Auc-57-Schlesischer-Bahnhof
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KURT MÜNZER MMeennsscchheenn aamm SScchhlleessiisscchheenn BBaahhnnhhooff Berlin 1930 www.autonomie-und-chaos.de Berlin 2012 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de Die originalausgabe dieses romans trug den titel 'Hast du dich verlaufen?' und erschien unter dem autorenpseudonym georg fink im VERLAG BRUNO CASSIRER BERLIN (1930). Diese neuausgabe enthält ausschnitte aus einem zeitgenössischen PHARUS-stadtplan sowie aktuelle fotos (2012) von schauplätzen der handlung. Bereits wiederveröffentlicht von kurt münzer wurden bei AUTONOMIE + CHAOS sein roman 'Jude ans Kreuz!' sowie eigens zusammengestellte erzählungen und novellen unter dem titel 'Bruder Bär'. © 2012 für diese Ausgabe VERLAG AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN © PHARUS-Plan Berlin (für die Stadtpläne) ISBN 978-3-923211-09-8 Diese online-publikation kann für den eigengebrauch kostenfrei heruntergeladen werden. 2 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de Vorbemerkung Berlin 1929. - Der idealistische bürgersohn peter hat sich ins zille-milieu am schlesischen bahnhof verlaufen ; schwärmerisch verliebt er sich in anna, ein mädchen von dort. Das kann nicht gutgehn. Er lernt elli kennen, die bei aller seelischen und körperlichen zerstörung hilflos - naive alte hure, annas mutter. Mit dem jungen ganoven paul entsteht zaghafte, mißtrauische nähe. Eine lebenskluge großmutter taucht auf und toni, ihr verkrüppelter, heimlich gedichte schreibender 13jähriger enkel. - Jede begegnung, jedes gespräch läßt peter andere wahrheiten ahnen. Öffnet ihm die augen für verdrängte momente der sozialen realität wie der eigenen lebensgeschichte. In einer tragikomischen dreiecksgeschichte zwischen peter, anna und paul führen unterschiedliche traumatische kindheitserfahrungen zur katastrophe. Dann ein gnadenlos wahrhaftiger abschied - in st. pauli, am hamburger hafen. Was bleibt, ist sinnlich-sinnhaftes leben: das meer, die möwen, die städte. Wenn wir unser existenzielles alleinsein annehmen, wird a l l e s (die welt) zum gegenüber, - vielleicht eine reminiszenz münzers an martin bubers dialogische mystik. 1 Zerrissene, zutiefst ambivalente sehnsucht nach kindlicher mutterbindung und/oder erotischer liebe (zwischen hetero- und homosexualität, zwischen abgestumpftem egoismus und idealistischer sublimierung) - kurt münzers lebensthema! - wird hier fast allgemeingültig, in poetischer verdichtung dargestellt. 1 vgl. Martin Buber: 'Daniel. Gespräche von der Verwirklichung' (1913). - 'Daniel' ist enthalten in dem 2001 erschienenen band 1 der werkausgabe (MBW). Eine online-ausgabe gibt es bei www.autonomie-und- chaos.de. - Daß münzer viel von buber gehalten hat, ist belegt; siehe nachwort zu 'Jude ans Kreuz!'. [Sämtliche in der vorliegenden veröffentlichung enthaltenen fußnoten kommen von mondrian v. lüttichau.] 3 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de Die erstausgabe des romans erschien 1930 in dem avantgardistischen verlag bruno cassirer. In manchem eine antwort auf 'Berlin Alexanderplatz' (1929), fehlen dieser geschichte döblins artifizielle literarische techniken und seine langatmigkeit. Dafür ist der fast vergessene jüdisch-deutsche expressionist kurt münzer wohl näher dran an alltag, leid und lebensgefühl von proleten, kindern, huren und gangstern rund um den friedrichshain und am schlesischen bahnhof (heute ostbahnhof), im wedding (dem andern zille-kiez), im scheunenviertel und am alex. - 'Menschen am Schlesischen Bahnhof ' ist eine letzte bittere liebeserklärung münzers an die berlinerInnen im schmuddligen untergrund der glamourösen zwanziger jahre. Auf der straße marschieren bereits die nazis. 1933 brennt auch dieses buch. Der autor emigriert in die schweiz, wo er 1944 stirbt. Zur erinnerung an guido mohammad jafar (1963-1994) Mondrian graf v. lüttichau 4 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de Berlin - Schlesisischer bahnhof und friedrichshain (1930) Alle ausschnitte aus dem PHARUS-plan 1930 (Mittelreprint RGB). Hier eine aktuelle übersicht: http://www.berliner-stadtplan.com/adresse/karte/berlin/pos/6400,5821/strasse/S- Bahnhof+Ostbahnhof%3Cbr%3E10243+Berlin+-+Friedrichshain.html 5 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de Aprilmitternacht. Da duften noch die Straßen von Berlin. Und sei es Berlin-O. Schlesischer Bahnhof. Koppenstraße. Ein Mann wankt und schwankt und schaukelt die leere, stille, finstere hinauf. Trunken vom April? Oder besoffen vom Kümmel und Kognak? … Ein Mann? Nein, weiß Gott, ein Herr ist es, Smoking unterm Abendmantel auf Seide, aber er hat keinen Hut. Verloren? Vergessen in der letzten Kneipe? Der Mond! - Gespenstisch, getaucht in Milch, wiegen sich die stumm schlafenden Häuserwände. Stumm ist Berlin, es hebt lautlos und senkt seinen dumpfen Leib im Schlaf. Nur der Schlesische Bahnhof entließ Lärm, Pfiffe, zischenden Dampf, und bisweilen wehten ein paar Schatten von Menschen durch die Unterführung und lösten sich irgendwo im Dunkel auf. Er ging, der Mann, der wohl zuviel getrunken hatte, bald am Bordstein, bald dicht an den Häusern, und er lächelte vor sich hin, er lallte sogar ein paar Worte. Als er an eine vorgebaute Stufe stieß - oben war ein chinesischer Laden mit Tee und Porzellan - setzte er sich hin. "Kitzelpelle!" rief der Mann vergnügt und lachte. So hieß der Keller von Frieda Kuhlmey, der letzte, in den sie hinuntergepoltert waren, er und seine Freunde, um halb zwei, und Mutter Kulmey ließ für zwei Mark pro Person an das Astloch treten, durch das man in ihren Schlafsalon sah. Schlafsalon für sechs Mädchen, die sich Herren holten. 6 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de An der Schillingbrücke waren die fünf Abenteurer ausgestiegen und in den ersten Keller der Breslauer Straße2 eingefallen. Jungens, eine amerikanische Erbschaft begießen! Donnerwetter! Peter! Knöpf auf! Jetzt saß er nun, seiner besoffenen Bande entwischt, auf der Schwelle eines Chinesenladens und schnupperte. Staub, Hundeschmutz, Tee, irgendein süß-ekles Aroma von Räucherwerk. Die Tür war gar nicht geschlossen, als er sich anlehnte, gab sie nach, ging sanft nach innen auf, und er fiel hintüber, rülpste, erschrak, rappelte sich hoch und stand. Er stand! Es war ihm besser. Er sah sich um und war fremd, er war hier nie gewesen, er ahnte nicht, wohin der nächste Schritt ihn führte. Er führte ihn über den Damm hinüber, in eine Seitenstaße, und fünf Minuten später tat sich ein Platz auf. Unendlich groß in der Nacht mit seinen Bäumen und Laternen, und der Mond übergoß ein riesiges Denkmal mit unverständlich hockenden Figuren. Kioske lagerten wie Negerhütten davor. Auf den Bänken regte es sich. Das war die Liebe, eine unförmliche häßliche proletarische Liebe, die keine Stube und kein Geld hat. So klar dachte schon der junge Herr. Die schwarze Schleife am Kragen war ihm aufgegangen und das Hemd war befleckt von dem zitronengelben Kognak und trüben Kümmel der Budiken, aber die Lackschuhe hatten ihren Glanz nicht eingebüßt und die Hose kaum ihrer frische Bügelfalte. Er umkreiste den Platz mit seinen Anlagen, und zwei Schutzleute, diehn flüchtigen Blicks langsam passierten, sahen freundlich von den Bänken fort, um die Arbeitslosen und ihre Bräute nicht aufscheuchen zu müssen. Daß dies der Andreasplatz3 war, las der Herr an einem Straßenschild, das eine Laterne ihm gütig beschien. Und er bog in die Kleine Andreasstraße ein, wo ein 2 1844 wurde die breslauer straße im zusammenhang mit dem bau der niederschlesisch-märkischen eisenbahn neu angelegt. Sie verlief einst von der koppen- zur holzmarktstraße. 1964 wurde sie teil der straße am ostbahnhof. 3 Ehemaliges zentrum in der stralauer vorstadt, heute friedrichshain. Wurde um 1960 im zuge der neubebauung aufgelöst. Heinrich zille wuchs vom 11.-14. lebensjahr in diesem kiez auf; die elterliche kellerwohnung war in der kleinen andreasstraße 17. (Er starb am 9. august 1929.) Der andreasplatz entwickelte sich zu einem mittelpunkt des berliner rotlichtviertels um den damaligen schlesischen bahnhof, den heutigen ostbahnhof. Diese gegend - bis zu dem heutigen wrangelkiez in kreuzberg 36 - galt zu jener zeit als "verbrecherviertel". Hintergrund war, daß am schlesischen bahnhof viele menschen aus schlesien und dem damaligen osten deutschlands auf der arbeitssuche nach berlin kamen und aufgrund von armut in kriminalität und prostitution abdrifteten. - Die weitgehend kriegszerstörte andreasstraße ist zu sehen in szenen des ersten deutschen antifaschistischen filmes 'Die Mörder sind unter uns' (wolfgang staudte, DEFA 1946). - Viele lesenswerte hinweise enthält die website http://www.friedrichshainer-chronik.de/ . 7 KURT MÜNZER Menschen am Schlesischen Bahnhof www.autonomie-und-chaos.de Mann sich und einer dicken Frau die ehrbare Tür eines soliden Hauses aufschloß. "Ich bin also in eine rechtschaffene Gegend gekommen", dachte der späte Wanderer und atmete tief. Selbst hier, im engen Straßenschacht, war die Nacht sehr süß, es war später April, der Frühling schlug aus, selbst in diesen Höfen stand da und dort ein Fliederstrauch und knospete. Er kannte sein Berlin nicht, dieser schwankende Mann, denn kaum hatte er gedankenlos die Krautstraße überschritten, so geriet er in die Kleine Markusstaße und kam nicht weiter. Da standen die Huren vor ihren Türen, vor den Treppentüren, die hinab in ihre Stuben führten. Ihre gelben Fenster unten am Trottoir waren rot und gelb verhängt und wollten wilde Geheimnisse vortäuschen. In den Türnischen der kleinen Häuser standen sie zu zweit und dritt, Schlüssel