keiner Fliege was. Ach, das ist mein absolutes Lieblingslied! (Singt mit.) Gefällt es dir? DAVID: Ist ganz okay. FRANCK: Na, ist nicht so deine Generation. Aber jetzt erkläre mir mal, warum du am frühen Morgen ganz allein zu Fuß nach La Roche sur Yon unterwegs bist. DAVID: (überlegt, dann zuerst zögerlich, später flüssig) Also, naja, also, … meine Oma aus Le Mans kommt zu uns zu Besuch. Sie kommt in La Roche sur- BEIDE: Yon (lachen) DAVID: an. Und wir haben mit ihr abgesprochen, dass wir sie dort vom Bahnhof abholen. Jetzt ist meine Mutter aber krank und kann sie nicht abholen, also muss ich das tun. – FRANCK: Aha, aber – DAVID: Ja, meine Mutter hat sich mit Muscheln den Magen verdorben und sich die ganze Nacht übergeben. Jetzt kann sie sich kaum bewegen so schwach ist sie. Und wissen Sie, die Oma hat nämlich kein Handy. Man kann ihr also nicht Bescheid sagen, dass keiner kommt, und Geld für ein Taxi habe ich nicht finden können. FRANCK: Nun, wenn niemand am Bahnhof ist, dann hätte die Oma euch bestimmt irgendwann angerufen und gefragt, wo ihr bleibt, dann hättest du ihr alles erklären können, meinst du nicht? DAVID: Neee- das geht ja eben auch nicht. Unser Telefon ist nämlich kaputt… Franck schaut skeptisch fragend zu David. DAVID: Meine Mutter hat die Rechnung nicht bezahlt. FRANCK: Das ist natürlich ein Problem.- Und dein Vater? Warum fährt der nicht die Oma abholen? DAVID: Der ist schon vor langer Zeit gestorben. FRANCK: Oh. Das tut mir leid, mein Junge. DAVID: Ach, das muss es nicht. Ich habe ihn kaum gekannt. Meine Mutter sagt, dass er kurz nach meiner Geburt abgehauen ist mit einer anderen und dass er sowieso ein Halunke war, ein Chauvinist und Weiberheld, der es mit jeder treibt, die nicht bei drei auf den Bäumen ist. Aber sie sagt auch immer, dass sie ihm nicht mehr böse ist, weil 36 sie ja ohne ihn mich nie bekommen hätte, und ich bin das Beste, was ihr je passiert ist, sagt sie. FRANCK: Hm. Na, jedenfalls wirst du die Oma jetzt pünktlich in Empfang nehmen können, oder? DAVID: Auf jeden. Man sieht Landschaft vorbeiziehen, Himmel. FRANCK: Wohnt ihr in La Tranche? DAVID: (zögernd) Ja. FRANCK: Aber du bist nicht aus der Gegend, ich meine du redest nicht wie die Leute von hier. DAVID: Nein, wir haben vorher in Paris gewohnt. FRANCK: Ich sag‘ es doch. Und wo wohnt ihr jetzt? DAVID: … Rue Charles de Gaulle. FRANCK: Du! Da wohnen Freunde von mir. Die Bernards. Die musst du kennen… Die haben einen Sohn, Philippe, der … muss jetzt in deinem Alter sein... War lange nicht mehr da… DAVID: … Also, na, wir sind erst vor drei Wochen hergezogen. Da kenne ich die Leute noch nicht so gut. FRANCK: Das kommt noch. Ganz von selbst. Jetzt im Sommer ist es etwas voll, aber ab dem Herbst wird es sehr überschaubar. Der Ort ist so klein, da kennt man nach spätestens vier Wochen jeden. Eine einzige große Familie, sozusagen. Die Bernards sind ausgesprochen nett. Hast du schon gefrühstückt? DAVID: Nein. FRANCK: Na dann schau mal, da, hinter meinen Sitz, da ist eine Tüte mit frischen Croissants. Nimm dir eins. Und gib mir das andere. Sie essen schweigend. Etwas Musik. Landschaft. FRANCK: Wie heißt du eigentlich? DAVID: David. FRANCK: Ich bin Franck. Und das hier (er klopft auf das Armaturenbrett) ist meine Lilly. Mit der bin ich schon durch ganz Europa gefahren, bis hoch ans Nordkap. Das südlichste war Istanbul. 300.000 Kilometer haben wir schon zusammen gemacht. DAVID: Und was sagt deine Frau dazu, wenn du immer weg bist? 37

FRANCK: (lacht) Das hier ist meine Frau. DAVID: Dann hast du wohl auch keine Kinder? FRANCK: (lacht wieder) Nein – also, nicht das ich wüsste. DAVID: Meine Eltern sagen immer, dass man ein trauriger Mensch sein muss, wenn man keine Kinder hat- FRANCK: Ach, sagen sie das… DAVID: (bemerkt seinen Versprecher) Ich meine, meine Mutter sagt das immer… FRANCK: (nachdenklich) Hm. – Ich liebe dieses Land. Dieses Licht. Auf das Licht musst du besonders achten. Das ist hier einmalig. Die Vendée ist berühmt für ihr Licht. Es verleiht jedem Stein und jedem Fels eine klarere Kontur. Es macht das Gelb des Stechginsters noch sonniger, und es lässt das Gras noch grüner und saftiger erscheinen als es hier wegen des guten Bodens eh schon ist... Es wird dir hier gefallen, du wirst sehen. Einfahrt in die Stadt. Das Stadtschild. Straßen. Bahnhof. FRANCK: So, da sind wir. Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, David. Und grüße deine Mutter von mir. Sie ist eine kluge Frau. DAVID: Auf Wiedersehen, Monsieur. Und vielen Dank!

LES SABLES D’OLONNES, Bahnhof. VORMITTAG/INNEN. David winkt dem LKW hinterher, steht vor dem Bahnhof, schaut sich um, geht hinein, sucht den Fahrkartenschalter, darin eine korpulente Verkäuferin Mitte 50 (Valerie). DAVID: Bonjour, Madame.

VALERIE:(ist leicht abgelenkt, da sie nebenbei am Computer spielt) Bonjour. Was kann ich für dich tun?

DAVID: Ich möchte bitte eine Fahrkarte nach Paris kaufen.

VALERIE: Nach Paris?

DAVID: Ja, bitte.

VALERIE: Hm. Für wen?

DAVID: Für mich.

VALERIE: Wie alt bist du? 38

DAVID: … Vierzehn!

VALERIE: Aha. (Mustert David.) Vierzehn?

DAVID: Ja!

VALERIE: (schaut nebenbei wieder in den Computer) Gut! So.- Also Paris. Und wer fährt mit dir, hm, Mama, Papa?

DAVID: Niemand.

VALERIE: Was? Du fährst ganz allein?

DAVID: Ja! Könnte ich jetzt bitte meine Fahrkarte haben?

VALERIE: Wo sind denn deine Eltern? Wissen deine Eltern, dass du ganz allein unterwegs bist?

DAVID: Selbstverständlich. Sie warten in Paris auf mich.

VALERIE: Aha. Ja. Und wann willst du fahren?

DAVID: Jetzt gleich.

Valerie sucht im Computer. Draußen sieht man eine Streife langsam vorbeifahren. David sieht die Streife, erschrickt.

VALERIE: So, da hab ich die nächste Verbindung für dich. Du fährst in einer Viertelstunde von hier aus nach La Roche sur Yon. Dort musst du umsteigen. Das ist aber ganz unkompliziert, du musst nur ans gegenüberliegende Gleis gehen. Von dort aus fährt der Regionalexpress nach Nantes. Der Bahnhof ist ein bisschen größer, aber notfalls fragst du einfach nach dem richtigen Bahnsteig. Von Nantes aus habe ich den TGV für dich gebucht. Der ist innerhalb von zwei Stunden in Paris. So, hier hast du die Verbindung. (Reicht ihm den Ausdruck.)

DAVID: Ist das das Ticket?

VALERIE: Nein. Das sind die Abfahrtszeiten. Das hab ich doch grad gesagt. – So, Moment noch… Hier ist das Ticket. Das macht dann 65,- Euro.

David kramt in seinen Hosentaschen und zieht einen 20er und ein paar Münzen heraus und legt sie auf die Theke.

VALERIE: Ich fürchte, das reicht nicht. 39

DAVID: Das ist gar kein Problem. (Zieht mehrere Karten aus der Tasche.) – Hier! (Reicht der Verkäuferin eine Bankkarte.)

VALERIE: Was soll ich damit?

DAVID: Bezahlen!

VALERIE: Das geht nicht.

DAVID: Natürlich geht das. Sie ziehen die Karte durch das Ding da durch und dann unterschreibe ich.

VALERIE: (lacht) Das kannst du nicht unterschreiben, Junge, das müssen schon deine Eltern machen.

DAVID: (verständnislos) Ich gehöre doch zur Familie!

VALERIE: Nein, das geht nicht. Das muss schon deine Mutter oder dein Vater persönlich mit der eigenen Unterschrift machen. Immer nur der, dem die Karte gehört, darf unterschreiben. (Gibt ihm die Karte wieder zurück.)

David grübelt. Schaut alle Karten an.

DAVID: (plötzlich, voller Zuversicht) Wenn ich kurz ein bisschen übe, dann kann ich die Unterschrift meiner Mutter bestimmt so gut nachmachen, dass es niemand merkt, dass ich unterschrieben habe. Dann geht es doch?!

VALERIE: (streng) Das wäre Urkundenfälschung und ein Straftatbestand. Außerdem, für dieses Gerät hier brauche ich die Geheimzahl. – Ja, wenn deine Eltern dir die Karte zum Bezahlen mitgegeben haben, dann werden sie dir ja wohl auch die Geheimzahl mitgegeben haben.

David steckt die Karten enttäuscht wieder ein, schaut auf das Bargeld.

DAVID: Wie weit komme ich damit?

VALERIE: Maximal bis Angers, wenn ich dich nicht auf den TGV buche.

DAVID: (geknickt) Madame, dann hätte ich bitte gern eine Fahrkarte nach Angers.

Valérie kassiert das Geld, legt ihm das Ticket hin.

VALERIE: Bitte sehr. 40

DAVID: Dankeschön, Madame. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.

David geht. Er schaut nach draußen zur Straße. Die Streife kommt von der anderen Seite wieder ins Bild gerollt und hält. David läuft in die andere Richtung zu den Gleisen.

Valerie schließt den Schalter, hängt ein Schild hin: „Je reviens toute de suite.“ Geht in den Laden gegenüber, um mit der dortigen Verkäuferin (Brigitte), einer hageren Frau gleichen Alters, zu sprechen. Der Laden ist menschenleer.

VALERIE: Brigitte? (Pause, dann lauter) Brigitte? (Pause, dann noch lauter) Brigitte! Wo bist du denn?!

BRIGITTE: Hein?

Man hört etwas krachen. Das Geräusch kommt aus der Hinterstube.

VALERIE: Brigitte? Alles in Ordnung?

BRIGITTE: (aus dem Hintergrund) Ja, ja. … (Sie taucht auf, verlegen.) So, da bin ich.

VALERIE: Bonjour Brigitte, ca va, toi?

BRIGITTE: Bonjour, Valerie. Och, comme d’habitude. Immer das gleiche. Et toi?

VALERIE: (schnüffelt) Hier riecht‘s aber mächtig nach Rauch.

BRIGITTE: Tatsächlich?

VALERIE: (streng) Du hast doch nicht etwa wieder mit dem Zeug angefangen?!

BRIGITTE: Mist! Und derweil stelle ich den Abzug schon immer auf die höchste Stufe. Mach mal vorn die Tür auf.

VALERIE: Du, da war eben ein Junge an meinem Schalter, der will ganz alleine nach Paris fahren. Ohne Eltern. Er behauptet zwar, dass er 14 ist, aber der Bub ist keine 14, also das sehe ich sofort, ich als Mutter von drei Gören (gosses)-

BRIGITTE: Ja, hast du ihm denn eine Fahrkarte verkauft? 41

VALERIE: (zögernd) Ja. Was hätte ich denn sonst machen sollen? Oder steht irgendwo in unserem Regelwerk, dass wir das nicht tun dürfen!

BRIGITTE: Das weiß ich nicht. Das ist dein Métier.

VALERIE: Ach, die Bahn braucht jeden Euro dringend.

BRIGITTE: Trotzdem, so ein kleiner Junge ist um diese Zeit allein unterwegs? Normal finde ich das nicht.

VALERIE: Ich ja auch nicht. Dann wollte er mit der Karte seiner Eltern bezahlen, genug Bargeld hatte er nicht dabei, ja, und dann wusste er die PIN-Nummer nicht, sondern wollte die Unterschrift seiner Mutter fälschen!

BRIGITTE: Vielleicht hat er die Sachen gestohlen? Vielleicht ist es ein Junge von irgend so einer Kinderbande. Ich habe letztens einen Artikel darüber gelesen, die sind hochkriminell und brandgefährlich. Sie sollen schon halb Paris beherrschen…

VALERIE: Meinst du, sie sind inzwischen auch hier?

BRIGITTE: Gott behüte. Nicht auszudenken. Aber was stehen wir hier rum und reden! Du musst die Polizei rufen!

VALERIE: Ich?

BRIGITTE: Wer sonst! Du hast dem Jungen das Ticket verkauft.

VALERIE: Aber nur bis Angers, für mehr reichte sein Geld nicht. (Triumphierend.) Also sehr weit kommt er nicht.

Valerie läuft unruhig in der Bahnhofshalle umher. Vor dem geschlossenen Schalter warten ein paar Leute, die langsam ungeduldig werden.

Eine sehr ALTE FRAU (mit Stock): (laut) Warum kommen wir denn nicht endlich dran? Sind noch viele Leute vor uns?

Ihre TOCHTER: (laut) Gleich, Maman.

Eine sehr ALTE FRAU: Was hast du gesagt?

Ihre TOCHTER: (lauter) Wir sind gleich dran, Maman. Die Dame vom Schalter kommt gleich wieder. 42

Eine sehr ALTE FRAU: Es ist niemand im Schalter? Was ist denn das für eine Schlamperei! (ruft) Hallo, hallo, wieso ist denn hier niemand?! Ich muss aufs Klo.

Ihre TOCHTER: Maman!

VALERIE: Ich bin gleich bei Ihnen.

Ein GESCHÄFTSREISENDER: Madame, bitte, wenn Sie die Güte hätten, den Schalter wieder zu öffnen, mein Zug geht in fünf Minuten.

VALERIE: Jetzt seien Sie nicht so ungeduldig. Sie kommen alle dran.

Ein MANN: Ich stehe hier auch schon zehn Minuten!

VALERIE: Ruhe jetzt! Hier ist Gefahr im Verzug. Die Kinderbanden sind im Begriff, auch die Vendée zu besetzen, einer von ihnen sitzt drüben im Zug. Die Polizei müsste jeden Augenblick – ah, da ist sie ja. Endlich!

Zwei Polizisten betreten die Bahnhofshalle und steuern direkt auf Valerie zu.

POLIZIST 1: Madame,-

VALERIE: Messieurs, ich habe Sie angerufen.

POLIZIST 1: Ja, Madame, allerdings hat unsere Zentrale nicht so recht verstanden, worum es eigentlich geht.

VALERIE: Gefahr im Verzug, hab ich doch gesagt. Ein Junge sitzt drüben im Zug nach La Roche. Er gehört zu einer dieser Kinderbanden, die ganz Frankreich unsicher machen…

POLIZIST 1: Moment, ganz langsam.

VALERIE: Nicht langsam! Laufen Sie schon und nehmen Sie ihn fest! Er ist gefährlich! Der Zug fährt gleich!

Polizist 1 schaut fragend zu Polizist 2, der auch nur verständnislos dreinblickt.

VALERIE: Jetzt machen Sie schon! In einer Minute ist er verschwunden! (Versucht die Polizisten anzuschieben.)

POLIZIST 1: Madame!

VALERIE: Mist! Der Zug fährt ab. Jetzt ist es zu spät. Und Sie sind schuld! Sie sind zwei hirnamputierte Dummköpfe! 43

POLIZIST 1: Madame, ich bitte Sie…

VALERIE: Und so etwas nennt sich Polizei!

POLIZIST 1: Madame!

VALERIE: Eine Schande ist das.

POLIZIST 1: Bitte schweigen Sie, ich muss Sie sonst-

VALERIE: Eine Schande für Frankreich!

POLIZIST 1: Es reicht! Sie kommen jetzt mit aufs Revier.

VALERIE: Ich? Was soll ich denn auf dem Revier?

Polizist 1 gibt Polizist 2 einen Wink. Sie nehmen Valerie von beiden Seiten.

VALERIE: Lassen Sie mich los, Sie Rüpel, Sie! Hilfe!

POLIZIST 1: Sie werden sich wegen Irreführung der Polizei und Beamtenbeleidigung zu verantworten haben.

Polizist 1 und Polizist 2 führen Valerie ab. Im Hinausgehen ruft Valerie noch zu den Wartenden.

VALERIE: Das ist ja unglaublich! Ich bin eine ehrbare Bürgerin im Dienste des Staates! Und den Verbrecher lässt man laufen!

Eine sehr ALTE FRAU: (stößt wütend ihren Stock auf) Dauert das noch lange hier?!

ZUGREISE NACH PARIS. VORMITTAG-NACHMITTAG/AUSSEN/INNEN.

1. Zug: Regionalzug von Les Sables d’Olonnes nach La Roche sur Yon.

Der Zug fährt ab. Ein kleiner alter Regionalzug mit zwei Wagen. Wir sehen Landschaft mit Feldern, durch die sich der Zug durchschlängelt, darin Korn- und Mohnblumen. Eine offene Tür, in der David steht und die Landschaft und den Himmel betrachtet. (Schön wäre an dieser Stelle auch eine Totale von außen, die die Weite der Landschaft vermittelt, darin der fahrende Zug.)

Der Schaffner (Pierre Tabarly), ein gemütlicher Mann mit Knopfaugen, zweite Hälfte 50, kommt. 44

SCHAFFNER TABARLY: Junge, geh da sofort weg!

David erschrickt, geht zur Seite.

SCHAFFNER TABARLY: (macht mit Anstrengung die Tür zu) Ich habe dem Kollegen von der Wartung schon hundertmal gesagt, dass er sich um diese Tür kümmern soll. Aber nichts passiert. Da muss erst einer rausfallen, bevor der sich mal bewegt… (zu David) Junge, das ist gefährlich, wenn du so nah an der offenen Tür stehst. Was geht nur in deinem Kopf vor! (Schnappt den Jungen am Arm und bringt ihn durch eine Schiebetür ins Abteil, bedeutet ihm, sich hinzusetzen.)

Der Wagen ist sozusagen ein Großraumwagen mit Vierer-Sitzen und dem roten Kunstlederpolster wie man sie früher bei den Regionalzügen hatte. David sitzt allein in einem Vierer- Abteil. Im Nachbarabteil sitzt eine alte Frau, Madame Monot, zweite Hälfte 70, neben sich einen Käfig mit zwei Hühnern darinnen, die laut gackern. Desweiteren befinden sich im Wagen ein älterer Mann und eine junge Frau, die laut mit dem Handy telefoniert(eine Beziehungskiste).

Die JUNGE FRAU: Schatz! Wartest du schon auf mich? Ich bin gleich da …… Was soll das heißen, du kommst nicht? ..... Ja, wo bist du denn? ...... Zu Hause? Wieso bist du zu Hause? .... Aber wir wollten doch …….. (Du, ich bin schon im Zug!) ....Das kannst du nicht machen! Ich hab mich so auf unsere Tage miteinander gefreut! ...... Du, ich hab mir extra frei genommen, (noch mit einer Kollegin getauscht und meine Chefin bekniet, dass sie mir die Tage frei gibt ……. Ich kann doch jetzt nicht einfach wieder zurück fahren)…. Wann redest du endlich mit ihr? Ich halte das nicht mehr lange aus, diese Situation macht mich fertig…. (Sag nicht das schon wieder, ich kann deine Ausreden nicht mehr hören!)

SCHAFFNER TABARLY: Guten Morgen, Mesdames et Messieurs, die Fahrkarten zur Kontrolle, bitte. (streng zu David, der bewegungslos dasitzt) Das gilt auch für dich, Junge.

David kramt sein Ticket hervor und reicht es ihm.

SCHAFFNER TABARLY: (sein Tonfall hat sich in einen freundlichen geändert) Schon so früh am Morgen allein unterwegs?

DAVID: Ich muss meine Oma in La Roche sur‘ ? abholen…

SCHAFFNER TABARLY: In La Roche sur Yon? 45

DAVID: Ja genau, Monsieur.

SCHAFFNER TABARLY: Dann hast du’s nicht mehr weit. Wir sind in zwanzig Minuten da.

Schaffner Tabarly geht gezielt zu der jungen Frau mit dem Handy, die am anderen Ende des Wagens sitzt.

Die JUNGE FRAU: Was? Nein, das meinst du nicht im Ernst! Das kannst du doch nicht machen! … Nein, das ist es nicht!

SCHAFFNER TABARLY: Mademoiselle, wenn ich Sie bitten dürfte, hier drinnen ist das Telefonieren nicht gestattet.

Die JUNGE FRAU: (konsterniert) Er will Schluss machen… Jetzt. Am Telefon… einfach so. Er sagt, dass er sich unmöglich von seiner Frau trennen kann, und dass es besser ist, wenn wir uns nicht mehr sehen…

SCHAFFNER TABARLY: - Das tut mir sehr leid, Mademoiselle. (Geht zum Mann, ohne die Fahrkarte der jungen Frau zu kontrollieren.)

Im Hintergrund hört man Die JUNGE FRAU: Das kannst du doch nicht einfach so tun. Nach all den Jahren. Du hast mir doch grad vorgestern noch gesagt wie sehr du mich liebst und wie sehr du mich begehrst. Ich dachte, das zwischen uns sei etwas Besonderes… Ich liebe dich doch… Wenn du willst, ich kann noch warten…

SCHAFFNER TABARLY: Richard.

RICHARD: Pierre. (Zeigt ihm das Ticket.)

SCHAFFNER TABARLY: Und wie geht’s?

RICHARD: Frag nicht. Die Bank will mir den Kredit für die Sanierung des Hofes aufkündigen, das Finanzamt will ne Nachzahlung fürs letzte Jahr, und meine Alte macht mir seit Tagen wegen einer neuen Spülmaschine die Hölle heiß. Dabei funktioniert die alte noch ganz hervorragend, meistens jedenfalls.

SCHAFFNER TABARLY: Frauen. Du kennst ja meine Mathilde. Auch nicht besser. Immer nur Ansprüche.

Beide schauen dabei auch in die Richtung der jungen Frau. Schaffner Tabarly geht zur Frau mit den Hühnern weiter. 46

SCHAFFNER TABARLY: Bonjour, Madame Monot, Ihr Ticket zur Kontrolle bitte.

Mme. MONOT: (kramt aufgeregt in ihren Taschen) Ach, Monsieur Tabarly, ich kann es nicht finden…

SCHAFFNER TABARLY: Suchen Sie ganz in Ruhe. Ich habe Zeit.

Mme. MONOT: Ich hab es doch hier reingetan, vorhin, nachdem ich es entwertet hatte…

Mme. MONOT: Madame Monot, ich sehe, Sie haben heute wieder ihre Hühner dabei. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Tiere im Zug nicht gestattet sind.

Mme. MONOT: Ach Monsieur Tabarly, Sie wissen doch, dass ich Catherine und Sophie unmöglich allein zu Hause lassen kann. Ich fahre wieder zu meiner Enkelin. Sie hat letzte Woche eine Tochter bekommen. Da muss ich ihr unbedingt ein paar Tage helfen. So lange kann ich doch meine beiden Lieblinge nicht allein lassen, und außerdem der Junge, ja, also mein Ur-Enkel, ja, der freut sich, wenn er mit Catherine und Sophie spielen kann.

SCHAFFNER TABARLY: Ich nehme an, Ihre Enkelin wird auch ganz begeistert sein…

Mme. MONOT: Ach, die Tiere machen ihr nichts aus. – Monsieur, ich finde das Ticket nicht! (Sucht.) Monsieur Tabarly, Sie müssen mir glauben, ich habe ein Ticket gekauft und entwertet!

SCHAFFNER TABARLY: Schon gut, Madame Monot. Wie lange kennen wir uns schon? 30 Jahre?

Mme. MONOT: 31, Monsieur Tabarly. 31 Jahre. Sie waren damals ein sehr attraktiver junger Mann. Ach, wenn ich damals noch jünger gewesen wäre, dann hätten Sie sich vor mir gehörig in Acht nehmen müssen.

Beide lachen.

SCHAFFNER TABARLY: Ich wünsche Ihnen schöne Tage bei Ihrer Enkelin. Und was die Hühner betrifft, so drücke ich diesmal noch ein Auge zu.

Mme. MONOT: Ich wusste es, Monsieur Tabarly, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Ich danke Ihnen. 47

Schaffner Tabarly geht wieder in die Richtung zurück, aus der er gekommen ist und muss wieder an David vorbei.

SCHAFFNER TABARLY: Wenn ich dich nochmal an einer offenen Tür erwische, dann ziehe ich dir die Hammelbeine lang. Haben wir uns verstanden?

DAVID: (eingeschüchtert) Ja, Monsieur. Es kommt nicht wieder vor.

SCHAFFNER TABARLY: Gut. Dann bin ich zufrieden. (Er streichelt David liebevoll grob über den Kopf; man sieht bei David, dass er das nicht besonders mag/peinlich findet)

Schaffner Tabarly verlässt den Wagen. David schaut hinter seinem Sitz hervor und zu den Hühnern. Vielleicht versucht er noch einen Blick auf die junge Frau zu erhaschen, die telefoniert hat.

Einfahrt La Roche sur Yon, man sieht den Bahnsteig und das Ortsschild. David steigt aus, schaut sich um, am gegenüberliegenden Gleis steht schon der Regionalexpress nach Nantes bereit.

2. Zug: Regionalexpress von La Roche sur Yon nach Nantes.

David steigt ein, sucht sich ein leeres Abteil. Der Zug ist etwas voller als der vorhergehende. Man sieht, dass hier Leute auch beruflich unterwegs sind.

Nantes. David steigt aus und studiert den Verbindungszettel, schaut sich um, sucht, findet den Bahnsteig mit dem TGV nach Paris, steigt ein.

3. Zug: TGV von Nantes nach Paris.

Großraumwagen. David sucht sich, die Reservierungsmarken lesend, einen freien Platz. Der Zug ist ziemlich voll, die Leute sind hektisch.

David hat noch einen freien Platz in einem Vierer-Abteil gefunden. Ihm gegenüber sitzen eine Mutter, ca. 35, und ihre kleine Tochter Laura, 6.

Die Mutter packt Essen aus und breitet es auf dem Tisch aus. David schaut auf das Essen. Er hat Hunger. Kann bald den Blick nicht mehr vom Essen und den Essenden lassen. 48

LAURA: Maman, der Junge starrt mich an.

Die MUTTER: Ja, tut er das…?

LAURA: Mama! Wirklich.

Die MUTTER: (zu David) Wohin fährst du denn?

DAVID: Nach Paris.

Die MUTTER: Ach, wir auch. Dann haben wir ja ein Stück Weg zusammen. Komm, iss was mit uns. Es ist genug für alle da. (Reicht ihm Baguette und Käse, David nimmt zögerlich an; die Mutter ermunternd.) Und in Gesellschaft schmeckt es auch viel besser.

Sie essen eine Weile schweigend.

Die MUTTER: Und woher kommst du?

DAVID: Les Sables…

Die MUTTER: Ach, Les Sables d’Olonnes! Ich liebe diese Stadt. Als Kind habe ich dort viel Zeit verbracht. Da sind wir fast jedes Wochenende dorthin gefahren. Im Sommer natürlich, wenn man baden kann. Dort habe ich auch das Schwimmen gelernt-

DAVID: (erstaunt) Im Meer?

Die MUTTER: Ja! - Natürlich nur wenn das Meer ruhig war. Nicht wahr, Laura, es ist wunderschön dort. Du magst es auch.

Laura nickt und kaut.

Die MUTTER: Wir wohnen in Nantes. Da ist es nicht so weit nach Les Sables.- Warst du dort in den Ferien?

DAVID: Hm.

Die MUTTER: Und jetzt bist du ganz allein unterwegs…?

David antwortet nicht. Pause. Die Mutter ist irritiert, beschließt, nicht weiter zu fragen; will die eingetretene peinliche Pause auflockern.

Die MUTTER: Kinder, esst. Es dauert noch eine Weile bis wir ankommen. (Reicht David noch etwas, dann zu Laura.) Na, mein Engel, was willst du denn in Paris alles unternehmen, hm? 49

LAURA: Ich will auf jeden Fall ins Disneyland.

Die MUTTER: Schatz, fang nicht schon wieder damit an. Disneyland ist ganz am anderen Ende der Stadt, weit draußen… So lange sind wir doch gar nicht bei Tante Sylvie. Außerdem jetzt ist es viel zu voll dort, da haben wir nichts davon…

LAURA: Aber ich will schon sooo lange nach Disneyland… Du hast es mir versprochen. Und versprochen ist versprochen-

BEIDE: und wird auch nicht gebrochen!

Die MUTTER: Ich habe aber nicht gesagt, wann ich das Versprechen einlöse.

Stimmen der beiden verschwinden im Hintergrund. David schaut raus. Es tauchen Bilder vor seinem geistigen Auge auf. Es sind Erinnerungen an die vergangenen Urlaubstage mit den Eltern, die sich in die vorüberziehende Landschaft mischen: die Ziegen, die er zusammen mit Claudine füttert; gemeinsamer morgendlicher Besuch mit Claudine beim Bäcker und Fechtkampf mit den Baguettes, die dann brechen; der abendliche Besuch der „Spielhöllen“ im Ort und Begeisterung für das Scheibenspiel (eine luftgesteuerte, magnetische Scheibe muss über das Feld ins Tor des Gegners gestoßen werden), Fußball mit seinem Vater am Strand; eine wunderschöne Claudine in einem feuerroten Kleid, das sie gerade in einer Boutique gekauft, und das sie nun ihren Männern sich drehend, und den Rock fliegen lassend, präsentiert.

Der Schaffner (Anselme Dupont), 50, groß und hager, erscheint. Kontrolliert die Tickets. Kommt bei Davids Abteil an.

SCHAFFNER DUPONT: Bonjour.

Die MUTTER: Bonjour, Monsieur.

Der Schaffner kontrolliert zuerst die Fahrkarten von Mutter und Tochter.

SCHAFFNER DUPONT: (zur Mutter) Gehört der Junge zu Ihnen, Madame?

Die MUTTER: Nein, Monsieur, er ist ganz allein unterwegs.

Der Schaffner nimmt Davids Ticket. 50

SCHAFFNER DUPONT: (zu David) Nach Angers. Ja, aber deine Fahrkarte ist nicht gültig für diesen Zug. Für diesen Zug brauchst du ein anderes Ticket. Du musst leider nachzahlen, Junge. Ich sag dir gleich, wieviel. (Rechnet mit seiner Maschine.) So, von Nantes bis Angers sind das – wie alt bist du?

DAVID: (zögerlich) Vierzehn.

SCHAFFNER DUPONT: Bist aber ein bisschen klein geraten für vierzehn. – Das sind 10 Euro und 20 Cent, die ich dann noch von dir bekomme.

DAVID: Es tut mir leid, aber ich habe kein Geld mehr…

SCHAFFNER DUPONT: Wie - du hast kein Geld mehr?!

DAVID: … Warten Sie, hier die können Sie nehmen… (kramt die Karten hervor und reicht sie dem Schaffner)

Der Schaffner begutachtet die Karten.

SCHAFFNER DUPONT: Sind das deine Karten?

DAVID: Von meinen Eltern.

Der Schaffner begutachtet die Karten nochmals, denkt nach.

SCHAFFNER DUPONT: Hm… Wenn du die PIN hast… -

David ist leicht abwesend.

SCHAFFNER DUPONT: (leicht gereizt) Junge, hast du die PIN?

DAVID: (niedergeschlagen) Nein, hab ich nicht. – (Freudiger Einfall.) Aber ich kann unterschreiben- (Bricht erschrocken ab, da ihm einfällt, was die Verkäuferin zu diesem Vorschlag gesagt hat.)

SCHAFFNER DUPONT: Was? Was kannst du?! – Hab ich dich da eben richtig verstanden? Du willst selber unterschreiben? Also die Unterschrift von deinen Eltern fälschen? Das ist ja unglaublich! Du bist also ein kleiner Betrüger?! Nein, nein, nein, Bürschchen, da bist du bei mir an den falschen geraten. Du kommst jetzt mit mir mit. Wir klären das, wenn wir in Angers sind. Dort übergebe ich dich dem Bahnhofsvorstand und wenn nötig der Polizei.

Die MUTTER: Monsieur, bitte, finden Sie das nicht ein wenig übertrieben? Er hat doch ein Ticket. 51

SCHAFFNER DUPONT: Das nicht gültig ist.

Die MUTTER: Dann zahle ich halt die Differenz. Wieviel, sagten Sie, macht das?

SCHAFFNER DUPONT: Madame, mischen Sie sich da bitte nicht ein. Es ist ja nicht nur so, dass der Junge kein gültiges Ticket für den TGV hat, sondern er wollte grade Urkundenfälschung begehen. Wer weiß, woher er die Karten wirklich hat.

DAVID: Die sind von meinen Eltern, wie ich gesagt habe! Ich hab sie nicht gestohlen!

SCHAFFNER DUPONT: Wer weiß. Welche Eltern geben ihren Kindern schon sämtliche EC- und Kreditkarten in die Hand! Nimm deine Sachen, du kommst jetzt mit mir.

David steht zögerlich auf und nimmt seinen Rucksack. Schaffner Duponts Blick fällt dabei deutlich auf den orangefarbenen Rucksack und das Ohr von Hasi, das aus der Seitentasche rausschaut.

SCHAFFNER DUPONT: Mach schon, ich hab nicht ewig Zeit.

Der Schaffner und David gehen.

LAURA: Maman, er hat doch aber gesagt, dass er nach Paris will…

Der Schaffner hört das noch, guckt in Lauras Richtung zurück, dreht sich dann zu David.

SCHAFFNER DUPONT: Und schwarzfahren wolltest du auch noch! – Vorwärts!

ANGERS, Bahnhof. MITTAG/INNEN.

Halt in Angers, Bahnhofsbilder und Ansagen. Der Schaffner hält David am Arm fest und zerrt ihn über den Bahnsteig.

SCHAFFNER DUPONT: Vite, vite, ich hab nicht ewig Zeit!

Eine junge Frau mit zwei Kleinkindern an den Rockschößen versucht verzweifelt ihren Kinderwagen in den Zug zu bugsieren. Sie sieht den Schaffner. 52

FRAU: Monsieur, s‘il vous plait, könnten Sie mir bitte mit dem Wagen helfen…!

SCHAFFNER DUPONT: Sie sehen doch, dass ich keine Zeit habe!

FRAU: Monsieur…!

Ein sehr alter und vornehmer Herr mit Brille und Gehstock fasst den Schaffner am Ärmel.

Der ALTE HERR: Jetzt helfen Sie der Dame schon. Sie sehen doch, dass Sie den Wagen nicht allein in den Zug heben kann.

SCHAFFNER DUPONT: Monsieur, nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich keine Zeit für so etwas habe. Ich muss einen Verbrecher überführen. Und jetzt lassen Sie bitte meinen Ärmel los.

Der ALTE HERR: (lacht und zeigt auf David) Ist das der Verbrecher? – Hören Sie, Sie helfen jetzt der Dame mit dem Kinderwagen oder ich werde mich bei Ihrem Chef über Sie beschweren. Gestatten, Jacques Grenelle, Generaldirektor SNCF a.D. Und wie lautet Ihr werter Name, Monsieur?

SCHAFFNER DUPONT: (stottert fassungslos) Dupont, Monsieur le directeur, Anselme Dupont. Selbstverständlich zu Ihren Diensten. Entschuldigen Sie… bitte… (zu David, streng) Und du rührst dich nicht von der Stelle, sonst…! (Drohende Gebärde.)

Der Schaffner lässt David los, geht der Dame helfen.

Der ALTE HERR: Warum nicht gleich so, Monsieur Dupont!? Oberste Devise für einen Eisenbahner: das Wohl des Fahrgastes ist unser Glück.

SCHAFFNER DUPONT: Jawohl, Monsieur le directeur.

Der alte Mann betrachtet zwischenzeitlich David, der gehorsam stehengeblieben ist. Plötzlich macht der alte Mann zu David eine Bewegung mit dem Kopf. David schaut fragend zurück.

Der ALTE HERR: (leise) Mach schon!

David zögert.

Der ALTE HERR: Los, lauf! 53

David rennt weg. Schaffner Dupont sieht David wegrennen. Rennt hinterher.

SCHAFFNER DUPONT: Bleib stehen! Halten Sie den Jungen auf! Er ist ein Verbrecher!

FRAU: (zum alten Mann) Danke, dass Sie mir geholfen haben.

Der ALTE HERR: Keine Ursache. Ich selber kann nur nicht mehr heben… mein Kreuz…

FRAU: Sind Sie wirklich der – ?

Der ALTE HERR: (lacht) Keinesfalls! Ich war mein Leben lang Lokführer und kenne Grenelle nur vom Photo, das bei uns in der Kantine hing. Aber jetzt war es mir ein Vergnügen, diesem Armleuchter mal ein bisschen Beine zu machen.

Es wird die Abfahrt durchgesagt. Die Türen schließen.

Der ALTE HERR: Gute Reise!

FRAU: Auf Wiedersehen und nochmals vielen Dank, Monsieur!

David rennt weg und versteckt sich. Schaffner Dupont läuft an ihm vorbei. Sieht ihn nicht mehr, stoppt, keucht, schaut sich um, geht wieder zurück, läuft auf die Höhe von David und sieht den Zug aus dem Bahnhof fahren.

SCHAFFNER DUPONT: (wütend) Verflucht! Das wird mich meine Beförderung kosten… (Geknickt.) Meine arme Emma, sie war so stolz auf mich… Und an allem ist nur dieser Bengel schuld! (Geht.)

David hört das, ist gerührt, kurzer Impuls, sich zu zeigen. Da sieht David vor seinem geistigen Auge Bilder (Halluzination): Bahnhofshalle. Schaffner Dupont nimmt eine überdimensionale Größe an, hält David fest und legt ihm überdimensionierte Handschellen an. Alle Leute drum herum bleiben stehen und schauen und tuscheln. Schaffner Dupont lacht gespenstisch und triumphierend in die Runde. „Wieder ein Kandidat für Fort Boyard.“ Die Leute lachen und applaudieren. (!Diese Halluzinationen/Traumbilder weisen auch im Folgenden eine massive Überspitzung, Verzerrung, Kälte auf, Stimmen sind blechern und mit Nachhall)

David kauert sich zusammen, zieht sich in sein Versteck zurück. Der Schaffner telefoniert, geht zum Regionalzug (Letzteres kann David nicht sehen). David bleibt noch eine Weile im Versteck. (Zeitspanne von ca. 15 Minuten sollte 54

deutlich gemacht werden-Passanten, der große Zeiger einer Bahnhofsuhr etc.)

David geht in die Halle und sucht an der großen Anzeigetafel nach dem nächsten Zug. Er hat Glück, ein Regionalzug fährt gleich nach Paris, David muss rennen und springt in letzter Sekunde hinein.

4. Zug: Regionalzug von Angers nach Paris.

Regionalzug. Abteilwagen mit jeweils 6 Plätzen. Durch eine Schiebetür vom Gang abgetrennt.

David läuft durch einen Wagen durch, schaut durch die Glastüren in die Abteile. Überall ist jemand. David geht weiter durch die schweren Schiebetüren der Schleusen in den nächsten Wagen. Ist am ersten Abteil angelangt und sieht wieder Schaffner Dupont vom TGV am anderen Ende auf dem Gang stehen und sich mit jemandem unterhalten. Blitzschnell verschwindet er direkt im Abteil neben sich.

Drinnen sitzen: vier heranwachsende Jungen, ca. 16-18 (J1, J2, J3, J 4) und eine sehr korpulente Frau, Anfang 50, im Kleid/Rock, mit großem Busen und Ausschnitt.

David bleibt wie angewurzelt stehen. Starrt die Jungs an.

J1: Was schaust du denn so - als wenn grad ein Blitz neben dir eingeschlagen wäre? Hein?! Wir tun dir nichts, wir sind anständige Jungs. Die Lady hier kann das bezeugen.

Die FRAU: Er hat Recht, Junge, wir reisen schon von Bordeaux aus zusammen. Wir sind inzwischen eine kleine eingeschworene Reisegemeinschaft, nicht wahr?

Die Jungs nicken heftig „Ja, ja“. David steht immer noch an der Tür.

J1: Jetzt setz dich endlich.

David setzt sich langsam. Umkrampft seinen Rucksack, guckt verstohlen raus auf den Gang.

J2: Irgendwas stimmt mit ihm nicht.

J3: Vielleicht ist er verrückt.

J1: (zu J3) Quatsch nicht! (zu David) Hey, was ist mit dir? Du bist ganz blass. Ist dir schlecht? 55

J2: Vielleicht muss er kotzen.

J3: Ey Alter, ich schwöre, ich raste aus, wenn er-

J1: (zu J3) Klappe hab ich gesagt! (zu David) Also, was ist?

DAVID: Ne, ich muss nicht kotzen.

J3: Was ein Glück.

DAVID: Der Schaffner ist hier.

J3: Ja, logo, ist ein Schaffner hier.

DAVID: (zu J1) Der mich vorhin aus dem TGV geworfen hat, weil ich kein Ticket für den TGV hatte. Dann wollte er mich zur Polizei bringen…

J3: Was zu den Bullen?

J1: Jetzt erzähl‘ mal ruhig der Reihe nach. (zu J3) Mach mal die Gardinen vor. Muss ja nicht gleich jeder sehen, dass ich mit so einem Spasti hier drinnen sitze.

J3: Ey!

J1: Mach schon oder brauchst du noch einen Extra-Tritt in deinen süßen Mädchenpopo…

J2 und J4 lachen heftig. J3 zieht die Vorhänge vor.

J1: Brav. So ist‘s gut. (zu David) So, jetzt bin ich wieder bei dir. Was ist passiert?

DAVID: Also…, ich will nach Paris und habe kein Ticket.

J3: Ey krass, Alter! Ein schwarzer Passagier!

J1: Schnauze! Außerdem heißt es ‚ein blinder Passagier‘. (freundlich zu David) Erzähl weiter. Hör nicht auf den da, der ist dumm wie Schifferscheiße.

J3: (springt auf) Hey! Ich-

J1 bedeutet ihm mit der Hand, sich zu setzen.

J1: Und?

DAVID: (denkt nach)… Meine Mutter hat mir Geld gegeben, damit ich mir ein Ticket nach Paris kaufen kann, damit ich den Sommer bei der Oma und meinen Freunden verbringen kann. Wir sind nämlich erst vor ein paar Monaten von Paris 56 weggezogen. Jedenfalls habe ich das Geld für das Ticket morgens mit in die Schule genommen, um gleich nach dem Unterricht zum Bahnhof zu gehen und mein Ticket zu kaufen. Aber ein paar große Jungs aus der Schule haben mich abgezogen. Da war das Geld weg. Ich hab mich nicht getraut, das meiner Mutter zu sagen. Sie wäre dann in die Schule gekommen, und dann wäre der Ärger für mich erst richtig losgegangen. – Außerdem hat sie so für meine Fahrkarte gespart. Sie hat sogar die Telefonrechnung nicht bezahlt.- Jedenfalls als ich dann losfahren sollte, hatte ich auch noch nicht wieder genug zusammenbekommen und hab‘ mir dann die Fahrkarte gekauft so weit wie das Geld reichte. Im TGV hat mich der Schaffner dann rausgefischt. Er wollte mich zur Polizei bringen, ich bin geflohen. Er ist mir nachgelaufen und hat seinen Zug verpasst. Jetzt ist er hier…!

J2: Wie blöd muss man sein, dann grade in den TGV zu steigen.

J1: Stimmt, sonderlich intelligent war das nicht. – Was machen wir jetzt? Na los, Brüder, ich warte auf eure Vorschläge.

J3: Ey Mann, wir übergeben ihn den Bullen und fordern eine voll krasse Belohnung.

David erschrickt, springt auf.

J1: (hält ihn zurück) Setz dich wieder hin. (ironisch) Der Herr (deutet in Richtung J3) ist heute zu Scherzen aufgelegt.

J4: Wir könnten zusammenlegen. Was kostet denn die Fahrt von hier aus nach Paris?

J3: Bist du verrückt, Alter?! Ich geb‘ doch nicht mein kostbares und sauer verdientes Geld für diesen Windelscheißer aus!

J1: Seit wann verdienst du was? Ich dachte, Muttis Kasse ist immer offen?!

J3: (springt auf) Ey!

J1: Reg dich ab, Alter. War nur ein Witz. - Um die dreißig Euro müssen wir da schon rechnen.

J2, J3 stöhnen. 57

J1: (schaut in seinem Portemonnaie nach) Zwei lumpige Euros. Die reichen nicht mal für die Métro…

J4: (kramt sein Portemonnaie heraus) Hier! 5 Euro habe ich noch. Die kann ich geben.

J1: Sehr gut.

J1 schaut J2 fragend an.

J2: Ich muss gar nicht nachschauen. Absolute Ebbe bei mir.

J1 schaut streng zu J3.

J3: Ich? Nee! Von mir kriegt der nix.

J1: Portemonnaie raus!

J1 geht J4 an die Hosentasche, wo das Portemonnaie ist.

J3: Hey Pfoten weg!- Ich mach ja schon.

J3 holt sein Portemonnaie aus der Hosentasche und holt 10 Euro und Centstücke raus.

J1: Sehr gut. Wieviel haben wir jetzt?

J3: Ey Alter, wieso sollen wir für den Hosenscheißer das Ticket kaufen?!

J1: Ein Bruder ist in Not.

J1 nimmt J3 das Geld ab.

J3: Ey Alter, ich brauch davon noch was für die Métro!

J1: Seit wann bezahlst du die Métro?- Also, wieviel haben wir?

J1 nimmt sich das Geld und zählt.

J1: 2, 5, 10 macht 17 Euro und 20,40,60,70,80,85,87. 17 Euro und 87 Cent. Na super. Reicht vorn und hinten nicht. (zur Frau) Und Sie? Spenden Sie auch?

DAVID: Es nutzt doch gar nichts, wenn ihr jetzt für mich bezahlt. Der Schaffner nimmt mich doch in jedem Fall mit und schleppt mich zur Polizei, wenn er mich hier findet!

Man hört von draußen die Stimme des Schaffners von vorhin.

SCHAFFNER DUPONT: Bonjour, die Fahrkarten zur Kontrolle bitte. 58

J1 schaut vorsichtig raus. Der Schaffner ist noch am anderen Ende des Wagens.

J1: Der braucht noch einen Moment. Los, was tun wir?

J2: Er könnte sich im Klo verbarrikadieren.

J3: (ironisch) Was für eine geile Idee!

J1: Ne, das merken die sofort.

J4: Unter den Sitzen kannst du dich verstecken.

J1: Hast du schon mal da drunter geschaut wie staubig es dort ist? Da muss er ständig niesen… Und dann verrät er nicht nur sich.

J3: Haben der Herr Professor eine bessere Idee?!

J1: Im Moment nicht.

Die FRAU: Wir packen ihn einfach oben ins Gepäcknetz.

J3: Da kracht er doch gleich runter.

Die FRAU: Nein, so schwer ist er nicht. (zu J3) Ist das dein Rucksack, der dort liegt? Das ist doch dein Rucksack?

J3: Ja.

Die FRAU: Dann nimm ihn runter.

J3 zögert.

Die FRAU: (eilig) Mach schon!

J3: Allein schaffe ich das nicht.

Die FRAU: (zu J2) Hilf ihm.

J3 und J2 heben unter Ächzen den Rucksack von der Ablage.

J1 schaut wieder raus.

J1: Beeilt euch!

Die FRAU: (zu David) Du steigst jetzt dort hinauf. – Ach, warte. Du brauchst noch eine Unterlage, ist sonst zu hart. (zu J3) Gib mal deine Jacke.

J3: Ich?

Die FRAU: Hörst du schwer? Deine Jacke. 59

J3 reicht der Frau seine Jacke, die ihre Schuhe auszieht, auf die Sitze steigt. Trotzdem die Frau korpulent ist, fällt es ihr leicht. Die Frau legt oben die Jacke aus und reicht David ihre Hand.

David will nach oben steigen.

Die FRAU: Junge, Schuhe aus! Oder steigt ihr auch zu Hause mit den Schuhen auf die Polster?!

David zieht die Schuhe aus.

Die FRAU: Beeil dich ein bisschen, Junge.

David steigt nach oben. Die Frau bugsiert David ins Netz.

Die FRAU: Los, eure Jacken. Meine auch. (Zeigt auf ihre Jacke, die an ihrem Sitz hängt.)

Die Frau nimmt schnell nacheinander die Jacken legt sie über David, um ihn zu verstecken.

Die FRAU: So. (triumphierend zu den Jungs) Da staunt ihr, was?!

Die Tür des Abteils geht auf. Schaffner Dupont tritt ein.

SCHAFFNER DUPONT: Madame, was machen Sie da? Das Betreten der Sitze mit den Schuhen ist nicht gestattet!

Die FRAU: Monsieur, dessen bin ich mir durchaus bewusst. Aber wie Sie unschwer erkennen können, habe ich gar keine Schuhe an. Und nun wünsche ich Ihnen einen wunderschönen guten Tag und –ja- Sie bekommen sofort meine Fahrkarte zu sehen.

SCHAFFNER DUPONT: Hm. (zu den Jungs) Eure Tickets auch.

J3: Hey Monsieur, wir sind schon volljährig. Sie müssen uns siezen.

SCHAFFNER: Ihr seid nichts als rotzfrech und grün hinter den Ohren.

J3: Hey, immer schön cool bleiben, Alter. Wir sind Ehrenmänner.

Der Schaffner kontrolliert Fahrkarten.

SCHAFFNER DUPONT: (im Gehen) Saubande.

J1: Auf Wiedersehen, Monsieur. 60

Des Schaffners Blick streift unwillkürlich den Rucksack von David, der auf seinem Sitz liegengeblieben ist. Der Schaffner bleibt stehen, dreht sich langsam zum Rucksack um, nimmt ihn hoch. J1 will dazwischen gehen und nach dem Rucksack greifen.

J1: Lassen Sie Ihre Hände von dem Rucksack!

SCHAFFNER DUPONT: (eiskalt) Immer schön sachte.

Der Schaffner wehrt ihn ab, hat den Rucksack in der Hand, inspiziert ihn.

SCHAFFNER DUPONT: So einen habe ich heute schon mal gesehen.

Schweigen.

Die FRAU: Tatsache.

SCHAFFNER DUPONT: Ja, exakt so einen.

Die FRAU: Es gibt viele davon.

SCHAFFNER DUPONT: Mag sein.

Die FRAU: Wenn Sie ihn mir eben reichen würden.

SCHAFFNER DUPONT: Warum sollte ich das tun?

Die FRAU: Vielleicht, weil er mir gehört?!

SCHAFFNER DUPONT: Tatsache.

Die FRAU: Also?! (Streckt den Arm aus.)

SCHAFFNER DUPONT: (macht die Seitentasche auf, aus der ein Ohr vorschaut) Und was haben wir denn da! (Holt Hasi raus.) So einen hübschen Hasen! Mich dünkt, dass ich so einen heute auch schon mal gesehen habe...

Die FRAU: Gut möglich. Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir jetzt meinen Rucksack zu geben.

SCHAFFNER DUPONT: Sind Sie sich sicher, dass das auch wirklich Ihr Rucksack ist?

Die FRAU: Absolut.

SCHAFFNER DUPONT: Es ist ein Kinderrucksack. Mit einem Plüschtier in der Seitentasche. – Wo ist er?

Die FRAU: Wer? 61

SCHAFFNER DUPONT: Der Junge.

Die FRAU: Welcher Junge? –

SCHAFFNER DUPONT: Der Junge!

Die FRAU: Ach so, ja, hier! Hier haben Sie vier davon, schon etwas größer. Keine Jungen mehr, sondern Männer.

SCHAFFNER DUPONT: Veralbern Sie mich nicht.

Die FRAU: Das würde ich nie wagen.

Der Schaffner schaut sich im Abteil um. Schaut nach oben zu den Gepäckablagen. Gespannte Stille.

SCHAFFNER DUPONT: Was liegen denn dort oben für Kleidungsstücke?

Die FRAU: Kleidungsstücke. Wie Sie eben richtig bemerkt haben. Passten nicht mehr in die Koffer. Ziehen wir, wenn wir aussteigen alle übereinander, dann müssen wir sie nicht tragen.

Der Schaffner schaut irritiert.

Die FRAU: Erfahrene Reisende machen das so. Auch wenn man fliegen will und zu viele Kilos in den Koffern hat, dann nimmt man ein paar Sachen raus und zieht sie alle-

SCHAFFNER DUPONT: Schon gut.

Die FRAU: Ich wollte es Ihnen nur veranschaulichen.

Der Schaffner macht eine wegwerfende Geste und schaut mühsam unter die Sitze. Sein Kreuz schmerzt ihn dabei sichtlich. Erneut gespannte Stille.

Die FRAU: (mit vorgetäuschter Empörung) Was machen Sie denn da? Haben Sie etwa vor, mir unter den Rock zu schauen?! Monsieur, Sie sind ein Wüstling!

Der Schaffner erhebt sich wieder. Hat immer noch den Rucksack in der Hand.

SCHAFFNER DUPONT: Mitnichten, Madame. – Sie behaupten also im Ernst, dass dieser Kinderrucksack Ihnen gehört?

Die FRAU: Ja. Nein! - Ich behaupte es nicht, es ist so. Und wenn Sie’s genau wissen wollen – (lasziv) ich stehe auf Kinderrucksäcke und Plüschtiere. Und wenn Sie’s noch 62 genauer wissen wollen (steht auf nähert sich ihm langsam) – ich stehe auch auf kleine Jungs. Und mit solchen Sachen kann man sie auch ganz leicht um den Finger wickeln… (Nutzt den Überraschungsmoment und reißt dem Schaffner den Rucksack aus der Hand.)

Der Schaffner erschrickt.

SCHAFFNER DUPONT: (verwirrt und empört) Das muss ich mir nicht bieten lassen. Das muss ich mir nicht bieten lassen! Und das mir. Solche Respektlosigkeit einem gestandenen Eisenbahner gegenüber. (Geht, man hört ihn noch.) Dass ich so etwas erleben muss…Das muss ich mir nicht bieten lassen…

Alle lachen.

J3: (zur FRAU) Dem haben Sie’s aber ganz schön gezeigt!

Die FRAU: Du siehst, mein Junge, mit ein bisschen Charme zwingst du auch den härtesten Kerl in die Knie. – Kleiner, wie geht’s dir?

Schweigen.

Die FRAU: Ich meine dich da oben, lebst du noch?

David steckt den Kopf raus und grinst.

PARIS, Bahnhof(Gare Montparnasse)und Métro. NACHMITTAG/INNEN.

Paris. Ankunft an der Gare Montparnasse. David steigt aus dem Zug aus. Der Schaffner läuft den Bahnsteig entlang und entdeckt ihn.

SCHAFFNER DUPONT: Ich hab’s doch gewusst. (Stürzt auf David zu.)

David erschrickt und flieht in die Menschenmenge der Bahnsteige. Er kommt an einem Zeitungskiosk vorbei und studiert die Überschriften der Tageszeitungen. Eine lautet: „Paar ermordet am Strand aufgefunden“. David erschrickt wieder, ist wie paralysiert. Ein Bild vor seinem geistigen Auge/Halluzination: Die Eltern fahl und leblos am Strand liegend. Plötzlich schlägt die Mutter die Augen auf und Tränen stürzen heraus. Sie spricht zu David „Mein liebes Kind, warum hast du uns das angetan?“- David erwacht, geht unsicher näher an den Zeitungsstand ran, liest die 63

Unterschrift: „Am Strand von Antibes wurde gestern am frühen Morgen ein Paar mit jeweils drei Schussverletzungen tot von einem Spaziergänger aufgefunden“.

David ist erleichtert, geht zur Métro, sucht sich seine Richtung aus, schlüpft unter den Schranken durch. Métro. (da kann man die Métro innen sehen, die Stationen, die vorbeirauschen, die eine voll, die andere halbleer, David stehend und sitzend, Passanten in langen Umsteigepassagen. Schnelle Wechsel. Die Stadt ist lärmend, schnell und hektisch – das darf sehr im Gegensatz zur bisherigen Lautstärke und zum bisherigen Tempo stehen)

David schaut in seinen Rucksack, wo Hasi jetzt ist.

DAVID: (flüstert) Wir sind bald zu Hause, Hasi. Du brauchst keine Angst mehr zu haben.

Der ältere Herr neben ihm schaut ihn irritiert an. Ausstieg.

VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. NACHMITTAG/AUSSEN.

David kommt in seine Straße, es ist Nachmittag. Die Straße ist belebt. David kommt an einem Gemüse- und Lebensmittelladen vorbei. Der Besitzer Joseph Klausner steht draußen und unterhält sich mit einer Kundin.

KUNDIN: Monsieur Klausner, dass Sie sogar am Sonntag immer hier sind…

Monsieur KLAUSNER: Das Geschäft schläft nie. Und außerdem, Sie wissen doch, ich feiere Shabbat, und der ist am Freitagabend. Also nix Sonntag.

Eine andere Einkäuferin ist soeben hinzu getreten. Monsieur Klausner dreht sich um.

Bonjour, Madame Lajewski, wie geht es Ihnen? Schöner Tag heute, nicht?

Mme. LAJEWSKI: Ach, immer dieselben Zores, Monsieur Klausner. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich mit meinem Sohn machen soll. Er war im letzten Jahr nicht ein einziges Mal in der Synagoge. 64

M. KLAUSNER: Sie sagen es. Zores. Nichts als Zores mit den Kindern. Zippora kommst du mal eben! Madame Lajewski ist hier.

Zippora taucht auf und begrüßt Madame Lajewski. Monsieur Klausner sieht David, der ungesehen vorbei eilen will.

M. KLAUSNER: Bonjour, David, ca va, toi?

DAVID: Bonjour, Monsieur Klausner.

David will schnell weiter gehen.

M. KLAUSNER: David, warte! Hier, für dich. Die sind heute frisch reingekommen und besonders gut. (Reicht ihm eine Tüte dunkelroter Kirschen.) Und grüß mir deine Eltern!

DAVID: Merci, Monsieur.

M. KLAUSNER: (irritiert zu Zippora) Sind die Féghoulis nicht erst letzte Woche in die Ferien gefahren?

ZIPPORA: Ja, warum?

M. KLAUSNER: Was macht dann der Junge hier… Merkwürdig.

FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. NACHMITTAG/AUSSEN.

Die Familie sitzt draußen auf der Terrasse und ist beim Kaffeetrinken.

Agnès und Virginie essen ihren Kuchen, vornehm. Rodolphe hat seinen Kuchen nur halb gegessen, er liest Zeitung. Guillaume und Théophraste spachteln, was das Zeug hält.

AGNES: (zaghaft zu Rodolphe) Chérie, warum isst du denn deinen Kuchen nicht?

Rodolphe gibt keine Antwort, aber eine körperliche Reaktion (z.B. Umblättern) zeigt, dass er die Frage gehört hat.

AGNES: Rodolphe, warum isst du denn deinen Kuchen nicht? - Schmeckt er dir nicht? – Du isst ihn doch sonst so gern…

Pause.

AGNES: (sehr gereizt zu Guillaume und Théophraste) Jetzt reißt euch zusammen und esst wie anständige Menschen.

GUILLAUME: (mit vollem Mund) Wir haben Bauernminute. 65

AGNES: Bitte?

THEOPHRASTE: (lauter) Bauernminute!

AGNES: Und was bedeutet das, wenn ich fragen darf?

GUILLAUME: Geregelter Exzess bei Tisch, wenn du verstehst wovon ich spreche.

AGNES: Nein, ich verstehe gar nichts. Ich sehe nur, dass ihr esst wie die Ferkel.

GUILLAUME: Exakt. Darum geht’s.

THEOPHRASTE: Exakt. Darum geht’s.

AGNES: Ich möchte euch bitten, euch anständig zu benehmen. Wozu habe ich euch Manieren beigebracht?!

GUILLAUME: Leider nicht möglich. Bauernminute ist noch nicht um.

THEOPHRASTE: Noch nicht um.

AGNES: Rodolphe, jetzt sag‘ doch mal was!

RODOLPHE: Hm. (liest weiter)

AGNES: Rodolphe, ich rede mit dir!

RODOLPHE: (nimmt die Zeitung behäbig runter, desinteressiert zu den Kindern) Ihr habt gehört, was eure Mutter gesagt hat. (Nimmt die Zeitung wieder hoch.)

VIRGINIE: Ich finde euer Benehmen auch widerlich.

GUILLAUME: Halt die Klappe.

THEOPHRASTE: Genau. Du hast uns nämlich gar nichts zu sagen.

VIRGINIE: Maman, ich finde, unter diesen Umständen solltest du Guillaume die Party heute Abend verbieten und Théo die Spielkonsole wegnehmen.

THEOPHRASTE: Ey, Mann, du blöde Kuh! (Zieht Virginie an den Haaren.)

VIRGINIE: Au, das tut weh! Lass mich los, du kleine Bestie! (haut nach ihrem Bruder) 66

THEOPHRASTE: (scheinheilig) Maman, ich hab Virginie heute Mittag gesehen wie sie heimlich deinen Lippenstift ausprobiert hat-

VIRGINIE: Halt die Klappe!

THEOPHRASTE: Manchmal zieht sie auch deine hohen Schuhe an und läuft damit durchs Haus…

VIRGINIE: Théo, du Mistvieh! (Haut wieder nach ihrem Bruder.)

GUILLAUME: Pass nur auf deine BHs auf! Auch die sind vor unserer heiligen Schwester nicht sicher! (Lacht.)

THEOPHRASTE: Und sie liest Zeitungen mit Sex-Seiten drin!

VIRGINIE: (wütend mit Tränen) Ihr seid so gemein! Ich hasse euch! (Springt auf und läuft davon.)

Agnès ist konsterniert, Rodolphe hat die Zeitung etwas sinken lassen. Kurzes betretenes Schweigen. Rodolphe nimmt die Zeitung wieder hoch.

Théophraste rülpst laut.

AGNES: Théophraste! Reiß dich zusammen!

GUILLAUME: (prustet mit vollem Mund) Zusammenreißen – was für ein Wort! (Imitiert seine Mutter.) Jetzt reiß dich zusammen! Jetzt reiß dich bitte zusammen! - Wie bitte soll man sich denn zusammen-reißen?! (Lacht laut, verschluckt sich, hustet, spuckt dabei etwas Kuchen aus.)

AGNES: Rodolphe, bitte, sprich endlich ein Machtwort!

RODOLPHE: (zu Agnès) Deine Erziehung.

AGNES: Was? Wieso meine Erziehung?! Es sind genauso gut deine Kinder! – Ja, natürlich, ich hab ja vergessen, dass du nie zu Hause bist!

RODOLPHE: Ach, und wo bin ich jetzt grad? Ich dachte schon, dass ich hier zu Hause bin…

AGNES: Ja jetzt grade bist du da und verschanzt dich hinter deiner Zeitung. Aber sonst! Wo bist du denn die meiste Zeit?! Hier nicht! Wir sehen dich so gut wie nie! 67

RODOLPHE: (lässt die Zeitung sinken, sehr gereizt) Irgendjemand muss ja das Geld nach Hause bringen, das du ausgibst.

AGNES: Ich? Wieso ich?!

RODOLPHE: Wer bezahlt denn das hier alles? Hm?! Und deine neuen Kleider jeden Monat, jede Woche einmal Friseur, dann Maniküre und Pediküre bei Francine, Massage und Schlammpackung bei Yvonne, das tägliche Kaffeetrinken bei Beauchamps mit Monica… hein?! Wer bezahlt das?!

AGNES: Ich gebe lange nicht so viel Geld aus wie du! Du mit deinen Wetten auf der Rennbahn! Und mit deinen Weibern! Ich weiß doch ganz genau, dass du oft nur sagst, du müsstest lange arbeiten, und dass du dich in Wirklichkeit mit anderen Frauen triffst! Hast du wirklich geglaubt, ich merke das nicht?! So dumm bin ich nicht. Ich weiß, du hälst mich für blöd. Das ist doch die, die nur putzen und kochen kann…

RODOLPHE: Beides kannst du nicht. (Steht auf, schmeißt die Zeitung auf den Tisch und geht.)

AGNES: Wo gehst du hin?

RODOLPHE: Ich wüsste nicht, was dich das angeht. (Geht.)

Guillaume und Théophraste haben inzwischen aufgehört zu essen. Anspannung. Guillaume springt plötzlich wütend auf, stößt an den Tisch, ein Glas mit Saft fällt um.

AGNES: Guillaume!

GUILLAUME: So eine Scheiße! (Geht.)

AGNES: Guillaume! Jetzt mach die Sauerei wieder weg, die du angerichtet hast!

Théophraste steht wortlos vom Tisch auf.

AGNES: Wo gehst du hin? Hab ich dir erlaubt, vom Tisch aufzustehen?

THEOPHRASTE: Ich hasse dich. (Läuft weg.)

Agnès bleibt mit dem chaotischen Kaffeetisch allein und sitzt zusammengesunken. Das Telefon klingelt. Agnès eilt ins Haus. Am Apparat ist Mémé Gertrude.

68

Telefonat Agnès-Mémé Gertrude.

Wünschenswert wäre zumindest teilweise eine Bildteilung, so dass man beide Gesprächsteilnehmer sieht.

AGNES: Maman!

GERTRUDE: Bonjour, ma petite fille, ca va, toi?

AGNES: (schluchzt) Ja, ja.

GERTRUDE: Agnès, was ist denn los mit dir? Du weinst ja.

AGNES: Ach, Rodolphe, die Kinder. Irgendwie wächst mir das alles über den Kopf.

GERTRUDE: Was ist denn passiert, mein Kind?

AGNES: Ach, Maman, es ist schrecklich! (Schluchzt.)

GERTRUDE: Nun erzähl schon. Was ist passiert?

AGNES: Rodolphe hat eine andere!

GERTRUDE: Agnès, wie kommst du denn darauf? Also das glaube ich nun wirklich nicht.

AGNES: Doch! Wenn ich es dir sage! Wer weiß wie lange das schon geht.

GERTRUDE: Rodolphe liebt dich. Nein, er hat bestimmt keine andere Frau. – Naja, und wenn schon. Das kommt in den besten Ehen vor, und es heißt noch lange nicht, dass er sich scheiden lassen wird. Allein der Kostenfaktor bei einer Scheidung –

AGNES: Maman!

GERTRUDE: Ja, entschuldige, mein Kind. Du hast Recht. Ich sollte so nicht reden. Trotzdem muss ich dir sagen, dass so ein bisschen außerehelicher Sex einem Mann durchaus guttut und auch deine Ehe frischhalten kann. Also, dein Vater und ich -

AGNES: (lauter) Maman!

GERTRUDE: Ja, schon gut. Ich will dir nur sagen, mein Kind, das ist alles nicht so schlimm. Rodolphe ist der anderen überdrüssig, so schnell kannst du gar nicht schauen. Spätestens in dem Moment, in dem die andere Frau anfängt, 69

Forderungen zu stellen, lässt er sie fallen und ist wieder vollkommen bei dir.

AGNES: Er ist so gut wie nie zu Hause.

GERTRUDE: Das ist normal in solcher Situation.

AGNES: Er redet nicht mehr mit mir.

GERTRUDE: Das ist bedenklich.

AGNES: Er isst nicht mal mehr seinen Lieblingskuchen.

GERTRUDE: Das ist schlimm.

AGNES: Sag ich doch!

GERTRUDE: Kind, gib deinem Mann Zeit, stell ihm keine Fragen, mach ihm keine Vorhaltungen, mit anderen Worten: geh ihm nicht auf die Nerven, koche ihm was Gutes und verführe ihn im rechten Moment. So hab‘ ich das mit deinem Vater auch immer gehalten.

AGNES: Was? Papa hat auch…?

GERTRUDE: Natürlich, was denkst du denn! Auch ich war kein Kind von Traurigkeit.

AGNES: Und ich dachte immer, dass ihr beide…

GERTRUDE: Wir beide haben eine ganz normale gute Ehe geführt. – À propos, mein Kind, hast du was von Claudine gehört?

AGNES: (immer noch verheult) Ich hab gestern Nachmittag mit ihr telefoniert. Hat sie dich immer noch nicht angerufen?!

GERTRUDE: Warum sollte sie?

AGNES: Wegen Papas Todestag!

GERTRUDE: Schatz, sie ist im Urlaub. Da kann man das schon mal vergessen.

AGNES: Nein! Kann sie nicht! Ich hab sie dran erinnert, dass sie dich anrufen soll. Na, die kann was erleben!

GERTRUDE: Agnès! – Sie wird sich bestimmt noch melden.

AGNES: Sie ist so nachlässig.

GERTRUDE: Meine Große. So warst du schon immer. Hast dich um alles und jeden gesorgt und gekümmert. Es ist gut, dass 70 ich mich so auf dich verlassen kann. Ich liebe dich, mein Kind. So, jetzt muss ich aber los! Rainier und ich machen eine Fahrt ins Blaue.

AGNES: Wer bitte ist Rainier?

GERTRUDE: Ein anderes Mal, mein Schatz. Salut! (Legt auf.)

PARIS, bei David zu Hause. NACHMITTAG/AUSSEN.

David gibt den Zugangscode an der Haustür ein und geht hinein.

INNEN.

Mimi steckt den Kopf zur Wohnungstür raus, in dem Moment als David leise nach oben steigen will.

MIMI: David!

David dreht sich erschrocken um.

MIMI: Wie war’s am Meer? Hast du mir was mitgebracht?

David dreht sich wieder um und steigt schnell nach oben. Sucht den Schlüssel in seinem Rucksack, schließt auf, geht hinein, schließt von innen wieder zu. Atmet durch. Geht langsam in der Wohnung umher und schließlich in die Küche. Sucht die Schränke nach Essbarem ab. Findet im unteren Schrank ein paar Konserven, holt sie alle raus, schaut, was drinnen ist, sucht sich eine aus.

Das Telefon klingelt. David erschrickt. Der AB schaltet sich ein. Ansage: „Bonjour, das ist der Anrufbeantworter von David, Claudine und Amésian Féghouli. Wir sind zur Zeit nicht da, aber ihr könnt uns gern eine Nachricht hinterlassen.“

Eine Stimme spricht: Salut Claudine, c’est Nathalie, hör mal, die Springer hätten dich gern wieder für die nächste Saison als Trainerin. Und diesmal, Claudine, das ist der Hammer, sollst du nicht nur die U21 trainieren, sondern die Damen für die französische Meisterschaft! Jetzt kannst du deinem Mann ernsthaft Konkurrenz machen. (Lacht.) Melde dich! Ich probier‘s auch nochmal auf deinem Handy. (Klick vom Auflegen.) 71

Claudines Handy klingelt. David bleibt stehen, wartet bis es aufhört.

David, die Büchse in der Hand, geht zum Herd. Sucht einen Topf, dann den Dosenöffner. Er probiert ein paar Mal bevor es ihm gelingt, die Dose zu öffnen.

David isst vor dem Fernseher und schläft ein.

Traum: Zunächst schöne Bilder aus den Ferien, die dann in bedrohliche umschlagen: vom Grillen am Ferienhaus; Federball zu dritt im Garten; Fahrt mit der Touristenlock in La Tranche und die singenden Kinder; Strandleben. Dann der weite Ozean und die Umrisse der schwimmenden Eltern, die plötzlich verschwinden; der Ozean ist auf einmal menschenleer. Bilder von der Festung und vom Vater, der sagt: „Denk an Fort Boyard, mein Sohn. Ein Aufenthalt in Fort Boyard ist unangenehm und Flucht unmöglich.“ - Küche und Salon von Arnavons. Am großen Esstisch sitzen Agnès, Rodolphe und die drei Kinder. Alle stopfen gierig ein großes, überdimensioniertes Stück fetter Sahnetorte in sich hinein. In der Mitte des Tisches steht noch die übrige Hälfte der riesigen Torte. David betritt die Räumlichkeit mit seinem orangefarbenen Rucksack in der Hand. Agnès steht behäbig auf, geht auf David zu und sagt: „Komm!“ - Agnès und David betreten einen kleinen dunklen Raum, in den nur durch ein oben in der Wand eingelassenes, kleines und vergittertes Fenster etwas Licht einfällt. Auf dem Boden liegt eine Matratze mit einer braunen Filz-Decke darauf, daneben steht ein Stuhl. Man sieht Agnès wie sie auf den Stuhl einen Teller mit einer Scheibe trockenem Brot und daneben ein Glas Wasser stellt. Sie sagt: „Ausländer wollen wir oben nicht haben“, und geht. David bleibt allein, man hört die Tür zuklappen und die Stimmen der Kinder von oben im Singsang: „Häschen in der Grube saß da und schlief, saß da und schlief. Armes Häschen bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst. Häschen hüpf! (wildes und triumphierendes Lachen.)“

David erwacht schweißgebadet, schaut sich irritiert um, macht den Fernseher aus, schaut auf die Straße (inzwischen ist es dunkel, die Uhr zeigt 2.30 h), zieht die Vorhänge vor die Fenster und geht ins Bett. Dreht sich mit Hasi im Arm um.

72

MONTAG, 11. AUGUST, BEI DAVID ZU HAUSE. NACHMITTAG/INNEN.

David hockt sich vor den Fernseher. Macht die Spielkonsole an, spielt Fußball. Geht in die Küche, sucht sich wieder was Essbares (Cornflakes). Isst vor dem Fernseher. Schaut auf die Straße. Schläft. Kampf mit einer Büchse, die er zunächst nicht öffnen kann. Isst vor dem Fernseher. Schaut zwischendurch die Handys der Eltern an. Da sind ein paar unbeantwortete Anrufe zu sehen. Spielt mit der Konsole. Schläft vor dem Fernseher.

DIENSTAG, 12. AUGUST, BEI DAVID ZU HAUSE. NACHMITTAG/INNEN.

Ähnlich wie Montag. Unterschied im Ablauf und in dem, was David isst. Der Müll in der Küche und im Wohnzimmer und die Unordnung in der Wohnung haben wesentlich zugenommen. Schaut wieder auf die Handys. Beide sind ausgegangen. Wieder ein Anruf, eine Stimme, die auf den AB spricht.

Eine Stimme: Claudine, nochmal Nathalie. Ich erreiche dich nicht. Dein Handy ist auch aus. Serge will wissen, ob du den Job übernimmst. In zwei Wochen soll das Training beginnen. Er muss sonst jemand anderen engagieren, will aber dich haben. Claudine, das ist deine Chance! Also melde dich.

MITTWOCH, 13. AUGUST, BEI DAVID ZU HAUSE. ABENDS 19h/INNEN.

Es klopft. David macht vorsichtig auf. Er ist im Schlafanzug. Mimi steht vor der Tür.

MIMI: Hallo David.

DAVID: Hallo. – Was willst du?

MIMI: Ich wollte dich besuchen. – Lässt du mich rein?

DAVID: Nein.

MIMI: Ich wollte doch so gern vom Meer hören…

Mimi geht frech an David vorbei in die Wohnung.

MIMI: Es ist so dunkel. (Schaut sich um.) Ja, du musst ja auch die Vorhänge aufmachen. (Geht auf die Fenster im Wohnzimmer zu.) Und die Fenster auch. 73

DAVID: (hält sie zurück) Nicht! Das soll alles so bleiben…

Mimi schaut David erstaunt fragend an und geht in die Küche. Dort liegen die leeren Büchsen. Leere Verpackungen von etwas Essbarem. Andere Büchsen stehen auf dem Tisch etc. der Abwasch stapelt sich.

MIMI: Bei euch ist es aber unaufgeräumt. Das würde meine Mutter nie erlauben. (Sammelt die leeren Verpackungen zusammen.)- Wo sind denn deine Eltern?

DAVID: Nicht da.

MIMI: Wo ist euer Mülleimer?

David zeigt auf den Eimer.

MIMI: Komm, hilf mir, wir müssen alles aufräumen bevor deine Mutter kommt. Sonst bekommst du bestimmt einen Riesenärger. Und zieh dir was Anständiges an.

DAVID: Sie kommt nicht.

Mimi stutzt.

DAVID: Nein. Sie kommt bestimmt nicht.

David geht ins Wohnzimmer, schaltet den Fernseher an, beginnt mit seiner Konsole Fußball zu spielen.

LA TRANCHE SUR MER, Strand. ABENDS 19h/AUSSEN.

Ein Mann (Mr. Feugeas) steht neben dem Auto von Féghoulis hinter der Düne und telefoniert.

Mr. FEUGEAS: Wenn ich es Ihnen doch sage. Das Auto wurde seit drei Tagen nicht bewegt…. Ja, ich war jeden Tag hier und habe nie jemanden bei dem Auto gesehen…. Woher soll ich das wissen?.... Pariser Kennzeichen….. Ich hielt es lediglich für meine Pflicht, Sie zu informieren. Man kann ja nie wissen…. Ja, ich warte. Auf Wiederhören.

PARIS, bei David zu Hause. ABENDS 19h05/INNEN.

Mimi setzt sich neben David aufs Sofa.

MIMI: Welche sind denn deine? 74

DAVID: Die Franzosen natürlich.

MIMI: Und wer sind die anderen?

DAVID: Die Deutschen.

MIMI: Und warum spielst du gegen Deutschland?

DAVID: Mann! Das ist ja wohl klar. Die Deutschen sind amtierender Weltmeister. Aber ich mache sie platt.

David spielt. Mimi schaut zu.

DAVID: Willst du mal?

Mimi schüttelt den Kopf. David spielt weiter.

MIMI: Warum kommt deine Maman nicht? Wo ist sie denn?

DAVID: Mein Vater kommt auch nicht.

LA TRANCHE SUR MER, Strand. ABENDS 19h05/AUSSEN.

Ein Polizeiauto mit einem Polizisten (Yannick, ca. 40) und einer Polizistin (Julie, ca. 20) kommt. Sie halten neben dem Auto von Féghoulis, wo auch Monsieur Feugeas wartet.

YANNICK: Bonjour Monsieur, Sie haben uns angerufen? Das ist Inspektor Lescaut. (Deutet auf Julie.) Ich bin Oberinspektor Le Bihan.

M. FEUGEAS: Bonjour. Ja, das war ich. Feugeas, mein Name. Das ist der Wagen um den es sich handelt.

YANNICK: Hm. Pariser Kennzeichen. Julie, würdest du dir das eben mal notieren.

M. FEUGEAS: Wie ich bereits sagte. Und jetzt würde ich Ihnen gern noch etwas anderes zeigen. Kommen Sie!

YANNICK: Julie, bleibst du eben beim Auto?

JULIE: In Ordnung.

Monsieur Feugeas und Yannick gehen runter zum Strand. Man sieht im Sand an den Dünen etwas Rotes durchleuchten und noch ein paar verwehte Sachen.

M. FEUGEAS: Da vorn. - Hier. Das meine ich. Ich habe den Eindruck, dass die Sachen hier auch schon ein paar Tage liegen. 75

YANNICK: (hockt sich hin und beginnt, die Sachen auszubuddeln) Das ist in der Tat merkwürdig.

PARIS, bei David zu Hause. ABENDS 19h15/INNEN.

MIMI: Und jetzt?

DAVID: Nichts.

MIMI: Aber du kannst doch hier nicht alleine bleiben?

DAVID: Doch kann ich. Siehst du doch.

MIMI: Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert.

DAVID: Brauch ich gar nicht.

MIMI: Jemanden, der dich versorgt.

DAVID: Quatsch. Ich kann mich allein versorgen.

MIMI: Ach. Und wie?

DAVID: (zuckt mit den Schultern) Wird schon gehen.

MIMI: Hast du Geld? – Wovon willst du was zu essen kaufen? – Die Miete bezahlen?

DAVID: (denkt nach) Miete. - Keine Ahnung… Ist das viel?

MIMI: Siehst du! Es muss sich jemand um dich kümmern. Deine Großeltern. Oder hast du eine Tante und einen Onkel?

DAVID: Ne! Auf gar keinen Fall. Die kann ich nicht leiden.

MIMI: Aber du kannst hier nicht allein bleiben!

DAVID: Doch ich kann. Ich gehe zu niemandem. Hörst du?! Zu niemandem!

MIMI: Aber warum denn nicht?

DAVID: Weil sie schrecklich sind! - Und mich hassen. Weil mein Papa Algerier ist… war… Und ich bin ein halber. Jedenfalls hassen sie mich…

MIMI: Wenn du nicht zu deiner Tante willst, wird man dich ins Heim stecken.

DAVID: Ins Heim?

MIMI: Kinderheim. Und von dort hört man nichts Gutes. 76

David steht auf, geht zum Fenster, schaut auf die Straße hinaus. Das Bild der Straße verschwimmt mit seiner Halluzination: Man sieht eine riesige karge Halle, deren Fenster vergittert sind, darin endlos lange Tischreihen, an denen Kinder unterschiedlichen Alters, nach Jungen und Mädchen getrennt, in blasser uniformierter Kleidung und mit ausdruckslosen, fahlen und schmalen Gesichtern sitzen. David dazwischen. Am Kopf jeder Tischreihe sitzt eine schwarz gekleidete, erwachsene Aufsichtsperson. Einer der Aufseher/innen sagt: „Komm, Herr, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.“ Die Kinder antworten „Amen“, und stürzen sich auf ihre karge Suppe. Der Nachbarjunge zieht David seinen Suppenteller vor der Nase weg.- David dreht sich abrupt zu Mimi um.

DAVID: Du darfst niemandem etwas erzählen. Versprichst du, dass du niemandem etwas sagst?

MIMI: Aber-

DAVID: Du musst es schwören!

MIMI: David…

DAVID: Los! Schwöre!

MIMI: Ich schwöre.

DAVID: Beim Grab deiner-

MIMI: Hör auf mit dem Unsinn. Ich hab’s geschwört. (sic!) Das reicht.

Schweigen.

MIMI: Wir brauchen einen Plan.

FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. ABENDS, 19h15/INNEN.

Agnès ist grad am Kochen. Virginie kommt in die Küche.

VIRGINIE: Maman, was gibt’s denn heute zum Abendessen?

AGNES: Risotto.

VIRGINIE: Oh fein. Kann ich dir noch bei irgendetwas helfen? 77

AGNES: Nein danke, ma petite fille, nicht nötig. Ach, du könntest den Tisch decken. Für vier.

Im Hintergrund geht die Haustür.

AGNES: Guillaume? Théo? Abendessen ist fertig.

GUILLAUME: (von draußen) Was gibt’s denn?

AGNES: Risotto.

VIRGINIE: Kommt Papa nicht zum Essen?

AGNES: Er hat angerufen, dass er später kommt.

Guillaume erscheint, hinter ihm Théo und Yunus, ein arabischer Mitschüler von Guillaume.

GUILLAUME: Du weißt genau, dass ich so einen Scheiß nicht esse.

THEOPHRASTE: Ich auch nicht.

GUILLAUME: Hast du nicht was Richtiges? Was für Männer und keinen Rentnerbrei… (Macht eine Zahnlos-Grimasse.)

YUNUS: Bonjour, Madame Arnavon. Bonjour, Virginie.

THEOPHRASTE: Ja eben, ich brauche was Richtiges.

VIRGINIE: (zu Théo ihn imitierend) Ich brauche was Richtiges. Der kleine Papagei braucht was Richtiges.

GUILLAUME: Yunus bleibt heute hier. (Geht zum Kühlschrank.)

AGNES: (zögerlich) Haben seine Eltern das erlaubt?

YUNUS: Natürlich nur, wenn Sie einverstanden sind, Madame Arnavon.

AGNES: Ja, ja schon gut. Geht euch die Hände waschen.

THEOPHRASTE: (zu Yunus) Komm. (Beide gehen.)

Guillaume bleibt zurück, den Kühlschrank und den Gefrierschrank durchforstend.

AGNES: Guillaume, du hättest mich vorher fragen müssen.

GUILLAUME: Haben wir doch grad.

AGNES: Nein habt ihr nicht. Ihr habt mich vor vollendete Tatsachen gestellt. Du weißt ganz genau, dass dein Vater 78 und ich nichts von deinem Umgang mit diesen Arabern halten. Und jetzt bringst du mir auch noch einen von ihnen ins Haus.

Das Telefon klingelt.

AGNES: Virginie, geh mal bitte ran. Vielleicht ist es dein Vater. (zu Guillaume) Was suchst du eigentlich?

Im Hintergrund hört man Virginie mit Mémé Gertrude telefonieren.

VIRGINIE: Bonjour Mémé…. Oui, ca va. Und du?.....Ja, natürlich. Heute war ich mit Céline im Schwimmbad…… Keine Ahnung…………..Oh ja, das würde ich gern……… Das weiß ich auch nicht. Da musst du Maman fragen…………. Maman hat erzählt, dass du einen neuen Freund hast……………….Ich geb sie dir. Maman! Mémé Gertrude ist am Telefon.

GUILLAUME: Was Essbares. (Knallt den Gefrierschrank wieder zu.)

AGNES: Hast du mich verstanden? Ich will diese Araber nicht im Haus haben. Wer weiß-

GUILLAUME: Welche Krankheiten sie uns ins Haus schleppen, ob sie uns religiös infiltrieren oder gar eine Bombe unter dem Hemd tragen, um uns in die Luft zu sprengen… (Macht zwei Schüsseln Cornflakes zurecht, und setzt Wasser für zwei 5-Minuten-Terrinen auf.)

AGNES: Das habe ich nicht gesagt, aber dein Vater und ich sind nun mal der Meinung, dass diese Araber nicht zu uns passen.

GUILLAUME: Du meinst, sie sind nicht standesgemäß. –

Théo und Yunus erscheinen wieder.

YUNUS: Madame Arnavon, wenn es Ihnen zu viel Umstände bereitet-

GUILLAUME: Du bleibst hier! Im Übrigen, Yunus‘ Vater ist Professor für Literatur an der Sorbonne und seine Mutter-

YUNUS: Guillaume, es ist gut, wenn es heute nicht passt…

GUILLAUME: … eine bekannte Anwältin für Strafrecht.

VIRGINIE: (kommt, reicht Agnès den Hörer) Hier, Maman. 79

AGNES: Ja, danke. (zu Guillaume) Das wollt ihr essen?

GUILLAUME: Was Besseres gibt’s ja nicht.

AGNES: Hör mal, ich stehe hier seit einer Stunde in der Küche, um euch was Anständiges zu kochen!

GUILLAUME: Wenn du so lang brauchst.

AGNES: Virginie, Théo! Fangt schon mit dem Essen an bevor es kalt wird.

Agnès telefoniert (s.u.). Im Hintergrund: Théo sitzt bereits am Tisch, Virginie stellt das Essen auf den Tisch, setzt sich dazu und tut für beide aus. Guillaume und Junus machen sich ihr Essen zurecht. Dabei verschütten sie etwas Milch, die Verpackungen etc. liegen auf dem Tisch/Anrichte. Yunus macht einen Ansatz zum Aufräumen, Guillaume unterbindet das und schiebt Junus aus der Küche. Beide Dialoge laufen parallel, auch parallel zum Telefonat. So lange noch die Kinder die Handlung im Hintergrund sind, muss es keine Parallelmontage zwischen Agnès und Gertrude geben.

Virginie und Théo sitzen am Tisch, essen.

VIRGINIE: Du sollst ordentlich essen.

THEOPHRASTE: Mach ich doch.

VIRGINIE: Nein, du schmatzt! Das ist widerlich.

Guillaume und Yunus sind mit dem Anrichten ihrer Mahlzeit fertig. Yunus will aufräumen.

GUILLAUME: Lass.

YUNUS: Aber wir können doch deiner Mutter nicht einfach-

GUILLAUME: Die hat genug Zeit.

THEOPHRASTE: Ich schmatze, wann immer ich will. Das ist ein Zeichen, dass es schmeckt, sagt Guillaume, stimmt’s?

GUILLAUME: (im Gehen) Stimmt, Kleiner…

VIRGINIE: Wie kannst du dich nur so ungehobelt benehmen. Ich schäme mich, dass du mein kleiner Bruder bist.

THEOPHRASTE: Jetzt chill mal deine base, Alter.

VIRGINIE: Was hast du gesagt!? 80

THEOPHRASTE: Dass du mal auf den Teppich kommen sollst.

VIRGINIE: Ich erzähl‘ das alles Papa, wenn er kommt.

THEOPHRASTE: Da bist du längst im Bett.

Beide essen schweigend weiter. Plötzlich sieht man Théo aufstehen und Virginie eine Packung Taschentücher bringen. Sie nickt ihm dankbar zu.

Telefonat Agnés-Mémé Gertrude.

AGNES: Bonjour, Maman.

GERTRUDE: Ma fille, was ist denn bei dir los? Du machst einen etwas echauffierten Eindruck…

AGNES: Ach nichts weiter. Guillaume fehlt einfach eine starke Hand. Aber sein Vater ist ja so gut wie nie zu Hause. Théophraste schlägt ihm auch nach. Manchmal wächst mir das alles über den Kopf –

GERTRUDE: Das solltest du alles nicht so ernst nehmen. Guillaume ist mitten in der Pubertät und Théo ebenfalls bald mittendrin. Wie ist es mit Virginie? Sie macht dir doch keine Probleme? Weißt du, ich weiß ja nicht, ob du dich noch erinnerst, aber mit euch Mädchen war es auch nicht immer ohne. Wenn ich dran denke, wie ihr nachts heimlich aus dem Fenster ausgestiegen seid, um mit den Nachbarjungen ins Konzert von diesem… diesem… na, wie hieß denn dieser Sänger, auf den ihr damals so abgefahren seid?

AGNES: Johnny Hallyday. Aber das war nicht ich Maman, das war Claudine.

GUILLAUME: Nur Claudine? À propos-

AGNES: Guillaume! Guillaume, komm sofort zurück! Was soll denn das hier? Was glaubst du eigentlich, wer hier deinen Müll wegräumt?

GUILLAUME: (steckt den Kopf zur Tür rein) Dafür haben wir doch dich angestellt. (Verschwindet wieder.)

Théo lacht, Virginie haut ihn auf den Kopf.

THEOPHRASTE: Maman! Virginie schlägt mich! (Zieht seine Schwester an den Haaren und haut ab, Virginie hinterher.) 81

VIRGINIE: Warte, du Mistvieh!

AGNES: Wenn das so weitergeht, dann-

GERTRUDE: Ich habe deine Schwester immer noch nicht erreicht. Ich habe ihr bestimmt 20 Mal auf die Mailbox gesprochen. Und seit Montag ist ihr Handy aus.

AGNES: Vielleicht ist es kaputt. Probier‘s doch mal bei Amésian.

GERTRUDE: Hab ich doch schon. Dasselbe. Mailbox.

AGNES: Ja, dann weiß ich auch nicht.

GERTRUDE: Es wird doch nichts passiert sein?

AGNES: Meiner Schwester?! Nie im Leben!

GERTRUDE: Ich mache mir Sorgen.

AGNES: Brauchst du nicht.

GERTRUDE: Sich so lange nicht zu melden.

AGNES: Claudine war schon immer so. Hat nie an andere gedacht. Immer nur Ich, Ich, Ich. Es fällt ihr im Traum nicht ein, dass du dir Sorgen machen könntest. Damals bei Hallyday auch nicht.

GERTRUDE: Wie du von deiner Schwester redest.

AGNES: Du weißt, dass es stimmt.

GERTRUDE: Ach! – Ich hoffe, dass du Recht hast.

AGNES: Hab ich Maman, ganz sicher.

Es klingelt bei Gertrude.

GERTRUDE: Oh, das ist Rainier! Mach’s gut, ma fille. Und melde dich, wenn du was von deiner Schwester hörst. Ich mach mir wirklich Sorgen.

PARIS, bei David zu Hause. ABENDS, ca. 19h30/INNEN.

Mimi und David durchsuchen die Wohnung nach Bargeld.

David sucht im Wohnzimmer: Schrank, Kommode, Sofa./ Mimi sucht in der Küche Schränke und Behältnisse ab. 82

DAVID: (aus dem Wohnzimmer) Also hier ist nichts.

MIMI: Hier auch nicht. (Geht zu David.) Hast du auch alles gründlich abgesucht?

DAVID: Ja, natürlich!

MIMI: (zeigt auf eine große Vase) Hast du auch in die Vase geschaut?

David schaut in die Vase.

DAVID: (spricht in die Vase) Ich sehe nichts. Nur Dunkelheit.

MIMI: Warte mal. (Nimmt die Vase geht zum Fenster, schiebt den Vorhang leicht zur Seite.)

DAVID: Nicht!

MIMI: Wie soll ich denn sonst was sehen?! (Schaut in die Vase.) Nichts.

DAVID: Und nun?

MIMI: Ja, wir suchen im Badezimmer weiter.

Im Badezimmer. Beide knien vor den Badewannenfließen. Mimi klopft sie fachmännisch ab.

MIMI: Da gibt es immer eine, die lose ist. Weißt du, wo man ans Rohr ran kann, wenn’s verstopft ist. (Klopft weiter.) Ah, hier! (Zieht die Fliese raus.) Wollen doch mal sehen… (steckt den Arm rein und tastet) Nichts. (Mimi zieht den Arm wieder raus, der voller Schmutz ist.)

DAVID: Iii, du bist ja ganz schmutzig.

MIMI: Nicht schlimm. (Wedelt den Schmutz in Davids Richtung ab.) Spinnenbein und Fliegenschiss und noch Großmutters Gebiss.

DAVID: Iii!

Beide lachen. Sitzen auf dem Boden des Badezimmers.

DAVID: Wie kommst du darauf, dass hier irgendwo Geld ist?

MIMI: Erwachsene haben immer irgendwo Geld rumliegen.

Mimi steht auf, geht in den Flur und auf eine verschlossene Tür zu. 83

MIMI: Was ist dort?

DAVID: Das Arbeitszimmer meines Vaters.

Mimi ist an der Klinke.

DAVID: Da soll niemand rein…

Mimi macht die Tür auf.

MIMI: Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen.

Sie untersuchen Wandschrank, Schreibtisch, Lampenschirm der Stehlampe, drehen die Bilder um.

MIMI: Ja, hier ist dann wohl auch nichts – Aber irgendwo muss was sein.

DAVID: Ich hab doch gesagt, dass meine Eltern hier kein Geld haben. Papa wollte nie Geld im Haus haben wegen der Einbrecher.

MIMI: Maman hat immer Geld zu Hause, an vielen verschiedenen Orten. Damit ihr das Sozialamt nichts wegnehmen kann. Weißt du, wenn sie das Geld, was sie manchmal bei Monsieur Klausner verdient auf die Bank bringen würde, dann würden die ihr das sofort wegnehmen. Dann gäb’s am Sonntag nie petit four und nie Eis und nie Kino. Das Leben wäre schrecklich.

DAVID: (sinnend) Schrecklich.

Mimi geht wieder raus und auf eine andere verschlossene Tür zu, macht sie auf. Es ist das Schlafzimmer.

DAVID: (zögerlich) Hier willst du auch suchen?

MIMI: Ja, natürlich.

DAVID: Weißt du, wo deine Mutter ihr Geld versteckt.

MIMI: Ja natürlich.

DAVID: Das sagt sie dir so einfach?

MIMI: Warum denn nicht?

DAVID: Na, dann kannst du dir doch immer nehmen, was du brauchst…

MIMI: (energisch) Nein, das tue ich nicht. Meine Mama vertraut mir. Sie sagt immer, dass jeder auf der Welt 84 wenigstens einen Menschen braucht, vor dem er keine Geheimnisse haben muss. Meine Mutter wäre sehr enttäuscht von mir, wenn ich einfach Geld nehmen würde.

Mimi hat unterdessen Claudines Wäscheschrank/Kommode geöffnet und untersucht den Inhalt.

DAVID: Was soll ich tun?

MIMI: Die Matratzen!

David schaut verständnislos.

MIMI: Umdrehen, absuchen. Matratzen sind Standard.

Man sieht David die Matratzen seiner Eltern umdrehen und absuchen, Mimi sucht im Wäscheschrank/Kommode von Claudine.

DAVID: Warum habt ihr Geld vom Sozialamt? Deine Mama kann doch arbeiten gehen…?

MIMI: Seit dem Krebs und der Chemotherapie hat sie keine Kraft mehr.

David ist perplex. Mimi hebt ein Höschen/Dessous hoch.

MIMI: Wow, deine Mutter hat ja richtig Geschmack.

DAVID: Leg das wieder zurück!

MIMI: Schon gut. Es sieht halt schön aus.

Dann legt David die Matratze/n resigniert wieder richtig hin und lässt sich drauf plumpsen.

DAVID: Nichts.

MIMI: Hier ist auch nichts. (Setzt sich neben David.)

Kurzes Schweigen.

MIMI: Ich weiß, dass Geld da ist. (Schnüffelt.) Ich rieche es förmlich.

Mimis Blick fällt auf Claudines Nachttisch.

MIMI: Natürlich, da hätte ich gleich draufkommen sollen! (Steht auf, geht hin.)

DAVID: Nein! Der ist tabu!

MIMI: Quatsch. 85

DAVID: Doch! Das darfst du nicht. Maman will das nicht!

MIMI: (energisch) Aber deine Maman ist tot. (Macht die Schublade auf, sucht.)

David setzt sich wieder aufs Bett, traurig.

MIMI: (freudig) Ich hab’s doch gewusst! (Wedelt mit einem 50,- Euro-Schein.)

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Bilder von den Ferientagen in Paris:

Das sind die Ferientage, die jetzt vergehen, während der die Kinder versuchen, sich ein gutes Leben zu machen. Man merkt anhand festzulegender filmischer Details, dass ca. 1,5 Wochen bis zum nächsten „Ereignis“ vergehen.

1. BILD: „Jardin des Tuileries“. TAG/AUSSEN.

David und Mimi sind im Park (Tuileries) und spielen mit den Booten im Brunnen, bespritzen sich gegenseitig mit Wasser, sitzen in Stühlen und lesen jeder eine Zeitung, die ein Pariser zurückgelassen hat. Mimi hat die Tageszeitung, David das Magazin Paris Match.

MIMI: Tourist am Châtelet von Jugendlichen zusammengeschlagen.

DAVID: Was?!

MIMI: Steht hier. „In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag wurde auf dem Bahnhof der Linie 4 Châtelet-Les Halles ein japanischer Tourist von bisher nicht identifizierten Jugendlichen zusammengeschlagen. Der Mann wurde umgehend ins Hôpital Cochin eingeliefert, und liegt jetzt im Koma. Ob er den Anschlag überleben wird, ist weiterhin unklar.“

DAVID: Krass.

MIMI: Meine Mama hat mir verboten, allein zum Châtelet zu gehen. Sie sagt, dass das eine gefährliche Gegend ist, wo die ganzen Jugendlichen aus der Banlieue abhängen und ihre Drogen verkaufen.

DAVID: Ich glaube, ich war noch nie am Châtelet. 86

MIMI: Hast auch nichts verpasst. Ist hässlich, schmutzig und eine riesige Baustelle. Und was hast du zu bieten?

DAVID: Bei mir steht, dass Président Hollande wieder eine neue Freundin hat. (Hält Mimi die Zeitung hin.) Hier, mit Bild.

MIMI: Oh, die ist wirklich hübsch. Sieht auch schöner aus als seine Frau, findest du nicht? Aber sie ist viel jünger…

DAVID: Und hier: „Carla Brunis Rückkehr in die Modewelt. Diesen Freitag war es die Ehefrau des ehemaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy, die im Hof des Louvre bei der Dior-Schau alle Blicke auf sich zog“ -

MIMI: Und wen, bitte, interessiert das?

David zuckt mit den Schultern. Mimi nimmt David das Magazin aus der Hand und schaut auf den Titel.

MIMI: Paris Match.- Oh, da ist wieder ein Boot frei! (Schmeißt das Heft weg und läuft auf den Brunnen zu.)

(Anm.: die faits divers aus Paris Match sollten der aktuellen Situation angeglichen sein)

2. BILD: „Jardin du Luxembourg“.

Mimi holt beim Bäcker Pain au chocolat, nimmt die Tüte und rennt aus dem Laden zu David, der auf der anderen Straßenseite stehengeblieben ist. Mimi und David rennen in den Jardin du Luxembourg. Die Bäckersfrau fuchtelt ihnen wild hinterher. David und Mimi essen im Jardin und sehen ein Stück von Le Grand Guignol. Mimi mahnt zum Aufbruch wegen ihrer Mutter, Mimi und David treten aus dem Park, schütteln sich den weißen Staub von den Füßen, witzeln darüber, dass so jeder sehen kann, woher sie grad kommen

BÄCKEREI. NACHMITTAG/INNEN.

MIMI: Zwei Pain au chocolat, s’il vous plait.

BÄCKERIN: Noch etwas dazu?

MIMI: Non, merci, Madame.

Mimi nimmt die Tüte. 87

MIMI: Merci, Madame!

Mimi läuft aus dem Laden, vorbei an einer Schlange wartender Kunden, die sich alle verwundert umdrehen.

BÄCKERIN: Halt! Du hast noch nicht bezahlt! – Das darf doch nicht wahr sein! Diese Kinder heutzutage! (Rennt hinter der Ladentheke vor zur Tür.)

Ein KUNDE: Immer mehr Kriminelle sind in der Stadt.

Eine KUNDIN: Ich sage Ihnen, das sind vor allem die Ausländer.

BÄCKERIN: (winkt in der Tür) Halt! Mein Geld! Mon Dieu! Das darf nicht wahr sein! Die fangen immer früher mit dem Klauen an. Demnächst ist man nicht einmal mehr vor Babys mit dem Schnulle (sic!) im Mund sicher…

JARDIN DU LUXEMBOURG. AUSSEN.

MIMI: (lachend auf David zurennend) Komm, schnell, bevor sie noch die Polizei holen… (Nimmt David an der Hand und zieht ihn zum Eingang des Jardin du Luxembourg.)

DAVID: Und du hast wirklich nicht bezahlt?

MIMI: Wo denkst du hin? Du hast nur noch 42 Euro. Die müssen eine Weile reichen.

Mimi und David sehen einen Hinweis auf das Freilicht- Puppentheater Le Grand Guignol.

MIMI: Oh, das wollte ich schon so lange einmal sehen. Schau, sie haben grade angefangen. Komm!

Mimi und David kommen zum Kassenhäuschen.

MIMI: Monsieur, zwei Kinder bitte.

VERKÄUFER: Das sind 10 Euro.

MIMI: Monsieur, die Vorstellung hat bereits begonnen. Wir hätten daher gern eine Ermäßigung.

VERKÄUFER: Das ist bereits ermäßigt.

MIMI: Nein, ich meine eine Ermäßigung auf die Ermäßigung.

VERKÄUFER: Also so etwas gibt es bei uns nicht. 88

MIMI: Monsieur, Sie haben jetzt die Wahl: Sie können uns zwei Kinderkarten zum Preis von einer verkaufen oder gar keine…

VERKÄUFER: (lächelt) Du bist ein ganz schönes Früchtchen… Also von mir aus. Das sind dann bitte 5 Euro.

Mimi bezahlt. Sie suchen einen Platz.

DAVID: (flüstert) Das war mir jetzt ganz schön peinlich.

MIMI: Ach was, man muss immer handeln, sagt Monsieur Klausner. Und der muss es wissen. Komm, da können wir gut sehen.

Sie setzen sich. Mimi knistert mit der Tüte als sie die Pain au chocolat auspackt. Erwachsene drehen sich vorwurfsvoll zischend um.

MIMI: Excusez-moi, Messieurdames. (Grinst.)

Beide schauen dem Spektakel zu, essen.

Sie treten aus dem Park. Schütteln sich den weißen Staub von den Füßen.

MIMI: Man sieht sofort, woher du kommst.

DAVID: Und woher du kommst.

Beide: Der weiße Staub vom Luxembourg. (Sie lachen.)

DAVID: Und was machen wir jetzt?

MIMI: Ich muss nach Haus. Meine Mutter wartet sicher schon mit dem Abendessen auf mich.

3. BILD: „Bois de Vincennes“. TAG/AUSSEN.

Mimi und David im Bois de Vincennes, gehen zuerst am Château vorbei. David schaut auf das Schloss, bleibt stehen, ist einen Moment lang geschockt, Bilder/Halluzination: Blick vom Schiff auf Fort Boyard. David in Ketten an Händen und Füßen. Wird im Inneren des Forts von zwei Wärtern einen langen Gang entlanggeführt. Links und rechts sind die Zellen, nur durch Gitter vom Gang getrennt. Dahinter die Gefangenen, die an ihre Türen gekommen sind, um den Neuankömmling laut zu „begrüßen“. Es fallen Worte/Texte wie „Frischfleisch“, „sieh dich vor, 89

Noel, die Ameise, steht auf Windelscheißer wie dich“, „solche wie dich lieben wir hier ganz besonders“, „Elternmörder“, „was mit Mördern hier gemacht wird“ Überblendung auf Mimi, die erzählt, während David noch versteift dasteht.

MIMI: … Letzten Sommer war ich mit meiner Mutter hier. Da waren wir auch im Museum und in der Waffenkammer. Und in der Folterkammer. Da waren wir auch. Weißt du, was eine Streckbank ist? Ich kann dir das ganz genau erklären. - He, (stuppst David an) warum guckst du so komisch? Hörst du mir überhaupt zu?

DAVID: Ich?

MIMI: Wer sonst?

DAVID: Ich schaue das Schloss an.

MIMI: Aber dass du so ein Gesicht ziehst, kann ja wohl kaum am Schloss liegen. Schön ist es zwar grad nicht, aber so schrecklich nun auch wieder nicht…

DAVID: Ne. – Geht schon. Komm, gehen wir.

Im Bois. Eine Wiese. Viele Leute. Grills. Ein Baldachin. Eine 3-Mann-Kapelle (Bass, Klarinette, Geige), die Klezmermusik spielt.

DAVID: Was ist denn das für ein komisches Zelt?

MIMI: Das ist kein Zelt. Das ist ein Baldachin. Den benutzen die Juden zum Heiraten.

DAVID: Ach so, dann sind die Leute also Juden. Mein Vater hat immer gesagt, dass die Juden von sich sagen, dass sie das auserwählte Volk sind, und dass mein Opa immer auf sie geschimpft hat. Was ist eigentlich so besonders an den Juden?

MIMI: Weiß ich auch nicht. Aber Monsieur Klausner ist einer. Den kannst du fragen. Komm, lass uns was zu essen holen. Ich hab einen Bärenhunger.

DAVID: Wir können doch nicht einfach…

MIMI: Warum denn nicht?

DAVID: Aber wir gehören doch gar nicht dazu. 90

MIMI: Wir tun einfach so. Das merkt doch keiner. Die Juden laden zu ihren Festen immer so viele Leute ein, dass sie gar nicht mehr wissen, wen sie alles eingeladen haben und gar nicht alle kennen.

DAVID: Woher weißt du denn das alles?

MIMI: Keine Ahnung. Entweder von Monsieur Klausner oder ich muss es irgendwo gelesen haben.

Mimi und David schleichen sich an einen der Grills an. Mimi streckt die Hand aus und zieht ein Würstchen runter.

MIMI: (zu David) Hier! Na, nimm!

David greift zögerlich zu.

DAVID: Au, das ist heiß…

MIMI: Stell dich nicht so an!

Mimi zieht eine zweite Wurst vom Grill, reicht sie David und holt eine dritte.

Ein KLEINES MÄDCHEN: He! Was macht ihr denn da?! (Läuft ein paar Schritte zur Braut, die mit ihrem frisch angetrauten Mann befasst ist.) Tante Esther, Tante Esther, da! Da sind welche die unsere Würste klauen!

MIMI: (holt noch ein Steak runter, zu David) Komm!

ESTHER: Was hast du gesagt?

Ein KLEINES MÄDCHEN: Da haben welche unsere Würste geklaut!

ESTHER: Wo?

Ein KLEINES MÄDCHEN: Dort! Da laufen sie.

ESTHER: (lacht) Und wenn schon. Heute ist ein Freudentag. Da sollen alle was von haben. (Nimmt das Mädchen hoch und küsst es herzlich.)

Mimi und David sitzen im Gras und essen. Es sieht ferkelig aus, da sie mit den Händen essen und auch keine Servietten haben.

MIMI: Köstlich.

DAVID: Ich hab schon lange nichts so Gutes mehr gegessen.

Mimi fällt nach hinten ins Gras. 91

MIMI: Ich bin so voll.

David hinterher.

DAVID: Ich auch. Ich kann mich keinen Millimeter mehr bewegen. (Streckt die fettigen Hände in die Höhe.) Huuuu! Fett trieft.

Mimi richtet sich auf.

MIMI: Und nichts da, um sich zu waschen.

DAVID: Du kannst es dir ja in die Haare schmieren. Das sieht dann aus wie Gel…

MIMI: Bist du doof. Ich nehme kein Gel. Mädchen brauchen so etwas nicht. Aber für Jungs ist das ne tolle Sache… (Schmiert David das Fett in die Haare.)

DAVID: (wehrt sich) Iiii, lass das! – Na, warte! (Greift in Mimis Haare.)

Mimi und David kappeln sich und haben das Fett dann in den Haaren, im Gesicht und auf der Kleidung. Sie lachen. Fallen ins Gras, lachen weiter. Schauen in den Himmel.

MIMI: Dieses Blau.

DAVID: Wie am Meer. Ein schöneres Blau gibt es nicht.

Mimi fasst nach Davids Hand.

4. BILD: „Montmartre“.

SACRÉ COEUR. TAG/AUSSEN.

Mimi und David sind oben auf der Place vor der Sacré Coeur, wo unheimlich viele Touristen sind.

MIMI: Monsieur, darf ich ein Photo von Ihnen und Ihrer Familie machen? Der JAPANER: Oh, in English, please. Mimi dreht sich fragend um zu David. DAVID: A photo with your family. Der JAPANER: Ah, photo! Yes! Der Japaner gibt Mimi seine Kamera und ordnet seine Frau und seine zwei Kinder um sich. Mimi photographiert. 92

MIMI: Sehr gut. Und jetzt noch ein bisschen mehr lachen. Da die Japaner sie nicht verstehen, macht sie ihnen demonstrativ ein breites Grinsen vor, die Japaner imitieren sie. Es sieht unnatürlich aus. MIMI: Ganz ausgezeichnet. So, noch eins – und fertig. Voilà. Mimi reicht dem Japaner die Kamera und hält die andere Hand offen zu ihm hin. Er schaut sie fragend an. MIMI: Fünf Euro, bitte. Der Japaner versteht sie nicht. MIMI: (zu David) Was heißt denn fünf Euro auf Englisch? DAVID: (zögerlich, weil ihm das ganze peinlich ist) Five Euro. (Anm.: David spricht „Euro“ auch hier nicht korrekt auf Englisch aus.) MIMI: Five Euro! Mimi hält ihm die Hand mit den fünf ausgestreckten Fingern hin und macht ihm mit der anderen das Zeichen –Daumen und Zeigefinger aneinander reibend- für Geld. Der Japaner versteht endlich. Der JAPANER: It‘s very expensive. Die JAPANERIN: (auf Japanisch, das bitte untertitelt wird) Paris ist wirklich eine teure Stadt. Gut, dass wir morgen wieder abreisen. Mimi hält ihm nochmals die Hand unter die Nase. Der Japaner zieht die fünf Euro aus der Tasche. MIMI: Herzlichen Dank, Monsieur. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Die Japaner verabschieden sich sehr freundlich mit „Bye“ und Verbeugungen. DAVID: Lass uns gehen. MIMI: Wieso? Das war der erste Versuch und der war ein Volltreffer. Es funktioniert! DAVID: Ja, aber- MIMI: Setz dich einfach da drüben hin. Ich mach noch ein bisschen. Weiß ja jetzt auch, was fünf Euro auf Englisch heißt… Man sieht Mimi im schnellen Zeitraffer noch ein paar Touristen abzocken. Darunter ist jemand, der ihr das Geld 93 verweigert, ein anderer gibt ihr weniger, wieder ein Asiate bezahlt. MIMI: (kommt auf David zu) Jetzt bin ich müde, mein Verhandlungsgeschick lässt nach. Schau! Mimi hält die Hand auf, darin sind rund 20 Euro in Scheinen und Münzen. MIMI: Das reicht, um uns auf der Place du Tertre malen zu lassen. Das will ich schon so lange mal machen.

PLACE DU TERTRE. TAG/AUSSEN.

Mimi nimmt David bei der Hand und zieht ihn in Richtung der Place du Tertre davon, wo die Maler sitzen. Mimi und David sitzen ruhig Modell. Der Maler, wie aus dem Bilderbuch mit Beret, Moustache und Zigarette im Mundwinkel, malt. Er hustet zwischendurch. Mimi macht ein angeekeltes Gesicht. Plötzlich schreit sie auf und fuchtelt mit den Armen. DAVID: Mimi! Mimi springt auf, fuchtelt weiter und schreit hysterisch. MIMI: Weg du Mistvieh! Hau endlich ab! Ich hasse dich! Der Maler hält geduldig inne bis Mimi sich beruhigt hat. Der MALER: Mademoiselle, wenn Sie jetzt die Güte hätten, wieder Platz zu nehmen. Wenn Sie so herumzappeln, ist es mir unmöglich, Sie zu portraitieren. MIMI: Eine Wespe! Der MALER: Kein Grund, die Fassung zu verlieren. MIMI: (schüchtern) Entschuldigen Sie bitte, Monsieur. (setzt sich wieder) DAVID: (breit grinsend zu Mimi) Wegen einer Wespe… MIMI: (zischend) Halt die Klappe!... Sonst kann er nicht malen!

SUPERMARCHÉ. ABEND/INNEN.

Klauen im Supermarkt.

David und Mimi sind im Supermarkt. Das ist eine kleine, recht altmodische und runtergekommene Filiale einer 94 größeren Kette (wie Monoprix, Franprix). Sie schauen sich vorsichtig um. Sie sind fast die einzigen Kunden.

Die zwei Kassierer/Angestellten, ein Mann und eine Frau um die 40, er offensichtlich schwul, sind in eine Unterhaltung vertieft und achten nicht auf die Kinder. Man hört während Davids und Mimis Aktion nur immer wieder schallendes Lachen im Hintergrund, v.a. des Mannes und Gesprächsfetzen.

ER: (lacht) Das hast du ihm wirklich gesagt?! Ich glaube es nicht!

SIE: Doch hab ich. Und dann hab ich ihm noch gesagt, dass er seine Kolibrieier in Zukunft in der Hose lassen kann.

ER: (lacht wieder) Das muss ich unbedingt gleich George erzählen. Er wird sich totlachen! Aber mal ehrlich, so unter uns Gebetsschwestern, du warst brutal zu dem armen Mann. Ich meine, das kann doch jedem Mann mal passieren, dass er nicht so kann…

SIE: Ach, dieser Aufschneider. Am Ende nur heiße Luft. Ich bin froh, dass ich ihn rechtzeitig wieder losgeworden bin. Noch bevor er die Chance hatte, mir einen Heiratsantrag zu machen. Dann gehen die Probleme doch erst richtig los.- Ja, ich weiß, bei dir und George, seitdem ihr verheiratet seid-

ER: (flötet) Mit ihm ist es jeden Tag aufs Neue ein Hochgenuss.

MIMI: Hier sind doch keine Kameras. Nicht bei uns in der Rue Planquette! (Anm.: Straßenname nach Bedarf austauschbar!)

DAVID: Trotzdem. Ich hab Schiss.

MIMI: Willst du nun was essen oder nicht?

DAVID: Ja.

MIMI: Dann sei ruhig und mach‘, was ich dir sage.

Man sieht wie Mimi in Davids Rucksack folgende Lebensmittel packt: Joghurt, Milch, Butter, Käse, Schinken.

MIMI: So, die noch.

Mimi packt Nudeln ein.

DAVID: Aber ohne Sauce schmecken die nicht. 95

MIMI: Und wo ist die Tomatensauce?

DAVID: Da auf der anderen Seite. – Ich glaub, die Frau da drüben beobachtet uns.

Eine Frau schaut in die Richtung der beiden. Dreht sich dann aber weg.

Mimi und David gehen ans andere Regal. Mimi packt noch ein Glas Sauce ein. David nimmt eine andere Sorte aus dem Regal.

DAVID: Hier, das noch.

MIMI: Nein, verdammt, das krieg ich nicht mehr in die Tasche. Nichts wie weg hier.

Mimi hält den Rucksack fest umklammert und versucht unauffällig, den Laden zu verlassen. Tatsächlich bemerkt sie niemand.

VOR DEM SUPERMARCHÉ. AUSSEN.

Vor dem Laden steht plötzlich ein Polizeibeamter, der sich ihnen in den Weg stellt.

POLIZIST: Hey, ihr zwei!

Mimi und David bleiben wie vom Donner gerührt stehen.

MIMI: (stotternd) Entschuldigen Sie, Monsieur, wir-

POLIZIST: Habt ihr nen Hund hier frei rumlaufen sehen? So nen ganz kleinen? Schwarzen? Ohne Herrchen?

MIMI: (erleichtert) Nein, Monsieur, haben wir nicht. Ist er jemandem davon gelaufen?

POLIZIST: Sozusagen.

MIMI: Wir halten die Augen offen, Monsieur. Au revoir, Monsieur.

DAVID: Au revoir, Monsieur.

Mimi zieht David mit sich. Sie laufen zügig in Richtung Zuhause.

96

DAVIDS STRASSE.

MIMI: Himmel ging mir grad die Muffe.

DAVID: Die was?

MIMI: Mein Herz rast.

DAVID: Wirklich? Du warst so cool.

MIMI: Sag mal, was denkst du denn von mir?!

DAVID: Ich meine ja nur… Wegen dem Pain au chocolat und dem Eis und-

MIMI: Das ist etwas ganz anderes.

DAVID: Was ist daran anders?

MIMI: Na, da konnten wir schnell weglaufen. Das war spaßig. Und da waren so viele Leute. Keiner wird sich an uns erinnern. Aber im Supermarché – ne, ich glaube, nochmal hab ich dafür die Nerven nicht. Ich dachte, die würden uns jeden Moment schnappen. Und dann noch der Polizist! Ne! Und wenn das dann meine Mutter erfahren würde! Wir müssen uns da etwas anderes einfallen lassen.

DAVID: Und was?

MIMI: Ja, keine Ahnung. – Wieso nehmen wir nicht einfach die Bankkarten von deinen Eltern? Die hast du doch?

DAVID: Ja klar, hab ich die.

MIMI: Super!

DAVID: Ne! Ich hab keine Geheimzahl. Und das mit der Unterschrift hab ich schon am Bahnhof probiert, da hat die Verkäuferin die Polizei geholt. Nein, die Karten sind keine Option.

MIMI: Wie du redest: die Karten sind keine Option.

Sie lachen.

MIMI: Erstmal bist du ja versorgt. Morgen sehen wir weiter.

VOR DAVIDS HAUS.

Man sieht Wioletta am geöffneten Fenster.

MIMI: Bonsoir, Maman. 97

DAVID: Bonsoir, Madame Nowak.

WIOLETTA: Bonsoir, David. Mimi, wo kommt ihr denn jetzt her?! Schau mal auf deine Uhr. Ich warte seit einer Stunde mit dem Abendessen auf dich. – Ach so, du hast wieder keine Uhr dabei gehabt. Natürlich, ich hätte es wissen müssen. Mein Kind gleitet frei durch die Zeit wie der Fisch im Meer. Kommst du jetzt?

MIMI: Ja, Maman. Bin gleich da.

WIOLETTA: Au revoir, David.

DAVID: Au revoir, Madame.

Wioletta verschwindet.

MIMI: Bis morgen, David. (Sie reicht ihm den Rucksack, den sie trägt, die Papierrolle mit dem Bild behält sie.) Es war ein toller Tag.

DAVID: Ja, finde ich auch.

Mimi schickt sich an, ins Haus zu gehen. David hält sie zurück.

DAVID: (zögerlich) Mimi,… hast du denn keine Angst, dass deine Mutter stirbt?

MIMI: (ruhig) Doch, hab ich. Große Angst sogar. Jeden Tag und jede Nacht. (Geht.)

5. BILD: „Freibad“. TAG/AUSSEN.

David und Mimi sind im Schwimmbad. Mimi ist schon ins Becken vorgeeilt und tobt durchs Wasser. David steht unschlüssig am Rand. Es zeigt sich Davids Angst. Er sieht Bilder aus der Erinnerung von seinen schwimmenden Eltern im Atlantik.

MIMI: David! David, komm, es ist herrlich!

DAVID: Gleich.

MIMI: Na los, komm schon! (Mimi kommt zum Beckenrand.) Komm endlich, du kleiner Laubfrosch!

Mimi spritzt David nass, der erschrocken/panisch zurückweicht. Mimi sieht in dem Moment Davids Gesicht und 98 begreift. David rennt weg zur Decke. Sie steigt aus dem Wasser, läuft ihm hinterher.

MIMI: (ruft) David, warte! David!

Auf der Decke.

MIMI: Du hast Recht. Es war eine blöde Idee von mir, hierher zu kommen. Entschuldige bitte.

DAVID: Schon gut. Jeder normale Mensch geht bei solchem Wetter baden… (hilflos) Ich muss immer an sie denken…

Mimi nimmt David tröstend in den Arm, nass wie sie ist.

DAVID: Iiii, Du bist ganz nass. (Schüttelt sie ab.) Weißt du, eigentlich konnte ich Wasser noch nie leiden. Diesen dummen Schwimmkurs habe ich nur meinen Eltern zuliebe gemacht. Wegen ihrer ganzen Schwimmerei. Ich spiele lieber Fußball. Das kann ich auch viel besser.

6. BILD: „Centre Pompidou“.

PLACE GEORGES POMPIDOU. TAG/AUSSEN.

Platz vor dem Centre Pompidou. Mimi und David hocken am Brunnen neben den Wasserfiguren und schlecken ein Eis.

MIMI: Das Bauwerk da ist übrigens das Centre Pompidou.

DAVID: Ich weiß. Ich bin ja nicht blöd.

MIMI: Dein Eis tropft. Da! Jetzt ist es auf deiner Hose.- Hier.

Mimi reicht David ein Taschentuch.

DAVID: Danke. (Macht seine Hose sauber.)

MIMI: Was du aber nicht weißt: Präsident Georges Pompidou hat es in einer geheimen Nacht- und Nebelaktion bauen lassen. Also zumindest damit angefangen. Da hat man hier die alten Häuser abgerissen und dann dieses Ding gebaut. Die Pariser waren total dagegen.

David guckt erstaunt.

MIMI: Wir haben keinen Fernseher. Ich muss also immer lesen. 99

David guckt total irritiert.

MIMI: Stadtgeschichte ist sehr interessant.

David zieht eine Grimasse.

MIMI: Und jetzt guck nicht so doof und hör‘ zu. Und pass auf dein Eis auf! –

David guckt. Das Eis tropft schon wieder.

DAVID: Dämliches Eis.

David kämpft mit dem Eis. Mimi spricht weiter.

MIMI: Jedenfalls fanden die Leute das Centre total hässlich. Sie haben gesagt, dass es wie eine Raffinerie aussieht. Aber der Präsident wollte unbedingt ein großes Bauwerk für die Nachwelt hinterlassen. So wie alle Präsidenten. Und als es eingeweiht wurde, da war er schon tot und hatte nichts mehr davon.

DAVID: (lakonisch) Der arme Präsident.

MIMI: Nicht wahr? Ich finde auch, dass er einem richtig leidtun kann.

Kurze Pause, dann prusten beide los vor Lachen.

MIMI: Warst du da schon mal drinnen?

DAVID: Ne.

MIMI: Oh! Das müssen wir ändern! Es ist so geil durch die Röhren zu laufen.

CENTRE POMPIDOU. INNEN.

Drinnen. Sie laufen durch die Röhren. Sehen auf die Stadt, die Leute, das Treiben. ‚Schau da ist das und das… da wohnen wir‘ etc.

DAVID: Was hast du vorhin gesagt, wie das Haus hier aussieht?

MIMI: Du meinst wie eine Raffinerie?

DAVID: Was ist eine Ra-ffi-ne-rie?

MIMI: Du weißt nicht, was eine Raffinerie ist?! - Eine Fabrik, in der man aus Erdöl Benzin und Diesel herstellt. 100

DAVID: Okay.

Manche Bilder bewundern sie:

Wunderschön, diese Farben, wie sie leuchten./Schau mal, das kleine Mädchen da, das sieht total echt aus./Die Leute sehen alle total echt aus./Wie man so etwas wohl hinkriegt?/Ich muss das auch mal probieren./Es fasziniert mich./macht mich total traurig/mir richtig gute Laune…

Andere mögen sie nicht:

So was von hässlich./ Die leiden hier wohl an Geschmacksverirrung./ (geht näher an die Beschriftung ran und liest) Das hat ein XX gemalt. Der hat bestimmt die Direktion bestochen, damit sein Bild hier hängen darf.

Über andere Bilder machen sie sich lustig und lachen laut, wobei sich dann andere Besucher pikiert oder belustigt nach ihnen umdrehen.

Gesichter auf Bildern, die komisch aussehen, können imitiert werden:

DAVID: Der zieht ein Gesicht, als ob er voll die Schmerzen hätte.

MIMI: Und der sieht total bekifft aus.

DAVID: So also sieht man dann aus?

MIMI: Bestimmt.

Über Anderes wundern sie sich, warum es Kunst ist. Sie beschließen, selbst Kunst herzustellen, und unermesslich reich zu werden:

MIMI: Einfach nur ein blauer Fleck. Ein blöder blauer Fleck! Das ist voll die Unverschämtheit! Das soll Kunst sein?! Dafür zahlen die Leute Eintritt?! Weißt du was, David, wir machen jetzt auch blaue Flecken. Aber nicht nur ein Bild. Gleich viele. Das bringt dann ein paar Tausend zusammen.

DAVID: Hunderttausend, Mimi!

MIMI: Und so viel Eis wie wir wollen für immer!

DAVID: Und petit four.

MIMI: Und Kino. 101

DAVID: Und Grand Guignol.

MIMI: Alles, was wir wollen.

DAVID: Genau, alles!

David will eine Plastik anfassen (vielleicht den Filz in Beuys Installation „Plight“):

MIMI: Nicht! Das ist verboten!

DAVID: Ich wollte doch nur mal wissen wie sich das anfühlt.

Zwischendrin sieht man immer wieder im Hintergrund die Stadt durch die Fenster.

BEI MIMI ZU HAUSE. ABEND/INNEN.

Mimi kommt zur Wohnungstür herein. Wioletta ruft sie aus der Küche.

WIOLETTA: Marie!- Marie!

Mimi zuckt in der Weise zusammen wie Kinder und oft auch Erwachsene zusammenzucken, wenn sie plötzlich beim richtigen Vornamen gerufen werden, wissend, dass sie jetzt etwas Unangenehmes erwartet.

MIMI: Was ist denn?

WIOLETTA: Komm bitte mal her.

MIMI: Gleich!

WIOLETTA: Nicht gleich. Sofort!

Mimi kommt in die Küche. Wioletta steht dort mit der Geldbüchse in der Hand. Mimis Blick fällt sofort darauf, und sie versucht, auszuweichen.

MIMI: (nörgelnd) Mann Mama, ich muss aufs Klo! (will gehen)

WIOLETTA: Moment, junges Fräulein! Zuerst bekomme ich eine Erklärung.

Schweigen.

WIOLETTA: Ich warte.

MIMI: (mit gespielter Unschuldsmiene) Worauf? 102

WIOLETTA: Auf deine Erklärung.

MIMI: Was für eine Erklärung?

WIOLETTA: Marie, hör auf mich für dumm verkaufen zu wollen, du weißt genau, wovon ich rede.

MIMI: (mit gespielter Empörung) Nein, das weiß ich nicht!

WIOLETTA: Marie, du hast Geld aus der Haushaltskasse genommen, ohne mir etwas davon zu sagen!

MIMI: Habe ich nicht!

WIOLETTA: Und wer außer dir soll es sonst gewesen sein?!

MIMI: Woher soll ich das wissen?! Vielleicht hast du’s selber rausgenommen und danach vergessen…

WIOLETTA: Mein liebes Kind, ja, ich vergesse manchmal die Schlüssel zu Hause und ich lasse hin und wieder auch mal meine Einkäufe im Laden liegen. Ja, das kommt vor. Aber ich bin nicht senil! Ich weiß sehr genau, wie viel Geld hier gestern Abend noch drinnen war!

Mimi kommen die Tränen in die Augen, sie dreht sich um und läuft in ihr Zimmer, verschließt die Tür.

WIOLETTA: Marie?! Marie, ich rede mit dir!

VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. TAG/AUSSEN.

Wioletta trifft Monsieur Klausner vor seinem Geschäft.

M. KLAUSNER: Und Wioletta, geht es Ihnen und der Kleinen gut?

WIOLETTA: Hach! Monsieur Klausner, die Kleine macht mir grad großen Kummer.

M. KLAUSNER: (zeigt ein Obst der Saison) Schauen, Sie, die hier sind besonders gut, heute. Ganz frisch. Soll ich Ihnen davon etwas einpacken?

WIOLETTA: Ja, ja. Sie hat mir Geld aus der Haushaltskasse gestohlen. So etwas hat sie noch nie getan.

M. KLAUSNER: (zeigt die gefüllte Tüte) So? 103

WIOLETTA: Ja. So ist gut. Ich weiß nicht, was plötzlich über sie gekommen ist. In den letzten Tagen ist sie nur noch mit dem kleinen Féghouli unterwegs.

M. KLAUSNER: Sie meinen David?

WIOLETTA: Ja, genau. … Glauben Sie, dass er einen schlechten Einfluss auf Mimi hat? Soll ich ihr den Umgang verbieten?

M. KLAUSNER: Auf keinen Fall. Ich kenne die Féghoulis ganz gut. Sie sind in Ordnung. Der Junge auch.

WIOLETTA: Aber dass meine Mimi einfach Geld nimmt…

M. KLAUSNER: Das wird sich klären, da bin ich sicher. Vertrauen sie ihr.

WIOLETTA: Sie hat es abgestritten.

M. KLAUSNER: Sie wird gute Gründe haben. Geben Sie ihr Zeit.

WIOLETTA: Meinen Sie wirklich?

M. KLAUSNER: Ich hab drei von der Sorte groß gezogen.

WIOLETTA: Nun gut. Hoffentlich haben Sie recht.

M. KLAUSNER: Hab ich, ganz sicher.

7. BILD: „Champs-Elysées“.

CAFÉ. TAG/AUSSEN.

Champs-Elysées: David und Mimi sitzen in der ersten Reihe eines Straßencafés und haben riesige Eisbecher und Cola vor sich. MIMI: Ich hab in diesen Ferien so viel Eis gegessen wie vorher in meinem ganzen Leben nicht. DAVID: Ich glaub, ich muss aufhören. Mir wird gleich schlecht. MIMI: Dann hör‘ bitte auf. Denn wenn du kotzen musst, wird mir schlecht. DAVID: Du hast auch wirklich genug Geld dabei? MIMI: (großkotzig) Natürlich.- Kennst du eigentlich den? 104

DAVID: Wen? MIMI: Den Wi-hi-tz! DAVID: Ne. MIMI: (Mimi imitiert dabei die verschiedenen Stimmen. Bei „Hadu Möhrensaft?“ versteckt sie die Zähne hinter den Lippen - Imitation zahnloser Leute) Häschen kommt zum Bauern und fragt: „Hadu Möhren?“ „Nein, hab ich nicht“, sagt der Bauer. „Und jetzt verschwinde.“ Am nächsten Tag kommt Häschen wieder zum Bauern. „Hadu Möhren?“ Der Bauer antwortet unfreundlich: „Nein, hab ich nicht. Das hab ich dir doch gestern schon gesagt. Und jetzt mach dich vom Acker.“ Am nächsten Tag kommt Häschen wieder: „Hadu Möhren?“ Der Bauer ist wütend und brüllt das Häschen an: „Hau ab! Ich hab keine Möhren, hast du mich verstanden?! Und wenn du nochmal hier auftauchst, dann schlag ich dir die Zähne ein! Dann brauchst du keine Möhren mehr!“ Häschen kommt auch am nächsten Tag wieder. „Hadu Möhren?“ Der Bauer ruft: „Ich hab dich gewarnt!“ und schlägt dem Häschen die Zähne ein. Am nächsten Tag steht Häschen wieder auf der Matte beim Bauern und fragt: „Hadu Möhrensaft?“ David, der zwischendurch einen Schluck Cola genommen hat, kann sich nicht halten, prustet los und spuckt die Cola weit über den Tisch. Die Kellnerin hat das Spektakel mitbekommen, tritt an den Tisch, die Rechnung in der Hand. KELLNERIN: Wenn ich euch bitten dürfte, das Café zu verlassen, ich bekomme 25,80 Euro. (Legt den Bon auf den Tisch.) DAVID: Ich bin noch gar nicht fertig. Mimi schaut treuherzig. MIMI: Entschuldigen Sie bitte, Madame, aber so viel haben wir nicht. Es steht Ihnen natürlich frei, die Polizei zu holen. Komm! (Zerrt David mit sich.) David ist erschrocken, auf diese Aktion nicht vorbereitet, lässt den Eislöffel fallen und gehorcht. Sie laufen los bei der nächsten Ampel über die Champs Elysées. Die Kellnerin winkt und ruft hinterher. Außer Sichtweite gekommen, halten sie inne und lachen. DAVID: Du hast doch gesagt, du hättest genug Geld dabei? MIMI: (grinst) Für Kino soll’s doch auch noch reichen.

105

KINO. INNEN.

Schnitt. David und Mimi sitzen im Kino. Beide mit einer großen Packung Popcorn auf dem Schoß. Szene auf der Leinwand: Dabei handelt es sich um eine Adaptation von „Der geheime Garten“ von Frances Hodgson Burnett. 19. Jahrhundert. Yorkshire. (Der landschaftliche Charakter der Vendée ist nicht unähnlich, d.h. diese Szene kann dort mit aufgenommen werden.) Sonniger Tag. Ein wilder Garten von Feldsteinmauern umschlossen. Darin arbeiten drei Kinder im Alter von ca. 12 Jahren. Colin, Mary und Dickon. Colin war über lange Jahre krank und hat das Innere des Schlosses nicht verlassen, sein Vater ist auf Reisen, sie kennen sich kaum. Alle drei Kinder jäten. COLIN: Der Zauber wirkt am besten, wenn man arbeitet. Wenn ich groß bin, schreibe ich darüber ein Buch. Er wirft das Werkzeug hin, steht auf, streckt sich, wirft vergnügt die Arme in die Luft. COLIN: Mary! Dickon! Erinnert ihr euch an den ersten Morgen als ihr mich hierherbrachtet? Ich habe mich eben daran erinnert, als ich meine Hände mit dem Werkzeug betrachtet habe, und da musste ich aufstehen und spüren, ob das alles wirklich ist. Es ist wirklich! Ich bin gesund! DICKON: Sicher, du bist gesund. COLIN: Ich werde lernen und alles herausfinden und entdecken von Menschen, Tieren und Pflanzen. Und ich werde leben – ewig leben! MARY: Das wirst du. COLIN: Und ihr seid meine Freunde. MARY/DICKON: (lachen, gehen auf Colin zu) Ja, das sind wir. COLIN: Für immer? MARY: Fürs Leben. DICKON: Ja, fürs Leben. Sie umarmen einander zu dritt. Im Hintergrund sieht man, dass jemand leise den Garten betritt. Die Kinder hören die Geräusche und fahren erschrocken auseinander. Vor ihnen steht der Schlossherr, Colins Vater Archibald Craven, der verwundert ist, über das, was er sieht. Colin läuft nach 106 kurzem Moment des Erkennens auf ihn zu, direkt in die nunmehr geöffneten arme seines Vaters. COLIN: Vater, ich bin Colin. Vielleicht glaubst du es nicht – ich kann es selbst kaum glauben. VATER: Colin! – Im Garten. COLIN: Der Garten hat es getan, und Mary und Dickon. Ich bin gesund. Ich kann schneller laufen als Mary. Ich werde ein Sportler. Freust du dich, Vater? Ich werde leben! – ENDE – Beginn des Abspanns. MIMI: Du heulst ja. DAVID: Ja und? Du doch auch. MIMI: Ich?! Ich nicht. Das sieht nur so aus. (Zieht den Rotz hoch.) David reicht ihr ein Taschentuch.

FREITAG, 22. August, VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. ABEND/AUSSEN.

Es ist ca. 18 h.

DAVID: Bonsoir, Monsieur Klausner. Wie geht es Ihnen?

M. KLAUSNER: Schlecht, mein Junge, schlecht. Immer diese Zores. Das Geschäft und Erez Israel, die Kinder… alles immer Zores…. (Räumt nebenbei seine Auslagen auf) Weißt du, Israel ist ein wunderbares Land. Doch Gott hätte besser daran getan, Moses nicht nur 40 Jahre wandern zu lassen, sondern mindestens 80. Dann wäre er bis in die Schweiz gekommen. Die Schweiz ist zwar bei weitem nicht so schön wie Israel, aber uns wäre eine Menge Ärger erspart geblieben. - Aber du, mein Junge, wo sind deine Eltern? Ich habe sie seit eurer Abfahrt nicht mehr gesehen?

DAVID: Die arbeiten. Ja, meine Mutter trainiert jetzt die Turmspringerinnen für die Landesmeisterschaft. Und mein Vater ist grad in Algerien als Trainer für die Schwimmer der Nationalmannschaft.

M. KLAUSNER: Ich dachte, er arbeitet an der Universität?

DAVID: Er macht beides.

M. KLAUSNER: Ahh! 107

DAVID: Ja, ich bin schon groß. Es macht gar nichts, wenn ich allein zu Hause bin!

M. KLAUSNER: Oh! Natürlich nicht! Ich habe daran keinen Zweifel, dass du allein zurechtkommst.

Zippora kommt aus dem hinteren Teil des Ladens.

ZIPPORA: Joseph, mit wem unterhälst du dich so angeregt?

M. KLAUSNER: Mit dem kleinen Féghouli.

ZIPPORA: Ah! Bonsoir, David. Wie geht es dir?

DAVID: Gut. Danke, Madame Klausner.

M. KLAUSNER: Davids Eltern haben grad viel zu tun. Er ist grad öfter allein zu Haus. Was hälst du davon, Zippi, wenn wir ihn heut zum Shabbes zu uns einladen?

ZIPPORA: Von mir aus gern. Auf einen Esser mehr oder weniger kommt es nicht an.

M. KLAUSNER: Gut, Junge, dann bist du um acht Uhr heute bei uns. So, und jetzt geh, ich hab noch zu tun.

BEI DAVID ZU HAUSE. ABEND/INNEN.

David ist ein paar Minuten später zu Hause. Die Wohnung ist noch unaufgeräumter. Geschirr stapelt sich überall. Abfall. Kleidung liegt rum.

David schaut auf den AB. Zwei neue Nachrichten.

1. C’est Nathalie. Claudine, ich mache mir wirklich Sorgen. Der Job ist nun auch weg. Victor ist ziemlich sauer, dass du dich nicht einmal zurückgemeldet hast. Und ich bin ehrlich gesagt auch etwas enttäuscht, nichts von dir zu hören. Ich hab mich für dich weit aus dem Fenster gelehnt. Melde dich bitte.

2. Bonjour, c’est Yannick Le Bihan, Polizei La Tranche. Ich habe Sie über Ihr Handy schon oft versucht zu erreichen und um Ihren Rückruf gebeten. Es geht um Ihr Auto, Kennzeichen 634-PNO-75, das wir verlassen am Strand von La Tranche aufgefunden haben. Wir bitten dringend um Ihren Rückruf das weitere Vorgehen betreffend. Die Nummer, unter der Sie uns erreichen- 108

David löscht beide Nachrichten.

BEI KLAUSNERS ZU HAUSE. ABEND/INNEN.

Es ist 20 Uhr. David steht bei Klausners vor der Tür. Die Tür wird aufgemacht. Anwesend sind Joseph und Zippora Klausner, zwei Söhne Klausners und eine Tochter Rahel (Simon ist das jüngste der drei Geschwister); dazu die zwei Ehepartner der älteren Geschwister sowie deren drei Kinder. (11 Leute)

DAVID: Bonsoir, Monsieur.

SIMON: Bonsoir. Was kann ich für dich tun?

DAVID: (schüchtern) Monsieur und Madame Klausner haben mich für heute Abend eingeladen.

SIMON: Ah, wenn das so ist, dann komm rein und sei herzlich willkommen im familiären Shabatchaos.- Maman, hier ist ein Junge!

ZIPPORA: (aus der Küche) Ich weiß, mein Sohn. Er ist heute unser Ehrengast. Bring ihn schon mal in den Salon.

SIMON: Also…

Ein festlich gedeckter Tisch mit zwei Shabbat-Kerzen und die festlich abgedeckten Chalot sowie der zu segnende Wein. Die Männer tragen ihre Kippot. Im Fenster steht die entzündete siebenarmige Menorah.

M. KLAUSNER: Ah, David, da bist du ja. Schön, dass du da bist. (zu den anderen) Darf ich euch vorstellen, das ist David, ein Nachbar. Er wird heute mit uns feiern.

Allherum ein Bonsoir/Bonsoir David/bienvenu…

M. KLAUSNER: Siehst du Junge, so eine große Familie. Ja, da hat man allerhand Zores.

SIMON: Von wegen! Wir machen euch nichts als Freude!

Die Anwesenden lachen.

M. KLAUSNER: Vor allem du, Simon. Wenn du nur endlich dein Diplom machen würdest… 109

SIMON: (ihn imitierend) und mir nicht länger auf der Tasche liegen. Die Geschäfte gehen ohnehin schon schlecht genug. Nimm dir ein Beispiel an deinen Geschwistern. Sie haben ihr Studium und ihr Doktorat innerhalb kürzester Zeit gemacht, und das sogar mit Summa cum laude! Und dann, ganz so wie es sich für ordentliche Juden gehört, eine kleine Mischpoche gegründet und zeugen nun jede Menge weiterer kleiner wohlerzogener Juden…

ZIPPORA: (aus der Küche kommend, mit einem großen Topf) Jetzt ist gut, Simon, wir alle lieben dich, so wie du bist.

SIMON: Du, Maman. Das weiß ich wohl…

M. KLAUSNER: Schluss jetzt mit den Albernheiten. Wir haben einen Gast! Setz dich zu mir, David. Zippora, Rahel, seid ihr so weit?

RAHEL: Ja, sind wir. Komm, Mutter, setz dich.

SIMON: Ah, der Tscholent riecht wieder köstlich!

ZIPPORA: In der Küche ist noch mehr-

M. KLAUSNER:(zu den anderen) Jetzt setzt euch schon, ich möchte die Kerzen anzünden und das Gebet sprechen.

Man sieht das Entzünden der Kerzen und hört wie Mr. Klausner den Anfang des Gebets spricht. Danach ein Gesang: Lecha Dodi (Begrüßung des Shabbat). Dann Essen und Gespräch. Wie es diesem und jenem geht. Das beginnende neue Schuljahr und wie die Ferien waren. Wie leergefegt der Großraum Paris noch ist und nur das Zentrum von Japanern überfüllt.

M. KLAUSNER: Junge, schmeckt’s dir?

DAVID: Danke Monsieur Klausner, sehr gut.

M. KLAUSNER: Siehst du, das hat meine Zippora gekocht. Da ist alles frisch und koscher und eine Gaumenfreude. Ich sag dir, so gut wie meine Zippora kann keine andere kochen. Da können sich auch alle Sterneköche verstecken. Schon allein dafür würde ich sie noch einmal heiraten. (zu Zippora) Zippi! Du hast einen neuen Verehrer deiner Kochkunst. (wieder zu David) Sie weiß es: Liebe geht durch den Magen. (Lacht.) Sag mir, mein Junge, wie kommst du zurecht, wenn du den ganzen Tag allein zu Hause bist, hein? 110

DAVID: Kein Problem. Ich bin das gewöhnt. Meine Eltern sind immer viel arbeiten.

M. KLAUSNER: Hm. Und was machst du den lieben langen Tag?

DAVID: Psss, spielen.

M. KLAUSNER: Spielen?

DAVID: Ja, ich hab eine Konsole und da hab ich jede Menge Spiele…

M. KLAUSNER: Ach, du meinst so ein Ding, mit dem ihr so meschugge vor dem Fernseher rumfuchtelt? Aber das ist doch nichts Rechtes-

DAVID: Und ich spiele mit Mimi. Letztens waren wir beim Grand Guignol.

M. KLAUSNER: Das klingt gut! Mimi ist ein sehr nettes und ein kluges Mädchen. Du kannst froh sein, dass sie deine Freundin ist.

DAVID: In der Schule mag sie keiner.

M. KLAUSNER: Warum denn das?

DAVID: Alle sagen, dass sie dumm ist.

M. KLAUSNER: Und wie kommen sie darauf?

DAVID: Sie ist sitzengeblieben.

M. KLAUSNER: Das hat nichts zu bedeuten. Die anderen haben keine Ahnung. Mimi ist sehr intelligent, glaube es mir. Ich weiß das. -

ZIPPORA: David, möchtest du noch etwas?

DAVID: Nein, danke, Madame Klausner.

M. KLAUSNER: Junge iss, du musst dich hier nicht höflich zurückhalten. Meine Zippora freut sich, wenn es dir schmeckt.

DAVID: Ja, gern!

M. KLAUSNER: Letztens habe ich mit Mimis Mutter gesprochen. Sie macht sich Sorgen um dich. Sie sagt auch, dass sie deine Eltern nicht mehr gesehen hat…

David erschrickt und zuckt hilflos mit den Schultern. 111

M. KLAUSNER: David, wenn du irgendein Problem hast - du kannst jederzeit zu uns kommen. Wir sind immer für dich da. – Ein Hoch auf die Dame des Hauses!

Alle nehmen ihre Weingläser und stoßen an/prosten sich zu: „le Chaim“

M. KLAUSNER: (zu David) Wir trinken auf die Schönheit und Fülle des Lebens. Le Chaim!

(weiter zu David) Das Leben ist ein Geschenk. Nicht Selbstverständlich. Das haben wir Juden gelernt.

SIMON: Jetzt wird Vater wieder pathetisch.

M. KLAUSNER: Meine Eltern sind im letztmöglichen Moment vor den Nazis aus Deutschland nach Frankreich geflohen. 1938 war Frankreich noch ein freies Land. Wer Geld hatte ist gleich nach Amerika ausgewandert. Meine Eltern hatten kein Geld. Sie konnten sich die Überfahrt nicht leisten. Also sind sie hier geblieben, und als dann auch im Norden Frankreichs die Luft brenzlig wurde, sind sie in den Süden gezogen, ins freie Frankreich und haben sich dort den Truppen von Jean Moulin angeschlossen und den Besatzern und den Landesverrätern ganz schön eingeheizt…

SAMSTAG, 23. August, VOR DAVIDS HAUS, VORMITTAGS 10h30/AUSSEN.

Ein Polizeiwagen hält vor Davids Haus. Zwei Polizisten steigen aus. (Polizist 1, Anfang 40, ein Beau; Polizist 2, netter Mittdreißiger.)

Polizist 1 streckt sich und gähnt.

POLIZIST 1: Verdammt bin ich müde. Eine Scheiß-Nacht war das.

Er schaut Polizist 2 an, der ganz munter dreinschaut.

POLIZIST 1: Sag mal, bist du so gar nicht müde?

POLIZIST 2: Geht so.

POLIZIST 1: Wann kam die Anfrage der Kollegen?

POLIZIST 2: …Ben… Ende letzter Woche, glaub‘ ich.

POLIZIST 1: Und ist bis heute nicht bearbeitet worden? 112

POLIZIST 2: Keine Ahnung.

POLIZIST 1: Meine Güte! Funktioniert auf unsrem Scheiß- Revier eigentlich irgendetwas wie es sollte?

POLIZIST 2: Tja… Wir beide, würde ich sagen.

Sie schauen sich um. Polizist 1 klopft an das Fenster neben dem Eingang, das zu Mimis und Wiolettas Wohnung gehört. Wioletta erscheint und öffnet das Fenster.

WIOLETTA: Bonjour Messieurs.

POLIZIST 1: Bonjour Madame, wir kommen vom Revier des 18. Arrondissements und suchen nach einer Familie Féghouli, die hier gemeldet ist.

WIOLETTA: Ja, natürlich, die wohnen hier.

Aus dem Hintergrund ruft Mimi.

MIMI: Wer ist denn da?

WIOLETTA: Die Polizei. Sie suchen die Féghoulis.

Mimi kommt ans Fenster.

MIMI: Worum geht es denn?

Polizist 1 und Polizist 2 schauen sich kurz irritiert an, da sie es nicht gewohnt sind, von einem kleinen Mädchen angesprochen zu werden.

POLIZIST 2: Unsere Kollegen aus der Vendée haben das Auto der Féghoulis verlassen am Strand von La Tranche gefunden.

WIOLETTA: Das ist aber merkwürdig. Ich muss Ihnen-

MIMI: Wo ist das Problem? Die Féghoulis sind im Urlaub in – wo sagten Sie?

POLIZIST 2: La Tranche sur Mer.

MIMI: Genau. Da sind sie. Und sie haben ihr Auto einfach geparkt. Das sind Sportler. Die fahren nicht jeden Tag. Die laufen und schwimmen lieber. Schließlich sind sie von Beruf Leistungsschwimmer.

POLIZIST 2: Das mag ja sein. Die Kollegen aus La Tranche sind trotzdem beunruhigt, da die Familie telefonisch nicht zu erreichen ist. Deshalb wollten wir hier nachforschen. 113

MIMI: Das ist doch logisch, Monsieur. Die beiden sind so bekannt, die werden ständig irgendwie angerufen und wegen irgendwelcher Jobs gefragt. Da machen die ihre Handys im Urlaub einfach aus.

WIOLETTA: (leise) Mimi!

MIMI: (leise zu Wioletta) Lass mich, du hast keine Ahnung. (zu Polizist 2) Training der Landesmeister, Nationalmannschaft, Vorträge an der Uni, Werbeaufträge, Interviews für alle möglichen Zeitschriften- letztens war Monsieur Féghouli sogar im Paris Match, das kann Ihnen nicht entgangen sein!

WIOLETTA: Marie! Was redest du da?!

MIMI: Ja, Maman, ich weiß Bescheid!

WIOLETTA: Seit wann liest du Paris Match…

MIMI: Schon lange, Maman. Du weißt eben nicht alles von deiner Tochter.

POLIZIST 2: Ja, dann…

POLIZIST 1: Trotzdem, Madame…

WIOLETTA: Nowak, Monsieur.

POLIZIST 1: Madame Nowak, könnten Sie uns die Tür öffnen, wir würden gern mal direkt bei Familie Féghouli vorsprechen.

MIMI: Ich hab Ihnen doch gesagt, dass sie im Urlaub sind. Da ist niemand. Aber bitte…

POLIZIST 2: Lass, das ist Zeitverschwendung. Ich muss sowieso los. Bin viel zu spät dran. Ich hab meiner Frau versprochen, heute pünktlich zum Frühstück zu kommen. Wir haben Hochzeitstag.

POLIZIST 1: Tatsächlich?! Gratulation. Der wievielte ist es denn?

POLIZIST 2: Der 15.

POLIZIST 1: So lange?! Und immer noch alles schick?

POLIZIST 2: (strahlt) Ja. 114

POLIZIST 1: Mann, da kann man ja neidisch werden. Was mach ich nur falsch mit den Weibern… Na ja, was soll’s. Dann wollen wir mal. Man soll seine Angetraute nie zu lange warten lassen. (zu Wioletta) Auf Wiedersehen, Madame Nowak.

WIOLETTA: Au revoir, Messieurs.

MIMI: Salut! (Winkt den beiden hinterher.)

Mimi dreht sich um und ruft nach hinten.

BEI MIMI ZU HAUSE. VORMITTAGS 10h35/INNEN.

MIMI: Und, David, wie war ich?!

DAVID: Danke, dass du mich nicht verraten hast.

WIOLETTA: So, und jetzt möchte ich endlich wissen, was los ist. (Schiebt die Kinder aus ihrem Schlafzimmer in Richtung Küche.)

Die Kinder zucken mit den Schultern.

DAVID: Ich muss jetzt los.

WIOLETTA: Du musst nirgendwohin. Du setzt dich jetzt da hin (Zeigt auf einen Stuhl am Küchentisch.) und sagst mir, was los ist. Mimi verhält sich auch seit ein paar Tagen mehr als merkwürdig. Und das hat mit dir zu tun. Da bin ich mir inzwischen ganz sicher. Auch das aus der Zuckerdose verschwundene Geld.

DAVID: Es tut mir leid, Madame Nowak. Ich zahle alles zurück.

WIOLETTA: Darum geht es nicht, David. Ich möchte wissen, warum Mimi für dich Geld stiehlt, warum sie für dich lügt. Denn das tut sie ganz offensichtlich.

MIMI: Maman, ich-

WIOLETTA: Du bist jetzt nicht gefragt, Marie. Ich rede mit David.

David und Marie schauen sich lange an.

MIMI: Erzähl’s ihr. Sie lässt jetzt nicht mehr locker.

David atmet durch. 115

DAVID: Aber Sie dürfen niemandem etwas davon erzählen.

LA TRANCHE, Ferienhaus Rue Charles de Gaulle. VORMITTAGS 10h35/AUSSEN.

Ein Auto fährt in der Rue Charles de Gaulle vor. Es steigt eine blonde, sehr weibliche und schöne Dame aus. Es ist die Maklerin Isabelle Menez aus der Agence. Sie geht in den Garten und zur Tür des Ferienhauses von Féghoulis. Klopft. Sie wartet. Klopft noch einmal. Drückt auf die Klinke. Es ist abgesperrt.

ISABELLE: (klopft noch einmal) Hallo… Hallo! C’est moi, Isabelle Menez aus der Agence.

Sie geht um das Haus, klopft an ein Fenster.

ISABELLE: Monsieur Féghouli?! Hallo!

Sie ist ratlos, schaut auf ihre Uhr. Sucht ihr Handy und wählt.

ISABELLE: Hallo Aline, c’est Isabelle. Ich bin hier am Haus Rue Charles de Gaulle, das die Féghoulis gemietet haben. Schau doch bitte mal nach, ob die tatsächlich heute abreisen sollen, oder ob ich mich einfach geirrt habe im Datum. Das ist mir zwar noch nie passiert, aber bei dem Stress der letzten Wochen-nein! Hier ist niemand!....Hast du’s?.... Also doch. Aber ich versteh das nicht…. Einfach abgehauen? Also, das kann ich mir so gar nicht vorstellen. Naja, und wenn, weit kommen sie damit nicht. Siehst du’s jetzt endlich ein, dass es wichtig ist, sich immer eine Ausweiskopie zu machen?! Versuch, die Féghoulis auf dem Handy zu erreichen, und dann rufst du gleich bei Yannick an und sagst ihm, dass ich in einer Viertelstunde auf dem Revier bin.

PARIS, bei Mimi zu Hause. VORMITTAGS 10h40/INNEN.

WIOLETTA: (fassungslos) Oh je. (Steht auf, vollführt eine Übersprungshandlung, dreht sich dann zu David um.) David, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das tut mir alles sehr leid…

MIMI: (nimmt David in den Arm) Ich bin für dich da. 116

WIOLETTA: Aber David, du kannst das nicht ewig verheimlichen. Irgendjemand muss sich um dich kümmern.

DAVID: Das schaff ich schon allein.

WIOLETTA: Nein, das schaffst du auf Dauer nicht! (Denkt nach.) Du hast doch bestimmt irgendwelche Verwandten?

MIMI: Er kann doch bei uns bleiben!

WIOLETTA: Wir müssen Davids Familie informieren. Sie sollten sich um dich kümmern. Meine Güte, David!

DAVID: Nein! Sie dürfen niemandem etwas davon erzählen! Niemandem, hören Sie! Sie haben es versprochen! Und da gibt es auch niemanden, der sich um mich kümmern kann. Niemanden!

David springt auf und rennt aus der Wohnung, die vier Stockwerke nach oben in die eigene Wohnung.

BEI DAVID ZU HAUSE. VORMITTAGS 10h45/INNEN.

David wirft die Tür hinter sich ins Schloss und steht atemlos an die Tür gelehnt.

ANRUF: (geht grad auf den AB) Hallo! Hier ist Mémé Gertrude! Wo seid ihr denn?! Ich hoffe, es geht euch gut. Bitte ruft mich sofort an, wenn ihr meine Nachricht hört!

VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. VORMITTAGS 11 h/AUSSEN.

Wioletta läuft zu Klausners Geschäft.

WIOLETTA: (atemlos) Monsieur Klausner, kann ich Sie kurz sprechen?

M. KLAUSNER: Selbstverständlich, liebe Wioletta.

WIOLETTA: Es geht um David.

M. KLAUSNER: (lacht) Ja, hat er Ihrer Tochter jetzt endgültig den Kopf verdreht? Machen Sie sich keine Sorgen. Der David ist ein guter Junge und Mimi ist ein kluges Mädchen. Die beiden passen so gut zusammen.

WIOLETTA: Darum geht es nicht, Monsieur Klausner. Erinnern Sie sich an unser letztes Gespräch? Sie fanden es doch auch 117 so merkwürdig, dass Sie Davids Eltern seit ihrer Abfahrt in den Urlaub nicht mehr gesehen haben. Ich weiß jetzt warum.

M. KLAUSNER: Und?

WIOLETTA: Sie sind tot.

M. KLAUSNER: Tot?

WIOLETTA: Ja, ertrunken. Im Atlantik.

M. KLAUSNER: Mein Gott, das ist unmöglich!

WIOLETTA: Es ist so. David hat es mir vorhin gesagt. Eigentlich habe ich ihm versprochen, es niemandem zu erzählen. Ich meine, ich habe gemerkt, dass Mimi sich verändert hat, seitdem sie mit dem Jungen ihre Zeit verbringt. Ich habe gemerkt, dass etwas mit ihm nicht stimmt und ihn zur Rede gestellt. Er wollte zuerst nichts sagen. Ich musste ihm versprechen, keinem etwas zu erzählen, aber ich kann so etwas doch unmöglich für mich behalten… Irgendetwas muss doch jetzt geschehen… Monsieur Klausner, ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie müssen mir helfen.

M. KLAUSNER: (tonlos) Am besten wir gehen nach hinten und fragen meine Zippora.

LE MANS, bei Mémé Gertrude zu Hause. FONTAINEBLEAU, bei Agnès zu Hause. Telefonat. Parallelmontage. VORMITTAGS 11h/INNEN.

GERTRUDE: Ich hab sie immer noch nicht erreicht.

AGNES: Maman, es ist grad 11 Uhr. Sie sind unterwegs. Stehen im Stau. Vor heute Abend musst du es nicht wieder probieren. Du machst dir ganz umsonst so viele Sorgen.

GERTRUDE: Ja.

AGNES: Du weißt doch, es ist typisch für Claudine, sich um nichts und niemanden Gedanken zu machen. Außer um sich selbst. Damals als sie einfach diesen… diesen… Araber geheiratet hat ja, da -

GERTRUDE: Du meinst ‚diesen Algerier‘ mit dem Namen Amésian. 118

AGNES: Ist doch egal wie er heißt. Papa war in jedem Fall dagegen, dass sie einen Araber heiratet. Aus gutem Grund. Jeder weiß wie die Araber sind.

GERTRUDE: Ach, ja? Wie sind sie denn?

AGNES: Maman! Das brauch ich dir doch nicht zu sagen!

GERTRUDE: Doch, doch, erklär’s mir.

AGNES: Maman!

GERTRUDE: Nur zu, ma fille, ich höre.

AGNES: Na sie … sie sind… rückständig, laut, arrogant. … Sie passen einfach nicht zu uns! Aber Claudine musste ja ihren Kopf durchsetzen, und das, obwohl Papas Gesundheit schon dermaßen angeschlagen war. Wenn Claudine nicht so egoistisch gewesen wäre, dann könnte er heute noch leben-

GERTRUDE: Agnès! Was redest du da für einen ausgemachten Unsinn! Vaters Tod hatte mit Claudines Hochzeit nichts zu tun. Das hab ich dir schon hundertmal gesagt.

AGNES: Wenn Claudine nicht so sehr mit Papa gestritten hätte-

GERTRUDE: Hör endlich auf damit! Diese alten Geschichten… Und was Amésian betrifft, so hatte dein Vater lediglich Bedenken, dass Claudine wirklich glücklich mit ihm werden kann.

AGNES: Und warum ist Papa dann nicht zur Hochzeit erschienen?!

GERTRUDE: Ach, Kind, das ist kompliziert. – Sag, was macht ihr heute?

AGNES: Du lenkst ab, wie immer, wenn es darum geht.

GERTRUDE: Ich will darüber jetzt nicht weiter sprechen. Akzeptiere das bitte. – Also, was macht ihr heute? Hm? Bei dem schönen Wetter… Du und Rodolphe… die Kinder…

AGNES: (tiefer Seufzer) Nichts weiter. Rodolphe ist in der Klinik, auf der Rennbahn oder sonstwo. Die Kinder sagen mir auch nicht mehr, wo sie hingehen-

GERTRUDE: Aber Théo doch nicht, der ist grad 10! 119

AGNES: Ach, du hast keine Ahnung. Der hängt sich an seinen großen Bruder. Und über den hab ich grad jegliche Kontrolle verloren. Und was Virginie betrifft, die redet grad auch nicht mit mir, weil sie meint, dass ich schuld daran bin, dass ihr Vater nie zu Hause ist.

GERTRUDE: Das gibt sich wieder, ma fille. Wir reden später. Ich muss sehen, dass ich Claudine endlich erreiche. (Legt auf.)

LA TRANCHE, auf dem Polizeirevier. VORMITTAGS 11h/INNEN.

ISABELLE: Bonjour, YANNICK.

YANNICK: Ah! Bonjour, Isabelle, welch Glanz in dieser armseligen Hütte.

ISABELLE: Lass das den Präfekten hören…

YANNICK: Der ist weit weg.

ISABELLE: Eigentlich ist mir grad gar nicht zu Scherzen zumute.

YANNICK: Was kann ich für Dich tun, ma belle.

ISABELLE: Meine Mieter sind abgehauen.

YANNICK: (lacht) Wirklich?

ISABELLE: Du, das ist nicht komisch.

YANNICK: Na wunderbar! Endlich mal wieder ein kriminelles Delikt und nicht nur Falschparker…

ISABELLE: Haha! Die Rostands - sie waren im Haus von den Rostands – die werden mir die Hölle heiß machen.

YANNICK: Nun mal langsam. Erstens sind die Rostands liebenswerte Leute, die niemandem die Hölle heiß machen, und zweitens, nehme ich an, dass du die Ausweise eurer Mieter kopiert hast.

ISABELLE: Ja. Hier. (Reicht ihm die Kopien.)

YANNICK: Na also, dann hoffen wir mal, dass die nicht falsch sind

ISABELLE: Bitte? 120

YANNICK: Die Ausweise, meine ich – und dann werden wir die Sache aufklären können. Aber du musst zugeben, ich hab dir schon oft gesagt, dass du nur gegen Vorkasse vermieten solltest.

ISABELLE: Ja, ja. Was gedenkst du zu tun?

YANNICK: Eine Fahndung rausgeben- Sag mal, deine Mieter, waren das Pariser?

ISABELLE: Ja, warum?

YANNICK: (freudig erregt/elektrisiert) Wir haben letzte Woche ein verlassenes Fahrzeug gefunden. Pariser Kennzeichen. Die Pariser Kollegen haben aber noch nichts gemeldet. Höchstwahrscheinlich gibt es da einen Zusammenhang.

ISABELLE: Wovon redest du?

YANNICK: Entführung, Mord oder etwas anderes Aufregendes. Isabelle, wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich habe zu tun! (Greift zum Telefon.)

PARIS, bei David zu Hause. VORMITTAGS 11h/INNEN.

MIMI: Warum bist du denn so schnell fortgelaufen?

DAVID: Es war falsch, deiner Mutter alles zu erzählen. Jetzt wird sie bestimmt die Polizei holen und dann bin ich geliefert!

MIMI: Wieso denn? Sie hat doch Recht, du kannst hier nicht allein bleiben. Die Polizei kann bestimmt helfen.

DAVID: Nein, kann sie nicht.

MIMI: Warum nicht?

DAVID: Eben weil. Sie kann nicht.

MIMI: Ich verstehe dich nicht! Deine Eltern sind tot. Das ist schlimm, aber doch nicht deine Schuld! ... (Die Sache sähe natürlich anders aus, wenn du sie ermordet hättest. Dann könnte ich verstehen, dass du nicht zur Polizei gehst, aber so…?)

DAVID: Ach, was weißt du denn schon! Lass mich einfach in Ruhe. 121

MIMI: Ich will dir doch nur helfen.

DAVID: Du kannst mir aber nicht helfen. Niemand kann mir helfen. Hörst du?! Niemand! Ich brauche auch niemanden. Ich will dich auch gar nicht mehr sehen. Du bist mir sowieso viel zu dumm. Jemand, der nicht mal die dritte Klasse schafft. Mit so jemandem will doch keiner spielen. Lass mich endlich in Ruhe und hau ab!

MIMI: David, warum sagst du so etwas? Wir sind doch Freunde.

DAVID: Sind wir gar nicht. Du hast dich einfach aufgedrängt. Weil du sonst niemanden zum Spielen hast. (Macht eine Grimasse und zieht den Mund breit.) Weißt du wie eklig es ist, wenn man das Essen in deiner Zahnspange kleben sieht? Und hat dir schon mal jemand gesagt wie hässlich deine Brille ist?!

David dreht sich um und verschwindet in seinem Zimmer. Mimi bleibt schockiert und traurig stehen, geht dann langsam aus der Tür.

IN KLAUSNERS GESCHÄFT. VORMITTAGS 11h/INNEN.

WIOLETTA: Sie hätten ihn sehen müssen als ich von der Polizei sprach. Wie er geschaut hat… als ob er… na, ich weiß nicht so recht… Er hat eine unglaubliche Angst.

M. KLAUSNER: Aber gestern Abend machte er einen ganz normalen Eindruck. Ich meine, er war wie immer… Ich habe nichts gemerkt.

ZIPPORA: So gut kennen wir den Jungen ja auch nicht, als dass uns eine Veränderung wirklich auffallen könnte.

M. KLAUSNER: Obwohl ich mich sonst auf meine Menschenkenntnis hundertprozentig verlassen kann…, nicht wahr, Zippi…

WIOLETTA: Was soll ich denn jetzt tun?

M. KLAUSNER: Sie müssen die Polizei informieren.

ZIPPORA: Nein. Nein, auf gar keinen Fall.

M. KLAUSNER: Natürlich muss sie! 122

ZIPPORA: Und dann läuft der Junge sobald er das spitzkriegt auf und davon! Und dann ist er allein und verschollen in diesem Moloch von einer Stadt! Wo denkt ihr hin! Nein! Das ist keine Lösung. Zumindest vorerst nicht. (Pause) Wioletta, können Sie den Jungen nicht ein paar Tage bei sich aufnehmen? Er hat doch bestimmt Verwandte. Eine Oma. Eine Tante. Irgendwen. Das müssen wir herausfinden. Die sollen dann weiterhelfen…. Die Polizei bringt ihn gleich ins Heim.

Wioletta schaut fragend zu Monsieur Klausner.

M. KLAUSNER: (nickt langsam) Ja, ich glaube, meine Zippora hat klug gesprochen.

MONTAG, 25. August, FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. VORMITTAG/INNEN

Es ist ca. 9h30. Küche, am Frühstückstisch.

RODOLPHE: Ich werde mich scheiden lassen.

AGNES: Was?!

RODOLPHE: Ich halte das Leben mit dir nicht mehr aus.

AGNES: Und das sagst du mir jetzt einfach so?!

RODOLPHE: Wie soll ich es dir sonst sagen? Gesungen als Opernarie?!

AGNES: Ich hab’s doch gewusst: Du hast eine andere. Du willst mich jetzt also wegen irgendeiner Schlampe sitzenlassen.

RODOLPHE: Du musst doch selber gemerkt haben, dass unsere Ehe nur noch auf dem Papier existent ist.

AGNES: Die Kinder und mich einfach so verlassen. Die Kinder sollen ohne Vater aufwachsen!

RODOLPHE: Agnès! Sprich bitte leise, du weckst sie sonst. Das hier würde ich gern unter vier Augen mit dir klären.

AGNES: Das kannst du mir nicht antun!

RODOLPHE: Selbstverständlich werde ich mich um die Kinder kümmern. Und was dich betrifft, du wirst versorgt sein, so wie immer. Das ist es doch, worum es dir geht… 123

AGNES: Aber wie stehe ich denn da!

RODOLPHE: Die Nachbarn werden sich natürlich hinter deinem Rücken böse das Maul über dich zerreißen.

AGNES: Rodolphe! – Was hab ich dir denn getan, dass du mich so hart bestrafst?

RODOLPHE: Siehst du, genau das ist es, was ich nicht leiden kann, deine Theatralik. Dein ständiges Selbstmitleid, und das, obwohl es dir an rein gar nichts fehlt-

AGNES: Doch! Du hast mich all die Jahre vernachlässigt! Liebe! Weißt du, Liebe habe ich schon lange keine mehr bekommen!

RODOLPHE: Das sagst ausgerechnet du, das egoistischste Wesen, das ich kenne. Meine Liebe, du wirst es wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen haben, aber ich habe mich sehr um dich und unsere Ehe und diese Familie bemüht-

AGNES: Daran kann ich mich nicht erinnern!

RODOLPHE: Das sagte ich gerade, dass du es wohl nicht einmal bemerkt hast. Zugegeben, es ist auch schon eine ganze Weile her. Irgendwann hab ich aufgegeben. Du bist kalt wie ein Fisch, liebe Agnès. Es ist besser, dir kommt keiner zu nah, in deinem Umfeld gefriert einem sozusagen das Blut in den Adern.

AGNES: Wie kannst du so etwas über mich sagen?!

RODOLPHE: Was glaubst du, warum deine Schwester und ihre Familie nie zu uns kommen?

AGNES: Lass meine Schwester da raus!

RODOLPHE: Weil sie deine ständige Nörgelei, deine ständigen Anschuldigungen und Vorwürfe nicht ertragen können!

AGNES: Was weißt du bitteschön von meiner Schwester?

RODOLPHE: Nicht viel. Ich hatte ja kaum Gelegenheit, sie wirklich kennenzulernen.

AGNES: Seit wann redest du so freundlich von ihr? Du hast dich doch immer über sie und ihren Mann mockiert.

RODOLPHE: Ich bin nun mal kein besonderer Freund unserer arabischen Mitbürger, aber du bist immer gleich so extrem. 124

Soweit ich weiß, ist der Mann deiner Schwester ganz in Ordnung.

AGNES: Womit habe ich das verdient, dass du mich so behandelst!- Wie ist sie denn so, deine Neue, hein?

RODOLPHE: Hör auf.

AGNES: Was hat sie, was ich nicht habe?!Hm? Kannst du mir das mal sagen?! Hat sie große Titten? Ist sie gut im Bett? Macht sie da besondere Sachen, die-

RODOLPHE: Arrête! Es reicht. Ja, ich habe mich tatsächlich verliebt.- Aber nicht so wie du denkst, in deiner… Simplizität. Keine neue Frau. Nein. Ich habe mich einfach in den Gedanken verliebt, mal wieder frei durchatmen zu können. Ich möchte mal wieder nach der Arbeit nach Hause kommen, ohne dass mich dort das sauertöpfische Gesicht einer Frau empfängt, die mit Vorwürfen wie ‚du bist schon wieder so spät‘, ‚du vernachlässigst deine Familie‘, ‚du hast eine andere‘ empfängt. Wie herrlich muss es sein, einfach mal Ruhe zu haben. Keine hysterischen Anfälle mehr über sich ergehen lassen zu müssen, oder dein ewiges Gejammer über den Ungehorsam unserer Kinder, über die Arbeit im Haushalt, über das Benehmen deiner Schwester, die Ungerechtigkeit deiner Eltern, darüber, dass du hinter Monique, Stéphanie und Angélique schon wieder zurückstehen musst, weil dein böser Mann dich so kurz hält und dir nicht sofort das neue Mercedes-Coupé in die Einfahrt stellt, oder den Einkaufsbummel in Mailand bezahlt oder jede Woche mit einem neuen Ein-Karäter aufwartet.

AGNES: Rodolphe, du übertreibst. Ich hatte noch nie einen Ein-Karäter. Ein-Viertel-Karat war das höchste der Gefühle, was du mir hast zukommen lassen.

RODOLPHE: Moment. Agnès… Du hast ja Humor! Meine Güte, jetzt überraschst du mich aber. Das ist ja unglaublich. Aber weißt du, das Leben ist einfach zu kurz, um Zeit zu verschwenden. Und ich hab das leider schon lang genug getan.

Agnès sitzt paralysiert am Küchentisch. Rodolphe geht in Richtung Haustür. Man hört die Tür ins Schloss fallen.

125

Telefonat Agnès-Mémé Gertrude. MITTAGS.

GERTRUDE: Kind, ich bitte dich, fahr hin!

AGNES: Wie kannst du das jetzt in diesem Augenblick von mir verlangen?!

GERTRUDE: Ich bin mir sicher, dass etwas Schlimmes passiert ist.

AGNES: Rodolphe will sich von mir scheiden lassen!

GERTRUDE: Agnès!

AGNES: Das überlebe ich nicht!

GERTRUDE: Red‘ kein dummes Zeug. Du fährst jetzt zu Claudine nach Haus und schaust nach, ob sie da sind. Und dann rufst du mich an.

AGNES: Mir ist schlecht. Und außerdem geht das heute nicht. Ich muss die Kinder zum Reiten -

GERTRUDE: Mein liebes Kind, wenn du nicht sofort deinen Hintern in Bewegung setzt und zu Claudine fährst, dann enterbe ich dich. (Legt auf.)

AGNES: Das kannst du nicht tun!... Maman?... Maman! (Registriert, dass Gertrude aufgelegt hat, legt auch auf.)

FONTAINEBLEAU-PARIS, Fahrt zu David. NACHMITTAG/AUSSEN.

Agnès im Auto (Mini) mit Guillaume, Théo und Virginie. Sie schlängelt sich durch den Vorstadtverkehr. Raucht, hat das Fenster offen, schimpft auf die anderen Fahrer und Fußgänger.

An einer wenig befahrenen Nebenstraße. Agnès hält mit quietschenden Reifen vor einem Zebrastreifen, weil ein Fußgänger die Straße vorsichtig betritt. Ein gepflegter älterer Herr. Typ Oberstudienrat.

AGNES: (laut im Auto, ungeduldig) Mach schon, Opa!

Mann: (hat das gehört, kommt ans Wagenfenster) Gnädige Frau, das ist ein Fußgängerüberweg, keine Rennbahn. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag. 126

AGNES: (steckt den Kopf aus dem Fenster und ruft ihm hinterher) Das nächste Mal überfahre ich dich einfach. Da spart der Staat die Rente!

Agnès fährt quietschend los, der Mann schaut verdutzt hinterher.

THEOPHRASTE: Krass.

VIRGINIE: Was ist denn los mir dir, Maman?

AGNES: (pathetisch) Es ist nichts. Alles ist gut.

Auf einer Straße mit viel Verkehr. Agnès zündet sich eine neue Zigarette an. Schimpft wieder.

VIRGINIE: Könntest du bitte mit dem Rauchen aufhören? Das ist total widerlich!

THEOPHRASTE: Das Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit. Und insbesondere die von uns Kindern.

VIRGINIE: Und mit dem Schimpfen vielleicht auch?

Agnès will die Spur wechseln, touchiert beinahe einen Motorradfahrer, der gerade so ausweichen kann. Beide stehen dann an der Ampel nebeneinander.

MOTORRADFAHRER: Haben Sie keine Augen im Kopf!

AGNES: Passen Sie doch selber auf!

MOTORRADFAHRER: Sie hätten mich beinahe umgenietet.

AGNES: Was Sie nicht sagen.

MOTORRADEFAHRER: Auch noch rauchen, obwohl Kinder im Auto sind. Dumme Schnepfe! (Fährt los, da die Ampel auf grün geschaltet hat.)

AGNES: (ruft ihm hinterher) Ich bin nicht dumm! (zu sich) Nein wirklich, ich bin nicht dumm!

Agnès verliert die Nerven, fängt an zu heulen, bleibt mitten auf der Straße stehen. Hinter ihr beginnt ein Hupkonzert. Die Kinder sind peinlich berührt.

AGNES: Ich kann nicht mehr! Ich halte das nicht mehr aus! Alle hacken und trampeln nur auf mir herum. Ich kann keinem was recht machen. Immer ist alles falsch. Niemand liebt mich! 127

GUILLAUME: Würdest du bitte losfahren? Du hälst den ganzen Verkehr auf.

VIRGINIE: Jetzt fahr endlich, die lynchen uns sonst gleich!

GUILLAUME: Mein Gott, ist das peinlich.

Agnès fährt heulend los und hält bei der nächsten Möglichkeit an.

AGNES: Das ist mir alles zu viel. Die täglichen Sorgen um die Familie. Ich kümmere mich ums Haus, ums Essen, um die Kinder, den Garten. Fahre euch zum Musikunterricht, zum Fußball, zum Reiten. Ich tu doch alles Menschenmögliche für euch. Und jetzt, sozusagen zum Dank, will sich euer Vater sogar scheiden lassen. Was soll nur aus uns werden?!

GUILLAUME: Das ist mir jetzt zu blöd. Komm Théo, wir gehen zu Fuß weiter.

VIRGINIE: Ich komme mit euch.

AGNES: Ihr könnt mich doch jetzt nicht einfach allein lassen!

THEOPHRASTE: Meine Sachen sind im Kofferraum…!

GUILLAUME: Heute geht’s auch ohne.

Sie steigen aus und gehen. Agnès bleibt im Auto zurück. Sie schaut den Kindern nach und haut wütend aufs Lenkrad.

AGNES: Scheiße, scheiße, scheiße! So eine verdammte Scheiße! (Lässt den Kopf aufs Lenkrad sinken.)

PARIS, vor Davids Haus. NACHMITTAG/AUSSEN.

Agnès vor Davids Haustür.

Agnès steht unschlüssig vor der Tür, da sie den Code nicht kennt. Schaut sich um. Keiner, der ihr helfen kann, ist in der Nähe. Sie geht zu Wiolettas Fenster und klopft. Wioletta erscheint, macht das Fenster auf.

WIOLETTA: Bonjour, Madame, was kann ich für Sie tun?

AGNES: (hektisch) Ich möchte zu den Féghoulis. Kenne aber den Code nicht. Und übers Telefon ist niemand zu erreichen…

WIOLETTA: Sind Sie mit ihnen verwandt? 128

AGNES: Ja,… ich bin Agnès Arnavon, Madame Féghoulis Schwester.

WIOLETTA: Dann schickt Sie der Himmel! Warten Sie, ich mache Ihnen die Tür auf.

BEI MIMI ZU HAUSE. INNEN.

Agnès und Wioletta sitzen in Wiolettas Küche.

AGNES: Das ist schrecklich. Dann hat Mutter doch recht gehabt… Sie hat geahnt, dass etwas passiert ist. Ich habe nicht daran geglaubt. Ich dachte… ach, ist ja auch egal.

WIOLETTA: David wohnt im Moment bei mir. Die Wohnung sieht schlimm aus.

AGNES: Welche Wohnung?

WIOLETTA: Ihrer Schwester.

AGNES: Ach so, ja….

WIOLETTA: Heute morgen war die Polizei schon das zweite Mal hier. Sie haben jetzt eine offizielle Ermittlung eingeleitet. Sie haben die Wohnung durchsucht und die ganze Familie zur Fahndung ausgeschrieben.

AGNES: David auch?

WIOLETTA: David auch.

AGNES: Was machen wir denn jetzt?

WIOLETTA: Ich weiß es nicht. … Wir warten erstmal auf die Kinder. Sie wollten nur kurz was einkaufen.

Pause.

WIOLETTA: Möchten Sie etwas trinken?

AGNES: Ein Glas Wasser wäre gut…. Und einen Schnaps könnte ich auch vertragen.

Die Wohnungstür klappert. Man hört aufgeregtes Reden.

WIOLETTA: Da sind sie.

Wioletta geht in den Flur, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Agnès bleibt sitzen. 129

WIOLETTA: Gut, dass ihr da seid. David, komm bitte mit mir in die Küche. Da ist jemand für dich.

David zuckt zurück.

WIOLETTA: Du brauchst keine Angst zu haben.

Wioletta schiebt ihn in die Küche. David bleibt in der Tür wie angewurzelt stehen.

WIOLETTA: Kennst du deine Tante nicht?

DAVID: Doch. (Dreht sich um und geht zu Mimi ins Zimmer.)

VOR DAVIDS HAUS. AUSSEN.

Man sieht Agnès wieder ins Auto steigen. Sie zündet erneut eine Zigarette an, atmet durch, greift nach ihrem Handy. Ist merkwürdig ruhig in ihren Handlungen. Sie ruft Rodolphe an.

AGNES: Rodolphe, Agnès hier.

RODOLPHE: Tut mir leid, ich hab grad gar keine Zeit.

AGNES: Eine Minute. Bitte!

RODOLPHE: Was gibt’s?

AGNES: Meine Schwester und ihr Mann sind tot. … Ich stehe grad vor ihrem Haus. … Ich fahre jetzt nach Hause. Kannst du bitte kommen?

RODOLPHE: Ich mach mich auf den Weg.

AGNES: Danke.

FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. ABEND/INNEN.

RODOLPHE: Das tut mir alles sehr leid, Agnès.

AGNES: Was soll ich denn jetzt tun?

RODOLPHE: Ich weiß es nicht. (Gießt sich ein Glas Scotch/Whisky ein.) Zunächst musst du die Polizei verständigen. Dann das Jugendamt. Und dann musst du entscheiden, was weiterhin mit ihm passieren soll. Schätze, sie werden ihn zunächst in ein Heim geben. 130

AGNES: In ein Heim?

RODOLPHE: Das ist der normale Weg.

AGNES: Könntest du nicht morgen mit mir zusammen das alles regeln? Ich glaube, ich kann das allein nicht…

RODOLPHE: Excuse-moi, ma chère, aber ich bin aus all dem raus. Das ist deine Familie, damit habe ich nichts zu tun.

AGNES: Rodolphe, er ist auch dein Neffe!

RODOLPHE: Ich habe dir heute morgen gesagt, dass ich mich von dir trenne. Ich weiß, du hälst mich jetzt für gefühllos, aber glaube mir, ich habe mir diese Entscheidung nicht leicht gemacht. (Geht.)

AGNES: Wo gehst du hin?

RODOLPHE: Raus. … Ich weiß es noch nicht.

PARIS, bei Mimi zu Hause. ABEND/INNEN.

Bei Wioletta. David liegt auf seinem provisorischen Bett. Man sieht, dass er geweint hat.

DAVID: Ich gehe nirgendwohin!... Warum kann ich denn nicht hier bleiben?

WIOLETTA: (hilflos, an kleinen Gesten spürt man ihre Erschöpfung) David, ich -

DAVID: (richtet sich auf) Wirklich, ich verspreche, dass ich euch keine zusätzliche Arbeit oder irgendeinen Ärger mache. Ich kann… ich kann staubsaugen, einkaufen gehen, die Fußböden schrubben… ich kann… ein paar Stunden bei Monsieur Klausner im Laden helfen. Dann verdiene ich etwas und muss euch nicht auf der Tasche liegen. Ich strenge mich auch in der Schule an. Und du kannst mir beibringen wie man Essen macht, dann kann ich das auch machen… Du wirst gar nicht merken, dass ich da bin. Bitte! … Bitte… Bitte…

WIOLETTA: (mit innerer Anstrengung) Es tut mir leid, aber das geht wirklich nicht. (Nimmt David in den Arm.) Außerdem sucht die Polizei nach dir.

DAVID: Du verrätst mich doch nicht?

131

DIENSTAG, 26. AUGUST, FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. FRÜHER MORGEN/INNEN.

Am nächsten Morgen. Die Küchenuhr zeigt 8h30. Agnès gießt sich grad einen Kaffee ein. Rodolphe kommt ins Zimmer gewankt.

RODOLPHE: Guck nicht so doof… Ich hab was getrunken…

AGNES: Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.

RODOLPHE: Du? Um mich?

AGNES: Ja.

RODOLPHE: Ist ja ganz was Neues. Meine Frau macht sich Sorgen um mich! Haha! Das ich das noch erleben darf… Sie macht sich Sorgen - um mich!

AGNES: Geh ins Bett, Rodolphe. Ich fahre zu David.

PARIS, Davids Haus, Flur. VORMITTAG/INNEN.

Man sieht David, Mimi, Wioletta, Agnès vor der Wohnungstür. Mimi gibt David die Papierrolle mit dem Bild und zieht ihn etwas beiseite. Sie sprechen leise, da die Erwachsenen nicht jedes Wort hören sollen.

MIMI: Damit du mich nicht vergisst.

DAVID: Mach ich nicht.

MIMI: … Rufst du mich an?

DAVID: Ja.

Mimi umarmt David heftig, der die Umarmung zuerst zögerlich und dann innig erwidert.

MIMI: Freunde?

DAVID: Ja.

MIMI: Für immer?

DAVID: Fürs Leben.

Sie lösen die Umarmung. Mimi hat Tränen in den Augen. Fährt sich mit der Hand unter der Nase lang und zieht den Rotz hoch. David gibt Wioletta die Hand, sie zieht ihn an sich und drückt ihn. Mimi weint. 132

DAVID: Danke für alles.

WIOLETTA: Gern geschehen, David. Komm uns besuchen so oft und wann du willst. Wir sind immer hier. (Kurz vor dem Weinen.)

AGNES: Gut, machen wir uns auf den Weg.

DAVID: Warte!

David kramt in der Außentasche seines orangefarbenen Rucksackes und holt ein Taschentuch hervor, das er Mimi gibt. Sie nimmt es lächelnd.

DAVID: So, jetzt können wir gehen.

VOR DAVIDS HAUS. STRASSE. AUSSEN.

Agnès und David gehen zur Haustür raus, treten auf die Straße. David hat seinen Rucksack auf dem Rücken und eine Tasche in der Hand. Die Papierrolle in der anderen. Agnès trägt einen Koffer von David.

AGNES: Mein Auto steht da drüben. (Sie zeigt auf die gegenüberliegende Straßenseite, ein Stück die Straße runter.) Ich denke, wir sollten zuerst zur Polizei fahren und-

DAVID: (panisch) Zur Polizei?!... Aber du hast doch gesagt…

David bleibt paralysiert mitten auf der Straße stehen. Agnès bemerkt das nicht und geht weiter.

Ein Bild/Halluzination: Folterkeller. Man sieht David von hinten vor der Eisernen Jungfrau, die von einem schrecklichen Folterknecht geöffnet wird. Man hat einen Blick in ihr Inneres mit all den Dornen. Perspektivwechsel. David steht in der Jungfrau. Man sieht aus seiner Perspektive die breit grinsenden Gesichter zweier Folterknechte, die die Türen schließen, und unaufhörlich und eindringlicher werdend, sagen: „Schuldig. Er ist schuldig.“ Die Dornen kommen direkt auf David zu.

AGNES: Ja, wir müssen denen doch erklären, was passiert ist, und dann-

Agnès bemerkt, dass David nicht neben ihr ist, dreht sich um. 133

AGNES: David! Komm!

DAVID: (durch das Rufen plötzlich erwachend) Auf keinen Fall! Ich gehe nicht zur Polizei!

Agnès geht wieder zurück auf David zu. David läuft los. Agnès bleibt erschrocken stehen und blickt hinterher. Sie ist mitten auf der Straße. Autos kommen, hupen.

AGNES: (ruft) David! Bleib stehen! Wo willst du denn hin?

Agnès lässt den Koffer einfach stehen und läuft hinter David her.

AGNES: Warte! Warte auf mich! David!

David schmeißt jetzt die Tasche weg, die ihn am Laufen hindert. Biegt um eine Ecke, Agnès kommt zur Ecke, sieht ihn erst nicht, dann aber den orangefarbenen Rucksack. Läuft hinterher. David kommt an einen großen Kreisverkehr, er hat Mühe in auf direktem Weg zu überqueren. Rennt zur Mittelinsel. Will weiter. Agnès hat ihre Stöckelschuhe ausgezogen, um besser laufen zu können und kämpft sich auch quer durch den Verkehr. David kommt nicht weiter. Die Autos sind zu dicht auf der anderen Seite. Er sackt erschöpft zusammen und weint. Es ist nicht der Sprint, der ihn niederdrückt, sondern die Last der vergangenen Wochen. Die Papierrolle in seiner Hand ist zerdrückt.

Agnès kommt bei ihm an, hockt sich neben ihn, nimmt ihn in den Arm. So sieht man sie eine Weile.

DAVID: Ich gehe nicht zur Polizei.

AGNES: Aber sie suchen nach dir und deinen Eltern, wir müssen alles klären-

DAVID: Nie! Hast du gehört? Ich gehe nicht dorthin!

AGNES: Wovor hast du solche Angst, David? Die Polizei tut dir nichts. Außerdem bin ich bei dir.

Kurzes Schweigen.

DAVID: (leise) Ich bin schuld. Ich bin schuld daran, dass sie tot sind.

AGNES: Was redest du denn da? …Wie willst du denn schuld sein?

DAVID: Ich bin schuld. – Ich habe ihnen den Tod gewünscht. 134

AGNES: Das verstehe ich jetzt nicht.

DAVID: Ich habe ihnen gesagt, dass ich ohne sie viel besser zurechtkomme und sie ruhig verschwinden können.

Schweigen.

Agnès nimmt Davids Hand.

AGNES: Das war nicht gut.

DAVID: Siehst du!

AGNES: Was?!

DAVID: Du sagst das auch. Und alle werden es sagen! Und dann steckt man mich zur Strafe nach Fort Boyard – in Einzelhaft bei Wasser und Brot und ohne Tageslicht.

AGNES: Bitte?

DAVID: Verdient hätte ich das ja. Aber ich hab Angst vor Fort Boyard. Ich will da nicht hin.

AGNES: Ich verstehe überhaupt nichts! Was ist dieses Fort Boyard?

DAVID: Ein Gefängnis. Da sind nur Schwerverbrecher, aber ich bin der schlimmste von allen, als Elternmörder. Sie werden mich massakrieren und dann töten.

AGNES: Niemand wird dich massakrieren und töten. Und du musst auch nicht in dieses Fort Boyard.

DAVID: Jedenfalls gehe ich nicht zur Polizei. … Eher sterbe ich.

AGNES: Unsinn! David! Du bist nicht schuld am Tod deiner Eltern! Nur weil du sie einmal im Zorn fortgewünscht hast, passiert das lange nicht. Du und deine Gedanken haben mit dem, was deinen Eltern passiert ist, nichts zu tun. Gedanken sind mächtig, sagt man, aber so viel Kraft, jemanden in den Tod zu schicken, haben sie nicht. Außerdem passiert das jedem von uns, dass er im Zorn etwas denkt und sagt, was er nicht so meint.

DAVID: Ich vermisse sie so.

AGNES: (nimmt David in den Arm) Ich weiß.

DAVID: (leise, zaghaft) Wo soll ich denn jetzt hin? 135

AGNES: (wie eine plötzliche Erkenntnis) Du kommst mit zu mir…. Ja! Was denn sonst?... Eine dumme Idee, das mit dem Jugendamt. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf diese wirklich dumme Idee gekommen bin! … Natürlich, du kommst mit zu mir! (Sie steht auf, reicht David die Hand.) Komm, David, wir gehen jetzt nach Haus.

David zögert. Schaut zu ihr hinauf.

DAVID: Und dein Mann? Und deine Kinder? Was sagen die dazu?

AGNES: (zuckt mit den Schultern, dann bestimmt) Ich bin deine Tante. Von nun an gehörst du zu mir!

DAVID: Also keine Polizei?

AGNES: Nein, keine Polizei.

DAVID: Und ich muss auch wirklich nicht ins Heim?

AGNES: Nein, wirklich nicht.

David nimmt die ihm angebotene Hand, steht auf, nimmt seinen Rucksack auf und sie gehen in Richtung Auto, Hand in Hand, davon. Man hört ihre Stimmen während sie sich immer weiter entfernen. Wie ein fade out.

AGNES: Sag mal, David, dein Fort Boyard, ist das eine Festungsinsel bei der Ile de Ré?

DAVID: … Ja.

AGNES: (lacht) Das ist schon lange kein Gefängnis mehr.

DAVID: Aber meine Eltern haben das gesagt. Mit Verlies und Folterkammer.

AGNES: Deine Mutter hatte schon immer eine Vorliebe für Schauergeschichten. Nein. Kein Gefängnis. Heute wird dort nur noch jeden Sommer so eine ziemlich uncoole Gameshow fürs Fernsehen gedreht.

DAVID: Wirklich?

AGNES: Na, wenn ich dir‘s doch sage.

- Zeitsprung -

136

8 Monate später.

GRÜNDONNERSTAG, FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. FRÜHER MORGEN/INNEN.

Abfahrt zu Mémé Gertrude nach Le Mans. Es ist ein sonniger Tag. Agnès geht von Zimmer zu Zimmer, macht die Tür auf, steckt den Kopf hinein.

AGNES: Aufstehen! Vite! Vite! Es ist ein herrlicher Tag!

Agnès kommt zu Davids Zimmer.

AGNES: Aufstehen, David! (Zieht die Vorhänge zur Seite.) Schau, David, die Sonne strahlt. Komm, beeil dich!

Agnès zieht ihm die Bettdecke vom Kopf weg. Man sieht David mit Hasi im Arm. Agnès gibt David einen Kuss.

Théophraste tapst über den Flur.

AGNÈS: Vite, mon petit lapin, ins Bad. Mémé Gertrude wartet auf uns.

THEOPHRASTE: Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie’s dort aussieht, bei Mémé.

Virginie kommt hinzu, drängelt sich an Théo vorbei ins Bad.

VIRGINIE: Schön. Sie hat einen riesigen Garten. Der ist viel größer als unserer. (Verschwindet.)

THEOPHRASTE:(klopft wütend an die Badtür) He! Da wollte ich jetzt rein.

VIRGINIE: (von drinnen) Zu spät!

THEOPHRASTE: Blöde Kuh!

Agnès schaut ins Schlafzimmer zu Rodolphe. (Es soll an dieser Stelle nicht offensichtlich sein, dass es – wieder - das gemeinsame Schlafzimmer ist, deshalb bleibt Agnès an der Tür.)

AGNES: Aufstehen, Rodolphe, wir sind schon spät dran!

RODOLPHE: (verschlafen) Wie spät ist es denn?

AGNES: Halb sieben.

RODOLPHE: Das ist ja mitten in der Nacht!

AGNES: So haben wir was vom Tag! 137

Von hinten kommt Guillaume über den Flur.

GUILLAUME: Mutter ist verrückt geworden.

AUSSEN.

Das Auto, eine großes Familienauto einer exklusiven Marke, ist vollgepackt.

RODOLPHE: Alles drinnen?

VIRGINIE: Alles komplett.

RODOLPHE: Also dann, los!

Alle steigen ein. Die Türen klappen nacheinander zu. Auf der Rückbank gibt es etwas Gedrängel, weil sich Virginie hinter ihren Vater gesetzt hat, wo Théo nun unbedingt sitzen will.

THEOPHRASTE: Manno, ich will da sitzen! Ich sitze da immer.

VIRGINIE: Pech gehabt! Heute nicht.

Théo boxt Virginie in die Seite.

VIRGINIE: Au! Pass bloß auf, du kleiner Scheißer! (Haut ihn zärtlich auf den Kopf.)

THEOPHRASTE: Virginie hat mich auf den Kopf gehauen. Maman sagt, das sollst du nicht, davon wird man dumm.

VIRGINIE: Wenn man es nicht schon ist.

RODOLPHE: Jetzt ist Ruhe da hinten, ihr pubertierendes Volk. Anschnallen. Wir starten.

Motor geht an. David schaut in seinen orangefarbenen Rucksack, ob Hasi da ist.

DAVID: Ich hab Hasi vergessen!

Rodolphe geht scharf in die Bremse, das Auto hält ruckartig wieder an.

AGNES: Ich geh‘ schon.

Im Zeitraffer: Agnès kommt mit Hasi zurück, steigt ein, gibt Hasi an David, Auto fährt los, man sieht das Auto ein paar Straßen durchqueren (wie bei Kapitel 1), Auto fährt auf die Autobahn und direkt in einen Stau. 138

RODOLPHE: So ein Mist, acht Millionen Pariser vor uns…

AGNES: und noch zwanzig Stunden zu Mémé…, und Gründonnerstag ist jetzt passé.

Man fährt. Zunächst Draufsicht (Vogelperspektive), dann Blick ins Auto. Alle singen gemeinsam „Ne pleure pas Jeannette“, wobei nur Agnès und David textsicher sind. Sie lachen.

AGNES: Das haben wir früher immer gesungen, wenn wir mit unseren Eltern unterwegs waren.

Man sieht David innerlich zusammenzucken und verstummen. Guillaume, der neben ihm sitzt, bekommt Davids Reaktion mit, knufft ihn in die Seite und nimmt ihn dann etwas grob in den Arm.

GUILLAUME: He Kleiner, jetzt fang nicht an zu flennen. Wer exklusiv unter meinem Schutz steht, hat keinen Grund dazu.

THEOPHRASTE: (dreht sich zu David um und ruft) Unter meinem stehst du auch!

GUILLAUME: (lacht) Ja, ja, wir alle kennen deine gefürchtete Linke.

David schaut Guillaume dankbar lächelnd an. Beide stimmen wieder in den Chor ein.

LE MANS, bei Mémé Gertrude zu Hause. NACHMITTAG/AUSSEN.

Sonne und wolkenloser Himmel. Es ist ein ungewöhnlich warmer Apriltag. Mémé Gertrudes Garten. Ein Strauch ist mit Ostereiern bestückt. Man sieht Gertrude und Agnès nebeneinander auf einer Hollywoodschaukel sitzen. Rodolphe, Rainier und die Kinder plagen sich auf der Wiese mit dem Aufbau einer Tischtennisplatte.

AGNES: Ich war lange nicht mehr hier, nicht? … Es hat sich kaum etwas verändert.

GERTRUDE: Fünf Jahre.

AGNES: Ach.

GERTRUDE: Agnès… wenn du manchmal das Gefühl hattest, dass dein Vater deine Schwester bevorzugt hat – das stimmt nicht. Er hat dich genauso geliebt wie sie…. Da gab’s 139 keinen Unterschied. … Du warst grad zwei Jahre alt, da warst du sehr krank. Du hast nichts vertragen, was man dir zu essen gegeben hat. Wir haben alles probiert, du hast immer mehr abgenommen. Da hat dein Vater Tag und Nacht an deinem Bett gesessen, ist mit dir täglich ins Krankenhaus gefahren, hat die Ärzte zum Wahnsinn getrieben, aus Sorge um dich … Und was Claudine betrifft, sie ist nicht verantwortlich für seinen Tod.

AGNES: Ich hab‘-

GERTRUDE: Ich weiß, dass du das denkst. Es ist falsch. Wir hätten offen mit euch darüber sprechen müssen, dein Vater und ich. Es war nicht sein Herz, das ihn umgebracht hat. Er hatte ein Aneurysma. Im Kopf. Nicht zu operieren. Eine tickende Zeitbombe, sozusagen. Wir wollten euch nicht beunruhigen… Er war nicht grundsätzlich gegen Claudines Mann, er hatte nur Angst, dass sie unglücklich sein könnte. Der unterschiedliche kulturelle Hintergrund ... Man hört immer solche Dinge… Er hatte Angst, dass sie aus Frankreich weggeht… Deshalb der ganze dumme Streit…

AGNES: Und warum war er dann nicht bei der Hochzeit?

GERTRUDE: (zögert) Weil er einen Tag zuvor gestorben ist. Das Aneurysma.

AGNES: (entsetzt) Was?!

GERTRUDE: Ich wollte nicht, dass die Hochzeit abgesagt wird. Das hätte euer Vater auch nicht gewollt. Deine Schwester sollte ihren Tag wie geplant feiern können. Es hätte doch niemandem etwas genützt, die ganze Hochzeit abzusagen.

AGNES: Aber wie –

GERTRUDE: Lass gut sein. Wir brauchen jetzt nicht darüber zu diskutieren, ob das richtig war oder falsch. Ich hielt es für das Beste.

AGNES: Und warum hast du mir das alles nicht schon viel eher gesagt? Und wieso die Geschichte mit dem Herzinfarkt?

GERTRUDE: Das war im Augenblick die einfachste Erklärung. Dass er Herzprobleme hatte, war ja bekannt. Das Aneurysma hatten wir euch verschwiegen. 140

AGNES: (fassungslos, wie um Luft ringend) Wir haben die ganze Zeit geglaubt, dass… Und ich hab Claudine immer … Und Claudine hat auch gedacht, dass sie…

GERTRUDE: Ich weiß. Es ist meine Schuld. Es tut mir leid. Ich wollte euch eigentlich alles sofort erzählen, aber dann hab ich sozusagen nie den richtigen Moment gefunden, und dann hatte ich irgendwie nicht mehr den Mut…

AGNES: (springt wütend auf) Maman!

GERTRUDE: (flehend) Es tut mir leid, Kind! – Bitte verzeih‘ mir.

AGNES: (als ob alle Energie sie plötzlich wieder verlassen hätte, auf die Schaukel neben Gertrude sinkend) Er fehlt mir so.

GERTRUDE: Mir auch.

AGNES: Und mit dir und Rainier?

GERTRUDE: Was sehr Gutes.

Rainier schaut in dem Moment zu Gertrude. Sie lächeln und nicken einander kurz zu.

AGNES: Ich hab Claudine nie gesagt wie sehr ich sie liebe, und dass ich sie immer bewundert habe.

GERTRUDE: (nimmt Agnès Hand) Glaub mir, das hat sie auch so gewusst.

Guillaume, Théo, Virginie und Rainier spielen Tischtennis. Rodolphe schaut ihnen zu. Am Anfang ist David noch mit dabei, später ist er verschwunden.

Man sieht Rodolphe von hinten. Agnès tritt neben ihn und greift nach seiner Hand, die er umschließt. Man sieht sie von hinten, sie wendet sich zu ihm.

AGNES: Wo ist David?

RODOLPHE: Ich glaube, er braucht grad einen Moment für sich allein.

141

David geht einen Feldweg entlang und telefoniert, Hasi ist in der Hosentasche.

Telefonat David-Mimi.

DAVID: Mimi?

MIMI: David?

DAVID: Wir sind bei Mémé in Le Mans.

MIMI: Sind sie gut zu dir?

DAVID: Ja, sehr. – Wie geht es dir?

MIMI: Der Arzt sagt, dass Maman wieder gesund wird.

DAVID: Der Himmel ist hier so blau.

MIMI: Fast so schön wie am Meer?

DAVID: Hm. - Mimi?

MIMI: Hm?

DAVID: Ich vermisse dich.

MIMI: Schließ die Augen, dann kannst du mich sehen.

David bleibt stehen und schließt die Augen.

MIMI: Und?

DAVID: Ich sehe dich.

MIMI: Ich dich auch.

DAVID: Mimi,… ich bin so traurig.

MIMI: Leg dich auf den Rücken. David legt sich hin. MIMI: Und jetzt atme. Atme ganz tief. Man sieht und hört wie David die Luft einsaugt. MIMI: Ja, so ist gut. Und Nochmal. David atmet. MIMI: Herrlich, diese Luft. Sie lässt all deine Traurigkeit verfliegen. Und? …. Spürst du es? 142

DAVID: … Ja. … Ja, ich spüre es!

Endbild: Parallelmontage der beiden Kinder. David liegt auf dem Feld mit Hasi auf der Brust, Mimi liegt im Quadrat ihres Innenhofes. Und trotzdem sieht es so aus als ob ihre Hände sich fassen. Die Kamera entfernt sich nach oben weg und geht in den blauen Himmel.

ENDE

143

Neben-Figurenverzeichnis

Die benannten äußeren Eigenschaften der Nebenfiguren sind nicht zwingend, sondern es handelt sich dabei lediglich um Vorschläge meinerseits. In erster Linie habe ich die Figuren über ihre Sprache, das, was sie sagen, und ihr Handeln definiert.

Wichtig wäre mir, dass alle Figuren/Rollen mit Schauspielern besetzt werden, damit auch kleinste Auftritte eine nachhaltige Wirkung erzielen. Dazu bedarf es m.E. echter und unverwechselbarer Typen, die authentisch und lebensecht wirken. Idealiter wird mit weitgehend unbekannter oder sogar französischer Besetzung gedreht.

La Tranche sur Mer

Eine Mutter, Strand

Eine kleine Tochter, Strand

Ein Kellner im Restaurant von La Tranche

Eine Kellnerin im Restaurant von La Tranche

Eine deutsche Familie vor dem gelben Restaurant in La Tranche:

Mutter, Mitte 40, hager, streng in die Welt blickend, verkniffene Züge, schrille Stimme.

Vater, Mitte 50, korpulent, ruhig, etwas gebeugt; ein Mann, der weiß, dass er nichts zu sagen hat, (ohne Text).

Tochter, 12, groß, schlank, lange blonde Haare, sehr hübsch, aber offensichtlich eine Zicke.

Yves, ein junger Mann Anfang 20, Strandspaziergänger.

Francoise, eine junge Frau Anfang 20, Freundin von Yves, Strandspaziergängerin.

Ein Passant.

Ein Müllmann, korpulent, Mitte 50, freundlich.

Ein zweiter Passant. 144

Franck, der LKW-Fahrer, Mitte 40, gut aussehend, sonnengebräunt und „windgegerbt“; man sieht, dass er ein „Leben“ hatte, freundlich.

Am Bahnhof von Les Sables d‘Olonnes

Valerie, die Fahrkartenverkäuferin, korpulent, Mitte 50, meistens hat sie nicht viel zu tun und verbringt ihre Zeit mit Computerspielen. Zunächst wirkt sie etwas schwerfällig, als sie jedoch ein Verbrechen erahnt, fühlt sie sich als gute Staatsbürgerin entsprechend gefordert.

Brigitte, die Kiosk-Verkäuferin, hager, Mitte 50; vielleicht etwas hektisch/nervös; es könnte sein, dass sie während der Unterredung mit Valerie reflexartig Waren umsortiert, die eigentlich schon korrekt im Regal liegen.

Eine sehr alte Frau Mitte 80 in der Warteschlange, mit Stock, hager, klein, schrille Stimme, störrisch- cholerisches Verhalten.

Ihre Tochter, Ende 50, ruhig vom Wesen her, etwas hilflos und peinlich berührt.

Ein Geschäftsreisender in der Warteschlange, im Anzug mit Rollkoffer.

Ein Mann in der Warteschlange.

Polizist 1.

Polizist 2 (ohne Text).

Im Zug nach La Roche sur Yon

Schaffner Pierre Tabarly, gemütlich, korpulent, freundliches Gesicht mit Knopfaugen, trotzdem Autorität ausstrahlend, zweite Hälfte 50.

Eine junge, sozusagen durchschnittliche Frau Anfang 20 (mit dem Handy).

Richard, ein älterer gemütlicher Herr von kräftiger Statur um die 60, dem man ansieht, dass er täglich körperliche Arbeit verrichtet. Er ist ein guter Bekannter von Schaffner Pierre Tabarly. 145

Mme Monot, eine alte Dame zweite Hälfte 70, die öfter mit ihren Hühnern im Käfig unterwegs ist. Zierliche Gestalt sehr gütiges Gesicht, das von innen heraus immer noch Schönheit ausstrahlt.

Zug nach Nantes nur Zwischenschnitt.

Im TGV nach Paris

Eine Mutter, ca. 35, rundlich, freundlich.

Ihre kleine Tochter Laura, 6, sehr mager, markantes Gesicht, Typ kleine Zicke, nörgelig.

Schaffner Anselme Dupont, ca. 50, groß und hager, rabenartiges Gesicht, dünnes Haar, steif in seinen Bewegungen. Er hat ein Leiden an den Bandscheiben.

Auf dem Bahnhof von Angers

Eine junge Frau mit zwei Kleinkindern und einem Kinderwagen

Ein vornehmer alter Herr mit Brille und Gehstock, sehr gediegen in Sprache und Benehmen, was in einem vermeintlichen Gegensatz zu seinem Status als ehemaliger Lokführer steht.

Im Regionalzug nach Paris

Eine korpulente Frau um die 50, mit erotischer Ausstrahlung. Sie ist klug und selbstbewusst, man hat automatisch Respekt vor ihr.

Vier Jungen (16-18), J1, J2, J3, J4; grad noch in der Pubertät oder ihr soeben entwachsen. J1 ist der als solcher nicht benannte Anführer, dem sich der Rest der Gruppe. Manchmal widerstrebend, unterordnet. J1 ist auch derjenige, der über das höchste Bildungsniveau verfügt. J3 ist der offensichtliche Querulant, letztlich aber nicht stark darin, sich in der Gruppe zu behaupten. J3 stammt aus einer der Vorstädte (Banlieue) von Paris, durchaus auch mit Migrationshintergrund. Die Jungen sind altersgemäß „cool“ gekleidet und gestylt (Haare, Piercing, Tatoos).

Paris, Ankunft

Eine Kundin von Monsieur Klausner (50+)

Madame Lajewski, eine weitere Kundin (50+)mit auffallend viel Goldschmuck.

146

Paris

Yunus (Fontainebleau)

Bäckerin

Ein Kunde

Eine Kundin

Kartenverkäufer beim Grand Guignole

Ein kleines Mädchen

Tante Esther

Der Japaner

Die Frau des Japaners

Zwei Kinder des Japaners (ohne Text)

Der Maler

Der Supermarktverkäufer, um die 40, offensichtlich schwul mit dem entsprechend klischeehaften Sprachduktus sowie dem klischeehaften Habitus.

Die Supermarktverkäuferin, um die 40, dunkelhaarige Model- Erscheinung.

Beobachtende Frau im Supermarkt ohne Text, markantes Äußeres. Vielleicht arabischer Abkunft. Traditionell. (Ohne Text.)

Polizist.

Kellnerin an den Champs-Elysées. Mitte 40, extrem gestylt, sehr auffallend lange und rot lackierte Fingernägel. Sie fühlt sich ganz klar zu Besserem berufen. Der Job und die Gäste sind unter ihrem Niveau.

Im Film: Mary, Colin und Dickon, im Alter von David, Colins Vater, ca. 40 Jahre alt.

Simon Klausner, Ende 20. Gutaussehend, dunkelhaarig, herzliche Ausstrahlung. Spitzbübischer Ausdruck.

Rahel. Dunkelhaarige Schönheit, augenscheinlich sanftmütige Ausstrahlung, hinter der sich ein feuriges Temperament versteckt. 147

Polizist 1, Paris, Anfang 40, ein stattlicher Beau, sonnenstudiogebräunt.

Polizist 2, Paris, netter Mittdreißiger mittlerer Statur.

La Tranche sur Mer

Monsieur Feugeas, eifriger Tourist.

Yannick Le Bihan, Polizist. Um die 40. Gut aussehend, groß, schlank und gut durchtrainiert, sehr charmant.

Julie Lescaut, Polizistin. Anfang 20. Hoffnungsvoll am Beginn einer Karriere. Rothaarige, sympathische Erscheinung. (Wer „Julie Lescaut“ kennt, nur eben viel jünger…)

Isabelle Menez, blondes Vollweib um die 40.

Le Mans

Rainier, Mémé Gertrudes neuer Freund. Vielleicht etwas jünger als Gertrude, also erst 60, sehr gepflegt, mit leichtem Bauch, spitzbübisches Gesicht.

SZENENCHRONOLOGIE und auftretende Personen (zuzüglich Komparsen):

SAMSTAG, 2. AUGUST, PARIS. FRÜHER MORGEN/INNEN.

Claudine, Amésian, David, Mimi

AUSSEN.

Claudine, Amésian, David, Mimi

LA TRANCHE SUR MER, ANKUNFT. FRÜHER ABEND/AUSSEN.

Amésian, Claudine, David

148

SONNTAG, 3. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 1. FERIENTAG: Ortsbesichtigung. VORMITTAG/AUSSEN.

Amésian, Claudine, David

MITTAG.

Claudine, Amésian, David

MONTAG, 4. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 2. FERIENTAG: Strand. TAG/AUSSEN.

David, Amésian, Claudine

DIENSTAG, 5. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 3. FERIENTAG: Ausflug nach La Rochelle. TAG/AUSSEN.

David, Amésian, Claudine

ABEND.

Amésian, David, Claudine, die deutsche Familie: Mutter, Vater (ohne Text), kleines Mädchen; Kellner, Kellnerin

SAMSTAG, 9. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 7. FERIENTAG: Strand. NACHMITTAG/AUSSEN.

Amésian, Claudine, David

Telefonat Claudine-Agnès/INNEN.

Claudine, Agnès, Rodolphe

ABEND.

David, ein kleines Mädchen und seine Mutter; Yves und Francoise, ein junges Paar, das am Strand spazierengeht

SONNTAG, 10. AUGUST, LA TRANCHE SUR MER, 8. FERIENTAG: Heimreise. FRÜHER MORGEN/AUSSEN.

David, ein Passant, Müllmann, ein zweiter Passant; Franck, der LKW-Fahrer

149

LES SABLES D’OLONNES, Bahnhof. VORMITTAG/INNEN.

David, Valerie, die Fahrkartenverkäuferin; Brigitte, die Kiosk-Verkäuferin; Eine sehr alte Frau in der Warteschlange mit ihrer Tochter, Ein Geschäftsreisender in der Warteschlange, Ein Mann in der Warteschlange, Polizist 1, Polizist 2 (ohne Text)

ZUGREISE NACH PARIS. VORMITTAG-NACHMITTAG/AUSSEN/INNEN.

1. Zug: Regionalzug von Les Sables d’Olonnes nach La Roche sur Yon.

Im Zug: David, Pierre Tabarly, der Zugschaffner; Eine junge Frau mit Handy; Richard, ein älterer Herr und guter Bekannter von M. Tabarly; Mme. Monot, eine alte Frau um die 75 und bekannt mit M. Tabarly

2. Zug: Regionalexpress von La Roche sur Yon nach Nantes.

Im Zug: David

3. Zug: TGV von Nantes nach Paris.

Im Zug: David, eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter Laura; Bilder-Erinnerungen: (David), Claudine, Amésian; Anselme Dupont, der Schaffner

ANGERS, Bahnhof. MITTAG/INNEN.

David, Schaffner Dupont, Eine junge Frau mit zwei Kleinkindern und einem Kinderwagen, Ein vornehmer alter Herr; Bild-Halluzination: (David), Schaffner Dupont, Passanten-Publikum

4. Zug: Regionalzug von Angers nach Paris.

Im Zug: David, Schaffner Dupont, eine korpulente Frau um die 50, Vier Jungen (16-18), J1, J2, J3, J4;

PARIS, Bahnhof (Gare Montparnasse)und Métro. NACHMITTAG/INNEN.

David, Schaffner Dupont; Bilder-Halluziantion: Claudine, Amésian; älterer Herr neben David in der Métro. (ohne Text)

150

VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. NACHMITTAG/AUSSEN.

David, eine Kundin von Monsieur Klausner, Monsieur Klausner, Madame Lajewski, eine weitere Kundin; Zippora Klausner, die Frau von Monsieur Joseph Klausner,

FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. NACHMITTAG/AUSSEN.

Agnès, Rodolphe, Guillaume, Théophraste, Virginie

Telefonat Agnès-Mémé Gertrude.

Agnès, Gertrude

PARIS, bei David zu Hause. NACHMITTAG/AUSSEN. David

INNEN. David, Mimi, Nathalie auf dem AB (nur Ton); Bilder- Traum/Erinnerungen: (David), Claudine, Amésian

MONTAG, 11. AUGUST, BEI DAVID ZU HAUSE. NACHMITTAG/INNEN.

David

DIENSTAG, 12. AUGUST, BEI DAVID ZU HAUSE. NACHMITTAG/INNEN.

David, Nathalie auf dem AB (nur Ton)

MITTWOCH, 13. AUGUST, BEI DAVID ZU HAUSE. ABENDS 19h/INNEN.

David, Mimi

LA TRANCHE SUR MER, Strand. ABENDS 19h/AUSSEN.

Mr. Feugeas, der Mann am Strand

PARIS, bei David zu Hause. ABENDS 19h05/INNEN.

David, Mimi

LA TRANCHE SUR MER, Strand. ABENDS 19h05/AUSSEN.

Mr. Feugeas, die Polizisten Yannick Le Bihan und Julie Lescaut 151

PARIS, bei David zu Hause. ABENDS 19h15/INNEN.

David, Mimi

FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. ABENDS, 19h15/INNEN.

Agnès, Virginie, Guillaume, Théophraste; Yunus, ein Freund von Guillaume

Telefonat Agnés-Mémé Gertrude.

Agnès, Gertrude

PARIS, bei David zu Hause. ABENDS 19h30/INNEN.

David, Mimi

Bilder von den Ferientagen in Paris:

2. BILD: „Jardin des Tuileries“. TAG/AUSSEN. Mimi, David 3. BILD: „Jardin du Luxembourg“. BÄCKEREI. NACHMITTAG/INNEN. Mimi, Bäckerin, ein Kunde, eine Kundin JARDIN DU LUXEMBOURG. AUSSEN. Mimi, David, Ticketverkäufer am Grand Guignol 4. BILD: „Bois de Vincennes“. TAG/AUSSEN. Mimi; Bild-Halluzination: (David), zwei Gefängniswärter, gefangene; David, eine 3-Mann- Klezmerkapelle (Geige, Klarinette, Bass), ein kleines Mädchen, Esther 5. BILD: „Montmartre“. SACRÉ COEUR. TAG/AUSSEN. Mimi, David; der Japaner, seine Frau und seine zwei Kinder (diese ohne Text) PLACE DU TERTRE. TAG/AUSSEN. Mimi, David, Maler SUPERMARCHÉ. ABEND/INNEN. Mimi, David; zwei Angestellte: Er und Sie; beobachtende Frau VOR DEM SUPERMARCHÉ, AUSSEN. Polizist, Mimi, David, DAVIDS STRASSE. Mimi, David VOR DAVIDS HAUS. 152

Mimi, David, Wioletta 6. BILD: „Freibad“. TAG/AUSSEN. Mimi, David 7. BILD: „Centre Pompidou“. PLACE GEORGES POMPIDOU. TAG/AUSSEN. Mimi, David CENTRE POMPIDOU. INNEN. David, Mimi

BEI MIMI ZU HAUSE. ABEND/INNEN.

Mimi, Wioletta

VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. TAG/AUSSEN.

Monsieur Klausner, Wioletta

8. BILD: „Champs-Elysées“. CAFÉ. TAG/AUSSEN. Mimi, David, Kellnerin KINO. INNEN. [im Film: Colin, Dickon, Mary, Vater], Mimi, David

FREITAG, 22. August, VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. ABEND/AUSSEN.

David, Monsieur Klausner, Zippora Klausner

BEI DAVID ZU HAUSE. ABEND/INNEN.

David, Nathalie auf dem AB (nur Ton), Polizist Yannick Le Bihan auf dem AB (nur Ton)

BEI KLAUSNERS ZU HAUSE. ABEND/INNEN.

David, Simon, Zippora Klausner, Monsieur Klausner, Rahel; noch ein weiterer Sohn der Klausners, ein Schwiegersohn und eine Schwiegertochter der Klausners sowie deren drei Kinder (ohne festgelegten Text)

SAMSTAG, 23. August, VOR DAVIDS HAUS, VORMITTAGS 10h30/AUSSEN.

Polizist 1, Polizist 2, Wioletta, Mimi

BEI MIMI ZU HAUSE. VORMITTAGS 10h35/INNEN.

Mimi, David, Wioletta 153

LA TRANCHE, Ferienhaus Rue Charles de Gaulle. VORMITTAGS 10h35/AUSSEN.

Isabelle Menez

PARIS, bei Mimi zu Hause. VORMITTAGS 10h40/INNEN.

Wioletta, Mimi, David

BEI DAVID ZU HAUSE. VORMITTAGS 10h45/INNEN.

David; Mémé Gertrude spricht grad auf den AB (nur Ton)

VOR KLAUSNERS GESCHÄFT. VORMITTAGS 11h/AUSSEN.

Wioletta, M. Klausner

LE MANS, bei Mémé Gertrude zu Hause. FONTAINEBLEAU, bei Agnès zu Hause. Telefonat. Parallelmontage. VORMITTAGS 11h/INNEN.

Gertrude, Agnès

LA TRANCHE, auf dem Polizeirevier. VORMITTAGS 11h/INNEN.

Isabelle Menez, Yannick Le Bihan

PARIS, bei David zu Hause. VORMITTAGS 11h/INNEN.

Mimi, David

IN KLAUSNERS GESCHÄFT. VORMITTAGS 11h/INNEN.

Wioletta, M. Klausner, Zippora Klausner

MONTAG, 25. August, FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. VORMITTAG/INNEN

Rodolphe, Agnès

Telefonat Agnès-Mémé Gertrude. MITTAGS.

Gertrude, Agnès

FONTAINEBLEAU-PARIS, Fahrt zu David. NACHMITTAG/AUSSEN.

Agnès, ein älterer Herr, Théophraste, Virginie, ein Motorradfahrer, Guillaume

PARIS, vor Davids Haus. NACHMITTAG/AUSSEN.

Agnès, Wioletta 154

BEI MIMI ZU HAUSE. INNEN.

Agnès, Wioletta, David, (Mimi)

VOR DAVIDS HAUS. AUSSEN.

Agnès, Rodolphe (nur Ton)

FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. ABEND/INNEN.

Rodolphe, Agnès

PARIS, bei Mimi zu Hause. ABEND/INNEN.

David, Wioletta

DIENSTAG, 26. AUGUST, FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. FRÜHER MORGEN/INNEN.

Agnès, Rodolphe

PARIS, Davids Haus, Flur. VORMITTAG/INNEN.

Mimi, David, Wioletta, Agnès

VOR DAVIDS HAUS. STRASSE. AUSSEN.

Agnès, David; Bild-Halluzination: zwei Folterknechte

8 Monate später.

GRÜNDONNERSTAG, FONTAINEBLEAU, bei Arnavons zu Hause. FRÜHER MORGEN/INNEN

Agnès, David, Théophraste, Virginie, Rodolphe, Guillaume

AUSSEN.

Rodolphe, Virginie, Théophraste, David, Agnès, Guillaume

LE MANS, bei Mémé Gertrude zu Hause. NACHMITTAG/AUSSEN.

Agnès, Gertrude, Rainier (ohne Text), Rodolphe; Guillaume, Théophraste, Virginie, David (alle ohne expliziten Text)

Telefonat David-Mimi.

David, Mimi

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