B 13829 ISSN 0930-732X € 3,00 Tutzinger Blätter No: 01 / 2013

Informationen aus der Evangelischen Akademie Tutzing Thomas Lehr wurde für sein literarisches Gesamtwerk mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 ausgezeichnet.

Mehr darüber in dieser Ausgabe der Tutzinger Blätter TutzingerBlätter 1/2013 // Inhalt

2 Das Weite suchen – Sprachwege in Krieg und Frieden Inhalt Verleihung des Marie Luise Kaschnitz-Preises 2012 Helmut Böttiger: Laudatio Thomas Lehr: Dankesrede

8 Demografi scher Wandel – Die Zukunft hat schon begonnen Herbsttagung des Politischen Clubs : Wie verändert der demografi sche Wandel den Ländlichen Raum?

12 See me! Wozu Menschen mit Demenz uns herausfordern Matthias Glück: Wozu Demenz den Arzt herausfordert

15 Mein Kind ist behindert Irmgard Badura: Inklusion in Bayern: Fortschritte und Hemmnisse für Familien

18 Kanzelrede Der Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 Ulrich Wilhelm: Mehr Möglichkeiten. Mehr Verantwortung Im Musiksaal der Akademie gratulierten die Veranstalter dem Schrift steller Thomas Lehr (4.v.l.) zu seiner Auszeichnung. 22 Die Zukunft der Digitalkanäle Der Autor erhielt den Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 für sein Gesamtwerk. Axel Schwanebeck: ARD und ZDF halten einen gemeinsamen > Mehr über die Preisverleihung auf Seite 2 Jugend-Kanal für möglich

23 Veranstaltungskalender

24 Tutzinger Schülerakademie Team der Schülerakademie, Gymnasium Tutzing: Nachhaltigkeit – die zentrale Aufgabe des 21. Jahrhunderts

26 Das Junge Forum unter neuer Leitung Axel Schwanebeck im Gespräch mit Hanna-Lena Neuser, Demografi scher Wandel der neuen Leiterin des Jungen Forums Bis zur Mitte des Jahrhunderts wird sich der Anteil der Menschen im Rentenalter mehr als verdoppelt haben. Sind wir dem 28 In eigener Sache demografi schen Wandel hilfl os ausgeliefert oder lässt er sich gestalten? – Die „2. Tutzinger Rede“: Die Zukunft der Gesellschaft > Mehr über die Herbsttagung des Politischen Clubs auf Seite 8 – Reden zwischen Himmel und Erde: Der Konfl ikt der Generationen Kanzelrede – Der südafrikanische Libertas-Chor gastierte in Tutzing Die aktuelle Bedeutung – Gerhard Bogner zum 85. Geburtstag des Journalismus: die Informationsfl ut fi ltern und aufb ereiten. BR-Intendant 30 Freundeskreis Ulrich Wilhelm erläuterte in Karin Bergmann, Reiner Knäusl: „Wir brauchen eine seiner Kanzelrede die authentische, öff entliche Kirche“ Herausforderungen, vor denen die moderne Medienwelt heute steht. 32 Publikationen > Mehr auf Seite 18 Impressum

34 Andacht Ulrike Haerendel: Empowerment oder Gottvertrauen? Beides!

Hanna-Lena Neuser - die neue Leiterin des Jungen Forums. Im Gespräch mit Redakteur Axel Schwanebeck erörterte sie ihre Pläne, Wünsche und Zielvorstellungen zum neuen Aufgabengebiet. > Mehr darüber auf Seite 26 Foto Titel: Hassiepen // Fotos (li.): Haist / Foto 3: Schwanebeck (re.) Udo Hahn: Mrozek Foto Titel: Editorial 1

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die Evangelische Akademie Tutzing ist ein guter Nährboden für Ideen. Viele Impulse nahmen seit 1947 von hier ihren Ausgang und erzielten Wirkung in Politik und Gesellschaft . So erinnert zum Beispiel die Som- mertagung des Politischen Clubs Ende Juni an das von Egon Bahr vor fünfzig Jahren im Schloss Tutzing geprägte Motto „Wandel durch Annä- herung“. Die Ostpolitik Willy Brandts bekam so ihre Überschrift . Im Lau- fe des Jahres wird davon noch ausführlicher zu reden sein.

Akademiedirektor Udo Hahn Manche Impulse sind nicht so eindeutig auf einen Urheber zurück zu führen, weil das Thema an vielen Orten behandelt wird. Und doch lassen sich in manchen Denkprozessen die Katalysatoren identifi zieren, die ei- nen Prozess beschleunigten oder richtig zum Durchbruch verhalfen. Ein Beispiel aus der Gegenwart: Am 18. Oktober 2012 veranstaltete die Evan- gelische Akademie Tutzing ein Podiumsgespräch über „Die digitale Zu- kunft des Öff entlich Rechtlichen Rundfunks“ – mit Ministerpräsident sowie den Intendanten Dr. Thomas Bellut (ZDF) und Ulrich Wilhelm (BR). Besonders intensiv diskutiert wurden die Voraus- setzungen, unter denen ein gemeinsamer Jugendkanal für 13- bis 29-Jäh- rige etabliert werden könnte. Das Thema ist keineswegs neu. Es ist aber unverkennbar, dass die Debatte seit der Veranstaltung Fahrt aufgenom- men hat und sich bei vielen Beobachtern der Eindruck in den letzten Wochen einstellte, dass das Projekt seiner Verwirklichung jetzt nahe ist.

Auch für Medienthemen ist die Evangelische Akademie Tutzing heute ein inspirierender Ort. Der „Medientreff “ im Münchner PresseClub greift seit einem Jahr in Abendveranstaltungen Fragen auf, die mit der technischen Entwicklung, dem wachsenden Bedarf an Inhalten für die unterschiedlichen Plattformen, dem sich verändernden Kommunikati- onsverhalten, medienethischen Überlegungen usw. zusammenhängen. Dabei wird auch die kirchliche Expertise engagiert eingebracht – etwa durch die Publizistik-Professorin Johanna Haberer, den Chefredakteur der epd-Zentralredaktion, Dr. Thomas Schiller, den Medienpolitik-Ver- antwortlichen der bayerischen Landeskirche, Oberkirchenrat Detlev Bierbaum, und die Publizistin Susanne Breit-Keßler, Regionalbischöfi n und Ständige Vertreterin des Landesbischofs. Wie werden wir in Zukunft kommunizieren? Diese Frage richtet sich nicht nur an unsere Arbeit in den Seminaren und Konsultationen, sondern auch an die Art und Weise, wie wir sie nach außen vermitteln. Auch dazu bei Gelegenheit mehr.

Ihr Udo Hahn 2 TutzingerBlätter 1/2013 // Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012

Verleihung des Marie Luise Kaschnitz-Preises an Thomas Lehr

Das Weite suchen. Sprachwege in Krieg und Frieden

Das Werk von Thomas Lehr besticht durch seine Vielfalt und Helmut Böttiger seinen ästhetischen Wagemut. Seine Romane umfassen philo- sophisch-physikalische Zeitrefl exionen ebenso wie die natio- Laudatio auf Thomas Lehr zum nalsozialistische Vergangenheit und den Dialog zwischen Ori- Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 ent und Okzident. Mitreißend, fesselnd und überraschend erzählt er von unserer Gegenwart. Für sein literarisches Ge- samtwerk verlieh ihm die Akademie im November 2012 den Sehr geehrte Damen und Herren, Marie Luise Kaschnitz-Preis. in diesem Herbst hat Thomas Lehr auch einen Band mit Aphoris- men herausgebracht. Einer davon heißt: „In dieser Reihenfolge: Thomas Lehr wollte schon immer Schreiben. Seit seiner Kindheit Kunst entsteht aus Hochmut, Schmerz, Geduld“. Thomas Lehr hat er sich mit der Sprache beschäft igt. Mit 18 Jahren jedoch ent- weiß, wovon er spricht. Sein erster veröff entlichter Roman, „Zwei- schloss er sich, Biochemie zu studieren. Anschließend arbeitete er wasser oder Die Bibliothek der Gnade“, hatte 359 Seiten. Der nächs- als Programmierer. Naturwissenschaft ler zu sein und gleichzeitig te Roman, „Die Erhörung“, steigerte sich auf 463 Seiten. „Nabokovs Texte in einer blumigen Sprache zu verfassen, das ist für Thomas Katze“, die dann folgte, brachte es schließlich auf 511. Thomas Lehr Lehr kein Widerspruch. Im Gegenteil, sein Wissen setzt er zuweilen setzte immer noch eins drauf. literarisch um. Mit „Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade“ (1993) lieferte er sein Debüt. Was ihn elektrisiert, ist der Roman. Der Roman bietet die Form, in der sich die ganze Welt abbilden kann, keine halben Sachen. Doch Lesen Sie nachfolgend einen Auszug aus der Laudatio des Litera- genau dies führt zu vielen Irritationen. Es wirkt frappierend, dass turkritikers Dr. Helmut Böttiger und aus der Dankesrede des Preis- jeder von Lehrs Romanen ganz neu ansetzt. Er sucht für jeden Stoff trägers: seine ureigene Form. So entstehen scheinbar unterschiedlichste Texte.

Thomas Lehr hob in seiner Dankesrede hervor, dass er in seinem literarischen Schaff en versuche, „den Blick des Lesers auf das mir Bedeutsame zu lenken, auf die wunderbaren Möglichkeiten und die tödlichen Gefahren

des Menschen und auf die bestürzende Fülle der Welt.“ Foto: Haist Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 3 4 TutzingerBlätter 1/2013 // Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012

Die Erhörung Fiction, und es entsteht auch eine starke Spannung. Doch nie wird dieser Roman zu Fantasy, nirgends tauchen phantastische Wesen Schon sein erster Roman, „Die Erhörung“, verhandelt die ganz gro- auf. Es ist alles auf eine verstörende, irreale Weise – realistisch. ßen Dinge: Politik, Geschichte, Liebe. Sofort fällt auf, wie sehr Tho- mas Lehr das opulente Erzählen liebt, das Schwelgen in Situatio- Wir befi nden uns in der Forschungsstätte „CERN“ in Genf, mit nen, das Ausmalen von Biografi en, das Atmosphärisch-Sinnliche. weltweit führenden Experimenten der Atomphysik, speziell zur Aber wie er das tut, kann verstörend wirken. Der Roman besteht Teilchenbeschleunigung. Und plötzlich, um 12 Uhr 47 und 42 Se- eigentlich aus zwei Romanen. Der Autor verwickelt und verwirrt kunden, bleibt hier die Zeit stehen. 70 Menschen, die sich zufällig sie untrennbar, es wird zu einem gordischen Literaturknoten: da ist im Bannkreis des CERN-Inneren aufh alten, leben weiter wie zuvor, ein zeitgeschichtlich stark aufgeladener politischer Roman auf der können sich bewegen und halten sich innerhalb der gewohnten einen Seite, und auf der anderen eine existenzielle Fallstudie, eine Zeitvorstellungen auf, sie altern und agieren wie üblich. Der Rest seelische Grenzerfahrung, ein Arrangement mit Engeln, Träumen der Welt aber steht still. Die Menschen sind mitten in ihrer um und Psychiatrie. 12.47 Uhr und 42 Sekunden erfolgten Bewegung fi xiert, sie sitzen im Café, sie stehen vor einem Schaufenster, sie laufen gerade durch die Fußgängerzone: sie sind in genau diesem Moment festgehalten, Nabokovs Katze aber sie sind off enkundig nicht tot. Es ist einfach eine Zeitlücke, in die die 70 Personen auf dem CERN-Gelände gefallen sind. Die üb- Vielleicht ist es konsequent, dass der nächste Roman von Thomas rige Welt merkt davon nichts. Lehr, „Nabokovs Katze“ aus dem Jahr 1999, tatsächlich in der Film- industrie spielt. Er entfaltet ein Breitwandpanorama, eine Sittenge- Lehr entwickelt aus dieser Grundkonstellation heraus Expertisen schichte aus der Bundesrepublik, die sexuelle Erweckung jener über das Phänomen der Zeit, über die Unwägbarkeiten der Wahr- Generation, die in den späten sechziger und frühen siebziger Jah- nehmung. Die vereinzelten theoretischen Passagen, in denen Quan- ren ihre Pubertät erlebte. „Nabokovs Katze“ schöpft aus dem Vol- tenphysik und Zeitexperimente eine Rolle spielen, dienen als Be- len, es geht viel um Sex, und so etwas zieht natürlich immer weite- schleuniger der Handlung. Sie wird zum Thriller. Der Ich-Erzähler re Kreise. Thomas Lehr ist in der Folge etwas widerfahren, was und seine näheren Bezugspersonen geraten mit den anderen Betrof- einer größtmöglichen Anfechtung gleichkommt. Er fand sich näm- fenen in einen Sog aus gegenseitigen Verdächtigungen, feindlichen lich auf der Titelseite des Wochenmagazins „Der Spiegel“ abgebil- Gruppierungen und neuen Lebensentwürfen, der die alte Welt in det, mit einer rotweiß gestreift en Blechtrommel in der Hand. Er der neuen kongenial abzubilden scheint. schien eine Sehnsucht zu erfüllen, die immer wieder suggeriert wird: dass es literarische Enkel von Günter Grass geben könnte. Wie geht man damit um? September. Fata Morgana

Thomas Lehr hat die verschiedensten Dinge erzählt, und er hat die Frühling verschiedensten Formen dafür gefunden – von der Satire über die verästelte psychologische Innenschau, vom mit Kodakcolor satt aus- Lehr schrieb, wie um allen Missverständnissen vorzubeugen, eine staffi erten Geschichtspanorama bis zum brüchigen inneren Mono- Novelle. Sie hat schmale 142 Seiten und trägt den Titel „Frühling“. log. In „September. Fata Morgana“, seinem neuesten Roman, geht er „Frühling“, das ist der atemlose, in zahllose Einzelscherben zersprin- noch einen Schritt weiter. Er verbindet die fragmentarische, assozi- gende Monolog eines Sterbenden. Die grammatikalischen Sinnein- ativ abbrechende und wieder neu ansetzende westliche Prosa mit heiten werden durch eine exzentrische Zeichensetzung durchkreuzt dem rhapsodisch-märchenhaft en orientalischen Erzählen. und außer Kraft gesetzt. Punkte und Kommata stehen mitten im Satz, häufi g auch Doppelpunkte und Ausrufezeichen; sie bilden Lehr verwendet dieses Mal keine Satzzeichen. Der Text gliedert sich neue, assoziative Bezüge. Vor allem aber stellen sie die gewohnten in einzelne Absätze, in freie Rhythmen, mal in eher getragener und Abläufe in Frage. So, wie der große Roman „Nabokovs Katze“ die bilderreicher, mal in kolloquialer Rede. Es gab einige Kritiker, die angemessene Form für den Inhalt fand, so ist es auch mit der Novel- sich darüber entrüsteten, dass Lehr keine Kommata und auch keine le „Frühling“. Es sieht nur ganz anders aus. Punkte setzte. Das reichte ihnen schon dafür aus, mit dem Lesen gar nicht erst beginnen zu müssen. Thomas Lehr hatte den dazugehö- rigen Aphorismus schon lange vorher geschrieben: „Der Kritiker ist 42 die gefrorene Gestalt, die mit der Axt auf das Meer einschlägt.“

Mit seinem nächsten Buch drehte er den voreiligen Exegeten wie- Die Schauplätze in „September. Fata Morgana“ sind New York und der eine lange Nase. Der Titel des nächsten Romans lautet „42“. Dass Bagdad, und die jeweiligen Lebenssphären erscheinen parallel. Wir Lehr Naturwissenschaft ler ist, scheint sich schon im Titel zu zeigen. folgen, in der jeweiligen Ich-Perspektive, vier Personen, den Erleb- Doch diesmal fühlten sich vor allem Science-Fiction-Liebhaber an- nissen und Erfahrungen von Martin und seiner Tochter Sabrina in gesprochen. Wer Douglas Adams und sein Kultbuch „Per Anhalter den USA sowie von Tarik und seiner Tochter Muna im Irak. Es sind durch die Galaxis“ gelesen hat, weiß, dass die Zahl „42“ hier als Chif- zwei Familien, zwischen denen es keine Berührungen gibt und die fre für die Erklärung der Welt, für den letzten Sinn stand. Eine der doch durch äußere Ereignisse immer mehr miteinander zu tun be- interessantesten Nebenerscheinungen des Romans von Thomas kommen. Lehr war nun, wie sich die Douglas Adams-Fans dazu verhielten: In Internet-Foren wurde „42“ ausgiebig diskutiert und für interessant Die Handlungsstränge bündeln sich am 11. September 2001. Sabri- befunden. Lehrs Roman hat auf jeden Fall Elemente von Science- na möchte sich vor einer Reise gerade von ihrer Mutter verabschie- Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 5

den, die im World Trade Center arbeitet, als das Flugzeug dort ein- Flaschenpost mit auf Papier gedruckter Schrift in die Wellen zu wer- schlägt. Drei Jahre später, im Bürgerkriegszustand in Bagdad, der fen. Und dennoch glaube ich, dass die lange Erfahrung und das auf die US-amerikanische Invasion folgt, verliert auch Tarik seine spezifi sche Ausdrucksvermögen der Literatur immer noch einen Frau und seine älteste Tochter bei einem Bombenattentat auf einem geheimen Vorsprung geben, auch bei der Mitteilung der scheinbar Markt. Das sind die Kulminationspunkte des Geschehens, und es ist kinderleicht multimedial fassbaren Aspekte der globalisierten Welt. beeindruckend, wie realistisch und detailliert Thomas Lehr die All- Deshalb gibt es in meinen Romanen stets den tradierten Blick in tagsbewältigung in den beiden Familien schildert. So eindringlich, die Ferne, deshalb fi ndet man aufwändige Sprachbilder von Bang- wie hier das Leben in Bagdad vor Augen tritt, hat man das in keiner kok, Mexico City, New York und Bagdad. Noch ganz abgesehen von journalistischen Reportage gelesen. den historischen oder politischen Sachverhalten, die sich mit sol- chen Städtenamen verbinden, reizt es mich immer wieder, allein Thomas Lehr hat mit diesem Roman sein ganz großes Romanpro- mit dem Papierschiff chen oder dem Papierfl ieger so weit zu kom- jekt, den Roman als die alles umfassende Form, in unerhörter Weise men und zugleich zurückzufi nden in die weltläufi ge Verzauberung weitergeschrieben. Die Kunst horcht den geheimen Schwingungen der Leseanfänge. nach, sie weiß vieles schon vorher. Martin sagt einmal: „Es gibt ei- nen Grad von Realität, gegen den der Gedanke nichts hilft .“ Aber hin und wieder blitzen Hinweise darauf auf, dass die Realität immer Die Suche nach dem anderen Blick einen Hinterhalt hat. Und genau dort befi nden sich die Romane von Thomas Lehr. Ich gratuliere Thomas Lehr zum Kaschnitz- In der Zeit meiner Schreibanfänge waren junge deutsche Autoren Preis. nicht unbedingt erwünscht. Es stellte dennoch eine enorme Er- leichterung dar, endlich den Schüssel zu sich selbst gefunden zu haben und deutlich sehen zu können, dass es nicht so sehr das An- dere war, das einen ständig hinausziehen wollte, sondern die Suche Thomas Lehr nach dem anderen Blick. Beim Sprung über den eigenen Schatten, stellt sich dieser Blick ein. Er richtet sich auf den nächstliegenden Preisrede zum Marie Luise Kaschnitz-Preis Gegenstand, womöglich gleich auf den eigenen Körper, um ihn so 2012 rätselhaft zu fi nden, als zeichnete er sich neu im Licht der Schöp- fung ab. Und natürlich kommt hier das Wort ins Spiel als das fein- mechanische Instrument, das die Transformation zu beschreiben „Das Weite suchen. Sprachwege in Krieg und Frieden“ lautet das Motto sucht, das Ausdrucksmittel der produktiv befremdeten, alienierten dieser Tagung anlässlich der Verleihung des Marie Luise Kaschnitz- Sichtweise. Wer anders sieht, wird anders sprechen müssen. Das Preises. Ich hatte dieses Motto ausgesucht, als ich gebeten wurde, Selbstverständnis der Sprache löst sich auf und sie sucht erneut, mit mir eine Überschrift für ein ehrenvolles Treff en auszudenken, das Kinderaugen. sich mit meinen Büchern beschäft igen sollte. Nach wie vor ist die Literatur die Kunst, die mit dem Instrument Der zweite Sinn, der sich in der Formulierung Das Weite suchen des expliziten Worts am nächsten an den Wissenschaft en siedelt. In zeigt, verleiht ihr erst die schönen Flügel. Mit dem Davonlaufenwol- der Beschäft igung mit den Wissenschaft en ergibt sich vielleicht len beginnt für mich nämlich die Literatur. Das Ausbüchsen, das kein gleichwertiges Äquivalent zu dem transzendentalen Obdach, Davonsegeln, das Entfl iehen-Müssen und Entkommen-Dürfen steht das die Religion gewähren kann, aber doch der tief greifende und am Anfang fast aller wirklich faszinierenden und literarisch wert- langjährig anhaltende Trost des geistigen Abenteuers, fast kosten- vollen Bücher der Kindheit. Es sind Werke von Stevenson, Defoe, frei erhältlich im Internet und in jeder besseren Bibliothek. Dass Melville, Jules Verne, Mark Twain, die mich in Bann schlagen. Lite- man sich mit wissenschaft lichen und philosophischen Werken an ratur verbindet sich von Anfang an mit dem Motiv des Herausgetra- Ort und Stelle aufmachen kann, um die Erde zu verlassen und be- gen-Werdens, mit dem Abenteuer, denn eines merkte ich bald: Dass freit als neugieriges Alien zurückzukehren, das alles in seine Botani- nur die etwas komplizierteren, umfangreichen, oft mit seltsam ge- siertrommel stecken möchte, von der Relativitätstheorie zu den wundenen Eröff nungen aufwartenden Werke, wirklich zu begeis- Erkenntnissen über die biochemischen Grundlagen des Lebens, tern vermochten. Am Anfang meiner Literatur steht somit die intu- von der Philologie zur Philosophie der Zeit, von den wichtigen po- itive Verbindung von Flucht, Reise und höherem literarischem Stil. litischen Analysen bis zur Geschichte der Sumerer, erfreut mich Wenn man ins Weite will, dann muss auch die Sprache die Segel auch heutzutage noch so sehr, dass ich mich wundere, wie ich Zeit setzen. fi nde, überhaupt eine Zeile zu schreiben.

Der tradierte Blick in die Ferne Eine Literatur der großen Fenster

Heutzutage könnte man wehmütig werden, bedenkt man die über- Zu meiner Vorstellung von gelungener, fesselnder Literatur gehört ragende Rolle, die der Literatur bei der Vermittlung ferner Welten unabdingbar eine gewisse intellektuelle Weite, das sich Inspirieren- zugemessen war: nautisch, malerisch, explorativ. Jahrtausende lang Lassen durch wissenschaft liche Einsichten und die Schärfung des gab es nichts als Sprache und Schrift , um die Länder ausführlicher analytischen Blicks mit Hilfe unterschiedlicher Disziplinen. Der zu beschreiben, aus denen die exotischen Gewürze, die Edelmetalle, Witz dabei ist ein künstlerischer – ein Roman soll dadurch span- die wundersamsten Tiere, die fremden Waren, Statuen und Masken nender werden, insbesondere für den, der nicht nur mit den Augen kamen. Im Zeitalter des augenblicklich per Internet über den ge- liest, sondern auch mit dem darüber liegenden Organ. Auch die samten Erdball verbreitbaren Films scheint es überkommen, eine abstrakte Ferne der Wissenschaft lässt sich in die nahe Sprache des 6 uzneBätr121 // TutzingerBlätter 1/2013 gefunden –von dieverästelte derSatire über psychologische Innenschau, vom mitKodakcolor sattausstaffi Richard K. Frhr Der Schrift Der „Thomas Lehrhatdieverschiedensten Dingeerzählt, underhatdieverschiedensten Formen dafür steller undKritiker . von Rheinbaben des MarieLuiseKaschnitz-Preises, gratulierte Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 Geschichtspanorama biszumbrüchigeninnerenGeschichtspanorama Monolog.“ (re.), Geschäft Helmut Böttiger sführer desTutzinger Unternehmens eurobuch.com, demHauptsponsor lobteinseinerLaudatiodieunterschiedlichenStilformen desAutors: Thomas Lehr zuderAuszeichnung. erten

Fotos: Haist Marie Luise Kaschnitz-Preis 2012 7

Romans bringen, wenn man die Vermittlungs- und Transformati- Roman Nabokovs Katze habe ich die schockierende Wirkung der onsleistung als eine der vielen möglichen künstlerischen Aufgaben Bilder aus den Konzentrationslagern geschildert, die ich zum ersten erfasst. Der Gedanke kann sinnlich werden, also Bild, Szene, fi gürli- Mal mit fünfzehn Jahren durch Erwin Leisers 1960 produzierten cher Dialog oder unerhört neues Wort. Weil man den Reiz der gro- Dokumentarfi lm Mein Kampf zu Gesicht bekam. Konfrontiert mit ßen Diskurse spürt und sich erzählerisch mit komplexen Themen diesem unfasslichen Verbrechen, fragte ich mich lange, wieso wir befasst, muss man kein sperriger oder langweiliger poeta doctus Deutsche überhaupt noch am Leben sein konnten, wie man es aus- sein. Die Weite kann auf ganz verschiedene Art und Weise entste- halten sollte mit dieser ungeheuerlichen Schuld. Ich habe dann hen, gar durch das Paradox einer kunstvoll beschränkten Sprache dieser Fassungslosigkeit dreißig Jahre später in meiner Novelle oder Perspektive. Freilich bin ich zumeist für die Entfaltung und Frühling eine Form gegeben. Der fünfzigjährige Pharmakologe den Überfl uss in sowohl narrativer als auch analytischer Hinsicht. Christian Rauch, Sohn eines Mediziners, der im Konzentrationsla- So könnte das entstehen, was ich eine Literatur der großen Fenster ger Dachau an medizinischen Experimenten an Gefangenen betei- nennen möchte. Steigt man ein in deren Schiff e, segelt man mit ligt war, tötet sich, weil er sein Dasein als unmittelbar Nachfolgen- weiten, verblüff enden, teils gar schwindelerregenden Ausblicken der der Tätergeneration nicht mehr erträgt. Eingefl ossen in diese durch die Welt. Novelle sind die Kindheitserinnerungen an die eigentümliche Wir- kung des Wortes Dachau. Hier, in unmittelbarer Nähe des Starnber- ger Sees, begegnete dem Elf- oder Zwölfj ährigen jedes Mal, wenn Wie weit gehen? der Name Dachau fi el, eine eigentümliche Mischung aus Abwehr und unglaubwürdigen, ausweichenden Sätzen. Als Vierzigjähriger, Wie weit muss diese Literatur denn nun aber gehen? Zunächst wäre nachdem ich Nabokovs Katze geschrieben hatte, musste ich dann da der formale Aspekt: Muss sie sich sprachlich so weit steigern, bis mit konkreten Recherchen den Verbrechen im Konzentrationslager sie als Lyrik die Dichte und Chiff riertheit von Paul Celans Meister- Dachau nachgehen. werken oder als Prosa den Furor von Finnegans Wake erreicht hat, dem Roman-Monster von James Joyce, das seit siebzig Jahren alle Modernisierer blass aussehen lässt und sich liest wie die Mensch- Über den eigenen Schatten springen heitsgeschichte, verfasst von einem Außerirdischen, der mit seinem Papierraumschiff auf der Erde landete? Und auch inhaltlich gesehen Mit der Verbindung von Literatur und den Schiff en des Aufb ruchs ist es nicht leicht, denn schließlich kommt man als Berufsschrift stel- hatte ich diesen Vortrag begonnen, um dann in ganz anderen Wel- ler, der alle paar Jahre ein neues Thema angeht, niemals auf wirkli- ten als den märchenhaft en Fernen meiner Kindheit anzukommen. che Augenhöhe mit den Historikern, Physikern, Philosophen, Ori- Dennoch bleibt der Zusammenhang gewahrt, für mich ist die Lite- entalisten oder Ökonomen, die sich mit den jeweils gleichen ratur das große Schiff , das mich in unbekanntes Terrain hinaus- Sachgebieten beschäft igen, aber ein Leben lang. Wie weit gehen? In trägt, um eine starke, wesensverändernde Erfahrung zu machen. So der künstlerischen Praxis, in der man können muss, was man möch- beginnt auch September, Fata Morgana mit der Fantasie einer Dau, te, ist es vielleicht nicht so schwer wie in der Theorie, in der man eines orientalischen Segelschiff es, das sich aus der Wüste in die Lüf- fordern kann, was man will: Man sucht, bis man die Sprache gefun- te erhebt, um in den konkreten Verwerfungen des 9/11-Attentats den hat. Ich meine damit jenes Gleichgewicht von Form und Inhalt, und des Dritten Golfk riegs zu enden. Ich sage nicht, dass jedes das ein überzeugendes Buch ausmacht. Der Roman integriert seine Buch, auch nicht jedes meiner eigenen Bücher, sich so weit in die Themen und führt sie in seiner Sprache heim. Am Ziel des Buches politische Thematik vorwagen muss. Aber mir erscheint es nötig erweckt es den Eindruck eines wie selbstverständlichen Gleichge- und wertvoll, das zu tun, hinzusehen und über den eigenen Schat- wichts, einer Lösung, einer fl üchtigen Balance der Weltdivergenzen ten zu springen, inhaltlich, sprachlich, formal. Es hat mich berührt, im zerbrechlichen, virtuellen Rahmen des Kunstwerks. in Marie Luise Kaschnitz Büchner-Preis-Rede von 1955 den Satz zu lesen: Überall habe ich nur versucht, den Blick des Lesers auf das mir Bedeutsame zu lenken, auf die wunderbaren Möglichkeiten und die Literatur in Zeiten der Kriege tödlichen Gefahren des Menschen und auf die bestürzende Fülle der Welt. Das ist eine Anregung und bleibende Herausforderung. Sprachwege in Krieg und Frieden heißt der Untertitel dieser Akade- mietagung, in der es auch darum geht, wie die Literatur auf das entsetzliche, periodische Verkommen der Menschheit im Krieg re- (Die vollständige Laudatio von Dr. Helmut Böttiger und die Dankesrede agieren soll. Für deutsche Autoren meiner glücklichen Generation, von Thomas Lehr erhalten Sie auf unserer homepage in der Rubrik die keinen Krieg im eigenen Land miterleben musste, hätte man „Aktuelles“ auf Seite 28.) vielleicht schreiben müssen: „Sprachwege im Frieden und während des Krieges“, um die Entfernung zu markieren, die auch die größten militärischen Aktionen zu unseren konkreten Lebensumständen hatten.

Unmittelbar brannten sich mir als Jugendlichem die Fernsehbilder aus Vietnam ins Gedächtnis, die nackten Kinder, die auf einer ge- borstenen Straße endlos in die Wohnzimmer der verschonten Welt zu fl iehen schienen.

Zur gleichen Zeit wurde mir bewusst, dass ein 1957 Geborener noch am Rand des Krieges zur Welt gekommen war. In meinem 8 TutzingerBlätter 1/2013 // Herbsttagung des Politischen Clubs

Herbsttagung des Politischen Clubs DEMOGRAFISCHER WANDEL

Die Welt altert. Bis zur Mitte des Jahrhunderts wird sich der Anteil der Menschen im Rentenalter mehr als verdoppelt haben. Dabei ist und bleibt Europa der mit Abstand älteste Kontinent. In Deutschland wird die Bevölkerungszahl bis 2060 um 17 Millionen Einwohner zurückgehen. Jeder Dritte wird dann 65 Jahre oder älter sein, jeder Siebte mindestens achtzig Jahre. Vergreist die Republik? Wenn ja, welche Folgen wird das haben?

Der Bevölkerungsschwund verändert langfristig praktisch alle Lebensbereiche: Arbeitsmarkt, Altersvorsorge, den Gesundheitssektor. Wie viel Migration und Integration braucht Deutschland? Ist der Generationenvertrag überhaupt noch haltbar? Sind wir dem demografi schen Wandel hilfl os ausgeliefert? Und wenn „Ich will die Lebensverhältnisse im ländlichen nicht, wie lässt er sich gestalten? Raum stabil halten, damit die jungen Leute nicht weg- ziehen müssen, um sich in den Städten Arbeit zu suchen“, bekundete die Bundesministerin für Ernährung, Auf der Herbsttagung des Politischen Clubs wurden diese Fragen Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Ilse Aigner. leidenschaft lich diskutiert. Dass der demografi sche Wandel nicht nur in den Städten, sondern auch in den ländlichen Regionen seine Folgewirkungen zeigt, können Sie dem Vortrag von Ilse Aigner, Bundes- ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Ilse Aigner entnehmen, den wir nachfolgend in Auszügen widergeben: Wie verändert der demografi sche Wandel den ländlichen Raum?

Wir stehen vor der Herausforderung des demografi - schen Wandels, der sich schleichend vollzieht und zu- gleich für die Perspektiven einiger ländlicher Regionen in Deutschland eine ernsthaft e Bedrohung darstellt. Sei- ne Auswirkungen sind nicht abstrakt, sondern längst spürbar. Denn wo es keine Aussichten auf Beschäft i- gung und Aufstieg gibt, kommt es zur Abwanderung – gerade der jungen Leute. Und so geraten viele periphere Regionen vor allem im Osten Deutschlands in eine Ab- wärtsspirale, deren Lauf sich nur schwerlich aufh alten lässt. Es ist ein Teufelskreis aus Arbeitslosigkeit, Abwan- derung, Schwächen in der Daseinsvorsorge und in öf- fentlichen Infrastrukturen, Geburtenrückgang und schließlich Überalterung. Herbsttagung des Politischen Clubs 9

ten die Agrarausgaben einmal aus. Wir liegen jetzt bei ungefähr 40 Prozent. Und nach den Planungen der Kommission werden wir 2020 nur noch bei ungefähr einem Drittel des Gesamtbudgets liegen.

Solidarität mit den östlichen Nachbarn Dr. Reiner Haseloff , Ministerpräsident von In der Gemeinsamen Agrarpolitik werden wir Solidari- Sachsen-Anhalt, erklärte: tät üben müssen mit den östlichen europäischen Nach- „1990 gab es in barn. Hier übernehmen wir Verantwortung, sind aber Sachsen-Anhalt noch zugleich dazu verpfl ichtet, das Maß des Verträglichen 32.000 Geburten, nicht zu überschreiten. Denn wir müssen dafür Sorge seit 1991 sind es nur noch 16.000 Geburten tragen, dass auch in Zukunft bei uns Landwirtschaft fl ä- und ab 2017 werden es chendeckend betrieben werden kann. Wir wollen sie nur noch 9.000 auch in den sogenannten benachteiligten Gebieten wei- Geburten pro Jahr sein. terhin möglich machen. Es gibt in der Bewirtschaft ung Dann muss die Hälft e große Unterschiede zwischen einem Landwirt in der aller Schulen in unserem Land Magdeburger Börde und einem Bergbauern. Hier brau- geschlossen werden“. Jeder achte Arbeitsplatz hängt von chen wir einen entsprechenden Ausgleich. Und wir der Landwirtschaft ab brauchen Umweltkriterien, die bei uns bereits jetzt schon Anwendung fi nden – 18 Verordnungen allein für die Landwirtschaft . Darüber hinaus diskutieren wir Ich bin der festen Überzeugung, dass die ländlichen über Greening-Komponenten. Ich sage „ja“ zu mehr Räume auf Dauer ohne Landwirtschaft nicht überle- Umweltschutz in der Landwirtschaft . Allerdings: Wenn bensfähig sind. Was erwartet man denn letztendlich am Schluss nur die Bürokratie blüht und nicht die Fel- alles von der Landwirtschaft ? Auf der einen Seite soll sie der, ist keinem geholfen! für ausreichend Nahrungsmittel sorgen. Dies ist die wichtigste Aufgabe der Landwirtschaft . Daneben pfl egt sie unsere Landschaft . Und Landwirtschaft hat zudem Die Energiewende immer häufi ger die Aufgabe, Energielieferant zu sein. Wir zeichnen hier das Gesamtbild einer starken Bran- Für die ländlichen Räume verbindet sich mit dem Ein- Ulrike Mascher, che: von der Ernährung über die Landwirtschaft bis zur stieg in das Zeitalter erneuerbarer Energien eine große Präsidentin des Forstwirtschaft , von der Landmaschinentechnik bis zur Chance. Früher war es doch so, dass die Energie von den VdK-Sozialverbandes, forderte: Saatgutherstellung, von der Veredelung bis hin zu den Städten in die Fläche gebracht werden musste. Heute ist handwerklichen Betrieben, die Lebensmittel verarbei- es genau umgekehrt: Die Energie wird vom Land in die „Wir müssen Kindern ten, hängt jeder achte Arbeitsplatz in unserem Land Städte gebracht. Denn die Energieversorgung der Zu- die beste Schul- und von dieser Branche ab. Unsere Landwirtschaft ist eine kunft ist dezentral angelegt. Die Landwirtschaft hat den Berufsausbildung zukommen lassen. Branche mit Schlüsselfunktion. Sie sorgt nicht zuletzt Grund und Boden, um das Notwendige zur Verfügung Wir müssen privat in den ländlichen Räumen für Stabilität, weil sie dort zu stellen. Die Landwirtschaft hat enorme Antriebskraft vorsorgen und eine aufgrund der Bewirtschaft ung des eigenen Grund und für die erneuerbaren Energien: 67 Prozent der erneuer- betriebliche Zusatzren- Bodens fest verankert ist. baren Energien kommen aus der Biomasse. Bei der Wär- te ansparen. meerzeugung kommen 90 Prozent der erneuerbaren Wir müssen Jugendli- che in allen Lebensbe- Energien aus der Biomasse. Beim Biogas haben wir reichen fördern und Verteilung der fi nanziellen Mittel ebenfalls eine dynamische Entwicklung zu verzeichnen. Frauen bessere Und nicht nur nebenbei stellen wir fest: Die Energie- Chancen auf dem Unsere Landwirtschaft ist auf die Unterstützung aus wende bringt Arbeitsplätze aufs Land. Im vergangenen Arbeitsmarkt geben – dann können wir den Brüssel angewiesen. Deshalb bin ich an der Seite der Jahr waren in der Bioenergie 124.000 Beschäft igte tätig. demografi schen Bundeskanzlerin, wenn es in diesen Wochen um den 600 Energiegenossenschaft en gibt es mittlerweile in Wandel meistern.“ Finanzplan für die Jahre 2014 bis 2020 auf der europäi- Deutschland, wo sich Bürgerinnen und Bürger mit Pro- schen Ebene geht. In dieser Region kommen 40% des duzenten zusammenschließen, um die Energiegewin- Einkommens der Landwirte aus den europäischen Zah- nung in den ländlichen Regionen voran zu bringen. lungen. Sie sind für die landwirtschaft lichen Betriebe Die Wertschöpfung steigt in den ländlichen Regionen, nicht weniger als existenziell wichtig. Je kleiner sie sind, weil man gemeinsam anpackt. desto mehr hängen sie von diesen Zahlungen ab. Na- türlich kenne ich auch die Einwände gegen die Hilfen Mein Ministerium hat deshalb zum Beispiel den Wett- durch die Steuerzahler Europas. Aber ich denke, dass bewerb „Bioenergiedörfer 2012“ ausgeschrieben, bei wir die Größenordnung des Budgets richtig einordnen dem in diesem Jahr zum zweiten Mal 3 besonders vor-

Foto (li.): Haist / Fotos (re.): Schwanebeck sollten. 75 Prozent des europäischen Haushaltes mach- bildliche Dörfer prämiert wurden. Wir zeichnen Dörfer 10 TutzingerBlätter 1/2013 // Herbsttagung des Politischen Clubs

aus, in denen eine starke Nutzung von Biomasse im Fo- Ausbau der Datenautobahnen kus steht und dementsprechend die Wertschöpfung in der Region bleibt. Es gibt insgesamt über 100 Bioener- Wir alle wissen, dass Autobahnen sich wie Lebensadern giedörfer, die auf dem Informationsportal des BMELV durchs Land ziehen. Sie sind überlebenswichtig für die www.wege-zum-bioenergiedorf gelistet sind. Uns sind großen Wirtschaft sunternehmen. Nicht viel anders darüber hinaus weitere rund 350 Gemeinden bekannt, sieht das mit dem Breitbandnetz aus. Nur handelt es bei denen ähnliche Aktivitäten stattfi nden und denen sich hierbei um Datenautobahnen. Und in diesen Da- wir ebenfalls die Vorstellung auf unserem Portal anbie- tenautobahnen steckt für den ländlichen Raum eine Der Präsident des ten. Eine Biomasseanlage bringt Wertschöpfung in die erhebliche Chance. Denn wir werden immer häufi ger Bayerischen Jugendrings, ländlichen Regionen. erleben, dass sich der Arbeitsplatz vom Büro im Unter- Matthias Fack, gab dem nehmen auf die heimische Wohnung verlagert. Dieser Publikum zu verstehen: Gedanke steht auch im Kontext der besseren Vereinbar- „Die jungen Menschen Regionalmarken und Tourismus keit von Familie und Beruf. Aber das ist natürlich nur sehen und erleben ein Aspekt. Es geht vor allem um die Ansiedlung von täglich, dass sie immer Wie kann ich Wertschöpfungskreisläufe in den Regio- kleinen und mittelständischen Unternehmen in den weniger werden. Sie sehen im Straßenbild nen weiter unterstützen? Wir müssen Regionen als Mar- ländlichen Räumen – und damit um die Schaff ung von immer mehr Ältere. ke etablieren: und das kann funktionieren – auch über Arbeitsplätzen! Und da ist heute der Anschluss an ein Und junge Menschen Lebensmittel. Geschmack, Genuss und Esskultur sind schnelles Internet genauso unverzichtbar wie der An- müssen für die in Deutschland angesagt. Besonderer Beliebtheit erfreu- schluss an das Stromnetz. Ohne den geht es nicht! Wir Kinderausbildung en sich vor allem regionale Lebensmittel. Regionalität haben bei der Versorgung mit Breitband in der jüngsten arbeiten und für die Alten. Das stellt für die gibt Geschmack. Regionalität stift et Identität. Regiona- Zeit erhebliche Fortschritte gemacht. Aber es gibt noch heutige Jugend eine lität hat Hochkonjunktur – auch beim Essen. immer einige weiße Flecken auf der Karte. Und der Be- große Herausforderung darf an höheren Leistungen in der Übertragungsge- dar.“ Wie machen wir jetzt eine Region verlässlich kenntlich? schwindigkeit wächst rasant. Der Markt kann die fl ä- Wir haben es doch alle schon mal festgestellt: Schwarze chendeckende Versorgung mit Hochleistungsnetzen Schafe nutzen werbewirksam den Namen einer Region nicht gewährleisten, weil hohe Kosten und niedriger in der Aufmachung ihrer Produkte. Doch der regionale Ertrag für die Anbieter in keinem vernünft igen Verhält- Anteil der Wertschöpfung ist in Wahrheit verschwin- nis stehen. Deshalb brauchen wir staatliche Unterstüt- dend gering oder gar nicht vorhanden. Das verunsichert zung dort, wo der Markt den Netzausbau nicht sicher- Verbraucher. stellt. Hochleistungsinternet darf es nicht nur in den Ballungszentren geben. Nein, es muss genauso in den Ich werbe deshalb für eine zusätzliche Kennzeichnung ländlichen Räumen verfügbar sein! Ich habe in meinem auf freiwilliger Basis, die Transparenz erhöht und vor Etat Mittel, die ich zur Verfügung gestellt habe. Allein allem Verlässlichkeit schafft : Ich werbe für ein Regional- Bayern will 500 Millionen in den Ausbau der schnellen fenster, das auf die Verpackung aufgedruckt wird. Es soll Internetverbindungen investieren. Wir haben es ge- Wir werden immer künft ig Einblick in die Herkunft der Hauptzutaten ge- schafft , mittlerweile für 1 Megabit bis zu 2 Megabit fast älter: Die Lebenserwar- ben. Bei zusammengesetzten Produkten kann jede Zu- Flächendeckung zu erreichen, aber in der Zukunft wird tung lag bei Männern tat einzeln dargestellt werden: aus welcher Region sie das nicht reichen. Da geht es dann um 50 Megabit, die im Jahr 2010 bei 77,2 Jahren und bei Frauen zu welchem Anteil kommt. Zudem sind Aussagen zum wir bis 2018 zur Verfügung stellen wollen. bei 80,1 Jahren. Ort der Verarbeitung oder bei Fleisch, Milch und Eiern Bis 2030 wird es zu auch zur Herkunft der Futtermittel möglich. einem „dezenten Das Modellprojekt „LandZukunft“ Anstieg der Lebenser- wartung kommen“, Die Angaben sollen von neutraler Stelle überprüft und zertifi ziert werden, um ihre Richtigkeit zu gewähr- Wir brauchen meines Erachtens Fördermöglichkeiten rechnete Jan Kurzidim leisten. Im August wurde in Fulda der Trägerverein „Re- gerade für solche Gebiete, die vom demografi schen vom Bayerischen gionalfenster e.V.“ gegründet. Wir haben ein Forschungs- Wandel betroff en sind. Deshalb habe ich hier ein Mo- Landesamt für Statistik und Entwicklungsvorhaben in fünf Testregionen auf dellprojekt „LandZukunft “ auf den Weg gebracht. Mit vor. „Männer werden dann 79 Jahre, Frauen den Weg gebracht. Geplant ist, dass Anfang kommen- „LandZukunft “ möchte ich engagierten Menschen bei 81 Jahre alt“. den Jahres die ersten Produkte mit dem Regionalfenster der Verwirklichung ihrer Ideen zur Seite stehen und sie in den Ladenregalen stehen werden. Auch damit stär- mit geeigneten Partnern innerhalb und außerhalb der ken wir die Strukturen in unseren ländlichen Räumen. Region zusammenbringen. Was kann das konkret be- Entlang von Wertschöpfungsketten, die vom Acker bis deuten? Ich nenne die Steuerung über Ziele im Rah- zum Teller reichen, wird eine wirtschaft liche Dynamik men von Verträgen als gemeinsam vereinbarte Förder- erzeugt, die Arbeitsplätze und Wohlstand fördert. Basie- grundlage. Ich nenne die gezielte Mobilisierung von ren kann der Erfolg regionaler Lebensmittel nur auf Unternehmen und Unternehmern als neue Zielgruppe Transparenz, Qualität und Vertrauen. Und dafür setze der integrierten ländlichen Entwicklung. Und ich nen- ich mich ein. ne die Erprobung alternativer Finanzierungsinstrumen- te in der öff entlichen Förderung – etwa über Mikro- Kredite für Klein- und Kleinstunternehmen wie private Anbieter von touristischen Dienstleitungen in ländli-

chen Räumen. Ich meine: Wir brauchen mehr Freiraum, Fotos (li.): Schwanebeck / Foto (re.): Haist Herbsttagung des Politischen Clubs 11

damit die Ideen von vor Ort tatsächlich umgesetzt wer- Fanal oder Chance? den können. Für LandZukunft haben wir vier Modell- Die Auswirkungen des demografi schen Wandels auf regionen ausgewählt, die jeweils 1,8 Millionen Euro er- den Arbeitsmarkt halten haben: Birkenfeld, Dithmarschen, Holzminden und die Uckermark – unsere Kanzlerin hat besonderes Interesse an dem Projekt bekundet. Wir wollen daraus lernen: Denn die Erkenntnisse aus dem Praxistest sollen später in die Regelförderung einfl ießen. Das Modellvor- haben soll den demografi schen Wandel abbremsen und neue Wege für die Förderung ländlicher Entwicklung aufzeigen, die später auch anderen Regionen in Deutsch- land zugutekommen. Mit dem Projekt LandZukunft senden wir eine klare Botschaft aus: Kluge und kreative Köpfe mit Veränderungswillen haben unsere Unterstüt- zung. Wir wollen anschieben und so neuen Schwung gewinnen!

Sonderinvestitionsprogramm ländlicher Raum Dr. Frank-Jürgen Weise, Vorstandsvorsitzender Bundesagentur für Arbeit Der deutsche Landkreistag fordert ein Sonderinvestiti- onsprogramm ländlicher Raum. Zurzeit gibt es zwei Gemeinschaft saufgaben zwischen Bund und Ländern. Bei seinem Besuch in der Evangelischen Akademie Tutzing erläuterte Die Gemeinschaft saufgabe zur Verbesserung der Agrar- der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Frank-Jürgen Weise, struktur und des Küstenschutzes (GAK) und die Ge- die Auswirkungen des demografi schen Wandels für den Arbeitsmarkt. meinschaft saufgabe der Verbesserung der regionalen Da die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitskräft e bis 2025 Wirtschaft sstruktur (GRW). Beide Aufgaben sind mit rein rechnerisch um bis zu sechs Millionen sinke, sei es notwendig, alle jeweils 600 Millionen Euro Bundesmitteln pro Jahr be- verfügbaren Potenziale auszuschöpfen. stückt. Die GAK wird durch die Länder mit noch ein- mal 400 Millionen Euro kofi nanziert, so dass allein hier „Wir müssen die Voraussetzung schaffen, eine Milliarde Euro pro Jahr zur Verfügung stehen. Es dass Ältere auch mit körperlicher Belastung weiterhin gilt aber auch, die bestehenden Fördermechanismen immer weiter zu überprüfen. Deshalb haben wir für das arbeiten können“, kommende Jahr den Entwicklungskonzepten vorge- schrieben, dass sie die demographische Entwicklung nannte Weise als einen Punkt und führte BMW als Vorbild dafür an. besonders berücksichtigen müssen. Zum Beispiel bei Auch Frauen müssten mehr in den Fokus rücken: der Frage der Wasser- und Abwasserversorgungssyste- me, die sich auch an die Bevölkerungsentwicklung lang- „Gut ausgebildete Frauen müssen die Möglichkeit haben, fristig anpassen müssen. Kinder und Beruf zu vereinen.“ Es gibt Menschen, die wollen gerne in der Stadt woh- Für Weise ist auch eine längere Lebensarbeitszeit in bestimmten Berufen nen, was ich verstehen kann, aber es gibt auch viele denkbar. Besonders am Herzen liegen Weise die Jugendlichen. Menschen, die wollen die Vorzüge des Landlebens ge- nießen. Sie werden nie gleichartig sein, aber sie sollten „Wir haben jedes Jahr immer noch 60.000 bis 80.000 gleichwertig sein. Und dafür lohnt es sich zu streiten in junge Menschen, die die Schule ohne Abschluss verlassen. der Zukunft , aber jetzt auch aktuell in der Politik. Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.“

Doch selbst wenn es gelänge, alle inländischen Potenziale zu aktivieren, brauche Deutschland gezielte Zuwanderung, gab sich Weise überzeugt. „Wir brauchen nicht nur die Arbeitskräfte, sondern als Exportnation auch eine Kenntnis der Sprache, der Kultur derjenigen Länder, in die wir exportieren.“

Als Hürde erweise sich jedoch die deutsche Sprache. „Die Welt spricht eben Englisch.“ 12 TutzingerBlätter 1/2013 // see me! Wozu Menschen mit Demenz uns herausfordern see Foto: Thomas Braner see me! Wozu Menschen mit Demenz uns herausfordern 13

Matthias Glück Wozu Demenz den Arzt herausfordert

Immer wieder besucht die Pfl egekraft die neue Bewohnerin, Frau M., die wegen ihrer fortgeschrittenen Demenz seit kurzem in einer beschützenden Einrichtung untergebracht ist. Sie hat sich in ihr neues Zimmer zurückgezogen, klammert sich an die vertrauten Ge- genstände von zu Hause und lehnt es ab, in den Aufenthaltsraum zu gehen. Die Pfl egekraft lässt sich nicht entmutigen und besucht Frau M nicht nur, wenn sie ihr Medikamente und Mahlzeiten bringt. Im- mer wieder geht sie die letzten Tage zu ihr hin und lädt sie ein, an den gemeinschaft lichen Angeboten der Einrichtung teilzunehmen. me! Frau M. bleibt bei Ihrer ablehnenden Haltung und schickt die Pfl e- gekraft immer wieder weg.

Wozu Menschen mit Demenz Als die Pfl egekraft nach einer Woche wieder morgens in das Zim- mer von Frau M. kommt, begrüßt diese sie mit den Worten: „Ah, die uns herausfordern Frau Bumerang“. Wer kann da noch von „ohne Geist“ (lat. „de mens“) sprechen? Bereits die medizinische Terminologie macht deutlich, wie wenig wir über das Phänomen altersbedingter Störun- Wenn der Arzt die Diagnose Demenz oder gen des Gedächtnisses und des Denkens wissen. De mens – ohne Alzheimer stellt, dann löst das bei Betroffenen und Geist – welch ein Unsinn. Angehörigen gleichermaßen Erschrecken aus. „Den Wievielten haben wir denn heute“ fragt der Patient im Flur Die Krankheit berührt den Menschen in seinem stehend, immer wieder die Ärzte, die gerade Visite machen. Sie sa- gen ihm geduldig der Wievielte ist. Daraufh in geht er für einen Mo- tiefsten Inneren. Sie löscht langsam die Vergan- ment in sein Zimmer, kommt aber nach wenigen Minuten schon genheit, zerstört die Orientierung in der Gegenwart wieder heraus und fragt: „Den Wievielten haben wir denn heute?“. und nimmt die Zukunft. Diese Störungen machen Schließlich gehen die Ärzte, schon ziemlich genervt, mit dem Pati- die Bewältigung des normalen Alltagslebens immer enten in sein Zimmer, um auch ihn zu visitieren. Da zeigt er ihnen die Zeitung, die man ihm gebracht hatte, sie ist von vorgestern. Das schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Gibt es Datum auf der Zeitung stimmt nicht überein mit der Auskunft , die Hoffnung? der Patient immer wieder erhalten hatte. Er möchte eine aktuelle Tageszeitung mit dem heutigen Datum. Ich spüre meine eigene Be- An einer Demenz leiden in Deutschland zur Zeit etwa 1,2 grenztheit, wenn ich die Sprache dementer Menschen nicht verste- Millionen Menschen, davon etwa zwei Drittel an der Alzhei- he. Seit 20 Jahren versuche ich diese Sprache zu lernen. mer-Krankheit. Bis heute gibt es zwar keine Heilung, aber mit moderner Medizin und guter Betreuung lässt sich das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen. Jedoch die Schmerzsyndrome Schätzungen sind beunruhigend: In wenigen Jahrzehnten, so sagen es die wissenschaft lichen Statistiken, wird die Zahl der Oft mals wird die Demenz von ärztlicher Seite als „gnädige Krank- Erkrankten auf drei Millionen Mitbürger ansteigen. heit“ wahrgenommen: „Für die Familie ist das schon schlimm – aber er kriegt ja eh` nichts mehr mit“. Die Vorstellung, der demente Vor diesem Hintergrund diskutierte Studienleiter Frank Mensch würde nicht mehr begreifen, was mit ihm geschieht, ist einer Kittelberger in einer Kooperationstagung mit der Initiative der größten Irrtümer. „Das Herz wird nicht dement“ heißt der Titel End-of-Life-Care des Diakonischen Werkes Bayern, wozu eines kleinen Büchleins über Demenz und emotionales Erleben. Menschen mit Demenz uns herausfordern. Nachfolgend ein Bericht von Dr. med. Matthias Glück, Arzt und Psychothe- Bis zu 50% der Menschen mit Demenz leiden gleichzeitig unter rapeut sowie Geriater und Palliativmediziner am Klinikum Depressionen. Eine beginnende Demenz geht mit einer erhöhten Garmisch-Partenkirchen: Suizidalität einher. Einer der häufi gsten Gründe für Depression und Selbsttötung im Alter ist der unzureichend behandelte, körper- liche Schmerz. Die Veränderungen des Körpers im Rahmen des Alterungsprozesses können auf vielfältige Weise zu chronischen Schmerzen führen. Bei Heimbewohnern bestehen in bis zu 80% Bei einer Demenz-Erkrankung sind vor allem das Schmerzsyndrome. Demente Menschen können ihre Schmerzen Kurzzeitgedächtnis, ferner das Denkvermögen, oft nicht direkt ansprechen, bei schwerer Demenz ist eine verbale die Sprache und die Motorik, bei einigen Formen auch Äußerung oft gar nicht mehr möglich. Auf Schmerzen lässt sich in die Persönlichkeitsstruktur betroff en. vielen Fällen nur indirekt schließen. Der Arzt ist dabei vor allem auf 14 TutzingerBlätter 1/2013 // see me! Wozu Menschen mit Demenz uns herausfordern

die Beobachtungen durch die Pfl ege angewiesen. Bei allen Gesund- dazu, dass die Nieren versagen. Er erhält Infusionen und einen Ka- heitsstörungen dementer Menschen besteht das Problem, dass das theter. Die Schläuche verwirren ihn. Ein Delir entsteht. Die Folge ist direkte Abfragen meist Verwirrung stift et und nicht weiter hilft . eine medikamentöse Fixierung. Delir und Psychopharmaka führen zu einer Schluckstörung. Der Patient verschlechtert sich, er aspi- riert. Eine Lungenentzündung entsteht. Eine antibiotische Thera- Die Ökonomisierung des pie wird notwendig. Unter dieser Behandlung entwickeln sich Gesundheitssystems schwere Durchfälle. Der Patient muss isoliert werden. Die Verwirrt- heit hält an, nimmt eher zu. Der Patient bleibt Monate im Kranken- Der Arzt muss sich den Patienten regelmäßig sehr gut ansehen und haus, kommt nicht mehr auf die Beine und wird schließlich bettlä- vor allem anfassen und berühren, ohne ihn zu erschrecken. Sich auf gerig in das Heim zurück verlegt. den Patienten einzulassen, sich ihm zu nähern und eine Beziehung herzustellen, kostet Zeit und was noch entscheidender ist, bringt wenig Geld. Längst werden die letzten Bereiche einer humanitären Lebenserhaltende Therapien beenden? Gesellschaft ökonomisiert. Das medizinische Interesse an Demenz- patienten besteht vor allem dort, wo man mit ihnen Geld verdienen Erschreckend ist, dass Entscheidungen zur Therapiebegrenzung, kann, also beinahe nirgendwo. Eigentlich hat der demente Mensch zum Verzicht auf lebensverlängernden Maßnahmen bei dementen in unserem Gesundheitssystem keinen Platz. Er ist für die übliche Menschen eher getroff en werden als bei Erkrankungen des Herzens Form der ärztlichen Behandlung nicht brauchbar und bekommt oder der Lunge. Paulus hatte etwa 50 Jahre nach Christus den da- deshalb oft nicht was er bräuchte. Wie fast jeder vernünft ige Mensch, mals revolutionären Satz formuliert: „Es gibt nicht mehr Juden und will der Demente nicht gern zum Arzt, er macht beim Zahnarzt den Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr Mund nicht auf, er verweigert die Spritze und Medikamente. Das alle seid «einer» in Christus Jesus“ (Gal 3,28 f). Alle Menschen sind würde ich auch tun, aber ich unterdrücke meine spontanen Impulse gleich und schon in der Genesis wird die Gleichheit durch die auf dem Zahnarztstuhl und bleibe sitzen. Wer hat recht? Was ist Ebenbildlichkeit zu Gott defi niert. Hierauf beruht die Würde des normal? De mens – ohne Geist – was für ein Unsinn! Menschen. In unserer Individualgesellschaft ist der höchste Wert die Selbstbestimmtheit. Diese bleibt aber immer nur ein Teil der In einem hochspezialisierten Krankenhaus, in dem die Verweildau- Würde, kann angesichts von Krankheit und Behinderung niemals er immer kürzer wird, fi nden die nachvollziehbaren Reaktionen der die Würde selbst defi nieren. dementen Patienten wenig Geduld. Sie stören den reibungslosen Ablauf. Während noch vor 20 Jahren die durchschnittliche Aufent- „Innen bin ich noch genauso wie Sie!“ hatte einmal eine Patientin haltsdauer auf einer internistischen Station bei 14 Tagen lag, sind zu mir gesagt. Die Frage, wann eine Behandlungsmaßnahme noch wir heute bei einer durchschnittlichen Verweildauer von 4,7 Tagen dem Willen des Patienten entspricht oder wann lebenserhaltende angelangt. Aus wirtschaft lichen Gründen wird der Ablauf reibungs- Therapien beendet werden sollten, diese Frage stellt den Arzt bei los organisiert sein. Aufgrund eines Vergütungssystems, in dem Demenz vor ganz besondere Herausforderungen. Herr A. liegt seit nach Diagnosen bezahlt wird, muss der Patient möglichst rasch wie- drei Jahren im Bett, brummelt wenn man ihn begrüßt, hält Blick- der entlassen werden. Beim dementen Patienten ist aber nicht die kontakt und das Essen schmeckt ihm sichtlich. Die Ehefrau möchte Diagnose, die zur Einweisung führt, das Entscheidende für den sta- nicht, dass ein erneuter Infekt nochmals mit einem Antibiotikum tionären Behandlungsverlauf, sondern eben die gleichzeitig und behandelt wird. Sie ist überzeugt, ihr Mann würde so nicht mehr vor allem bestehende dementielle Erkrankung. leben wollen. Wenn eine Lungenentzündung bedeuten würde, dass sein Leben zu Ende geht, wäre das in seinem Sinn, meint seine Ehe- frau. Ich weiß es nicht. Eine Patientenverfügung gibt es nicht. Sechs Minuten pro Patient Bald ist wieder Weihnachtsfeier in dem Heim, in dem ich als Arzt Jeder zweite demente Patient kann durch die stationäre Einweisung Bewohner mit Demenz behandeln darf. Wenn viele, die sonst ein Delir (Verwirrtheitszustand) entwickeln, eine häufi g lebensbe- schweigen, die Weihnachtslieder singen und freudig aufgeregt ihre drohliche Situation, die bis zu 6 Monate anhalten kann. Die ärztli- Geschenke auspacken, spüre ich: Innen sind sie ganz genauso wie che Versorgung dieser Menschen sollte schon allein deshalb, wann ich. immer möglich in der vertrauten Umgebung stattfi nden. Es reicht aber bei weitem nicht, zu sagen, die Versorgung dementer Men- schen ist Aufgabe des Hausarztes. Die Rahmenbedingungen der Der Arzt, Psychotherapeut und hausärztlichen Versorgung sehen ein Honorar von etwa 45 Euro Geriater Dr. med. Matthias Glück pro Patient für die Behandlung über 3 Monate vor. Man nennt das gelangte zu dem für manche Tagungsgäste überraschenden Urteil: Regelleistungsvolumen und dieser Begriff macht deutlich, dass es Das Herz wird nicht dement. auf das Volumen ankommt. Die große Menge sicherte dem Arzt ein gutes Einkommen. Die Behandlung des Einzelnen hat deshalb Eine Ausstellung mit 30 Fotografi en, schnell zu gehen. 6 Minuten pro Patient im Durchschnitt. die Menschen mit Demenz in einem Altenpfl egeheim authentisch darstellt, konnte im Musiksaal des Schlosses Ein Beispiel: Der Patient hat zu wenig getrunken. Er ist ausgetrock- während der ganzen Tagung besichtigt net und stürzt. Der Arzt wird telefonisch benachrichtigt und veran- werden. Der Fotograf Thomas Braner lasst aus der Sprechstunde heraus die Krankenhauseinweisung. Der und die Initiatoren der Ausstellung Patient wird stationär aufgenommen – zur Beobachtung. Er trinkt waren anwesend und stellten sich dem Gespräch mit dem Publikum. weiter zu wenig und erhält Schmerzmittel. Beides zusammen führt Foto (li.): Kittelberger / (re.): Fotolia Mein Kind ist behindert 15

Bei Familien mit behinderten Kindern stellt sich immer wieder die Frage: „Wer kann welche Hilfen leisten?“ „MEIN KIND IST BEHINDERT“

Ein Kind stellt seine Familie und Umgebung je nach Lebensal- noch weite Strecken bis zu einer „Gesellschaft der Vielfalt“ zu- ter vor unterschiedliche Herausforderungen. Bei Kindern mit rückzulegen. Behinderungen ist das nicht anders. Es ist oft nur schwieriger. An welchen Punkten haben Familien welchen Unterstützungs- Studienleiterin Dr. Ulrike Haerendel erörterte in einer Koope- bedarf? Wie können die Kinder ihren Bedürfnissen entspre- rationstagung mit Barbara Christian und Renate Zeilinger, chend begleitet werden? Und: Wer kann welche Hilfen leisten? Diakonisches Werk Bayern und Evangelische Aktionsgemein- schaft für Familienfragen in Bayern (eaf bayern), wie Eltern die Viele Eltern wollen nicht nur Förderung für ihre behinderten Fortschritte auf dem Gebiet der Inklusion erleben, was die Kinder, sondern Wahlmöglichkeiten unter den Angeboten, die Fachleute sagen und wie sehr sich alle Verantwortlichen noch sich an alle Kinder richten, insbesondere auch im Bildungssys- bewegen müssen. Über Inklusion in Bayern referierte die bay- tem. Ihre Kinder sollen als Kinder unter Kindern groß werden. erische Behindertenbeauft ragte, Irmgard Badura. Nachfolgend Das ist leicht gesagt. Jedoch sind auf dem Weg zur Inklusion ein Auszug aus ihrem Vortrag: 16 TutzingerBlätter 1/2013 // Mein Kind ist behindert

Die bayerische Behinderten- weigerlich eine geistige Behinderung drohen soll. Ja, es ist richtig, beauft ragte Irmgard Badura dass Menschen mit Down-Syndrom langsamer lernen. Es ist falsch, bezeichnete es als den wichtigsten dass sie sich nur begrenzt entwickeln können. Viele Beispiele zei- Auft rag an die Familien, dass Kindern und Jugendlichen mit gen, dass auch Menschen mit Down-Syndrom ein erfülltes Leben Behinderung ein selbstständiges führen können. Sie erreichen Berufsabschlüsse, beispielsweise als Leben in der Gesellschaft ermöglicht Bäckergeselle oder sogar Studienabschlüsse, wie etwa der spanische werden solle. Schauspieler und Lehrer Pablo Pineda.

Das „Risiko“ für die Eltern besteht wohl eher darin, dass sie und ihr künft iges Kind mehr Einsatz und Durchsetzungskraft brauchen, insbesondere wenn es um Behörden und andere Institutionen geht. Spricht man mit betroff enen Eltern, so sehen sie ihre Kinder mit Irmgard Badura Down-Syndrom als Bereicherung, auch wenn die Benachteiligung durch die Gesellschaft teilweise massiv ist. Sind Menschen mit Tri- Inklusion in Bayern: Fortschritte und somie 21 für die Gesellschaft ein Risiko? Damit kann doch nur der Hemmnisse für Familien fi nanzielle Aufwand gemeint sein, damit die Menschen von Anfang an in der Gesellschaft dabei sind. Dieses Argument überzeugt nicht, „Wir fühlen uns so alleingelassen“, das ist zum Teil die zentrale Aus- da es Menschen mit Behinderung zu einem bloßen Kostenfaktor sage von Eltern von Kindern mit Behinderung. Ganz unabhängig degradiert und deren Bereicherung für eine vielgestaltige Gesell- davon, ob die Kinder den Kindergarten oder die Schule besuchen, schaft unbeachtet lässt. Dieses Bewusstsein fehlt jedoch häufi g bei gibt es immer die typische Situation, dass die Eltern zu wenig über denen, die werdende Eltern beraten. Ich erwarte hier insbesondere die bestehenden Beratungsangebote wissen. Oft stellt sich bei ihnen von den betroff enen Professionen in den Arztpraxen und Bera- das Gefühl ein, dass sie um alles kämpfen müssen: notwendige The- tungsstellen eine refl ektierte und refl ektierende Haltung im Hin- rapien, Hilfsmittel, Kindergartenplatz, Schule aber auch Freizeitak- blick auf werdende Eltern. Diese Haltung muss gekennzeichnet tivitäten, Stichwort Sportvereine. sein von einem klaren Blick, dass Behinderung nicht nur eine me- dizinische, sondern eine gesamtgesellschaft liche Frage ist. Gegensatz zwischen Politik und Lebenswirklichkeit der Familien Frühförderung Im völligen Gegensatz stehen dazu die aktuellen Aktivitäten von Genauso von gesellschaft licher Relevanz ist die Arbeit der Frühför- Politik, Verwaltung und Verbänden. In jedem Landkreis und in je- derstellen. Die Frage lautet: Wie kann die Frühförderstelle dazu bei- der kreisfreien Stadt haben wir familienentlastende Dienste, die tragen, dass das Kind dann tatsächlich auch volle uneingeschränkte von den Stellen für off ene Behindertenarbeit betrieben werden. Wir Teilhabe erreicht. In der Zukunft sehe ich jedoch weiteres Potenzial haben ein Netz von Frühförderstellen und sozialpädiatrischen Zen- für die Frühförderstellen. Ein wichtiger Punkt ist nur, dass das Bera- tren in allen Regionen. Alle Schulämter haben einen verantwortli- tungs- und Behandlungsangebot so unkompliziert wie möglich für chen Mitarbeiter für schulische Fragen rund um die Inklusion. Die- die Eltern erreichbar ist. Dazu müssen die Träger der Sozialhilfe ser Gegensatz zwischen dem Angebot auf der einen Seite und der und die Krankenkassen gemeinsam mit den Trägern die jetzt gülti- Lebenswirklichkeit von Familien ist aus meiner Sicht das zentrale ge Rahmenvereinbarung weiterentwickeln. Wichtig ist auch, dass Hemmnis für eine bessere Teilhabe von Menschen mit Behinde- die Frühförderstellen sich noch stärker mit den anderen Akteuren rung und ihrer Familien. im Bereich der frühen Hilfen und der frühkindlichen Bildung ver- netzen. Ein erster wichtiger Schritt dazu ist, dass alle beteiligten Professionen eine gemeinsame Sprache erhalten. Die Erarbeitung Vor der Geburt der Bayerischen Bildungsleitlinien für Kinder von 0 bis 10 Jahren durch die Bayerische Staatsregierung ist aus meiner Sicht ein wich- Bereits in der Schwangerschaft steht das Thema einer möglichen tiger Schritt in diese Richtung. Beeinträchtigung des Kindes im Raum. Was mir in diesem Zusam- menhang fehlt, ist eine echte ethische Auseinandersetzung der Ver- antwortlichen mit den medizinischen Möglichkeiten. Ich möchte Kindertageseinrichtungen das am aktuellen Beispiel der Diskussion um die neuen diagnosti- schen Möglichkeiten und Bluttests im Hinblick auf Trisomie 21 Ein wichtiger Vernetzungspartner der Frühförderstellen ist derzeit erläutern. Auf den ersten Blick ist es natürlich gut, wenn es anstatt in Bayern besonders in der Diskussion, die Kindertageseinrichtun- einer Fruchtwasseruntersuchung einen entsprechenden Test für die gen, insbesondere Kindergärten und Horte. Die Debatte um die Blutuntersuchung gibt. Die Frage ist jedoch, aus welchem Verständ- Novellierung des Bayerischen Kinderbildungs- und Betreuungsge- nis heraus und mit welchem Ziel dieser Test durchgeführt wird. Die setzes ist gerade im vollen Gange. Wie Sie vielleicht wissen, erhalten Firma, die diesen Test vertreibt, argumentiert, es gehe darum, das Kinder mit Behinderung in Kindertageseinrichtungen in der Regel Risiko einer Behinderung auszuschließen. Behinderung als Risiko? die 4,5-fache Förderung im Vergleich zu Kindern ohne Behinde- Für wen? Für das Kind? Für die Eltern? Für die Gesellschaft ? Natür- rung. Diese positive Regelung soll auch so im Gesetz bleiben. Den- lich besteht beim Kind die Gefahr gesundheitlicher Einschränkun- noch gibt es in der Praxis Probleme. Die gesetzliche Situation ist gen, keine Frage. Welche genau diese sind, kann jedoch kein Test eindeutig: Kinder mit Behinderung sollen den Kindergarten am

voraussehen. Besonders kritisch sehe ich die Einschätzung, dass un- Wohnort besuchen, die schulvorbereitenden Einrichtungen der Foto: StMAS Mein Kind ist behindert 17

Förderschulen sind nachrangig. In der Realität tauchen dort Pro- und dem Studium. Ein aktuelles Hemmnis ist etwa die Weigerung bleme auf, wo Kindergärten und ihren Trägern als auch den Eltern der Bundesagentur für Arbeit, gehörlosen Berufsschülern den Ge- Informationen fehlen. Es gibt nach wie vor Kindergärten, die Kin- bärdensprachdolmetscher in der Berufsschule zu fi nanzieren. So- der mit Behinderung ablehnen. wohl rechtlich als auch politisch ist die Haltung der Agentur mei- ner Meinung nach falsch und gegenüber den betroff enen Schülern Ich appelliere an dieser Stelle insbesondere an die Dachverbände ungerecht. Thema Gehörlosigkeit: Für den gehörlosen Studieren- der Träger, hier für mehr Klarheit zu sorgen. Die Informationen zur den gilt: Er bekommt den Gebärdensprachdolmetscher nicht fi nan- Förderung sowie zur inhaltlichen Arbeit müssen die Kindergärten ziert, wenn er Einkommen und Vermögen über der Sozialhilfegren- vor Ort deutlich besser erreichen. Insbesondere kleine Kindergär- ze hat. Das gilt beispielsweise nicht für Auszubildende mit ten brauchen aktive Unterstützung. Gleichzeitig brauchen wir eine Behinderung, die in einer stationären Einrichtung ihre Ausbildung deutlich verbesserte Kultur des Dialogs, weil nur im gemeinsamen machen, beispielsweise in einem Berufsförderungswerk. Diese Un- Gespräch gute Lösungen möglich sind. gleichbehandlung hat auch Auswirkung auf die Familie.

Schule Wohnen und Freizeit

Mehr Dialog und Zusammenarbeit brauchen wir auch in der Schu- Meistens bleibt die Unterstützung durch die Familie für Menschen le. Der Kampf um die wohnortnahe Schule, der Einsatz von Schul- mit Behinderung unverzichtbar, insbesondere wenn es um das The- begleitern sind häufi g Probleme, mit denen sich die Eltern an mich ma Freizeit und Wohnen geht. Insbesondere bei Menschen mit so- wenden. Trotz aller Besserungen wird nach wie vor von Eltern und genannter geistiger Behinderung gibt es häufi g nur die Alternative Kindern eine große Anpassungsleistung erwartet. Das System Schu- Familie oder Wohnheim. Auch wenn die Menschen bei ihren Eltern le bzw. Bildung muss mehr auf uns Menschen ausgerichtet werden, wohnen, die Eltern selbst werden ja auch älter. Viele Familien fragen nicht ausschließlich umgekehrt. Wir brauchen qualifi zierte Bera- sich dann: Wie geht es weiter? Oft bleibt dann nur noch der Weg ins tung und bessere Unterstützung für die Familien rund um das The- Wohnheim. Doch wie könnten in Zukunft Alternativen aussehen? ma Schule. Dringlich ist der Ausbau bzw. die Errichtung entspre- Die Träger haben bereits begonnen, weitere Wohnformen zu entwi- chender unabhängiger Beratungsstellen, die interdisziplinär ckeln, beispielsweise Wohngemeinschaft en oder weitere betreute strukturiert sind, bestehend aus Regelschulpädagogen, Sonderpä- Wohnangebote. Eine Möglichkeit, die ich in Großbritannien ken- dagogen und Schulpsychologen. Sie sollen die Eltern sowohl bei nen gelernt habe, ist die Bildung von sogenannten Unterstützerkrei- der Frage des Schulbesuchs als auch in sozialrechtlichen Fragen sen. Sie ermöglichen den betroff enen Menschen möglichst selbst- (Schwerbehindertenrecht, Eingliederungshilfe) allgemein beraten ständig zu leben. Das Besondere ist, dass diese Unterstützer nicht können. Wünschenswert wäre die Vernetzung dieser Beratungsstel- von Pädagogen oder sonstigen Betreuern ausgewählt werden. Der len mit den Frühförderstellen, sozialpädiatrischen Zentren, Kinder- Mensch selbst sucht sich seine Unterstützer aus. Die Unterstützer- tageseinrichtungen und den sonstigen Einrichtungen und Initiati- kreise treff en sich regelmäßig und sprechen die notwendige Assis- ven der Behindertenhilfe. Letztendlich muss es das Ziel sein, für ein tenz für den Menschen ab. Mitglieder sind beispielsweise Freunde, Kind mit Behinderung einen abgestimmten Gesamtplan zu schaf- Nachbarn oder Arbeitskollegen. Es gibt regelmäßige Treff en, die fen. Dessen Inhalte wären neben notwendigen Therapien die ent- von den Nutzern selber geleitet werden. Eine Debatte über solche sprechenden Förderungen und Hilfen zum Schulbesuch. und ähnliche Konzepte halte ich für notwendig.

Sozialberatung ist wichtig Teilhabe und Selbstbestimmung beginnt in den Familien Insbesondere was die Sozialberatung betrifft , sehe ich die Dienste der off enen Behindertenarbeit in der Pfl icht, dieses Angebot sicher- Denn das ist der wichtigste Auft rag an die Familien: Kindern und zustellen. Dies ist bei Sozialleistungen für Kinder und Jugendliche Jugendlichen mit Behinderung soll ein selbstständiges Leben in der besonders wichtig. Oft gibt es ja Probleme, weil sich Behörden für Gesellschaft ermöglicht werden. Natürlich haben wir noch sehr vie- nicht zuständig erklären. Obwohl es hierfür klare Spielregeln gibt, le gesellschaft liche Barrieren, Diskriminierung gehört noch immer damit der Behördenstreit nicht auf dem Rücken der Familien aus- zum Alltag vieler Menschen mit Behinderung. Aber auch die Fami- getragen wird, passiert das trotzdem in der Praxis. In einer solchen lien müssen lernen, ihren Kindern die vollwertige Teilhabe zuzu- Lage brauchen die Familien eine gute Unterstützung. Die Unter- trauen. Und wir Menschen mit Behinderung selbst sind gefragt, stützung sollte jedoch ein klares Ziel haben: Es soll die Familien selbstbewusst und selbständig zu sein. Damit diese Herausforde- befähigen, auf Dauer selbst ihre Interessen als Experten in eigener rung gelingt, brauchen die Familien deutlich mehr Unterstützungs- Sache durchzusetzen. Wo Menschen mit Behinderung notwendige angebote, deutlich mehr Beratung und deutlich mehr Rückhalt in Assistenzkräft e brauchen, müssen diese auch zur Verfügung gestellt unserer Gesellschaft . Ein zunehmend unverkrampft er Umgang mit- werden. einander, ein realistisches Bild von uns Menschen mit Behinderung in den Medien und eine konsequente Umsetzung unserer Gesetze – das sind die Anforderungen, die ich als Beauft ragte an mich und Berufsausbildung und Studium meine Arbeit stelle.

Die Perspektive, Organisation der notwendigen Assistenz, die sich am individuellen Bedarf orientiert, ist auch das Prinzip für den wei- teren Bereich der Bildung, beispielsweise bei der Berufsausbildung 18 TutzingerBlätter 1/2013 // Kanzelrede Kanzelrede Fotos: Haist Kanzelrede 19

Seit Jahren schon ergreifen promi- Der Buchdruck - Ängste und nente Rednerinnen und Redner das Zensur Wort von der Kanzel in der Erlöser- Die Entdeckung des Buchdrucks wurde freilich nicht kirche, München-Schwabing. nur bejubelt. Die neue Kulturtechnik löste auch Ängste aus. So war es in der katholischen Kirche gar nicht er- Dabei sollen die Vortragenden in wünscht, die Bibel in der eigenen Sprache zu lesen. Im ihrer Kanzelrede einen kräft igen Jahre 1199 hatte Papst Innozenz III. die Lektüre der Bi- bel in privaten Zusammenkünft en sogar offi ziell verbo- rhetorischen Akzent setzen und ten. Unbeaufsichtigte Bibellese von Laien galt der Kir- BR-Intendant Bezug nehmen auf unser gegenwär- che als Gefahr – offi ziell aus dem Grund, den Glauben Ulrich Wilhelm, der in reinzuhalten. Die Bibellese verstärkte auch schwärmeri- seiner Kanzelrede einen Spannungsbogen vom tiges geistiges, politisches und kultu- sche Bewegungen. Durch die Einführung des Buch- Buchdruck bis zum relles Klima im Land. drucks stieg die vermeintliche Gefahr noch ganz erheb- Internet skizzierte, lich. So rief 1501 Papst Alexander VI. in einer Bulle, die betonte für den öff entlich- an vier deutsche Erzbischöfe adressiert war, zur Bücher- rechtlichen Rundfunk: „Wir müssen nicht jeden Am Sonntag, den 7. Oktober 2012, hielt zensur auf. Und so wurde durch diese Bulle unter An- Hype mitmachen. Ulrich Wilhelm, Intendant des Bayerischen Rund- drohung der Exkommunikation jedes weitere Drucken, Wir müssen wichtige funks, die Kanzelrede in der Erlöserkirche das Vertreiben, Besitzen und Studieren solcher „schäd- Themen vertiefen, München-Schwabing. Gespannt verfolgten etwa licher“, aber eben auch „ungeprüft er“ Bücher verboten. langfristige Entwicklungen 200 Besucher sein Plädoyer über die Herausforde- und Hintergründe solide aufarbeiten.“ rungen, vor denen die moderne Medienwelt heute Freilich: Nicht nur in Rom, sondern auch von reforma- steht. Lesen Sie nachfolgend einen Auszug aus torischer Seite gab es Zensurbemühungen. Martin Lu- seinem Vortrag: ther selbst warnte angesichts der Sorge vor Verwirrun- gen und „falscher“ Lehre vor einer völligen Pressefreiheit und bat befreundete Fürsten um Schutz vor Schrift en so genannter Wiedertäufer. Genützt hat es vermutlich Ulrich Wilhelm wenig. Die neue Kulturtechnik war in der Welt, und der deutschsprachige Raum wurde damals von Druck- Mehr Möglichkeiten. Mehr schrift en, Flugblättern und Predigten regelrecht über- Verantwortung. fl utet.

„Im Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott. Neue Kommunikationswege: Und Gott war das Wort.“ Telegrafi e, Film und Rundfunk Worte wie diese deuten an, wie viele Bezüge es zwischen Schon seit Jahrtausenden weiß man um den Wert von Theologie und Kommunikation gibt. Gemeinsam ist Informationen. Exklusive Nachrichten können über uns in Medien und Kirche, dass wir wissen: Worte sind Armut und Reichtum, über Krieg und Frieden ent- nicht nur Worte, Worte haben eine Wirkung. Ohne das scheiden. So ist es kein Wunder, dass sich die Menschen Wort, ohne Kommunikation, hätte sich der christliche schon immer um einen schnellen Informationsaus- Glaube nicht ausbreiten können. Doch jede noch so tausch bemüht haben. Die entscheidenden Verände- gute Botschaft ist zum Scheitern verurteilt, wenn es rungen bei der Informationsübermittlung brachte die nicht gelingt, eine Idee auch in die Köpfe und Herzen Entwicklung der Telegrafi e. Als schließlich um 1860 die der Menschen zu bringen. Nicht von ungefähr heißt es, ersten Unterseekabel zwischen Europa und Amerika Martin Luther habe den Teufel mit Tinte vertrieben. verlegt wurden, hatte das nicht nur Auswirkungen auf Geholfen hat Martin Luther nämlich eine mediale Re- die Kommunikation, sondern auch auf den Handel volution: die Erfi ndung des Buchdrucks mit bewegli- zwischen den Kontinenten. Wirtschaft shistoriker spre- chen Lettern. Ohne die von Gutenberg entwickelte chen von einer ersten Welle der Globalisierung. Buchdruckkunst wäre Luther nicht so schnell zum Bestseller-Autor geworden. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist die Kraft der Sugges- tion dazu gekommen. Als die Brüder Lumière in Paris, die Brüder Skladanowsky in Berlin und Thomas Edison in den USA ihre ersten Filme präsentierten, war das eine Sensation. Diese Filme, die meist nur wenige Sekunden und später wenige Minuten lang waren, entfalteten eine geheimnisvolle, fast schon unheimliche Wirkung.

Nicht minder groß war die Wirkung des Rundfunks: Als die Welt 1938 an der Schwelle zum 2. Weltkrieg stand, genügte in den USA ein Hörspiel von Orson Wel- 20 TutzingerBlätter 1/2013 // Kanzelrede

In der Erlöserkirche: Akademiedirektor Udo Hahn, BR-Intendant Ulrich Wilhelm, der Freundeskreisvorsitzen- de der Akademie, Prof. Dr. Hans-Joachim König, und der Kuratoriumsvorsitzende der Akademie, Prof. Dr. Gunther Wenz (v.l.).

les über eine Invasion von Außerirdischen, um die denselben Bildschirmen und Geräten empfangen wer- Menschen in Panik zu versetzen. Manche Radiohörer den! Welche Konsequenzen sollen wir daraus ziehen? glaubten wegen des dokumentarischen Charakters an Ich nenne vier Punkte: eine wirkliche Invasion von Marsmenschen. Die New York Times forderte einen Schutz der Öff entlichkeit vor solchen Übertragungen. Die Begründung: Der Rund- Die zunehmende Individualisierung genieße eine außerordentliche Autorität bei der Bevölkerung. Familien sitzen nur noch selten gemeinsam vor dem Fernseher. Jeder hat sein eigenes Gerät. Und immer mehr Menschen stellen sich ihre eigenen Inhalte zu- Das Internet und das „globale Dorf“ sammen. Die Folge: Jeder wird sein eigener Programm- direktor. Die Zahl der Zuschauer, die sich ein bestimm- Die Welt um uns herum hat sich seit 1938 gravierend tes Programm gleichzeitig ansehen, um dann darüber verändert: Spätestens seit Einführung des Internets be- zu sprechen, wird kleiner. Die klassischen Medien ha- wegen wir uns inmitten eines „globalen Dorfes“ (Mar- ben ihre Lagerfeuer-Funktion verloren. An die Stelle shall McLuhan). Informationen aus aller Welt sind nur der Gespräche am Lagerfeuer treten punktuell der „di- einen Klick voneinander entfernt. Wir sind fast rund um gitale Storm“, die „Likes“ und „Dislikes“, die in Windes- die Uhr online. Wir sehen die Chancen, die mit dieser eile Millionen weltweit mobilisieren können, bestimm- Entwicklung verbunden sind, und die Risiken. Und des- te Seiten im Netz anzusehen. Das ist – wenn man so halb müssen wir uns auch die Frage nach der Verantwor- will – das digitale Lagerfeuer. tung stellen, die mit dieser Entwicklung verbunden ist. Hier deutet sich ein Problem an, das uns als Gesellschaft Auf der einen Seite werden das Internet und die neuen betrifft : Für welches gemeinsame Bild unserer Gesell- sozialen Kommunikationsmittel oft mit dem Stichwort schaft wollen wir stehen? Wie können wir unserer Mit- einer „Demokratisierung“ der Medien verbunden. Jeder verantwortung für den Zusammenhalt unseres Landes kann jetzt Informationen weitergeben, über einen Blog, gerecht werden? über Facebook, über Twitter. In der arabischen Welt ha- ben wir bereits gesehen, welche ungeheure Macht die Wir müssen die verbindenden Elemente stärken. Dazu sogenannten sozialen Medien entfalten können. gehört die Frage, auf welchen Foren wir uns über die Grundfragen unserer Demokratie austauschen können. Andererseits erleben wir, dass ungeprüft e Behauptun- Wo erhalten möglichst viele von uns gleichzeitig die gen, Gerüchte, Beleidigungen im Netz eine enorme wichtigen Informationen? Wer hilft uns bei der Einord- Wirkung entfalten können. Wir leben zudem in recht- nung und Orientierung? Wer weckt das Interesse an lich ungleichen Verhältnissen: Während wir als öff ent- Fragen der res publica, das sich dann in Wahlen und lich-rechtliche Sender zu Recht strengen Aufl agen un- Abstimmungen widerspiegelt? Wie sieht es mit dem terliegen – im Hinblick auf Persönlichkeitsschutz, kontinuierlichen gesellschaft lichen Diskurs aus, ohne Jugendschutz, Datenschutz –, sind Regelungen im In- den eine Demokratie nicht funktionieren kann? ternet ungleich schwieriger durchzusetzen. Wir werden

aber alle über kurz oder lang auf einer Oberfl äche, auf Foto: Haist Kanzelrede 21

Ich denke: Vornehmste Aufgabe der Medien ist es, ei- de aufarbeiten, manchmal sogar entschleunigen zu- nen Beitrag zum Funktionieren der freiheitlich-demo- gunsten nachhaltiger Recherche. kratischen Meinungsbildung zu leisten. Um sich aus- zutauschen, müssen Menschen wissen, wovon die anderen reden. Die Basis für diesen Informationsaus- Freiheit und Verantwortung tausch zu legen – darin liegt eine zentrale Verantwor- tung der klassischen Medien. Dabei denke ich beson- Beim Blick in die Zukunft müssen wir uns vor zwei ders an die Rolle des öff entlich-rechtlichen Rundfunks Missverständnissen hüten. Zum einen, dass man die und die der Qualitätszeitungen. Selbstverständlich bie- alten Zeiten glorifi ziert – als ob es nicht auch in der tet auch das Internet Plattformen für einen gemeinsa- Vergangenheit bei den traditionellen Medien verant- men Diskurs. wortungsloses Handeln gegeben hätte: Immer wieder gab es Medienskandale, immer wieder Falschmeldun- gen. Das andere Missverständnis wäre, bei den neuen Die Zahl der Informations- Medien in erster Linie die negativen Seiten zu sehen quellen steigt, die Unübersichtlich- und nicht auch die Möglichkeiten, die damit verbun- den sind: die Möglichkeit, sich zu bilden und zu keit nimmt zu unterhalten, sich schnell und gezielt zu informieren, die Möglichkeit, mit Freunden in aller Welt in Kontakt Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass sich heute zu sein. Ich meine die entscheidende Aussage ist, dass das Wissen der Menschheit alle fünf bis zwölf Jahre ver- Freiheit und Verantwortung stets korrespondieren doppelt. Daraus folgt: Wer angesichts der überwältigen- müssen, dass die neuen Möglichkeiten auch neue den Wissens-Flut nicht gleich aufgeben will, der muss Verantwortung erfordern. auswählen. Der muss vor allem lernen, was sich zu wis- sen lohnt. Überspitzt gesagt: Man kann stundenlang im Wer übernimmt die Verantwortung, wenn im Netz sehr Netz surfen, Informationen und Meinungen konsu- großzügig mit dem Urheberrecht umgegangen wird? mieren, ohne danach nur einen Deut klüger zu sein. Und wie ist das mit den Umgangsformen im Netz? Da- Vom Medienkritiker Neil Postman stammt die These, mit bin ich bei einem klassischen Problem: Inwieweit dass wir uns nicht nur zu Tode amüsieren, sondern gerät die Freiheit durch den schrankenlosen, verant- auch zu Tode informieren. Er nannte das „Overnewsed, wortungslosen Gebrauch ihrer selbst in Gefahr? but underinformed“.

Natürlich liegt die Unübersichtlichkeit nicht nur am „Freiheit – wovon?“ und Netz. Viele Entwicklungen der heutigen Zeit sind selbst „Freiheit – wozu?“ so komplex, dass das Erfahrungswissen des Einzelnen weit weg davon ist. Hier kommt einer traditionellen Freiheit von Zensur ist ein unverzichtbarer Teil einer Aufgabe des Journalismus eine ganz aktuelle Bedeu- freiheitlichen Ordnung. Aber wenn ich mir als Medien- tung zu: Informationen zu fi ltern und aufzubereiten. macher keine Gedanken mache, wie ich die Freiheit Damit aus der Fülle der Nachrichten wirklich auch In- nutze, handele ich verantwortungslos. Beispielsweise formationen werden, mit denen wir als Bürger etwas dann, wenn der harte Kampf um das knappe Gut „Auf- anfangen können, brauchen wir die Hilfe der Medien. merksamkeit“ von Lesern, Hörern und Zuschauern mit Ich sehe also für die Zunft des Journalismus trotz aller unfairen Mitteln geführt wird. Wenn Menschen in den spannenden Angebote von anderen Anbietern im Netz Medien nur noch als Mittel zum Zweck gesehen wer- nicht schwarz. den – mit der Folge, dass Opfer durch die Medien gleich noch einmal zu Opfern gemacht werden. Ganz zu schweigen von dem Schaden, den unsere Gesellschaft Die zunehmende Schnelligkeit der als Ganzes davonträgt, wenn Leser, Hörer und Zuschau- Informationsweitergabe er manipuliert und auf falsche Fährten geführt werden. Das mag man dann formal als Freiheit bezeichnen. Die Beschleunigung ist ein großes Thema unserer Zeit Letztlich führt ein solcher Missbrauch der Freiheit zur geworden. In den Medien erleben wir immer öft er ei- Unfreiheit. nen so genannten Medien-Hype. Ein Thema wird von allen hochgepusht, steht wenige Tage ganz an der Spit- Wer Freiheit so versteht, alles zu machen, was irgendwie ze der Aufmerksamkeit und wird dann genauso schnell geht, ist nicht wirklich frei. Wahre Freiheit schließt auch wieder fallen gelassen, ohne dass es von seiner Bedeu- ein, mitunter bewusst auf ein Tun zu verzichten. tung irgendetwas eingebüßt hätte.

Nachhaltigkeit und Seriosität sehe ich deshalb als zen- (Die vollständige Kanzelrede von BR-Intendant trale Aufgaben für ein Programm wie etwa das der öf- Ulrich Wilhelm erhalten Sie auf unserer homepage in der fentlich-rechtlichen Sender. Wir müssen nicht jeden Rubrik "Aktuelles" auf Seite 27). Hype mitmachen. Wir müssen wichtige Themen vertie- fen, langfristige Entwicklungen und Hintergründe soli- 22 TutzingerBlätter 1/2013 // Die Zukungft der Digitalkanäle

Der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer stellte zu Beginn der Diskussionsrunde grundsätzlich fest, Die Zukunft der dass ARD und ZDF heute die heterogene Gesellschaft in ihren Programmen widerspiegeln müssten. „Wenn das gelingt“, so der CSU-Chef, „wird der öff entlich- Digitalkanäle rechtliche Rundfunk eine gute Zukunft haben.“ ZDF- Intendant Thomas Bellut bestätigte diese Einschätzung. „Das ZDF-Hauptprogramm soll stark bleiben. Die Unter dem Titel „Die Zukunft der Digitalkanäle“ veranstaltete Kontakte zum jüngeren Publikum wollen wir weiter die Evangelische Akademie Tutzing am 18. Oktober 2012 ausbauen und mit den Digitalkanälen wollen wir die Verluste ausgleichen, die wir im Hauptprogramm ver- ein Podiumsgespräch im Bayerischen Rundfunk. zeichnen können.“ BR-Intendant Wilhelm ging schon Im Mittelpunkt stand die Frage, welche Zukunft den bislang einen Schritt weiter, indem er feststellte, dass der öf- fentlich-rechtliche Rundfunk in seinem Vollprogramm sechs Digitalkanälen von ARD und ZDF beschieden sei und nicht allen Menschen ein Angebot unterbreiten kön- mit welchen Mitteln und Ideen man vor allem ein jüngeres ne. „Wir müssen uns diversifi zieren“, so Wilhelm, denn „alles im linearen Programm zu gewährleisten, ist un- Publikum an sich binden wolle. möglich. Wir brauchen mehr Freiheiten, auf welchen Wegen wir unserem Publikum Angebote machen kön- nen. Hörfunk, Fernsehen, Internet – wie können wir multimedial zeigen, wie wir Themen behandeln?“

Horst Seehofer griff seinen eingangs formulierten Ge- danken noch einmal auf und erklärte: „Wir müssen für alle Bevölkerungsgruppen etwas anbieten. Da gehört Kultur dazu. Da gehört ein Kinder- und Jugendkanal dazu. Wie das dann im Einzelnen umgesetzt wird, sol- len die Sendeanstalten selber entscheiden.“ „Wird es denn einen Jugendkanal von ARD und ZDF geben?“, fragte Moderator Udo Hahn nach.

Die Podiumsgäste schlossen diesen Gedanken nicht aus. Der weitere Diskussionsverlauf zeigte, dass ein ge- meinsames Angebot für Jugendliche genauso erfolg- reich sein könne wie der Kinderkanal KiKa. Darin be- Nach dem erfolgreichen Modell des Kinderkanals halten ARD und ZDF auch stand Konsens bei allen drei Diskutanten. Allerdings, einen gemeinsamen Jugendkanal zukünft ig für denkbar. Zu diesem so erörterte Bellut, „muss es dafür ausreichend Personal Ergebnis gelangte ein von Akademiedirektor Udo Hahn (re.) im BR-Funkhaus geben und die ungeteilte Zustimmung der ARD-An- moderiertes Podiumsgespräch, an dem der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, ZDF-Intendant Dr. Thomas Bellut und BR-Intendant Ulrich Wilhelm (v.l.) mitwirkten. stalten“. Das ZDF sei zu Gesprächen bereit, sagte der ZDF-Intendant und ergänzte: „Die Energien des ZDF stehen zur Verfügung.“ Als Bedingung für eine eventu- elle Realisierung des Projekts nannte Bellut jedoch: „So Axel Schwanebeck ein gemeinsamer Kanal muss bezahlt werden und darf auf den bestehenden Haushalt nicht draufgesattelt ARD und ZDF halten einen gemein- werden; er lässt sich nur mit jüngeren Redakteuren re- samen Jugend-Kanal für möglich alisieren, und die Gespräche mit der ARD müssen in dieser Richtung weitergeführt werden.“ Was können die öff entlich-rechtlichen Fernsehanstal- ten tun, um vor allem die Altersgruppe der 13 bis BR-Intendant Ulrich Wilhelm reagierte aufgeschlossen: 29-Jährigen stärker für sich zu gewinnen? Sind die bis- „Dies ist eine wichtige Aussage, dass wir in Gespräche herigen sechs Digitalkanäle von ARD und ZDF der einsteigen können.“ Er hoff e, dass die ARD mit dem richtige Weg? Oder müssen die Bemühungen der TV- ZDF ein junges Angebot machen werde. Die ARD Sender eher in die Richtung eines gemeinsamen Ju- könne mit ihren jungen Hörfunkwellen viel Potenzial gend-Kanals gehen? Diese Fragen standen im Mittel- einbringen. Optimistisch zeigte sich Wilhelm im Hin- punkt einer Podiumsdiskussion im Funkhaus des blick auf die Realisierbarkeit eines solchen gemeinsa- Bayerischen Rundfunks, die von Akademiedirektor men Vorhabens, denn bereits der Kinderkanal sei ein Udo Hahn moderiert wurde. Mit von der Partie waren Erfolgsmodell und ein Jugendkanal könne es ebenfalls der Bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer, BR-In- werden. „Allerdings“, so räumte auch der BR-Intendant tendant Ulrich Wilhelm sowie der Intendant des ZDF, ein, „ist ein gemeinsames Angebot von ARD und ZDF Dr. Thomas Bellut. nur mit Unterstützung der 16 Länder möglich.“ Foto: Schwanebeck Die Zukungft der Digitalkanäle / Veranstaltungskalender 23

Standortfrage noch offen Off en blieb zunächst die Frage nach dem möglichen Veranstaltungs- Standort für einen gemeinsamen Jugendkanal. Und of- fen blieb auch die Frage, welche Rolle dabei die Digital- kanäle spielen, die sich zum Teil bereits gezielt an ein kalender junges Publikum richten: Die ARD hat Eins Plus, Eins Festival und im Angebot, das ZDF be- treibt ZDFneo, ZDFinfo und ZDFkultur. (in Auswahl)

Die Rolle der Zeitungen SCHÖNE NEUE WELT? Zuversichtlich zeigten sich beide Intendanten, dass der 22. – 24.2.2013 / Tutzing Streit mit den Zeitungsverlagen um Informationsange- Nach China boomen Indien und Brasilien. Immer mehr Produktion weltweit. bote im Internet beigelegt werden kann. „Es sieht da- Reichen die knappen Stoff e? Wie sollen sie zivil und gerecht verteilt werden? Welche radikal neuen Lebensstile müssen global gelernt werden? Mutter Erde, eine nach aus, dass die Gespräche bald wieder losgehen“, ausweglose Immanenz? Welche Zukunft hat sie? Große Transformation? sagte Bellut. Weil auch die Zeitungen online immer mehr mit Bewegtbildern arbeiteten, seien Kooperatio- STRATEGISCHE METALLE FÜR DIE ENERGIEWENDE nen mit den öff entlich-rechtlichen TV-Sendern mög- Stoffl iche Voraussetzungen der Energiewende lich. Zum Hintergrund: Das Landgericht Köln hatte 25. – 26.2.2013 / Tutzing der ARD exemplarisch verboten, die „Tagesschau“-App Windenergie, Photovoltaik, Elektrifi zierung des Verkehrs, Speicherung, vom 15. Juni 2011 weiter für Smartphones anzubieten, Smart Grids – seltene Erden und andere strategische Metalle sind Voraussetzung für den Übergang ins postfossile Zeitalter. Nachhaltige Rohstoff sicherung beinhaltet und gab Zeitungsverlagen Recht. Ressourceneffi zienz, Vermeidung der Dissipation und Aufb au von Stoff depots.

ES GEHT UM MEHR – GENDER UND UTOPIEN Gemeinsame Verpfl ichtung zur 1. – 2.3.2013 / Tutzing Debatten über die Quote, neue Geschlechterrollen und Familienmodelle sind Qualität aktuell in aller Munde, stellen aber unsere Arbeits- und Sozialverfassung nicht grundsätzlich in Frage. Können Geschlechterverhältnisse auch radikal anders BR-Intendant Wilhelm betonte die Bedeutung der Qua- gedacht werden? Welche positiven und welche verstörenden Visionen gibt es? litätszeitungen in Deutschland und sprach von einem „Gebot der gemeinsamen Verantwortung, dass wir uns RELIGION ALS PROVOKATION? gegenseitig stützen“. Angesichts der technischen Ent- 4. – 5.3.2013 / Tutzing wicklungen und der Veränderungen beim Nutzungs- Postmoderne säkulare Gesellschaft en erleben neue Religiositäten, Spiritualität, verhalten gelte aber auch: „Wir brauchen mehr Freiheit Wiederverzauberung. Religionen stift en Orientierung inmitten Pluralität, Relativität, nähren auch Gegenglobalisierung und Gewalt im Namen des Heiligen. im Netz.“ Wie modernitätsfähig sind Religionen, wie religionsfähig komplexe Gesellschaft en?

Dem stimmte Ministerpräsident Seehofer zu: „Ich KULTURRÄUME DER ZUKUNFT möchte von niemandem behindert werden, wenn ich 8. – 10.3.2013 / Tutzing meine Informationen aus dem Internet beziehe.“ Nötig Wie sieht die kulturelle Infrastruktur der Zukunft aus? Spektakuläre Neubauten, seien weniger Reglementierungen und mehr Freihei- aufwendige Renovierungen bestehender Kreativorte oder ganz neue Raumkonzepte? Das Kulturpolitische Forum diskutiert Perspektiven für die Kulturräume von ten. Die Verleger sollten selbstbewusst in die Zukunft morgen. 15. Kulturpolitisches Forum schauen und auf die eigenen Stärken setzen, statt nach Paragrafen zu rufen. Der CSU-Chef verwies in diesem LASST’S MI HALT STERBEN! Zusammenhang auf den Erfolg der Frankfurter Buch- 8. – 10.3.2013 / Heilsbronn messe. Das Medium Buch feiere eine Renaissance. Das- Der Tod als Freund, Erlöser oder Notausstieg? Wenn alte Menschen sterben wollen, selbe sei bei den Qualitätszeitungen möglich. beschwichtigen wir gern. Wenn sich Heimbewohner suizidieren, erschrecken wir, nicken aber verständnisvoll. Stets bleiben wir ratlos zurück. Was sollen, können, müssen wir tun? Eine Tagung für Sterbliche und andere Interessierte.

Keine Gebührenerhöhung UNSERE INSTITUTIONEN IN ZEITEN DER KRISEN Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik Bereits vorab stellte der Bayerische Ministerpräsident 11. – 13.3.2013 / Tutzing klar, dass er für eine Gebührenerhöhung keinen Spiel- Finanzmarkt, Ökologie, Sozialstaat: Die Globalisierung zeitigt auf diesen Gebieten raum sehe. „Auf absehbare Zeit wird es bei diesen 17,98 institutionelle Herausforderungen. Krisen akzentuieren derzeit dramatisch Handlungsbedarf. Vor diesem Hintergrund werden theoretische Grundlagen und Euro bleiben“, erklärte der CSU-Chef. Bei den Sendern Perspektiven der problemgerechten Institutionenentwicklung diskutiert. gebe es durchaus noch Sparpotenziale. Als Beispiel ver- wies Seehofer auf den Plan von Wilhelm, die BR-Fachre- DER POLITISCHE CLUB daktionen aus Hörfunk, Fernsehen und Online schritt- 15. – 17.3.2013 / Tutzing weise zusammenzuführen. „Das würde die Effi zienz Der Club ist ein Seismograph für gesamtgesellschaft liche Debatten. In Zeiten steigern“, resümierte der Bayerische Ministerpräsident. radikaler Umbrüche gibt er Impulse für weitsichtige politische Strategien. Diesmal zum Thema „Energiewende – Gehen in Deutschland die Lichter aus?“

24 TutzingerBlätter 1/2013 // Die 7. Tutzinger Schülerakademie DIE 7 . TUTZINGER SCHÜLERAKADEMIE

Über 100 Schülerinnen und Schüler trafen sich auf der diesjährigen Schülerakademie im Tutzinger Schloss, um Fragen der Nachhaltigkeit im regionalen Kontext zu erörtern.

In den jeweiligen Arbeitsgruppen wurde unter fachkundiger Anleitung intensiv gearbeitet. Foto (oben): Mrozek / Fotos (unten): Schwanebeck Die 7. Tutzinger Schülerakademie 25

NACHHALTIGKEIT IM REGIONALEN KONTEXT Neben Vorträgen von Dr. Rainer Kolmsee, Geschäft sführer von Smart Hydro Power in Feldafi ng, und Marco Schuler, einem Künst- ler aus Mauchen, arbeiteten die Schülerinnen und Schüler in ihren Gruppen mit ihrem speziellen Themenbereich unter dem Rah- Die 7. „Tutzinger Schülerakademie“ befasste sich menthema „Nachhaltigkeit in regionalem Kontext“. wiederum mit den zentralen Aspekten einer nachhaltigen Zukunft: mit Fishing in Seas caught humanly, mit Die Gruppe „FISCH“ hat sich mit nachhaltigem Fischen im Starn- Nachhaltigkeit in der Textilbranche, Energiespeicherung berger See und Ammersee beschäft igt. Nach einer Bootsfahrt über und Intelligenten Netzen, sowie mit nachwachsenden den See informierte Martin Greinwald, ein Fischer aus Tutzing, Rohstoffen und erneuerbaren Energien. über den regionalen Fischfang mit seinen jahreszeitlichen, ökologi- schen und ökonomischen Besonderheiten. Das zweite Thema die- Die „Tutzinger Schülerakademie“ ist ein ehrgeiziges ser Gruppe war die Überfi schung und Verschmutzung der Meere. Projekt. Die beiden Studientage zu gesellschaftlich relevanten Problemen müssen in eigener Regie von den Die Gruppe „BE SWAG IN WEIß-BLAU“ arbeitete rund um das Schülerinnen und Schülern vorbereitet und durchgeführt Thema „Energiewende in Bayern“ und wurde von Dr. Roland Hofer werden. Unter Anleitung der Lehrerin Gabriele Beulke von E.ON Bayern und von Hans-Wilhelm Knape von der Energie- sowie des Schuldirektors Thomas Franz und des wende Starnberg über die regionale Umsetzung informiert. Studienleiters Dr. Jochen Wagner galt es, pädagogische Konzepte zu entwickeln, Referenten einzuladen und Die Arbeitsgruppe „Intelligente Netze und Energiespeicherung“ darüber hinaus sich um Pressearbeit, logistische Details informierte über die Möglichkeiten Energien auch zu speichern und Sponsoren zu kümmern. und somit überhaupt nutzen zu können. Für die technischen Fra- gen stand Arno Pöhlmann von der Lechwerk AG als Fachmann zur Die Gymnasiasten lösten alle Aufgaben mit Bravour und Verfügung. großem Engagement. Nachfolgend ihr Bericht: Die Gruppe „Nachhaltigkeit in der Textilbranche“ wurde von Matthias Ahrberg vom nachhaltigen Modelabel „fairliebt“ unter- stützt. Zudem fertigten die Schüler der Gruppe als praktisches Pro- Team der Schülerakademie, jekt zum Thema Nachhaltigkeit Handyhüllen aus Filz an.

Gymnasium Tutzing: „Nachwachsende Rohstoff e“ war die fünft e Arbeitsgruppe, in der die Schüler einen breit gefächerten Überblick über verschiedene Nachhaltigkeit - die zentrale Aufgabe des nachhaltige Rohstoff e erhielten. Während Prof. Zollfrank vom Wis- senschaft szentrum Straubing über alternatives Bioplastik und die 21. Jahrhunderts Arbeit des Wissenschaft szentrums referierte, stellte Anselm von Huene vom Landesinnungsverband des bayerischen Zimmerer- Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung ist seit Ende des 20. handwerks das Potenzial des nachhaltigen Häuserbaus vor. Jahrhunderts internationales Leitbild für umwelt- und entwick- lungspolitisches Handeln. Die Wurzeln der Nachhaltigkeit rei- Auch dieses Jahr unterstützte die „Tutzinger Schülerakademie chen jedoch viel weiter zurück – bis ins 18. Jahrhundert. Heute ist 2012“ ein weiteres Mal das Projekt „plant for the planet“ und pfl anz- der Begriff in aller Munde. „Wir, die Jungen wollen etwas beitra- te zwei Bäume entlang des frisch sanierten Schulgebäudes des gen! Wir verschieben nichts auf morgen, denn die Zukunft liegt in Gymnasiums Tutzing. Plant-for-the-planet.org ist eine Aktion von unseren Händen!“ Schülern verschiedener Schulen und von engagierten Jugendli- chen, die damit das Ziel der Vereinten Nationen unterstützen, in So die eindeutige Zielsetzung der diesjährigen Schülerakademie einem Jahr eine Milliarde Bäume zu pfl anzen. Mit dem Slogan von Schülern für Schüler. Für zwei Tage war die Evangelische Aka- „STOP TALKING, START PLANTING“ engagiert sich der 15-jähri- demie Tutzing ein Treff punkt für kreatives Denken und Ideenaus- ge Felix Finkbeiner seit fünf Jahren für das Projekt. Er berichtete den tausch. Schülerinnen und Schülern bei der Akademietagung von den bis- herigen Erfolgen und dem Ziel, 1000 Milliarden Bäume zu pfl an- Am 15. und 16. Oktober 2012 fand mittlerweile zum siebten Mal zen. die Tutzinger Schülerakademie in der Evangelischen Akademie Tutzing statt. Auch in diesem Jahr konnten Schülerinnen und Nach zwei produktiven Arbeitstagen stellten die Gruppen sich ge- Schüler von Gymnasien aus ganz Bayern als Gäste begrüßt werden. genseitig im Plenum ihre Ergebnisse vor und vereinbarten, die Er- Bis auf den letzten Platz war dann auch das Plenum besetzt. gebnisse dieser beiden Tage in ihre Schulen mitzunehmen und weiterzugeben. Unter dem Thema „Nachhaltigkeit im regionalen Kontext“ hatten die Schüler der Q12 des Gymnasiums Tutzing in ihrem P-Seminar mit Unterstützung von Frau Gabriele Beulke und Schulleiter Herrn Eine rundum gelungene Veranstaltung! Unter www.schülerakade- Thomas Franz verschiedene Themen vorbereitet und fachkundige mie-tutzing.de ist das komplette Programm und die Vorstellung Referenten eingeladen, die sie bei der Gestaltung der beiden Aka- der einzelnen Arbeitsgruppen ersichtlich. demietage mit Vorträgen und Diskussionsrunden zum jeweiligen Thema unterstützten. P- Seminar Q12 Gymnasium Tutzing 26 TutzingerBlätter 1/2013 // Junges Forum

Hanna-Lena Neuser leitet jetzt das „JUNGE FORUM“

Seit dem 1. September 2012 ist die Charakteristika einer Forums-Leiterin recht gut umschrei- Hanna-Lena Neuser (32) Leiterin des Jungen ben. Doch genauer nachgefragt: Was prädestiniert Sie für diese Aufgabe? Forums. Sie trat damit die Nachfolge von Petra Schnabel-Lechner an, die im August Neuser: Zunächst mal, dass ich der „betroff enen“ Generation selbst noch 2011 eine neue Tätigkeit im afrikanischen angehöre. Darüber hinaus habe ich in meinen verschiedenen beruf- Mali übernahm. Welche Erwartungen und lichen Stationen und meinem privaten Umfeld viele Einblicke in die Lebenswelten der jungen Erwachsenen bekommen. Ich denke, Wünsche Hanna-Lena Neuser mit der neuen dass ich viele dieser „Erlebnisse“ in die Arbeit an der Akademie Position verbindet, schilderte sie den einbringen kann. TUTZINGER BLÄTTERN in nachfolgen- Tutzinger Blätter: dem Interview: Die Ihnen vorausgegangenen Forumsleiter und –leiterinnen hatten – je nach privater Neigung – diesem Arbeitsfeld mit jun- gen Erwachsenen ganz unterschiedliche inhaltliche Akzente verliehen. Bei welchen Themenbereichen werden Sie denn Pri- Tutzinger Blätter: oritäten setzen? Sie sind Politikwissenschaft lerin und Erwachsenenbildnerin. In Ihren bisherigen berufl ichen Tätigkeiten haben Sie bereits Neuser: Einblicke in die unterschiedlichsten akademischen Bildungs- Ich möchte gerne junge Erwachsene dazu ermutigen, selbstbewusst bereiche werfen können. Was reizt Sie persönlich an der Mitar- ihre Weichen für das Leben zu stellen. Dazu gehört die Entschei- beit in einer Evangelischen Akademie? dung, welcher berufl iche Weg der individuell passende ist, aber auch Familienplanung, räumliche Flexibilität, Formen des sozialen Neuser: Engagements und der Beteiligung. Die Akademie ist ein traditionsreiches und zugleich zeitgemäßes und junggebliebenes Haus, in dem verschiedene Menschen einen Tutzinger Blätter: Platz fi nden, um sich über politische, ethische und soziale Fragen Wie Ihrer Biografi e zu entnehmen ist, haben Sie in der Bayeri- auszutauschen. Hier fi ndet die Form der Erwachsenenbildung statt, schen Akademie für Werbung und Marketing e.V. auch Erfah- die ich mir im Lauf meiner Ausbildung vorgestellt und auf die ich rungen im Medienbereich sammeln können. In Ihrem neuen hingearbeitet habe. Ich glaube mein Lebenslauf und die Akademie Aufgabenfeld werden Sie mitverantwortlich sein für die Prä- – das trifft sich ganz gut. senz der Akademie in facebook, twitter, google+ & co. Wie schätzen Sie diese neuen Kommunikationswege für die Arbeit Tutzinger Blätter: des Jungen Forums ein? Intellektuelle Aufgeschlossenheit, vitale Neugier, ein kritisches Bewusstsein und ein Feeling für die Fragen der jungen Genera- Neuser: tion in Inhalt, Form und Stil – mit diesen Kriterien ließen sich Immer mehr junge Menschen bewegen sich völlig selbstverständ- Junges Forum 27

Pressereferent Axel Schwanebeck im Gespräch mit der neuen Leiterin des Jungen Forums, Hanna-Lena Neuser.

lich in der Welt der sozialen Medien. Dort werden Freundschaft en Neuser: geknüpft , Ehen angebahnt, Hausaufgaben besprochen und Semi- Zunächst möchte ich mich dem Thema „Zeit und Zeitmangel“ nare vorbereitet. Insbesondere facebook wirkt dabei wie die „Stille widmen. Es ist im Zusammenhang mit G8 und dem Bologna-Pro- Post“. Ist ein User begeistert, wird bei anderen Interesse geweckt. zess immer öft er vom „Stress“ der Kinder und Jugendlichen die Wenn die Akademie junge Menschen für den persönlichen Dialog Rede. Gleichzeit wird mangelndes soziales Engagement der jungen hier am See gewinnen will, dann tut sie gut daran, diesen Stille Leute bemängelt. Dieser Spannung möchte ich eine Tagung mit Post-Eff ekt zu nutzen und den jungen Menschen ein attraktives Fo- jungen Menschen am Ende der schulischen und am Beginn der rum zu bieten. universitären Laufb ahn widmen. Zudem möchte ich die Frage des Rollen“spiels“ in jungen Fami- Tutzinger Blätter: lien aufgreifen. „Neue“ Väter aber auch „neue“ Mütter, ihr Selbst- Die heutige Generation ist nach meinem Eindruck geprägt verständnis, ihre Aufgabenverteilung – eben die zentralen Fragen durch ein starkes Bedürfnis nach Aneignung der eigenen Le- und Entscheidungen, die in jungen Familien aufk ommen und be- benswelt sowie kreativen Möglichkeiten, sich auszuprobieren. antwortet werden müssen. Lust auf Erfahrung, Denken und Entwicklung machen – ohne pure Zweck- oder Lebenslauforientierung. Wie wollen Sie dem Tutzinger Blätter: gerecht werden? Wie wollen Sie das umsetzen? Und wie dürfen wir die private Hanna-Lena Neuser unseren Lesern präsentieren? Womit beschäft igen Sie sich in Ihrer Frei- Neuser: zeit? Ich denke, dass junge Menschen einen Weg suchen, sich der un- überschaubaren Vielfalt an Möglichkeiten zu stellen und den für Neuser: sich passenden Pfad in diesem „Urwald“ zu fi nden. Schauen wir uns Meine Freizeit wird gestaltet – und zwar von meinen Töchtern. Sie nur die Unmengen an Studienangeboten an, die nicht zuletzt sind 1 und 3 Jahre alt und halten mich ordentlich auf Trab. Mein durch die Bildungsreform entstanden sind – welcher Schüler soll Mann treibt uns an sonnigen Wochenenden in die Berge. Und da einen Durchblick haben wenn er gerade die Strapazen des G8 wenn dann abends die Kinder im Bett liegen, dann nähe oder ko- hinter sich hat. Es bleibt doch bereits in der Schule keine Zeit zum che ich gerne. Innehalten und Orientieren. Wenn ich es schaff e, dass hier an der Akademie junge Menschen zum einen den Raum bekommen, Tutzinger Blätter: durchzuatmen und sich zu besinnen, aber gleichzeitig geistige An- Allseits ein gutes Gelingen und das besagte Quentchen Glück regungen erhalten, die sie vielleicht in ihrer Wahl unterstützen, für die Bewältigung der vor Ihnen liegenden Projekte wünscht dann bin ich sehr zufrieden. Ihnen – verbunden mit dem Dank für dieses Gespräch – die Redaktion der Tutzinger Blätter. Tutzinger Blätter: Die Arbeit im Jungen Forum umfasst lediglich eine halbe Stel- (Das Interview führte Axel Schwanebeck) le. Einige Tagungsprojekte werden Sie fortführen müssen, bei- spielsweise „Abitur – und dann?“ Aber Sie werden auch eigene inhaltliche Schwerpunkte setzen wollen. Mit welcher Thema-

Foto: Mögele tik werden sich Ihre ersten Tagungsvorhaben beschäft igen? 28 TutzingerBlätter 1/2013 // In eigener Sache IN EIGENER SACHE

Die 2. Tutzinger Rede Reden zwischen Himmel und Gesine Schwan / Peter Eigen Erde: Konfl ikt der Generationen

Dr. Friedrich Glauner, Initiator der Reihe Akademiedirektor Udo Hahn, Felix Finkbeiner, „Zukunft Mensch“ und Mitglied des RC-Tutzing, Frau Prof. Dr. Ursula Münch, sowie Prof. Dr. Markus Vogt Prof. Dr. Peter Eigen, Prof. Dr. Gesine Schwan und Udo Hahn, und Dr. Johannes Eckert OSB, Abt der Benediktinerabtei Direktor der Evangelischen Akademie Tutzing (v.l.). St. Bonifaz in München und Andechs (v.l.)

Die Evangelische Akademie Tutzing und der Rotary Club Tutzing Konfl ikt der Generationen – Ist Generationengerechtigkeit starteten 2011 mit der „Tutzinger Rede“ ein neues Gemein- möglich? schaft sprojekt, das in jährlich wiederkehrender Form Kernfragen zur „Zukunft Mensch“ behandelt. Die kommenden Generationen haben es nicht leicht. Euro-Krise, In der „2. Tutzinger Rede“ sprachen am 19. November 2012 die Altersarmut, Klimawandel – die Liste der Themen mit hohem Be- Politikwissenschaft lerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina unruhigungspotential ließe sich beliebig verlängern. Je nachdem, School of Governance in Berlin, Prof. Dr. Gesine Schwan, sowie der wie die Weichen heute gestellt werden, können die Auswirkungen ehemalige Weltbank-Direktor und Gründer als auch Beiratsvorsit- durchaus dramatisch sein. Das Wort vom Generationenkonfl ikt zende von Transparency International (TI), Prof. Dr. Peter Eigen, macht die Runde. zum Thema „Die Zukunft der Gesellschaft “. In seinen Ausführungen kritisierte Peter Eigen die Schwäche von Vor diesem Hintergrund diskutierten am 15. November 2012 im Regierungen in der Finanzkrise: „Regierungen haben längst die Kloster Andechs der Schüler Felix Finkbeiner, Gründer der Schüler- Fähigkeit verloren, die wirklich relevanten wirtschaft lichen Vor- initiative Plant-for-the-Planet als auch UN-Kinderbotschaft er für gänge zu gestalten“. Für ihn sind die Menschen „zum Anhängsel Klimagerechtigkeit, sowie Frau Prof. Dr. Ursula Münch, Direktorin der Märkte geworden.“ Eine soziale Marktwirtschaft könne so nicht der Akademie für Politische Bildung Tutzing, und Prof. Dr. Markus verwirklicht werden. Für Gesine Schwan liegt die Zukunft der Ge- Vogt, Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Sozialethik an der Ka- sellschaft in der Stärkung der Solidarität und der Chancengleich- tholisch-Theologischen Fakultät Ludwig-Maximilians-Universität heit. „Wenn wir Zusammenhalt wollen, müssen wir ihn in Freiheit München, wie sich Generationengerechtigkeit gewährleisten lässt gestalten.“ Und wenn der unsinnigen Organisation der Arbeits- und wie die Interessen heutiger und kommender Generationen und Lebenswelt Einhalt geboten sei, „dann können wir auch wie- angemessen berücksichtig werden können. der über Werte sprechen.“ Der Reinerlös des Vortragsabends in Höhe von 2.460 Euro ging an „Stop Polio Now“. Fotos (li.): Haist / Fotos (re.): links Treybal, rechts EAT-Archiv Fotos (li.): Haist / (re.): links Treybal, In eigener Sache 29

Der Libertas-Chor startete Gerhard Bogner mit seiner Deutschland-Tournee zum 85. Geburtstag in Tutzing

Der 80-köpfi ge Libertas Chor aus Stellenbosch/Südafrika in der Tutzinger Pfarrkirche St. Joseph.

Gerhard Bogner, langjähriger Vorsitzender des Kuratoriums der Akademie, feierte seinen 85. Geburtstag.

Der 80-köpfi ge Libertas Chor aus Stellenbosch/Südafrika unter- Gerhard Bogner war von 1976 bis 1989 Vorsitzender des Kuratori- nahm vom 30. November bis zum 17. Dezember 2012 eine Konzert- ums der Evangelischen Akademie Tutzing. Jetzt konnte der Publi- reise durch Deutschland. Er startete seine Tournee in Bayern – und zist und ehemalige Sendeleiter des Bayerischen Rundfunks (BR) gab nach 2001 und 2004 erneut in Tutzing ein Konzert: am Sonn- seinen 85. Geburtstag begehen. Nach dem Studium der Theologie tag, den 2. Dezember 2012, um 19.00 Uhr, in der Pfarrkirche St. Jo- und Philosophie in Neuendettelsau und München begann er seine seph. Der Eintritt war frei – Spenden zur Unterstützung von Aids- journalistische Laufb ahn als Nachrichtenkorrespondent des Evan- Projekten waren jedoch willkommen. gelischen Pressediensts (epd). Nach Stationen als Redakteur des Die Reise des Libertas Chors wurde vom Direktor des Institute BR-Kirchenfunks und Leiter der Programmredaktion des BR-Hör- for Theological & Interdisciplinary Research der Ecumenical Foun- funks verantwortete er als Sendeleiter unter anderem das Auslän- dation of Southern Africa (EFSA), Dr. Renier Koegelenberg, koordi- derprogramm des Bayerischen Rundfunks. niert. Die Evangelische Akademie Tutzing, die mit der EFSA durch Unter dem Titel „85 Jahre Funkgeschichten“ hat Gerhard Bogner einen Partnerschaft svertrag verbunden ist, organisierte den Chor- vor kurzem seine persönlichen Erinnerungen an seine Zeit beim aufenthalt in Bayern. „Wir freuen uns auf einen eindrucksvollen Bayerischen Rundfunk veröff entlicht. Darüber hinaus hat er in Auft ritt des Libertas Chors“, so Akademiedirektor Udo Hahn. Der zahlreichen Gremien der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Besuch der Sängerinnen und Sänger trage dazu bei, die partner- Bayern und Deutschland mitgewirkt, unter anderem als Vorsitzen- schaft lichen Beziehungen zwischen dem Freistaat Bayern und der der des evangelischen Landesausschusses für Publizistik und des Provinz Westkap zu vertiefen. „Zudem leisten die Begegnungen mit Fachausschusses für Hörfunk und Fernsehen im Gemeinschaft s- dem Chor einen Beitrag zur Verständigung und bieten die Möglich- werk der Evangelischen Publizistik (GEP). 16 Jahre lang gehörte er keit, sich mit den gesellschaft lichen und sozialen Herausforderun- auch der bayerischen Landessynode an. Für Kirche&Kommunika- gen in Südafrika auseinander zu setzen.“ tion ist Gerhard Bogner seit vielen Jahren als Kolumnist tätig. Im Rahmen seines Aufenthalts in München und Oberbayern Die Evangelische Akademie Tutzing gratuliert Gerhard Bogner besuchte der Chor u.a. auch die Wieskirche und das Museum der ganz herzlich zu seinem Geburtstag und dankt ihm für sein Enga- bayerischen Könige. Weitere Stationen in Deutschland, an denen gement und seine Verbundenheit zu der Denkwerkstatt am Starn- der Libertas Chor Benefi zkonzerte gab, waren Lützelbach im Oden- berger See. wald, Marburg, Dortmund, Bielefeld, Hamburg und Berlin, wo eine Begegnung mit Bundespräsident Joachim Gauck stattfand.

Der Besuch in Bayern wurde fi nanziell unterstützt u.a. durch die Bayerische Staatskanzlei, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, die Evangelische Akademie Tutzing, den LIONS Club Starnberger See-Buzentaures und den Rotary Club Tutzing. 30 TutzingerBlätter 1/2013 // Nachrichten aus dem Freundeskreis NACHRICHTEN AUS DEM FREUNDESKREIS

„Wir brauchen eine authentische, – Handeln unter Schwestern und Brüdern: Christen haben Uni- öffentliche Kirche“ versalwerte, die Werte des christlichen Glaubens sind nicht regio- nal defi niert. In einer globalisierten Gesellschaft müssen Entschei- dungen immer zeigen, dass wir weltweit Schwestern und Brüder Am 22. Oktober 2012 nahm der örtliche Freundeskreis Mün- sind. chen seine Arbeit wieder auf. Für die Auft aktveranstaltung übernahm Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm die „Wir müssen den tiefen Sinn der Einrichtungen Gottes zeigen“ – Aufgabe, aktuelle Fragen des evangelischen Glaubens in der das ist der Tenor Bedford-Strohms, den die Zuhörer dieses Abends Gesellschaft von heute aufzugreifen und Handlungsmaximen mit nach Hause nehmen durft en. für evangelische Christen zu beschreiben. Dr. Karin Bergmann & RA Reiner Knäusl Prof. Bedford-Strohm stellte das übergeordnete Ziel einer authenti- schen, öff entlichen Kirche an den Anfang seines Referates. Wichti- ge gesellschaft liche Fragen - wie z.B. der ökologischen Umorientie- rung, der Bioethik, des Umganges mit dem Tod oder wem die Wirtschaft zu dienen hat – brauchen Orte, an denen sie diskutiert werden können. Ein solcher Diskurs-Ort ist die Kirche. Die Gesell- Studienreisen des Freundeskreises 2013 schaft braucht Orientierung, braucht Antworten, die die Kirche zu geben hat. Pfarrerinnen und Pfarrer in Kirchen und Religionsge- Die Studienreisen des Freundeskreises haben zum Ziel, ein vertief- meinschaft en müssten die Frage beantworten: „Wohin sollen wir tes Verstehen der Menschen, der Geschichte und Kultur der be- gehen?“ Sechs Antworten formulierte der Landesbischof dazu. Wir suchten Regionen zu vermitteln. 2013 erkunden wir unter diesen sollten seiner Vorstellung zufolge: Gesichtspunkten den Iran, den Südosten Polens und Mecklenburg- Vorpommern. – Eine öff entliche Theologie erarbeiten und sie in die Politik tra- gen: Dass Kirche, die Experten für das Beten beherberge und Poli- tik die Experten für das Handeln, hat sich heute grundlegend geän- dert. Luther stellt mit seiner Zwei-Reiche-Lehre die Verbindung Iran und das faszinierende kulturelle Erbe zwischen Glauben und Welt her und gibt den Auft rag mitzuhel- Persiens (22.04. – 06.05.2013) fen, dass Glaube täglich an Gestalt gewinnen kann. Persien – eine der bedeutendsten Kulturen des Orients. Bereits die – Die Welt kennen und Dialog fördern: Mit der „Zeitung in der Silvestertagung der Evangelischen Akademie Tutzing „ Suleika – rechten Hand und der Bibel in der Linken“, sollten Christen heute Begegnung und Aufb ruch im Neujahrsfest“ beleuchtete den facet- besonders off en sein für die Entwicklungen in der Gesellschaft : tenreichen Einfl uss der persischen Dichtung und Musik auf die Hunger, Armut und Unrecht müssen im Änderungsprozess ange- europäische Kunst. Nicht nur Goethe allein ließ sich von ihr inspi- gangen werden. rieren. Auf der 15-tägigen Studienreise von Teheran über Hama- dan, Shiraz, Persepolis, Isfahan u.a.m. lernen Sie die Zeugnisse per- – Interdisziplinär denken und leben: Pluralistische Gesellschaft en sischer Hochkultur noch näher kennen und erfahren vor Ort noch leben von unterschiedlichster fachlicher Expertise. Es geht für mehr über die reiche Geschichte, die vollendete Architektur, das Christen auch immer darum, mit den verschiedenen Disziplinen kunstvolle Handwerk, die Literatur und Dichtkunst. Sie besuchen zu kooperieren und deren Interessen mit anzuerkennen. Dabei bezaubernde Gartenanlagen, lassen sich von der einzigartigen sticht nicht die Naturwissenschaft die Religion aus oder umge- Landschaft beeindrucken und werden feinsinnige und lebensfrohe kehrt. Menschen kennenlernen. Die Reiseleitung liegt in den Händen von Mohammadreza – Politik hilfreich beraten: Christen müssen „auch hilfreich“ sein Noori, Literaturwissenschaft ler. Er kommt aus Shiraz, lebt in Pots- und in diesem Sinne sollten sie in politischen Entscheidungspro- dam, spricht ausgezeichnet deutsch und ist ein erfahrener Reiselei- zessen theologische Bildung einbringen. EKD-Denkschrift en und ter, der für die Freundeskreis-Studienreise einige besondere High- Predigten sind dafür Beispiele. lights ins Programm genommen hat. Kombinierte Flug-/Bus-Reise. Flug ab München mit Turkish Air- – Mit prophetischer Rede Diskurse eröff nen: „Was ihr wollt, dass line via Istanbul nach Teheran. Für die Fahrten innerhalb des Iran euch nicht getan wird, das tut auch anderen nicht…“ – viele Beispie- steht ein moderner Reisebus zur Verfügung. le solch prophetischer Bilder eignen sich, um Menschen konkrete Orientierung im Alltag zu geben. Anmeldeschluss: bis Ende Januar 2013 Nachrichten aus dem Freundeskreis 31

Eines der Reiseziele: Die altpersische Residenzstadt Persepolis. Sie wurde 520 v.Chr. von Dareios I. im Süden des heutigen Iran in der Region Persis gegründet. Der Name „Persepolis“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Stadt der Perser“.

Die Poesie des Nordens Der reizvolle Süden Polens (22.06. – 30.06.2013) (im September 2013) Mecklenburg Vorpommern begeistert seine Besucher mit einer un- Der Südosten Polens hat Außerordentliches zu bieten: Perlen des zersiedelten Natur, romantischen Dörfern und prachtvollen Han- Städtebaus, wie z. B. Zamosc, deren historische Altstadt UNESCO- sestädten. Zahllose Schlösser, die von bescheidenen Fachwerkguts- Weltkulturerbe ist und als Perle der Renaissance bezeichnet wird. häusern bis zu prächtigen Herrensitzen reichen, geben noch heute Beeindruckende Klöster wie Kalwaria Zebrzydowska. Außerge- einen Eindruck von der früheren Macht mecklenburgischer Grund- wöhnliche Kirchen, die an skandinavische Holzkirchen erinnern, besitzer. Zum einen waren es die Herzöge von Mecklenburg, zum in Równia, Hoszów, Czarna und Smolnik. Prachtvolle Schlösser anderen die Ritter, die über ausgedehnte Güter verfügten und au- wie das von Baranow. Und ungeheuer viel wilde Natur, die Sie in tokratisch herrschten. Ihre Zahl lag mit 700 hoch, sie hatten Sitz den Nationalparks Pieniny und Bieszczadzki erleben können. und Stimme im Landtag und sorgten dafür, dass die Steinschen Die 11-tägige Studienreise beginnt und endet in Krakau, das in- Reformen nicht 1807, sondern erst 1820 umgesetzt werden konn- zwischen zu den beliebtesten Zielen bei Städtereisen zählt und ten. Dieses veranlasste später Bismarck zu dem oft zitierten Bon- eine unglaublich lebendige und junge Stadt voller Kunst und Kul- mot: „Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg, tur ist. Es blickt auf eine tausendjährige traditionsreiche Geschichte denn dort geschieht alles fünfzig Jahre später!“ zurück und wartet mit mehr als 5.000 Baudenkmälern auf. Ein Herr Bathe (jenakolleg), der 2012 unsere Reise „Auf den Spuren Stadtrundgang führt Sie u.a. durch die Altstadt, zum Marktplatz von Johann Sebastian Bach“ kenntnisreich leitete, wird Sie in ei- mit den berühmten Tuchhallen, zur Marienkirche und zur Burg nem facettenreichen Programm mit Mecklenburg-Vorpommern Wavel. bekannt machen: Von Stavenhagen (Fritz Reuter) über die pom- mersche Riviera mit Anklam (Otto Lilienthal), Usedom, Greifswald Kombinierte Flug-oder Bahn-/Busreise ab/bis München. Detaillier- (Caspar David Friedrich-Zentrum) und Stralsund bis nach Wismar, te Informationen liegen Mitte Februar vor. Güstrow (Ernst Barlach) und Schwerin. Detaillierte Informationen zu den genannten Reisen können Kombinierte Bus-/ Bahnreise ab/bis München. Anmeldeschluss: im Sie bei der Geschäft sstelle des Freundeskreises Februar per Telefon unter 08128 251-130 oder per e-mail unter [email protected] anfordern.

Foto (oben): privat / (unten): Auernig, München Das Rathaus in Stralsund. 32 TutzingerBlätter 1/2013 // Publikationen / Impressum

Publikationen Impressum

Joachim Gauck (Hg.) Herausgeber: Evangelische Akademie Tutzing Freiheit. Ein Plädoyer Direktor Udo Hahn Schlossstr. 2+4, 82327 Tutzing Kösel Verlag, München 2012, Redaktion: 62 Seiten, € 10,00 Dr. Axel Schwanebeck (verantwortlich) T.: 08158 / 251-112 F: 08158 / 99 64 22 [email protected] Art Direktor: Patrick Märki / Silke Streppelhoff Verlag: Martin Held, Gisela Kubon-Gilke, Evangelischer Presseverband für Bayern e.V. Richard Sturn (Hg.) Vorstand: Dr. Roland Gertz Birkerstr. 22, 80636 München Normative und institutionelle Druck: Grundfragen der Ökonomik ulenspiegel druck gmbh Jahrbuch 11. Lehren aus der Krise für Birkenstraße 3, 82346 Andechs die Makroökonomik T: 08157 / 99 75 9 – 0 F: 08157 / 99 75 9 – 22 Metropolis Verlag, Marburg 2012, Erscheinungsweise: 310 Seiten, € 29,80 vierteljährlich Die Tutzinger Blätter erhalten Sie zu folgenden Konditionen: epd Dokumentation Einzelheft: 3,00 Euro; Nr. 14/15 Jahresabonnement: 10,- Euro. Konto-Verbindung: Kto.-Nr.: 10 30 531, Stark und gleich. Blz.: 520 604 10, Globale Ziele für Frauen bei: Evangelische Kreditgenossenschaft eG, Kassel Verlag Gemeinschaft swerk der Evangelischen Publizistik, www.ev-akademie-tutzing.de Frankfurt a.M. 2012, www.facebook.com/EATutzing 68 Seiten, € 3,20

Hiermit bestelle ich: Bitte ausreichend Freiheit. Ein Plädoyer Exemplare freimachen

Normative und institutionelle Grundfragen der Ökonomik. Jahrbuch 11. Lehren aus der Krise der Makroökonomik Exemplare

Stark und gleich. Globale Ziele für Frauen Exemplare

Anrede Antwort

Vorname Name Evangelische Akademie Tutzing Straße / Nr. Ort z. Hd. Frau Baumert Land Postfach 1227 82324 Tutzing Telefon E-Mail

Datum Unterschrift Daumen hoch für die Evangelische Akademie Tutzing!

Seit dem Frühjahr letzten Jahres ist die Evangelische Akademie Tutzing auf Facebook präsent. Im Laufe der nächsten Monate soll dieses Engagement auch auf andere Social Media Dienste ausgeweitet werden. Unter www.facebook.com/EATutzing sind Sie herzlich eingeladen, das Geschehen aktiv mitzuverfolgen. Wir freuen uns auf Beiträge, Kommentare und interessierte Fans!

www.ev-akademie-tutzing.de Andacht gebung: „Wer kann mir noch helfen?“, scheinen die Augen zu sagen, „ich fi nde keinen Trost mehr“.

Empowerment oder Gottvertrauen? Beides! Solche Kinder sind auf ganz viel Hilfe der Mitmenschen angewie- sen, um wieder ins Leben zu fi nden. Sie brauchen Nahrung, Klei- dung, vor allem Möglichkeiten zu lernen und sich auszubilden. Aber sie brauchen noch mehr als das: Sie müssen wieder vertrauen können, sich selbst und ihrer Umwelt, sie brauchen wieder Liebe im Leben, zu sich selbst und zu den Mitmenschen, sie brauchen Heile Du mich, Gott. Denn das ist Gott: Die Erfahrung der Liebe im Leben, die Erfahrung, dass es wieder gut werden kann, dass Heilung möglich ist. Nur wenn es gelingt, den Kindern dieses Gottvertrauen im Herr, so werde ich heil; wahrsten Sinne des Wortes zurückzugeben, dann kann die Hilfe der Mitmenschen wirklich greifen und nicht nur äußere, sondern hilf Du mir, auch innere Reparatur stattfi nden. so ist mir geholfen. Wie wichtig ist dieses Gottvertrauen aber auch für die Helfenden. Warum sind überhaupt so viele Menschen bereit, sich – unter Auf- Jeremia 17, 14 gabe einer komfortableren Lebensweise und manchmal sogar un- ter Einsatz ihres Lebens – in den Dienst einer guten Sache und des Helfens zu stellen? Sie halten am göttlichen Prinzip fest: Dass Men- schen in der Lage sind, diese Welt zu einer besseren zu machen, dass ein gutes Leben für alle möglich ist, dass Not überwunden werden Na, wenn es nur so einfach wäre: Wenn wir uns zurücklehnen kann. Nicht jedes Kind kann gerettet werden, diese traurige Erfah- könnten und auf Gottes Hilfe vertrauen. Ist es aber nicht vielmehr rung müssen Helfende manches Mal machen, aber jeder Mensch umgekehrt? So wie es auch der Volksmund sagt: „Hilf Dir selbst, ist den Versuch wert. Auf Gottes Hilfe zu vertrauen, heißt, den dann hilft Dir Gott!“ In erster Linie heißt es doch mal, auf die eige- Glauben nicht zu verlieren, an den Sinn aller Anstrengungen zu ne Stärke, auf die Selbstheilungskräft e zu vertrauen. In der Ent- glauben. Im Vertrauen auf Gott können Menschen für sich einen wicklungszusammenarbeit, in der sozialen Arbeit, in den vielen Zustand der Heilung erlangen, damit sie nicht verzweifeln an all Initiativen der Zivilgesellschaft - überall lautet das Stichwort der den Ungerechtigkeiten und dem Leid, das schon kleine Kinder er- Zeit: Hilfe zur Selbsthilfe. Der Mensch muss befähigt werden, sich dulden müssen. Wenn Menschen sich Gottes Hilfe anvertrauen, selbst zu helfen: Selbstkompetenz, Selbstbestimmung, Selbstwirk- dann werden sie gestärkt, dann werden sie heil und dann haben sie samkeit müssen gestärkt werden; der Staat und seine Institutionen auch die Kraft , anderen zu helfen. sollen Rahmenbedingungen verbessern, ermöglichen, sie sollen Menschen stärken und fördern. Man spricht von „empowerment“ Der Sinn dieses Spruches liegt also sicher nicht darin, Gottes Hilfe und „enabling“, aber doch nicht von Gottvertrauen: „Heile Du als Alternative zur Selbsthilfe oder zur Hilfe durch andere anzubie- mich“, mach's Du, nimm Du es mir ab, Herr – das ist wohl ein biss- ten. Vielmehr ist Gottes Hilfe das Fundament aller Hilfen, die Men- chen zu wenig. schen einander und sich selbst geben können. In diesem Sinne hat Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm in seiner Rede beim Jah- Oder müssen wir den Spruch anders lesen? Der Trost, der darin resempfang 2012 der Evangelischen Akademie Tutzing auf die Fra- angeboten ist, liegt ja jeweils in dem zweiten Halbsatz: „so werde ge geantwortet: Braucht die Zivilgesellschaft die Kirche? „Ja, denn ich heil“, „so ist mir geholfen“. Das ist die Verheißung: Für mich Frömmigkeit und gesellschaft liches und politisches Engagement ganz persönlich gibt es Heilung, wenn ich mich auf diese Gottes bedingen einander, gehören zusammen. Wo uns die Not anderer Hilfe einlasse. Was aber kann Gottes Hilfe nun bedeuten? Was kann Menschen im Innersten berührt, da können wir gar nicht anders als sie bedeuten in einer Welt, in der es unfassbares Elend gibt, jeder auf allen Ebenen – einschließlich der politischen – mitzuhelfen, Trost versagt? Jetzt zur Weihnachtszeit erreichen einen wieder zahl- diese Not zu überwinden.“ reiche Bitten von wohltätig wirkenden Organisationen. Sie küm- mern sich zum Beispiel um vernachlässigte Kinder in den Heimen Osteuropas oder um Familien in den Flüchtlingsauff anglagern und Morgenandacht der Stellv. Akademiedirektorin den von Bürgerkrieg und Dürre heimgesuchten Regionen Afrikas. Dr. Ulrike Haerendel, Studienleiterin für Soziales, Familie, Da sieht man dann Fotos von großen Kinderaugen in elender Um- Geschlechterfragen, Generationen