Berlin Als Raum Für Theater Von Marion Linhardt
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Berlin als Raum für Theater Von Marion Linhardt 1957 kommt im Berliner Henschelverlag Gerhard Wahnraus Monografie Berlin. Stadt der Theater. Der Chronik I. Teil heraus, die das Berliner Theaterleben von 1300 bis 1889 nachzeichnet. Der von Wahnrau angekündigte zweite Teil der Chronik1 erscheint bedauerlicherweise nicht. Am Ende seines Buches erläutert Wahnrau, was ihn bewogen hat, den ersten Band gerade mit dem Jahr 1889 zu schließen: „Es gibt kaum eine andere Stadt Deutschlands, in welcher das Theater sich eine so starke Stellung im gesellschaftlichen Leben erobert hat. Damit steht, we- nigstens im Ansatz, auch das Publikum bereit, das ein Kunsttheater zu tragen vermag. Alles, was Berlin 1889 fehlt, ist jetzt der Mann, der den Mut hat, das Theater nicht mehr nach rein spekulativen Gesichts-Punkten zu sehen, sondern der in ihm eine Institution erblickt, die der Kunst zu dienen hat. 1889 tritt dieser Mann endlich hervor. Sein Name ist Otto Brahm. Durch sein Wirken soll die entscheidende Wendung im Berliner Theater-Leben eintreten. Er legt den Grundstein, damit aus Berlin, einer Stadt der Theater, die Theaterstadt Berlin wird.“2 Als Brahms erste „Tat“ im Interesse der „Theaterstadt Berlin“, wie Wahnrau sie fasst, kann die Mitbegründung des Vereins „Freie Bühne“ in Berlin im April 1889 gelten; 1894 folgte die Übernahme der Direktion des Deutschen Theaters durch Brahm, der das Haus zu einem wichtigen Schauplatz der dramatischen Moderne machte.3 Wahnraus Perspektive, in der sich die Bedeutung Berlins als Theaterstadt danach bemisst, ob und inwieweit Theater hier dem Anspruch genügt, „Kunst“ zu sein, prägt den theaterwissenschaftlichen Blick auf Berlin bis in die Gegenwart.4 Brahm, 1 Gerhard Wahnrau: Berlin. Stadt der Theater. Der Chronik I. Teil. Berlin (DDR): Henschel- verlag 1957, S. 6. 2 Ebenda, S. 551–552. 3 Für eine Einführung in Brahms Funktion für die Berliner Theaterszene vgl. die „Einlei- tung“ in: Otto Brahm – Gerhart Hauptmann. Briefwechsel 1889–1912. Erstausgabe mit Materialien. Herausgegeben von Peter Sprengel. Tübingen: Gunter Narr 1985. (= Deutsche TextBibliothek. 6.) 4 Als prägnante Beispiele für einen solchen Zugang seien genannt: Norbert Jaron, Renate Möhrmann und Hedwig Müller: Berlin – Theater der Jahrhundertwende. Bühnengeschich- te der Reichshauptstadt im Spiegel der Kritik (1889–1914). Tübingen: Niemeyer 1986; Ber- liner Theater im 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Christel Weiler. Berlin: Fannei & Walz 1998. – Eine andere Perspektive eröffnet Ruth Freydank, langjährige verantwortliche Mitarbeiterin des Märkischen Museums Berlin, mit der Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung: Theater als Geschäft. Berlin und seine Privattheater um die Jahrhundertwende. Herausgegeben von Ruth Freydank. Ber- Marion Linhardt: Berlin als Raum für Theater. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersozio- logie 10 (2017), Sonderband 5: Musiktheater in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- derts. Räume – Ästhetik – Strukturen. Bd. 1. Hrsg. von Marion Linhardt und Thomas Steiert, S. 41–121: http://lithes.uni-graz.at/lithes/17_sonderbd_5.html 41 LiTheS Sonderband 5 (Dezember 2017) http://lithes.uni-graz.at/lithes/17_sonderbd_5.html Max Reinhardt, Leopold Jessner, Erwin Piscator, dazu eine Reihe herausragender Darstellerpersönlichkeiten fungieren als Repräsentanten für das Theater Berlins im späten 19. und frühen bis mittleren 20. Jahrhundert. Daraus resultiert, dass das Berliner Theater der Kaiserzeit und der Weimarer Republik gleichsam als deckungs- gleich mit der szenischen (und dramatischen) Avantgarde erscheint. Weitgehend unbeachtet bleibt zumal in neueren Arbeiten zur Berliner Theater- geschichte,5 welche Voraussetzungen Berlin als gewachsener sozialer und gebauter Raum für die Produktion und Rezeption von Theater bot, was also das Theaterin dieser Stadt mit dieser Stadt zu tun hatte und hat. Worin bestand, so wäre zu fragen, die Spezifik der Berliner Theaterszene – und damit die Funktion jedes einzelnen der Berliner Theater –, auch im Vergleich etwa mit den Theaterstädten London, Paris oder Wien? Wie bestimmte sich die Rolle Berlins innerhalb der Theaterlandschaft Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und welche politischen, soziotopografischen und infrastrukturellen Entwicklungen trugen zur Herausbil- dung dieser besonderen Rolle bei? Bekanntermaßen besaß Berlin nicht traditionell den Status eines Theaterzentrums, wie ja überhaupt sein Rang als Stadt gegenüber anderen großen Städten Deutschlands kein herausragender war. Dies änderte sich erst mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 gravierend, und noch nach dem Aufstieg der vormaligen Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Preußen zur Reichshauptstadt und ihrem geradezu explosionsartigen Anwachsen blieb der Rang Berlins im Gefüge der deutschen Städte und Landschaften einer, der – bezogen auf die soziogeografische Binnenstruktur des jeweiligen Gesamtstaates – demjenigen von London und Paris, ja selbst von Wien nicht gleichkam: Aufgrund des Nebenei- nanders einer Vielzahl von Kleinstaaten mit teils bedeutenden Residenzen innerhalb jenes Territoriums, das nun „Deutschland“ bildete, fanden sich hier mehrere Städ- te, die seit langem überregional relevante kulturelle, wirtschaftliche und politische Zentren gewesen waren und diesen Status und diese Funktion auch nach 1871 kei- neswegs an Berlin abgaben. Was das Theater betrifft, so hatten sich die wichtigen ästhetischen und institutionellen Entwicklungen im 18. und 19. Jahrhundert nicht in Berlin, sondern an anderen Orten Deutschlands vollzogen, und auch im frühen und mittleren 20. Jahrhundert, als die Theaterdichte in Berlin ausgesprochen hoch war, gingen die wesentlichen künstlerischen Impulse – etwa im Bereich der Opern- regie oder des modernen Tanzes – nicht notwendig von Berlin aus. Erwähnt seien lin: Edition Hentrich 1995. – Eine medien- und kulturwissenschaftlich informierte neuere Annäherung an die Geschichte des Theaters in Berlin, wenn auch nicht an eine Berliner Theatergeschichte bietet Nic Leonhardt: Piktoral-Dramaturgie. Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869–1899). Bielefeld: transcript 2007. 5 Eine Sonderstellung innerhalb der neueren Theatergeschichtsschreibung zu Berlin nimmt Soichiro Itodas (zweisprachige) Arbeit ein, in der ein Fokus auf unterschiedlichen Aspekten des Theatergeschäfts (Konzessionswesen, bau- und feuerpolizeiliche Fragestellungen etc.) liegt. Der Germanist Itoda zielt auf einen Vergleich des Berliner und des Tokioter Thea- ters, was eine tendenziell schlaglichtartige und wenig vertiefte Präsentationsform bedingt. Zudem hat Itoda leider auf ein Literaturverzeichnis verzichtet. Soichiro Itoda: Berlin & Tokyo – Theater und Hauptstadt. München: Iudicium 2008. 42 Marion Linhardt: Berlin als Raum für Theater an dieser Stelle lediglich Frankfurt am Main und Leipzig als bedeutende Urauffüh- rungsorte und das Schauspielhaus Düsseldorf sowie das Landestheater (vor 1919 Hoftheater) Darmstadt als Orte innovativer szenischer Konzepte. Stark vereinfacht könnte man formulieren, dass sich Berlin im letzten Drittel des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Raum für Theater innerhalb Deutschlands dadurch besonders auszeichnete, dass hier erstens das kommerzielle Theater zu einer anders- wo nicht gegebenen Ausdifferenzierung gelangte (dementsprechend konzentrierten sich in Berlin verschiedenste Sonderformate des Geschäfts mit Theater wie konzern- artige Bühnenzusammenschlüsse oder Kooperationen von Verlagen und Bühnen) und dass zweitens die hiesigen Theater nach 1933 – aber erst dann – eine immense repräsentative Funktion in Bezug auf das gesamte Reich gewannen, namentlich die Staatstheater, das Deutsche Opernhaus in Charlottenburg und die 1936 anlässlich der Olympischen Spiele eröffnete Dietrich-Eckart-Bühne in Ruhleben. Annäherung I: von der Spielzeit 1896 / 97 aus zurück- und nach vorn geblickt Die Spielzeit 1896 / 97 war die erste, in der Berlins weitgehend an die Hauptstadt herangewachsene Nachbarstadt Charlottenburg über ein großstädtisch dimensio- niertes Theater von nicht nur ephemerer Bedeutung6 verfügte: am 1. Oktober 1896 war in der Kantstraße unweit des Tiergartens das Theater des Westens eröffnet wor- den, eine gemeinsame Initiative des Architekten Bernhard Sehring und des Theater- schriftstellers Paul Blumenreich.7 Das Haus bot 1.700 Zuschauern Platz. Sehrings historistischer Bau erregte Aufsehen. Die Anlage verknüpfte höchst disparate Stile 6 Zuvor hatte es Theateraufführungen in Charlottenburg sporadisch im Schlosstheater gege- ben, sodann als Teil des Veranstaltungsangebots des 1874 eröffneten Etablissements „Flora“ in unmittelbarer Nähe des Schlosses und im 1872 eröffneten Stadttheater Charlottenburg, das unter wechselnden Direktionen für eine Reihe von Spielzeiten bestand. Vgl. Otto Wed- digen: Geschichte der Theater Deutschlands in hundert Abhandlungen dargestellt nebst einem einleitenden Rückblick zur Geschichte der dramatischen Dichtkunst und Schau- spielkunst. 2 Bde. Berlin: Ernst Frensdorff 1904 / 1906, hier Bd. 1, Kap. „Ehemaliges Kö- nigliches Theater in Charlottenburg“, S. 397–412. Jürgen Weisser: Zwischen Lustgarten und Lunapark. Der Volksgarten Nymphenburg (1890–1916) und die Entwicklung der kommerziellen Belustigungsgärten. München: Herbert Utz 1998 (zur „Flora“: S. 85). Ruth Freydank: Theater in Berlin. Von den Anfängen bis 1945. Berlin: Argon 1988 (Bildmaterial zur „Flora“: S. 292). Ralf Zünders: Szenen und Stationen der Charlottenburger Theaterge- schichte